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German Pages [273] Year 2017
Murat Ates / Oliver Bruns / Choong-Su Han / Ole Sören Schulz (Hg.)
Überwundene Metaphysik? Beiträge zur Konstellation von Phänomenologie und Metaphysikkritik
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495811085
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Murat Ates / Oliver Bruns / Choong-Su Han / Ole Sören Schulz (Hg.) Überwundene Metaphysik?
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Es dürfte heute weitestgehend außer Frage stehen, dass mit der Phänomenologie – wie sie unter dem Leitspruch »Zu den Sachen selbst!« erstmals konkretisiert und als Methode ausgebildet wurde – sich eine neue und gewandelte Grundstellung gegenüber der traditionellen Metaphysik ereignet hat. Im vorliegenden Sammelband wird aus unterschiedlichen Perspektiven vor allem der Frage nachgegangen, ob und inwiefern es einer phänomenologisch verfahrenden Metaphysikkritik gelingt, die metaphysischen Denkvoraussetzungen zu überwinden und einen unverstellten Blick auf die Phänomene freizugeben. Dabei besteht der Anspruch der Beiträge nicht zuletzt darin, auszuloten, wie es (heute) um das Potenzial phänomenologischer Bemühungen bestellt ist und wo genau deren Grenzen auszumachen sind.
Die Herausgeber: Murat Ates ist u. a. wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes, Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Wien und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Polylog. Oliver Bruns ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie und Mitarbeiter des Hannah Arendt-Zentrums der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Choong-Su Han promovierte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg bei Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander zum Thema »Erfahrung und Atmung bei Heidegger« und lehrt derzeit an der Seoul National University of Science and Technology sowie an der Seoul National University und ist dort Forscher am Institute of Philosophical Research. Ole Sören Schulz forscht im Bereich der Phänomenologie und der Philosophischen Anthropologie und ist Vorstandsmitglied des »Hannah Arendt Preis für politisches Denken e. V.«.
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Murat Ates / Oliver Bruns / Choong-Su Han / Ole Sören Schulz (Hg.)
Überwundene Metaphysik? Beiträge zur Konstellation von Phänomenologie und Metaphysikkritik
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495811085 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48759-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81108-5
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Inhalt
Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Freilegung der Phänomene als Dekonstruktion überlieferter Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Murat Ates
Zur Auseinandersetzung Edmund Husserls mit Platon und Aristoteles. Metaphysik, Ontologie und Theologie in Husserls eidetischer Phänomenologie als Erster Philosophie
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Dirk Fonfara
Zu den Sachen selbst: Phänomenologie, Erste Philosophie und die Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tomas Sodeika
Husserls Gedanke einer phänomenologisch neubegründeten Metaphysik am Leitfaden der Idee der indirekten Apodiktizität . . . . . . . . . . . . . .
59
Bence Peter Marosan
Phänomenologie als Insächlichkeit . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Schmaus
An der Grenze der platonischen Metaphysik. Heidegger liest Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Guang Yang
Phänomenologie als Rückgang auf das Prä-Reflexive . . . . 102 Anna Orlikowski
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Inhalt
Tod und Metaphysik. Die phänomenologische Todesanalyse zwischen Überschreitung und Wiederinstandsetzung der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Christian Sternad
Das barbarische Prinzip. Merleau-Pontys Naturbegriff im Ausgang von der Philosophie Schellings . . . . . . . . . . . 130 Alexander Bilda
»Doch das Ding ignoriert uns und ruht in sich.« Giorgio Morandis Stillleben – Eine Annäherung mit Maurice Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Kristin Drechsler
Hannah Arendt, Edmund Husserl und die Phänomenologie . 157 Holger Sederström
»In den Netzen des Spinnengeistes«. Idealismus-Kritik als Gemeinsamkeit zwischen Phänomenologie und Frankfurter Schule . . . . . . . . . . 177 Jens Bonnemann
Die Kritik der Phänomenologie als Metaphysikkritik und die Methode der Phänomenologie in Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . 197 Sebastian Edinger
Jenseits von Husserl: Subjekt und Zeit bei Emmanuel Levinas
218
Federico Ignacio Viola
Die Bedeutung des Phänomens »Zeit« bei Levinas und das Erbe Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Max Brinnich
Zwischen Mensch und Tier?! Die Phänomenologie des Menschseins versus die metaphysische Bestimmung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Martin Huth
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6
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Siglenverzeichnis
Folgende Abkürzungen wurden für Gesamtausgaben verwendet: GA: Hua:
SW:
Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1975 ff. Edmund Husserl, Husserliana. Gesammelte Werke, Den Haag, Dordrecht 1950 ff. »Hua Mat« steht für die Materialienbände, 2001 ff., »Hua Dok« steht für die Dokumente-Bände, 1977 ff. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämtliche Werke, K. F. A. Schelling (Hg.), Stuttgart, Augsburg 1856–1861.
Die Schriften von Emmanuel Levinas wurden wie folgt abgekürzt: AQ: EE: GZ: HAH: HAM:
JS:
TA: TI: TU:
VS:
ZA:
Autrement qu’être on au-delà de l’essence, La Haye 1974. De l’existence à l’existant, Paris 19813 . Gott, der Tod und die Zeit, aus dem Französischen von Astrid Nettling und Ulrike Wasel, Peter Engelmann (Hg.), Wien 1996. Humanisme de l’autre homme, Montpellier 1972. Humanismus des anderen Menschen, übers. und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Wenzler, mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Levinas und Christoph von Wolzogen als Anhang »Intention, Ereignis und der Andere«, Hamburg 2005 (= dt. Übers. von HAH). Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, aus dem Französischen übers. von Thomas Wiemer, Freiburg i. Br., München 4 2011 (= dt. Übers. von AQ). Le Temps et l’Autre, Montpellier 1979. Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité, La Haye 1980. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, aus dem Französischen übers. v. Thomas Wiemer, Freiburg i. Br., München 4 2008 (= dt. Übers. von TI). Vom Sein zum Seienden, aus dem Französischen übers. v. Anna Maria Krewani und Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg i. Br., München 2008 (= dt. Übers. von EE). Die Zeit und der Andere, übers. und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler, Hamburg 2003 (= dt. Übers. von TA).
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Siglenverzeichnis ZU:
Zwischen Uns. Versuche über das Denken an den Anderen, aus dem Französischen von Frank Miething, München 1995.
Verwendete Siglen für Schriften von Immanuel Kant lauten: AA:
MS: KpV:
KrV:
Prol:
Gesammelte Schriften, Bde. 1–22, Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Bd. 23, Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hg.), ab Bd. 24, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hg.), Berlin 1900 ff. Die Metaphysik der Sitten, zitiert nach Textbestand und Paginierung von AA 06. Kritik der praktischen Vernunft, mit einer Einleitung, Sachanmerkung und einer Bibliographie von Heiner F. Klemme, Horst D. Brandt und Heiner F. Klemme (Hg.), Hamburg 2003, zitiert nach der Paginierung von AA 05. Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten OriginalAusgabe Raymund Schmidt (Hg.), mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1993, zitiert nach der Paginierung der ersten Auflage von 1781 (A) und der zweiten Auflage von 1787 (B). Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, zitiert nach Textbestand und Paginierung von AA 04.
Platons Werke werden nach der Ausgabe von Ioannes Burnet zitiert: Plato, Platonis Opera, Oxonii 1954. Die Werke von Platon sind mit folgenden Siglen abgekürzt: Phaidr.: Rep.: Soph.:
Phaidros De re publica (Politik) Sophistes
Alle Text- und Stellenangaben der Aristoteles-Übersetzungen verweisen wie üblich auf die griechische Ausgabe von Immanuel Bekker: Aristotelis Opera, Berlin 1831–70 Die Werke von Aristoteles sind mit folgenden Siglen abgekürzt: An.: Cael.: Met.: Nik. Et.: Phys.: Pol.:
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De Anima (Über die Seele) De Caelo (Über den Himmel) Metaphysica (Metaphysik) Ethica Nicomachea (Nikomachische Ethik) Physica (Physik) Politica (Politik)
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Vorwort
Dass die von Edmund Husserl inaugurierte phänomenologische Methode es sich von Anfang an zur Aufgabe gemacht hat, abseits metaphysisch fundierter Denkvoraussetzungen einen gedanklichen NeuAnfang gegenüber der bisherigen Philosophietradition zu stiften, ist bekannt. Und auch die nachhusserlschen Phänomenologien sind bis heute darum bemüht gewesen, orientiert an der erlebten Erfahrung, die metaphysischen Implikationen unseres gegenwärtig technischwissenschaftlich geprägten Selbst- und Weltverständnisses aufzudecken und kritisch zu hinterfragen. In einem solch umfassenden Sinne lässt sich Metaphysikkritik bzw. der darin implizierte Anspruch einer grundsätzlichen Überwindung tradierter Denk- und Handlungsweisen als das ureigenste, vielleicht auch wirkmächtigste Programm einer emanzipatorisch veranlagten Phänomenologie – und welche Phänomenologie ist das ihrem Anspruch nach nicht? – begreifen. Eine in welcher Form auch immer geäußerte Kritik am Festsetzungsund Bestimmungsdenken der abendländischen Metaphysik scheint dementsprechend gewissermaßen zur Devise und zum guten Ton phänomenologisch ausgerichteten Denkens zu gehören. Ob und inwiefern die von ontologischen Vorurteilen vermeintlich gereinigte Phänomenologie sich aber tatsächlich fernab metaphysischer Gewässer befindet oder ob die Metaphysik ihrerseits nicht vielleicht doch die geheime Quelle darstellt, aus der jene sich »nolens volens« speist, um dies zu entscheiden, bedarf es freilich einer selbstkritischen Infragestellung seitens der Phänomenologie. Es ist daher unvermeidlich, dass der (metaphysik-)kritische Impuls der Phänomenologie zwangsläufig auch zu einer kritischen Selbstbefragung im Hinblick auf die eigenen metaphysischen Tendenzen und Präsuppositionen führen muss, soll die vermeintliche »Vorurteilslosigkeit« sich nicht in Selbstgefälligkeit auflösen. Allerdings drängt sich die Frage auf, wie die Phänomenologie überhaupt zu beurteilen vermag, ob sie tatsächlich (leibhaftig) erlebte Phänomene – die vielberufenen »Sachen selbst« – Überwundene Metaphysik?
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Vorwort
antrifft und beschreibt oder ob sie diesbezüglich doch nur überlieferte Erklärungsmodelle gebraucht. Gibt es überhaupt ein genuin phänomenologisches Denken und Erfahren in radikaler Abgrenzung von einem rein metaphysischen Vorstellen? Wenn ja, wodurch unterscheidet sich eine phänomenologisch verfahrende Metaphysikkritik von früheren kritisch-metaphysischen Interventionen, z. B. derjenigen Kants oder Schellings? Oder ist das phänomenologische Projekt einer zu »überwindenden Metaphysik« angesichts des vielerorts ausgerufenen postmetaphysischen Zeitalters ohnehin obsolet geworden? Kurzum: Wie steht es um die Konstellation von Phänomenologie und (deren) Metaphysikkritik? Diesen und ähnlichen Fragen nun widmen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes und unterstreichen damit zugleich die ungebrochene Gegenwartsbewandtnis, die einer Untersuchung hinsichtlich des Verhältnisses von Phänomenologie und Metaphysik(-kritik) zukommt. Ausgehend von Husserl, Heidegger, Arendt, Plessner, Sartre, Merleau-Ponty, Levinas und anderen Philosoph_innen werden aufschlussreiche Streifzüge in die Kernbereiche »der« Phänomenologie und Metaphysik unternommen und diesbezügliche Trennungslinien, wo es notwendig erscheint, überschritten. Es werden sowohl Bezüge zur platonisch-aristotelischen Metaphysik, der Philosophischen Anthropologie und Kritischen Theorie erörtert als auch die gedankliche Nähe thematisiert, die zwischen der Kunst, der Poesie und der Phänomenologie besteht. Die Beiträge eint in ihren unterschiedlichen Ausprägungen jener (nicht nur genuin phänomenologische) Anspruch, Selbst-Verständlichkeiten fraglich und philosophisches Fragen selbstverständlich werden zu lassen. Als Herausgeber wünschen wir uns, dass dieses Buch einen hilfreichen Beitrag leisten kann für weitere kritische Auseinandersetzungen mit den metaphysisch-ontologischen Geltungsapriori, die das derzeitige In-der-Welt-Sein auf eine so ungünstige Weise präformieren und in Beschlag nehmen. Der bisweilen realisierte (Alb-)Traum einer nahezu vollständigen Verdinglichung, Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit von Mensch und Natur mag jedenfalls Anlass genug dafür sein, weiterhin und in kritischer Absicht den Voraussetzungen unserer Denk- und Erfahrungsgewohnheiten nachzusinnen. Die Herausgeber, Herbst 2015
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Freilegung der Phänomene als Dekonstruktion überlieferter Metaphysik 1 Murat Ates
Nach einer längeren Phase intensiver Diskussionen hatte die Thematik der Konferenz durch einen ausdrucksstarken Call unter dem Titel »Phänomenologie und Metaphysikkritik« ihr erstes Gesicht erhalten. Wie bereits der Titel auf komprimierte Weise zum Ausdruck brachte, bestand die Intention darin, über die Phänomenologie im Hinblick auf ihr metaphysikkritisches Potenzial nachzudenken – und dabei (dies wäre jedenfalls wünschenswert gewesen) in einer Art Selbstreflexion herauszuarbeiten, was Phänomenologie nach einem Jahrhundert ihres Bestehens bedeuten, was sie – in Husserls Worten – »zur Lebensnot« (Hua 6, 4) des gegenwärtigen Menschen beitragen kann. Allein die Überschrift schien jedenfalls dazu aufzurufen, drei Fragen mehr oder weniger implizit nachzuspüren, nämlich erstens: Was heißt Phänomenologie; zweitens: Was bedeutet Metaphysik(kritik); und schließlich drittens: Wie steht es um die Konstellation, welche bereits durch die unscheinbare Konjunktion »und« angezeigt wurde? Damals, und jetzt als einführender Artikel zu dieser überaus komplexen und denkwürdigen Themenstellung, hatte und habe ich die glückliche Karte gezogen, diese Fragen nicht vollständig beantworten zu müssen – sofern sie überhaupt vollständig beantwortbar sind. Vor dem Hintergrund der vorangegangen Überlegungen und Diskussionen sowie im Hinblick auf die hier versammelten Artikel,
Der folgende Artikel beruht auf einer leicht überarbeiteten Version der Einführungsrede, welche auf der besagten Konferenz »Phänomenologie und Metaphysikkritik« am 22. November 2013 an der Universität Freiburg vorgetragen wurde. Der vorliegende Text soll in dieser Hinsicht, so könnte man vielleicht sagen, auch für diesen Sammelband einen einführenden bzw. »eröffnenden« Charakter haben. Die Performance der damals gehaltenen Rede wurde auf das strukturelle Format der Schrift sowie auf das Arrangement eines Sammelbandes angepasst, ohne den inhaltlichen Einsatz der damaligen Rede zu modifizieren.
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möchte ich vielmehr in kurzen, jedoch signifikanten Zügen vorausschicken, worin der Anspruch in solchen Fragen besteht. * * * Die als erstes gestellte Frage, was die Phänomenologie sei, kann sich zunächst auf einer recht formal anmutenden und dennoch höchst berechtigen Weise melden (sie hatte sich zumindest der damaligen Konferenzorganisation spätestens nach dem Eintreffen der hohen Anzahl an Abstracts geradezu aufgedrängt): Durch die Arbeit welcher Autor_innen bestimmt sich überhaupt das Genre der Phänomenologie? Welche Autor_innen der jüngeren Philosophiegeschichte können als Phänomenolog_innen angesehen werden, um schließlich von ihnen ausgehend und sich mit ihnen auseinandersetzend die Konstellation von Phänomenologie und Metaphysikkritik thematisieren zu können? Im Jahre 2005 wurde diese Frage – im Zusammenhang mit der Erarbeitung und Publikation des phänomenologischen Wörterbuchs durch eine Arbeitsgruppe an der Universität Wien 2 – insbesondere in studentischen Kreisen ausführlich diskutiert. Grund dafür war u. a. der außerordentliche Umfang an Namen, die im Wörterbuch verhandelt wurden. Neben Edmund Husserl sind dies etwa Max Scheler, Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Ludwig Binswanger, Jean-Paul Sartre, Kitaro Nishida, aber auch Jacques Derrida, Emmanuel Levinas bis hin zu Hannah Arendt, Hans-Georg Gadamer, Michel Foucault usw. Das Problem, welches hier zur Kontroverse führte, scheint keiner weiteren Erklärung zu bedürfen: Denn, wenn wir all diese Namen als der Phänomenologie zugehörig sehen wollen, dann haben wir es mit stark voneinander divergierenden Denkansätzen und Spielarten zu tun, die zwar philosophisch einen überaus weiten Horizont versprechen, doch gleichzeitig, so zumindest der Einwand, den unvermeidlichen Verdacht aufkommen lassen, es handle sich bei der Phänomenologie um ein unbegründetes und willkürliches Sammelsurium all jener Namen, die sich der Übermacht analytischer und positivistischer Philosophie nicht »unter-ordnen« lassen bzw. darin nicht eingeordnet werden können. Dem kam die ultraorthodoxe Position entgegen, wonach man den Titel der Phänomenologie nur einzig und allein an Husserl vergeben dürfe; die Bezeichnung Phänome2 Vetter, Helmuth u. a. (Hg.), Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, Hamburg 2005.
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Freilegung der Phänomene als Dekonstruktion überlieferter Metaphysik
nologie sei sozusagen ein Synonym, ein Stellvertreterwort für die Arbeiten Husserls – und nichts weiter. Es ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass alle soeben aufgezählten Denker_innen (und die Liste derer ließe sich durchaus erweitern) Husserls »Idee einer reinen Phänomenologie« zwar mehr oder weniger intensiv aufgenommen und auch praktiziert haben, doch gleichzeitig und ohne Ausnahme haben sie sich (in unterschiedlicher Vehemenz) von dieser Idee und ihrer Methode zu distanzieren versucht. Dies gilt bereits für die »Denkwege« seines Vorzeigeschülers Martin Heidegger, der in kritischer Abgrenzung sich immer seltener auf die Phänomenologie Husserls bezogen hat. 3 Angesichts der Kritiken und Distanzierungen
Bekanntermaßen war es unter anderem bzw. vor allem die Abwesenheit der Seinsfrage in Husserls Phänomenologie, die von Heidegger immer wieder bemängelt wurde (Vgl. u. a. GA 17, 270f.). In der Tat hat Husserl, dies sei hier nur am Rande bemerkt, nicht die Ontologie, sondern die Grundlegung der erkenntnistheoretischen Reflexion als zentrale Aufgabe der Phänomenologie angesehen – denn für Husserl ist es letztlich die »erkennende Vernunft, die Seiendes bestimmt« (Hua 6, 9). Erst durch die Erkenntnis, so Husserl, kann das (Sein des) Seiende(n) überhaupt thematisch werden und erst durch sie »kommt zutage, daß die natürlichen Seinswissenschaften nicht endgültige Seinswissenschaften sind« und es entsteht dadurch zuallererst das Bedürfnis nach »einer Wissenschaft vom Seienden im absoluten Sinn. Diese Wissenschaft, die wir Metaphysik nennen, erwächst aus einer ›Kritik‹ der natürlichen Erkenntnis« (Hua 2, 23). Weil die Ontologie (qua Metaphysik) die erkenntnistheoretische Reflexion voraussetzt, aus ihrer Kritik »erwächst«, hat selbst eine ontologisch interessierte Phänomenologie ihre erste Aufgabe darin zu sehen, »das Wesen der Erkenntnis und Erkenntnisgegenständlichkeit aufzuklären« (ebd.). Ohne an dieser Stelle auf eine Diskussion dieser Annahme Husserls, die freilich bereits eine gewisse Metaphysik-kritik impliziert, einzugehen, scheint es jedenfalls nachvollziehbar zu sein, weshalb Heidegger sein Denken von dem seines Meisters bereits früh abgrenzen musste. In Heideggers Verständnis sollte die Hauptaufgabe der Phänomenologie nicht nur in einer (Fundamental-)Ontologie des (Da-)Seins bestehen; auch umgekehrt sei im Grunde »Ontologie nur als Phänomenologie möglich« (GA 2, 35). Spätestens mit der zweiten Schaffensperiode Heideggers (der so genannten »Kehre«), die »vom Sein her« zu denken versuchte (GA 15, 345), schien sich endgültig eine unüberbrückbare Kluft zu Husserls Arbeit aufgetan zu haben. Die Seinsfrage ist dabei im Grunde nur ein Exempel und kann ohne Weiteres extendiert werden. Die mehr oder weniger berechtigten Einwände Heideggers beziehen sich auf mehrere Kernmomente des husserlschen Denkens, wie etwa gegen die subjektzentrierte Egologie in Kombination mit einer (cartesianischen) Sorge um Gewissheit, die These der Intentionalität und nicht zuletzt die gesamte Ausrichtung einer transzendentalen Bewusstseinsphilosophie. Selbst wenn man all diese Kritiken hier ausführlich behandeln wollte, hätte man damit »nur« Heideggers Bedenken gegenüber Husserl artikuliert und noch keinen der oben erwähnten Namen tangiert, die ihrerseits ansehnliche Listen an Einwänden mit sich führen.
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seiner »Nachfolger« scheint auf den ersten Blick die Aussage, dass Husserl der einzige Phänomenologe gewesen sei, eine gewisse Berechtigung zu erhalten. Bei genauerem Betrachten sehen wir jedoch, dass die kritischen Be- und Hinterfragungen der Phänomenologie einen erwünschten Aspekt ihres eigenen Verfahrens darstellen. Husserl selbst hat im Laufe seiner philosophischen Bemühungen immer wieder auf Grenzen und Probleme der Phänomenologie hingewiesen, hat fortlaufend revidiert, durchgestrichen, umgeschrieben und versucht, immer wieder auf ein Neues anzufangen. 4 Die Selbstreflexion der phänomenologischen Untersuchung (d. h.: der Anspruch, während der Untersuchung die Prozesshaftigkeit der Methode, die Veränderung des Phänomens sowie sich selbst im methodischen Vorgehen nicht aus den Augen zu verlieren) erscheint als ein Kernmoment des husserlschen Werdeganges – und wurde etwa von Autoren wie Derrida bei aller Distanznahme aufgenommen und zu einem äußerst hohen Niveau des selbstreflexiven Schreibens (bzw. Entschreibens) weiterentwickelt. Die Arbeit an den Phänomenen bedeutet demnach immer auch eine Arbeit an der Phänomenologie selbst. In seiner Vorlesung Zur Sache des Denkens hat dies Heidegger pointiert zum Ausdruck gebracht: Die Phänomenologie ist, so schreibt Heidegger, »die zu Zeiten sich wandelnde und nur dadurch bleibende Möglichkeit des Denkens, dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen«. 5 Doch was meint hier das Zu-Denkende? Wodurch zeichnet sich das Verfahren der Phänomenologie aus, das uns schließlich erlauben soll, solch ein breites Spektrum von Autor_innen in einem Atemzug zu erwähnen (wie sie auch in diesem Sammelband unter dem Titel der Phänomenologie behandelt werden)? Im »Call for Papers« wurde diesbezüglich – nicht nur, um die unterschiedlichen Denker_innen unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen – einmal mehr das Mantra: »Von den bloßen Worten […] zu den Sachen selbst« in Erinnerung gerufen. Wenn dieser seitens der Nachfolge-Generationen oft und an zentralen Stellen rezitierte Satz Husserls ernst genommen werden soll, dann müssen wir ohnehin die Frage, was Phänomenologie bedeutet, von der Fokussierung auf die Autorschaft trennen. Wie Denn es ist, wie Husserl in einem Brief an Arnold Metzger schreibt, »der Stolz, sogar das Recht der Phänomenologie, irren zu dürfen«. (Zitiert nach Elisabeth Ströker: Husserls transzendentale Phänomenologie, Frankfurt a. M., 1987, 67). 5 Heidegger, Martin, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1988, 90. 4
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Freilegung der Phänomene als Dekonstruktion überlieferter Metaphysik
Waldenfels dies einmal angesichts eines Verfalls phänomenologischer Forschung scharf zum Ausdruck gebracht hatte: »Zu den Texten selbst bedeutet noch lange nicht zu den Sachen selbst«. 6 Wir können zwar als akademische Forscher_innen begabte Kenner_innen und Archivare der Husserliana sein oder einer sonstigen Gesamtausgabe, was uns im universitären Betrieb auszeichnen mag, doch sagt diese Kenntnis wenig darüber aus, inwieweit wir tatsächlich die Phänomenologie im Sinne eines »phänomenologischen Sehens« vollziehen und praktizieren können (Hua 3/1, 43), inwieweit wir aufmerksam bei dem zu denkenden Phänomen zu verweilen vermögen – ohne all dem eine phänomenologische Deskription und Ausarbeitung der konstitutiven Momente schlichtweg nicht geschehen kann. Das aufmerkende »Sehen« als Freilegung des Phänomens geht jeglicher Deskription voraus. 7 Bei allem Verständnis des Misstrauens gegenüber gewissen Tendenzen im Denken Heideggers: Es war keineswegs Mystifikation, sondern eben ein Ernstmachen mit der Sache, als er zum Ausdruck brachte: »Das […] eigentümlich Systematische in der Phänomenologie [ist], daß sie, wenn sie echt betrieben wird, sich immer vollzieht im vorherigen Sehen der Sachen. Das Systematische ist nicht irgendein konstruierter Zusammenhang von Begriffen, der auf irgendeinen Bau und ein System hin orientiert ist, sondern das Systematische gründet in der vorherigen Erschließung der Sachen selbst« (GA 19, 560). Im Anschluss an solch eine Aussage drängt sich die provokante Frage auf, inwieweit sich der gegenwärtige Stand phänomenologischer Forschung, zunehmend vereinnahmt von der Universität à la Bologna, von solch einem primordialen »Sehen« entfernt Ein Zitat, das unweigerlich an eine Passage Heideggers erinnert, in der es heißt: »Die Einführung in die Phänomenologie geschieht nicht dadurch, daß man phänomenologische Literatur liest und das, was da ausgemacht wird, sich merkt. Nicht Kenntnisse über Meinungen sind gefordert. So ist die Phänomenologie von vorneherein mißverstanden. Vielmehr muß konkrete Arbeit an den Sachen der Weg sein, auf dem ein Verständnis der Phänomenologie zu gewinnen ist. Es geht nicht darum, auf phänomenologische Richtungen und Diskussionen zurückzugehen, sondern darum, sich in der Arbeit des Durchsprechens der Sachen in die Position zu bringen, phänomenologisch zu sehen. Wenn das Verständnis der Sachen gewonnen ist, dann kann die Phänomenologie verschwinden.« (GA 19, 9 ff.) 7 Das »Sehen« steht hier freilich nicht (nur) für das Bemerken mit dem bloßen Auge, sondern meint als Metapher die ganze und untrennbare Sphäre des »sinnlichen« Erlebens. Gerade deswegen impliziert das hier gemeinte »Sehen« selbst noch die Möglichkeit der Beobachtung von Denkerfahrungen und reinen Bewusstseinsinhalten bzw. -strukturen. 6
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hat? Gelingt es der Forschung überhaupt noch, jenseits der Verwaltung von Philosophiehistorie und schulischer Wissensvermittlung, einen gesammelten Blick auf die Dinge zu werfen; gelingt es ihr, sei es auch nur für wenige Minuten, unmittelbar in den Blick zu bekommen, in Erfahrung zu bringen, über was schließlich etwas ausgesagt werden möchte – sofern es jenseits von selbstreferenziellen Quellenangaben überhaupt noch etwas zu »sagen« gibt? 8 Die Besonderheit und Attraktivität der Phänomenologie scheint jedenfalls auch heute noch – jenseits akademischer Philisterei – in der »Voraussetzungslosigkeit« (Hua 19, 24) ihrer Methode zu liegen, d. h. im Angebot, zunächst von theoretischen und metaphysischen Vorannahmen abzusehen, diese eben einzuklammern, damit das Zu-Denkende in der erlebten Erfahrung überhaupt erst frei gesichtet werden kann. 9 Die Einstellung der Voraussetzungslosigkeit, welche erstmals mit der Ausbildung und Einübung der Epoché eingenommen war, fordert demnach den Mut, das Denken jedes Mal neu beginnen zu lassen, mit jeder phänomenologischen Untersuchung einen neuen Anfang zu markieren. Ohne die jedesmalig und voraussetzungslos neu beginnende Eigenheit der phänomenologischen Einstellung erfasst, ja ohne einen »rein phänomenologischen Boden sich wirklich zugeeignet zu haben, mag man zwar das Wort Phänomenologie gebrauchen, die Sache hat man nicht« (Hua 3, 179). 10 Der methodologische Anspruch der »reinen« und »achtsamen« Schau der Phänomene in seinem jeweiligen Charakter und der jeweiligen Gegebenheitsweise, kurzum: die Freilegung des Phänomens, offenbart letztlich eine radikale Verbundenheit der Phänomenologie zu
Von dieser provokanten Kritik ist der vorliegende Text nicht ausgeschlossen. Um auch hier einem alten Missverständnis vorzubeugen: Die Einklammerung meint keine Ausklammerung. Es geht nicht darum, so zu tun, als sollte bzw. könnte man die theoretischen und metaphysischen Vorannahmen/Setzungen eliminieren. Spätestens, wenn man sich wieder der Sprache bedient bzw. bedienen muss, um etwas über die (in der phänomenologischen Einstellung erfahrenen) Aspekte des Phänomens aussagen zu können, werden unvermeidbar jene theoretischen und metaphysischen Dispositive mitausgesprochen werden, die sich in den Tiefenstrukturen der Sprache und sprachlichen Artikulation eingenistet haben. Der wesentliche Unterschied liegt allein darin, dass die Methode nun erlaubt, von einem anderen Ausgangspunkt her zu sprechen, nämlich ein Sprechen, das nicht von Theorien, sondern vom gesichteten Phänomen ausgeht. Durch die Umstellung der Einstellung werden die eingeklammerten Dispositionen selbst zu Phänomenen. 10 Vgl. dazu nochmals das Zitat von Heidegger in der Fußnote 6. 8 9
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einem bestimmten »Ursprung« der Philosophie. 11 Die Rede vom »phänomenologischen Sehen« als Metapher für die originär gegebene Anschauung versucht hier gerade eine Rückbesinnung auf die wohl getreueste Lesart des altgriechischen Verbs θεωρεῖν (theorein) bzw. des entsprechenden Substantivs θεωρία (theoria), das ursprünglich Schau bedeutete – das staunende Schauen angesichts dessen, was sich zeigt und in seinem Sich-Zeigen bedacht werden möchte. * * * Mit dem Wink zur Antike sei nun, ohne die Reflexion nach der Bedeutung der Phänomenologie aufzugeben, zur zweiten und dritten der eingangs gestellten Fragen übergegangen, nämlich: Was meint hier Metaphysik bzw. Metaphysikkritik? Und in welchem Verhältnis dazu steht die Phänomenologie? Die Bezeichnung Meta-physik führt bekanntlich auf die recht willkürliche Bezeichnung des Andronikos von Rhodos zurück, der einer verschollenen Schriftensammlung des Aristoteles, die er im Bücherregal dem Werk zur Physik nachgeordnet vorfand, eben deshalb den Titel τὰ μετὰ τὰ φυσικά (tà metà tà physiká), d. h. »nach der Physik« gab. Und doch scheint die Willkür des Archivars – zumindest in diesem Falle – die Intention des Autors nicht allzu sehr verfehlt zu haben. Gleich zu Beginn der Schriftensammlung bezeichnet Aristoteles selbst jene Wissenschaft, die darin besprochen werden soll, als die gebietende und bestimmende, welche die »ersten Prinzipien und Mit »Ursprung« bzw. »Anfang« ist hier das alte Griechenland gemeint, welches sich von den Vorsokratikern bis hin zu Platon und Aristoteles zieht, wobei letzteres (zumindest von Heidegger) bereits als das »anfängliche Ende« bezeichnet wird (GA 40, 197). Aus einer kultur- und nicht zuletzt eurozentrismuskritischen Sicht ist die Verortung des »Ursprungs« im alten Griechenland, sofern die Rede vom »Ursprung des Denkens« nicht ohnehin irreführend bzw. allzu sehr machtpolitisch motiviert ist, höchst fragwürdig. Weder das so genannte »alte Griechenland« noch irgendein ein anderer Moment in der Geschichte des Denkens kann als von der Welt isolierter Inzest gedacht werden. Es wäre darüber hinaus die Aufgabe einer inter»kulturellen« Phänomenologie, die noch aussteht, aufzuzeigen, dass der primäre Anspruch der phänomenologischen Methode als aufmerkendes Verweilen und Beschreiben der unmittelbar erlebten Phänomene (ihrer Intention nach) in unterschiedlichen Zeiträumen komparable Vorgänger hatte – wie dies etwa der späte Heidegger kurzfristig in der Auseinandersetzung mit dem Daoismus versucht hatte (Vgl. dazu u. a. Zeitschrift Polylog, Heidegger Interkulturell?, Ausgabe 31, Wien 2015; Parkes, Graham, Heidegger and Asian Thought, Hawai 1990; Stenger, Georg (Hrsg. u. a.): Heidegger und das ostasiatische Denken (Heidegger-Jahrbuch. Bd. 7), Freiburg 2013).
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Ursachen zu untersuchen hat« (Met., 982b5 f.). Die später als Metaphysik bezeichnete Wissenschaft ist somit für Aristoteles das, was für Platon die Ideenlehre ist, nämlich in der Tat eine Meta-Lehre, μετά im Sinne seiner altgriechischen Bedeutung als »Inmitten« und »Darüber hinaus«. Metaphysik geht demnach inmitten des Physischen über dieses hinweg – und zwar in der Überzeugung, dass von dieser jenseitigen Sphäre das Physische allererst ursächlich bestimmt und prinzipiell begründet werde. Weil sie der Erfahrung und dem Denken vorausgehe, indem sie jene allgemein bestimmenden Prinzipien und Ursachen (bzw. bei Platon die ursächlichen Ideen) zum Thema hat, kann Metaphysik von sich behaupten πρώτη φιλοσοφία, d. h. »erste Wissenschaft« zu sein (Met. I 10, 993a15; VI 1, 1026a24; Cael. I 8, 277b10; Phys. I 9, 192a35). In gewisser Hinsicht, so könnte man sagen, trifft dieses Verständnis von Metaphysik auch auf die Phänomenologie zu, insofern diese etwa die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis in einem transzendentalen Ego sucht oder eine Fundamentalontologie der (menschlichen) Existenz betreibt oder nach dem Sinn von Sein frägt usw., betrachtet sie sich selbst gewissermaßen als erste (und zudem »strenge«) Wissenschaft. Die Prätention, in diesem Sinne erste Wissenschaft zu sein, scheint jedenfalls bei der Phänomenologie keine Berührungsängste gegenüber möglichen Fragen der Metaphysik auszulösen. Wenn für die Phänomenologie das Problem der Metaphysik offensichtlich nicht im Ansprechen von grundlegenden Themenfeldern besteht, die sie als Phänomene (zumindest als Phänomene der Denkerfahrung) durchaus zu betrachten und zu thematisieren vermag, worin äußert sich dann jenes Dilemma, das bereits in der frühen Schaffensperiode Husserls zu einer antagonistischen Haltung gegenüber der Metaphysik führte? So lesen wir etwa in den Ideen I unmissverständlich: »Phänomenologische Auslegung ist […] weder offen noch versteckt, ein Theoretisieren mit übernommenen Voraussetzungen oder Hilfsgedanken aus der historisch metaphysischen Tradition. Sie steht zu all dem in schärfsten Gegensatz« (Hua 1, 177). Die voraussetzungslose Freilegung der Phänomene, wie oben ausgeführt, versteht sich hier nicht nur als eine Einklammerung metaphysischer Suppositionen, sondern im »schärfsten Gegensatz« zu diesen. Der deutlich ausformulierte Antagonismus gründet, wie bereits angedeutet, weniger in den Themenstellungen der Metaphysik, welche im Gegenteil selbst Sache der Phänomenologie sein können, sondern vielmehr in der Art und Weise wie die Metaphysik verfährt, operiert 18
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und in die Erfahrung abalinierend einwirkt. Der Vorwurf gegenüber der Metaphysik wird insbesondere darin bestehen, dass sie methodisch bzw. dass sie als Methode eine immense Verhüllung der erlebten Phänomene produziere, während die Phänomenologie gerade ihre Freilegung beabsichtige. Sie steht solcherart nicht nur im Gegensatz zu ihr, sondern darüber hinaus hat die Freilegung des erlebten Phänomens unweigerlich eine De(kon)struktion metaphysischer Annahmen zu bedeuten. Es ist dies eine Dekonstruktion mindestens in zweierlei Hinsicht: Einerseits durch die aktuell an der jeweiligen Sache durchgeführten phänomenologischen Untersuchung, indem sie Kraft der Epoché das Phänomen vom theoretischen und metaphysischen Ballast befreiend zur Sicht bekommt und andererseits, indem Phänomenologie eine Destruktion der Geschichte des Denkens in Bezug auf jene Vorannahmen und Konditionierungen verfolgt. Das doppelte Verfahren zeigt auf, dass die gegenwärtigen Verschüttungen zugleich geschichtliche Sedimente sind. Der aktuell vollzogene Rückgang zu einem »rein phänomenologischen Boden« muss daher in geschichtlicher Hinsicht – radikal gedacht – einen Anfang vor der Metaphysik finden. 12 Wenn vorhin gesagt wurde, dass Phänomenologie eine Rückbesinnung zum »Anfang« der Philosophie im Sinne der staunenden Schau bedeute und sie sich im Bereich dieser ursprünglichen Aufgabe als strenge Universalwissenschaft verorte, dann hat solch eine Rückbesinnung eben zugleich eine dekonstruktivistische Kritik an der Überlieferung, einen »kritischen Abbau« vorzunehmen (GA 24, 31), ohne dabei die Bedeutung der Inhalte und Fragestellungen dieser Geschichte eliminieren zu wollen. 13 In seiner Vorlesung Einführung in die Metaphysik setzt Heidegger jene Kritik unmittelbar beim Anfang (einer bestimmten Ausrichtung) der Metaphysik an, der er eine verhängnisvolle Auswirkung auf spätere Ablagerungen »abendländischer« Philosophie (und aufgrund ihrer weltweiten Vorherrschaft überhaupt auf die Lebenswelt des Menschen) unterstellt. Um die Vorgehensweise einer geschichtlichen Destruktion – einer Dekonstruktion der geschichtlichen Verschleierungen der Phänomene durch die Metaphysik, die zugleich Vgl. dazu GA 7, 69 f.; GA 44, 230; GA 47, 319; GA 39, 1; GA 65, 422 sowie GA 45, 45, 127, 135, 190. 13 Auch in geschichtlicher Hinsicht gilt der Satz, dass die Einklammerung keine Ausklammerung im Sinne der Elimination bedeutet, sondern zuallererst ermöglicht, das Eingeklammerte in seiner Bedeutsamkeit in die Sicht zu bekommen. Vgl. dazu Fußnote 9. 12
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ihre gegenwärtige Verschüttung sedimentiert – veranschaulichen zu können, möchte ich in aller Kürze aus jener Vorlesung zwei ausschlaggebende Momente in Erinnerung rufen, in denen wir die Problemschilderung klar vorfinden: Nämlich erstens wie in der Antike die Wandlung der φύσις (physis) zur ἰδέα (idea) und zweitens die des λόγος (logos) zum κατηγορεῖν (kategorein) vollzogen wird. Beide Wandlungen kennzeichnen in der Einstellung zur Welt einen folgenschweren Umbruch, welcher ein Davor und Danach markiert. Jene Zäsur, so Heidegger, soll sich dabei in die Tiefen-Semantik des Wortes lesbar eingraviert haben und aus diesem Grunde müsse geschichtliche Freilegung eine Etymologie des Wortverstehens praktizieren. Jener Etymologie folgend stellt Heidegger zunächst die Frage, wie der im Diskurs der Antike als zentral geltende Ausdruck der φύσις vor dem besagten Umbruch, vor dem Einbruch der μετά-φύσις verstanden wurde. Es ist auffällig und bezeichnend zugleich, dass Heidegger die φύσις in ihrer ursprünglichen, also prä-metaphysischen Bedeutung bis zur Fungibilität in die Nähe des φαινόμενoν (phainomenon) rückt. Ausgehend vom Verb φύειν (phuein), zu Deutsch: das Aufgehen und Wachsen, versteht Heidegger die φύσις als »das Aufgehende […], das sich eröffnende Entfalten, das in solcher Entfaltung in die Erscheinung-Treten und in ihr sich Halten und Verbleiben« (GA 40, 16). Was die φύσις auszeichnet, ist die in jedem Moment der Erscheinung waltende Kraft der Sammlung, durch welche die jeweilige Erscheinung aufgeht und sich in der Erscheinung hält. Die Sammlung ist der φύσις immanent. Als Aufgehen in die fließende Ständigkeit, als Erscheinen und Sich-in-der-veränderlichen-Erscheinung-halten, gibt die φύσις, so Heidegger weiter, von sich je einen Anblick, hat je nach Perspektive des Betrachtens ein bestimmtes Aussehen, für das die altgriechische Bezeichnung εἶδος (eidos) steht (welches heute gewöhnlich mit »Form« übersetzt wird). Ἰδέα und in Übereinstimmung dazu εἶδος bezeichnen also in dem vergänglichen Augenblick einer dynamischen Erfahrung jeweils das metabolische »Gesicht«, das von einem Phänomen gesichtet und (für) wahr-genommen wird. Der eruptiv augenblickliche Anblick (die ἰδέα), welche die φύσις der Sichtung anbietet, ist selbst vergänglich und überdies allein eine Eigenschaft; »im wort-wörtlichen Sinne die Vorderfläche und Oberfläche der φύσις« (GA 40, 191). 14 Was sich nun im geGerade deswegen wird εἶδος später die Gestalt und Form einer Sache meinen können. Jedoch wird auch heute noch im Sprachgebrauch etwa die Aussage gemacht:
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schichtlichen Umbruch der Antike ereignet, ist erstens die rigide Verselbstständigung des Attributs ἰδέα zur absoluten und vollkommenen Idee, d. h. ihre Verselbstständigung in eine jenseitige, unberührbare und statisch-verharrende Sphäre absoluter Idealität, von wo aus sie (zweitens) in scheinbar unveränderlich souveräner Eigenständigkeit und getrennt von ihrem unmittelbaren Bezug zur Erscheinung sich behaupten kann. Drittens, und darin liegt schließlich die eigentliche »Gewalt-tat« der Metaphysik, geschieht in jener geschichtlichen Zäsur eine Verschiebung, eine hierarchische Umkehrung der Sachlage: Was einst die (in ständiger Veränderung befindliche) Eigenschaft des Phänomens gewesen ist – die ἰδέα – erhebt sich nun von der Oberfläche, von der bloßen Eigenschaft zum Wesentlichen empor, okkupiert das Wesen der φύσις und verdeckt damit zugleich die Sicht auf die Erscheinung selbst. »Das Sein als ἰδέα wird zum eigentlich Seienden hinaufgesteigert, und das Seiende selbst, das vormals Waltende [die φύσις], sinkt herab zu dem, was von Platon μη ὄν genannt wird, was eigentlich nicht sein sollte und eigentlich auch nicht ist, weil es die Idee, das reine Aussehen […] immer verunstaltet, indem es dieses in den Stoff hineinbildet« (GA 40, 193). Die φύσις wird so zum Unvollkommenen, zum Mangelhaften, zum unreinen Stoff und sinkt bis zur Nichtigkeit eines insuffizienten Abbilds der Idee herab, das nur noch mittels Anteil am unbefleckten Musterbild, dem παράδειγμα, Relevanz hat. Während die makellos vollkommene Idee als transzendentales Ideal die erlebte Erscheinung verdeckt, beherrscht und (zu) richtet, kommt der Erscheinung selbst die unendliche und unmögliche Aufgabe zu, ihren Mangel und ihre Nichtigkeit am herrschenden Ideal zu überwinden. 15 Diese Erzählung Heideggers von einer Sinnverschiebung der φύσις zur ἰδέα, welche an dieser Stelle kurz und in komprimierter Weise wiedergegeben wurde, kann freilich selbst einer genaueren Kritik un-
»Das ist eine reine Formalität« bzw.: »Dies geschieht nur formhalber« und man meint damit, es handle sich dabei um einen rein oberflächlichen Vorgang, der im Grunde nichts zur Sache tut. 15 In dieser vehementen Umkehrung der lebensweltlichen Erfahrung, in der die Abstraktion zum Eigentlichen und die unmittelbare Erfahrung zum Nichtigen erklärt wird, gründet schließlich der Anfang und Ursprung des Nihilismus. Jedes Mal, wenn Metaphysik zur Erfahrung zurückkehren möchte, findet sie lediglich das sinnlose Nichts vor, zu dem sie selbst die erlebte Erfahrung erniedrigt hat. Überwundene Metaphysik?
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terzogen werden, insbesondere wenn man die Frage danach aufwirft, ob das Verfahren einer Archäologie der Wortsemantik tatsächlich valide ist oder ob hier die Etymologie über ihre Möglichkeiten hinaus strapaziert oder gar missbraucht wird, um einen Gedankengang zu beweisen, dessen Ausgang im Grunde genommen schon im Vorhinein feststand. Was abseits etwaiger Mängel und Probleme heideggerscher Etymologie für die Leser_in dieses Sammelbandes interessant sein dürfte, ist der ausgesprochene Gedankengang selbst, in dem sich ein unvereinbar antagonistisches Verhältnis zwischen dem Anspruch der Phänomenologie und der anfänglichen Metaphysik ausbreitet. Während der Metaphysik die erlebte Gegenwart der Phänomene geradezu als das Unerträgliche erscheint (sie vor ihr fluchtartig in ein Jenseits zu entkommen versucht und das Wenige, was sie dabei mitnimmt – nämlich die Oberfläche der Erscheinung – bei der Rückkehr zur Erfahrung als das Wesentliche behauptet), habe die Phänomenologie gerade das Gegenteilige zur Aufgabe: Wie bereits ausgeführt, besteht die Aufgabe darin, beim Phänomen bzw. (entsprechend der heideggerschen Gleichsetzung) bei der φύσις zu verweilen, selbst wenn es sich dabei im husserlschen Sinne um einen (in der Epoché erlebten) reinen Bewusstseinsinhalt handeln möge. Durch den hier beschriebenen metaphysischen Zugang verlieren hingegen die Phänomene den selbstgebenden und selbstevidenten Sinn ihrer Erscheinung und gelangen erst durch theoretische Identifizierungen zur Positivität. Die Identifizierung ermöglicht nicht zuletzt das Festhalten einer an sich fluiden Erfahrung von Welt und deren Verwandlung zu einer nur noch theoretisch vorhandenen Gegenständlichkeit. Darin kündigt sich schließlich das zweite zentrale Problem an, welches in den Anfängen der Metaphysik gründet, nämlich der Wille zur völligen Theoretisierung der Erfahrung von Welt. Es ist dies die Herrschaft des λόγος (logos) – eines λόγος, der im antiken Umbruch der Metaphysik ebenfalls eine wesentliche Wandlung seiner Semantik durchlaufen haben soll. Um den vormetaphysischen Sinn von λόγος zu klären, interpretiert Heidegger (wir befinden uns weiterhin in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik) diesen gemäß einer altgriechischen Bedeutung von λέγέιν (legein), dem Sprechen. Sprechend verleiht der Mensch seinem Erleben Ausdruck, umschreibt, verdichtet und verständigt er sich über das Erlebte. Das Sprechen (bzw. Schreiben) aus solch einem λόγος heraus wird als eine Art Performance, als eine performative Sammlung des Phänomens in der Sprache verstanden, welche im Gespräch das Phänomen in seiner Un22
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verborgenheit – der ἀλήθεια (aletheia) – auszusprechen und somit in eine verstehende Sicht zu bringen vermag. Der metaphysische Umbruch zeichnet sich laut Heidegger nun dadurch aus, dass der λόγος sich nicht mehr als ein solch freilegendes Vermögen ereignet, sondern nunmehr mit der Sprache gleichgesetzt und schließlich auf bloße Aussagen und Meinungen der Sprache reduziert wird. Die selbstreferenziellen Aussagen sind nicht mehr in das Vernehmen und den Vollzug des Seins rückgebunden, sondern wie ein Kreditsystem leiht die eine Behauptung von der anderen ihren Sinn aus, ohne je ihre Schuld an der erlebten Erfahrung einlösen zu müssen. Die bezugslosen Aussagen können das Sein des Seienden nicht (mehr) sichten, bewahren, ausdrücken und verlieren sich solcherart in bloßen Meinungen, in einem weltfremden Gerede (Vgl. dazu auch: GA 2, § 35). Statt der Freilegung und Sammlung bezwecke das Gerede nun die Verdrängung des Erlebten, »statt Eröffnung des Seins dessen Verdeckung« (GA 40,181). Das Ausmaß dieser anfänglichen Problematik erschöpft sich jedoch nicht in jenem zerstreuenden und verhüllenden Gebrauch der Sprache, sondern in einer metaphysischen Steigerung, die sich insbesondere im Wandel des λόγος zum κατηγορεῖν (kategorein) vollziehe. Der λόγος als κατηγορεῖν bedeutet jetzt nicht nur ein Verdecken, sondern im Wesentlichen ein Anklagen und so rückt bzw. erhebt sich der λόγος zur Judikation, zur Rechtsprechung und Justizgewalt. Als »Gerichtshof« (ebd., 210) bringt der λόγος die Aussagen und Meinungen zur Anklage, prüft und urteilt, ob sie »wahr oder falsch« (ebd., 195), d. h. ob sie richtig oder nichtig sind. Die Wahrheit der Aussage hat sich dabei nicht an der lebensweltlichen Relevanz, sondern allein an dem souveränen Urteilsspruch des Logos zu richten, der sich wiederum an den Idealitäten, der idealen Seinsweise der ἰδέα orientiert. Der Logos als »Ort der Wahrheit im Sinne der Richtigkeit« (ebd., 194) ist nun der Richter über das Sein des Seienden schlechthin, entscheidet über ihre »Wahrheit«. 16 Es ist dies schließlich die Aufrichtung einer allmächtigen Rationalität, einer »Herrschaft des Denkens als ratio (als Verstand sowohl wie als Vernunft) über das Sein des Seienden« (ebd., 187). Unter dieser Vernunft und 16 Die ἀλήθεια (Wahrheit) erfährt somit im antiken Umbruch selbst eine fundamentale Sinnverschiebung, wie alles andere unterliege auch sie der »Gewalt-tat« anfänglicher Metapyhsik: »Der Wandel von φύσις und λόγος zu Idee und Aussage hat seinen inneren Grund in einem Wandel des Wesens der Wahrheit als Unverborgenheit zur Wahrheit als Richtigkeit« (GA 40, 198).
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ihrer präsupponiert vorausgehenden Seinsvergessenheit werden laut Heidegger die ganzen Machenschaften einer Geschichte abendländischen Daseins stehen und sich bis zum vollendeten Nihilismus der Moderne steigern. * * * Ohne an dieser Stelle genauer auf die heideggersche Auseinandersetzung mit der Geschichte des λόγος qua ratio eingehen zu können, dürfte es dennoch ersichtlich geworden sein, dass die Vernunftkritik in das Zentrum einer phänomenologisch verfahrenden Metaphysikkritik rückt. Es ist dies nicht unbedingt nur die Kritik an einer (metaphysischen) Vernunft, welche von der erlebten Erfahrung absieht, abstrahiert, das Abstrahierte formalisiert und zu idealen Normen und Begriffen kategorisiert; und selbst die Manipulation und Machbarkeit des Seienden unter den Möglichkeiten einer solchen Vernunft scheint hier nicht das zentrale Motiv der Kritik zu sein, sondern das primäre Problem zeigt sich vielmehr im alleinigen Herrschaftsanspruch jener Rationalität und den Auswirkungen auf die Lebenswelt, welche durch ihre absolute Metaphysik (Nihilismus) etabliert wird. In letzter Konsequenz impliziert dies schließlich die nivellierende Reduktion der vielseitigen Erscheinungsweisen des Phänomens auf eine bestimmte Ansicht, durch welche die Beherrschbarkeit alles Seienden garantiert werden soll. Vielleicht kann, als letzter Punkt dieser kleinen Einführung, die angedeutete Problematik nochmals mit Husserl verdeutlicht werden, der seine Vernunftkritik nicht wie Heidegger in der Antike, sondern in der Renaissance ansetzt. Gemeint ist hierbei vor allem die bahnbrechende galileische Physik, durch die sich eine für die Neuzeit und die nachfolgende Geschichtsentwicklung verhängnisvolle Sedimentation ereignet habe. Mit der galileischen Einstellung zum Physischen konnte, so Husserl, die völlige Idealisierung und Objektivierung der phänomenalen Erfahrung dank einer präzise ausgebildeten Geometrie forciert werden, welche nunmehr die Körper »in absoluter Identität zu bestimmen, sie als Substrate absolut identischer und methodisch-eindeutig bestimmbarer Beschaffenheit« (Hua 6, 24) festzusetzen vermochte. Jene Verfügbarmachung als einem »geistigen Hantieren in der geometrischen Welt idealer Gegenständlichkeiten« (ebd.) konnte letztlich nur kraft einer berechnenden Vernunft ermöglicht und perfektioniert werden, die sich weniger an Kategorien und Begriffen als vielmehr am Kalkül 24
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exakter Mathematik orientierte. Um die Vormachtstellung einer berechnenden Vernunft gewährleisten zu können, musste zuallererst eine Mathematisierung der Welt vorangetrieben werden, wonach sich die »ganze konkrete Welt […] als mathematisierbar-objektive [zu] erweisen« hatte (Hua 6, 37). 17 Die Schwierigkeit bzw. das »Übel« (Hua 6, 338), wie Husserl an einer Stelle drastisch formuliert, liegt an diesem Wendepunkt jedoch nicht darin beschlossen, dass die Welt solcherart geometrisch ideal abstrahiert und mathematisch-objektiv betrachtet werden kann. Im Gegenteil scheint die geometrisch-mathematische Betrachtung bzw. Erscheinungsweise beim Phänomen selbst angesiedelt zu sein und kann als solch eine mögliche Eigenschaft des Phänomens eben selbst auch Thema einer phänomenologischen Untersuchung werden. Das Verhängnisvolle am geschichtlichen Sediment der »Neustiftung« drückt sich vielmehr und abermals durch eine drastische Verschiebung aus, nämlich durch eine »bei Galilei sich vollziehende Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt« (Hua 6, 49). Seit Beginn der Renaissance werde die unmittelbar phänomenale Erfahrung von Lebenswelt durch eine mathematischobjektive Welt »erneuert«, d. h. ersetzt, sodass man es im Laufe der Entwicklung nur noch mit einem »Kleid der Symbole, der symbolisch-mathematischen Theorien« zu tun habe, welche »als die ›objektiv wirkliche und wahre‹ Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet« (Hua 6, 52). Am Ende dieser Entwicklung konstatiert Husserl bekanntlich eine fundamentale »Krisis«, die sich auch hier durch jene entfremdende Haltung auszeichnet, die nicht nur irreversibel in die lebensweltliche Erfahrung eingreift, sondern sich vor ihr aufbaut, sie verdeckt und schließlich ihre Stelle einnimmt bzw. einzunehmen versucht. Indem die neuzeitliche Welteinstellung jene ideale Welt zur »eigentlichen«, die Lebenswelt hingegen zur »nichtigen« erklärt,
Mit Bezugnahme auf die soeben dargelegten Ausführungen Heideggers könnte man an dieser Stelle vielleicht sagen, dass sich mit der Renaissance die ἰδέα (als Anblick und Aussehen der φύσις) zu einem exakten εἶδος qua geometrische Form, d. h. durch die mathematische Geometrie weiter perfektioniert und idealisiert hat. Auf der anderen Seite bleibt das Urteilen des λόγος nicht mehr beim κατηγορεῖν stehen, sondern die herrschende Vernunft beruft sich vielmehr auf die Logik der Mathematik, sodass es nun ihre Berechnung ist, welche als letzte Instanz über die Wahrheit der Dinge entscheidet. 17
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»gründet« die moderne »Krisis«, so könnte man sagen, letztendlich in einer nihilistischen »Weltlosigkeit«. 18 Ohne mich durch eine detaillierte Lektüre der Krisis-Schrift aufhalten zu lassen, möchte ich an dieser Stelle die Gelegenheit wahrnehmen, um eine besondere Dimension jener husserlschen Geschichtsdekonstruktion zu betonen. Was in den bemerkenswerten Analysen zu einer Verschüttung und Krise der Lebenswelt zum Ausdruck kommt, ist das Eingeständnis einer fundamentalen MetaphyDie Paradoxie in Husserls Ausführung besteht jedoch darin, dass die Lebenswelt im Grunde nicht tilgbar ist, sie kann als das eigentlich Erlebte, als das Substrat der Erfahrung nicht ausgelöscht werden. Selbst die abstrakteste Wissenschaft findet in einer Lebenswelt statt. Wenn hier also die Rede von »Weltlosigkeit« ist, dann meint dies nicht, die Welt wäre verschwunden, sondern sie verschwindet nur scheinbar aus dem Horizont der neuzeitlich konditionierten Welteinstellung – indem sie eben »verdeckt«, »verschüttet«, »entstellt« ist. Unter den Verdeckungen der Oberflächlichkeit bleibt sie weiterhin aktiv. Gerade weil sie trotz der Verschüttungen in tiefer gelegenen Schichten fortwährend aktiv ist, können die Lebenswelt und ihre Phänomene, so zumindest der Anspruch der Phänomenologie, durch eine Art Dekonstruktion der Verdeckung wieder entdeckt, freigelegt und neu in Erfahrung gebracht werden. [Allerdings wurde auch Husserl oftmals vorgeworfen, dies sei hier in eckiger Parenthese kurz angesprochen, dass seine (transzendentale) Phänomenologie ebenso weltlos sei, weil sie auf einen weltlosen Subjekt-Idealismus hinauslaufe: und zwar an jenem Punkt, an dem die Methode der Epoché beabsichtige, man solle die Generalthesis einer natürlichen Einstellung verlassen und stattdessen einen fluchtartigen Rückzug in das transzendentale »Innenleben« vollziehen. In der Tat verfolgt Husserls Epoché in gewisser Weise einen Rückzug »in« das Subjekt, um dabei das »Bewusstseinsleben im Inneren« betrachten und verstehen zu können (Hua 6, 156); doch dies geschieht keineswegs weltfremd. Jene (in der Subjektivität beobachteten) intentionalen Akte, Erscheinungsweisen/-regionen usw. stehen immer in Korrelation zur erlebten Welt. Die Einklammerung der Generalthesis bedeutet daher nicht ihre Ausklammerung, sie bedeutet keineswegs eine Negation der Welt. So stellt Husserl unmissverständlich klar: »Alle Bezweiflung und Verwerfung von Gegebenheiten der natürlichen Welt ändert nichts an der Generalthesis der natürlichen Einstellung. ›Die‹ Welt ist als Wirklichkeit immer da« (Hua 3/1, 61). Durch die Epoché wird die reale Welt nicht »geleugnet, sondern eine widersinnige Deutung derselben, die ihrem eigenen, einsichtig geklärten Sinne widerspricht, beseitigt« (Hua 3/1, 120). Indem die Epoché und Reduktion die objektivierende Annahme (wonach eine Welt existiert, die von der Erfahrung und dem Bewusstseinsleben unabhängig sei) ausschaltet, ermöglicht sie einerseits die Beseitigung jener theoretisch-metaphysischen Voraussetzungen einer objektivierten Welt der Objekte und andererseits ermöglicht sie die Freilegung der Phänomene, so wie sie in der lebensweltlichen Erfahrung je erscheinen. Um zur oben erwähnten Problematik zurückzukehren, bedeutet dies, dass die phänomenologische Einstellung eben nicht die Welt negiert, sondern sie dekonstruiert allein die Konstruktion einer Welt der mathematisch-objektiven Idealitäten, die sich an die Stelle der erlebten Welt gesetzt hat und diese dabei verdeckt.]
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sikkritik, die weder bei einer Erkenntnis- und Vernunftkritik noch bei einer Wissenschaftskritik stehen bleiben kann, sondern dazu gedrängt ist, deren lebensweltliche Relevanz für das menschliche Dasein aufzuzeigen. Die Krisis der Wissenschaft meint immer auch eine »Krisis des Menschentums« – nicht nur, weil moderne Wissenschaft sowohl durch Bildung(sanstalten) als auch den ihr entwachsenen technischen Möglichkeiten den Bezug des Menschen zur Welt unmittelbar produziert und reglementiert, sondern auch – weil die technokratische Naturbeherrschung und Welteinstellung vor dem Menschen selbst nicht haltmacht, d. h. letztlich auch den Menschen in seinem Wesen zu einer berechenbaren Objektivität reduziert. Dort, wo die Praktiken kategorisch-idealer Objektivierung, identifizierender Vergegenständlichung und exakter Berechenbarkeit unaufhaltsam die zwischenmenschliche Alltäglichkeit erreichen, schlägt die Haltung des theoretischen Menschen auf ihn und seine Mitwelt zurück. Der Mensch, die Vitalität seiner Leiblichkeit und Sozialität, werden gleichermaßen verdinglicht und zu einem mathematischen Faktor der Kalkulierbarkeit erniedrigt. Das nutzorientierte Kalkül wird zur gewöhnlichen Praxis. Angesichts dessen schreibt Heidegger in einer geradezu pessimistischen Intonation: »Die Alltäglichkeit nimmt das Dasein [des Menschen] als ein Zuhandenes, das besorgt, das heißt verwaltet und verrechnet wird. Das ›Leben‹ ist ein ›Geschäft‹, gleichviel ob es seine Kosten deckt oder nicht« 19 ; »die Anderen [werden darin] lediglich noch als ›Nummer‹ behandelt […]. Dieses ›rücksichtslose‹ Mitsein rechnet mit den Anderen, ohne daß es ernsthaft ›auf sie zählt‹ oder auch nur mit ihnen ›zu tun haben‹ möchte«. 20 Spätestens in diesen Beschreibungen einer Entfremdung zwischenmenschlicher Beziehungen, darin der Andere – in den Worten von Emmanuel Levinas – vom Du zum Es, zu einem besorgbaren und verfügbaren Gegenstand wird und dadurch eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht (dans le face-à-face avec autrui) ausbleibt 21 , wird Phänomenologie unweigerlich politisch. Damit möchte ich zu einem Abschluss dieser Einführung und zugleich zu einem letzten Anliegen kommen, welches in all den hier aufgeworfenen ProblemHeidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 1993, 289. Ebd., 125. 21 Vgl. Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchung zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg 2007, 116 f. 19 20
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stellungen unausgesprochen mitgesprochen hat. Es handelt sich dabei um eine Frage, welche sich der Konferenzorganisation in den vorbereitenden Gesprächen wie auch den Diskussionen vor und hinter den Kulissen der Tagung immer wieder aufoktroyiert hat, und die lautet, ob sich durch die phänomenologische Freilegung metaphysischer Verschüttungen nicht nur eine Fortführung kritischen Bewusstseins, sondern tatsächlich ein anderer Weltaufenthalt ereignen kann? Oder anders gefragt: Hat die Phänomenologie ein emanzipatorisches Potential? Kann die Phänomenologie die Ankunft eines Anderen, eines anderen Weltaufenthalts vorbereiten, welcher sich angesichts der globalen Situation schon seit längerem dringlich meldet? Es mag dies eine offene, jedoch nicht vertagbare Frage bleiben.
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Zur Auseinandersetzung Edmund Husserls mit Platon und Aristoteles Metaphysik, Ontologie und Theologie in Husserls eidetischer Phänomenologie als Erster Philosophie Dirk Fonfara I.
Einleitung: Die Verbindung von Erster Philosophie und Eidoslehre
Husserls Phänomenologie erhebt bekanntlich den Anspruch, sich nicht nur auf empirisch-zufällige Fakten zu beziehen, sondern zu Wesenseinsichten zu gelangen. Deshalb ist sie eine eidetische oder eine Wesenswissenschaft und als solche Erste Philosophie. Deren enge Verknüpfung mit der Lehre vom Wesen oder Eidos trifft allerdings bereits auf Platon und Aristoteles zu, wenn man einerseits an Platons von der Forschung mehrfach betonten »Begründung der abendländischen Metaphysik« im Phaidon denkt 1 oder an die Charakterisierung seiner Dialektik in Politeia VII als einzig wahre philosophische Wissenschaft, andererseits an die unterschiedlichen Bestimmungen der Ersten Philosophie in Aristoteles’ Metaphysik, in denen ein eigenes Problem steckt und eine jahrhundertelange Kontroverse ausgelöst hat. 2 In Band XLI sind seit 2012 auch die einschlägigen Texte Husserls zur Wesenslehre in der Husserliana umfassend dokumentiert. Hierbei lassen sich verschiedene Phasen von Husserls Beschäftigung mit dem Eidos ausmachen, die jeweils mit bestimmten 1 Vgl. Wagner, Hans, »Platos Phaedo und der Beginn der Metaphysik als Wissenschaft [Phaedo 99D-107B]«, in: Karl Bärthlein/Werner Flach (Hg.), Kritische Philosophie, Würzburg 1980, S. 175–189 (insbes. S. 185); Reale, Giovanni, »Die Begründung der abendländischen Metaphysik: Phaidon und Menon«, in: Theo Kobusch/Burkhard Mojsisch (Hg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, S. 64–80 (insbes. S. 72–75) und Erler, Michael, Platon, München 2006, S. 143. 2 Vgl. dazu Fonfara, Dirk, »Argument und literarische Form in der Metaphysik des Aristoteles. Die Vereinbarkeit der unterschiedlichen Bestimmungen zur ›ersten Philosophie‹ im Rahmen einer universalistischen Substanz-Ontologie«, in: Michael Erler/Jan Erik Heßler (Hg.), Argument und literarische Form in antiker Philosophie, Akten des 3. Kongresses der Gesellschaft für antike Philosophie 2010, Berlin, Boston 2013, S. 191–214 (zum Stand der Forschung insbes. S. 193–195).
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systematischen Schwerpunkten einhergehen, auch Problemfelder einschließen und ebenso die Grenzen der eidetischen Methode als solcher aufzeigen. 3 Diese Analysen stehen ihrerseits in unmittelbarem Kontext mit Husserls Konzeption einer eidetischen Phänomenologie als der Ersten Philosophie.
II.
Die Erste Philosophie im Kontext einer vorangehenden Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition
Seit jeher gehen der Darlegung der eigenen Ersten Philosophie Auseinandersetzungen mit der philosophischen Tradition voraus. Dieses Vorgehen findet sich bereits bei Platon und Aristoteles. 4 Bevor Platon im Sophistes seine reine Ontologie anhand einer Theorie oberster Gattungen entfaltet (Soph. 253e–255e), 5 schildert er die berühmte Gigantenschlacht über das eigentlich Seiende (gigantomachia peri tes ousias, Soph. 246a). Dasselbe gilt für das erste Buch der Metaphysik des Aristoteles, in dem er die Vorgänger-Theorien über die ersten Ursachen und Prinzipien des Seienden diskutiert und erst vor diesem Hintergrund seine eigene Erste Philosophie als universalistische Ontologie (Met. IV 1) und Theologie (Met. VI 1) erörtert. 6 Schon Platon und Aristoteles betrieben also Metaphysikkritik, jedenfalls der Sache nach, auch wenn der Terminus Metaphysik erst bei Andronikos von Rhodos belegt ist.
3 Vgl. hierzu näher die »Einleitung des Herausgebers« in: Edmund Husserl, Zur Lehre vom Wesen und zur Methode der eidetischen Variation. Texte aus dem Nachlass (1891–1935), in: Hua Bd. XLI, Dirk Fonfara (Hg.), Dordrecht 2012, XVII–XLV, hier: XXV-XLIV. 4 Vgl. hierzu auch Fonfara, Dirk, »Zwischen Tradition und Innovation. Aristoteles’ doxographische Methode – mit einem Ausblick auf Husserl«, in: Dirk Fonfara (Hg.), Metaphysik als Wissenschaft. Festschrift für Klaus Düsing zum 65. Geburtstag, Freiburg, München 2006, S. 102–132, zur Frage der Doxographie bei Platon: S. 116–125, zu Aristoteles: S. 108–116. 5 Vgl. dazu Düsing, Klaus, »Dialektikmodelle. Platons Sophistes sowie Hegels und Heideggers Umdeutungen«, in: Dieter Wandschneider (Hg.), Das Problem der Dialektik, Bonn 1997, S. 4–18, insbes. S. 7–9. 6 Nähere Erläuterungen dazu finden sich in: Fonfara, »Argument und literarische Form«, S. 199–203 bzw. S. 203–205. Zur Terminologie und Typologie verschiedener Ontologietypen vgl. Düsing, Klaus, »Ontologie bei Aristoteles und Hegel«, in: HegelStudien 32/1997, S. 61–92, insbes. S. 61 f., 75 f.
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Husserls Metaphysikkritik war in der Husserliana bisher lediglich im Rahmen der »Kritischen Ideengeschichte«, dem 1. Teil seiner Vorlesungen über Erste Philosophie von 1923/24, zugänglich. Dort sieht Husserl das »Desiderat einer Ersten Philosophie […] keineswegs […] schon in irgendeinem der historisch überlieferten philosophischen Systeme […] in Form einer echten Wissenschaft von zwingender Rationalität« erfüllt. 7 Vielmehr bezeichnet er alle vorherigen »Ersten Philosophien« als »dogmatische«. Denn »ihre Methoden und Theorien waren nicht aus den letzten Ursprüngen in der transzendentalen Subjektivität geschöpft«, um von dort aus »ihren letzten Sinn und ihre letzte Wahrheit« zu empfangen. 8 Daher kam es bisher nur zu einer »Vorstufe echter philosophischer Wissenschaft«. 9 Jene kritisierten Konzeptionen Erster Philosophie erachtet Husserl zwar als vielversprechend, sie bleiben jedoch unzureichend, weil sie noch einer rein eidetischen Phänomenologie bedürfen, in der sich »die erste Verwirklichung einer philosophischen Wissenschaft – die einer ›ersten Philosophie‹ vollzieht und vollziehen kann«. 10 Offenkundig sind bereits bei diesen Bestandsaufnahmen Husserls eigene Überlegungen gegenwärtig. Im Rahmen einer solchen Diskussion der philosophischen Tradition bezieht sich Husserl auch auf Platon, dem er die »Schöpfung der Idee wahrer und echter Wissenschaft oder […] der Idee der Philosophie« zuschreibt. 11 Rekurrierend auf das Liniengleichnis am Ende des VI. Buches der Politeia, schätzt Husserl an ihm, dass »Platon die ihm historisch vorgegebenen Wissenschaften als bloße Vorstufen solcher echt rationalen Wissenschaften wertet« 12 und erst mit ihm »die reinen Ideen […] und […] echte Philosophie […] in das Bewußtsein der 7 Husserl, Edmund, Erste Philosophie. Vorlesungen 1923/1924, in: Hua Bd. VII, Rudolf Boehm (Hg.), Den Haag 1956, S. 5 f.; vgl. hierzu und zum Folgenden auch Fonfara, »Tradition und Innovation«, S. 128–132. 8 Husserl, Erste Philosophie, S. 183. 9 Ebd., S. 56. 10 Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen, in: Hua Bd. I, Stephan Strasser (Hg.), Den Haag 2 1973, § 34, S. 106. 11 Husserl, Erste Philosophie, S. 8. 12 Ebd., S. 327 (Beilage VII »Über Platon und die Begründung der Ideenmathematik«, verfasst etwa 1924). – Zum Liniengleichnis und zur vorbereitenden Funktion der mathematischen Disziplinen auf die Dialektik in Politeia VII vgl. Fonfara, Dirk, »Das Selbst und die Begründung der Philosophie als Wissenschaft bei Platon«, in: Markus Pfeifer/Smail Rapic (Hg.), Das Selbst und sein Anderes, Freiburg, München 2009, S. 30–55, insbes. S. 48–52.
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Menschheit traten.« 13 Platons Dialektik bilde infolgedessen den »Anfang einer neuen Epoche«. 14 So überrascht es auch nicht, dass Husserl nicht nur durch die Übernahme der Terminologie (idea, eidos, methexis) oder von Theoremen 15 sich in die Sokratisch-Platonische Tradition stellt, sondern sogar seine eigene Wesensforschung im zweiten Kaizo-Artikel [1924] als »die reine und konsequente Übung der schon von Sokrates-Platon in die Wissenschaft eingeführten Methode der Ideenschau und der […] Ideenerkenntnis« bezeichnet. 16 Demgegenüber hat sich Husserl aber ebenso deutlich von Platon abgegrenzt. Er sei nämlich, so Husserl im besagten Kaizo-Artikel, »weit entfernt davon, […] sich mit irgendwelchen (ob Platonischen oder nachplatonischen) metaphysischen Erbteilen zu belasten, welche mit dem Begriff der ›Idee‹ […] historisch verhaftet sind.« 17 Vielmehr verwende er das Eidos »rein gefaßt und frei von allen metaphysischen Interpretationen«, wie sich Husserl in Erfahrung und Urteil äußert. 18 Husserl versteht tatsächlich unter Ideen ausschließlich Erkenntnisgegenstände, die durch aktive Verstandesoperationen gewonnen werden, 19 und übernimmt von Platon nicht die ontologische Bedeutung der Idee als das eigentlich Seiende. Dies betont er bereits in § 7 der II. Log. Untersuchung wie folgt: »Die Mißdeutungen des platonisierenden Realismus können wir, als längst erledigt, auf sich beruhen lassen.« 20 Verglichen mit der Platon-Rezeption in den oben rekapitulierten Vorlesungen Husserls über Erste Philosophie nimmt er dort nur sehr kurz Stellung zu Aristoteles, und zwar insofern, als Husserl dessen Erste Philosophie als eine rückläufige Entwicklung gegenüber Platons Husserl, Erste Philosophie, S. 12 f. Husserl, Erste Philosophie, S. 13. 15 Man denke etwa an das Theorem von der Teilhabe des Einzelnen am Allgemeinen in § 26 der II. Logischen Untersuchung (Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, in: Hua Bd. XIX/1, Ursula Panzer (Hg.), Den Haag 1984, S. 176) oder in § 89 von Erfahrung und Urteil (Redigiert und hg. v. Ludwig Landgrebe, Hamburg 7. Auflage 1999, S. 423). 16 Husserl, Edmund, »Die Methode der Wesensforschung«, in: Aufsätze und Vorträge 1922–1937, in: Hua Bd. XXVII, Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp (Hg.), Dordrecht [u. a.] 1989, S. 13–20, hier: S. 13. 17 Ebd., 13. 18 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 411. 19 Vgl. hierzu ebd. den III. Abschnitt zur Konstitution der Allgemeingegenständlichkeiten, § 80–87, und zum Stufenbau der reinen Allgemeinheiten § 92, S. 432–436. 20 Husserl, Logische Untersuchungen, S. 128. 13 14
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Dialektik bewertet: Die von Platon ihren Ausgangspunkt nehmende neue Philosophie, so auch »die allgemeine Metaphysik (Aristoteles’ Erste Philosophie)« war nur eine unvollkommene Verwirklichung »der Platonischen Idee der Philosophie als sich absolut rechtfertigender Wissenschaft«. 21 Aristoteles verfiel nämlich »in die sehr natürliche Selbstverständlichkeit einer vorgegebenen Welt, eben damit jede radikale Erkenntnisbegründung preisgebend.« 22 Insgesamt fallen in jenen Vorlesungen Husserls Bemerkungen zu Platon und Aristoteles recht knapp aus. Dies ändert sich signifikant mit der Veröffentlichung der umfangreichen Freiburger Einleitungsvorlesung vom WS 1919/20 in den Husserliana Materialien im Jahr 2013, die eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Platonischen und Aristotelischen Philosophie enthält. 23 Husserl schätzt Platon hier als den »Entdecker der Idee« bzw. »Entdecker des Apriori« 24 und als »Urvater strenger Wissenschaft und wissenschaftlicher Philosophie«, 25 weil seine »Lebensarbeit« auf eine »universale methodologische Reform« gegangen sei. 26 Auch an den »Gedanken einer formalen Ontologie in unserem Sinne hat er […] schon gerührt«. 27 Hierzu bezieht sich Husserl explizit auf Platons Theorem des Aufstiegs zum Reich der Idee in Verbindung mit einer völligen Umwendung der Seele aus Politeia VII. Ferner habe sogar die allgemeine Logik in Platons Untersuchungen ihren Ursprung. 28 Deshalb verweist Husserl nicht nur bei der von ihm aufgenommenen zentralen Unterscheidung von doxa und episteme, sondern auch hinsichtlich der Wahrheit von Aussagen auf den Theaitetos und seine »tief bohrenden dialektischen Erörterungen, […] wie sehr sie auch noch in Allgemeinheiten stecken bleiben.« 29 Denn Platon kam bei der Frage nach dem Wesen echter Erkenntnis »über formale Bestimmungen […] nicht hinaus.« 30 Ein weiterer Kritikpunkt HusHusserl, Erste Philosophie, S. 17. Ebd., S. 56. 23 Husserl, Edmund, Einleitung in die Philosophie, Vorlesungen 1919/20, in: Hua Mat Bd. IX, Hanne Jacobs (Hg.), Dordrecht 2013, S. 1–287, zu Platon insbes. S. 28–88, zu Aristoteles insbes. S. 88–104. 24 Ebd., S. 36, 44. 25 Ebd., S. 28. 26 Ebd., S. 29. 27 Ebd., S. 60. 28 Vgl. ebd., S. 65. 29 Ebd., S. 67. 30 Ebd., S. 30. 21 22
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serls lautet nämlich, dass Platon nicht klar zwischen Formalem und Materialem unterschieden habe: Noch keine klare Vorstellung hatte Platon von der gewaltigen Bedeutung reinlicher Scheidung zwischen Formalem und Materialem und einer reinlich gesonderten Entwicklung der Wissenschaften formalen Charakters, wie unserer formalen Logik und Ontologie, gegenüber den Wissenschaften der Realität. […] Es ist nicht zu leugnen, dass in diesen Richtungen bei Platon Unsicherheiten und Unklarheiten vorlagen. 31
Selbstverständlich finden sich in Platons Ideenkonzeption noch nicht die Differenzierungen zwischen formalem und kontingentem oder material-sachhaltigem Apriori, wie etwa in § 6 von Formale und Transzendentale Logik. 32 Auf ähnliche Weise bemängelt Husserl in einem erst vor kurzem veröffentlichten Text, Platon reduziere »die Idee auf das allgemeine Wesen«, statt sie in typisches und exakt Allgemeines zu differenzieren. 33 Dies erfolgt wiederum vor Husserls eigenem Denkhintergrund. Denn nur er unterscheidet zwischen einem untersten, typischen Wesen, das noch kein streng Allgemeines im Sinne der Spezies oder Gattung ist, und eben solchen höheren Allgemeinheiten. Platon hingegen kennt nur Ideen, die sich – etwa im Politikos oder Sophistes – im methodischen Verfahren der Begriffseinteilung (dihairesis) gliedern lassen, von einem obersten Allgemeinen ausgehen und immer weiter in Dichotomien fortschreiten bis hin zum nicht weiter untergliederbaren, unteilbaren (atomon) Eidos. Universalien sind sie aber alle gleichermaßen. Was Aristoteles angeht, so ist dieser für Husserl gemäß jener neu edierten Vorlesung ein »gewaltiger systematischer Philosoph, einer der größten Wissenschaftler, die je gelebt« haben; doch »er lebt im Endlichen; er verfolgt die platonischen Intentionen so weit, dass sein Blick einen endlichen geistigen Kosmos umschließen und als Beherrscher durchwandern kann.« 34 Ihm, dem »Schöpfer der SyllogisEbd., S. 86. Husserl, Edmund, »Formale und transzendentale Logik«, in: Hua Bd. XVII, Paul Janssen (Hg.), Den Haag 1974, S. 32–34, und ebd., S. 379–393 (Ergänzender Text V von 1920/21), insbes. S. 380–383. – Noch gravierender wird Husserls Kritik in dieser Hinsicht später bei seiner Bezugnahme auf die Aristotelische Kategorienlehre ausfallen. 33 Husserl, Zur Lehre vom Wesen, Beilage XIV (zw. 1918 und 1920 verfasst), S. 116– 118, hier: S. 117. 34 Husserl, Einleitung in die Philosophie, S. 87. 31 32
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tik«, 35 schreibt Husserl als Philosoph zwar Systemdenken, aber eine deutliche Begrenztheit zu. Denn er habe zwar die logischen Probleme in ihrer prinzipiellsten Allgemeinheit nicht erschaut und nach ihren Quellen gesondert, gebe jedoch den ersten Entwurf einer Wissenschaft von der Aussage, eine erste formale Gruppierung einfacher Urteilsarten und eine erste systematische Theorie der formalen Gesetze für kategorische Schlüsse in seinen Analytiken. Letztlich sei Aristoteles aber »auf halbem Wege stehen geblieben« und habe die Idee einer formalen Logik nicht zu reiner Abhebung und Bestimmung gebracht. Denn in all seinen logischen Forschungen denkt er immer an Regeln für Erkenntnis der Realität; was ihn interessiert, sei immerfort »Metaphysik«, allgemeinste Erkenntnis für Seiendes, für Reales in allgemeinster Allgemeinheit. 36
Obwohl Husserl – wie Aristoteles zu Beginn seiner Metaphysik – eine reine Wissenschaft absolut einsichtiger Urgründe postuliert, die nur um ihrer selbst willen betrieben wird, 37 kritisiert er ihn, weil diese Wissenschaft in ihrer Allgemeinheit nicht radikal genug sei. Deshalb fordert Husserl, »radikaler als Aristoteles« zu sein und die »größte Allgemeinheit beim Wort« zu nehmen. 38 Er wirft Aristoteles vor, er habe nur eine »reale Ontologie« als »apriorische Wissenschaft von der Natur« zugrunde gelegt 39 , folglich bezögen sich die Aristotelischen Kategorien nur auf das reale Sein, seien lediglich »Kategorien der Realität« und erwiesen sich somit als auf die Realität begrenzt, da die ebenfalls erforderlichen logisch-formalen Kategorien im Rahmen einer formalen Ontologie außen vor blieben. 40 Hier rekurriert Husserl auf seine Unterscheidung in § 10 der Ideen I zwischen regionalen oder sachhaltigen Ontologien, etwa für die Sphären der Physik, Biologie, Anthropologie oder Soziologie einerseits und einer formalen Ontologie andererseits. 41 Letztere gilt für Husserl als fundamentaler oder allgemeiner, da sie alle Regionen jener Ontologien mit ihren Ebd. Ebd. 37 Vgl. Husserl, Erste Philosophie, S. 190. 38 Husserl, Einleitung in die Philosophie, S. 88, 91. 39 Vgl. ebd., S. 95. 40 Ebd. 41 Als dieser Unterscheidung analog erweisen sich die Prozesse der Generalisierung zu inhaltlich erfüllten höheren Gattungen und der Verallgemeinerung ins rein logisch Formale (Formalisierung) im § 13 der Ideen I. Vgl. Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: All35 36
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bestimmten materialen Regionen, mit all ihren allgemeinsten sachhaltigen Wesensbestimmungen und Substratkategorien nicht neben sich, sondern formaliter »unter sich« hat, sie selbst aber »eigentlich nicht Region, sondern leere Form von Region überhaupt« ist. 42 Gleichwohl gehören als Abgrenzungen auch die korrelativen, nichtformalen, also sachhaltigen Kategorien von entsprechenden Substraten ebenfalls zur Formalontologie. Diese handelt jedoch als solche in erster Linie von den allgemeinsten, nicht-inhaltlichen Bestimmungen des Gegenstandes überhaupt, vom leeren Etwas, vom Sachverhalt überhaupt oder vom Leersubstrat u. ä., sowie von allgemeinen Axiomen, die selbst keinerlei Sinn von Seiendem als reale Tatsachen enthalten. Derartige Bestimmungen liegen zwar grundsätzlich allen Erforschungen von besonderen Seienden zugrunde, enthalten aber nicht prinzipiell deren Bedeutungen. Man könnte sie deshalb als semi-ontologisch bezeichnen. Auf diese Weise wird ihre Abhebung von allgemeinsten sachhaltigen Bestimmungen, von den obersten Inhaltskategorien wie den sachhaltigen Substratkategorien in der Dichotomie von sachhaltigem letztem Wesen und Dies-da (tode ti, als formlose, individuelle Einzelheit gefasst) deutlich. Der von Husserl gegen Aristoteles erhobene Vorwurf unzureichender Allgemeinheit oder mangelnder Radikalität setzt, wie skizziert, dessen Scheidung von sachhaltiger und formaler Ontologie als selbstverständlich voraus und bezieht dies auf die Aristotelische Kategorienlehre. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts jener Einleitungsvorlesung entfernt sich Husserl allerdings zusehends von seiner begonnenen Metaphysikkritik und widmet sich vielmehr eigenen Überlegungen zu Begriff und Ontologie der Natur. Selbst wenn man diese für sich schon problematische Projektion der husserlschen Konzeption auf die Aristotelische Ontologie zulässt, erfolgt die Kritik auch aus einem weiteren Grund zu Unrecht, wie sich durch eine kurze Vergegenwärtigung der universalistischen Ontologie des Aristoteles im Buch IV seiner Metaphysik leicht aufzeigen lässt: 43 Aristoteles’ Wissenschaft vom Seienden als solchen untersucht nicht nur bestimmte reale Entitäten, handelt nicht nur vom Seienden, sofern
gemeine Einführung in die reine Phänomenologie, 1. Halbband, Text der 1.–3. Auflage, in: Hua Bd. III/1, neu hg. v. Karl Schuhmann, Den Haag 3 1976, S. 31–33. 42 Ebd., § 10, S. 26. – Ähnlich spricht Husserl in der »Einleitung in die Philosophie« im Hinblick auf die formale Ontologie von der »formale[n] Region« (S. 91). 43 Vgl. dazu Fonfara, »Argument und literarische Form«, insbes. S. 199–203.
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es bewegt oder unbewegt ist. Sie ist somit keine rein reale Wissenschaft, wie Husserl ihm unterstellt. Vielmehr thematisiert jene urteilslogisch ausgerichtete Disziplin die allgemeinsten Seins- und Aussageweisen überhaupt (Kategorien) und behandelt in diesem Sinne das Seiende, insofern es seiend ist. Somit umfasst sie alles Seiende überhaupt, ohne seine jeweiligen inhaltlichen Besonderheiten. Dazu gehört vor allem dasjenige, was in eigentlichem und primärem Sinne seiend ist, die Substanz (ousia). 44 Zum Untersuchungsbereich einer solchen Universalontologie zählt neben anderen Grundaxiomen auch insbesondere der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch (Met. IV 3) als das Voraussetzungslose (anhypotheton) – und zwar ähnlich wie Husserl die Grundaxiome der Syllogistik und Mathematik zum Bereich seiner Formalontologie rechnet. Ein völliger Ausschluss formalontologischer Gesichtspunkte bzw. eine einseitige Fokussierung auf die Realität, wie sie Husserl Aristoteles zuschreibt, erweist sich infolgedessen als fragwürdig und schwierig. Möglicherweise hat Husserl bei seiner Aristoteles-Interpretation lediglich den für Aristoteles’ Philosophie charakteristischen Parallelismus von sprachlich Ausgesagtem, in der Seele Gedachtem und als Seiendes Gegebenem gemäß De interpretatione 1 im Blick, der im Sinne einer grundsätzlich vorliegenden Gegebenheits-Ontologie zwar zutrifft, formalontologische Überlegungen aber, wie angedeutet, keineswegs auszuschließen braucht. Ein weiterer Kritikpunkt Husserls an Aristoteles gilt neben dessen Missverständnis der Ideenlehre Platons 45 dem Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie: Husserl schätzt Aristoteles’ »unsterbliche Metaphysik« mit ihren berühmten, von Husserl auch zitierten Anfangsworten über die rein theoretische Betätigung, das pure Wissensstreben […] als ursprüngliche Ausstattung des Menschen, als zum Spezifischen der menschlichen Natur gehörig. Richtig ist das im aristotelischen Sinne der Entelechie. 46
Dem stellt Husserl aber entgegen, dass der Mensch in Wahrheit, »wie das Tier, ursprünglich ganz von praktischen Interessen, Interessen Zur Eigenart der Kategorien und zur Bedeutung der Substanz für die Philosophie des Aristoteles vgl. Fonfara, Dirk, Die Ousia-Lehren des Aristoteles. Untersuchungen zur Kategorienschrift und zur Metaphysik, Berlin, New York 2003, zu den Kategorien insbes. S. 17–19. 45 Vgl. dazu Husserl, Einleitung in die Philosophie, S. 89, 94. 46 Ebd., S. 7. 44
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der Nützlichkeit, der Selbstforderung und Gemeinschaftsforderung erfüllt« sei. 47 Wie die ethisch-politischen Schriften des Aristoteles jedoch klar zeigen, widerspricht die praktisch-gemeinschaftsorientierte Ausrichtung des Menschen als zoon politikon dessen Fähigkeit zur reinen theoria im Rahmen einer Beschäftigung mit ersten Ursachen, dem Seienden als solchen und mit dem Göttlichen durchaus nicht. 48 Anhand dieses kurzen Einblicks in die Diskussion der Platonischen und Aristotelischen Philosophie in Husserls umfangreicher Einleitungsvorlesung von 1919/20 wurde deutlich, dass es sich hierbei nicht nur um eine Rezeption und Diskussion antiker MetaphysikTheorien handelt, sondern dass Husserl die früheren Positionen in seine eigene phänomenologische Philosophie einbezieht, vor deren Hintergrund beurteilt und bisweilen auch modifiziert oder gar transformiert. Diese Tendenz deutet sich zwar bereits in den Vorlesungen über Erste Philosophie an, steht nun aber auf einer breiteren Textbasis, die wesentliche Bewertungen und inhaltliche Differenzierungen ebenso ermöglicht wie Detailanalysen über den Umgang Husserls mit der griechischen Philosophie.
III. Trennung von Metaphysik und Erster Philosophie bei Husserl Der entscheidende Unterschied zwischen den Positionen der Antike und Husserl besteht darin, dass für jene eine Beschäftigung mit dem Eidos selbstverständlich zur Metaphysik gehört, während Husserl schon früh Phänomenologie als Erste Philosophie und Metaphysik trennt, der bisher diese Auszeichnung zukam. Metaphysik ist als Wissenschaft auch für Husserl möglich: »[A]uch ich will eine Metaphysik, und eine im ernstesten Sinne wissenschaftliche, nur daß ich […] meine Kräfte auf die eidhetischeni Grundlegungen konzentriere.« 49 Allerdings fungiert jene Wissenschaft lediglich, so Husserl beEbd. Vgl. zur Bestimmung des Menschen als zoon politikon (Nik. Eth. I 5, 1097b12, Pol. I 2, 1253a2) sowie zu dessen Vervollkommnung durch reine theoria (Nik. Eth. X 7–9) auch Fonfara, Dirk, »Freiwilligkeit und Tugend. Aristoteles’ Lehre von der Prohairesis im Rahmen einer eudaimonistischen Ethik«, in: Edith und Klaus Düsing/Hans-Dieter Klein (Hg.), Geist und Willensfreiheit, Würzburg 2006, S. 15–45, insbes. S. 19–23. 49 Husserl, Edmund, Briefwechsel, in: Hua Dok III, Bd. VI, Karl Schuhmann (Hg.), in 47 48
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reits in den Prolegomena, als »theoretische Ergänzung der Einzelwissenschaften«, um die ungeprüften, meistens sogar unbemerkten und doch so bedeutungsvollen Voraussetzungen metaphysischer Art zu fixieren und zu prüfen, die […] allen Wissenschaften, welche auf die reale Wirklichkeit gehen, zugrunde liegen. 50
Die Arbeiten der Metaphysik betreffen also nur die realen Wissenschaften. Eine »solche (wie immer zu verstehende) Metaphysik, wenn sie wirklich Wissenschaft vom Letzten und wirklich absolut gegründete Wissenschaft sein soll«, kann aber keine Grundlegungsfunktion mehr beanspruchen, wenn sie »der Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivität bedarf […]. Das gilt für sie wie für jede Wissenschaft.« 51 Die Metaphysik, die es nach Husserl »nicht mehr mit bloß idealen Möglichkeiten, sondern mit der Wirklichkeit zu tun hhati«, 52 hat somit ihre Vorrangstellung an die transzendentale Phänomenologie abgetreten. Diese ist als transzendentale Erkenntnistheorie »die jeder Metaphysik vorangehende Bedingung ihrer Möglichkeit« und begleitet »notwendig die gesamte metaphysische Arbeit in der beständigen Funktion der Normierung hinsichtlich aller objektiven Sinngebung und Methode.« 53 Denn jede Metaphysik ist – und hier spricht Husserl ganz im Sinne Kants – »vor jener reinen Wissenschaft aus dem ego cogito […] offenbar widersinnig.« 54 Deshalb sei ohne diese »keine Metaphysik als universale Wissenschaft von den obersten Seinsgründen möglich […], die als […] letztbegründete auch letzte Auskunft über das Seiende im allgemeinen […] zu geben vermochte«. 55 Ähnlich äußert sich Husserl bereits zu Beginn der Ideen I: Echte Philosophie wurzle in der reinen Phänomenologie, so dass »die systematisch strenge Begründung und Ausführung dieser ersten aller Philosophien die unabläßliche Vorbedingung ist für jede
Verbindung mit Elisabeth Schuhmann, Dordrecht [u. a.] 1994, Brief an Joel vom 11. 3. 1914 (Entwurf), S. 206. 50 Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Text der 1. und der 2. Auflage, in: Hua Bd. XVIII, Elmar Holenstein (Hg.), Den Haag 1975, § 5, S. 26 f. 51 Husserl, Erste Philosophie, S. 70. 52 Husserl, Briefwechsel, Bd. VI, S. 206. 53 Husserl, Erste Philosophie, Beilage XVIII (verfasst etwa 1924), S. 369. 54 Ebd., S. 367. 55 Husserl, Erste Philosophie, S. 184 f. Überwundene Metaphysik?
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Metaphysik […], ›die als Wissenschaft wird auftreten können‹.« 56 Daraus folgt notwendig, so Husserl in den Vorlesungen über Erste Philosophie, dass die Metaphysik lediglich zu den »Disziplinen der […] ›Zweiten Philosophie‹« gehört, »deren Korrelat und Gebiet die Einheit der faktischen Wirklichkeit ist«. Jene zählt somit zu den der Phänomenologie in der Hierarchie nächstfolgenden, »in rationaler Methode ›erklärenden‹ Tatsachenwissenschaften.« 57 Zu den früheren Metaphysik-Positionen bemerkt er aber immerhin: Und doch, wertvolle Vorformen metaphysischer Einsichten und metaphysische Theorien von einem reichen, wenn auch wissenschaftlich nicht wirklich begründeten Systemgehalt kamen auch in der Metaphysik zur Entwicklung und fungierten […] mit dem bleibenden Berufe, eine zukünftige echte Metaphysik vorzubereiten. 58
Etwas polemischer spricht Husserl später in § 60 der Cartesianischen Meditationen von einer »historisch entarteten Metaphysik« oder gar von »metaphysischen Abenteuer[n]«. 59 Wie steht es nach der bisher erörterten Metaphysikkritik Husserls aber mit einem weiteren Untersuchungsgegenstand der früheren Metaphysik, dem Göttlichen?
IV. Zu Husserls Verortung des Göttlichen als Thema der traditionellen Metaphysik Ausführliche Überlegungen zum Verständnis von Metaphysik und Theologie und zu deren jeweiligem Verhältnis zur Phänomenologie finden sich größtenteils in bislang unveröffentlichten Forschungsmanuskripten – meist aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Diese Texte bilden den III. Abschnitt des neuesten Husserliana-Bandes XLII, der »Grenzproblemen der Phänomenologie« gewidmet ist. 60 Vor allem auf diesen weitgehend unbekannten Nachlasstexten basierend, soll die These vertreten werden, dass für Husserl Metaphysik und Phänomenologie getrennt bleiben, er aber zunehmend Themen der traditionellen Metaphysik, wie etwa das Göttliche, in seine ÜberHusserl, Ideen I, S. 8. Husserl, Erste Philosophie, S. 14. 58 Ebd., S. 186. 59 Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 166. 60 Husserl, Edmund, Grenzprobleme der Phänomenologie, in: Hua Bd. XLII, Rochus Sowa und Thomas Vongehr (Hg.), Dordrecht 2013, Texte 11–20, S. 160–263. 56 57
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legungen zur Ersten Philosophie einschließt. Dies erfolgt sowohl in Abgrenzung von Antonio Aguirre, der davon ausgeht, dass Husserls Phänomenologie eigentlich Metaphysik sei, als auch von Ludwig Landgrebe und Laszlo Tengelyi, die dafür argumentiert haben, dass sich die Phänomenologie ab Mitte der zwanziger Jahre zu einer »phänomenologischen Metaphysik« weiterentwickelt habe. 61 Bereits in einem Text aus dem Jahr 1908, jetzt zugänglich als Text 11 des »Grenzprobleme«-Bandes, spricht Husserl von einer »transzendentalphänomenologisch fundierten Metaphysik«, 62 die durch phänomenologische Reduktion ermöglicht wird. Dies erläutert Husserl 1912 in einem Brief an Hocking und bekundet dabei sein Interesse an der Metaphysik wie folgt: Habe ich es mir zur Lebensaufgabe gemacht, eine Philosophie »von unten« […] zu meiner (sehr schwer zu gewinnenden!) Befriedigung zu begründen, so strebe ich doch unablässig von dem »Unten« hinauf in die Höhen. In den letzten Jahren sind metaphysische Erwägungen und ist insbesondere auch die Gottesidee immer stärker in den Kreis meiner Studien getreten. 63
Dies mag auf den ersten Blick überraschen, da er in der Anm. zu § 51 der Ideen I die Interessen von Phänomenologie und Theologie deutlich voneinander unterscheidet: »Unser unmittelbares Absehen geht nicht auf Theologie, sondern auf Phänomenologie, mag diese für jene mittelbar noch so viel bedeuten.« 64 Möglicherweise deswegen stellt Husserl zu dieser Zeit noch keine Überlegungen über das Göttliche an, wohl aber in späteren Texten aus den zwanziger und dreißiger Jahren im Kontext des Problemfeldes »Eidos Welt« 65 oder in einem Anfang der dreißiger Jahre verfassten Text über Monadologie und über eine universale Idee der Menschheit oder Kulturenvielfalt, wo er auch die Religion miteinbezieht. 66 Hiernach ist Gott zwar »das Vgl. Aguirre, Antonio, Genetische Phänomenologie und Reduktion, Den Haag 1970, Landgrebe, Ludwig, »Phenomenology and metaphysics«, in: Philosophy and Phenomenological Research 10/1949/50, S. 197–205, Tengelyi, Laszlo, »Die Erfahrung in der Lebenswelt«, in: Carl Friedrich Gethmann (Hg.), Lebenswelt und Wissenschaft, XXI. Kongress für Philosophie. 15.–19. September 2008 an der Universität Duisburg-Essen, Hamburg 2011, S. 1294–1304. 62 Husserl, Grenzprobleme, Text 11, S. 160. 63 Husserl, Briefwechsel, Bd. III, S. 160. 64 Husserl, Ideen I, S. 109 f. 65 Vgl. dazu Husserl, Zur Lehre vom Wesen, Abschnitt V, insbes. S. 313–365. 66 Husserl, Edmund, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil: 1929– 1935, in: Hua Bd. XV, Iso Kern (Hg.), Den Haag 1973, Beilage XLVI, S. 608–610. Vgl. 61
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Monadenall nicht selbst, sondern die in ihm liegende Entelechie.« Er fungiert »als Idee des unendlichen Entwicklungstelos […] der ›Menschheit‹ aus absoluter Vernunft, als notwendig das monadische Sein regelnd […] aus eigener freier Entscheidung.« 67 Diese Reflexionen zum Entelechie-Begriff des Göttlichen sind in dem bereits erwähnten Text 11 der »Grenzprobleme« aus dem Jahre 1908 noch etwas weitergeführt. 68 Somit erweist sich das Göttliche für Husserl nicht nur als letzter Horizont oder überweltlicher übermenschlicher Pol, wie wir es in den dreißiger Jahren in einigen Texten der C-Manuskripte finden, 69 sondern auch als entelecheia. Hier nimmt Husserl ganz bewusst Termini bzw. Theoreme der Aristotelischen Ersten Philosophie auf, zumal sich das gesamte Monadenall Husserls – ähnlich wie der Substanzenpluralismus gemäß dem Schlusskapitel von Aristoteles’ Metaphysik Lambda – teleologisch auf das Göttliche hinordnet. 70 Von einer Gottesidee spricht und handelt Husserl in jenen Texten allerdings nicht, wohl aber in Text 12 der »Grenzprobleme« aus dem Jahr 1916. 71 Hier stellt Husserl die Frage nach dem Eidos »Gott« der Frage nach der Möglichkeit seiner wirklichen Existenz voran. In Text 19, einem sehr späten Text von 1934, in dem es um absolute Teleologie geht, 72 führt er dies näher aus. Hier ist nämlich von einer absolut idealen Pol-Idee, von einem Absoluten, »in einem neuen überwelthlicheni, übermenschlichen, übertranszendentalen subjektiven Sinn« die Rede. »Es ist der absolute Logos, die absolute Wahrheit ähnlich ders., Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: Hua Bd. VI, Walter Biemel (Hg.), Den Haag 2 1962, § 53, hier: S. 184. 67 Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, S. 610. 68 Husserl, Grenzprobleme, S. 160–162. 69 Vgl. dazu Husserl, Edmund, Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte, in: Hua Mat Bd. VIII, Dieter Lohmar (Hg.), Dordrecht 2006, S. 107 f.: Text Nr. 22: Form der Methode der Gewinnung der Wesensform der Welt in endlosoffenem Progressus der Enthüllung der Horizonte = Form der Methode zu einer »Weltanschauung« als Wesensanschauung, ebd., S. 430–435: Text Nr. 95: Der einzelpersonale, lernende Aufstieg der Person vom transzendentalen ›Kind‹ zum wachen Gemeinschaftssubjekt. Das Erwachsen der teleologischen Idee echter Menschheit auf dem Boden der invarianten Form der Welt. 70 Vgl. zu dieser teleologischen Beziehung aller Substanzen auf das eine Göttliche auch Fonfara, Ousia-Lehren, S. 185–188, sowie ders., »Argument und literarische Form«, S. 205–208. 71 Husserl, Grenzprobleme, S. 174–176. 72 Ebd., S. 248–251.
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im vollen und ganzen Sinn als das unum verum bonum, auf die alles endlich Seiende […] hin gerichtet ist«. 73 Diese »in unendlicher Höhe stehende Idee ist zugleich die Idee eines durch alle Endlichkeiten und Faktizitäten hindurch waltenden Lebens«. 74 Offenbar deshalb hat sie eine »Überrealität, eine Überwahrheit, eine Überwirklichkeit, ein Über-An-sich, die allem relativen, endlichen, weltlichen und selbst transzendental-monadischen Sein überhaupt erst wahren Sinn gibt.« 75 In einem solchen Kontext göttlicher Zuschreibungen, die auch terminologisch an das Hauptwerk des Neuplatonikers PseudoDionysius Areopagita, Über die göttlichen Namen (De divinis nominibus), erinnern, in welchem das Gute als primärer Gottesname gilt, spricht Husserl nicht völlig überraschend von Platons Idee des Guten als einem Überseienden, als [einer] über allem in höherer und schon idealer Wahrheit […] liegenden obersten Idee, einer Überidee, dem Überseienden, ohne das kein Seiendes denkbar wäre. 76
Diese Kennzeichnung der Idee des Guten erfolgt ganz im Sinne des Sonnengleichnisses, in dem Platon sie bekanntlich als etwas charakterisiert, das nicht selbst Wesen (ousia) ist, sondern an Würde und Kraft noch über das Wesen hinausragt (epekeina tes ousias, Rep. VI, 509b). 77 Wie für Husserl nur eine einzige Welt, nämlich die faktische Welt »denkbar ist als Welt der Wahrheit«, so auch »nur ein Logos der Wahrheit, nur ein Gott, der eine Idee ist, die ontologisch Einzigkeit in sich trägt, ein Wesen, das nicht Eidos ist, sondern […] als Wesen in der absoluten Wahrheit, als […] alles wahrhaft Seiende in sich tragendes Wesen in absoluter Notwendigkeit einzig ist und Ebd., S. 250. – Die Erwähnung von unum, verum und bonum erinnert an die mittelalterliche Doktrin der Transzendentalien, die sich als allgemeinste Bestimmungen im 13. Jh. herausgebildet haben, welche die Kategorien des Aristoteles an Allgemeinheit noch übersteigen und bei Meister Eckhart auch als Gottesnamen fungieren. Vgl. dazu Fonfara, Ousia-Lehren, S. 192. Die Tatsache aber, dass die wichtigste transzendentale Bestimmung, ens, nicht ausdrücklich dem Göttlichen zugeschrieben wird, lässt eher darauf schließen, dass hier neuplatonisches Gedankengut im Hintergrund steht, was durch die verwendete Terminologie im weiteren Verlauf des Textes gestützt wird. 74 Husserl, Grenzprobleme, S. 250. 75 Ebd., S. 251. 76 Ebd. 77 Zur Idee des Guten bei Platon und ihren verschiedenen Interpretationen vgl. auch Fonfara, »Das Selbst«, S. 47–52. 73
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Wirklichkeit ist«, und zwar »im Sinn der alle Wirklichkeit […] begründend ermöglichenden Überwirklichkeit.« 78 Dem Göttlichen schreibt Husserl somit Ideen-Charakter zu, 79 er bezeichnet es auch als Wesen, aber nicht als Eidos. Dies lässt sich sicherlich nicht mit der Platonischen und Aristotelischen Eidoslehre vereinbaren, die idea und eidos stets synonym verwenden. Eine solche Differenzierung findet sich bei Husserl aber auch in anderen Bereichen, etwa in Untersuchungen des Problemfeldes »Eidos Welt«, das er ebenfalls als Wesen oder Wesensform oder als Idee bezeichnet, nicht aber als Eidos – offenbar verstanden als strenge Allgemeinheit, die er von tieferen Stufen der Universalien abhebt. 80 Wie aber steht es angesichts dieser skizzierten Bezugnahmen Husserls auf die aristotelische und platonisch-neuplatonische Konzeption der Theologie mit seinem eigenen Theologie-Verständnis? Damit befassen sich die Texte 14 und 20 der »Grenzprobleme«. In Text 14 aus dem Jahre 1924 grenzt Husserl die rein rationale, natürliche Theologie von einer Theologie aus irrationalen Gründen, d. h. aus dem übernatürlichen Licht der Offenbarung ab. 81 In Text 20 hingegen, den er 1934 verfasst hat, widmet er sich dem Verhältnis beider Theologien zueinander. Hier schreibt Husserl – durchaus überraschend – der konfessionellen Theologie einen Status zu, aufgrund dessen die Offenbarungstheologie sich die philosophische Theologie – als »inkonfessioneller Weg zu Gott« – als Werkzeug zunutze macht. 82 Denn jene rationale Theologie gibt Rechenschaft von der »Notwendigkeit der Welt als Welt mit und für Menschen und damit des menschlichen Daseins in einer historisch sich gestaltenden Religion.« 83 Dazu bedarf es daher
Husserl, Grenzprobleme, S. 251. Von einer »Idee Gott« spricht Husserl ebd. auch in Text 14, S. 203, und Text 20, S. 262. 80 Zum Eidos Welt vgl. Fonfara, »Einleitung des Herausgebers«, in: Husserl, Zur Lehre vom Wesen, S. XXXIV-XL. 81 Husserl, Grenzprobleme, Text 14, S. 183–203, hier: S. 183. – Nicht berücksichtigen kann ich an dieser Stelle die Texte zum Verhältnis von Phänomenologie und »positiver Religion«, die zum IV. Abschnitt der »Grenzprobleme« gehören, welcher der späten Ethik gewidmet ist. Zum religiösen Glauben im Kontext der Theologie vgl. aber auch Text 14, S. 186 f. 82 Ebd., S. 259. 83 Ebd. 78 79
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einer philosophischen Theologie eines zweiten Sinnes, einer auf dem Boden der Konfession stehenden. Hier ist autonome Philosophie das Werkzeug, um verständlich und einsichtig zu machen, warum der zeitlich gewordene […] sich mitteilende Glaube sich rechtmäßig als absolute Wahrheit ausgeben könne […] trotz des Wandels der religiösen Formen von Interpretationen. 84
Die philosophische Theologie fungiert für Husserl somit als »Organ für eine ursprüngliche und vorphilosophische Gotteslehre«, um »sie in eine theologische zu gestalten.« 85 Dies findet sich bereits bei den mittelalterlichen Denkern in ihren Diskussionen um das Verhältnis von Metaphysik oder philosophischer Theologie und Offenbarungstheologie und um deren jeweils eigentümlichen Gegenstand (proprium subiectum). Die Offenbarungstheologie fungiert als Glaubenswissenschaft (scientia secundum pietatem) bei Albert dem Großen und als heilige Lehre (sacra doctrina) in Thomas von Aquins Summa theologiae. Sie gilt für jene wegen ihrer heilsgeschichtlichen Notwendigkeit im Hinblick auf den Menschen als höchste aller Wissenschaften überhaupt, die Metaphysik hingegen lediglich als oberste der philosophischen Wissenschaften. 86 Ebenso trennt auch Husserl eine natürliche Theologie – als Kulmination seiner phänomenologischen Ersten Philosophie – von einer übernatürlichen Theologie und arbeitet, wie Thomas und Albert in ihren Summen, das Verhältnis beider Wissenschaften zueinander heraus. Husserl folgt somit im Vorgehen und Resultat den erwähnten mittelalterlichen Denkern im lateinischen Westen – beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Dies wäre zudem auch ganz im Sinne der Forschungen von Angela Ales Bello, die seit jeher Husserls Religionsphilosophie und Gotteslehre stark hervorgehoben hat, 87 nicht jedoch im Sinne des islamischen Philosophen Averroes, der in einer von Albert, Thomas und Husserl völlig abweichenden, ja ihnen diametral entgegengesetzten Konzeption in seinem
Ebd. Ebd. 86 Vgl. hierzu: Fonfara, Dirk, »Das Ringen von Theologie und Metaphysik um die erste Wissenschaft bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin vor dem Hintergrund ihrer Aristoteles-Rezeption«, in: Gerhard Krieger (Hg.), Herausforderung durch Religion? Würzburg 2011, 207–230, zu Albertus Magnus insbes. S. 217–219, zu Thomas von Aquin insbes. S. 222–224. 87 Vgl. Ales Bello, Angela, »Teologia e teleologia nella fenomenologia di Husserl«, in: Vita sociale 26/1969, S. 167–177; dies., Husserl. Sul Problema di Dio, Rom 1985, und jüngst: The Divine in Husserl and Other Explorations, Dordrecht 2009. 84 85
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Traktat über die Harmonie der Religion und Philosophie (1179) dafür argumentiert, dass er nicht der Offenbarungstheologie, sondern der philosophischen Theologie den Primat unter allen Wissenschaften zuschreibt. 88 Hat Husserl in den Texten 14 und 20 der »Grenzprobleme« aber wirklich seine eigene philosophische Theologie im Rahmen der eidetisch-phänomenologischen Ersten Philosophie im Blick oder nicht vielmehr nur die in diesem Kontext explizit erwähnte Aristotelische Theologie? Diese Frage muss vorerst wohl offen bleiben.
V. Zusammenfassung Die vorangegangenen Überlegungen beabsichtigten aufzuzeigen, dass und auf welche Weise Husserl Platons und Aristoteles’ Metaphysik- oder Erste-Philosophie-Konzeptionen gewürdigt, in ihrer Terminologie und ihren Theoremen aufgenommen und vor dem Hintergrund seiner eigenen Ersten Philosophie kritisiert hat. Er wirft ihnen im Zuge dieser Metaphysikkritik in der Phänomenologie mangelnde Differenzierungen (Platon) bzw. unzureichende Radikalisierung (Aristoteles) vor und integriert deren Positionen in seine Überlegungen. Dies gilt bereits für die Metaphysikkritik selbst als Methode. Dabei hat Husserl die früheren Theorien bisweilen inhaltlich umgedeutet oder transformiert, sei es bei Platons entontologisierter Idee oder bei der angeblich auf die Realität begrenzten Reichweite der Kategorienlehre des Aristoteles. Wenngleich Husserl zunächst den niederen Stufen der Konstitution seine volle Aufmerksamkeit geschenkt hat, so weisen die Herausgeber der »Grenzprobleme«, des neuesten Husserliana-Bandes, in ihrer »Einleitung« anhand von Briefstellen nach, dass Husserls Interesse an religionsphilosophischen und in diesem Sinne metaphysischen Fragen schon früh fassbar ist, sich allerdings erst spät verwirklichen ließ, da die Konstitutionsproblematik stets Vorrang hatte. Die skizzierten, weitgehend unbekannten Analysen Husserls stützen die hier vertretene These, dass Husserl bis zum Spätwerk PhänoVgl. Averroes, »Harmonie der Religion und Philosophie«, in: Philosophie und Theologie von Averroes, übersetzt von Marc Joseph Müller, mit einem Nachwort von Matthias Vollmer, Weinheim 1991, S. 1–28.
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menologie und Metaphysik voneinander abgrenzt und dass somit seine Erste Philosophie zwar nicht Metaphysik ist, er aber gleichwohl Themen der traditionellen Metaphysik, wie Überlegungen zum Wesen und zum Göttlichen, in ihr behandelt und auf diese Weise in sie integriert. Eine intensive Analyse und Diskussion jener bisher unzugänglichen Nachlassmanuskripte Husserls zum Verhältnis von Phänomenologie, Theologie und Metaphysik, die hier nur vorgestellt werden sollten und konnten, wird folglich auf dieser neuen und erheblich erweiterten Textgrundlage zu einer signifikanten Neubewertung dieser Thematik führen müssen. 89
Für die überaus sorgfältige Korrektur des Textes, verbunden mit wertvollen Hinweisen, Bemerkungen und Verbesserungsvorschlägen, möchte ich Murat Ates (Wien) ganz herzlich danken. Der vorliegende Beitrag ist aus einem von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekt hervorgegangen, der ebenfalls mein herzlicher Dank gilt.
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Im zweiten Band der Logischen Untersuchungen stellt Edmund Husserl programmatisch fest: »Wir wollen auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen« 2 . Damit sollte die von ihm begründete Phänomenologie die Erste Philosophie werden, d. h. den Platz belegen, den die Metaphysik von alters her innehatte. Gewiss, die »Sachen«, auf die Husserl »zurückgehen« wollte, sind keine empirischen Tatsachen, mit denen die positiven Wissenschaften sich beschäftigen. Sie sind die »Phänomene«. Dieses Wort, das in der philosophischen Tradition im Sinne der »Erscheinung« (d. h. des »Scheins« oder der »Illusion«) gebraucht wurde, erhielt in der husserlschen Phänomenologie eine neue Bedeutung. Genauer gesprochen erhielt es die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes phainomenon zurück. Auf diese Wesenslage hat uns Husserls Assistent Martin Heidegger aufmerksam gemacht. Im Jahre 1923 schrieb er: Das Wort Phänomen hat seinen Ursprung in dem griechischen Terminus phainomenon, was sich von phainesthai, sich zeigen, ableitet. Phänomen ist also das, was sich zeigt, als sich zeigendes. Das heißt zunächst: es ist als es selbst da, nicht irgendwie vertreten oder in indirekter Betrachtung, und nicht irgendwie rekonstruiert. Phänomen ist die Weise des Gegenständlichseins von etwas, und zwar eine ausgezeichnete: das von ihm selbst her Präsentsein eines Gegenstandes. 3
Wenn Heidegger sagt: »sich zeigt, als sich zeigendes« und »es ist als es selbst da«, dann wird in dieser Charakteristik des Phänomens das Schema »etwas als etwas« (das Heidegger als universale Struktur des Dieser Aufsatz wurde im Rahmen des vom Wissenschaftsrat Litauens geförderten Forschungsprojektes Die Transformationen der Ontologie: Nihilismus, Ethik, Medien (MIP-011/2013) verfasst. 2 Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen, Bd. 2, T. 1, Halle 1913, S. 6. 3 Heidegger, Martin, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), GA Bd. 63. Käte Bröcker-Oltmanns (Hg.), Frankfurt a. M. 1988, S. 67. 1
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Verstehens betrachtet) angewendet, welches interessanterweise dasselbe Schema ist, das wir auch in der »Metaphysik« von Aristoteles wiedererkennen können, nämlich dort, wo Aristoteles die Erste Philosophie als die »Wissenschaft (epistēmē)« bezeichnet, »die das Seiende als Seiendes […] betrachtet (tis hē theōrei to on hēi on)« 4 . Das Konjunktionswort »als« (hēi) entspricht dem Gestus der Metaphorese, also des Über-setzens. Sollte das heißen, dass laut Aristoteles die Erste Philosophie das Über-setzen des Seienden in das Seiende selbst untersucht (theōrei)? Anders gesagt, sollte das heißen, dass wir es bereits hier mit einem husserlschen »zurück zu den Sachen selbst« avant la lettre zu tun haben? À propos »la lettre«: lasst uns nicht vergessen, dass die Lebenszeit des Aristoteles in die Epoche fiel, in der die Literalität (technē grammatikē) zum Erkennungszeichen des gebildeten Griechen geworden war. Kurz gesagt, Aristoteles lebte in der Schriftkultur. Nehmen wir aber in Acht, dass die Schrift etwas mehr ist als ein neutrales Medium zur Speicherung und Kolportage der »Information«. Eric Havelock, Walter J. Ong, Jack Goody, Vilém Flusser und andere Medienforscher haben längst bemerkt, dass die Erfindung der Schrift tiefgreifende Veränderungen des Bewusstseins verursacht hat. Unter Hinweis auf die Feldforschungen des sowjetischen Psychologen Aron Lurija zeigte Walter J. Ong, dass die Einwohner der oralen Kulturen (die »homerische« Kultur der Griechen fällt auch unter diese Kategorie) über keine allgemeinen Begriffe, keine Definitionen oder andere formallogische Denkprozeduren verfügen. Da aber das abstrakte Denken conditio sine qua non der »Wissenschaft ist, welche das Seiende als Seiendes untersucht«, so kann man vermuten, dass die Metaphysik und die Schriftlichkeit ganz eng miteinander verbunden sind. Als Erste Philosophie sollte Metaphysik die Gesamtheit des Wissens begründen. Dazu musste der Metaphysiker von allem Zufälligen, Vergänglichen und Bedingten abstrahieren, um damit bis zum »ersten Grund« – dem »wirklich Seienden« (ontos on) durchzudringen. Man kann nur spekulative Hypothesen darüber aufstellen, wie es dazu kam, dass dieses »wirklich Seiende« von Anfang an als etwas Zeit- und Raumüberhobenes, Dauerhaftes, Unvergängliches, Nichtveränderliches konzipiert war. Platons Ideenlehre, die als der paradigmatische Ausdruck des metaphysischen Denkens be4
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trachtet werden kann, liefert uns genau solche Charakteristiken des »wirklich Seienden«. Platon platziert die Ideen in den »nur für den Lenker der Seele, den Geist, schaubar[en]« »überhimmlischen Ort« (hyperouranios topos), den er als »das farblose (akhrōmatos) und gestaltlose (askhēmatistos) und unberührbare (anaphēs) wesenhaft seiende Wesen (ousia ontōs ousa)« bezeichnet und fügt hinzu, dass »die Gattung der wahren Wissenschaft (tēs alēthous epistēmēs genos) diesen Ort inne hat« 5 . Falls wir ein anschauliches Modell für Platons topos hyperouranios haben möchten, so scheint dafür das Schriftwerk am geeignetsten zu sein. Wie der Berliner Literaturtheoretiker Klaus Laermann ganz trefflich bemerkt hat: Bereits die Idee der Idee ist (richtig gelesen) eine Metapher für Schriftlichkeit und wäre ohne sie gar nicht denkbar. Denn was sonst könnte zeit- und raumüberhoben jenseits der Fülle unterschiedlichster, ja widersprüchlichster Einzelgestalten verbindlichere Anschauung bieten als die Schrift? Was bleibt zugleich anschaulich und abstrakt genug, um eine Vielzahl disparater Einzelheiten konkret in eine Gestalt zusammenzufassen? Der mit der Schrift verbundene Anspruch auf Kontinuität und raumübergreifende Dauer ist das Wesen der Idee, und umgekehrt ist die Idee einer zeitüberhobenen Wahrheit ein Bestimmungsgrund der Schrift. 6
Man kann sagen, dass die Schriftlichkeit den spezifischen Modus der Intentionalität stiftet, infolgedessen das »literalisierte« In-der-WeltSein des Metaphysikers kein »anschauendes«, vielmehr aber ein »lesendes« ist. Dementsprechend ist zu vermuten, dass in der aristotelischen Bestimmung der ersten Philosophie als die »Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes untersucht«, das Konjunktionswort »als« das Über-setzen des angeschauten Seienden in das gelesene Seiende bezeichnet. Dieses Über-setzen drückt jedoch zugleich eine Tautologie aus, da für den Metaphysiker die Hauptcharakteristik des Seins des »wirklich Seienden« nicht die Anschaubarkeit ist, sondern Lesbarkeit. 7 Zur Zeit Platons und Aristoteles’ war die Schriftlichkeit schon längst tief in der griechischen Seele eingewurzelt. Es ist interessant Phaedr. 247c. Laermann, Klaus, »Schrift als Gegenstand der Kritik«, in: Merkur: deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 44/1990, S. 120–134, hier S. 123. 7 In diesem Sinne passt paradoxerweise Derridas Diktum »Ein Text-Äusseres gibt es nicht« (Derrida, Jacques, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1974, S. 274) ganz gut in die Tradition der Metaphysik. 5 6
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dabei zu bemerken, dass Sokrates in Platons Phaidros bereits eine Kritik an der Schriftlichkeit zum Ausdruck bringt, indem er diese aufgrund ihrer Unfähigkeit zum Dialog eindeutig negativ bewertet, während er als »positive« Alternative »eine andere Rede« vorschlägt, die eine »leibliche Schwester (adelphon gnēsion)« der schriftlichen Rede ist – eine Rede, »die mit Wissenschaft in die Seele des Lernenden geschrieben wird« 8 . Doch warum verwendet Sokrates, der bekanntlich sein Philosophieren ausschließlich mündlich betrieben hat, eine Metapher des Schreibens? Die Ursache dafür ist höchstwahrscheinlich die oben genannte Verwandtschaft (oder mindestens die Ähnlichkeit) zwischen dem Schriftlichen und dem Metaphysischen. Andererseits ist »Lesen« genauso wie »Schauen« eine visuelle Leistung, kein Wunder also, dass die folgenschwere Transformation der Ersten Philosophie – die Metaphorese von der theoria (= Anschauung, Kontemplation) zur »Theorie« (= das System des Wissens, das in Form der Schriftwerke besteht) – lange Zeit fast unbemerkt geblieben ist. Diese Transformation verursacht jedoch eine gewisse Diskrepanz, die nicht zuletzt durch den linearen Charakter der phonetischen Schrift ausgelöst wird. Vilém Flusser hat dazu ganz trefflich bemerkt, dass »das Beeindruckendste« im Schreiben »die Zeile, das lineare Laufen der Schriftzeichen« ist: Das Schreiben erscheint dabei als Ausdruck eines eindimensionalen Denkens, und daher auch eines eindimensionalen Fühlens, Wollens, Wertens und Handelns: eines Bewußtseins, das dank der Schrift aus den schwindelnden Kreisen des vorschriftlichen Bewußtseins emportaucht. 9
Die Eindimensionalität hat zur Folge, dass das metaphysische Erkennen unbedingt auch »eindimensional« werden muss, d. h., es muss die Form des Diskursiven annehmen. Wir sollten uns aber daran erinnern, dass für Platon im Vergleich zum Diskurs (dianoia) die intuitive Einsicht (noēsis) die höhere Form der von der menschlichen Seele »herrührenden Zustände« ist 10 . Das heißt aber andererseits, dass das »wirklich Seiende« (ontos on), dessen Erkennen das Hauptanliegen der Ersten Philosophie ist, letztPhaedr. 276a. Flusser, Vilém, Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Göttingen 1987, S. 11. 10 Rep. 511b-e. 8 9
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endlich nur durch die intuitive Anschauung, nicht aber mittels des lesend-schreibenden Diskurses erfasst werden kann. Vor diesem Hintergrund könnte man nun sagen, dass Husserls Rückwende »zu den Sachen selbst« den Versuch darstellt, diese Diskrepanz zu überwinden und die programmatische Anschauungsbezogenheit der Ersten Philosophie wiederzugewinnen. Es ist in diesem Kontext interessant zu bemerken, dass bereits ein Jahrhundert vor Edmund Husserl und seiner Initiation der Phänomenologie, ein Dichter die Überlegenheit des Schauens gegenüber dem Diskurs proklamiert hat – und zwar kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe. Johannes Daniel Falk berichtet über ein Gespräch aus dem Jahre 1809, in dem Goethe bemerkte: Wir sprechen überhaupt viel zu viel. Wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen. Ich meinerseits möchte mir das Reden ganz abgewöhnen und wie die bildende Natur in lauter Zeichnungen fortsprechen. […] Je mehr ich darüber nachdenke, es ist etwas so Unnützes, so Müßiges, ich möchte fast sagen Geckenhaftes im Reden, dass man vor dem stillen Ernste der Natur und ihrem Schweigen erschrickt, sobald man sich ihr vor einer einsamen Felsenwand oder in der Einöde eines alten Berges gesammelt entgegenstellt! 11
Es mag überraschen, dass Goethe – ein »Dichterfürst«, ein Meister des Wortes – das Wort so abschätzig beurteilt. Doch sollte bedacht werden, dass Goethe auch das Konzept des »Urphänomens« entwickelt hat. In einem Gespräch mit Eckermann aus dem Jahre 1829 hat Goethe bemerkt: Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann […] ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er dahinter nicht suchen, hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug, sie denken es müsse noch weitergehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist. 12
Einen treffenden Kommentar dazu finden wir bei Hegels Schüler Karl Ludwig Michelet, der im Jahre 1842 schrieb:
Herwig, Wolfgang (Hg.), Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, Bd. 2, München 1998, S. 459 f. 12 Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe, Berlin, Weimar 1982, S. 275. 11
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Zu den Sachen selbst: Phänomenologie, Erste Philosophie und die Schriftlichkeit
Goethe geht von der Erfahrung aus, statt aber, wie die Naturforscher, vorzugsweise in die entferntesten und subtilsten Verhältnisse der Erscheinung einzudringen, wo diese durch die mannigfaltigsten Verbindungen mit andern vielfach getrübt und entstellt werden, ergreift er das Phänomen in seiner reinsten, einfachsten, ursprünglichsten Gestalt, analysiert diese unmittelbaren Daten der Erfahrung, und, ohne sie in eine vorgefasste Terminologie einzuzwängen, beschreibt er nur die Sache, wie sie ist […]. Wir können also sagen, Goethes Urphänomene sind die unmittelbar in der Erfahrung angeschauten Ideen. 13
»Die Sache, wie sie ist«, das »Urphänomen« als »die unmittelbar in der Erfahrung angeschaute Idee«, ist aber das, was sich nur in direkter Anschauung offenbart. Umso mehr gilt dies auch für das husserlsche Projekt der Phänomenologie. Bedenken wir jedoch, dass Husserl seine Phänomenologie als eine deskriptive Wissenschaft konzipiert hat. Freilich dient Husserl die Beschreibung zunächst als Alternative zum spekulativen Konstruieren, das in der klassischen Metaphysik betrieben wurde. Und doch – Deskription ist Schreiben, d. h. das Produzieren des Geschriebenen. Somit stellt sich die Frage, ob dieses Moment der phänomenologischen Methode dem oben genannten Moment der Anschauung nicht widerspricht. Im ersten Band der Logischen Untersuchungen bemerkt Husserl: Objektiven Bestand hat die Wissenschaft nur in ihrer Literatur, nur in der Form von Schriftwerken hat sie ein eigenes, wenn auch zu dem Menschen und seinen intellektuellen Betätigungen beziehungsreiches Dasein; in dieser Form pflanzt sie sich durch die Jahrtausende fort und überdauert die Individuen, Generationen und Nationen. Sie repräsentiert so eine Summe äußerer Veranstaltungen, die, wie sie aus Wissensakten vieler Einzelner hervorgegangen sind, wieder in eben solche Akte ungezählter Individuen übergehen können, in einer leicht verständlichen, aber nicht ohne Weitläufigkeiten exakt zu beschreibenden Weise. 14
Aus dieser Bemerkung folgt, dass der Text der phänomenologischen Beschreibung (Schriftwerke) als bloßes Hilfsmittel für das Kommunizieren der Inhalte der »Wissensakte vieler Einzelner« dienen sollte. Der Text der phänomenologischen Beschreibung ist also für Michelet, Karl Ludwig, Vorrede des Herausgebers, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Naturphilosophie, Karl Ludwig Michelet (Hg.), Berlin 1842, S. XIIf. 14 Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen. Bd. 1, Halle 1913, S. 12. 13
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Husserl eine »äußere Veranstaltung«, ein Medium, das das Bewahren und Kommunizieren des Wissens sichern sollte. Dieses »aus Wissensakten vieler Einzelner« hervorgegangene Wissen aber sollte »wieder in solche Akte ungezählter Individuen« übergehen. Trifft das zu, dann sollte die phänomenologische Beschreibung nicht das in der Wesensschau Angeschaute in das Medium der Schrift übersetzen und dieses ersetzen, sondern, laut Bernhard Waldenfels, nur unseren »Blick schärfen« 15 und damit unsere Sensibilität für die Anschaulichkeit des Phänomens steigern. Ist das tatsächlich so? Lasst uns das überprüfen. Als Experiment empfehle ich ein Fragment aus Husserls Vorlesung über »Grundprobleme der Logik« von 1925/26. Darin steht Folgendes: Sehen wir den Tisch, so sehen wir ihn von irgendeiner Seite, und diese ist dabei das eigentlich Gesehene; er hat noch andere Seiten. Er hat eine unsichtige Rückseite, er hat unsichtiges Inneres, und diese Titel sind eigentlich Titel für vielerlei Seiten, vielerlei Komplexe möglicher Sichtigkeit. Das ist eine sehr merkwürdige Wesenslage. Denn zu dem eigenen Sinn jeder Wahrnehmung gehört ihr wahrgenommener Gegenstand als ihr gegenständlicher Sinn, also dieses Ding: der Tisch, der gesehen ist. Aber dieses Ding ist nicht die jetzt eigentlich gesehene Seite, sondern ist […] eben das Vollding, das noch andere Seiten hat, Seiten, die nicht in dieser, sondern in anderen Wahrnehmungen zur eigentlichen Wahrnehmung kommen würden. Wahrnehmung, ganz allgemein gesprochen, ist Originalbewusstsein. Aber in der äußeren Wahrnehmung haben wir den merkwürdigen Zwiespalt, dass das Originalbewusstsein nur möglich ist in der Form eines wirklich und eigentlich original Bewussthabens von Seiten und eines Mitbewussthabens von anderen Seiten, die eben nicht original da sind. Ich sage mitbewusst, denn auch die unsichtigen Seiten sind doch für das Bewusstsein irgendwie da, »mitgemeint« als mitgegenwärtig. Aber sie erscheinen eigentlich nicht. 16
Nehmen wir an, dass ich als angehender Phänomenologe diesen Text gelesen habe. Auf den ersten Blick scheint mir die husserlsche Beschreibung völlig klar zu sein, und meine aktuelle Wahrnehmung kann alles angeblich mühelos belegen. In der Tat, wenn ich einen Tisch anschaue, so kann ich leicht feststellen, dass der Tisch »eine unsichtige Rückseite [hat], er hat unsichtiges Inneres, und diese Titel 15 Waldenfels, Bernhard, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M. 2004, S. 245. 16 Husserl, Edmund, Gesammelte Werke (Hua), Bd. 11: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten, 1918–1926, Margot Fleischer (Hg.), Haag 1966, S. 4.
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sind eigentlich Titel für vielerlei Seiten, vielerlei Komplexe möglicher Sichtigkeit«. Kurz gesagt, das Angeschaute ist sozusagen nur ein Torso. Und doch stellt sich die Frage, was soll es heißen, wenn Husserl sagt: »Das ist eine sehr merkwürdige Wesenslage«? Warum spricht er von einem »merkwürdigen Zwiespalt«? Was an Merkwürdigem findet er da? Das Adjektiv »merkwürdig« heißt »des Merkens würdig«. Ich kann etwas nur dann bemerken, wenn ich aufmerksam bin. Das, was ich als »Merkwürdiges« erfasse, zieht meine Aufmerksamkeit an. Bernhard Waldenfels hat die Aufmerksamkeit als »eine Form der Initialerfahrung« bezeichnet: Es geht um die Urtatsache, dass etwas auftritt und nicht vielmehr nichts, dass dieses auftritt und nicht vielmehr jenes; ohne sie gäbe es schlechterdings nichts zu sehen oder zu hören. 17
»Merkwürdig« heißt doch auch: etwas, was uns, nach Goethes Wort, »in Erstaunen setzt«. Ich stimme Goethes Diktum zu, dass dies »das Höchste [ist], wozu der Mensch gelangen kann« und dass er, »wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, […] zufrieden« sein möge. Dieses »Erstaunen« ist ja das thauma der ersten Philosophen, das dem ganzen Phänomenologisieren den Charakter der theoria im ursprünglichen Sinne dieses Wortes gewähren sollte. Ich nehme an, Husserl hat bei der Anschauung seines Schreibtisches dieses »Erstaunen« mehrmals erlebt. Ich nehme auch an, dass der von mir gelesene Text eine »äußere Veranstaltung« ist, die mir helfen sollte, auch so etwas erleben zu können. Anders gesagt, in der phänomenologischen Beschreibung sollte das geschriebene Wort als Hilfsmittel dazu dienen, mich (oder besser: den Lesenden?) durch den in der Anschauung sich offenbarenden Sinn des Seienden ins Erstaunen zu versetzen und damit das Erleben des Unsagbaren zu ermöglichen. Aber ich muss gestehen, dass der husserlsche Text in dieser Hinsicht wenig hilfreich ist. Die quasi-ekphrastische Beschreibung des Tisches erweckt den Eindruck, dass es da um etwas ganz Selbstverständliches oder sogar Banales geht. Im husserlschen Text finde ich keine Andeutung, wie der Tisch von mir selbst angeschaut werden soll, damit der »thaumatische« Moment in meiner Seele aufwacht.
Waldenfels, Bernhard, »Von der Wirkmacht und Wirkkraft der Bilder«, in: Gottfried Boehm, Birgit Mersmann, Christian Spies (Hg.), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 47–64, hier S. 49.
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Also muss ich eine gewisse Diskrepanz zwischen der phänomenologischen Anschauung und der phänomenologischen Beschreibung feststellen. Was ist die Ursache dieser Diskrepanz? Bedeutet dies, dass das geschriebene Wort kein passendes Medium ist, um meine Aufmerksamkeit in hinreichender Weise zu wecken und mich damit das Phänomen adäquat erleben zu lassen? Oder gibt es einige Modifikationen dieses Mediums, welche die durch die Schrift erzeugte und von Vilém Flusser hervorgehobene »Eindimensionalität« des Denkens, Fühlens, Wollens, Wertens und Handelns zumindest teilweise kompensieren könnten? Damit meine ich die Diversität der Literaturformen. Man kann bemerken, dass das, was Husserl als Phänomenologie angeschaut hat, den Versuch darstellt, in schlichten Worten zu »erzählen«. Es klingt etwas befremdlich, man kann trotzdem behaupten, dass die phänomenologische Beschreibung aufgrund ihres Erzählungscharakters zur literarischen Gattung des epischen Narrativs gehört. Trifft das zu, dann könnte die folgende Bemerkung des Literaturwissenschaftlers Emil Staiger hilfreich sein: Der Epiker stelle die Außenwelt, der Lyriker seine Innenwelt dar. Lyrische Dichtung sei innerlich. Was heißt das? Im Epischen besteht […] ein Gegenüber: hier das unbewegte Gemüt des Erzählers, dort das bewegte Geschehen. Was soll aber »innerlich« besagen? […] Die Rede von »innen« und »außen« entsteht aus der Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die Seele haust im Körper und lässt durch die Sinne die Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein. […] Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf. Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung verschuldet. Wenn lyrische Dichtung nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern »innen« und »außen«, »subjektiv« und »objektiv« sind in der lyrischen Poesie überhaupt nicht geschieden. 18
Es ist interessant zu bemerken, dass die von Staiger entdeckte Nichtgeschiedenheit von »innen« und »außen«, von »subjektiv« und »objektiv« des, laut Staiger, »lyrischen Daseins«, die Eigenschaft ist, die dem phänomenologischen Konzept der Intentionalität des Bewusstseins ganz gut entspricht.
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Staiger, Emil, Grundbegriffe der Poetik, München 1971, S. 44 f.
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Trifft das aber zu, so ist zu vermuten, dass sich das Medium des lyrischen Wortes für die phänomenologische Beschreibung besser eignet als die »wissenschaftliche Prosa«. Überprüfen wir das an einem Beispiel: Geeignet erscheint mir ein Sonett von Rainer Maria Rilke, Archaïscher Torso Apollos. Ich schlage vor, dieses Sonett nicht etwa als ekphrastische Repräsentation des milesischen Jünglingstorsos aus dem 6. Jh. v. Chr. zu lesen, den Rilke wahrscheinlich im Jahre 1908 im Louvre besichtigt hat, sondern als phänomenologische Beschreibung von gewissen visuellen Erfahrungen, d. h. als Beschreibung, die nicht das Angeschaute repräsentieren soll, sondern unseren »Blick schärfen« und damit unsere Sensibilität für die Selbst-Präsentation des Phänomens steigern soll. Das Sonett lautet: Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.
Wenn das Wort der phänomenologischen Beschreibung, laut Bernhard Waldenfels, unseren »Blick schärfen« soll, so will ich gestehen, dass Rilkes Sonett ein besserer Schleifstein ist als Husserls Text. Wenn ich meinen Blick auf den milesischen Jünglingstorso richte und zugleich das Sonett mir innerlich vergegenwärtige, so hilft mir die rilkesche »Beschreibung« (mehr als die husserlsche) das »Erstaunen« zu wecken und die »Merkwürdigkeit« zu erfahren. Ich fange an ganz deutlich zu sehen, dass der Torso-Charakter des Angeschauten, den Husserl bei der Betrachtung seines Schreibtisches als »merkwürdigen Zwiespalt« bezeichnet hatte, kein banales Faktum der Mangelhaftigkeit unserer visuellen Aisthesis ist, sondern umgekehrt – ein Moment, durch den das Angeschaute mich an-spricht. Dann fange Überwundene Metaphysik?
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ich an zu verstehen, was Husserl meinte, wenn er sagte: »Das ist eine sehr merkwürdige Wesenslage.« Wie kommt es aber dazu? Wenn ich jetzt diese meine Erfahrung reflektiere, so finde ich zumindest zwei entscheidende Momente: 1. Der metaphorische und metonymische Charakter der lyrischen Sprache entraubt dem Geschriebenen seine Auto-nomie und verwandelt damit die Schrift in die »formale Anzeige« (Heidegger), welche das »wirklich Seiende« nicht mehr als »es selbst« liefert, sondern als das »ganz Andere« andeutet; 2. Obwohl Rilkes Sonett mir als Schriftwerk zur Verfügung steht, wird auch im geschriebenen Gedicht das Moment der mündlichen Rede spürbar, deren »musikalische« Dimension jedoch die »metaphysische« Verwechslung des Gelesenen und des Angeschauten verhindert.
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Husserls Gedanke einer phänomenologisch neubegründeten Metaphysik am Leitfaden der Idee der indirekten Apodiktizität Bence Peter Marosan
I.
Einleitung
»Die Phänomenologie ist antimetaphysisch«, 1 sagt Husserl. Seine gesamte Laufbahn hindurch betont Husserl stets den antimetaphysischen Charakter der Phänomenologie. Dieser antimetaphysische Grundzug der Phänomenologie deutet darauf hin, dass Husserl das »unmittelbare Sehen«, 2 die direkte, anschauliche Erfahrung als die letzte Rechtsquelle aller möglichen Erkenntnis einschätzt. 3 Es ist das bekannte »Prinzip aller Prinzipien«, demnach eine Ansicht oder eine Theorie nur dann wissenschaftlich haltbar ist, wenn sie in der unmittelbaren Anschauung Erfüllung oder Unterstützung findet. Jeder Ansatz und jede Behauptung, die den Kreis der unmittelbaren, anschaulichen Evidenz überschreitet, soll von nun an als eine bloße Spekulation oder Konstruktion betrachtet werden, die eine weitere erfahrungsmäßige Bewährung erforderlich mache. Die unmittelbare, anschauliche Gegebenheit besitzt für Husserl die Würde der apodiktischen Evidenz und sie bezeichnet und umgrenzt das eigentliche Forschungsgebiet der Phänomenologie. »Zurück zu den Sachen selbst«, so lautet das Schlagwort der phänomenologischen Philosophie nach Husserl. 4 Die »Sachen selbst« sind für ihn die unmittelbaren, anschaulichen Gegebenheiten. Das »Prinzip der Voraussetzungslosigkeit« bezieht sich bei ihm darauf, dass die Phänomenologie keinen Ansatz und keine Behauptung ohne unmittelbare, anschauliche Bewährung bestehen lassen darf. 5 Alle theoretischen, alle wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen ihm zuHua 9, S. 253. Hua 3/1, S. 44. 3 Ebd., S. 52, vgl. auch Hua 9, S. 241 f., Hua 17, S. 166, sowie Husserl, Edmund, Erfahrung und Urteil, Prag 1939, S. 435 f. 4 Hua 19/1, S. 10. 5 Ebd., S. 24. 1 2
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folge in einer symbolischen Form, in der Form eines sprachlichen Satzes formuliert werden; 6 – und letztlich sind auch alle phänomenologischen Einsichten und Evidenzen in sprachlicher Form, in Sätzen gespeichert und aufbewahrt. Die Phänomenologie kennt die Unterscheidung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Evidenz. 7 Aber laut Husserl habe die Phänomenologie auch den Weg zu den ursprünglichen, ursprünglich gegebenen Anschauungen zu sichern. Und es besteht für Husserl keinerlei Zweifel daran, dass es möglich ist, zu diesen Gegebenheiten zurückzukehren. Für Husserl markiert die Sphäre der unmittelbaren, anschaulichen Gegebenheit den Bereich des absolut Unbezweifelbaren, das heißt: der apodiktischen Evidenz. 8 Nach dieser Evidenz habe die Phänomenologie zu streben. Alles, was dieses Gebiet überschreitet, muss, so Husserl, als etwas Zweifelhaftes, als eine bloße Konstruktion betrachtet werden. Das wiederum bedeutet, dass die Phänomenologie mit allen erfahrungsmäßig unbewährten, nicht überprüften Spekulationen entschieden abzuschließen hat. Der »phänomenologische Durchbruch« 9 besteht darin, die Prinzipien der Anschaulichkeit und Voraussetzungslosigkeit konsequent, methodisch bewusst und systematisch zu verwenden. Husserl zufolge sind weder die traditionelle Metaphysik noch die Erkenntnistheorien imstande gewesen, diesen Prinzipien zu entsprechen; deshalb seien sie unweigerlich zu bloßen Spekulationen und zweifelhaften Schlussfolgerungen gelangt. 10 Trotz alledem lehnt Husserl die Möglichkeit einer Beantwortung der alten metaphysischen Fragen und Probleme nicht ab. Ganz im Gegenteil schwebt ihm geradezu eine Reform der Metaphysik durch die auf unmittelbaren Anschauungen gegründeten Phänomenologie vor. 11 Husserl spricht von einer »Metaphysik in einem neuen Sinn«. 12 Doch die Grenzen dieser Reduktion auf die unmittelbare
»Alle theoretische Forschung, obschon sie sich keineswegs bloß in ausdrücklichen Akten oder gar in kompletten Aussagen bewegt, terminiert doch zuletzt in Aussagen. Nur in dieser Form wird die Wahrheit und speziell die Theorie zum bleibenden Besitztum der Wissenschaft, sie wird zum urkundlich verzeichneten und allzeit verfügbaren Schatz des Wissens und des weiterstrebenden Forschens«. Ebd., S. 7. 7 Hua 3/1, S. 326 ff. (§ 141). 8 Hua 1, S. 55 ff. (§ 6). 9 Hua 18, S. 8, 11, 14. 10 Hua 6, §§ 1–7, Hua 9, S. 299 ff. 11 Hua 1, S. 182 f., Hua 9, S. 299 ff. 12 Hua 7, S. 188. 6
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Anschaulichkeit sind ihm bereits 1910 deutlich geworden. 13 Denn es gibt Phänomene, wie z. B. das fremde Subjekt und die Vergangenheit, die nur für eine indirekte Reduktion, für eine mittelbare Beschreibung zugänglich sind. Diese Idee führt bei Husserl in den zwanziger und dreißiger Jahren zu einer Neufassung der Apodiktizität. Das Schlüsselwort ist »Konstruktion«. 14 Husserl unterscheidet diesbezüglich zwischen phänomenologischen und unphänomenologischen Konstruktionen. Phänomenologische Konstruktionen müssen, so Husserl, in jedem Fall durch apodiktisch gewisse Anschauungen motiviert werden. 15 Im Zentrum meines Beitrages soll daher das Verhältnis zwischen dieser Neufassung der Apodiktizität und der phänomenologischen Neubegründung der Metaphysik stehen. Ich habe meine Ausführungen in folgende Teile gegliedert: I. Husserls Kritik der traditionellen Metaphysik, II. Die Idee der doppelten Reduktion, III. Das Problem der konstruktiven Phänomenologie bei Husserl und Fink, IV. Husserls Auffassung der phänomenologisch neubegründeten Metaphysik durch eine indirekte Apodiktizität in den 1930er Jahren.
II.
Husserls Kritik der traditionellen Metaphysik
Obwohl Husserls Analysen der Philosophiegeschichte und besonders der traditionellen Metaphysik mit der Zeit immer detailreicher, sorgsamer und minutiöser werden, bleibt das Kernstück seiner Kritik gegen die alten philosophischen Leistungen immer dasselbe: Diese Theorien hätten durchweg mit traditionell erworbenen, erfahrungsmäßig unbewährten, nicht durch ursprüngliche, unmittelbare Anschauungen begründeten Voraussetzungen und Vorurteilen operiert. 16 Einerseits solle man daher die für selbstverständlich genommenen, unreflektierten historischen Voraussetzungen dieser Gedankengebilde sichtbar machen und kritisieren. Andererseits aber, trotz ihrer metaphysischen, spekulativen Vorurteile, besäßen diese Theorien einen eigentümlichen und positiven phänomenologischen Ge-
Hua 13, S. 177–179. Vgl. z. B. Hua Mat 8, S. 257, 326, 328 f., 344 f., 350 f., 416, Hua 35, S. 190 f., 195 f., 204 f., Hua 42, S. 499, 506. 15 Z. B. Hua 6, § 30. 16 Hua 6, §§ 1–7, 16–31. 13 14
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halt, den man nicht einfach außer Betracht lassen könne. Diesen positiven Gehalt gelte es nunmehr zu entdecken. Für Husserl sind die Werke der klassischen Autoren der Philosophiegeschichte eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. 17 »Die Phänomenologie [ist] gleichsam die geheime Sehnsucht der ganzen neuzeitlichen Philosophie« – kann man in den Ideen lesen. 18 Aber nicht nur die moderne Philosophie, sondern auch die Griechen sind für Husserl wichtig. Das »Doppelgestirn Sokrates-Platon« und Descartes seien die bedeutsamsten Wegbereiter der Philosophiegeschichte. 19 Man verdanke den Griechen die ursprüngliche Attitüde des Staunens (thaumazein), 20 die rein theoretische Einstellung und das streng wissenschaftliche, rigorose, begriffliche Denken. 21 Mit Descartes wiederum erscheine in der Geschichte der Philosophie ein ursprünglich transzendentales Motiv. Vermittels seines methodologischen Skeptizismus habe Descartes die uroriginale Sphäre der transzendentalen Phänomene eröffnet, während Kant erstmals die methodologisch bewusste, systematische Ausarbeitung dieses transzendentalen Motivs gedanklich durchgeführt habe. 22 Husserl zufolge habe Descartes zwar die transzendentale Umstellung vollzogen, doch sei er sogleich den traditionellen Vorurteilen, namentlich der mittelalterlichen Logik und Scholastik, sowie dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Methodenideal seines Zeitalters, der alten, altbekannten substanzmetaphysischen Deutung von Natur und Seele, zum Opfer gefallen. 23 Der neuzeitliche Empirismus, der die Vorform eines zu Husserls Zeiten typischen Psychologismus bildete, naturalisierte und verdinglichte gänzlich die Seele. Kant hingegen habe den transzendentalen Durchbruch tatsächlich vollzogen, aber seine transzendentale Philosophie sei durch »mythische Begriffsbildung« völlig verzerrt gewesen und seine Konzeption vom »Ding an sich« eine bloße, unbegründete, metaphysische Konstruktion. 24 Die Versuche Descartes’, Humes und Kants deuteten jeVor allem: Hua 6, Hua 7, Hua Mat 9. Hua 3/1, S. 133. 19 Hua 7, S. 7 f. 20 Hua 6, S. 331. 21 Vgl. Moran, Dermot, Edmund Husserl. Founder of Phenomenology, Cambridge, UK-Malden, 2005, S. 46–48. 22 Vgl. Hua 6, §§ 16–31. 23 Vgl. z. B. Hua 1, S. 63 f., Hua 2, 49 f., Hua 6, 74–86 (§§ 16–21), Hua 7, S. 58–70. 24 Vgl. Hua 6 (§§ 27–32), Hua 7, S. 230–287, Hua 17 (§ 100), Hua 18 (§ 58). 17 18
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doch, so Husserl, auf die transzendentale »Tiefendimension« des Bewusstseinslebens hin. 25 Der phänomenologische Durchbruch bezeichnet für Husserl nichts anderes als die letzte Erfüllung der inneren, wesensmäßigen Teleologie der gesamten europäischen Geschichte der Philosophie. 26 Da auch der Philosoph ein endliches Wesen sei, könne er, so konstatiert Husserl, nicht einfach diese und jene Vorstellungen geradewegs aus seinem »Kopf herausziehen« und sich gleichsam zu einem »Sesselphilosophen« gebärden. 27 Stattdessen müsse er die Gedanken und die Ideen anderer Philosophen benutzen, aber diese gleichzeitig in der phänomenologisch-kritischen Einstellung analysieren. Um den wahren, erfahrungsmäßigen Kern aus den früheren philosophischen Konstruktionen zu gewinnen, müsse man mit den Mitteln der »kritischen Ideengeschichte« 28 arbeiten, und um die ursprünglichen Phänomene zu erreichen, müsse man sich dem »Abbau der theoretischen Überzeugungen« 29 zuwenden und auf eine systematische und methodologisch reflektierte Weise die überlieferten Voraussetzungen in der Tradition entdecken.
III. Die Idee der doppelten Reduktion Die Phänomenologie, dies gibt Husserl zu bedenken, habe dem cartesianischen Weg der Philosophie zu folgen und sich auf das unmittelbar Gegebene zu beschränken. Schon in seiner Vorlesung »Grundprobleme der Phänomenologie« aus dem Jahr 1910/11 ist sich Husserl der Grenzen der direkten Apodiktizität vollkommen bewusst gewesen. 30 Diese Apodiktizität erwies sich für die phänomenologische Analyse der eigentlichen Fremderfahrung und Vergangenheit als hinderlich: Das Seelenleben des Anderen und die ferne Vergangenheit überschreiten nämlich die Sphäre der unmittelbaren Anschaulichkeit. Um diese Schwierigkeit zu überbrücken, führt Husserl die methodologische Operation der doppelten phänomenologischen
25 26 27 28 29 30
Hua 6 (§ 32). Vgl. z. B. Hua 29, S. 362–392. Hua 6, § 15. Hua 7. Hua 6, S. 498. Vgl. auch: Moran, Edmund Husserl, S. 48. Hua 13, S. 177–179.
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Reduktion ein. 31 Die doppelte Reduktion abstrahiert von der Frage, ob die andere Person in Wahrheit existiert oder ob die Wiedererinnerung an sie richtig ist, sondern sie konzentriert sich ausschließlich auf den Gehalt des vorliegenden intentionalen Erlebnisses. Sie lässt uns die Vergangenheit und die anderen Subjekte als notwendige intentionale Implikationen sehen. Aufgrund der doppelten Reduktion kann man die Idee einer Gemeinschaft transzendentaler, phänomenologischer Subjekte konstruieren. Parallel zum cartesianischen Weg der Reduktion ermöglicht sie einen »leibnizianischen« Weg der Phänomenologie, 32 also den Weg der phänomenologischen Monadologie; die eine Phänomenologie der Intersubjektivität, eine Phänomenologie der mit dem Leibniz’schen Ausdruck als »Monade« bezeichneten Fremdsubjekten sei. 33 In den »Grundproblemen der Phänomenologie« interpretiert Husserl Wiedererinnerung und Fremderfahrung als Vergegenwärtigung. 34 Eine Vergegenwärtigung stellt etwas Abwesendes, das nicht selbst gegenwärtig ist, vor. Mein vergangenes Ich und das fremde Ich zeigen sich als Analogien oder Variationen meines aktuellen Ichs. Die doppelte Reduktion zeigt also das konkrete, aktuell erfahrene Fremdsubjekt und die Intersubjektivität als solche, als meine intentionalen Modifikationen an. 35 Auch in seiner späteren Schaffensperiode kehrt Husserl zur Idee der doppelten Reduktion immer wieder zurück. Aber er empfindet sie für eine adäquate phänomenologische Interpretation der Intersubjektivität zusehends als unzureichend. Der Andere ist eben keinesfalls meine bloße intentionale Modifikation, und deswegen kann ihn die doppelte Reduktion nicht in seiner ursprünglichen Fremdheit erblicken lassen. Man müsse wirklich konstruieren, um den Anderen als solchen phänomenologisch thematisieren zu können. 36
Ebd. Vgl. Dastur, Françoise, »Réduction et intersubjectivité«, in: Éliane Escoubas/Marc Richir (Hg.), Husserl, Grenoble 1989, S. 43–64. Vgl. auch: Tengelyi, László, Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, München 1998, S. 62–64. 33 Vgl. dazu auch: Hua 8, S. 174, Fußnote, 433. 34 Hua 13, S. 178 f., 188 ff. 35 Ebd. S. 186. Vgl. auch: Hua 1, S. 144. 36 Vgl. Hua 15, S. 77, 191. 31 32
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IV. Das Problem der konstruktiven Phänomenologie bei Husserl und Fink Nach Alexander Schnell findet man »explicit […] bei Husserl selbst den Begriff der phänomenologischen Konstruktion erst ab dem Anfang der dreißiger Jahre«. 37 Schnell spricht diesen Gedanken dem Einfluss Eugen Finks zu, der seinerseits diese Konzeption bei Heidegger entlehnt habe. 38 Meines Erachtens können wir diese Idee bei Husserl schon viel früher, nämlich zur Zeit der Ideen (1913) auffinden. 39 Was nicht selbst unmittelbar gegeben sein könne, so Husserl, das müsse man konstruieren, was entweder phänomenologisch oder außerphänomenologisch erfolgen könne. Die althergebrachte Metaphysik musste aufgrund ihrer spezifischen Frageweise die Sphäre der unmittelbaren Gegebenheiten weit hinter sich lassen. 40 Ihr Fehler war, dass sie die intuitive Grundlage für ihre nicht-erfahrungsmäßigen Spekulationen nicht festgelegt hat. Die Wissenschaften sind immer auf die Mittel der Konstruktion angewiesen: Generalisierung, Formalisierung und Idealisierung sind konstruktive Operationen. 41 Die modernen Wissenschaften haben jedoch den Fehler begangen, ihre Konstruktionen als die erste und originale Gegebenheit zu betrachten und sie haben mit diesen Konstruktionen die ursprünglichen, anschaulichen Realitäten der Lebenswelt verdeckt. Husserls späte Untersuchungen der Lebenswelt zielen auf die phänomenologische Dekonstruktion dieser wissenschaftlichen Fehldeutungen ab. Die phänomenologisch rechtmäßige Konstruktion hingegen muss nach Husserl in unmittelbaren Anschauungen gegründet sein. Meiner Auffassung nach gibt es prinzipiell vier wesentliche Gebiete der phänomenologischen Konstruktion bei Husserl: I.) Eidetische Konstruktion, II.) Konstruktion der letzten Schicht und der untersten Elemente der Subjektivität, III.) Konstruktion der metaphysischen
Schnell, Alexander, »Phänomenbegriff und phänomenologische Konstruktion bei Husserl und Heidegger«, in: Gert-Jan van der Haiden/Karel Novotný/László Tengelyi /Inga Römer (Hg.), Investigating Subjectivity. Classical and New Perspectives, Leiden 2012, S. 49 f. 38 Ebd., vgl. auch: Bruzina, Ronald, Edmund Husserl & Eugen Fink. Beginnings and ends in Philosophy, 1928–1938, New Haven & London 2004, S. 162 f. 39 Vgl. z. B. Hua 3/1, S. 175, Fußnote. 40 Z. B. Hua 7, S. 188–191. 41 Hua 3/1 (§§ 13, 74). 37
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Urtatsachen und IV.) Konstruktion des metaphysischen Absoluten. Erstens: Reine Wesensstrukturen müssen konstruiert werden. Zweitens: Es gibt die unterste Stufe der Subjektivität und ihre Urkomponenten, die nur indirekt gedeutet werden können. Drittens: Husserl spricht von »metaphysischen Urtatsachen«, die sich zwar als notwendig zeigen, doch nicht weiter begründet werden können. Viertens: Die Phänomenologie kann das metaphysische Absolute, Gott selbst, nur konstruieren. Abgesehen vom zweiten Punkt finden sich alle hier genannten Argumente im ersten Buch der Ideen. 42 In den zwanziger Jahren setzt sich Husserl mit dem Problem der phänomenologischen Konstruktion des Öfteren auseinander und spricht diesbezüglich sogar von »apodiktischer Konstruktion«; 43 wobei zu beachten ist, dass Fink in den dreißiger Jahren Husserl vielfach geholfen hat, die Methode der phänomenologischen Konstruktion weiter zu entwickeln und zu verfeinern. Es ist Eugen Fink, der die phänomenologische Konstruktion systematisch in eine konstruktive Phänomenologie überführt, und zwar in seiner Schrift VI. Cartesianische Meditation. Es handelt sich hierbei um ein Werk, dessen Entstehung sich streckenweise der engen Zusammenarbeit zwischen Fink und Husserl verdankt, die aber letztendlich nicht erfolgreich sein konnte, obwohl sie einen wesentlichen Einfluss auf Husserl ausgeübt hat. Doch die denkerischen Divergenzen sind im Grunde allzu deutlich: nach Husserl kann nämlich all das zum Thema der konstruktiven Phänomenologie werden, was seinem Wesen nach durch die unmittelbare Anschauung unerreichbar ist. 44 Fink vertritt jedoch die Position, dass die konstruktive Phänomenologie die Grenzen der Apodiktizität notwendig überschreite. Denn die Apodiktizität bezeichne das Gebiet der Endlichkeit, aber die konstruktive Phänomenologie deute auf den Weg zum Absoluten, zur Unendlichkeit hin. 45 Husserl nimmt diese Kritik nicht an, aber Finks Ideen helfen ihm nichtsdes1) Eidetische Konstruktion: z. B. Hua 3/1, S. 147, 153, 3) Metaphysische Urtatsache, Hua 3/1, S. 98, (»Offenbar ist die Seinsnotwendigkeit des jeweiligen aktuellen Erlebnisses darum doch keine pure Wesensnotwendigkeit, […] es ist die Notwendigkeit eines Faktums.«), 4) Gott als das Absolute: Hua 3/1, S. 175, Fußnote, (»Die Idee Gott ist ein notwendiger Grenzbegriff in erkenntnistheoretischen Erwägungen.«) 43 Hua 35, S. 203 f. 44 Beispielsweise Geburt, Tod, frühkindliche Entwicklung, geschichtliche Teleologie, etc., vgl. hierzu Hua Dok 2/1, S. 66–168, 198 ff. 45 Hua Dok 2/1, S. 167–169. Vgl. auch Bertolini, Simona, Eugen Fink e il problema del mondo: tra ontologia, idealismo e fenomenologia, Milano-Udine 2012, S. 77. 42
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Husserls Gedanke einer phänomenologisch neubegründeten Metaphysik
totrotz dabei, eine wesentliche Transformation hinsichtlich seiner eigenen Auffassung der Apodiktizität zu unternehmen. Fink zufolge habe die phänomenologische Konstruktion nicht willkürlich zu verfahren, sie müsse durch ursprüngliche Einsichten motiviert sein. 46 Husserl, der in dieser Periode öfters die Fink’schen Begriffe verwendet, 47 ist mit seinem Assistenten völlig darin einverstanden, dass die phänomenologische Konstruktion in Wesensnotwendigkeiten begründet sein müsse, aber seiner Meinung nach ist diese apriorische Notwendigkeit ein ausreichendes Merkmal der Apodiktizität. Die phänomenologische Konstruktion gründet ja laut Husserl geradezu auf einer apodiktischen Motivation. Man müsse die anschauliche apodiktische Grundlage dafür sichern, was man nicht intuitiv erreichen kann. 48
V.
Phänomenologische Metaphysik und indirekte Apodiktizität
Für Husserls Metaphysik ist es die »zweite Philosophie«, der die transzendentale Phänomenologie als »erste Philosophie«, als ursprüngliche Erkenntniskritik vorangehen und sie begründen solle. 49 In seiner Interpretation der Metaphysik ist Husserl beinahe schon ein Nachfahre Kants: Die Metaphysik sei einerseits metaphysica generalis, die Ontologie der totalen Realität, und andererseits metaphysica specialis, die apodiktische Disziplin der letzten Tatsächlichkeiten und Schicksalsfragen. 50 Diese Metaphysik soll eine, durch die Phänomenologie reformierte »Metaphysik in einem neuen Sinn« sein. 51 Selbst wenn die Hauptelemente der Husserl’schen Metaphysik bereits 1908 ausgereift waren, 52 ermöglichen ihm erst die Forschungen der dreißiger Jahre über die irreflexiven, untersten Komponenten der Subjektivität sowie die Zusammenarbeit mit Fink, die konkreten phänomenologischen Grundlagen dieser Metaphysik systematisch Ebd., S. 70. Z. B. Hua Mat 8, S. 185 ff. 48 Z. B. Hua 13, S. 152, 383 f., 608 f. 49 Vgl. Bernet, Rudolf/Iso, Kern/Marbach, Eduard, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Hamburg 1989, S. 209–213. 50 Z. B. Hua 1, S. 38 f., 182 f. 51 Hua 7, S. 188. 52 Manuskript: B II 2, siehe Hua 42, S. 137 ff. 46 47
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präziser und artikulierter auszuarbeiten. An die Grenzen der Anschaulichkeit stoßend, solle die Phänomenologie nur diejenigen Indikationen apodiktisch festlegen, die zum Gebiet des Unanschaulichen gehören, wobei jedwede diesbezüglichen Zweifel und Zweideutigkeiten auszuschließen seien. Die Apodiktizität entspringe aus solipsistischen, egologischen Quellen, aber diese seien nur ihre niedere Stufe. Husserl hat in den 1930ern die Apodiktizität in seiner Theorie der historischen Lebenswelt eingebettet. Die Apodiktizität von höheren Stufen sei demnach eine kommunikative, intersubjektive, geschichtliche Apodiktizität. 53 Jede individuelle apodiktische Einsicht sei wesentlich etwas Offenes, das durch Kommunikation immer wieder zum Thema möglicher Sinneserweiterungen werde. Wie vollzieht sich allerdings tatsächlich die phänomenologische Konstruktion des in der unmittelbaren Anschauung nicht Gegebenen beim späten Husserl? In der unmittelbaren Anschaulichkeit kann man überall apodiktische Indizierungen und Indikationen finden, 54 die das indizieren, was in der direkten Anschaulichkeit nicht aktuell gegeben ist und auch überhaupt nicht gegeben sein kann. Das Indizierte oder das Implizierte dieser apodiktischen Indizierungen oder Indikationen besitzt eine Art indirekter Apodiktizität. Die phänomenologische Konstruktion soll diese Indikationen laut Husserl nachverfolgen und sie in aller Deutlichkeit und Eindeutigkeit feststellen und umgrenzen; – und zwar sämtliche Indikationen in ihrer Tatsächlichkeit, wie auch in ihren Richtungen und Strukturen. Die Indikationen können sich dabei auf die Möglichkeitsbedingungen 55 einer wie auch immer gearteten anschaulichen Gegebenheit als solcher richten. Vom Standpunkt der »reflexiven Wahrnehmung« 56 aus (weil sich die phänomenologische Reflexion nur in diesem Medium vollziehen kann), kann man diejenigen Indikationen finden, die sich auf die vorreflexive Anschaulichkeit (auf die vorreflexive und unreflektierte Anschaulichkeit des Ur-Ich und der Ur-Hyle) 57 beziehen. Aber der allerletzte Vgl. z. B. Hua 29, S. 86 ff. Hinsichtlich des Husserl’schen Gedankens der »apodiktische[n] Implikationen« vgl. Hua 42, S. 570. 55 Vgl. z. B. Hua Mat 8, S. 5, 41 f., 102, Hua 15, S. 159, 206, 236, 335, 385, 599 f., 616 f., 626 f., Hua 42, S. 117, 163 f., 174 f., 320, 329 ff., 333 ff., 360, 367 ff., 378 ff., 407, 449 ff., 454 ff., 470, 477 ff., 504 f., 518 f. 56 Hinsichtlich des Held’schen Ausdruckes der »reflexiven Wahrnehmung« vgl. Held, Klaus, Lebendige Gegenwart, The Hague 2010, S. 12 f., 50, 71, 131. 57 Meistens: C-Manuskripte. Vgl. dazu u. a. Römer, Inga, Das Zeitdenken bei Husserl, 53 54
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Husserls Gedanke einer phänomenologisch neubegründeten Metaphysik
Zweck der phänomenologischen Konstruktion ist das Konstruieren der Idee der aktuellen Unendlichkeit. Wir sind alle Teile der aktuellen Unendlichkeit, die das letzte Konkrete ist, in welchem wir unselbstständige Momente sind. 58 Wir können die aktuelle Unendlichkeit durch das Aufweisen des Phänomens der in der aktuellen und potenziellen Erfahrung überall auftauchenden Offenheit konstruieren. Was unterscheidet aber diese Art phänomenologischer Konstruktion des Unendlichen von denjenigen naturwissenschaftlichen und idealisierenden Konstruktionen der Neuzeit, die die direkten, anschaulichen Gegebenheiten und Gewissheiten der Lebenswelt verdeckt haben, also jenen Konstruktionen, die in Husserls Krisis-Schrift so detailliert kritisiert wurden? 59 Erstens: Husserl hält ununterbrochen daran fest, dass das Ergebnis dieser Konstruktion etwas Nachkonstruiertes sei, das keine ursprüngliche, unmittelbare Gegebenheit ist und das nicht originalerweise gegeben zu sein vermag. Husserl zufolge haben die neuzeitlichen Wissenschaften ihre idealisierenden Konstruktionen den unmittelbaren, subjektiven, lebensweltlichen Gegebenheiten unterschoben und diese Idealisierungen als originale Realitäten behauptet. Zweitens: Husserl hat für jede phänomenologische Konstruktion die anschauliche Grundlage überall gesichert und die apodiktische Indikation als eine Art Kanal zwischen dem anschaulichen und unanschaulichen Gebiet betrachtet. Drittens: Er hat der Tatsache besondere Aufmerksamkeit geschenkt, dass das phänomenologisch Konstruierte eine a priori notwendige, strukturelle Implikation der apodiktischen Indikation sein müsste. Und die Endlichkeit des individuellen Menschen ist auch für den späten Husserl, wie für Fink und Heidegger, ein wichtiges Thema. Die letzte Zweckidee der phänomenologischen Konstruktion ist das Absolute, nämlich Gott. Ich allein, als endliches Wesen, kann nur eine begrenzte, unvollkommene Repräsentation des Absoluten gedanklich leisten. Die phänomenologische Konstruktion muss letztendlich eine Heidegger und Ricœur, Dordrecht 2010, S. 86–101, 116, 234. Micalli, Stefano, Überschüsse der Erfahrung. Grenzdimensionen des Ichs nach Husserl, Dordrecht 2008, Shigeru Taguchi, Das Problem des Ur-Ich bei Edmund Husserl, Dordrecht 2006, Nam-In Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, Dordrecht 1993, S. 100–102, 113–115, 121–123, 137, 154, 174, 214–216, 241 f. 58 Vgl. z. B. Hua 15, S. 381. Meistens: E-Manuskripte und Manuskript B II 2. Vgl. dazu auch Lee Chun Lo, Die Gottesauffassung in Husserls Phänomenologie, Frankfurt a. M. 2008. 59 Hua 6, §§ 1–30. Überwundene Metaphysik?
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unendlich offene Aufgabe von kooperierenden Philosophen sein. Die indirekten, apodiktischen Hinweise, die wir als individuelle Phänomenologen konstruieren, sind nur isolierte Mosaiken zu dem Absoluten. Aber zusammen, durch diese Mosaiken, können die Philosophen die Abbildung des göttlichen Absoluten immer adäquater vollziehen.
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Phänomenologie als Insächlichkeit Thomas Schmaus
I.
Nähe und Ferne von Metaphysik und Phänomenologie
Wer die Metaphysik kritisiert, hat wenigstens einen impliziten, bestenfalls aber einen expliziten Begriff von dem Gegenstand seiner Kritik. Ob sich unter den Kritikern auch Phänomenologen befinden, hängt davon ab, wie eng dieser Begriff ausfällt. Ein weites Metaphysik-Verständnis lässt sich nämlich durchaus mit der Phänomenologie vereinbaren. Versteht man darunter etwa die »Erste Philosophie« (prima philosophia), 1 die – methodisch und systematisch vorrangig – die Prinzipien erörtert, denen alle anderen philosophischen Disziplinen folgen, dann kann man mit Edmund Husserl (1859–1938) den Anspruch erheben, dieser Rang gebühre »aus inneren Wesensgründen« der Phänomenologie. 2 Husserl sieht in ihr bekanntlich die »Grundwissenschaft der Philosophie« – allerdings »eine wesentlich neue«, die mit den früheren Versionen nicht vergleichbar sei. 3 Eine »andere Erste Philosophie« ist die Phänomenologie auch für Jean-Luc Marion (* 1946), um ein weiteres, aktuelles Beispiel für diese Sichtweise anzuführen. 4 Auch hier wird aber deutlich, wie sehr sich diese
Als πρώτη φιλοσοφία (erste Philosophie) bezeichnet Aristoteles den Gegenstand derjenigen Schriften, die später mit dem Titel »Metaphysik« bezeichnet wurden. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, übersetzt von Hermann Bonitz, bearbeitet von Horst Seidl, Darmstadt 1995, Buch I. 2 Husserl, Edmund, Erste Philosophie (1923/24), Bd. 1: Erster Teil. Kritische Ideengeschichte (= Hua; Bd. VII), Rudolf Boehm (Hg.), Den Haag 1956, S. 4. 3 Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (= Hua; Bd. III/1), Text der 1.–3. Auflage, neu hg. v. Karl Schuhmann, Den Haag 1950, S. 3. 4 Marion, Jean-Luc, »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«, in: Michael Gabel/Hans Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg, München 2007, S. 56–77. 1
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»andere« von der traditionellen Ersten Philosophie unterscheidet, deren Kategorien Marion einer radikalen Modifizierung unterzieht. 5 Parallelen zwischen Metaphysik und Phänomenologie zeigen sich zunächst auch auf der Ebene der Forschungsintentionen, insofern es beiden Disziplinen darum geht, Tiefenstrukturen freizulegen und zu untersuchen. 6 Dem traditionellen metaphysischen Anspruch allerdings, die Grundstruktur der Wirklichkeit zu analysieren, können und wollen nur wenige Phänomenologen folgen. Die Phänomenologie sucht »zu den Sachen selbst« zu gelangen, was eine unhintergehbare sachliche Pluralität impliziert, die auch dann nicht negiert wird, wenn man ganz bei der Sache ist, also bei dem konkreten Sachzusammenhang, dem man sich gerade widmet. Insofern müsste man hier von vielen Wirklichkeiten sprechen, deren Strukturen es zu erforschen gilt, wenn mit dem Begriff »Wirklichkeit« nicht auch jene Vorstellungen verbunden wären, die in der Phänomenologie keine Rolle spielen (sollen): dass die Wirklichkeit Sein statt Schein, dass sie bewusstseinsunabhängige Realität ist. 7 Selbst ein denkbar weiter und wenig bestimmter MetaphysikBegriff kommt also bei näherer Betrachtung mit dem Selbstverständnis der Phänomenologie in Konflikt. 8 Umso deutlicher zeigt sich der Kontrast, wenn die Metaphysik konkreter bestimmt und dabei auch ihre Geschichtlichkeit berücksichtigt wird. Dann erweist sich die Phänomenologie als metaphysikkritisch, ja »antimetaphysisch«. 9 Vgl. Gondek, Hans-Dieter/Tengelyi, László, Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin 2011, S. 227–238. 6 Die Metaphysik trägt dieses Programm gewissermaßen schon im Namen: Sie blickt hinter (meta) die Natur (physis), während die Phänomenologie die Erscheinungen (phainomena), mithin das, was sich zeigt, zu durchdringen versucht. 7 In Husserls Terminologie handelt es sich dabei um die »Generalthesis der natürlichen Einstellung«, die selbstverständlich von der Existenz einer objektiven Wirklichkeit ausgeht. Vgl. Husserl, Ideen, S. 60–66. 8 Ob die Phänomenologie freilich selbst ihrem eigenen Anspruch gerecht wird, ist eine Frage von hoher Virulenz. Ich komme im fünften Kapitel darauf zurück. 9 Vgl. Husserl, Edmund, »Der Encyklopaedia Britannica Artikel. Erste Fassung«, in: ders., Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925 (= Hua; Bd. IX), Walter Biemel (Hg.), 2. Auflage, Den Haag 1968, S. 237–255, hier S. 253: »Die Phänomenologie ist antimetaphysisch, sofern sie jede in leer formalen Substruktionen sich bewegende Metaphysik ablehnt.« Heidegger notiert dazu (ebd., Anm. 1.): »oder und erst recht sofern man unter Metaphysik die Darstellung eines Weltbildes versteht, das in der natürlichen Einstellung vollzogen und je nur auf sie in bestimmten historischen Situationen des Lebens – seiner gerade faktischen Erkenntnismöglichkeiten – zugeschnitten ist.« 5
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Phänomenologie als Insächlichkeit
Auch die folgenden Ausführungen heben die phänomenologische Methode von der Metaphysik ab, ohne jene allerdings bloß negativ oder defensiv in Abgrenzung von dieser zu begreifen. 10 Zunächst (2.) erörtere ich mit Ursächlichkeit und Gegenständlichkeit zwei charakteristische Merkmale metaphysischen Denkens. Anschließend (3.) vertrete ich die These, dass die Phänomenologie im Gegensatz dazu insächlich zu werden versucht und sich dort, wo dies gelingt, nicht mit Gegenständen beschäftigt, sondern im Sachzusammenhang bewegt. Diesen eigentümlichen Sachverhalt erläutere ich etwas näher am Beispiel des Spiegelbildes (4.), bevor ich abschließend (5.) einige Herausforderungen thematisiere, mit denen die Phänomenologie als Insächlichkeit umzugehen hat.
II.
Metaphysik – Ursächlichkeit und Gegenständlichkeit
Wie bei so vielen philosophischen Bewegungen ist auch die Geschichte der Metaphysik älter als der Begriff, mit dem sie bezeichnet wird. Aber selbst dann, wenn man sie erst ab dem gleichnamigen Werk von Aristoteles zur Kenntnis nimmt, spannt sich bis zu Hegels System, das man – analog – als ihre vorläufige Vollendung verstehen kann, ein Zeitraum, der kaum zu überblicken ist. Wenn es dennoch etwas gibt, das die vielen metaphysischen Ansätze über diese Zeit hin eint, dann ist es die Suche nach letzten Gründen und Ursachen. Metaphysik betreibt Grundlagen- und Ursachenforschung. Die Kausalität ist denn auch ein Topos der Metaphysikkritik Martin Heideggers (1889–1976), auf die ich mich im Folgenden beziehen werde. Am ausführlichsten erörtert sie Heidegger in den Vorlesungen und dem Vortrag zum »Satz vom Grund«. 11 Titelgebend dafür ist der von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) formulierte Satz vom zureichenden Grund (principium rationis sufficientis), der – kurz gefasst – besagt, dass nichts ohne Grund (sine ratione) und keine Wirkung ohne Ursache (sine causa) sei. 12 Was hier ausdrücklich wird, klingt aber längst schon an und findet sich bereits in den Anfängen des metaphysischen Denkens – exemplarisch bei AristoteVgl. dazu Anm. 24 (Verwindung). Heidegger, Martin, Der Satz vom Grund (= GA; Bd. 10), Petra Jaeger (Hg.), Frankfurt a. M. 1997. 12 Vgl. ebd., S. 32 f. 10 11
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les in der Lehre von den vier Ursachen. 13 Dieser »Grundsatz aller Grundsätze« ist ein Signum der ganzen Metaphysik. 14 Die Suche nach dem (zureichenden) Grund von etwas, nach der Ursache jedes Seienden, ist eine Bewegung, die alle metaphysischen Konzepte vollziehen – und zwar unabhängig von ihren epochalen Unterschieden. 15 Dass es diese Unterschiede gibt, liegt für Heidegger nicht an der Unfähigkeit der Metaphysiker, nachhaltige Ergebnisse zustande zu bringen. Schon gar nicht macht er sich die sprachanalytische Kritik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu eigen, welche metaphysische Sätze prinzipiell für unsinnig hält. Dass es zwischen den verschiedenen Ansätzen epochale Unterschiede gibt, liegt für Heidegger vielmehr an der Geschichtlichkeit der Metaphysik. In seiner Spätphilosophie interpretiert er diese konsequent seinsgeschichtlich, also im Zusammenhang jener Geschichte, in welcher sich die »Wandlungsfülle des Seins« ereignet. 16 Sein und Dasein – der Mensch »ek-sistierend« in der »Lichtung des Seins« – stehen demnach in einem dynamischen, dialogischen Verhältnis zueinander. 17 Das Sein spricht sich dem Menschen in bestimmter Weise zu, was eine jeweilige Entsprechung provoziert, insbesondere bei denjenigen, die als die großen Denker ihrer Zeit gelten können. 18 Sie bringen ins Wort, wie sich epochal das Sein entbirgt, d. h. in welcher geschichtlichen Gestalt es sich zeigt.
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch I, Kapitel 3. Die Metaphysik ist insbes. »Wissenschaft von den anfänglichen Ursachen«. 14 Heidegger, Satz vom Grund, S. 10. 15 Ich vernachlässige hier – wie Heidegger weitestgehend auch – die durchaus sinnvolle, aber verschieden gehandhabte Unterscheidung zwischen Ursache und Grund. 16 Heidegger, Martin, »Zeit und Sein«, in: ders., Zur Sache des Denkens (= GA; Bd. 14), Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Frankfurt a. M. 2007, S. 3–30, hier S. 11. 17 Vgl. Heidegger, Martin, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: ders., Wegmarken (= GA; Bd. 9), Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Frankfurt a. M. 1976, S. 313–364, hier S. 323 f.: »Die Metaphysik verschließt sich dem einfachen Wesensbestand, daß der Mensch nur in seinem Wesen west, indem er vom Sein angesprochen wird. Nur aus diesem Anspruch ›hat‹ er das gefunden, worin sein Wesen wohnt. […] Das Stehen in der Lichtung des Seins nenne ich die Ek-sistenz des Menschen.« Zum Unterschied von Heideggers »Lichtung« zur abendländischen Lichtmetaphysik vgl. Heidegger, Martin, »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: ders., Zur Sache des Denkens, S. 67–90, hier S. 80–82. 18 Vgl. Heidegger, Satz vom Grund, S. 139 f. 13
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Phänomenologie als Insächlichkeit
Entscheidend ist nun, dass jedes Entbergen nur eine Möglichkeit des Seins ereignet – wohingegen die anderen entzogen bleiben. 19 Die Metaphysik ist neben der Suche nach Gründen dadurch gekennzeichnet, dass sie epochal jeweils eine bestimmte Seinsweise verabsolutiert und für wahr hält. Damit entgeht ihr die Geschichtlichkeit des Seins und sein Charakter als Gebungsgeschehen – als »Ereignis«, um den zentralen Terminus von Heideggers Spätphilosophie anzuführen. 20 Auch die Metaphysik als ganze ist kein zeitloses Projekt, sondern selbst nur eine – wenngleich äußerst lange währende – (Groß-)Epoche der Seinsgeschichte, die in kleinere Abschnitte unterteilt werden kann. Die Seinsvergessenheit bzw. -verlassenheit, welche die Metaphysik von Anfang an prägt und sich zunehmend steigert, bedingt auch den »Ort«, an dem die Suche nach Gründen und Ursachen stattfindet. Gesucht wird im Bereich des Seienden, weswegen das Sein selbst gar nicht erreicht wird – oder nur vermeintlich, indem das höchste Seiende (summum ens) damit identifiziert wird. Dieses vollkommenste Seiende – traditionell der Gott der Philosophen – gilt dann als erste Ursache (causa prima) und äußerster Grund (ultima ratio). 21 Jedes Seiende – auch das höchste – gründet Heidegger zufolge aber im Sein. Das heißt: Auch die Suche nach Gründen und der Satz vom Grund, der diese Suche zum Gesetz erhebt, gründen im Sein. 22 Das Sein selbst in seiner geschichtlichen Wandlungsfülle hat jedoch keinen Grund mehr, der es begründet: Es ist »Ab-Grund«. 23 Daher braucht es ein ab-gründiges Denken, wenn es darum geht, die hinter-gründige Meta-Physik und die damit verbundene Seinsvergessenheit zu verwinden. 24 Vgl. ebd., S. 91 f. Vgl. Seubold, Günter/Schmaus, Thomas, »Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun«, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2. Auflage, Stuttgart 2013, S. 335–340. 21 Vgl. Heidegger, Satz vom Grund, S. 40–43. 22 Vgl. ebd., S. 17 f. und 75 f. 23 »Sein ›ist‹ im Wesen: Grund. Darum kann Sein nie erst noch einen Grund haben, der es begründen sollte. Demgemäß bleibt der Grund vom Sein weg. Der Grund bleibt ab vom Sein. Im Sinne solchen Ab-bleibens des Grundes vom Sein ›ist‹ das Sein der Ab-Grund. Insofern das Sein als solches in sich gründend ist, bleibt es selbst grundlos. Das ›Sein‹ fällt nicht in den Machtbereich des Satzes vom Grund, sondern nur das Seiende.« (ebd., S. 76 f.) 24 Mit dem Begriff der »Verwindung« ist ein wichtiger Hinweis verbunden. Heidegger führt ihn ein, weil »Überwindung« aktivistisch verstanden werden kann und auch die radikale Opposition eine Positionierung darstellt, die in Abhängigkeit zu demje19 20
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Neben der Kausalität hat die Metaphysikkritik einen weiteren wichtigen Ansatzpunkt in der bereits erwähnten epochal bedingten Bevorzugung einer bestimmten Seinsweise. Für unsere Gegenwart ist hier immer noch die neuzeitliche Wende zum Subjekt ausschlaggebend. Sie geht einher mit der Objektivierung alles Seienden, mit der Vorstellung des Seienden als Gegenstand – als etwas also, das dem empirischen, mehr aber noch dem transzendentalen Subjekt gegenübersteht und methodisch präzise analysiert werden kann. 25 Das ist die Vorgehensweise der Wissenschaften, jedenfalls derjenigen, welche ihren Objektivitätsanspruch mit Beobachterunabhängigkeit verbinden. Für sie gilt, dass das forschende Subjekt in den Bereich der Gegenstände nicht involviert sein darf, sondern sich davor in Stellung zu bringen hat und nur dasjenige als Erklärung zulässt, was sich objektiv messen lässt. Wenn man auf diese Weise mit Heidegger die Wissenschaften als Erben der Metaphysik versteht, dann geschieht das freilich entgegen deren Selbstverständnis, sehen sie sich doch insofern vom Metaphysikverdacht entlastet, als sie empirisch vorgehen, sich an die Fakten halten und weder letzte Fragen stellen noch letzte Antworten geben wollen. Allerdings betreiben sie Ursachenforschung und legitimieren sich durch die Verabsolutierung einer bestimmten Seinsweise, nämlich derjenigen der Gegenständlichkeit. Es ist vor allem ihre Methode bzw. ihr Weltzugang, der dazu führt, dass die Wissenschaften in metaphysischen Denkmustern verhaftet bleiben. 26 Insofern nimmt es nicht wunder, dass die Kritik der Phänomenologie an der Metaphysik vor allem bei der Methode ansetzt. Es ist die Vorgehensweise, mit der sie sich fundamental absetzt von metaphysischen Ansätzen – und zwar sowohl im Hinblick auf den allnigen steht, gegen das man sich stellt. Vgl. Heidegger, Martin, Das Ereignis (= GA; Bd. 71), Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Frankfurt a. M. 2009, S. 135–144. 25 Vgl. Heidegger, Satz vom Grund, S. 82 f. Dass in der Neuzeit auch die »Herrschaft des Satzes vom Grund« offenkundig und explizit wird, ist für Heidegger kein Zufall, sondern hängt damit zusammen, dass nun »alles Vorstellen dem Anspruch auf unbedingte Zustellung des zureichenden Grundes für jedes Seiende durchgängig entspricht« (ebd., S. 82). 26 Diese Verhaftung bzw. Verstrickung steigert sich laut Heidegger in der modernen Technik dahingehend, dass nun Seiendes nicht einmal mehr als Gegenstand, sondern als bloßer Bestand für das technische Verfügen erschlossen werde, womit die Seinsvergessenheit bzw. -verlassenheit zum Äußersten gelangt sei. Vgl. Heidegger, Martin, »Die Frage nach der Technik«, in: ders., Vorträge und Aufsätze (= GA; Bd. 7), Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Frankfurt a. M. 2000, S. 5–36, hier S. 17–19.
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gemein-metaphysischen Duktus der Ursachenforschung als auch im Bezug auf die gegenwärtig-epochale Ausprägung der Vergegenständlichung von Mensch und Welt und der damit verbundenen SubjektObjekt-Spaltung. Die folgenden Überlegungen sind in diesem Kontext verortet, orientieren sich allerdings nicht mehr an der ab-gründigen Spätphilosophie Martin Heideggers, die ihre Herkunft aus der Phänomenologie zwar noch erkennen lässt, aber andere Wege geht. Die Bezeichnung »Ab-Grund« ist meines Erachtens für das phänomenologische Vorgehen auch wenig geeignet, weil sie Assoziationen von bodenloser Leere, Haltlosigkeit und freiem Fall erweckt. Ich wähle daher für die phänomenologische Abkehr von der metaphysischen Ursächlichkeit den ungewöhnlichen, aber leicht zu erschließenden Ausdruck »Insächlichkeit«. 27
III. Phänomenologie – Insächlichkeit und Sachverhalt Anders als die Metaphysik, so die These meines Beitrags, betreibt die Phänomenologie keine Ursachenforschung. Sie ist vielmehr darum bemüht, insächlich zu werden. 28 »Zu den Sachen selbst« zu kommen genügt nicht – man muss in sie hinein gelangen. Dass dem so ist, wird schon bei Edmund Husserl deutlich. Seine entscheidende Einsicht besteht ja darin, dass man beim Betrachten von etwas auch die jeweilige (adäquate) Zugangsart zu berücksichtigen hat. Das Objekt – exemplarisch – des erkennenden Bewusstseins wird durch den Akt des Bewusstseins konstituiert. Noesis (Erkenntnisakt) und Noema (Erkenntnisgegenstand) korrelieren und müssen daher immer zusammen gedacht werden. 29 Ohne ihre Zugangsarten lassen sich die Gegenstände gar nicht verstehen. 30 Weil der Zugang aber jemanden Anders als der negierende »Ab-Grund« und die eher prohibitive »Epoché« (s. o.) bezeichnet »Insächlichkeit« eine Bewegung der Zuwendung. 28 Den Grundgedanken, Phänomenologie als Insächlichkeit zu verstehen, habe ich erstmals im zweiten Kapitel meiner Doktorarbeit expliziert. Vgl. Schmaus, Thomas, Philosophie des Flow-Erlebens. Ein Zugang zum Denken Heinrich Rombachs, Stuttgart 2013, S. 23–36. Die folgenden Kapitel entwickeln diesen Gedanken weiter und erörtern ihn im Zusammenhang mit der Metaphysikkritik. 29 Vgl. Husserl, Ideen, S. 200–224. 30 In diesem Zusammenhang zeigt sich dann auch, dass Gegenständlichkeit (»Vorhandenheit«) nur eine bestimmte – lebensweltlich nicht einmal primäre – Seinsweise der Dinge ist, die im Lebensvollzug vor allem durch »Zuhandenheit« gekennzeichnet sind. Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, 19. Auflage, Tübingen 2006. 27
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braucht, der ihn sucht oder findet, ein Subjekt also, das ihn vollzieht, lässt sich diese Einsicht auch so formulieren, dass erst das Zusammen von Subjekt- und Objektverfassung das Phänomen ausmacht. Das sind die Phänomene, mit denen es die Phänomenologie zu tun bekommt. Das sind die Sachen, denen sie sich nähern will. Es sind Sachzusammenhänge, innerhalb derer sich »so etwas« wie Subjekt und Objekt ausmachen lässt, allerdings nicht isoliert voneinander, sondern immer in Relation zueinander – eine Relation, die sich wiederum nicht statisch, sondern dynamisch verhält. Die Sache ist ein Verhältnis, ein Sachverhalt. Die Sache ist kein anderes Wort für »Gegenstand« oder »Objekt« – auch nicht in dem Sinn, dass damit ein weniger enges, ein nicht-reduktionistisches, ein ganzheitliches Verständnis des Objektes intendiert wird. Das alles geht noch an der Sache vorbei. Die Sache, das ist Subjekt und Objekt im intentionalen oder wie auch immer gearteten Vollzug. Viele Missverständnisse über die Phänomenologie sind meines Erachtens darauf zurückzuführen, dass dieser Sachverhalt nicht klar genug herausgearbeitet wird. 31 Wer also »zu den Sachen selbst« gelangen will, der muss sich – auf welche Weise auch immer – in den Lebensvollzug hineinversetzen und von daher ihre Grundstruktur herausarbeiten. »Auf welche Weise auch immer« meint nicht Beliebigkeit, sondern verweist auf die Eigentümlichkeit, dass die Methode für diesen Nachvollzug, für diese Strukturarbeit, nicht von vorne herein feststeht, sondern sich erst während der Untersuchung des Phänomens ergibt. 32 Zunächst und zuvorderst gilt es, so behutsam zu Werke zu gehen, dass der Sachzusammenhang nicht zerrissen oder aufgelöst wird, wie es wortwörtlich bei einer Analyse (gr.: analyein, dt.: zergliedern, auflösen) geschieht. Genau das aber ist der Fall, wenn sich Einzelwissenschaftler ihren Untersuchungsobjekten zuwenden. Sie
Will man ihn in diesem Sinne verstehen, muss man den Begriff »Sachverhalt« freilich anders als heute üblich verwenden. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht zum Gebrauch des Wortes in Heideggers Spätphilosophie. Vgl. Ledić, Juraj-D., Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich. Studien zur Grundlegung einer kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Seinsbegriff, Frankfurt a. M. u. a. 2009, insbes. S. 160–166. 32 Reserviert man »Methode« als Terminus für das sachferne, regulierte Procedere, einen Forschungsgegenstand wissenschaftlich zu analysieren, dann muss man diesen Begriff folgerichtig als Phänomenologe ganz vermeiden. Vgl. Heidegger, Martin, »Das Wesen der Sprache«, in: ders., Unterwegs zur Sprache (= GA; Bd. 12), Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Frankfurt a. M. 1985, S. 147–204, hier S. 167 f. 31
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greifen ein Element des Sachzusammenhanges heraus, isolieren es und machen es zu ihrem Gegenstand. Sie stehen vor der Sache – allerdings nicht der Sache mit ihren reichen Verweisungsbezügen, sondern vor der nackten Tatsache. Bemüht man sich nun aus dieser Position heraus, der Sache auf den Grund zu gehen, dann ist damit das Unterfangen verbunden, hinter sie zu kommen, ihre Ursachen zu ermitteln. Das ist natürlich alles andere als verwerflich, wenn damit nicht der Anspruch verbunden wird, alles zu erschließen, was es zu entdecken gibt. Der Verdacht, der die Phänomenologie motiviert, die Metaphysik zu kritisieren, lautet: Es mag so einiges »hinter« dem Phänomen an Ursachen zu entdecken sein, aber entgeht dieser hintergründigen, zupackenden Zugangsweise nicht all das, was »in« ihm steckt? Anstatt zu versuchen, ein Phänomen mit vorformulierten Fragen zu stellen wie einen flüchtigen Tagedieb, gilt es sachgemäß zu sein und denjenigen Fragen nachzugehen, die sich insächlich entfalten. 33 »Das Phänomen selbst […] stellt uns vor die Aufgabe, aus ihm, es befragend, zu lernen, d. h. uns etwas sagen zu lassen.« 34 Phänomenologen versuchen also, in die Sache hineinzukommen – dorthin, wo die Metaphysik mit ihrer Ursachenforschung nie gelangen wird. Sie suchen den lebendigen, geschichtlichen Lebensvollzug, das jeweilige Miteinander von Subjekt und Objekt, mitzuvollziehen. Es geht ihnen um die Verinnerlichung, nicht die der Sache aber, sondern um die eigene Verinnerlichung, die Vereignung in die Sache hinein, um dadurch wirklichen Einblick zu bekommen. 35 Damit dies gelingen kann, sind sorgfältig alle sachfremden Äußerlichkeiten zu vermeiden: Vorurteile, Alltagsmeinungen, aus der Tradition überkommene Ansichten und Deutungsschemata, insbesondere aber metaphysische Vorstellungen und Begriffe sowie (natur-)wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Einklammerung dieser An-
Man kann ein Phänomen vernehmen, indem man es ins Verhör nimmt oder indem man versucht, auf es zu hören. 34 Heidegger, »Das Ende der Philosophie«, S. 81. 35 Bei Rombach erscheint diese Verinnerlichung fast wie ein Bekehrungsereignis, wenn er davon spricht, »daß das entscheidende Geschehen in einer Umwendung liegt, die das ›vor‹ einer Sache Stehen in das ›in‹ sie Sehen kehrt« (Rombach, Heinrich, »Die philosophische und phänomenologische Grundfrage nach Sinn und Wert«, in: ders., Die Welt als lebendige Struktur. Probleme und Lösungen der Strukturontologie, Freiburg 2003, S. 25–50, hier S. 40). 33
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sichten – die phänomenologische Epoché – erfolgt nicht, weil sie falsch wären, sondern weil sie Fragen mitbringen und Antworten bahnen, die nicht sachgemäß sind. Wer sich mit diesen Fragen aufhält, kann den Aufenthalt nicht finden, um die genuine Aufgabe der Phänomenologie zu erfüllen, nämlich das zu beschreiben, was sich zeigt und wie es sich zeigt – in einer lebensweltlichen Situation, bei einem Bewusstseinsakt, während einer Erfahrung. Die Rolle von Phänomenologen ist vergleichbar mit der von teilnehmenden Beobachtern. Sie sind ganz bei der Sache und wissen doch, dass sie von ihr berichten werden. Sie sind involviert und schauen doch zu. Sie erleben und reflektieren. Diese Spannung haben nicht nur Phänomenologen auszuhalten, sondern alle, die über eine Sache sprechen wollen, schon diejenigen, welche »bloß« von ihr erzählen. Den »reinen«, unbeteiligten Beobachter gibt es nicht. Ihm nahe zu kommen geht nicht ohne Preisgabe von Wirklichkeitsnähe. Wer umgekehrt jeder Reflexivität entbehrt oder diese vermeidet, der kann oder will gar nicht über das reden, was er erlebt hat. Diese Grundproblematik der Vermittlung von Unmittelbarem betrifft die Phänomenologie aber deswegen in besonderer Weise, weil sie den Anspruch erhebt, möglichst nah am unmittelbaren Lebensvollzug zu bleiben. 36 Angesichts dessen sind Sätze mit Hinweischarakter gefragt, die in der Lage sind, präzise das Phänomen zu deuten, ohne es einzuengen oder allzu aufdringlich präsentieren zu wollen. Phänomene sind scheu. Sie entziehen sich dem zudringlichen, definierenden, begreifenden Sprachgestus der Metaphysik. Deiktische Ausdrücke sind hier gelassener, im wahrsten Sinn des Wortes, insofern sie das belassen, woraufhin sie deuten. 37
Dass die Reflexion auf den vollzogenen Akt diesen verändert, indem sie ihn thematisch macht, sieht auch Husserl. Er ist aber überzeugt davon, dass dadurch dem geänderten Aktsinn durchaus noch die Informationen zu entnehmen sind, die ihn als ursprünglich vollzogenen auszeichnen. Vgl. Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen, Zweiter Band. Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Text der 1. und der 2. Auflage ergänzt durch die Annotationen und Beiblätter aus dem Handexemplar (= Hua; Bd. XIX/1), Ursula Panzer (Hg.), Den Haag 1984, S. 13–17. 37 Ein Beispiel dafür ist die »formale Anzeige« beim frühen Heidegger. Vgl. Fischer, Mario, Religiöse Erfahrung in der Phänomenologie des frühen Heidegger, Göttingen 2013, S. 208–214. 36
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IV. Veranschaulichung im Spiegelbild Um die Erörterungen zur Insächlichkeit der Phänomenologie zu konkretisieren, möchte ich ein Sprachbild Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) aufgreifen, das von den so genannten »Urphänomenen« handelt. Gemeint sind Erscheinungen, die so ursprünglich sind, dass sie sich nicht von anderen Phänomenen ableiten lassen. Für unsere Zwecke ist es nicht notwendig, diese phänomenale Differenzierung weiter zu verfolgen, denn Goethes Grundanliegen betrifft den Umgang mit Phänomenen überhaupt: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.« 38 Das folgende Zitat, das Johann Peter Eckermann überliefert, veranschaulicht zugespitzt, was geschieht, wenn man diesen phänomenologischen Imperativ missachtet: Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, […] ist das Erstaunen; und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen was auf der anderen Seite ist. 39
Das Staunen gilt von alters her als Ursprung der Philosophie. Es verunsichert, bindet die Aufmerksamkeit, bricht das Selbstverständliche auf, macht es fraglich und fragwürdig. Wie Menschen aber mit ihrem 38 Goethe, Johann Wolfgang, »Maximen und Reflexionen«, in: ders., Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, mit Anmerkungen von Herbert von Einem und Hans-Joachim Schrimpf (= Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden; Bd. 12), 6. Auflage, Hamburg 1967, S. 365–547, hier Nr. 488. – Wenngleich man den Dichter, der hier Wissenschaftler sein will, nicht nachträglich für die phänomenologische Bewegung vereinnahmen sollte, weist sein Begriff vom Phänomen doch eine erstaunliche Nähe dazu auf: »Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt.« (ebd., Nr. 512) Auch die Methode, sich diese Phänomene zu erschließen, ist insofern phänomenologisch, also insächlich, als es Goethe darauf ankommt, sich in sie zu vertiefen, um sich mit ihnen »auf eine rationelle Weise gleichsam [zu] amalgamieren« (Goethe, Johann Wolfgang, »Erfahrung und Wissenschaft«, in: ders., Naturwissenschaftliche Schriften I, mit Anmerkungen von Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller (= Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden; Bd. 13), 5. Auflage, Hamburg 1966, S. 23–25, hier S. 24). 39 Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (= Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe; Bd. 19), Heinz Schlaffer (Hg.), München, Wien, S. 288 f.
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Erstaunen umgehen, ist keineswegs ausgemacht. Goethe berichtet uns von einer Beobachtung, die er bei Kindern tätigen konnte. Das eigenartige Spiegelbild setzt diese zwar in Erstaunen, fesselt sie aber nicht. Sie verharren nicht davor, sondern suchen sogleich »dahinter« zu kommen. Was sie dazu antreibt, ist wiederum ein oft erwähntes Movens der Philosophie, die Frage nach dem Warum. Diese nimmermüde Frage drängt dazu, der Ursache für etwas auf den Grund zu gehen und sich erst dann zufrieden zu geben, wenn diese gefunden ist, wobei auch für die gefundene Ursache eine Ursache zu suchen ist und so fort … Goethe infantilisiert und diskreditiert mit seinem Bild vom Spiegel nicht jegliche Form der Ursachenforschung, wohl aber diejenige, die einem Urphänomen auf die Schliche kommen will, anstatt dabei zu verweilen. Das Spiegelbild ist auch jenseits von Goethes Intention ein gutes Beispiel für ein Phänomen und den Umgang damit. Auf den ersten, d. h. hier nahe liegenden und alltäglichen Blick vermag es nicht wirklich in Erstaunen zu versetzen. Womöglich blickt mich morgens, verschlafen wie ich bin, aus meinem Badezimmerspiegel ein Mensch an, den ich zunächst nicht mit mir in Verbindung bringe, aber das Faktum, dass er mich anblickt und dass sich in dem Bild, welches sich mir bietet, mein Gesicht spiegelt, versetzt mich dabei nicht in Aufregung. Etwas anderes ist es, wenn mir mein Spiegelbild außerhalb des alltäglichen Kontextes begegnet. Der ungewöhnliche Anblick in einem Zerrspiegel auf dem Rummelplatz, das unerwartete Gewahrwerden des eigenen Körpers auf der Oberfläche eines Schaufensters, die plötzliche Konfrontation mit dem eigenen Bild durch den Splitter eines Spiegels auf dem Gehweg oder dessen allmähliches Sich-Abzeichnen, wenn das aufgewühlte Wasser eines Sees wieder ruhig wird – das alles kann mich dazu bewegen, innezuhalten und ins Staunen darüber zu geraten, was da gerade passiert. Fast immer wird es bei diesem kurzen Moment bleiben. Denn die alltäglichen Erklärungsmuster greifen schnell und entziehen damit dem Staunen seine Grundlage. Zu den wenigen, die daraufhin nicht zur Tagesordnung übergehen, sondern die Anstößigkeit des Staunens als Impuls verspüren, das Alltägliche in neuem Licht zu sehen, gehören die Philosophen. Ihnen wird das Phänomen zur Frage; dies freilich wieder in unterschiedlicher Weise. Für die einen, zu denen nach der Kennzeichnung des zweiten Kapitels die Metaphysiker gehören, wird es zur WarumFrage. Sie beginnen, ggf. im Verbund mit Vertretern der Einzelwis82
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senschaften, nach der Ursache für das Phänomen zu suchen und finden sie »dahinter«, in physikalisch-chemischen Vorgängen etwa. Man kann sich jetzt eine Vorstellung davon machen, wie ein Spiegelbild entsteht, wodurch es bewirkt wird. Der Mechanismus ist analysiert, erklärt und kann begrifflich gemacht werden. Er ist in den Griff gebracht. Während für diese Fragesteller das Staunen den Ausgangspunkt ihres Forschens markiert, den sie nach getaner Arbeit hinter sich lassen können, 40 ist es anderen bleibender Ursprung. Diesen ist daran gelegen, mit dem Phänomen so umzugehen, dass es so weit als möglich es selbst bleiben kann. Sie wollen es nicht vereinnahmen, sondern ihm sein Anderssein lassen. Die Abgründigkeit des Erstaunens lässt nämlich das Phänomen in seiner Grundlosigkeit zutage treten und mit ihm den Verdacht, ob man sich durch die Ermittlung von Ursachen nicht letztlich »hinters Licht führen« lässt, weil man – fixiert auf die Suche nach einer Lichtquelle – nicht in der Helle dessen, was da erscheint, verweilt. 41 Auch Phänomenologen gehören zu denjenigen, die im Erstaunen ein bleibendes Zuhause finden wollen. Insofern ist die Phänomenologie vielleicht näher am Ursprung der Philosophie als andere Denkformen. Dass sie auf Zeitgenossen mit »gesundem Menschenverstand« nicht minder lebensfern wirkt, obschon sie doch deren Lebensvollzug nachzuvollziehen versucht, kann man als ihre Tragik sehen. Für den einfachen Hausgebrauch erscheint es jedenfalls aberwitzig, hinter den Spiegel zu schauen, es sei denn man ist gerade dabei, ihn an einen Haken zu hängen. Noch seltsamer aber mag das anmuten, was die Phänomenologie mit ihm treibt. In ihrem Bemühen, bei der Sache zu bleiben, hält sie sich nicht nur vor dem Spiegel auf, um das Bild, das sich darbietet, zu betrachten und zu beschreiben. Sie versucht darüber hinaus, sich in der Sache einzufinden. Um im wahrsten Sinn des Wortes »im Bild zu bleiben«: Sie schaut nicht hinter den Spiegel, sondern versucht, in das Spiegelbild einzutauchen. 42 Diese Aussage ist natürlich sehr vereinfachend und reizt zum Widerspruch. Aber bei allen psychologischen Bedenken – sie scheint mir auf der ontologischen Ebene gerechtfertigt. Die Relationen zwischen Phänomen und Forscher sind nämlich vorher und nachher grundverschieden. Während im Erstaunen das Phänomen den Forscher in seinem Bann hält, befindet es sich nach getaner Arbeit in dessen Zugriff. 41 Von da ausgehend ließe sich eine kritische Revision von Platons Höhlengleichnis entwickeln, das am Anfang der Metaphysik steht. 42 Assoziationen an Lewis Carrolls »Alice in Wonderland« (»Through the lookingglass«) sind durchaus angebracht, insofern auch für Phänomenologen die Welt beredt 40
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Wie ist das zu verstehen? Das Staunen führt in der Phänomenologie ja nicht zu einem starren Blick, der vom Geschehen gefesselt ist, sondern zum Bemühen, darin zu verweilen, also echten Einblick in den Sachzusammenhang zu bekommen, um das Phänomen nachvollziehen zu können. Dazu ist es aber nötig, die Rolle desjenigen einzunehmen, der in den Spiegel blickt – und zwar in all der Unreflektiertheit, die diesem Menschen, der da gerade reflektiert wird, zu eigen ist. Damit ist sowohl die Intention wie die Problematik des phänomenologischen Unterfangens veranschaulicht. Wenn ich in den Spiegel blicke, 43 dann sehe ich in der Regel mich und meine Umgebung. Ich kann dabei die Perspektive wechseln, und es gibt Positionen, von denen aus ich mich nicht darauf erblicke, aber dann nehme ich die Wirklichkeit nur von der Seite aus wahr. Soll der Spiegel möglichst viel sehen lassen, dann komme ich nicht umhin, mich so zu positionieren, dass auch ich mich darin spiegele. 44 Beobachte ich nun all das, was sich darin zeigt, etwa wenn ich mir die Haare kämme, und fällt dabei der Blick auf mich selbst, dann nehme ich mich in einem eigenartig unbestimmten Zustand wahr. Ich sehe mich als einen, der sich die Haare kämmt, zugleich aber als einen, der sich dabei beobachtet, wie er sich die Haare kämmt. 45 Wer zu einer angemessenen Beschreibung kommen will, der muss sich in die Erfahrung hineinversetzen, aber er darf sich nicht wird. Zwar ist es nicht selten so, dass ein Phänomen gewissermaßen erst zum Sprechen gebracht werden muss, damit es sich in seiner Fülle zeigt, aber auch dann hat es mich zuvor schon in Anspruch genommen und meine Aufmerksamkeit erheischt. Phänomene geben sich, sie bieten sich dar, ja sie gehen mich an. Und auch der Gefahr, sich dabei – anstatt den Blick in die Lebenswelt zu vertiefen – in eine Parallelwelt zu verstricken und aus dem Spiegelspiel nicht mehr herauszufinden, sind schon so manche Phänomenologen erlegen. 43 Man beachte die sprachliche Feinheit: Man blickt nicht auf, sondern in den Spiegel. 44 Ich konzentriere mich hier auf die Beschreibung eines Spiegels, wie er uns aus unseren Wohnungen vertraut ist. Anders stellt sich die Lage etwa bei Spiegeln im Straßenverkehr dar. Sie erfüllen gerade dann ihren Zweck, wenn darin nicht ich, sondern meinem Blick nur schwer zugängliche Stellen zu sehen sind. 45 Die Sache, das ist in meinem Beispiel also nicht das Spiegelding, sondern das Spiegelgeschehen, ebenso wie in »Sein und Zeit« nicht der Hammer, sondern die »Bewandtnisganzheit«, der »Zeugzusammenhang«, in welcher dieser »zuhanden« ist, dasjenige ist, worin Heidegger insächlich wird. Mit anderen Worten ist die (Lebens-) Welt der genuine Sachverhalt, mit dem sich die Phänomenologie beschäftigt – die jeweilige und geschichtlich kontingente Lebenswelt allerdings: »Das ›Sein und Zeit‹ für den Barockmenschen ist noch nicht geschrieben […].« (Rombach, Heinrich, »Das Tao der Phänomenologie«, in: Philosophisches Jahrbuch 98/1991, S. 1–17, hier S. 4).
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vollständig darin verlieren. Er muss immer wieder aussetzen, damit die Sache ins Wort finden kann. Ansonsten ist er zwar erfahrungsgesättigt, aber sprachlos. Das setzt die Fähigkeit zur Distanz voraus und ehrliche Korrekturbereitschaft, die zuvorderst darin zum Ausdruck kommt, dass die persönliche Erfahrungswelt geöffnet und mit anderen ins Gespräch gebracht wird, dass man den eigenen Gedanken keinen absoluten Vorrang einräumt – ohne sich andererseits skrupulös hinsichtlich der eigenen Erfahrungen irremachen zu lassen. In diese Pendelbewegung zwischen Nähe und Distanz muss sich taktvoll einfinden lernen, wer das Wagnis auf sich nimmt, sich einer vortheoretischen Erlebnissphäre auf theoretischem Wege zu nähern und jene dabei so weit als möglich zu bewahren. 46
V.
Herausforderungen für die Phänomenologie
Im Blick auf das Spiegelbild sollte wenigstens so viel deutlich geworden sein: Insächlich zu werden ist ein Ideal, dessen konkrete Realisierung mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. Einige dieser Herausforderungen möchte ich im Folgenden noch skizzieren, ohne ausführlicher darauf eingehen zu können. Die erste habe ich bereits exemplifiziert, indem ich von der Realisierung eines Ideals geschrieben und damit genuin metaphysische Begriffe verwendet habe. Wer auf etwas verzichten will, muss mit Versuchungen leben und sollte sich ihrer bewusst sein. Am anfälligsten ist man als Phänomenologe wohl für die subjektontologische Versuchung der Metaphysik im Anschluss an Descartes. Dieser Versuchung lässt sich entgegenwirken, indem man den Sachzusammenhang aus Subjekt und Objekt als Sachzusammenhang, also vom Relationalen her versteht; nämlich so, dass die relationale Struktur, das Strukturgeschehen, die Relata konstituiert. Pointiert gesagt: Es ist die Erfahrung, welche den Erfahrenden und das Erfahrene zu dem macht, was sie sind. Anregungen für eine solche Strukturphänomenologie finden sich bei Heinrich Rombach (1923–2004). 47 Wege werden begangen. Neben dem Sehen ist das Gehen ein weiteres wichtiges Schlüsselwort für das phänomenologische Tun. Stärker als jenes betont es dessen prozessualen Charakter, den ich im nächsten Kapitel hervorheben möchte. 47 Vgl. Rombach, Heinrich, Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins, Freiburg, München 1980; einführend dazu im Vergleich mit Husserl und Heidegger: Schmaus, Philosophie des Flow-Erlebens, S. 131–156. – Auch das, was Heidegger in 46
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Eine weitere Versuchung lauert dort, wo sich die Phänomenologie in den wichtigen Austausch mit einzelnen Wissenschaften begibt. Fruchtbar erscheint mir das Gespräch vor allem dann, wenn die Unterschiede selbstbewusst vertreten werden. Anbiederungsversuche hingegen dienen keinem der Gesprächspartner. Besonders suggestiv scheinen gegenwärtig Brückenschläge zur empirischen Sozialforschung zu sein – nicht zuletzt aufgrund der Verwandtschaft der Phänomenologie mit der teilnehmenden Beobachtung. 48 Hier gilt es zu beachten, dass phänomenologisch erschlossene Data (Gegebenheiten) ebenso wenig mit empirisch erhobenen Daten (Feststellungen) identisch sind wie die Faktizität der menschlichen Lebenswelt mit den Fakten, die von Probanden gesammelt und ausgewertet werden. Beide Disziplinen können viel voneinander lernen, beruhen aber auf grundverschiedenen Methoden, von denen die eine der Insächlichkeit, die andere aber der Ursächlichkeit verpflichtet ist. Wer diesen Unterschied aufhebt, gibt das Proprium der Phänomenologie auf und stößt bei der anderen Seite auf den Vorbehalt, die strengen Kriterien der Einzelwissenschaften zu nivellieren – ein Beispiel dafür ist das Bemühen, den Empirie-Begriff so umzudeuten, dass er (wieder) anschlussfähig wird für phänomenologisches Arbeiten. Womöglich sind solche (scheinbaren) Kniefälle vor der empirischen Forschung aber auch auf den Rechtfertigungsdruck zurückzuführen, dem man gegenwärtig als Forscher ausgesetzt ist, der eine Methode verwendet, die sich gängigen Standards entzieht. Dagegen möchte ich für eine Haltung plädieren, die sich dem Wissenschaftsparadigma der objektiven bzw. intersubjektiven Vergleich- und Überprüfbarkeit nicht unterwirft. Das könnte die Phänomenologie gar nicht, ohne sich selbst aufzugeben. 49 Schließlich nähert sie sich ihrem jeweiligen »Objekt« nicht von außen, sondern
seinem Ding-Aufsatz zum strukturalen »Spiegel-Spiel der weltenden Welt« ausführt, lohnt eine tiefergehende Untersuchung. Vgl. Heidegger, Martin, »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, S. 165–187, hier S. 182. 48 Beachte dazu die profunde Diskussion in Jürgen Raab u. a. (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden 2008. 49 Man kann die Phänomenologie freilich dennoch als Wissenschaft bezeichnen. Wenn man dies tut und damit nicht Heideggers engem Wissenschaftsbegriff folgt, muss man aber deutlich machen können, in welchem Sinne die Phänomenologie wissenschaftlich ist und worin sie sich von anderen Wissenschaften unterscheidet.
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durch Nachvollzug von dessen inneren Verweisungsbezügen. 50 Kritik an ihren Einsichten kann sie daher nur von denjenigen »Subjekten« akzeptieren, die sich auch auf diese Bewegung einlassen. Wenn man den Objektbegriff verwenden will, dann könnte man hier von intraobjektiver Überprüfbarkeit sprechen, besser aber von innerphänomenaler Nachvollziehbarkeit bzw. – im obigen Sinne – von Sachgemäßheit. Letztlich ist damit nichts anderes gemeint als Evidenz. Damit beschreiten wir ein weiteres Problemfeld. »Evidenz«, dieser von Anfang an zentrale Begriff der Phänomenologie, ist nach wie vor unterbestimmt. Andererseits wird er zunehmend im heutigen Wissenschaftsbetrieb verwendet, aber in konterkarierender Weise, wenn etwa von »evidenzbasierten Verfahren« die Rede ist – gemeint sind empirisch gesicherte Verfahren – oder nach Darstellungen gesucht wird, die für möglichst viele evident sein sollen. 51 Zur Schärfung des phänomenologischen Profils möchte ich eine provokante These ins Spiel bringen, die an ein Diktum anknüpft, das Husserl zugeschrieben wird: »Wer mehr sieht, hat recht«. 52 Dieser Satz bringt die Rechtfertigungsweise der Phänomenologie auf den Punkt. Wer mehr sieht, hat recht; aber nur dann – muss man wohl hinzufügen –, wenn auch andere dieses Mehr zu schauen imstande sind. Dies nicht nur deshalb, weil man auch zu viel sehen kann, sondern vor allem deswegen, weil die Phänomenologie als Arbeitsphilosophie nicht ohne ein gewisses Maß an Konsens auskommt. 53 Der philosophie- und begriffsgeschichtlich einschlägig geprägte »Konsens« steht »Innen« und »Außen« dürfen nicht räumlich und ebenso wenig dichotom verstanden werden wie »Subjekt« und »Objekt«. Vgl. Heideggers Erörterung des In-Seins als solchem (Sein und Zeit, S. 52–59 u. a.). 51 In der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften ist auch von »empirischer Evidenz« die Rede. Wie der vor allem in der Medizin verwendete Begriff »evidenzbasiert« handelt es sich dabei eigentlich um eine falsche Lehnübersetzung des englischen »evidence«, das »Beweis, Nachweis« bedeutet und damit gerade nicht Unmittelbarkeit impliziert, wie das beim deutschen Begriff »Evidenz« der Fall ist. 52 Vgl. Rentsch, Thomas, Philosophie des 20. Jahrhunderts. Von Husserl bis Derrida, München 2014, S. 33. 53 Dass die Phänomenologie nicht von einem Denker allein, sondern »nur in der Arbeitsgemeinschaft der Philosophen« (Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (= Hua; Bd. VI), Walter Biemel (Hg.), 2. Auflage, Den Haag 1962, S. 439) geleistet werden kann, ist ein Umstand, der immer noch zu wenig verinnerlicht ist. Phänomenologie ist Arbeits- und Prozessphilosophie und als solche wesentlich auf dem Weg, d. h. überholbar, korrekturbedürftig und auf Weggefährten angewiesen. 50
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hier allerdings nicht für Übereinstimmung oder für die Einigung auf bestimmte Aussagen, sondern ist von seiner wörtlichen Bedeutung her als gemeinsames Vernehmen, als Zusammenfühlen (lat.: consentire) zu verstehen. 54 Eine gelungene phänomenologische Beschreibung versetzt alle offenen, d. h. zugänglichen Leser in die Lage, den Phänomenbezügen nachzuspüren. Der Konsens ist phänomenologisch nur als Konsequenz von Evidenz zu haben. Er hat keine konstituierende Funktion, aber als Evidenzerweis spielt er faktisch eine entscheidende Rolle in der Arbeitsgemeinschaft, wobei nur diejenigen, die in das Phänomen hineinfinden, in diesem Sinne konsensfähig sind bzw. konsensbefähigt werden. 55 Eine weitere Wahrheitstheorie, deren phänomenologische Implikationen zu erörtern wären, ist die Kohärenztheorie, insofern Stimmigkeit ein wichtiges Kriterium für das gelungene Erfassen von Sachzusammenhängen ist. 56 Womöglich ist die Art und Weise, auf die ich eben das Wahrheitsverständnis der Phänomenologie erörtert habe, nicht mehr sachgemäß, sondern dekonstruktiv. Wie dem auch sei – den Vorwurf, selbst noch auf metaphysischen Spuren zu wandeln, bekommen Phänomenologen am deutlichsten von Seiten der Dekonstruktion zu hören. Und zwar nicht bloß als Hinweis auf einzelne Abirrungen, sondern in Bezug auf den grundsätzlichen Anspruch, einen in sich stimmigen Sachzusammenhang ohne sekundäre Deutungsmuster ursprünglich nachvollziehen zu können. Diesen und ähnlichen Anfragen gilt es sich auszusetzen, nicht zuletzt deswegen, weil sie dazu auffordern, genauer zu erwägen, wie es um die geschichtliche und
Dies meint jedoch nicht, dass der Konsens eine bloße Angelegenheit des Gefühls wäre. Die ursprüngliche Bedeutung ist vielmehr vor der Unterscheidung von Rationalität und Emotionalität anzusetzen. Für eine Vertiefung in das Phänomen »Konsens« empfiehlt sich: Penner, Peter, Das Einvernehmen. Eine phänomenologische Konsenstheorie, Frankfurt a. M., London 2006. 55 Die Tauglichkeit der Beteiligten erweist sich durch ihr Einfindungsvermögen und ihre Sehfähigkeit, die eingeübt werden müssen – und können. Daher ist auch niemand prinzipiell aus der Arbeitsgemeinschaft der Phänomenologen ausgeschlossen, der dafür aufgeschlossen ist, (immer wieder) das Sehen (neu) zu lernen. 56 Die nackte, aktuelle Evidenz allein reicht nicht aus, um die Stimmigkeit einer phänomenologischen Analyse zu gewährleisten. Was auf den ersten Blick einleuchtet, kann in anderer Hinsicht und im größeren Kontext fraglich werden. Und auch der umgekehrte Weg ist möglich. Nicht immer überzeugt eine phänomenologische Beschreibung in isolierter Form. Dennoch hat sie ihr gutes Recht, wenn sie im Kontext plausibel wird. 54
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kulturelle Prägung der Phänomene steht – und der Sprache, mit der wir sie beschreiben. Womöglich ist der Sachzusammenhang etwas, worin – analog zur Bloch’schen Heimat – noch nie ein Phänomenologe zur Gänze war, ohne dass deswegen Grund zur Hoffnungslosigkeit bestünde. 57 Die vollständige Beschreibung des jeweiligen Phänomens ist nicht nur utopisch. Nicht selten führt auch der Versuch, ihr möglichst nahe zu kommen, eher von der Sache weg als zu ihr hin. Denn mitunter trifft eine schlichte Bemerkung das Phänomen besser als eine umständliche Beschreibung, die alle Umstände berücksichtigen und integrieren will. Zur Phänomenologie der Zukunft gehört der Mut zum Fragmentarischen wohl ebenso wie die Zuversicht, dass auch im Fragment das Ganze zum Vorschein kommen kann.
57 Vgl. Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen, Frankfurt a. M. 1959, S. 1628.
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An der Grenze der platonischen Metaphysik Heidegger liest Platon Guang Yang
I. Das Platonbild Heideggers ist eine janusköpfige Figur, die den Übergang vom ursprünglichen vormetaphysischen Denken der Vorsokratiker zu Aristoteles und der nachfolgenden Metaphysik darstellt. Zwar findet der erste Verfall des ursprünglichen Denkens in die Metaphysik nach Heideggers Einschätzung zweifelsohne bei Platon statt; doch lässt sich bei genauerer Betrachtung der Platon-Deutung Heideggers eine gewisse Ambivalenz herauslesen, die die Tragweite von Platons Denken am Anfang der abendländischen Metaphysik umso prominenter durchscheinen lässt. Im Licht der phänomenologischen und ontologischen Lektüre Heideggers kann man die Grenze und den Anfang der Metaphysik bei Platon differenzierter betrachten und entsprechend eine solche Grenzerfahrung der Metaphysik neu zur Geltung bringen. Von entscheidender Bedeutung in diesem Zusammenhang ist Heideggers eigentümliche Interpretation der Ideenlehre und der Idee des Guten (ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ) Platons, die sich vor dem Hintergrund der heideggerschen Seinsfrage verständlich machen lässt. Die anhand der Aristoteles-Auseinandersetzung erarbeitete Seinsfrage ist bekanntlich nicht darauf abgestellt, ein Seiendes als die oberste Gattung oder als den festen Grund für alles andere Seiende anzusetzen oder es begrifflich zu definieren. Vielmehr gilt es, die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen, welcher sich, laut frühem Heidegger, in der Zeitlichkeit des Daseins bekundet und erschließt. Dementsprechend bildet die Zeit den »Horizont alles Seinsverständnisses und jeder Seinsauslegung« 1 für die Frage nach dem Sein, wie es in Sein und Zeit 1 Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, GA Bd. 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 24. Vgl. auch Heidegger, Martin, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA Bd. 24, Frankfurt a. M. 1975, S. 405 f.
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heißt. Das Verstehen des Seins eines Seienden bewegt sich schon in diesem Horizont der Zeit, der die Erfahrung des einzelnen Seienden übersteigt und mithin transzendental gedacht wird. Das heißt, der ungegenständliche, zeitliche Horizont ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass das Sein in dessen »Licht« 2 verstanden wird und obendrein ein Gegenstand als ein bestimmtes Seiendes erkannt und enthüllt wird. Die horizontale Erhellung des Sinns von Sein und das unbegriffliche Seinsverständnis in dieser vorgängigen Helle transzendieren den gegenständlichen Sinn der wirklich seienden Dinge. Aber der Sinn von Sein sollte nicht ontisch und dinglich als ein höchstes Seiendes verstanden werden, wie dies laut Heidegger in der seinsvergessenden Metaphysik der Fall ist, die der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem nicht Rechnung trägt und das Sein wie ein Seiendes behandelt. In Heideggers ausführlichen Auseinandersetzungen mit Platons Politeia nach Sein und Zeit werden die platonische Idee des Guten, die »über das Sein an Würde und Kraft hinausragt«, 3 und das Höhlengleichnis im Hinblick auf das Wahrheitsverständnis bei Platon thematisiert und erläutert. Im Laufe der »Kehre« in den 1930er Jahren wird die Gedankenfigur der Transzendenz in gewisser Hinsicht übersprungen, 4 und entsprechend wird Heideggers Platon-Lektüre auch zunehmend kritischer. Einerseits sieht er, vor allem vor der »Kehre«, in der platonischen Ideenlehre eine gewisse Nähe zu seiner eigenen Seinsfrage, andererseits aber konstatiert er bei Platon das erste »Ausweichen« 5 vor der ursprünglichen griechischen Erfahrung der ἀλήθεια im Sinne der Un-verborHeidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 400. Inwiefern der zeitliche Horizont als Sinn des Seins zu verstehen ist, wird im Laufe der Vorlesung näher erläutert. Vgl. ebd., S. 435 f. 3 Platon, Politeia, 509b. ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος. Platons Dialoge werden zitiert nach: Platonis Opera, John Burnet (Hg.), Oxford 1900–1907. Die Übersetzung stammt weitgehend von Friedrich Schleiermacher in: Platon. Werke, Bd. 4, Der Staat, Darmstadt 1990. 4 Heidegger, Martin, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA Bd. 65, Frankfurt a. M. 1994, S. 250 f. 5 Heidegger, Martin, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, GA Bd. 34, Frankfurt a. M. 1988, S. 58. Es ist bemerkenswert, dass im Höhlengleichnis und Sonnengleichnis der Politeia die Frage nach dem Wahrheitsbegriff nicht – zumindest nicht auf der thematischen Ebene – die zentrale Stellung einnimmt, wie Heidegger sie hervorkehrt. Dies beeinträchtigt aber nicht die Tragweite und Kraft von Heideggers Interpretation. Außerdem weiß Heidegger selber auch um die »Gewaltsamkeit« seines eigenartigen Zugangs zum Problem der Unverborgenheit. Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 87–88. 2
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genheit. Heideggers Kritik an Platon bezieht sich in diesem Kontext nicht primär – wie es in der Platonkritik gängig ist – auf die Ideenwelt als himmlischen Ort oder die metaphysische Unterscheidung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, sondern sie betrifft hauptsächlich die immanente, offene Spannung bezüglich der Auffassung des Wahrheitsbegriffs in Platons Text. 6 Diese innere Spannung des platonischen Wahrheitsbegriffs wird vor allem im Zuge der eingehenden und differenzierten Lektüre Heideggers in der Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32 herausgestellt. 7 Wenn auch Heideggers etymologisch angelegte Deutung der ἀλήθεια als Un-verborgenheit nicht unumstritten ist, 8 so bietet sein Deutungsansatz doch eine Möglichkeit, einen der Kernpunkte der platonischen Philosophie aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Im Folgenden wird versucht, seine destruktive und herausfordernde Lektüre auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen und zu problematisieren.
II. Es ist kein Zufall, dass Platon – gerade wenn es um das Entscheidende seiner Philosophie, nämlich um die Idee des Guten und den Aufstieg aus der Höhle, geht – den Sokrates in Sinnbildern reden lässt. Denn der ausweisende, argumentative Logos stößt dabei an seine eigene Vgl. dazu Heidegger, Martin, Sein und Wahrheit, GA Bd. 36/37, Frankfurt a. M. 2001, S. 127, wo Heidegger in dieser Vorlesung aus dem Wintersemester 1933/34 einen »Kampf« zwischen zwei Auffassungen der Wahrheit in der platonischen Philosophie feststellt. Dass Platon sowohl Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden wie auch als Richtigkeit des Aussagens kennt, wird ausführlich erörtert in: Heidegger, Martin, »Platons Lehre von der Wahrheit«, in: Wegmarken, GA Bd. 9, Frankfurt a. M. 1996, S. 230 f. 7 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Gonzalez weist darauf hin, dass Heideggers Analyse in dieser Vorlesung im Vergleich zu der Platonkritik in dem späteren Text »Platons Lehre der Wahrheit« differenzierter und reicher ist, und dass Wahrheit im Höhlengleichnis sowohl Unverborgenheit als auch Korrektheit bedeutet. Vgl. Gonzalez, Francisco J., »Plato’s Question of Truth (Versus Heidegger’s Doctrines)«, in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy, Vol. XXIII, 2007, S. 83–111, hier S. 83–87. 8 Zur kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Interpretation der ἀλήθεια als Unverborgenheit vgl. unter anderem Friedländer, Paul, Platon. Band I, Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit, Berlin 1954, 233–242; Szaif, Jan, Platons Begriff der Wahrheit, Freiburg, München 1998, S. 145–148; Hyland, Drew A., Die Frage des Platonismus. Heidegger, Derrida, Irigaray, Cavarero, Gadamer, Wien 2004, S. 67–83. 6
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Grenze. 9 Heideggers Auslegung geht davon aus, dass es Platon beim Höhlengleichnis unter anderem um die ἀλήθεια im Sinne der Unverborgenheit geht. Dies zeigt sich zunächst daran, dass selbst in der Höhle »irgendwie Unverborgenheit da ist«. 10 Die Gefangenschaft in der Schattenwelt hat bereits einen innerlichen, wesentlichen Bezug zur Unverborgenheit. Allein, der Höhlenbewohner kann die Schatten nicht als Schatten von Dingen im Schein des Feuers hinter ihm durchschauen und sie von der wahren Wirklichkeit unterscheiden. 11 Ohne das Wissen um die Ideen außerhalb der Höhle als Möglichkeitshorizont für Erkenntnis, bleibt er im Seienden als dem vermeintlich Wirklichen verfangen, und demnach ist der Blick in das Sein des Seienden ihm verwehrt. Hierbei interpretiert Heidegger die platonischen Ideen als wahrhafte »Gegenwart« und »Anwesenheit«, 12 die auch den Sinn von Sein für die Griechen im Allgemeinen ausmachen sollen. Aus diesem Grund heißen die Ideen das eigentlich und »seiendlich« Seiende (τὸ ὄντως ὄν). 13 Aber anders als metaphysisch konzipierte Entitäten der Ideenwelt, die hinter den Erscheinungen stecken und sich nicht zeigen, sind die Ideen für Heidegger als »das Unverborgenste« 14 zu fassen. An der Hervorhebung des Wahrheitsmotivs bei Platon lässt sich zudem Heideggers phänomenologisches Anliegen ablesen, das unter anderem darauf zielt, die statisch anmutende Gegenwärtigkeit der platonischen Ideen zu phänomenalisieren – sowohl das als feste Grenze der Dinge verstandene εἶδος als auch die durch die ἰδέα zum Ausdruck gebrachte Einheitlichkeit der verschiedenen Gesichtspunkte auf die Dinge sind auf die Entbergung des Erscheinenden als Wahrheit im ursprünglichen Sinne hin bedacht. 15 Insofern kann man bei dieser Auslegung der Ideen als des seiendsten Seienden und des Unverborgensten von einer harmonischen Verschränkung der ontologischen mit der phänomenologischen Fragestellung sprechen. Das Seiende wird dabei zum Unverborgenen, das sich in der Unverborgenheit der Ideen Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 402. Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 28. 11 Vgl. ebd., S. 25–27. 12 Vgl. ebd., S. 51. 13 Ebd., S. 67. 14 Ebd., S. 66 und 99. 15 An dem scheinenden Charakter der ἰδέα und des εἶδος hält Heidegger auch in dem späteren Text zu Platon fest. Vgl. Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, S. 225. 9
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zeigt und somit uns zugänglich und offenbar wird, nämlich in seinem Was-sein. So gesehen steht selbst der Gefesselte in der Höhle in der begrenzten Offenheit des Unverborgenen, 16 was zwar nicht unbedingt dem Sinn des platonischen Höhlengleichnisses entspricht, es aber auf eine neue Weise zur Geltung kommen lässt. Das eigentlich Unverborgene erfährt der Höhlenbewohner erst nach dem Aufstieg ans Tageslicht und dem Blick zur Sonne. In Bezug auf das Seinsverständnis bei Heidegger bedeutet dies dann, dass man erst mit dem »Helle gebenden, erhellten Horizont« 17 des Seinsverständnisses vertraut werden muss. Dieses Vertraut-Werden, platonisch verstanden als Erblicken der Ideen, wird in der Platon-Vorlesung Anfang der 1930er Jahre zunächst von Heidegger als das »Verstehen des Seins« des Seienden interpretiert. 18 Die Ideenlehre Platons wird im Zusammenhang mit der heideggerschen ontologischen Differenz ausgelegt, die unmittelbar nach Sein und Zeit auch mit der »Transzendenz des Daseins« 19 zusammengedacht ist. Außerdem deutet Heidegger das Seinsverständnis auf das Ereignis – den zentralen Gedanken im Zusammenhang der »Kehre« – hin als ein Wahrheitsgeschehnis, das »größer« als der Mensch sei. 20 Aber letztendlich lässt es sich doch an den »vorgreifenden Entwurf« 21 des Daseins zurückbinden, was dem transzendental-horizontalen Denken in dieser Phase seines Denkens besser entspricht als dem Gedanken des Ereignisses nach der »Kehre«. Ob die platonischen Ideen an sich, als vom Entwurf des Daseins im heideggerschen Sinne vorgebildet, angemessen beschrieben worden sind, ist mehr als fraglich. In der Bildsprache Platons ist das Verstehen des Seins durch die Helle des Lichts versinnbildlicht, welches Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 25. Vgl. auch Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, S. 224. Ob Platon selbst bei dieser niedrigsten Stufe in der Höhle schon ein gewisses Vorzeichen der Wahrheit sieht, ist sehr fraglich. Vgl. dazu Barnes, Jonathan, »Heidegger Spéléologue« in: Revue de Métaphysique et de Morale, 95 (2), 1990, S. 173–195, hier S. 176–178. 17 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 402. 18 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 52. 19 Heidegger, Martin, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA Bd. 26, Frankfurt a. M. 1978, S. 237. 20 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 75. Heidegger nennt hier das Geschehen der Unverborgenheit »Entbergsamkeit«. Das Geschehnis an dieser Stelle hat jedoch noch nicht die volle Bedeutung von Ereignis in den Beiträgen zur Philosophie. 21 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 64. Über den Übergang von dem transzendental gedachten Entwurf des Daseins zur Wahrheit als Ereignis nach der Kehre vgl. Nielsen, Cathrin, Die entzogene Mitte, Würzburg 2003, S. 42–45. 16
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aber als ein »Drittes« (τρίτον) dem Gesicht und dem Sichtbaren vorausliegt und sie in ihrer Zusammengehörigkeit und Differenz zusammenhält und ermöglicht. 22 Analog zum Licht macht die Idee das Sein des Seienden aus, in dessen Offenheit und Horizont das Denkbare (νοητόν) in seinem Was-sein durch das denkende Vernehmen (νοεῖσθαι) erkannt werden kann. 23 Nach diesem Sinnbild ist aber die Rolle des Menschenwesens – sei es die Sehkraft der Augen, sei es die Denkfähigkeit der Seele – im Verhältnis zum Stellenwert des Lichts und der Ideen eher zweitrangig. Andererseits ist Heideggers Deutung der Ideen nicht dem Rückgriff auf die transzendentale Leistung des Daseinsentwurfs verhaftet geblieben. Er versucht auch, das Phänomen des Lichtes konkret zu beschreiben: Das Licht ist nicht mit der Lichtquelle, der Sonne, zu verwechseln und es ermöglicht die Sichtbarkeit des Erscheinenden. 24 Die Helle des Lichts selbst liegt dem Sichtbaren voraus und ist entsprechend kein Phänomen unter anderen, sondern »das Unfassliche, fast wie das Nichts und das Leere«. 25 Dennoch versucht Heidegger phänomenologisch das Wesen von Licht und Helle so zu beschreiben: Die Helle hat den Charakter des Durchdringens und »das Lichte ist das Durchsichtige, d. h. ausbreitsam, öffnend, durchlassend«. 26 Analog dazu sind auch die platonischen Ideen das Durchlassende und die Bedingung der Möglichkeit für das Sein des Seienden als Seienden. 27 Das Licht und die platonische Idee werden damit von Heidegger als 22 Platon, Politeia, 507d. Vgl. dazu Hirsch, Walter, »Platon und das Problem der Wahrheit« in: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1970, S. 207–235, insbes. S. 212–213. 23 Platon, Politeia, 509d. Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 57, 70 und 106. Man kann auch das Gute – wie das Licht vor dem Gesicht und Sichtbaren – als das Vorgängige gegenüber dem Denken und Denkbaren fassen, und die Idee wäre das Denkbare und Erkennbare. Bekanntlich findet noch eine Steigerung der Transzendenz im Zusammenhang des Sonnengleichnisses statt, indem Sokrates nach der Ursache (αἴτιος) des Lichts, nämlich der Sonne, fragt, der gemäß dem Gleichnis die Idee des Guten entspricht. Vgl. Platon, Politeia, 508a-e; Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 103 f. und Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, S. 227 f. 24 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 53–54; Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, S. 225. 25 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 53. Vgl. Heidegger, Martin, »Das Ding«, in: Vorträge und Aufsätze, GA Bd. 7, Frankfurt a. M. 2000, S. 171, wo die Leere des Kruges ebenfalls als das »Unfassliche« bezeichnet wird. Dort geht es aber eher um die Leere des Raums als um die Unfassbarkeit des Lichts. 26 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 34 und 55. 27 Ebd., S. 57.
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der phänomenologische Horizont der Erfahrung des Sehens bzw. die ontologische Bedingung des Seienden betrachtet. In diesem Kontext deutet Heidegger den etymologischen Zusammenhang des Lichts mit der Waldlichtung an: »Lichten heißt also freigeben, freimachen. Das Licht lichtet, macht frei, gibt den Durchlaß.« 28 Es kommt Heidegger dabei auf das Moment des durchlassenden, freigebenden Öffnens an, welches sowohl dem Phänomen des Lichts als auch dem der Lichtung zukommt. Insofern kann Heidegger davon sprechen, dass auch das Dunkel als »ein Grenzfall vom Hellen« doch »selber eine Weise des Durchlassens ist«. 29 Mit dieser eigenartigen Interpretation des Lichts als Durchlassendes und Eröffnendes deutet sich bereits die Frage nach der Offenheit und Unverborgenheit des Seins als solche an, auf die später noch ausführlicher eingegangen wird. Ein anderes Motiv der heideggerschen Interpretation des Höhlengleichnisses ist das Phänomen der Freiheit, das sich in der Befreiung von den Fesseln in der Höhle und dem Aufstieg in das Licht der Ideen als Bildungsprozess für die Philosophen zeigt. 30 Außerhalb der Höhle kann sich der Befreite zu dem »freigebenden« Licht verhalten; und genau in diesem Verhalten-Können besteht die menschliche Freiheit, und zwar im Sinne des Freiseins für das Lichtende und Freimachende. 31 Es besteht eine eigentümliche Spannung in dieser Freiheitskonzeption zwischen der Befreiung und dem Sich-Binden an das Durchlassende – durch solche »Bindung« nimmt man die »Macht« des Seins in Anspruch und wird damit frei. 32 Aufgrund einer solchen »freigebende[n] Freiheit«, die vom Dasein aus betrachtet als »SeinsEbd., S. 59. Ebd., S. 56. 30 Das praktische Moment des Höhlen- und Sonnengleichnisses ist also in der Deutung von Heidegger – trotz ihrer Überspitzung der ontologischen Fragestellung – durchaus mitberücksichtigt. Zur Kritik an Heideggers ontologischer Zugangsweise in diesem Zusammenhang vgl. Rosen, Stanley, The Question of Being. A Reversal of Heidegger, New Haven, London 1993, S. 190 f. 31 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 58. Zum Motiv der Freiheit im Zusammenhang mit der Idee des Guten vgl. Figal, Günter, »Handlungsorientierung und anderes als das. Überlegungen zur Platonischen ›Idee des Guten‹«, in: Rainer Enskat (Hg.), Amicus Plato magis amica veritas. Festschrift zum 65. Geburtstag, Berlin, New York 1998, S. 144–153, insbes. S. 149 f. 32 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 59. Auf die überforcierte Interpretation des Lichts und Seins als Macht, die man mit der Ermächtigung des Seins, von der auch in den so genannten Schwarzen Heften die Rede ist, in Verbindung bringen könnte, kann in der vorliegenden Untersuchung nicht näher eingegangen werden. Vgl. Heidegger, Martin, Überlegungen II-VI. (Schwarze Hefe 1931–1938), GA Bd. 94, Frank28 29
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entwurf« zu fassen ist, 33 wird auch das Seiende in den durch diesen Entwurf eröffneten Möglichkeitshorizont gerückt und als Seiendes gelassen. Es drängen sich jedoch im gegenwärtigen Zusammenhang mehrere Fragen auf: Lässt sich die Freiheit vorzüglich auf die vorbildende Leistung des Daseins zurückführen? Wie versteht man Unverborgenheit als solche, aus welcher die Ideen als Unverborgenes stammen? Ähnelt sie dem Sonnenlicht bei Platon oder ist sie eher als das entbergende Ereignis des Seins zu fassen? Fragen wie diese können nicht ohne die Berücksichtigung der Idee des Guten geklärt werden.
III. Im Laufe der Auseinandersetzung Heideggers mit Platon wird der horizontale Charakter des Verstehens von Sein immer weniger von dem durch die Zeitlichkeit bestimmten Entwurf des Daseins als von der ermöglichenden Kraft des Lichts und der Ideen her erörtert. Während Heidegger weiterhin an den Hauptpunkten seiner PlatonInterpretation in der Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit, etwa den platonischen Ideen im Sinne des eigentlichen Seins und des Unverborgenen und der Idee des Guten als »Ermöglichung von Sein und Unverborgenheit«, 34 festhält, stellt er andererseits aber in »Platons Lehre von der Wahrheit« aus dem Jahr 1940 kritisch fest, dass die ursprüngliche Wesensfülle der ἀλήθεια aufgrund des Vorrangs der ἰδέα bei Platon verloren geht und die Unverborgenheit des Seienden nun der »Richtigkeit des Vernehmens und Aussagens« untergeordnet wird. 35 Die vordergründige ἰδέα wird dabei zum ermöglichenden »Grund« der ἀλήθεια, 36 statt umgekehrt, wie es sich nach Heideggers Auffassung verhält. Daraus folgt, dass die umfassendere, mit Verbergung verschlungene Offenbarkeit des Seienden der am Gesichtssinn orientierten ἰδέα unterjocht wird. Im Zuge einer solchen Reduktion der Unverborgenheit auf die Richtigkeit des Aussagens wird der anfängliche Sinn der Unverborgenheit verdrängt. Dementsprechend furt a. M. 2014, S. 36; Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 111 und Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, S. 211. 33 Ebd., S. 60. 34 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 111. 35 Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, S. 231. 36 Ebd., S. 234. Vgl. auch Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 99. Überwundene Metaphysik?
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verbirgt sich ihrerseits die Unverborgenheit, ebenso wie sich das Sein in der Seinsvergessenheit der Geschichte der Metaphysik in sich zurückzieht. 37 Aufschlussreich ist in diesem Kontext Heideggers Bemerkung zur Idee des Guten aus den späteren Jahren: »ἀγαθόν zwar ἰδέα, aber nicht mehr anwesend, deshalb kaum sichtbar.« 38 Es stellt sich hier die Frage, was für eine Idee das sein soll, die weder anwesend noch sichtbar sei. Dies widerspricht offenbar dem von Heidegger festgestellten Sinn von Sein als Anwesen und Gegenwart – denn Idee heißt ja nach der Terminologie aus der früheren Platon-Vorlesung gerade »Anwesenheit« und das eidetische Sein bei Platon. 39 Bei genauerer Betrachtung des Höhlengleichnisses und des Sonnengleichnisses lässt sich der Umstand, dass die Idee des Guten schwer erfassbar sei, phänomenal bestätigen: Nach dem Aufstieg aus der Höhle, als der vom Schatten Befreite die blendende Sonne als Sinnbild für die Idee des Guten zu erblicken versucht, kann er sie jedoch nur »mit Mühe« sehen. 40 Die Unverborgenheit als solche ist also nie restlos und unmittelbar gegeben. Das zeigt sich in der »Blendung«, 41 die dem ehemaligen Höhlenbewohner beim Anblick der Sonne widerfährt. Auch hier handelt es sich also um eine wesentliche Zusammengehörigkeit von Verbergung und Unverborgenheit, welche das Eigentümliche des heideggerschen Wahrheitsverständnisses im Unterschied zur einseitigen, eindimensionalen Aussagewahrheit als Richtigkeit ausmacht. Das Gute entgeht der eidetischen Vereinnahmung und Reduktion und ist somit keine Idee unter anderen, weil es unsichtbar ist. Kaum noch als εἶδος oder ἰδέα zu bezeichnen, ist das Gute nicht mit schlichter Anwesenheit gleichzusetzen und entspricht deshalb der unversehrten, ursprünglichen heideggerschen Unverborgenheit als solcher eigentlich besser als die Bezeichnung des Guten als eine Idee, die alles an-
Vgl. dazu Sallis, John, Delimitations. Phenomenology and the End of Metaphysics, Bloomington 1995, S. 175–177. 38 Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, S. 227, Fußnote. Vgl. dazu Sallis, John, »Reception«, in: Interrogating the Tradition, Charles E. Scott und John Sallis (Hg.), New York 2000, S. 87–94, hier S. 89. 39 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 51. 40 Vgl. Platon, Politeia, 517b. μόγις ὁρᾶσθαι. 41 Gadamer, Hans-Georg, »Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles«, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, Griechische Philosophie III, Tübingen 1999, S. 128–227, hier S. 169. Gadamer verweist hier zugleich darauf, dass die Blendung bei dem Wiederabstieg ins Dunkel auch vorkommt. 37
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dere überragt. 42 Wenn Platon dennoch von dem Guten sagt – so Heideggers Kritik – dass es eine ἰδέα sei, zwar als »Herrin, indem sie Unverborgenheit (dem Sichzeigenden) gewährt und zugleich Vernehmen (des Unverborgenen)«, 43 steht die platonische Idee damit über der ursprünglichen Wahrheit als Unverborgenheit (ἀλήθεια). Folglich geht die vormetaphysische anfängliche Erfahrung der Wahrheit bei den Griechen verloren. Es kommt hierbei alles darauf an, wie man den Ideencharakter des Guten und dessen Unfassbarkeit versteht. Platon denkt in diesem Zusammenhang das Gute als den Grenzfall des Ideenwissens in einem spezifischen Sinne. Das Grenzhafte der Idee des Guten besteht darin, dass sie als eine vollendete Idee (ἰδέα τελευταία) das Wesen aller Ideen ausmacht. 44 Außerdem durchherrscht das Gute als »Ursache« 45 und Anfang (αἰτία) alles Richtigen und Schönen den Bereich der Ideen. So verstanden hat das Gute den Grenzcharakter in sich: Es ist – im ursprünglichen Sinn des Wortes 46 – die Grenze (πέρας) des Ideenwissens, und diese Grenze als Anfang gibt zu verstehen, was Ideen überhaupt sind, ohne selbst bestimmbar zu sein. In diesem Sinne könnte man die Idee des Guten auch als eine Art Horizont des Verstehens von Sein auffassen, welcher zugleich über das Sein hinausreicht (ἐπέκεινα). 47 Aber der spätere Heidegger nach der »Kehre« gibt sich nicht mehr zufrieden mit dieser transzendentalhorizontalen Denkart. Seine Kritik der Fokussierung auf die ἰδέα und das entsprechende Blicken (ἰδεῖν) bei Platon betrifft vor allem das Horizonthafte der Idee des Guten. Ein derartiger, be-grenzter Horizont lässt sich letztendlich auf das menschliche Sehen zurückführen und ist somit lediglich als ein subjektiver »Gesichtskreis« 48 zu fassen, Auffällig ist es auch, worauf Gadamer hingewiesen hat, dass Platon in diesem Zusammenhang nicht vom εἶδος des Guten spricht, sondern nur den Ausdruck ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ gebraucht. Vgl. dazu ebd., S. 143. 43 Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, S. 230; Platon, Politeia, 517c. 44 Vgl. Platon, Politeia, 517b. Schleiermacher hat das Wort »τελευταία« nicht wörtlich übersetzt. Vgl. dazu Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, S. 228. 45 Platon, Politeia, 517c. Vgl. Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, S. 229. 46 Über den Zusammenhang zwischen Grenze (πέρας) und Anfang, vgl. Heidegger, Martin, »Bauen Wohnen Denken«, in: Vorträge und Aufsätze, GA Bd. 7, S. 157. 47 Vgl. dazu Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 402. 48 Heidegger, Martin, »Ἀγχιβασίη. Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen«, in: Feldweg-Gespräche, Frankfurt a. M. 2007, S. 111. In diesem fiktiven Gespräch geht es unter anderem darum, eine nicht horizontale Offenheit herauszustellen, was auch als eine Art Selbst42
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wie Heidegger es im späteren, so genannten Gelassenheitsgespräch nennt. Schwerer wiegt noch, dass die ἀλήθεια mit dem Verfall zu platonischen Ideen die ursprüngliche »Tiefe und Abgründigkeit« und den privativen Charakter verliert, welcher in dem α-privativum zum Ausdruck kommt. 49 In diesem Zusammenhang wird die Unverborgenheit allein auf die Offenbarkeit des Seienden festgelegt und nicht nach der »Offenheit als solche« 50 im Hinblick auf die ursprüngliche ἀλήθεια und das Sein selbst gefragt. Infolgedessen bricht das anfängliche Wesen der ἀλήθεια im Sinne des Entbergungsgeschehens des Verborgenen in die Unverborgenheit zusammen und sinkt in den metaphysischen Wahrheitsbegriff als Richtigkeit herab. Es erhebt sich die Frage, wie sich die Offenheit der ἀλήθεια und des Seins selbst als solche genauer beschreiben lässt, wenn sie nicht auf die in Orientierung an der Sehmetapher gedachten Ideen und das damit zusammenhängende Licht zu reduzieren ist. Der bereits angedeutete Zusammenhang zwischen Licht und Lichtung ist hierbei hilfreich, um den ermöglichenden und ermächtigenden Charakter der transzendenten Unverborgenheit als solche verständlich zu machen, die aber nicht in der subjektiven Leistung des Sehens und des Entwurfs aufgeht. Die durch das Licht gewährte Offenheit geht dem Sehakt und der Offenbarkeit des Sichtbaren voraus, bleibt aber als solche unscheinbar hinter den sichtbaren Phänomenen zurück. Bei dem späteren Heidegger gewinnt der Gedanke einer solchen vorgängigen Offenheit vor dem Entbergen und Verbergen der Phänomene noch mehr an Bedeutung. Allerdings geht Heidegger dabei über die platonische Lichtmetapher hinaus und beschreibt das Verhältnis zwischen Licht und Lichtung folgendermaßen: »Aber niemals schafft das Licht erst die Lichtung, sondern jenes, das Licht, setzt diese, die Lichtung, voraus.« 51 Nun wird das »unfassliche« Licht nicht mehr als Bild für den ermöglichenden Grund des Seienden genommen, es gehört zusammen mit dem Dunkel in die Lichtung als die unhintergehbare, kritik an seinem eigenen transzendentalen Programm in und kurz nach Sein zu Zeit zu fassen ist. 49 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), S. 332. 50 Ebd., S. 333. 51 Heidegger, Martin, »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: Zur Sache des Denkens, GA Bd. 14, Frankfurt a. M. 2007, S. 81. In diesem späteren Text nimmt Heidegger die Behauptung von einem »Wesenswandel der Wahrheit« bei den Griechen einigermaßen zurück, ohne jedoch den Gedanken der Lichtung der Unverborgenheit aufzugeben. Vgl. ebd., S. 87. Siehe dazu Sallis, Delimitations, S. 178 f.
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unverfügbare und ganzheitliche Offenheit. 52 Solche Offenheit ist weder vom menschlichen Dasein entworfen noch wird sie metaphysisch als ein hypostasierter und jenseitiger Ort vorausgesetzt. Die Lichtung liegt nicht wie ein transzendentaler Grund allen Phänomenen voraus, auf welchen sie zurückzuführen sind. Deren »Transzendenz« besteht vielmehr darin, dass sie als das ereignishafte Sich-Lichten – wie die Offenheit einer freien und weiten Gegend – dem Seienden Orte des Erscheinens gewährt und es dabei in Empfang nimmt. 53 Heideggers Denkweg – im Zusammenhang mit der Platon-Interpretation und darüber hinaus – hat uns eine Möglichkeit aufgezeigt, wie man in die Nähe einer derartigen Offenheit gelangen kann.
Sogar das Dunkel bedarf der vorgängigen, durchlässigen Lichtung. Vgl. Heidegger, »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, S. 74. In der Platon-Vorlesung Anfang der 30er Jahre heißt es jedoch, dass das Dunkel »selber eine Weise des Durchlassens ist«. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 56. 53 Heidegger, Martin, Heraklit, GA Bd. 55, Frankfurt a. M. 1979, S. 337–339. 52
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Phänomenologie als Rückgang auf das Prä-Reflexive Anna Orlikowski
Die von Husserl diagnostizierte Krise der Wissenschaften 1 ist gleichzeitig eine Krise der abendländischen Metaphysiktradition. Durch die in der Phänomenologie angestrebte Hervorhebung der doxisch-vorgegebenen Lebenswelt als eines vorprädikativen Bodens, der jeder Erkenntnis zugrunde liegt, werden neue Zugangsmodalitäten zum Leben, zur Natur und deren Erkenntnis gesucht. Dieses Vorgehen soll die wissenschafts- und philosophiegeschichtliche Urstiftung unterwandern, in der die »Welt« als unendliche Idee aufgefasst ist. Damit steht die phänomenologische Auslegung im Kontrast zu einer metaphysischen Konstruktion und ist kein »Theoretisieren mit übernommenen Voraussetzungen oder Hilfsgedanken aus der historischen metaphysischen Tradition«. 2 Das Augenmerk der Phänomenologie richtet sich auf den vorprädikativen Erfahrungsraum, der im Zuge der Verwissenschaftlichung der Welt und des Lebens vernachlässigt wurde. In diesem Zusammenhang interessiert sich Husserl dafür, wie sich der natürliche Glaube an das Sein der Welt konstituiert. Merleau-Pontys radikalisierte Phänomenologie 3 macht im Kontext der Rückbesinnung auf die vortheoretische Schicht auf die grundsätzliche Problematik der Konstitution aufmerksam und er versteht sein Vorgehen als einen Rückgang auf das Prä-reflexive 4 :
1 Vgl. Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: Hua Bd. VI, Den Haag 2 1962. 2 Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hg. und eingeleitet v. Stephan Strasser. Nachdruck der 2. verb. Auflage. 1991. S. 176. 3 Zur Radikalisierung innerhalb der Phänomenologie vgl. in: Kühn, Rolf, Radikalisierte Phänomenologie, Frankfurt a. M. 2003. 4 Vgl. dazu in Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 6: »[…] meine Reflexion ist Reflexion auf ein Unreflektiertes […]«; außerdem dazu die Auseinandersetzung mit Husserl in »Der Philosoph und sein Schatten«, in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 246, 249 und 251; ferner in Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 3 2004, S. 60 f.
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Phänomenologie als Rückgang auf das Prä-Reflexive
Es ist ersichtlich, daß diese [phänomenologische] Beschreibung auch unsere Idee von der Sache und der Welt umwälzt und daß sie zu einer ontologischen Rehabilitierung des Sinnlichen führt. 5
Für unsere Untersuchung ergeben sich folgende Problemstellen: Auf der einen Seite besteht eine Verflechtung im Sinne einer wechselseitigen Abhängigkeit zwischen den Gestalten der objektiven Welt (Ideal der Objektivität) und der subjekt-relativen Weltsicht, wie sie in dem Begriff der »vortheoretischen Konstituierung« 6 zum Ausdruck kommt; auf der anderen Seite besteht eine Unvereinbarkeit beider Ansichten. Wie lässt sich das Bild einer vernünftigen Welt, das uns die klassische Philosophie hinterlassen hat, mit dem radikalen Anspruch der Merleau-Ponty’schen Phänomenologie, den rohen Geist wiederzuentdecken, vereinbaren? 7 Diese zunächst metaphysikkritische Perspektive beinhaltet aber ein neues Paradox, das darin zum Ausdruck kommt, dass die phänomenologische Erkenntnis sich einerseits auf die Selbstgegebenheit des Phänomens richtet, – wie es sich von sich selbst her zeigt; auf der anderen Seite bleibt die Wahrnehmungsperspektive subjektiv. Das leibliche Subjekt ist durch den naiven Wahrnehmungsglauben in der Lebenswelt verankert; dieser Glaube ist die Urdoxa, die nicht »in die Begrifflichkeit eines klaren und deutlichen Wissens übersetzbar« ist und die, »älter als jede ›Einstellung‹ und jeder ›Standpunkt‹, uns nicht eine Vorstellung von der Welt, sondern die Welt selbst« gibt. 8
I.
Der Wahrnehmungsglaube
Der radikale Rückgang auf die Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt gehört zum Programm einer Phänomenologie, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die vorreflexiven Bezüge sowie ihre FundierungsfunkMerleau-Ponty, »Der Philosoph und sein Schatten«, S. 253 f. Ebd., S. 251: »Zunächst der Begriff einer ›vortheoretischen Konstituierung‹, die über die ›Vorgegebenheiten‹ Aufschluß zu geben hätte, jene Bedeutungskerne, um die die Welt und der Mensch gravitieren und von denen man in gleicher Weise sagen kann (wie Husserl es vom Körper sagt), daß sie für uns immer ›schon konstituiert‹ sind oder daß sie ›niemals vollständig konstituiert‹ sind – mit einem Wort, daß das Bewußtsein ihnen gegenüber immer voraus oder hinterher, aber niemals zugleich ist.« 7 Vgl., Merleau-Ponty, »Der Philosoph und sein Schatten«, S. 251 und 274. 8 Ebd., S. 249. 5 6
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tion für die Erkenntnisprozesse zu untersuchen. In der Phänomenologie der Wahrnehmung rekurriert Merleau-Ponty auf die Husserl’sche Grundlegung der Phänomenologie als Transzendentalphilosophie, […] die die Thesen der natürlichen Einstellung […] außer Geltung setzt – und doch eine Philosophie [ist], die lehrt, daß Welt vor aller Reflexion in unveräußerlicher Gegenwart »je schon da« ist, eine Philosophie, die auf nichts anderes abzielt, als diesem naiven Weltbezug nachzugehen, um ihm endlich eine philosophische Satzung zu geben. 9
In der phänomenologischen Methodologie finden die verschiedenen Verhaltensweisen zur Welt ihre Berücksichtigung. Die natürliche oder alltägliche Einstellung gehört zur vor- und außerwissenschaftlichen Sicht, die eben durch einen naiven Weltbezug charakterisiert ist. Die phänomenologische bzw. transzendentale Einstellung kontrastiert wiederum die naiv-natürliche Einstellung sowie die doxa-kritische Einstellung der Wissenschaft, indem sie die Perspektive eines »unbeteiligten Zuschauers« etabliert. Die problematische Stelle betrifft jedoch die Übergänge zwischen den verschiedenen Zugangsweisen und verweist auf die grundsätzliche Problematik der Reduktion, die in der Verallgemeinerung der komplexen Begriffsbedeutung als »die Freilegung noch verborgener Schichten im Gefüge der Welt›Konstitution‹« 10 verstanden werden kann. Im Hinblick auf dieses archäologische Vorgehen hebt Merleau-Ponty hervor: »Die wichtigste Lehre der Reduktion ist […] die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion«. 11 Diese Unmöglichkeit korrespondiert mit der ambigen Struktur der Lebenswelt und ferner mit dem paradoxen Anspruch der philosophischen Reflexion, der in einem Sinn sowohl für Evidenz als auch für Ambiguität bestünde: Die Evidenz der Wahrnehmung ist nicht die eines adäquaten Denkens, noch apodiktische Evidenz. Die Welt ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe, ich bin offen zur Welt, unzweifelhaft kommuniziere ich mit ihr, doch ist sie nicht mein Besitz, sie ist unausschöpfbar. 12
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 3. Luft, Sebastian, »Phänomenologie und die mundane Reduktion«, in: Rudolf Bernet/Antje Kapust (Hg.), Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, München 2009, S. 57–72, hier S. 59. 11 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 11. 12 Ebd., S. 14. 9
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Die Begründungsproblematik unserer Auffassungen gehört zum Grundanliegen der Phänomenologie. Sie verweist darauf, dass alle Erkenntnisleistungen auf einem Zusammenspiel von intellektuellen und sinnlichen Kräften beruhen, indem Evidenz und rationale Begründung immer auf Anschauung und Intuition zurückgeführt werden. So ist die Einstimmigkeit der sinnlichen Erfahrung begründend für die logischen Geltungen. Die ursprüngliche Meinung stellt aber nicht nur eine Vorform des Wissens im Sinne einer Vorläufigkeit dar, vielmehr ist sie eine ursprüngliche Meinung im doppelten Sinne des »Ersten« und des »Fundamentalen«. 13 Die in der Wahrnehmung selbstgegebene Evidenz ist unmittelbare Gegebenheit, bloße Anwesenheit. Diese vortheoretische Fundierung weist aber eine Vieldeutigkeit und Undurchsichtigkeit auf, die die phänomenologische Analyse vor neue Aufgaben stellt. In einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Begriff des »Wahrnehmungsglaubens« in Das Sichtbare und das Unsichtbare 14 hebt Merleau-Ponty die mit dem Problem des reflexiven Zugangs zur Phänomenalität bestehende Aufgabe hervor, die darin besteht, die Dunkelheiten des Wahrnehmungsglaubens aufzuklären. 15 Um dieser Zielsetzung gerecht zu werden, sei zunächst notwendig, die tradierten Denksysteme und vor allem den Cartesianismus zu berichtigen. Das bedeutet, indem die Phänomenologie einen neuen Zugang zur Welt praktiziert, der nicht auf einem Denken der Welt gründet, dass sie diesem vielmehr vorgängig ist: Die Doxa der natürlichen Einstellung ist eine Urdoxa, sie stellt der Ursprünglichkeit des theoretischen Bewußtseins die Ursprünglichkeit unserer Existenz gegenüber, ihr Prioritätsanspruch ist endgültig und das reduzierte Bewußtsein muß dem Rechnung tragen. 16
Im Rekurs auf den Husserl’schen Begriff der »Urdoxa« 17 verweist Merleau-Ponty auf die vorreflexive Dimension des WahrnehmungsVgl. ebd., S. 451. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, insbes. S. 17–74. Dazu auch in: Orlikowski, Anna, Merleau-Pontys Weg zur Welt der rohen Wahrnehmung, München, Paderborn 2012, S. 61 f. 15 Vgl. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 17 f. 16 Merleau-Ponty, »Der Philosoph und sein Schatten«, S. 243–274, hier S. 250. 17 Ausführlicher zum Begriff der »Urdoxa« bei Husserl siehe in: Kern, Iso, Idee und Methode der Philosophie: Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft, Berlin 1975, S. 147 f. Auch dazu: Bernet, Rudolf/Kern, Iso/Marbach, Eduard, Edmund Husserl: Darstellung seines Denkens, Hamburg 1996. 13 14
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glaubens. Dieser Glaube impliziert eine naive Weltgewissheit, die auf der primären Grundschicht einer natürlichen/sinnlichen Welt beruht und die jeder Objektivierung vorausgeht. Dabei sind der Rückgang auf die natürliche Einstellung sowie der Übergang zur phänomenologischen Einstellung nicht klar geregelt, vielmehr wird die Phänomenologie im Sinne einer »erneute[n] Erfahrung ihres eigenen Anfangens« 18 begriffen. Ferner ist die phänomenologische Reflexion radikal nur »als Bewußtsein der Abhängigkeit ihrer selbst von dem unreflektierten Leben«. 19 Die Ambivalenz des Vorgehens einer »Reflexion auf die vorreflexive Lebenswelt« lässt sich für Merleau-Ponty nicht dadurch auflösen, den Wahrnehmungsglauben an die Stelle der Reflexion zu setzen, vielmehr ist es ein Versuch, beide aufeinander zu beziehen. 20 Doch kann dieses paradoxe Unterfangen dem Anspruch der Phänomenologie als »strenge Wissenschaft« gerecht werden? Sind der Rückgang auf die im Unreflektierten liegenden »Synthesen« sowie die Überführung in die transzendentale Perspektive letztendlich keine metaphysischen Anliegen? Weder Husserl 21 noch Merleau-Ponty haben sich gegen ein metaphysisches Denken ausgesprochen, jedoch durch die Etablierung der Phänomenologie und durch das methodologische Vorgehen, das sich an den »Sachen selbst« orientiert, erhält sie eine durchaus metaphysikkritische Dimension. In Abgrenzung zu traditionellen metaphysischen Konzepten erforscht die Phänomenologie nicht die ersten Ursachen oder letzten Fragen, sondern Phänomene und deren Erscheinungsweisen: Nicht ein Plan des Universums, sondern erst die methodische Praxis erlaubt es, verschiedene Sichtweisen, die alle perspektivisch sind, miteinander zu verknüpfen. Wenn wir dieser Formel den Wert eines absoluten Wissens verleihen, wenn wir in ihr zum Beispiel den letzten und erschöpfenden Sinn von Raum und Zeit suchen, so nimmt hier die rein wissenschaftliche OpeMerleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 11. Ebd., S. 4 wird die Phänomenologie im Sinne einer unabgeschlossenen Bewegung begriffen: »Phänomenologie ist vollziehbar und ist erkennbar als Manier oder Stil. Sie existiert als Bewegung, aber noch ist sie nicht zu abgeschlossenem philosophischem Bewußtsein gelangt.« 19 Ebd. S. 11. 20 Vgl., Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 56. 21 Ausführlicher über Husserls Einstellung zur Metaphysik vgl. in: Luft, »Phänomenologie und die mundane Reduktion«, S. 57–72, hier S. 49. 18
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Phänomenologie als Rückgang auf das Prä-Reflexive
ration unsere natürliche Gewißheit für ihre Zwecke in Anspruch, eine Gewißheit, die viel älter und viel weniger klar ist als sie selbst, – Gewißheit nämlich, zu den »Sachen selbst« zu gelangen oder die Welt in einer absoluten Überschau (survol) einfangen zu können. 22
Bei der Phänomenologie handelt es sich um kein abgeschlossenes Denksystem, vielmehr ist sie eine Bewegung 23 , die immer wieder ihr Vorgehen überprüft. Wissenschaftliche Erklärungsmodelle, die sich auf Objektivität und Evidenz berufen, werden (wie bereits in Husserls Krisis) einer Kritik unterzogen. Diese zielt auf das wissenschaftliche Vorgehen, das die »natürliche Gewissheit« des Wahrnehmungsglaubens für eigene Zwecke beansprucht, ohne sich mit der Opazität des Vorreflexiven zu befassen. Das bedeutet, dass die Wissenschaft in ihrem Anspruch auf ein letztes Selbstverständnis, indem sie aber stillschweigend vom Wahrnehmungsglauben ausgeht, in einer Vor-Wissenschaft verwurzelt bleibt. In der Einschränkung auf die Perspektive des »überfliegenden Denkens« wird die Vielschichtigkeit der Lebenswelt ignoriert. Was Merleau-Ponty als survol kritisiert, ist eine Perspektive des Denkens, die einen Über-Blick im Sinne einer absoluten Erkenntnis suggeriert. Dem Denken der Überschau setzt der Philosoph »das absolute Wissen« der Wahrnehmung entgegen. 24 Doch die Frage bleibt, ob eine solche Verabsolutierung der Wahrnehmung, die auch unter dem Stichwort »Rehabilitierung des Sinnlichen« in der Phänomenologie figuriert, einer metaphysikkritischen Haltung konträr ist. Ferner ist noch zu klären, wie sich die Undurchsichtigkeit des naiven Wahrnehmungsglaubens in die (phänomenologische) Reflexion überführen lässt. Merleau-Ponty betont, dass die natürliche Wahrnehmung den Zugang zum vorprädikativen Sein ermöglicht; es ist ein Sein in statu nascendi, das jeder Konstitution vorausgeht. Die Erfahrung des Inder-Welt-seins gehört so zu unseren natürlichen Gewissheiten, die auf dem Wohnen und Leben mit den Dingen beruhen. Aber dieses Vertrautsein mit der Welt muss notwendigerweise einen Bruch erfahren, damit »die Welt erblickt und ihr Paradox erfaßt werden« 25 können. Im Hinblick auf die Erfassung der Lebenswelt, die hier im Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 32 f. Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 4. 24 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice, »Lob der Philosophie«, in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 177–224, hier S. 186: »Das absolute Wissen des Philosophen ist die Wahrnehmung«. 25 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 11. 22 23
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Sinne einer »Reflexion auf das Vorreflexive« verstanden wird, spielt die Konstitutionsproblematik eine zentrale Rolle. In einem Fußnotenvermerk in der Phänomenologie der Wahrnehmung schreibt Merleau-Ponty: Husserl hat in seiner Spätphilosophie gefordert, alle Reflexion müsse mit dem Rückgang auf die Beschreibung der Lebenswelt anheben. Doch fügte er hinzu, in einer zweiten »Reduktion« müßten die Strukturen der Lebenswelt ihrerseits in den transzendentalen Fluß einer universalen Konstitution zurückversetzt werden, in dem alle Dunkelheiten der Welt ihre Aufklärung fänden. Indessen ist hier offenbar nur eins von beiden möglich: Entweder wird durch die Konstitution die Welt derartig durchsichtig, daß nicht mehr einsehbar ist, wieso die Reflexion den Umweg über die Lebenswelt nehmen mußte, oder aber jene Konstitution behält etwas vom Wesen der Lebenswelt und entledigt also nie diese Welt ihrer Undurchdringlichkeit […]. 26
Merleau-Pontys Anspruch im Hinblick auf das phänomenologische Vorgehen richtet sich auf einen »fundamentaleren Logos« als den des objektiven Denkens, somit wird die Konstitution radikal hinterfragt. Der entscheidende Schritt besteht hier in der Möglichkeit des Zugangs zur Phänomenalität, die »das Geheimnis unserer wahrnehmungsmäßigen Bindung an die Welt« 27 enthält. Die Opazität der Lebenswelt muss auch nach dem Durchgang der Reduktions- und Konstitutionsschritte erhalten bleiben; es geht eher darum, zu zeigen, dass alle Erkenntnis auf dem Fundament einer naiven Gewissheit beruht und dass unser Wissen auf keinen Fall absolutes Wissen ist: Gegeben ist nicht eine massive und opake Welt oder ein Universum adäquater Gedanken, sondern eine Reflexion, die sich der Welt in ihrer Dichte zuwendet, um sie zu erhellen, die ihr aber nur nachträglich ihr eigenes Licht zurückwirft. 28
Die Nachträglichkeit betrifft den Weg, den die Reflexion nimmt, um sich selber zu hinterfragen, denn das unreflektierte Leben stellt sich selber nicht in Frage. 29 Für die Phänomenologie als reflexive Praxis Ebd., S. 417/Fußnote. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 61. In diesem Zusammenhang spricht auch Meyer-Drawe von der »Rückgewinnung einer positiven Rätselhaftigkeit«, vgl. Meyer-Drawe, Käte, »Welt-Rätsel. Merleau-Pontys Kritik an Husserls Konzeption der Bewußtseins«, in: Phänomenologische Forschungen, Bd. 30, Freiburg, München 1996, S. 194–221. 28 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 56. 29 Vgl., Merleau-Ponty, »Der Philosoph und sein Schatten«, S. 243–274, hier S. 246: »Die Reflexion wird nicht von dem Unreflektierten in Frage gestellt, es ist die Refle26 27
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wird eine zweite Reflexion im Sinne einer »Phänomenologie der Phänomenologie« ins Auge gefasst, wie bereits Husserl gefordert hat. 30
II.
»Metaphysik in actu« 31
Wie bereits angedeutet, wird die Metaphysik im Kontext phänomenologischer Zugänge nicht vollkommen ignoriert, vielmehr erhält sie andere Schwerpunktsetzungen. 32 Auf der einen Seite gilt die »Überwindung der Metaphysik« als ein erklärtes Ziel der Phänomenologie. Auf der anderen Seite spielen Fragen nach Transzendenzbeziehungen eine wesentliche Rolle, gerade wenn es darum geht, die Überschusstendenzen des Phänomenalen zu erforschen. In diesem Zusammenhang soll zunächst auf die »Phänomenologie der Leiblichkeit« eingegangen werden, die das Zusammenwirken von Leib- und Welterfahrung nicht auf eine Subjekt-Objekt-Dialektik reduziert, sondern die diversen Verflechtungen im Feld der Intersubjektivität herausstellt. In Merleau-Pontys Beitrag Das Metaphysische im Menschen 33 von 1947 zeichnet sich eine Reflexion über metaphysische Probleme xion, die sich selbst in Frage stellt, weil ihr Bemühen um Wiederaufnahme, Inbesitznahme, Verinnerlichung oder Immanenz per definitionem nur sinnvoll ist im Hinblick auf ein schon gegebenes Etwas, das sich unter dem Blick selbst, der sich anschickt, es darin zu suchen, in seine Transzendenz zurückzieht.« 30 Ebd., S 269: »Daß die Möglichkeit der Phänomenologie für diese selbst fragwürdig ist, daß es eine ›Phänomenologie der Phänomenologie‹ gibt, von welcher der letzte Sinn aller vorausgehenden Analysen abhängt, daß die vollständige, abgeschlossene oder auf sich beruhende Phänomenologie problematisch bleibt, hat Husserl später gesagt, doch ist es schon bei der Lektüre der Ideen II ersichtlich. Er verheimlicht uns nicht, daß die intentionale Analytik uns gleichzeitig in zwei entgegengesetzte Richtungen führt.« 31 Merleau-Pontys Anliegen ist damit gekennzeichnet, das konkrete Subjekt in seinen intersubjektiven, sozialen Verflechtungen zu thematisieren. Zu dem Begriff ›Metaphysik in actu‹ siehe in: »Das Metaphysische im Menschen«, in: Merleau-Ponty, Maurice, Sinn und Nicht-Sinn, übersetzt von H.-D. Gondek, München 2000. S. 111– 132. 32 In diesem Zusammenhang vertritt Tengelyi in seiner neusten Untersuchung die These, dass die Phänomenologie einen »neuen Typus der Metaphysik« ermöglicht hätte; ferner wird eine »phänomenologische Metaphysik« in Anschluss an Husserl und seine Nachfolger dargelegt. Tengelyi, László, Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg i. B. 2014. 33 Der Beitrag »Le métaphysique dans l’homme« erschien zuerst in: Revue de métaphysique et de morale, Nr. 3/4, Juli/Oktober 1947, S. 290–307. Dt.: »Das MetaphysiÜberwundene Metaphysik?
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ab, die am Leitfaden der »menschlichen Intersubjektivität« geführt wird. Hier formuliert der Philosoph den Ansatz einer phänomenologischen Metaphysik: Metaphysik betreiben heißt weder in eine separate Erkenntniswelt eintreten noch sterile Formeln wiederholen, so wie jene, deren wir uns hier bedienen – es heißt die volle Erfahrung der von ihnen angezeigten Paradoxien machen, es heißt stets aufs neue das unstimmige Funktionieren der menschlichen Intersubjektivität bestätigen, es heißt genau die von der Wissenschaft besetzten Phänomene bis an ihr Ende denken, indem ihnen bloß ihre ursprüngliche Transzendenz und ihre ursprüngliche Fremdheit zurückerstattet werden. 34
Der Rückgang auf »die Sachen selbst« unter Berücksichtigung der impliziten Transzendenz betrifft vor allem die Anderen und ihre Beziehung zur intersubjektiven Welt. Es geht um das komplexe Zusammenspiel der Erfahrung, das sinn- und identitätsstiftend ist und »untrennbar […] von Subjektivität und Intersubjektivität« 35 gedacht werden muss. Die Reflexion entspringt hier den leiblichen Voraussetzungen. Somit verweist die methodologische Wiedergewinnung der Lebenswelt auf das Paradox der subjektiven Erfahrung, das in der doppeldeutigen oder »metaphysischen Struktur des Leibes« zum Ausdruck kommt: Er ist Objekt für die Anderen (objektiver Körper) und gleichsam Subjekt für mich (phänomenaler Leib). Diese dialektische Leibperspektive wird von Merleau-Ponty als »die Spannung der Existenz auf eine andere Existenz hin« gedeutet. 36 Diese existenzielle Spannung bildet den Kernpunkt einer genuinen Fremderfahrung, die mit »ursprünglicher Transzendenz« und »ursprünglicher Fremdheit« durchsetzt ist. Der Leib als »ein Sein mit zwei Dimensionen« ermöglicht den Zugang zu den Tiefenschichten der Dinge, die »einem überfliegenden Subjekt unzugänglich bleiben«. 37 Während die objektivierende Sicht der Wissenschaft alle Gesichtspunkte in der Perspektive des »absoluten Beobachters« subsumiert, verweist Merleau-Ponty auf die so genannte »Wissenschaft vom Menschen«, die sich eben auf die konkrete Subjektperspektive bezieht. 38 Damit steht das »Subsche im Menschen«, in: Maurice Merleau-Ponty, Sinn und Nicht-Sinn, übersetzt von H.-D. Gondek, München 2000. S. 111–132. 34 Ebd., S. 132. 35 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 17. 36 Ebd., S. 200. 37 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 179. 38 Merleau-Ponty, »Das Metaphysische im Menschen«, S. 125.
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jekt der Wahrnehmung« 39 mit seiner Beziehung zur Welt, zu den Anderen, zur Geschichte und zur Kultur im Vordergrund des phänomenologischen Interesses. Ferner argumentiert Merleau-Ponty, dass das »metaphysische Bewußtsein […] keine anderen Gegenstände als die alltägliche Erfahrung« hat. In diesem Zusammenhang spricht er von einer »Metaphysik in actu«, die weniger eine abstrakte Konstruktion im Sinne tradierter Metaphysik darstellt, sondern einen Zugang zur Undurchsichtigkeit der lebensweltlichen Bezüge ermöglicht. Durch die Reflexivität des Leibes bzw. des Sinnlichen ist sie einer Einengung auf feste Standpunkte konträr, die im Rahmen vorgegebener Ordnung gelten und so einseitige Perspektiven gewähren. Die lebendige Zerstreuung erfordert, auf neuartige Weise zu denken, die nicht darin aufgeht, Verstehbarkeit oder Überblick zu erzeugen, vielmehr steht ein diakritischer Sinnbildungsprozess 40 im Vordergrund. Dieses System entspringt den vorprädikativen Strukturen der Lebenswelt: »Durch meinen Leib verstehe ich den Anderen, so wie ich auch durch meinen Leib die ›Dinge‹ wahrnehme.« 41 Die in der perzeptiven Erfahrung erfasste Identität der Dinge spiegelt nur einen anderen Aspekt der Identität des eigenen Leibes wider, wobei diese beiden Perspektiven (Identitäten) nicht vollständig koinzident sind. Der Sinn fällt zusammen mit der gelebten Struktur, die zwar Überschüsse produziert, es handelt sich aber um eine Transzendenz auf die Welt hin. Die Phänomenologie wendet sich also der konkreten Welt zu und bleibt im Rahmen der Thematisierung auf sie bezogen. Dagegen haben Descartes und vor allem Kant […] Subjekt und Bewußtsein von ihrem Weltbezug loszulösen gesucht […]; sie ließen das Bewußtsein als die absolute Selbstgewißheit, als transzendentale Bedingung des Seins, den Akt des Verknüpfens als Fundament alles Verknüpften erscheinen. 42
Merleau-Pontys Kritik gilt u. a. den klassischen Dualismen, somit unterwandert seine Phänomenologie die Kategorien von Subjekt und Objekt, indem sie »bilaterale« Verknüpfungen zwischen Subjekt und Welt aufdeckt. Mit den Denkfiguren »Verflechtung«, »Chiasma« und
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 244. Zum Begriff des Diakritischen vgl. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 227 und 263. 41 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 220. 42 Ebd., S. 5. 39 40
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»Reversibilität« werden der neue Status und die Bewegung der inkarnierten Subjektivität beschreibbar: [M]ein reflexiver Zugang zu einem universellen Geist [erklärt sich] aus der Verflochtenheit meines Lebens mit den anderen Leben, meines Leibes mit den sichtbaren Dingen, aus der Überschneidung meines Wahrnehmungsfeldes mit dem der Anderen […]. 43
Dieses unmittelbare Verhältnis zum Leben und zu den Anderen bedingt die Herausbildung eines Weltverständnisses sowie eines Erfahrungshorizonts. Die intersubjektive Erfahrung des Leibes verweist auf eine Sinnstiftung, die »nicht die eines universalen konstituierenden Bewußtseins« 44 ist; vielmehr überschneiden sich hier unsere Wahrnehmung, das Denken und das Sprechen in einer unreflektierten Weise als spontaner Ausdruck oder in affektiver Form. Dennoch gibt es kein Ideal oder keine Totalität des Leibes: Seine metaphysische Struktur resultiert vielmehr daraus, dass der Leib sich am »Rande der Reflexion« bewegt und teilhat an einem zweideutigen Milieu, wo die unreflektierte Wahrnehmung sich ungezwungen entfaltet. 45
III. Das Konzept der Nicht-Koinzidenz Während in der Tradition der philosophischen Begriffs- und Konzeptbildung die Synthesis-Leistung der Verstandestätigkeit im Vordergrund steht, betrachtet die Phänomenologie »das Wunder der Verknüpfung von Erfahrung mit Erfahrung« 46 als den zentralen Knotenpunkt der Welterschließung. Der auf Erfahrung beruhende Weltbezug ist ein leiblich verankertes Zur-Welt sein, eine präobjektive Sicht, deren Maßstab der Leib ist. Die Verlagerung der Subjektivität in ein leiblich-inkarniertes Dasein dezentriert das klassische Subjekt der Erkenntnis und ermöglicht so fungierende Sinnbildungsprozesse: Das wahre cogito definiert die Existenz des Subjekts nicht durch sein Denken zu existieren, wandelt nicht die Gewißheit der Welt zur Gewißheit der Weltvorstellung, setzt nicht an die Stelle der Welt selbst einen bloßen »Sinn Welt«. Vielmehr läßt es mein Denken selbst noch als unaufhebliches Fak43 44 45 46
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Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 73. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 177. Vgl. ebd., S. 116 und S. 199 f. Ebd., S. 17.
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Phänomenologie als Rückgang auf das Prä-Reflexive
tum erkennen und schließt es jederlei Idealismus aus, indem es mich selbst entdeckt als »Zur-Welt-sein«. 47
Was hier als das »wahre cogito« definiert wird, entspricht nicht dem cartesianischen cogito. In seinem Spätwerk verwendet MerleauPonty auch den Ausdruck »präreflexives« und/oder »schweigendes cogito«. 48 Der Versuch einer Neudefinition des Cogito drückt jedoch eine Ambivalenz aus, die zunächst mit der Doppelstruktur der Subjektivität zusammenhängt: Auf der einen Seite ein naives Verankertsein in der Lebenswelt, auf der anderen Seite ein konstituierendes Bewusstsein der Welt. Wenn es also eine Möglichkeit gibt, in dem Zur-Welt-Sein beide Aspekte des natürlichen Ich zu versöhnen, muss es andere Modalitäten des Verknüpfens geben, die sich einer Dialektik des Entweder-oder entziehen. Denn durch »die Idee des Subjekts ebenso durch die des Objekts wird unsere Beziehung zur Welt […] zu einer Beziehung der Adäquation durch Erkenntnis«. 49 Um dem Denken der Adäquation entgegenzuwirken, werden neue Denkfiguren eingeführt wie »Verflechtung«, »Chiasmus«, »Reversibilität« und »Hiatus«; diese funktionieren nach einem dynamischen Prinzip und bewirken Unterbrechung, Überkreuzung, Nicht-Berühren, Abweichung und Zerspringen im Gewebe der Welt. 50 Gleichzeitig wird ein Zerspringen der tradierten Vorstellungen und Denkweisen beabsichtigt. Es handelt sich aber nicht um eine abstrakte Radikalität, vielmehr liegt dem Konzept der Nicht-Koinzidenz ein leibliches Motiv zugrunde. Es handelt sich um das Beispiel der sich berührenden Hände, in dem zwischen der Perspektive einer berührenden und einer berührten Hand differenziert wird. Das Sichberühren oder Sichsehen stellt eine Form der Selbstaffektion dar, worin sich das Subjekt selbst spaltet. Das eigentliche Augenmerk liegt hier in der »immerzu bevorstehende[n] und niemals tatsächlich verwirklichte[n] Reversibilität«. 51 Durch diese »Verbindung auf Distanz« (Nicht-Koinzidenz) wird die Dialektik der Vermittlung unterbrochen zugunsten einer ästhetisch vieldeutigen Welt, die als »Raum der Transzendenz, als
Ebd., S. 10. Vgl. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 98, 228. 49 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 42. 50 Zu Merleau-Pontys Denkfiguren »Verflechtung«, »Chiasmus«, »Reversibilität« und »Hiatus« sowie zu deren Verflechtung vgl. in: Orlikowski, Merleau-Pontys Weg zur Welt der rohen Wahrnehmung, S. 78 f. 51 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 193. 47 48
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Raum der Inkompossibilitäten, des Zerspringens, des Aufklaffens« eine objektiv-immanente Ordnung unterwandert. 52 Im Hinblick auf den phänomenologischen Zugang wird das Problem der Unmöglichkeit einer vollständigen Reduktion verdeutlicht, die mit den latenten Implikationen untereinander und Formen der Nicht-Koinzidenz zusammenhängt. Es besteht nämlich eine grundlegende Unvereinbarkeit der verschiedenen Perspektiven, welche durch die Nicht-Koinzidenz zwischen Wahrnehmendem, Wahrgenommenem und dem Denken der Wahrnehmung vorausgesetzt wird. Ebenso sind die Welt, in der wir leben, und das Denken der Welt unvereinbar. Es kann nur partielle Koinzidenz als eine sinngemäße Übereinstimmung, Annäherung oder Abweichung geben: Was wir vor uns haben, ist keine prinzipielle oder präsumtive Koinzidenz und keine faktische Nichtkoinzidenz, keine schlechte oder verfehlte Wahrheit, sondern eine privative Nicht-Koinzidenz, eine Koinzidenz von ferne, eine Abweichung und so etwas wie ein »guter Irrtum«. 53
Unter Berufung auf die Reversibilität des Sinnlichen findet eine Etablierung der Erfahrung von Nicht-Koinzidenz als Verweis auf affektivsinnliche Überschüsse statt. Im Gegensatz dazu bleibt die Metaphysik Koinzidenz 54 , die die Evidenz des Phänomens oder der »Welt« voraussetzt, ohne den Durchgang durch das Phänomen zu nehmen. Dieses Nicht-Zusammenfallen ist eine Art Differenzierung. Merleau-Ponty spricht von einem Topos der Inkompossibilitäten, der jeder objektiven Ordnung vorgängig ist, ein Ort, in dem Simulacra ihre Berechtigung haben. Es ist eine Ordnung des Phänomenalen, die es als Fundament der objektiven Ordnung zu rechtfertigen und zu rehabilitieren gilt: [D]ie Berufung auf das Originäre läuft in mehrere Richtungen: das Ursprüngliche zerspringt, und die Philosophie muß dieses Zerspringen, diese Nicht-Koinzidenz, diese Differenzierung begleiten. 55
Es handelt sich also um eine paradoxe Einstellung, die darauf zielt, die Unbestimmtheit der phänomenalen Welt zu erfassen. Doch wie kann es der Phänomenologie gelingen, das zur Sprache zu bringen, was sich der Identifizierung entzieht? 52 53 54 55
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Ebd., S. 276. Ebd., S. 165. Vgl. ebd., S. 168. Ebd., S. 165.
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Husserls systematisches Vorgehen im Hinblick auf die Analyse der verschiedenen Gegebenheitsweisen, – wie Objekte sich uns zeigen, verweist gleichzeitig auf die Unerschöpflichkeit der Abschattungen und die darin implizite Transzendenz des Dinges. Somit enthält jede Wahrnehmung auch eine Nicht-Wahrnehmung, da nicht alle Aspekte oder Seiten des wahrgenommenen Dinges aktuell im Blickfeld liegen. Es wird aber keine hinter-den-Dingen-liegende Welt im Sinne einer »Hinterwelt« beabsichtigt; es handelt sich eher um »das Unsichtbare dieser Welt« 56 : Mit diesem Ausdruck unterstreicht Merleau-Ponty, dass das Unbeobachtbare als Abwesenheit oder als verfehlte Koinzidenz zum Gewebe einer sinnlich konkreten Welt gehört, die im Sinne eines Verweisungszusammenhangs der Erscheinungsweisen durch Bezug und Entzug charakterisiert ist. Die Wiedergewinnung der originären Schicht erfordert demnach eine besondere Übersetzungsleistung, die »ein Zeigen und somit auch ein Sehen« 57 in die phänomenologische Aussprache einschließt. Die kritische Stelle oder Frage betrifft die Beredsamkeit der Philosophie, ob sie mittels der philosophischen (Fach-)Sprache die Unmittelbarkeit der rohen Wahrnehmung zu ihrem Ausdruck verhelfen kann. Das von Merleau-Ponty formulierte Anliegen einer Reflexion auf das Vorreflexive gehört zum Ansatz einer radikalisierten Phänomenologie, die dezidiert auf die Unreduzierbarkeit der lebensweltlichen Strukturen auf transparente Bedeutungskerne verweist. Auch die Stellung des konstituierenden Subjekts wird zugunsten leiblich-passiver Sinnbildungsprozesse entkräftet. Denn die in der Wahrnehmung erschlossene Wirklichkeit »ist keine Region der objektiven Welt, […] ebensowenig [kann sie] der Seite der ›Bewußtseinstatsachen‹ oder der ›geistigen Akte‹ zugerechnet werden«. 58 Ihre Fundierungsfunktion entspringt der passiv-vorgegebenen Lebenswelt und beruht auf einem naiven Kontakt mit dem Sein. Die Reflexion erhält hier einen »Ereignischarakter« und figuriert unter dem Stichwort »Intentionalität ohne Akte, fungierende Intentionalität«. 59 Das Problem der Wahrnehmung bzw. des Wahrnehmungsglaubens resultiert für Merleau-Ponty aber daraus: Ebd., S. 198. Waldenfels, Bernhard, »Radikalisierte Erfahrung«, in: Hans-Dieter Gondek /Tobias Klass/László Tengelyi (Hg.), Phänomenologie der Sinnereignisse, München, Paderborn 2011, S. 19–36, hier S. 36. 58 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 41. 59 Ebd., S. 301. 56 57
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daß die Wahrnehmung sich von sich aus als wilde Wahrnehmung, als Imperzeption verkennt, daß sie von sich aus dazu tendiert, sich als Akt zu sehen und sich als latente Intentionalität […] zu vergessen. 60
Ein differenziertes Nachdenken über das Paradox der Erfahrung erfordert einen mehrfachen bzw. methodologischen Aufwand, der im Sinne einer ständigen Hinterfragung unserer Wahrnehmung sowie der darin impliziten Einschreibung kultureller Sicht- und Denkweisen betrieben werden muss. Ferner verweist die Prozessualität der Sinngenese auf einen intersubjektiven Grundzusammenhang, der eher unbestimmt ist und dennoch ständig wirkt. Darin zeigt sich das Metaphysische als eine undurchsichtige Verflechtung subjektiver, inter-subjektiver und anonymer Existenz.
Schluss Im Kontext einer metaphysikkritischen Haltung haben wir auf die phänomenologische »Rückgewinnung einer vorreflexiven Weltsicht«, auf die »Metaphysik in actu« sowie auf das Konzept der Nicht-Koinzidenz bei Merleau-Ponty verwiesen. Diese exemplarischen Ansätze sind zentral für die Umsetzung des phänomenologisch geforderten Rückgangs auf die Sachen selbst und bringen eine radikale Umorganisation des Denkens mit sich. In dieser Hinsicht spricht Waldenfels von einer zunehmenden Attraktivität der Phänomenologie: Dies hängt damit zusammen, dass neue Konstellationen entstanden sind. Der Niedergang historischer Großvisionen, die ihre Attraktion in weitem Maße aus der Hegel’schen und Marx’schen Dialektik bezogen, hat zur Folge, dass Einzelphänomene zu schillern beginnen und Differenzen auftreten, die nicht länger als Vorboten eines Ganzen gelten. 61
In der Vertiefung in eine durch und durch differenzierte Welt des Erscheinens wird das Subjekt samt seinem Wahrnehmungsleben beansprucht. Dieser Anspruch ist durchaus absolut im Hinblick auf die Perspektive der Sinnlichkeit, die den Leib zum Medium des ZurWelt-seins macht: Meine Situation innerhalb der Welt vor aller Reflexion wie auch die Begegnung mit der Welt aufgrund dieser Existenz kann in der zum Absoluten 60 61
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Ebd., S. 272. Waldenfels, »Radikalisierte Erfahrung«, S. 19–36, hier S. 19 f.
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Phänomenologie als Rückgang auf das Prä-Reflexive
hinaufsteigenden Reflexion nicht aufgehoben werden […]. Der Philosoph setzt nie ein absolut Absolutes, sondern ein Absolutes lediglich in bezug auf sich selbst. 62
Die Schritte der Reduktion führen auf das Ich, das in einer konkreten Welt verankert ist, zurück. Die konkrete Welt ist weder ein ganzes noch ein transparentes Gebilde, vielmehr existiert sie als ein Verweisungszusammenhang, in dem Phänomene zum Vorschein kommen. Die Phänomenologie erforscht, begleitet und beschreibt dieses Aufkommen im Hinblick auf die Weisen des Sehens, des Sichzeigens sowie deren Art und Weise des Entzugs. Sie ist weder ein Materialismus noch eine Philosophie des Geistes, betont Merleau-Ponty, vielmehr liegt ihre eigentliche Aufgabe darin, »die vortheoretische Schicht aufzudecken, in der beide Idealisierungen ihr relatives Recht erhalten und überwunden werden«. 63
Merleau-Ponty, »Lob der Philosophie«, S. 177–224, hier S. 179, Hervorhebung A. O. 63 Merleau-Ponty, »Der Philosoph und sein Schatten«, S. 243–274, hier S. 251. 62
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Tod und Metaphysik Die phänomenologische Todesanalyse zwischen Überschreitung und Wiederinstandsetzung der Metaphysik Christian Sternad
»Die Phänomenologie erscheint also als eine entschlossene und kühne Überschreitung der Metaphysik […] und zugleich als die konsequenteste Wiederinstandsetzung der Metaphysik.« 1 Jacques Derrida
I.
Metaphysik und Phänomenologie
Die Phänomenologie befindet sich seit ihren Anfängen in einem beständigen Spannungsverhältnis zur Metaphysik. Dabei handelt es sich keineswegs um ein zufälliges und äußerliches, sondern ein der Phänomenologie selbst innerliches Verhältnis. Die Metaphysik ist in gewisser Weise der konstante Motor der Phänomenologie – die philosophische »Situation«, aus welcher heraus ihr Fragen anhebt, um letztlich bei aller Kritik wieder verändert in diese einzukehren. Vor diesem Hintergrund ist die Frage somit nicht, ob oder wie die Phänomenologie die Metaphysik abschafft oder gar überwindet, sondern es geht vielmehr darum, wie sich die Phänomenologie zu ihrer metaphysischen Situation in Stellung bringt. Es gilt also, die spezifischen Figuren dieses beständigen Spannungsverhältnisses in den Blick zu bringen, welche sich seit Husserl über Heidegger bis hin zu den spätesten Ausläufern in der Französischen Phänomenologie erstrecken und vervielfältigen (bspw. Subjektmetaphysik, Präsenzmetaphysik, Geschlechtsmetaphysik, etc.). Der Philosophie als solcher – und damit auch der phänomenologischen Philosophie – geht es immer »ums Ganze«, also um die * Der vorliegende Text wurde im Rahmen des FWF Forschungsprojekts »Religion jenseits von Mythos und Aufklärung« (FWF P 23255-G19) erarbeitet. 1 Derrida, Jacques, Die Phänomenologie und die Schließung der Metaphysik, Zürich 2011, S. 11.
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Frage nach gesichertem Wissen bzw. den transzendentalen Grundlagen gesicherter Aussagen, welche wir über die zu untersuchenden Gegenstände treffen. Martin Heidegger hat in Was ist Metaphysik? das Verhältnis zwischen Philosophie und Metaphysik beschrieben als »das In-Gang-bringen der Metaphysik, in der sie [die Philosophie; C. S.] zu sich selbst und zu ihren ausdrücklichen Aufgaben kommt.« 2 Vor diesem Hintergrund ist die Metaphysik keine bloße Sparte, ein Teilgebiet der Philosophie oder eine zu überwindende Lehrmeinung 3 , sie ist vielmehr der innerste Punkt, auf welchen jede Philosophie zuläuft, nämlich die Begründung von Wissen auf transzendentalen Prinzipien; oder wie Heidegger formuliert: »Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende, um es als ein solches und im Ganzen für das Begreifen zurückzuerhalten.« 4 Die Phänomenologie unterscheidet sich von dieser genuin philosophischen »Situation« nur insofern, als sie einen philosophiehistorisch neuen Stand zu dieser Problemstellung einnimmt. Wie Edmund Husserl schon in den Logischen Untersuchungen hervorhebt, muss die Phänomenologie »die ungeprüften, meistens sogar unbemerkten und doch so bedeutungsvollen Voraussetzungen metaphysischer Art« 5 einer kritischen Prüfung unterziehen. Diese kritische Prüfung besteht darin, alle philosophischen Aussagen über die Dinge auf ein gesichertes Fundament des Fragens zu beziehen, von welchem aus die Voraussetzungen metaphysischer Art als solche ausgewiesen und außer Geltung gesetzt werden können. Bei Husserl ist bekanntlich eine »wirklich absolut gegründete Wissenschaft« 6 nur dann möglich, wenn sie ihren erkenntnistheoretischen Ausgang von der transzendentalen Subjektivität (respektive der transzendentalen Intersubjektivität) her nimmt. Diese Verstrickung der Phänomenologie mit der Metaphysik betont Husserl am deutlichsten in den Cartesianischen Meditationen: Schließlich möchte ich, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, darauf hinweisen, daß durch die Phänomenologie nur jede naive und mit wiHeidegger, Martin, Wegmarken, GA Bd. 9, Frankfurt a. M. 1976, S. 122. Vgl. Heidegger, Martin, Vorträge und Aufsätze, GA Bd. 7, Frankfurt a. M. 2000, S. 69. 4 Heidegger, Wegmarken, S. 118. 5 Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena zur reinen Logik, Hua Bd. 18, Tübingen 1968, S. 26. 6 Husserl, Edmund, Erste Philosophie (1934/24). Erster Teil. Kritische Ideengeschichte, Hua Bd. 7, Den Haag 1956, S. 70. 2 3
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dersinnigen Dingen an sich operierende Metaphysik ausgeschlossen wird, nicht aber Metaphysik überhaupt. Das an sich erste Sein, das jeder weltlichen Objektivität vorangehende und sie tragende, ist die transzendentale Intersubjektivität. 7
Husserl versucht damit deutlich zu machen, dass die Phänomenologie zwar die naiven metaphysischen Spekulationen außer Geltung setze, jedoch keineswegs »vor den ›höchsten und letzten‹ Problemen halt macht.« 8 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Phänomenologie als Erkenntniskritik gerade als »die Bedingung der Möglichkeit einer Metaphysik.« 9 Es wäre somit vor diesem Hintergrund naiv anzunehmen, dass sich mit dem philosophiehistorischen Einsatz der Phänomenologie die Frage der Metaphysik schlechthin erledigt hätte. Sie hat durch die Phänomenologie nur eine neue Wendung genommen. Dieses neuartige und radikale Fragen (der Phänomenologie) ist in Heideggers Worten das Verlieren der vorherigen begründenden Prinzipien, ein Zustand der Schwebe, »das Sichloslassen in das Nichts, d. h. das Freiwerden von den Götzen« 10 – es ist jedoch in der gleichen Bewegung auch »zuletzt das Ausschwingenlassen dieses Schwebens, auf daß es ständig zurückschwinge in die Grundfrage der Metaphysik« 11 . Jede Kritik der Metaphysik gibt demnach nur eine veränderte oder neuartig begründete Metaphysik zurück, oder wie Heidegger selbst sagt: »[D]ie überwundene Metaphysik verschwindet nicht. Sie kehrt gewandelt zurück« 12 . Die problematische Frage ist insofern nicht »Phänomenologie oder Metaphysik«, sondern »Phänomenologie als welche Figur der Metaphysik«. Jacques Derrida hat diese Problemkonstellation zwischen Metaphysik und Phänomenologie in einem seiner ersten Texte zu Husserl in den 1960er Jahren deutlich gemacht. In Die Phänomenologie und die Schließung der Metaphysik hebt Derrida hervor:
Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Hua Bd. 1, Den Haag 1976, S. 38 f. 8 Ebd., S. 182. 9 Husserl, Edmund, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Hua Bd. 2, Den Haag 1973, S. 3. 10 Heidegger, Wegmarken, S. 122. 11 Ebd. 12 Vgl. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, S. 70. 7
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Die Phänomenologie erscheint also als eine entschlossene und kühne Überschreitung der Metaphysik […] und zugleich als die konsequenteste Wiederinstandsetzung der Metaphysik. 13
Gemäß dieser Interpretation hat sich die Kritik der Metaphysik mit dem Einsatz der Phänomenologie nicht erledigt. Die Kritik muss vielmehr permanent wiederholt und neu adaptiert werden, wenn sich die Phänomenologie selbst nicht metaphysisch verhärten will. Das Eingeständnis der Phänomenologie über ihre metaphysische Situation droht die Phänomenologie daher nicht in eine Metaphysik zu verwandeln, sondern sichert ihr vielmehr ihr beständiges Metaphysikkritisches Potenzial.
II.
Metaphysik und Tod
Eugen Fink hat in Metaphysik und Tod eindringlich aufgezeigt, inwiefern die philosophische Frage nach dem Tod eine Krise für die traditionelle Figur der Metaphysik bedeutet. Fink schreibt in der allerersten Passage seiner Untersuchung: Es könnte sein, daß die Metaphysik, die Königin der philosophischen Disziplinen, angesichts des Todes in ihre schärfste Grenzsituation gerät, ihre seinserhellenden, seinsbestimmenden Begriffe an der unsäglichen Macht des Todes zersplittern sieht. 14
Der Tod als eines der letzten Dinge widerstrebt dem Denken, lässt sich nicht begreiflich machen und führt vielmehr dem noch so rationalen Verstand dessen Endlichkeit und Unzulänglichkeit vor Augen. Zugleich drängt die philosophische Frage nach dem Tod tief in die Problembezirke der Metaphysik ein und ist als solche eine Frage metaphysischen Zuschnitts. In ihr überschneiden sich die Kraftlinien, welche über jene Dinge handeln, die sich anscheinend außerhalb des phänomenalen Bereichs befinden. Sie stößt mit ihrem Fragen in jene Bezirke vor, welche sich nicht in einer »denkerischen Aufarbeitung der erscheinenden Welt« 15 erschöpfen und insofern den genuin phänomenologischen Kompetenzbereich übersteigen, wie Fink prägnant herausstellt. Nicht umsonst grenzt Heidegger seine fundamen13 14 15
Derrida, Die Phänomenologie und die Schließung der Metaphysik, S. 11. Fink, Eugen, Metaphysik und Tod, Stuttgart 1969, S. 9. Ebd.
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tal-ontologische bzw. existenziale Todesanalyse gerade deswegen von allen Fragen metaphysischen Zuschnitts ab: Endlich steht außerhalb des Bezirks einer existenzialen Analyse des Todes, was unter dem Titel einer »Metaphysik des Todes« erörtert werden möchte. Die Fragen, wie und wann der Tod »in die Welt kam«, welchen »Sinn« er als Übel und Leiden im All des Seienden haben kann und soll, setzen notwendig ein Verständnis nicht nur des Seinscharakters des Todes voraus, sondern die Ontologie des Alls des Seienden im Ganzen und die ontologische Klärung von Übel und Negativität überhaupt im besonderen. 16
Es steht außer Zweifel, dass der Tod für jegliche Philosophie, sofern sie nicht naiv spekulativ verfährt, ein außerordentliches Problem darstellt, welches jede geschlossene philosophische Systemlogik von innen her zu zersetzen droht. Stets wirkt im Kern des philosophischen Systems das, was sich im Denken und mithilfe seiner nicht einholen lässt. Nicht umsonst hebt Fink in Grundphänomene des menschlichen Daseins dies beispielhaft und ein wenig lakonisch an Descartes hervor: »In der schönen Denk-Frucht des Descartes sitzt der Wurm, der Totenwurm.« 17 Jedes Denksystem lässt in letzter Konsequenz die Bedingtheit des Denkens selbst außen vor, in diesem Falle nämlich seine unbezweifelbare Endlichkeit, gegen welche alles noch so saubere und systematische Denken nicht hilft. 18 Es stellt sich daher die paradoxe Frage, wie ein Denken mit gerade jenem Umstand umgehen kann, welcher auf fundamentale Art und Weise sein Wesen bestimmt und limitiert, ihm jedoch gleichzeitig auf geradezu obszöne Art und Weise denkerisch entflieht. Es stellt sich ferner die Frage, wie ein Denken jemals den Anspruch auf Vollständigkeit und Letztgültigkeit erheben kann, wenn es gerade diese konstitutive Dimension des menschlichen Seins und damit des Denkens selbst nicht in den Blick bekommen kann. In Bezug auf die Phänomenologie müsste insofern die Frage gestellt werden, wie die Phänomenologie den Anspruch auf eine »absolut gegründete Wissenschaft« 19 erheben kann, wenn sie methodisch an der so zentralen Frage des Todes in eine ihrer schwierigsten Grenzsituationen kommt Heidegger, Martin, Sein und Zeit. GA Bd. 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 330. Fink, Eugen, Grundphänomene des menschlichen Daseins, Freiburg, München 1995, S. 138. 18 Dies ist mitunter eine der entscheidenden Argumentationslinien Heideggers in Kant und das Problem der Metaphysik. Vgl. Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik. GA Bd. 3, Frankfurt a. M. 1988. 19 Husserl, Erste Philosophie (1934/24). Erster Teil. Kritische Ideengeschichte, S. 70. 16 17
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oder diese Frage vielleicht gar nicht adäquat in den Blick bringen kann. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage nach dem Tod in der Phänomenologie trotz entscheidender methodischer Modifikationen gegenüber ehemaligen philosophiehistorischen Fragesituationen eine besondere Schärfe. Wenn die Phänomenologie gemäß dem Prinzip der Prinzipien nur das als Rechtsquelle der Erkenntnis zulassen will, was sich originär in seiner leibhaftigen Wirklichkeit darbietet, und das aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt 20 – insofern die Phänomenologie also auf die transzendentale Subjektivität als verbürgende Quelle aller Erfahrung und Erkenntnis abstellt –, dann stellt sich die Frage, wie sie gerade mit jener Erfahrung umgeht, die die Erkenntnis-fundierende Subjektivität selbst aufhebt. Wie Husserl in den C-Manuskripten herausstellt, erweist sich der Tod gerade insofern als eine problematische Grenze der Phänomenologie, als er das »Aufhören des Bewusstseins-Ich als solchen« 21 bedeutet, welches aber gerade als das verbürgende Fundament der phänomenologischen Methode fungieren soll. Bekanntlich hat der Tod als diese »Limesgestalt« 22 der Phänomenologie, wie sie Husserl bezeichnet hatte, in besonderer Weise Heidegger seit spätestens Sein und Zeit umgetrieben. Auch Heidegger stellt heraus, dass der Tod insofern ein ausgezeichnetes Phänomen darstellt, insofern gerade dessen Erfahrung aus der Möglichkeit der Erfahrung hebt. Heidegger betont, der Tod als »[d]er Übergang zum Nichtmehrdasein hebt das Dasein gerade aus der Möglichkeit, diesen Übergang zu erfahren und als erfahrenen zu verstehen.« 23 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine phänomenologische Annäherung an die Todesproblematik eine innere Transformation der phänomenologischen Methode als solcher notwendig macht, um diesem prinzipiellen und keineswegs abstrakten Phänomen des Todes in adäquater Art und Weise gerecht werden zu können. Wie Fink hervorhebt, stellt der menschliche Tod daher ein ontologisches Problem dar, »welches mit den Denkmitteln und Kategorien, die wir auf die erscheinenden Dinge anwenden, nicht exponiert 20 Vgl. Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Hua Bd. 3, Den Haag 1976, S. 51. 21 Husserl, Edmund, Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte, Hua Bd. M 8, Dordrecht 2006, S. 160. 22 Vgl. ebd., S. 154. 23 Heidegger, Sein und Zeit, S. 316.
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werden kann« 24 . Emmanuel Lévinas ging in seiner Einschätzung der Problematik sogar noch viel weiter und folgerte, dass der Tod daher kein Gegenstand der Phänomenologie mehr sein könne und insofern einen uneinholbaren Grenzstein der Phänomenologie markiere: Der Tod ist die Umkehrung des Erscheinens. Ganz anders als das Erscheinen vollzieht er sich wie eine Rückkehr des Seins zu sich selbst, wo das, was Zeichen gegeben hat, zu sich selbst zurückkehrt und nicht mehr antworten kann. Er ist eine Bewegung, die der Phänomenologie entgegengesetzt ist. 25
Heideggers Projekt einer hermeneutischen Phänomenologie des Daseins erweist sich vor diesem Hintergrund als eine entscheidende Transformation der Husserl’schen Phänomenologie, welche sich gerade um jene fundamentalen Momente des menschlichen Daseins bekümmert, welche mit der Husserl’schen Phänomenologie nicht in den Blick zu bringen sind. Wenn man so will, ist die existenzial-ontologische Daseinsanalyse gerade die Reflexion der transzendentalen Subjektivität auf sich selbst und ihre konstitutiven Bedingungen, welche bei Heidegger mit einer Dezentrierung des phänomenologischen Subjekts einhergeht. Methodologisch betrachtet ist gerade diese Transformation die revolutionäre Bewegung von Sein und Zeit: es geht weniger um die phänomenologische Analyse konkreter Gegenstände im Ausgang einer transzendentalen Subjektivität, sondern vielmehr um den Aufweis der transzendentalen Subjektivität aus seinen konstitutiven lebensweltlichen Bezügen und Vollzügen. Vor diesem Hintergrund erscheint somit der Tod nicht nur als Problem der Philosophie, insofern er jede metaphysische Letztbegründung durchquert. Er wird daher auch zum Problem der Phänomenologie, welche im Durchgang und der partiellen Durchbrechung der klassischen Metaphysik deren neue Letztbegründung aller Erkenntnis im Reich der Erfahrung eines transzendentalen Subjekts in Frage stellt. Am Problem des Todes, welcher zugleich fundamentale Auszeichnung wie Aufhebung des menschlichen Daseins ist, wird deutlich, dass die Phänomenologie, sofern sie ihren Ausgangspunkt von einer transzendentalen Subjektivität her nimmt, keine »absolut gegründete Wissenschaft« 26 sein kann. Der Tod zeigt daher eine Schwachstelle der Phänomenologie an, welche sich gerade an jener Konfliktstelle zwischen Metaphysik und Phänomenologie situiert. 24 25 26
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Fink, Metaphysik und Tod, S. 20. Lévinas, Emmanuel, Gott, der Tod und die Zeit. Wien 1996, S. 60. Husserl, Erste Philosophie (1934/24). Erster Teil. Kritische Ideengeschichte, S. 70.
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Tod und Metaphysik
III. Tod und Metaphysik – eine »Metaphysik des Todes« 27 ? Vor diesem Hintergrund lässt sich behaupten, dass Heideggers fundamental-ontologisches Projekt, welches er in Sein und Zeit zum großen Missfallen Husserls 28 skizziert, sich gerade jenen Schwachstellen der Husserl’schen Phänomenologie annimmt. Damit ist es Heidegger möglich, gerade jene fundamentalen Strukturen des Daseins in den Blick zu bringen, welche bei Husserl nicht zur phänomenologischen Beschreibung gelangen können. Heidegger hat, wie er im Rekurs auf Sein und Zeit erwähnt, »eine Metaphysik des Daseins […] in fundamental-ontologischer Abzweckung« 29 im Sinne, also eine Beschreibung gerade jener konstitutiven Strukturmomente des menschlichen Daseins, woraus die Seinsweise des Daseins deutlich werden kann. Anders als bei Husserl gewinnt jedoch die Zeit bei Heidegger einen unmittelbar anderen und fundamentaleren Charakter, insofern die Frage nach dem Sinn von Sein im Horizont der Zeit zu klären versucht wird. 30 Während bei Husserl der Tod letztlich nur ein zufälliges Moment unserer Faktizität darstellt 31 , avanciert er bei Heidegger zum konstitutiven Hintergrund, vor welchem sich die Zeitlichkeit des Daseins überhaupt erst deutlich machen lässt. Der Unterschied zwischen Husserl und Heidegger am Problem des Todes besteht knapp gesagt darin, dass Husserl den Tod von der Zeiterfahrung des Subjekts her denkt, während hingegen Heidegger die Zeitlichkeit des Daseins vom Tod her zu denken versucht. In Heideggers eigenen Worten gesprochen, strebt die ganze Untersuchung in Sein und Zeit dahin, »die Zeitlichkeit als metaphysisches Wesen des Daseins herauszustellen« 32 , also aufzuweisen, dass alle Strukturmomente des Daseins nur vor dem Hintergrund der Zeitlichkeit, und damit des Todes aus verständlich werden können. Husserl war diesen Problemen gegenüber keineswegs blind und Heidegger, Sein und Zeit, S. 330. Vgl. Breeur, Roland: »Randbemerkungen Husserls zu Heideggers Sein und Zeit und Kant und das Problem der Metaphysik«, in: Husserl Studies 11: 3–63, 1994. 29 Heidegger, Martin, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA Bd. 26, Frankfurt a. M. 1978, S. 214. 30 Heidegger, Sein und Zeit, S. 1. 31 Vgl. beispielhaft Husserl, Edmund, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil: 1929–1935, Hua Bd. 15, Den Haag 1973, S. 171. 32 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, S. 214. 27 28
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hatte sehr wohl die Komplexität dieser Probleme gesehen. In einigen späten Manuskripten der 1930er Jahre kommt Husserl auf diese Unzulänglichkeiten gerade bezüglich Fragen der so genannten »Generativität« zu sprechen und gesteht ein, dass anhand des bisherigen Methodenstands der Phänomenologie »Generativität, mit Geburt und Tod, ein zufälliges Weltfaktum wäre.« 33 Wie Husserl selbst schreibt, ist damit jedoch der Sachverhalt der Generativität nur schlecht erfasst und es gelte nun, Welt und Geburt und Tod (also Generativität) ernstlich in Wesensbeziehung zu setzen, aufzuzeigen, wiefern das nicht ein Faktum ist, inwiefern eine Welt und Menschen ohne Geburt und Tod undenkbar sind. 34
Somit scheint Husserl zuletzt dem Heidegger’schen Projekt trotz anfänglicher Ablehnung die Legitimität zuzusprechen und den Versuch eines Aufweises der konstitutiven Dimension der Sterblichkeit für die Subjektivität zu bestärken. Interessant ist in Heideggers Analyse vor allem der Umstand, dass er sich in langwierigen Korrekturbewegungen darum bemüht, ein Verständnis des Todes zu entwickeln, welches sich nicht auf das faktische Ableben bzw. dessen Erfahrung reduziert; das reine Ableben wäre, wie Husserl betont, in der Tat nur ein kontingentes Weltfaktum. Bekanntlich versucht Heidegger in seiner Analyse den Tod von den ungeprüften und metaphysischen Vorstellungen des Endens, der Ganzheit, etc. zu lösen 35 und den Tod letztlich nicht als letzten Ausstand, sondern als einen ausgezeichneten Bevorstand zu interpretieren. 36 Wichtig ist daher nicht mehr, wie der Tod originär in der Anschauung und nur in den Schranken dieser gegeben ist, sondern vielmehr, wie sich dieses komplexe Phänomen des menschlichen Todes zu zeigen gibt und vor allem, was es dabei im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn von Sein zu denken aufgibt. Man kann an dieser Stelle vielleicht am deutlichsten den Bruch zwischen einer Phänomenologie der originären Anschauung und einer sich durch die Phänomene hindurch arbeitenden hermeneutischen Phänomenologie erkennen.
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil: 1929–1935, S. 171. 34 Ebd. 35 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 48. 36 Vgl. ebd., S. 332 f. 33
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Tod und Metaphysik
In bestechender Klarheit hat Jan Patočka diese innere Transformation der Phänomenologie (im Besonderen den Begriff des Phänomens betreffend) im ersten Kapitel der Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte analysiert und auf den Punkt gebracht: Doch nicht einmal Husserl selbst, also derjenige Philosoph, der als Erster darauf hinwies, dass sich das Ding selbst und als solches mitsamt seiner Bedeutung sowie seinen Gegebenheits- und Seinscharakteren als Phänomen entfaltet, vermochte der Erscheinung völlig gerecht zu werden. Zwar sieht er, dass sich die Dinge von sich selbst her zeigen, ebenso bemerkt er, dass die »Gegebenheitsweise« und die Seinsstruktur der Dinge mitbeteiligt sind, aber all das deutet er weiterhin »mentalistisch« als »Belebung« des reell Gegebenen durch sinnverleihende »Intentionen«. Das lässt ihm zwar die Möglichkeit, für die »noetische Analyse« Begriffe der traditionellen Psychologie […] neben solchen Begriffen zu benutzen, die aus der ursprünglichen Anschauung der Offenheit des In-der-Welt-seins geschöpft sind. Es macht ihn aber blind für die Frage nach dem Sein und ihrem Zusammenhang mit dem Erscheinen. 37
Da nun Welt, Geburt und Tod, welche von Husserl als Phänomene der Generativität 38 bezeichnetet worden sind, von unmittelbar anderem phänomenalem Zuschnitt sind, muss sich eine Phänomenologie solcher Erscheinungen auf die umfassende hermeneutische Analyse all jener konstitutiven Zusammenhänge des Erscheinens einlassen. Heidegger hat in seiner Analyse des Todes gerade das geleistet. Indem er den Tod nicht als eine einseitige und phänomenal nicht in die Beschreibung zu hebende Erfahrung des Ablebens versteht, sondern ihn vielmehr als ausgezeichneten Bevorstand interpretiert, welcher als dieser Hereinstand das Leben auf konstitutive Art und Weise bestimmt, verhindert Heidegger einerseits eine Inkaufnahme ungeprüfter metaphysischer Überreste, welche sich durch einen naiven Begriff des Todes hindurch in die Logik der Analyse einschleichen; andererseits verhindert Heidegger damit, dass der Tod im Ausgang einer dem Phänomen nicht mehr adäquaten methodischen Prämisse letztlich gar nicht mehr in den Blick einer phänomenologisch operierenden Analyse gebracht werden kann. Die unmittelbare Erfahrung des Todes hebt bekanntlich aus der Möglichkeit der Beschreibung
Patočka, Jan, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 2010, S. 26. 38 Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil: 1929–1935, S. 171. 37
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ebendieser Erfahrung, wie Heidegger in Sein und Zeit mehrmals sehr deutlich zu zeigen versucht. 39 Indem Heidegger den Tod als ausgezeichneten Bevorstand interpretiert, zwingt er dazu, die Möglichkeit als Möglichkeit zu denken und als solche in den Stand einer phänomenologischen Beschreibung zu heben. Dabei gerät nicht nur diese Möglichkeit als solche in den Blick, sondern zugleich auch alle anderen Möglichkeiten, welche sich vor dem Hintergrund jener eigensten, unbezüglichen, unüberholbaren, gewissen und dabei unbestimmten Möglichkeit, welche der Tod ist, zeigen. 40 Mit ihm erscheint daher ein spezifischer Raum von Möglichkeiten, welcher allererst durch den Tod aufgespannt wird. Maurice Blanchot hat dies in Bezug auf Heidegger äußerst treffend als den »Raum des Todes« 41 bezeichnet. In dieser Beschreibung wird deutlich, dass das Phänomen des Todes ein komplexes Geflecht von Erscheinungen anzeigt, welche in ihrer konstitutiven Dimension beschrieben werden müssen. So berechtigt diese Analyse nun scheinen mag, treten dabei unweigerlich bedeutende Probleme zu Tage: Interpretiert man den Sinn von Sein vor dem Hintergrund der Zeit, und führt man die Zeitlichkeit selbst auf jenen ausgezeichneten Bevorstand des Todes zurück, so scheint im selben Moment die gesamte Welt in eine universal gesetzte Endlichkeit bzw. Sterblichkeit einzutauchen. Den Sinn von Sein vom Tod aus zu denken bedeutet daher, den gesamten Sinnhorizont des Daseins als Sein-zum-Tode ausschließlich im Horizont der unbezweifelbaren Sterblichkeit des Daseins zu verstehen. Leben selbst lässt sich insofern nurmehr als eine komplex verflochtene, jedoch durchgängige Textur des Todes verstehen, ein rückwendiges Imprägnat einer universalen Sterblichkeit. Dies führt bei Heidegger schließlich so weit, keinen positiven Begriff des Lebens mehr finden zu können und den Begriff des Lebens selbst noch in einem fundamentaleren Begriff des Sterbens aufzulösen. »Sterben«, so Heidegger, »gelte als Titel für die Seinsweise, in der das Dasein zu seinem Tode ist.« 42 Ein eigenständiger Lebensbegriff, welcher sich gegen oder gar über den Tod hinaus beweist, wird damit außer Möglichkeit gestellt. Führt also an diesem Punkt Heideggers Kritik einer naiven Me39 40 41 42
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Heidegger, Sein und Zeit, S. 316. Vgl. ebd., S. 343. Blanchot, Maurice, Der literarische Raum, Zürich 2012, S. 83 ff. Heidegger, Sein und Zeit, S. 328 f.
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Tod und Metaphysik
taphysik des Todes in der Folge nicht zu einer viel umfassenderen Metaphysik des Todes? Handelt es sich – in Anlehnung an Fink gesprochen – um ein Verhältnis von Metaphysik und Tod oder um ein Verhältnis von Tod und Metaphysik? Jean-Paul Sartre hat in Das Sein und das Nichts skeptisch auf Heideggers Todesanalyse in Sein und Zeit reagiert und sehr früh darauf hingewiesen, dass diese fundamentale Bedeutung, welche Heidegger dem Tod und der Sterblichkeit für das Wesen der Subjektivität gibt, aus einer phänomenologischen Perspektive keineswegs als ausgemacht gelten könne und vielmehr zu einer kritischen Prüfung anstimme. Deutlich versucht Sartre hier wieder an Husserl anzuschließen, indem er zu zeigen versucht, dass der Tod dennoch ein kontingentes Faktum der Subjektivität sei, weil nicht der Tod der Subjektivität, sondern die Subjektivität dem Tod einen Sinn gebe. 43 Die letzte Instanz der Sinnstiftung sei aus phänomenologischer Perspektive immer noch die Subjektivität und nicht eine essentialisierte, sich verselbstständigende und omnipräsente Figur des Todes. Sartre fasst pointiert zusammen: »Kurz, es gibt kein die Person konstituierendes Vermögen, das meinem Tode eigentümlich wäre. Ganz im Gegenteil, er wird nur mein Tod, wenn ich mich schon unter den Gesichtswinkel der Subjektivität stelle« 44 .
Sartres »Prüfung« 45 des Heidegger’schen Arguments läuft genau auf jene fundamentale Opposition hinaus, die im Kern aller phänomenologischen Todesanalysen zu bestehen scheint: betrachtet man den Tod als ein kontingentes Faktum der transzendental verstandenen Subjektivität, oder betrachtet man die Subjektivität als Effekt einer transzendental verstandenen Sterblichkeit? Diese Frage scheint auf eine prinzipielle Frage hinauszulaufen, welche die Methode der Phänomenologie als solche betrifft und welche vielleicht gerade zwischen Husserl und Heidegger aufbricht. Egal für welche Option man sich entscheiden möchte: In jeder Hinsicht wird man es notwendigerweise mit Metaphysik und Metaphysik-Kritik zugleich zu tun haben – und beide Bewegungen sind keine der Phänomenologie äußerliche Bewegungen, sondern finden im Zentrum der Phänomenologie, respektive der phänomenologischen Todesanalyse selbst statt.
Vgl. Sartre, Jean-Paul, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1962, S. 679. 44 Ebd., S. 674. 45 Ebd., S. 672. 43
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Das barbarische Prinzip Merleau-Pontys Naturbegriff im Ausgang von der Philosophie Schellings Alexander Bilda
Eher nebenbei und wortwörtlich in Parenthese verweist MerleauPonty auf Schelling, als er in seinem Aufsatz über Husserl Der Philosoph und sein Schatten (Le philosophe et son ombre) von 1959 die letzte und höchste Aufgabe der Phänomenologie, die gleichwohl noch ihrer Erfüllung harrt, beschreibt: Was in uns der Phänomenologie widerstrebt – das natürliche Sein, jenes ›barbarische Prinzip‹, von dem Schelling sprach –, kann nicht außerhalb der Phänomenologie bleiben, sondern muss in ihr selbst seinen Platz finden. 1
Im Folgenden werden einige historische und systematische Überlegungen zu Schelling und Merleau-Ponty angestellt. Wobei einerseits der an Schelling entwickelte Natur-Begriff von Merleau-Ponty in den Vorlesungen am Collège de France von 1956/57 (I.) und andererseits Schellings Spätphilosophie (II.) erläutert werden, um zu zeigen, dass beide an dem Problem arbeiten, das sich ihrer Philosophie Entziehende zu integrieren. Merleau-Pontys Ansatz für die Lösung dieses Problems greift auf Schellings frühe und späte Philosophie zurück. Doch grundsätzlich verfolgen beide jeweils unterschiedliche Herangehensweisen an dasselbe Phänomen. Dies wird besonders deutlich, wenn Merleau-Ponty eine ›Psychoanalyse der Natur‹ vorschlägt (III.). 2 1 Merleau-Ponty, Maurice, »Der Philosoph und sein Schatten«, in: ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Christian Bermes (Hg.), Hamburg 2003, S. 243–274, hier S. 270. 2 Erst als dieser Artikel schon fertig geschrieben war, erschien der äußerst gelungene und lesenswerte Sammelband, den Jason Wirth mit Patrick Burke herausgegeben hat: The barbarian principle. Merleau-Ponty, Schelling and the Question of Nature, Albany, New York 2013. Die fruchtbare Beziehung zwischen Merleau-Ponty und Schelling, also die zwischen Phänomenologie und Deutschem Idealismus, ist dort in vielfältigsten Facetten und besser als in den folgenden Ausführungen ausgeleuchtet,
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Das barbarische Prinzip
Der Begriff des ›barbarischen Prinzips‹ entstammt den Entwürfen, die Schelling für sein nie veröffentlichtes Weltalter-Projekt zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstellte. Ähnlich dem Ansinnen Merleau-Pontys soll dieser Begriff auch bei Schelling bezeichnen, was die Philosophie als Wissenschaft noch nicht in sich aufgenommen, mehr noch, was sie verdrängt hat. Der von Kant ausgehende Idealismus habe zuletzt durch Fichte seine höchste wissenschaftliche Form erreicht. Gerade bei diesem aber zeige sich die Kehrseite der idealistischen Philosophie, die Vernichtung und der vollständige »Todtschlag der Natur« 3 . Die Konsequenzen, die diese Philosophie nach sich zieht, sind folgenschwer und betreffen das Verständnis Gottes, der Welt, des Menschen und der Gesellschaft insgesamt. Schelling konstatiert für das zeitgenössische moderne Weltbild [e]inen Gott, dessen höchste Kraft oder Lebensäußerung in Denken oder Wissen besteht, außer dem alles andere nur noch ein leeres Schematisiren seiner selbst ist; eine Welt, die nur noch Bild, ja Bild von dem Bild, ein Nichts des Nichts ist, ein Schatten von dem Schatten; Menschen, die auch nur noch Bilder, nur Träume von Schatten sind; ein Volk, das in gutmüthigem Bestreben nach sogenannter Aufklärung wirklich dahin gekommen, alles in sich in Gedanken aufzulösen, aber mit dem Dunkel auch alle Stärke, und jenes (stehe hier immer das rechte Wort) barbarische Princip, das überwunden aber nicht vernichtet, die Grundlage aller Größe und Schönheit ist, verloren hat. 4 wobei insbesondere das Thema Natur in den Vordergrund gestellt wird. Die von mir angestellten systematischen Überlegungen zum Verhältnis der Philosophie MerleauPontys und Schellings überschneiden sich aber glücklicherweise nicht mit diesem Sammelband und können als Ergänzungen zu diesem angesehen werden. Der Sammelband schließt eine große Lücke, denn bisher war Merleau-Pontys Beschäftigung mit Schelling zwar durchaus bekannt, ja der Einfluss, den Schelling auf ihn hatte, ist nicht von der Hand zu weisen, ausführliche Auseinandersetzungen fehlten bisher jedoch. Vgl. allerdings Vallier, Robert, »Etre sauvage and the Barbaric Principle. Merleau-Ponty’s Reading of Schelling«, in: Chiasmi International, 2/2000, S. 83–106. Vgl. für thematisch ähnliche Erörterungen, die sich allerdings nicht oder kaum mit Schelling beschäftigen: Al-Saji, Alia, »The Temporality of Life. Merleau-Ponty, Bergson, and the Immemorial Past«, in: Southern Journal of Philosophy 45, 2/2007, S. 177–206; Toadvine, Ted, »Natural Time and Immemorial Nature«, in: Philosophy Today, 53/2009, S. 214–221. 3 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Stuttgarter Privatvorlesungen. (Aus dem handschriftlichen Nachlaß.) 1810, in: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke (= SW), Karl Friedrich August Schelling (Hg.), 1. Abt., Bd. 7, Stuttgart, Augsburg 1860, S. 417–484, hier S. 445. 4 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Die Weltalter. Bruchstück. (Aus dem handschriftlichen Nachlaß.), in: SW I, 8, S. 195–344, hier S. 342 f. Vgl. auch Schelling, Überwundene Metaphysik?
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Tatsächlich hat Schelling schon sehr früh mit seiner als ›Naturphilosophie‹ bekannt gewordenen Wissenschaft den transzendentalphilosophischen Ansatz der Philosophie regelrecht zu untergraben versucht. Die Weltalter sind in dieser Hinsicht der Höhepunkt von Schellings Naturphilosophie. Auf diese Naturphilosophie bezieht sich Merleau-Ponty insbesondere, wenn er in seinen letzten Vorlesungen einen Begriff von Natur entwickeln will. Schelling wird dabei mit Bergson und Husserl in dem etwas seltsam betitelten Kapitel zur ›romantischen Naturkonzeption‹ verhandelt. Dieser Generalisierung zum Trotz ist die wechselweise Betrachtung des Naturbegriffs bei Merleau-Ponty und Schelling für beide Seiten erhellend.
I.
Merleau-Pontys Naturbegriff von 1956/57
Worin besteht nach Merleau-Ponty der schellingsche Naturbegriff? Für Merleau-Ponty gibt es eine klare historische Linie, der Schelling folgt: Schelling geht von Kant aus, Kant wiederum korrigiert Descartes, dem im Werke Merleau-Pontys omnipräsenten Opponenten. Diese Korrektur allerdings führt Kant unvollständig aus. Natur bleibt auch bei Kant noch ein bloß Endliches, konstruiert zwar nicht mehr von Gott, aber von der menschlichen Vernunft. Während sich Kant versagt, die letzten Begründungsinhalte der Vernunft zu erkennen, die der »Abgrund für die menschliche Vernunft« 5 sind, bezieht sich Schelling gerade auf die Erkenntnis dessen, was über die Vernunft hinausgeht. Das Unendliche wird nicht mehr ausgeschlossen, sondern wird als ein an sich Daseiendes verstanden, dem das Endliche nicht nur immanent ist. Das Endliche steht vielmehr im Widerspruch zum Unendlichen. Diese Trennung macht das Endliche oder die Natur nicht nur zum Produkt eines Unendlichen, sondern verleiht der Natur selbst Produktivität. Damit ist sogleich eine sowohl für Schelling als auch für Merleau-Ponty wichtige Kategorie ausgemacht: Lebendigkeit. Die klassische Hierarchisierung, die die Natur linear aus dem Unendlichen ableite und diesem unterordne, werde durchbrochen. Friedrich Wilhelm Joseph, Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, Manfred Schröter (Hg.), München 1946, S. 51. Vgl. dazu auch Anm. 10 in diesem Aufsatz. 5 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, in: AA, Bd. III, S. 409.
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Das barbarische Prinzip
Unumwunden situiert Merleau-Ponty diese Natur »jenseits der Welt und diesseits von Gott« als eine »Rotationsbewegung, die nichts Endgültiges produziert«. 6 Dieses Natur-Verständnis schöpft MerleauPonty aus Schellings früherer Philosophie, die sich zu einem guten Teil auf der Grundlage Spinozas und Fichtes entwickelte. Mit dieser Natur als einer relativen Unendlichkeit wird Merleau-Ponty Schellings frühem Naturbegriff zwar nicht gerecht, denn sehr wohl hat die Naturphilosophie eine klare Stufenfolge ihrer Produktionen sowie auch eine feste umgrenzte Richtung, nämlich vom Objekt zum Subjekt, wie es in der formalen Sprache der Zeit heißt. Und auch verkürzt er die frühe Philosophie Schellings auf ihre naturphilosophische Aufgabenstellung, der vielmehr die Transzendentalphilosophie zur Seite gestellt ist, die wiederum vom Subjekt zum Objekt fortschreitet und die Naturphilosophie notwendig ergänzt. 7 Was aber bei MerleauPonty unter dem Begriff »erste Natur« 8 als schellingsches Naturkonzept firmiert, ist die spätere Weltalter-Philosophie. Erst hier wird die Natur auf das gesamte Sein bezogen und zugleich als Abgrund bestimmt, wie Merleau-Ponty sachlich ganz richtig beschreibt. 9 Der Weltalter-Begriff des »barbarischen Prinzips«, den Merleau-Ponty vielleicht über seine Lektüre von Jaspers oder Löwith kennengelernt hat, findet in den Vorlesungen über die Natur erstmals Erwähnung. 10 Merleau-Ponty, Maurice, Die Natur. Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège de France 1956–1960, mit Anm. versehen v. Dominique Séglard (Hg.). Aus dem Französischen v. Mira Köller, München 2000, S. 62. 7 Vgl. etwa Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, System des transscendentalen Idealismus, in: ders.: Historisch-kritische Ausgabe im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen, Hermann Krings (Hg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 2005, Abtl. I., Bd. IX, 1, S. 30, wo Schelling die zwei Aufgaben der Philosophie programmatisch beschreibt: »Entweder wird das Objective zum Ersten gemacht, und gefragt: wie ein Subjectives zu ihm hinzukomme […] [o]der das Subjective wird zum Ersten gemacht, und die Aufgabe ist die: wie ein Objectives hinzukomme.« 8 Merleau-Ponty, Natur, S. 62. 9 Vgl. ebd. 10 Merleau-Ponty zitiert das »barbarische Prinzip« ebd., S. 63 nicht nach der früheren Weltalter-Fassung, die Manfred Schröter 1946 herausgegeben hat, sondern entnimmt das Zitat aus »Schellings sämmtlichen Werken« (vgl. Anm. 4). Sehr wahrscheinlich erschloss sich Merleau-Ponty den Begriff über die Sekundärliteratur. Merleau-Ponty hat sowohl Jaspers als auch Löwith für seine Vorlesung herangezogen. Beide zitieren das »barbarische Prinzip« nach der Fassung der »sämmtlichen Werke«. Vgl. Jaspers, Karl, Schelling. Größe und Verhängnis, München, Zürich 1955, S. 231. Vgl. Löwith, Karl, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, 2. Aufl., Stuttgart 6
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Allerdings wird die Interpretation dieser ontologischen Ebene etwas strapaziert, wenn sie Merleau-Ponty als direkte Auseinandersetzung mit Fichte auslegt. Sicherlich ist Fichte auch hier der Gewährsmann für eine Philosophie, die Schelling ablehnt. Wenn dieser auf die eine »Wurzel im prä-objektiven Sein« 11 verweist, hat er jedoch den fichteschen Ansatz längst verlassen. Fichtes Kategorie des »Ich« spielt keine Rolle mehr. Diese Wurzel geht tiefer, als durch das Verhältnis zwischen Ich und Nicht-Ich ausgedrückt werden könnte. Der transzendentale Idealismus ist ein Epiphänomen eines allgemeinen Idealismus, der die Wirklichkeit nihiliert. Es ergibt sich vielmehr gerade das Problem für die schellingsche Philosophie, wie diese den Übergang von einem prä-objektiven Sein zu einer Konstitution des Seins durch das Bewusstsein herstellen soll, – eine Aufgabe, der sich die Spätphilosophie Schellings annimmt. Merleau-Ponty erkennt scharfsinnig, dass die Figur der intellektuellen Anschauung, die er gleichwohl mit anderen Begriffen wie »Anschauung der Anschauung« 12 und – Heidegger ähnlich – »Ekstase« 13 belegt, eine Schlüsselrolle bei diesem Problem spielt. Doch besteht für Schelling nicht nur eine Gemeinsamkeit zwischen der intellektuellen Anschauung und der Ekstase, sondern auch eine entscheidende Differenz. 14 Ausdrücklich wird zwar die Figur der Ekstase in den Erlanger Vorlesungen als Nachfolgebegriff der intellektuellen Anschauung eingeführt. Doch diese stilisierte Kontinuität soll über 1956, S. 154. In der ersten Auflage seines Werkes hatte Löwith Schelling nur mit einem Absatz bedacht, den er in der zweiten Auflage auf mehrere Seiten ausdehnte. Vgl. Löwith, Karl, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Berlin 1935, S. 129. Eine Rezeption über die französische Schelling-Literatur ist eher unwahrscheinlich, zumal Merleau-Ponty die Dissertation von Jankélévitch nicht zitiert. Vgl. für dessen Verwendung des »barbarischen Prinzips« Jankélévitch, Vladimir, L’odyssée de la conscience dans la dernière philosophie de Schelling, Paris 1933, insbes. S. 59 u. S. 309. Eine eindeutige Feststellung der Rezeption scheint aber aufgrund der problematischen Überlieferung der Vorlesung schwer möglich. 11 Merleau-Ponty, Natur, S. 65. 12 Ebd., S. 71. 13 Ebd., S. 72. 14 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Initia philosophiae universae, 23a-c. Zitiert wird die Erlanger Vorlesung von 1821 nach dem Manuskript Schellings aus dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der vom Archiv erstellten Seitenangabe (Signatur: Schelling NL 103). Kleinbuchstaben neben der Seitenangabe beziehen sich auf eine Dreiteilung der Seite, die in der bald erscheinenden historisch-kritischen Ausgabe angewendet wird.
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Das barbarische Prinzip
die grundsätzliche Verschiebung hinwegtäuschen, die sich gleichwohl inhaltlich fassen lässt und die gerade die tiefergehende Begründung von Natur betrifft. Zwar wird das Ich auch im transzendentalen System permanent Strukturen ausgesetzt, derer es nie habhaft wird und die unbewusst bleiben. Der gesamtphilosophische Plan des Transzendentalphilosophen ist jedoch qua intellektueller Anschauung darauf ausgelegt, alles nachvollziehen zu können, was den Selbstbewusstseinsprozess auszeichnet. Demgegenüber bezeichnet die Ekstase ein radikaleres Außer-sich-gestellt-sein, eine Bewegung, die den Standpunkt des Wissens für einen absolut freien Standpunkt außerhalb des eigenen Wissens aufgibt oder, wie Schelling sagt, ›lässt‹ 15 . Die Figur der Ekstase bringt ein asynchrones Verhältnis zwischen Wissen und Nichtwissen auf den Plan, mit dem Schelling erst in die Lage versetzt wird, das Ungewusste als unabhängige Kategorie zu konzipieren. Gleichwohl handelt sich Schelling dadurch das Problem ein, nur durch die weitergehende Annahme einer Con-scientia oder Mit-wissenschaft wieder einen Grund schaffen zu können, der die zersetzende und versetzende Kraft der Ekstase neutralisiert und von dem aus sich ein neuer Entwurf entwickeln kann. In gewisser Weise weist diese neue Philosophie Schellings auf die richtige Stelle. Doch selbst wenn von dieser weiter fortgeschritten werden kann, bleibt sie als solche zunächst ohne Ort. 16 Während also der Transzendentalphilosoph in seiner Philosophie selbst nie zur Sprache kommt und diese Philosophie dem Plan nach unzeitlich und in sich abgeschlossen ist, versucht die spätere Philosophie Schellings, eine tatsächliche Genese zu rekonstruieren, die ihr Ende noch nicht kennt. 17 Merleau-Ponty differenziert also nicht zwischen dem Naturbegriff Schellings um 1800, der immer an die Transzendentalphilosophie Fichtes zurückgebunden bleibt, und der onto-theologischen Konzeption der Weltalter und der Spätphilosophie, welche die subVgl. zu Schellings Gelassenheits-Konzeption etwa ebd., 85b. Vgl. auch etwa Schelling, Die Weltalter. Fragmente, S. 133 f. Vgl. die immer noch sehr gute Dissertation von Ohashi, Ryosuke, Ekstase und Gelassenheit. Zu Schelling und Heidegger, München 1975. 16 Auf diese Ortlosigkeit, die letztlich eine Ortlosigkeit des Menschen ist, kommen wir am Ende des Beitrages zurück. 17 Dass Schelling später nahezu nur noch als Lehrer und Dozent durch Vorlesungen wirkt, die stets die historische Stelle Schellings selbst zu verorten suchen, mag vielleicht auch mit seiner Abkehr von einer Philosophie begründet sein, die bloß in abstrakter Überschau spekuliert. 15
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jektivistischen Verkürzungen der Transzendentalphilosophie zu überwinden sucht. Tatsächlich aber ist es eine noch offene Frage der Forschung, wie die Naturphilosophie in die spätere Philosophie Schellings zu integrieren ist. Das wohl unbeabsichtigte Angebot MerleauPontys, die produktive Natur der Frühphilosophie gleichsam dem transzendentalen Bewusstsein zu entreißen, besticht dabei durch seine Attraktivität, eine Kontinuität im Denken Schellings auszuweisen, wo bisher der entscheidende Bruch in seinem Denken gesehen wird. Zugleich aber verbirgt sich dabei auch ein strategisches Interesse Merleau-Pontys selbst. Sei es doch die Aufgabe der vollendeten Phänomenologie, »jene Seinsarten unterhalb unserer Idealisierungen und Objektivierungen« zu enthüllen, die zurückbleiben, wenn der »überschwengliche Versuch, alles den Regeln des ›Bewußtseins‹ zu unterwerfen« 18 an seine Grenzen gelangt. Zudem offenbart sich darin auch ein Problem: Wie ist das barbarische und »wilde Sein« 19 in die Phänomenologie zu integrieren, die ihren Standpunkt nicht verlassen kann, die Dinge so zu beschreiben, wie sie sich dem Bewusstsein darstellen. Schelling und Merleau-Ponty haben dabei das gleiche Problem: Während es eine Herausforderung für Schelling ist, den Übergang von der metaphysischen Ebene zum Menschen darzustellen, muss Merleau-Ponty, aus der anderen Richtung kommend, erklären, wie der Übergang vom menschlichen Bewusstsein zu dem sich diesem nicht zu erschließenden Bereich vonstattengehen soll.
II.
Schellings metaphysikkritische Metaphysik
Bevor wir nun zu einem Lösungsansatz für dieses Problem übergehen, möchte ich kurz erläutern, wie sich die philosophischen Konzepte Schellings, auf die sich Merleau-Ponty beruft, darstellen lassen, wenn man sie von Schelling selbst her entwickelt. Der eigentliche Impuls für Merleau-Pontys Philosophie geht mithin von der späteren Philosophie Schellings aus, in der die Momente einer sich entziehenden Natur zu einer umfassenden Theorie des Unvordenklichen ausgebaut werden. Es wird sich zeigen, dass Schelling seine Philosophie,
Merleau Ponty, »Der Philosoph und sein Schatten«, S. 272 f. Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, Claude Lefort (Hg.), übers. v. Regula Giuliani, München 1986, z. B. S. 139.
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wenn auch nicht ausdrücklich, so doch aber implizit als neue Metaphysik verstanden wissen will. Schelling entwickelte spätestens ab Ende 1820 eine Philosophie, die er in eine negative Philosophie und eine positive Philosophie untergliederte. Diese Aufteilung veranschaulicht Schelling immer wieder, indem er der negativen Philosophie die Frage nach dem quid zuordnet, – was etwas ist; während die positive Philosophie die Frage nach dem quod zu beantworten habe, – dass etwas ist. Die negative Philosophie wird als eine Vernunftwissenschaft verstanden, die den Möglichkeitshorizont alles Seins zu umgreifen vermag, aber nicht schon etwa die Wirklichkeit selbst erfasst. Diese Begrenzung der negativen Philosophie richtet sich direkt gegen Hegel, der diese Grenze nicht einhalte. Wenn Hegel nach Schelling seine Logik zugleich auch immer auf die Wirklichkeit anwendet, ja präziser, dieser Logik durch Anleihen aus der Wirklichkeit die Selbstbewegung verleiht, die sie von sich aus gar nicht für sich beanspruchen kann, erweitert er den Geltungsbereich seiner Philosophie auf inadäquate Weise. Die negative Philosophie, in die Schellings Bekunden zufolge Hegels Philosophie einzuordnen wäre, kann daher nur zeigen, wie etwas begriffen werden kann, wenn es existiert. Die tatsächliche Existenz bleibt für diese Philosophie ein uneinholbares Außerhalb, kann aber als ein »negative(r) Begriff« erfasst werden, in welchem die Wirklichkeit als ein »nicht nicht Seyendes« 20 vorhanden ist. Die positive Philosophie setzt anders an. Zwar kann sie die negative Philosophie voraussetzen, weil sie nur durch diese begrifflich einholen kann, was ist. Die Tatsachen, mit denen sich die positive Philosophie beschäftigt, würden aber auch existieren, wenn es die negative Philosophie nicht gäbe. Insofern geht die positive Philosophie auf ein unvordenkliches Sein, gegenüber welchem das aus den Begriffen abgeleitete Sein nur sekundär ist; es ist ein »absolutes Prius« gegenüber einem bloß relativen Apriori der Vernunft. Erst dieses unvordenkliche Sein hat ein Leben und entwickelt eine wirkliche Geschichte. 21 Dieses primordiale Sein versteht Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Erstes Buch. Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie, in: SW II, 3, S. 70. 21 In Schellings berühmter, ersten Berliner Vorlesung von 1841 heißt es daher auch in eigener Sache: »Noch nie hat sich gegen die Philosophie eine so mächtige Reaction von Seiten des Lebens erhoben, als in diesem Augenblick.« Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Schelling’s erste Vorlesung in Berlin. 15. November 1841, Stuttgart, Tübingen 1841, S. 11. Vgl. auch Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Drittes Buch. Der Philosophie der Offenbarung zweiter Theil, in: SW II, 4, S. 363. 20
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Schelling als eine ewige Vergangenheit, als ein Werden, das sich, obwohl unmittelbar präsent, zugleich immer schon entzogen hat und daher »überewige Ewigkeit« 22 ist. Schelling sieht diese Philosophie gerade nicht in Kant und dessen Nachfolgern, sondern in der so genannten ›alten Metaphysik‹ gegründet. Aus der Scholastik übernimmt er daher auch die Begriffe des quid und quod. Die alte Metaphysik krankt jedoch daran, ihr absolutes Prius als eine absolute Notwendigkeit zu begreifen, die jede Form lebendiger Geschichte ausschließt. Dagegen konzipiert Schelling das Prius als ein Bewegliches, das in sich eine Veränderung vornehmen kann und vornimmt. Schellings Entwurf soll – ohne dass er dies ausdrücklich fordert – als eine neue Metaphysik verstanden werden, die ein »neue[s] Bewußtsein« 23 begründet. Dieser Inaugurationswille führt dabei das Projekt einer ›neuen Mythologie‹ fort, das Schelling, Hegel und Hölderlin in ihrer Jugend verfolgten. 24 Nur wird, was dort als eine äußere Veränderung postuliert wird, hier nach innen gekehrt und in die Akte des Menschen eingeschrieben. Dazu sei ein Bild aus der Bibel 25 angeführt, das Schelling 1842/43 in seiner Vorlesung zur Begründung der positiven Philosophie verwendet, aber in eigentümlicher Weise umdeutet: Der ganze Bau menschlicher Dinge ist jenem Bilde vergleichbar, das der König von Babylon im Traume sah: dessen Haupt war von feinem Golde, seine Brust und Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden von Erz, seine Schenkel von Eisen, aber seine Füße theils Eisen, theils Thon; da aber die Füße zermalmet wurden, da wurden miteinander zermalmet Eisen, Thon, Erz, Silber und Gold, und wurden wie Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehete sie, daß man sie nirgends mehr finden konnte. Könnte man je aus dem Staate und öffentlichen Leben alles herausziehen, was darin Metaphysik ist: sie würden auf gleiche Weise zusammenbrechen. Wahre Metaphysik ist die Ehre, ist die Tugend, wahre Metaphysik ist nicht nur Religion, sondern auch die Ehrfurcht vor dem Gesetz und die Liebe zum Schelling, Initia philosophiae universae, 166a. Schelling, Begründung der positiven Philosophie, in: SW II, 3, S. 9. 24 Die »neue Mythologie« wird in dem Werk mit dem Titel »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« propagiert, das wohl wenige Jahre vor der Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert verfasst wurde. Vgl. zur Textkonstitution und zur Autorschaft insbes. Hansen, Frank-Peter, »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«. Rezeptionsgeschichte und Interpretation, Berlin 1989. Vgl. inhaltlich Frank, Manfred, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a. M. 1982. 25 Vgl. Dan. 2,31–35. 22 23
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Vaterland. […] Mit Mathematik, Physik, Naturgeschichte (ich verehre diese Wissenschaften hoch), mit Poesie und Kunst selbst lassen sich die menschlichen Dinge nicht regieren. Den wahren Verstand der Welt gibt eben die rechte Metaphysik, welche nur darum von jeher die königliche Wissenschaft genannt worden. 26
Interessant an dieser Darstellung ist nun einerseits die starke Emphase, mit der Schelling die Metaphysik als Kern der Philosophie, der Wissenschaften und der Welt beschreibt. Die Frage nach Schellings Ethik, die sich dem 21. Jahrhundert unweigerlich aufzudrängen scheint, mag hier ihre Antwort finden. Andererseits werden mit dieser Metaphysik zwei Aspekte genannt, die für die Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty erhellend wirken: Gesellschaft und Kunst. Merleau-Ponty hatte den Begriff des »barbarischen Prinzips« ja einem Zitat entnommen, das dieses Prinzip ausdrücklich als das Fundament einer Gesellschaft bezeichnete, ohne welches die Gesellschaft hässlich, leer und zusammenhaltlos werde. Doch diese Konnotationen greift Merleau-Ponty nun nicht auf, sondern entwickelt in der Folge gerade eine Ontologie, die sich an der Kunst orientiert. Schelling hingegen verabschiedet nun gerade in seiner Spätphilosophie diese systemübergreifende Option der Kunst. Kunst ist für den späteren Schelling nur noch eine untergeordnete Herangehensweise an Philosophie.
III. Kunst und das barbarische Prinzip in der Ontologie des wilden Seins In Schellings früherer Philosophie jedoch war dies anders. Kunst und die ›ästhetische Anschauung‹ garantierten erst die Vollendung des Systems von 1800. Vor dem Hintergrund der späteren Entwicklung der Philosophie Merleau-Pontys, die die Kunst verstärkt zur Erläuterung der Philosophie bemüht, vermag es kaum zu erstaunen, dass Merleau-Ponty dieser Kunstanschauung schon in seinen Vorlesungen zur Natur einen eigenen Abschnitt widmet. Merleau-Ponty beschreibt dort, nah an Schellings Schriften verbleibend, wie die Kunst »das Absolute [erreicht], weil das Bewußte in einem Augenblick das Unbewußte erreicht« 27 . Doch gibt Merleau-Ponty auch hier wieder 26 27
Schelling, Begründung der positiven Philosophie, in: SW II, 3, S. 27 f. Merleau-Ponty, Natur, S. 73.
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der schellingschen Frühphilosophie eine Wendung, die sich erst in dessen späterer Philosophie abzeichnen sollte: »Das Absolute in der Kunst ist diese Erfahrung einer mir überlegenen Natur« 28 . Die ästhetische Anschauung lässt aber dem Programm nach gar keinen Rest mehr zu, sie umfasst sowohl alles Subjektive wie Objektive und ist geradezu im Gegensatz zu den Äußerungen Merleau-Pontys darauf ausgelegt, die sich entziehende und unbewusste Natur zum Bewusstsein zu bringen. Die Natur ist in der Kunst – oder präziser: in der ästhetischen Anschauung – komplett eingefasst. Erst wenn Schelling seinen Naturbegriff modifiziert und mit einem Außerhalb der Vernunft identifiziert, erhält die Natur das, was man mit Merleau-Ponty ihre »Überlegenheit« nennen könnte, denn hier tritt die Möglichkeit auf, in welcher die Natur die Vernunft beherrscht. Da eine Verobjektivierung der Natur und des unvordenklichen Seins nicht mehr möglich ist, fällt für Schelling auch die Option weg, durch die Kunst eine Objektivierung der Natur überhaupt erlangen zu wollen. Nach 1800 sollte die Kunst dann bei Schelling auch nie wieder diese hohe Stellung innerhalb der Philosophie erhalten. Merleau-Ponty vereinigt nun in fruchtbarer Weise die beiden unterschiedlichen Konzepte Schellings. Dem phänomenologischen Ansatz als solchem steht die Transzendentalphilosophie des frühen Schelling noch am nächsten, die alles im transzendentalen Bewusstsein aufheben möchte. Gerade aber die allerspätesten Werke Merleau-Pontys elaborieren nun eine Ontologie des wilden Seins, die sich, das hat schon der Aufsatz über Husserl gezeigt, an der schellingschen Spätphilosophie orientiert. Merleau-Ponty folgt also – überspitzt formuliert – einerseits der Transzendentalphilosophie Schellings, wenn er seine Philosophie gerade auch in der Kunst münden lässt und folgt andererseits der Spätphilosophie Schellings, wenn er dieser Kunst, gleichwohl im Speziellen auf die Malerei Cézannes fokussiert, zutraut, zwischen dem Abwesenden und dem Anwesenden, dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren zu vermitteln, um gleichsam die Präsenz von ihrer Negativität her zu erklären. Dieser Bezug Merleau-Pontys auf Schellings metaphysikaffine Philosophie überrascht nicht unbedingt, denn schon 1947 hatte sich Merleau-Ponty dezidiert für eine Reaktivierung der Metaphysik ausgesprochen, die gegen den allgegenwärtigen Szientismus des 20. Jahrhunderts in Feld geführt werden müsse, um den scheinbar objektiven 28
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Ebd., S. 74.
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Gegenständen unserer Wissenschaften ihre »ursprüngliche Transzendenz und Fremdheit wieder[zu]geben«. 29 In Schelling findet Merleau-Ponty einen Bündnispartner, der, wie das obige Zitat aus der Begründung der positiven Philosophie zeigt, 30 die Metaphysik als notwendige Wissenschaft verteidigt, die erst den empirischen Wissenschaften ihre Legitimität verleiht. Ausgerechnet in Das Auge und der Geist (L’Œil et l’Esprit) gibt es nun keinen direkten Hinweis auf Schelling und auch nicht in den Entwürfen zu Das Sichtbare und das Unsichtbare (Le visible et l’invisible). Aber in den losen Arbeitsnotizen zu diesem, seinem letzten, unveröffentlichten Werk, findet man wieder den Hinweis auf das ›barbarische Prinzip‹. Der Platz, den Merleau-Ponty dem barbarischen Prinzip im Vollzug seiner Arbeit an seinem letzten Werk einräumt, entspricht also auch dem strukturellen Ort des barbarischen Prinzips in seiner Philosophie: das barbarische Prinzip liegt im Verborgenen und entfaltet von dort aus seine Kraft auf die spätere Ordnung. In dieser Arbeitsnotiz heißt es: Das Sinnliche, die Natur, sie transzendieren die Unterscheidung Vergangenheit-Gegenwart, realisieren von innen heraus einen Übergang des einen in das andere [A. B.: hier größeres Spatium] Existentielle Ewigkeit. Das Unzerstörbare, das barbarische Prinzip Eine Psychoanalyse der Natur machen: sie ist das Fleisch [chair], die Mutter. 31
So bruchstückhaft diese Notiz ist, zeigt sie doch nicht nur, dass Merleau-Ponty Schelling Ende 1960 wieder aufnimmt und das ›barbarische Prinzip‹ mit dem Naturbegriff engführt, ja diesen auf den vielleicht wichtigsten Begriff seiner späten Philosophie anwendet, den des ›chair‹, des ›Fleisches‹, der unmittelbar mit dem Begriff des ›chiasme‹ zusammenhängt. Darüber hinaus wird Natur als eine überzeitliche Unzerstörbarkeit definiert. Der Zeitbegriff von MerleauPonty lehnt die abstrakte Zeit ab und verpflichtet diese auf einen existentiellen Vollzug, ein Leben, welches sich unmittelbar generiert und entwickelt, eben eine ›existenzielle Ewigkeit‹. In dieser Ewigkeit Merleau-Ponty, Maurice, »Das Metaphysische im Menschen«, in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Christian Bermes (Hg.), Hamburg 2003, S. 47– 69, hier S. 69. 30 Vgl. das Zitat zu Anm. 26 in diesem Aufsatz. 31 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 335. Die Notiz stammt aus dem November 1960. 29
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kommen Gegenwart und Vergangenheit zusammen, oder genauer, sie werden erst gar nicht auseinanderdividiert. Der Abstraktionsprozess, der die Gegenwart von der Vergangenheit scheidet, ist nachträgliches Konstrukt des Denkens. In die Gegenwart der Natur ist deren Vergangenheit bruchlos eingezeichnet, die Vergangenheit wiederum trägt in sich zugleich die permanente Gegenwart. Schellings oben skizzierter Begriff einer ›überewigen Ewigkeit‹, die stets präsent und doch immer schon uneinholbar vergangen ist, lässt sich hier wiedererkennen. Das Problem, diese Natur überhaupt noch fassen zu können, meint Merleau-Ponty offenbar durch eine ›Psychoanalyse der Natur‹ lösen zu können. Sicherlich darf man diese im Gegensatz zu einer freudschen ›Psychoanalyse des Menschen‹ sehen. 32 Es ist daher nur konsequent von Merleau-Ponty, wenn sich seine Überlegungen auf eine Ontologie richten, die unter dem Bewusstsein des Menschen anzusiedeln ist. Die Traumata der Natur, wenn man sie so nennen möchte, sind dann auch nicht Ereignisse, die zu einem konkreten pathologischen Ergebnis führen. In den ontologisch zu analysierenden Konstellationen verquicken sich das Phänomen und seine Grundlage, ohne sich zu verletzen. Diese Psychoanalyse erschließt das Fleisch und das wilde, natürliche Sein, aus denen die geordneten Strukturen des menschlichen Bewusstseins emergieren. Ob dadurch eine Überwindung bloß subjektiver Weltdeutungen und der klassischen Dichotomien gelingt, bleibt allerdings offen. Psychologie muss vielleicht mehr als andere Methoden fürchten, subjektive Erschließungsparadigmen zu objektiven Tatsächlichkeiten zu stilisieren. 33 Während Schelling demgegenüber noch theologisch argumentieren konnte, um der Lebendigkeit der primordialen Strukturen wissenschaftlich Herr zu werden, bedient sich Merleau-Ponty einer neuen Psychologie, die das ontologische Fundament der Phänomenologie erschließen soll. Wenn Merleau-Ponty also über eine Psychoanalyse der Natur Schon in Merleau-Ponty, »Das Metaphysische im Menschen«, S. 51 wird die Psychoanalyse als legitime Fortsetzung der Gestaltpsychologie angesehen, die, geschützt vor ihrem eigenen Dogmatismus, zu einer wissenschaftlichen Psychologie weiterentwickelt werden könnte. 33 Psychologie wird von Schelling zwar als philosophische Wissenschaft anerkannt, aber ohne dabei Anspruch darauf zu haben, grundsätzliche Begründungen anstellen zu können. Vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Zweites Buch. Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie, in: SW II, 1, S. 300. 32
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nachdenkt, bleibt er gleichwohl den phänomenologischen Parametern verhaftet, die vom Bewusstsein ausgehen. Der darin implizierte Übergang in die Natur, die Leiblichkeit und das Fleisch, kann im Grunde das Problem des radikal Vorbewussten nie einholen. Mögen das Vorbewusste und Bewusste sich auch gegenseitig durchdringen, verbleibt die Erschließung des je anderen dennoch in einer Sphäre, die nie das Ganze haben kann. In gleicher Weise bleibt es auch bei Schelling ein Problem, das einmal spekulativ Erschlossene wissenschaftlich zu plausibilisieren, ohne sich dem ihm gerne gemachten Vorwurf des Anthropomorphismus auszusetzen. Die oben erwähnte Ortlosigkeit, in die sich Schellings Philosophie katapultiert, wenn sie jede Sphäre des Wissens verlässt, lässt sich für Schelling nur durch die Faktizität der geschichtlichen Wirklichkeit substituieren. Dieses quod der Geschichte lässt sich nicht abstreifen und der Mensch muss sich darin – kurz gesagt – an die richtige Stelle setzen. Schelling ist kein Phänomenologe, das macht Merleau-Ponty in dem eingangs Zitierten nur zu deutlich. Merleau-Ponty optiert gleichwohl für die gleiche Faktizität wie Schelling und kann ihn in dieser Hinsicht sehr wohl als Phänomenologen bezeichnen. 34 Die Leiblichkeit selbst wird als ein ›il y a‹, eine ursprüngliche Gegebenheit, definiert, die unabweisbar vorhanden ist. Also auch die omnipräsente Leiblichkeit ist als solche ortlos. Hier ist kein Raum, die Verflechtungen zwischen dem menschlichen Körper und der in ihn eingeschriebenen Leiblichkeit näher auszuführen. Die Ortlosigkeit der Leiblichkeit, wie sie sich zunächst einmal durch die Kunst – Kunst ist für Merleau-Ponty, was für Schelling die Ekstase – darstellt, wird aufgefangen durch eine Faktizität, ein »Gewebe des Seins«, das – wie es so schön heißt – »das Auge bewohnt, wie der Mensch sein Haus«. 35 Hier verschwistern sich Phänomenologie und Ontologie. Während Schelling noch der Tradition der Onto-theologie zugeordnet werden kann, 36 wird die Begründungsfunktion Gottes im 20. Jahrhundert zugunsten einer phänomengestützten Philosophie aufgegeben. Diese Onto-phänomenologie vermag ihren onto-theologischen Erbteil nicht allzu leicht abzuschüt-
Vgl. nochmals Merleau-Ponty, Natur, S. 65. Merleau-Ponty, Maurice, »Das Auge und der Geist«, in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Christian Bermes (Hg.), Hamburg 2003, S. 275–317, hier S. 284. 36 Heidegger, Martin, Schelling. Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) (Sommersemester 1936), Ingrid Schüssler (Hg.), GA Bd. 42, Frankfurt a. M. 1988, S. 88. 34 35
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teln, wenn sie grundsätzliche und prinzipientheoretische Überlegungen anstellen möchte. An Merleau-Ponty zeigt sich, wie die Metaphysik nicht nur der klassischen deutschen Philosophie buchstäblich in die Sachen selbst hineinwandert. Nicht mehr über der Natur, über der Physik, sondern – gar wortgetreuer – nach, unter oder hinter der Physik, wird eine Metaphysik installiert. Dies bedeutet nicht zugleich eine kritiklose oder – mehr noch – regelrecht unbewusste Übernahme des metaphysischen Erbes. Es ist eine modifizierte Metaphysik, die für diejenigen Momente reaktiviert wird, die sich in die klassische phänomenologische Disposition nicht ohne weiteres integrieren lassen.
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»Doch das Ding ignoriert uns und ruht in sich.« 1 Giorgio Morandis Stillleben – Eine Annäherung mit Maurice Merleau-Ponty Kristin Drechsler
I.
Beunruhigende Stillleben
Es sind gewöhnliche Haushaltsgegenstände, die das Zentrum der Malerei Giorgio Morandis bilden. Über viele Jahre hat der Maler in seinem Atelier eine Vielzahl an Vasen, Flaschen, Krügen und Büchsen angesammelt, 1 mit denen er sich in intensiven Malstudien eingehend befasste. Wie mühsam diese Studien waren, legen Berichte nahe, wonach er teilweise tagelang auf das rechte Licht wartete, bevor er überhaupt mit der Arbeit begann. 2 Weiter, dass er die Dinge, ehe sie auf die Leinwand übertragen wurden, in einem langwierigen Prozess in Formation rückte, sie teils bemalt, mit Materialien bespannt oder mit Farbe befüllt hat. Gelegentlich soll er auch ein Stück Pappe, wiederum entsprechend in den jeweiligen Farbklang getaucht, als »abschließenden Hintergrund« aufgestellt haben. 3 Für diese Vorhaben genügte ihm eine verhältnismäßig geringe Anzahl an Objekten. 4 Während den Dingen im Stillleben häufig eine ikonographische Bedeutung zukommt, 5 ist »das Karge und Lapidare« der Stillleben Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 372. Vgl. die dokumentarischen Abbildungen in: Giorgio Morandi. Ölbilder, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen, Kat. Haus der Kunst, München 1981, S. 95 f. 2 Ebd., S. 69. 3 Haftmann, Werner, »Giorgio Morandi ein exemplarisches Malerleben«, in: Giorgio Morandi. 1890–1964. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Radierungen. Kat. Kunsthalle Tübingen, Köln 1989, S. 9–23, hier S. 12. 4 »Meine Vorwürfe waren seit jeher auf ein engeres Gebiet beschränkt als die der meisten anderen Maler, so daß ich größere Gefahr lief, mich zu wiederholen. Ich habe, wie mir scheint, diese Gefahr dadurch vermieden, daß ich mehr Zeit und Überlegung darauf verwandte, jedes meiner Bilder als Variation des einen oder anderen Vorwurfs zu konzipieren.« Morandi in: Roditi, Eduouard, »Giogio Morandi«, in: Dialoge über Kunst, Frankfurt a. M. 1991, S. 191. 5 Vgl. Schneider, Norbert, Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit, Köln 1994. 1 1
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Morandis in der Geschichte der Gattung »ohne Vorbild«. 6 So würde hier der Versuch, sie als Repräsentanten einer metaphysischen Ordnung im traditionellen Sinne zu verstehen, nur begrenzt weiterhelfen. Hierfür sind nicht zuletzt Morandis eigene Stellungnahmen entscheidend. Dieser sprach davon, dass es ihm darum gehe, die »konventionellen Bilder«, die unseren Umgang mit den Dingen bestimmen, »niederzureißen«, und er wies eine metaphysische oder symbolische Deutung seiner Bilder entschieden zurück. 7 Auch sein Ausspruch, dem zufolge »nichts abstrakter, unwirklicher sein kann als das, was wir tatsächlich sehen« 8 , trägt in sich die Auffassung, dass die Bedeutungen, mit denen wir die Dinge bekleiden, zwar mögliche, doch keine letztgültigen Bestimmungen sind. Demnach würde die Auslegung der Dinge als Symbole (z. B. für Innerlichkeit, Ewigkeit) den Gehalt der Stillleben insofern begrenzen, als es hier offenbar gerade darum geht, die Weise, wie wir auf die Dinge blicken, zu thematisieren. Nicht also sind die Bilder als Aussagen über Dinge zu lesen, sondern als Thematisierung der Wahrnehmung von Dingen. Morandis Anspruch, die »konventionellen Bilder«, die unseren Umgang mit den Dingen bestimmen, »niederzureißen«, wird an den Stillleben erfahrbar. Denn wenngleich wir, einem ersten Eindruck folgend, in ihnen auf vertraute Dinge blicken, sind sie hier mit MerleauPonty gesprochen »weit mehr ein Abstoßungs- als ein Anziehungspol« 9 . So meinen wir zwar zunächst, auf klar identifizierbare Gegenstände zu blicken, doch gibt es einen Punkt, an dem wir uns an ihrer »geradezu schmerzhaften Präsenz« in den Stillleben stoßen. 10 Dieses Abstoßungsmoment steht in Verbindung mit einer eigentümlichen »Stille« 11 , die die Gemälde wie ein »besonderes Gehäuse« zu umgeben scheint. 12 Zunächst lädt jener Eindruck von »Stille«, der unter anderem dem harmonischen Gesamtton, in den die Dingstudien gefasst sind, geschuldet ist, zu einer meditierenden, verweilenden BeÖlbilder, Aquarelle, S. 66. Vgl. Roditi, »Giogio Morandi«, S. 180–199, hier S. 184 f. 8 Ebd., S. 187. 9 Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 274. 10 Growe, Bernhard, »›Cosiddetta realtà‹ : Die Unverfügbarkeit der Welt«, in: Ölbilder, Aquarelle, S. 61–75, hier S. 66. 11 Vgl. Raimondi, Giuseppe, Jahre mit Giorgio Morandi, Frankfurt a. M. 1990, S. 11 f. 12 Vgl. ebd., S. 11. 6 7
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trachtung ein. Mit der Zeit äußert sich jedoch eine beunruhigende Wirkung. So ist die Rede davon, dass Worte sich vor den Gemälden »auflösen« 13 und es zeigt sich, dass die Stillleben auch als irritierend und beinahe gewaltsam empfunden werden – wie dies der belgische Maler Luc Tuymans sehr deutlich zum Ausdruck bringt: »The stillness of these objects, and their blaring silence irritates the hell out of me« 14 . Es scheint fast so, als wäre die »friedliche Schar der Flaschen« 15 , wie Morandis Weggefährte Giuseppe Raimondi es einmal formulierte, am Ende gar nicht so friedlich. Freilich laden die Bilder zunächst durchaus zu einer Kontemplation ein, doch gibt es einen Punkt, an dem sie Unbehagen erzeugen und den Betrachter einschüchtern, mehr noch: erschüttern. 16 Dies stellt sich besonders dann ein, wenn es darum geht, die Bilder nicht nur genießend zu betrachten, sondern sie begrifflich einzuordnen. Dann erzeugen sie Irritation und Beunruhigung, da sich bei genauem Hinsehen plötzlich das, was wir auf den ersten Blick als »bekannt« deuteten, als unklar erweist. Wo wir gerade noch meinten Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs zu betrachten, vermeinen wir nun auf nichts als Farbflächen zu blicken. So drängt sich die Frage auf, was wir hier eigentlich zu sehen bekommen. Diese Uneindeutigkeit des Bildinhalts ist für die beunruhigende Wirkung, die von den Stillleben ausgeht, verantwortlich. Sie liefert uns zugleich einen Hinweis darauf, wie sich den Bildern angenähert werden kann. Anstatt diesen Schwebezustand aufzulösen, gilt es nunmehr, eine Annäherung zu versuchen, die sich nicht für eine Lesart entscheidet, indem sie zwischen »abstrakt« und »gegenständlich« wählt, sondern das Oszillieren zwischen Ding und Hintergrund begrifflich fasst.
II.
Merleau-Ponty und Cézanne
Bei diesem Versuch kann eine Auseinandersetzung mit MerleauPonty insofern fruchtbar sein, als er von Anbeginn seiner phänomenologischen Arbeit der Malerei eine besondere Aufmerksamkeit geVgl. Giorgio Morandi. A Retrospective, BOZAR Centre for Fine Arts, Brüssel 2013, S. 45. 14 Tuymans, Luc, »My Name Is Nobody«, in: A Retrospective, S. 195–199, hier S. 195. 15 Raimondi, Jahre mit Giorgio Morandi, S. 16. 16 Vgl. Jaccottet, Philippe, Der Pilger und seine Schale, München 2005, S. 9. 13
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schenkt hat. Ausschlaggebend ist hierbei für ihn, dass mit ihr eine Weise der Dingwahrnehmung anschaulich wird, die sich gewohnten Zuordnungen verschließt. Während sich der Wissenschaftler vor allem durch seine experimentierende Haltung den Dingen gegenüber auszeichne 17 , würden diese im alltäglichen Umgang für gewöhnlich »nur unter dem Blickwinkel der menschlichen Tätigkeiten, die in, mit oder an ihnen vorgenommen werden können«, 18 betrachtet. »Dinge« sind hier entweder als messbare Objekte oder aber als Gebrauchsgegenstände verstanden und das Verhältnis zu ihnen vorwiegend durch Gegenüberstellungen bestimmt. Die zunächst grob anmutende Unterscheidung von wissenschaftlicher, alltäglicher und künstlerischer Dingwahrnehmung will diese jedoch nicht einfach als entgegengesetzte Wahrnehmungsmodi vorstellen, sondern vielmehr darauf hinweisen, dass in Wissenschaft und Alltag stets eine Ebene der Erfahrung mitwirkt, die in der Kunst – und besonders in der Malerei – sichtbar werden kann. Er nennt dies die leibliche oder auch die primordiale Dingwahrnehmung. Namentlich ist es Paul Cézanne, mit dem dies für ihn anschaulich wird.
Abb. 1: Paul Cézanne, Nature Morte, 1895–98, Öl auf Leinwand, 68,5 � 92,7 cm, Rewald 804. Merleau-Ponty, Maurice, »Das Auge und der Geist«, in: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 275–317, hier S. 275. 18 Merleau-Ponty, »Der Zweifel Cézannes«, in: Sinn und Nicht-Sinn, München 2000, S. 11–34, hier S. 21. 17
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In dem vorliegenden Stillleben ist ein häufig bei Cézanne vorkommendes Dingszenario zu finden: Ein Tisch, Früchte, eine Schale, ein Vorhang, ein Glas und eine Karaffe. Im vorderen Bereich können drei Flächen unterschieden werden. Links ein gelbbräunliches Stück Tisch, in der Mitte eine weiße Serviette, rechts ein blaues Tischtuch. Die roten Äpfel bilden mit dem blauen Tuch und dem gelblichen Tisch einen farblichen Dreiklang. Die Karaffe spiegelt in sich die ganze Farbmelodie. Die braune Wand rückt ihr so nahe, dass sie auf sie abfärbt, auch die Schale tritt mit ihr in Austausch. Man kann von einem Ineinandergreifen der Farbe sprechen. Das Blau des Tuchs, das auf die Schale übergeht, hat das weiße Tuch an einigen Stellen erreicht. Zwischen dem Vorhang links und den drei roten Äpfeln tut sich eine Schwelle auf, so dass die Grenzen zwischen den Gegenständen verwischen. Unten Rechts ist die Decke durchlässig und durchzogen von Weiß, der Vorhang legt die Leinwand selbst offen. Vieles scheint angedeutet, unfertig, unruhig. Überall finden wir durchlässige Spuren, weiße Flecken. Ähnlich der Seherfahrung, die sich vor den Stillleben Morandis einstellt, schwankt hier der Blick zwischen gegenständlichem und abstraktem Sehen. Denn wenngleich wir zunächst meinen, Dinge klar identifizieren können, sehen wir uns mit einem ähnlichen Changieren zwischen Ding und Hintergrund konfrontiert. Bezogen auf das angedeutete Verwischen der Grenzen spricht Merleau-Ponty von einem »sich wölbenden Rand« der Gegenstände. Während der völlige Verzicht auf eine Kontur den Dingen ihre Identität rauben würde, bedeutet eine singuläre Demarkationslinie: »die Tiefe opfern, das heißt die Dimension, die uns der Gegenstand gibt, und zwar nicht als ein restlos vor uns ausgebreitetes, sondern als eine unausschöpfliche Wirklichkeit, die sich nie völlig preisgibt.« 19 Diesen »sich wölbenden Rand« der Gegenstände finden wir zwar nicht in derselben Form bei Morandi, wohl aber lässt sich auch hier weder von einer Trennungslinie zwischen den Dingen noch von einem Verzicht auf eine Kontur der Dinge sprechen. Wo man für gewöhnlich eine »Grenze« erwartet, gestaltet sich bei Cézanne und bei Morandi ein Ort des Übergangs. Als so einen Ort des Übergangs kann man auch das »Mittel aller Wahrnehmung«, den so genannten »Nullpunkt der Erfahrung« 20 bezeichnen: den Leib. 19 20
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III. Der Leib als Ort des Übergangs Warum an dieser Stelle auf den Leib Bezug genommen wird, liegt der Annahme zugrunde, dass sich die hier thematisierte Weise der Dingwahrnehmung nicht ohne eine Bezugnahme auf den Wahrnehmenden hinreichend klären lässt. Der Schwebezustand, den man mit der Uneindeutigkeit des Bildinhalts in Verbindung bringt, wirft den Betrachter auf sich selbst zurück. Es muss also gefragt werden, was es für die Wahrnehmung bedeutet, sich an einem solchen Ort des Übergangs aufzuhalten. Mit dem »Leib«, der auf das mittelhochdeutsche lîp zurückweist, ist eine wichtige Bestimmung angezeigt, die das Eigentümliche dieses Zustands verständlich macht. Anders als der Körper (lat. corpus, engl. corpse) kann der »Leib« nicht objektiv festgestellt werden. So lässt sich sagen, dass mit ihm eine erlebende Erfahrungsebene angezeigt ist. In dieser stehen wir den Dingen weder in einer reflektierenden Position gegenüber noch begegnen sie uns als in Handlungsketten eingefügte Objekte. Vielmehr sind sie »schlichte Präsenzen«, die sich uns fordernd und einladend entgegenstrecken. Leibliche Dingwahrnehmung kann also als Erfahrung verstanden werden, in der etwas unsere Aufmerksamkeit einfordert. 21 Entscheidend ist, dass dieses Einfordern von Aufmerksamkeit sich als wechselseitiger Akt gestaltet. Das heißt, dass davon ausgegangen wird, dass weder die Dinge noch der Leib einander im Akt der Wahrnehmung dominieren, sondern sich gegenseitig zu immer neuen Perspektiven anregen. Gerade mit der Malerei wird dieser Umstand sinnfällig, denn anders als der Wissenschaftler, der mit den Dingen experimentiert und darauf verzichtet, »ihnen beizuwohnen« 22 , nähert der Maler sich ihnen im leiblichen Kontakt lediglich an, verfügt jedoch nicht über sie. In MerleauPontys Worten: Der Maler wohnt den Dingen bei. 23 Unter einer leiblichen Wahrnehmung ist nicht äußerliche Beobachtung, sondern Anteilnahme und Begegnung der Dinge zu verstehen. Wenn im einleitenden Abschnitt auch nur kurz auf Morandis schen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Den Haag 1952, S. 56. 21 Vgl. hierzu: Waldenfels, Das leibliche Selbst, S. 368–370. 22 Merleau-Ponty, Maurice, »Das Auge und der Geist«, in: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 275–317, hier S. 275. 23 An anderer Stelle spricht er auch von einem »Einwohnen des Leibes«, MerleauPonty, Phänomenologie, S. 169 f.
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»Doch das Ding ignoriert uns und ruht in sich.«
Malpraxis eingegangen wurde, so ist dies ein wichtiger Hinweis darauf, dass hier die Dinge nicht in eine vom Maler vorgegebene Ordnung überführt werden. Man kann hier von einem Verhältnis der Parallelität im Akt der Wahrnehmung sprechen, wobei weder der Maler noch die Dinge zu irgendeinem Zeitpunkt die Oberhand gewinnen. Dies erfährt auch der Betrachter, der ein Sehen vollzieht, das vor der beunruhigenden Uneindeutigkeit nicht Halt macht, sondern in das Geschehen, das sich an den Rändern der Dinge ereignet, eintaucht. Sehen ist dann als leibliches Sehen zu verstehen oder als ein Einrichten im Bild, wobei der Sehende sich das, was er sieht, nicht aneignet.
IV. Leibliches Sehen Eine Frage, die sich mit den Stillleben Morandis stellt, ist diejenige nach dem Was des Bildes. Diese Frage wird jedoch nur dann zum Problem, wenn es darum geht, die Bilder in eine Ordnung einzufügen, die keine Uneindeutigkeit zulässt. Wenn es nur die Wahl zwischen Gegenstand und Hintergrund oder zwischen gegenständlich und abstrakt gibt, dann hat eine Annäherung, die sich mit Merleau-Pontys Cézanne-Rezeption andeutet, wenig Raum. Der Betrachter wäre dann derjenige, der darüber urteilt, wie das Bild zu sehen und damit zu deuten ist. Doch vor dem Hintergrund einer leiblichen Begegnung der Dinge lässt sich das Verhältnis Betrachter-Bild anders verstehen. Sehen, als leibliches Sehen verstanden, bedeutet keine Entschlüsselung einer symbolischen Bedeutung der Dinge. Wie sich bei Morandi die Auseinandersetzung mit der eigenen Seherfahrung und das Malen selbst sich nicht voneinander trennen lassen, so gilt dies auch für den Betrachter, dessen Betrachtungsweise sich nicht von der spezifischen Bild- und Gegenstandsstruktur ablösen lässt. Sehen meint dann dem Bild gemäß sehen. Morandi sucht nach den Elementen, die die Wahrnehmung strukturieren und somit die Weise, wie wir die Dinge sehen, bestimmen. Hierbei kommt den Dingen eine konstitutive Rolle zu. Wenngleich sein einziges Interesse an der sichtbaren Welt »den Raum, das Licht, die Farbe und die Formen« 24 betrifft, sind die Dinge nicht ein24
Giorgio Morandi, Brief vom 6. Januar 1957, in: Lamberto Vitali, Giorgio Morandi,
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fach Instrumente, diese Grundkonstanten der Wahrnehmung zu demonstrieren. Vielmehr zeigen diese sich überhaupt erst mit den Dingen. Dieser Dingbezug ist entscheidend für die Malerei Morandis. Erst in der radikalen Reduktion und Konzentration auf die bloße Gegenständlichkeit der Dinge entwickelt er sein malerisches Konzept. Somit darf man sich von der vermeintlichen Gegenüberstellung von Maler und Werk sowie von Betrachter und Bild nicht täuschen lassen, was bereits in den Erläuterungen zum Leib deutlich wurde. Diese Frontalstellung ist nur eine scheinbare. Wenngleich wir uns frontal vor dem Bild befinden, fordern die Stillleben von uns ein Hineinbewegen in die ihnen eigentümliche Dynamik, die sich als wechselseitiges Ein- und Ausrichten von Betrachter und Bild erweist. Hier sei erneut an die Verhältnisbestimmung von Ding und Leib erinnert. Dem Leib wird bei Merleau-Ponty als »Zugang zu den Dingen« eine fundamentale Rolle zugesprochen. Eine wichtige Bestimmung ist, dass der Leib den Dingen einwohnt. Für dieses »Einwohnen« stellt Merleau-Ponty eine Verschränkung von Bewegung und Wahrnehmung als grundlegend heraus: Die Bewegungserfahrung unseres Leibes ist kein Sonderfall einer Erkenntnis; sie eröffnet uns eine Weise des Zugangs zur Welt und zu Gegenständen, […] die es als eigenständig, ja vielleicht als ursprünglich anzuerkennen gilt. 25
Leibliches Sehen vollzieht sich nicht in Distanz zu den Dingen als ein unbeteiligter Beobachter. Der Sehende und die Dinge nehmen vielmehr gleichermaßen am gestaltenden Prozess Anteil. Hierbei ist gerade entscheidend, dass der Wahrnehmende sich permanent inmitten der Dinge orientieren, also einrichten muss. Ein Sehen, das in den Schwebezustand der Stillleben eintaucht und ihn nicht aufzulösen versucht, ist demnach nicht als linearer Akt zu verstehen. Vielmehr kann hier von einem Blick gesprochen werden, der sich bewegend im Bild einrichtet. Ein solcher Blick erhellt nicht nur, er wirft auch Schatten. Von hier aus kann nun erneut über das Was der Stillleben nachgedacht werden.
Mailand 1963, zit. bei Dittmann, Lorenz, »Cézanne und Morandi«, in: Ölbilder. Aquarelle, S. 40. 25 Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 169.
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V.
Morandis Stillleben als Sichtbarmachung einer Ordnung im Entstehen
Ein Blick, der nicht als Akt der Enthüllung von Bedeutungen verstanden ist, braucht sich nicht zwischen Ding und Hintergrund zu entscheiden. Vielmehr vermag er Anteil am Geschehen des Bildes zu nehmen, das sich hier als ein Wechsel von Erscheinen und Verbergen äußert. Sehr eindrucksvoll wird dies mit Morandis späten AquarellStillleben sinnfällig.
Abb. 2: Giorgio Morandi, Natura Morta, 1960, Aquarell, 16,2 � 20,7 cm, Pasquali, 39.
Die Dinge scheinen hier in einem Zustand zu sein, indem nicht klar ist, ob sie verschwinden oder aber gerade erst entstehen. Was wir sehen, könnte man als einen Zustand bezeichnen, in dem Bedeutung gerade erst entsteht: Es sind Dinge, die sein könnten, aber auch nicht sein könnten. Die Stillleben sind nicht nur verschlossen, sondern vor allem auch unabgeschlossen. Der Betrachter ist hier mit einer Situation konfrontiert, in der sein Auge sich permanent neu im Bild situieren muss und dies erklärt den auf den ersten Blick merkwürdigen Umstand einer Gleichzeitigkeit von Stille und Unruhe. Die Stillleben scheinen zwar versiegelt zu sein, ihre Abgeschlossenheit wird jedoch erst dann sinnfällig, wenn ein Blick da ist, der durch den Versuch, sich in ihnen einzurichten, wiederum mit einer unerschöpflichen Begegnung konfrontiert wird. Überwundene Metaphysik?
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Somit kleben die Dinge und ihre Erscheinungsweise in den Stillleben buchstäblich aneinander und bilden eine Ordnung, die sich selbst im Gleichgewicht zu halten scheint. Dies zeigt sich unter anderem daran, wie die Bildordnung aus der Anordnung von Flächen gestützt wird. So ist beispielsweise bei den in Blöcken zusammengerückten Dingen teilweise nicht mehr eindeutig festzustellen, ob es sich um Hintergrund, Vordergrund oder Ding handelt. Je nach der Weise, wie sich das Auge im Bild einrichtet, kann die Lesart sich wandeln. Einerseits scheinen die Gegenstände aus dem Bildgrund hervorzukommen, doch zugleich werden sie zurück- und zusammengehalten. So als wären sie stets nur im Begriff, sich zu zeigen, um sogleich dem Blick zu entschlüpfen und wiederum einem anderen Gegenstand Raum zu lassen. Merleau-Ponty spricht von einer »Rivalität der Dinge«, wonach sich ein Ding nur zeigen kann, indem es ein anderes verdeckt, die Dinge aber um meinen Blick streiten: »[W]ährend meine Augen an einem von ihnen haften blieben, spürte ich den Anspruch, den die anderen meinem Blick entgegenbrachten […]« 26 .
Dieser Umstand wird mit Morandi erfahrbar. Die Gegenstände lassen sich somit in der Logik des Bildes nicht als Singularitäten verstehen, sondern sie sind miteinander aufs engste verzahnt, lösen sich jedoch nie im Gesamtton des Bildes auf. Abschließend wird es jetzt möglich zu überlegen, wie man das mit »Ding« Angesprochene in diesem Zusammenhang verstehen kann.
VI. Das Ding als Ort des Übergangs Morandi formuliert den Zustand, in dem wir den Dingen außerhalb gewohnter Bedeutungen begegnen, nicht als eine tabula rasa, sondern als Erfahrung des Aufkommens und Vergehens von Bedeutungen. Es ist beinahe so, als würden wir mit einem verschwommenen Blick auf die Welt blicken. Wir sehen etwas, doch es ist nicht klar, was genau es ist. Das einzige, was offenkundig wird, ist der Umstand, dass etwas da ist. Es hat sich gezeigt, dass diese Sicht auch eine Neu26
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Merleau-Ponty, Maurice, Prosa der Welt, Berlin 1974, S. 75.
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bewertung dessen, was wir für gewöhnlich als Grenze verstehen, mit sich bringt. So finden wir zwischen den Dingen keine Demarkationslinie, die sie voneinander und von dem Raum um sie herum abtrennt, sondern die Dinge erweisen sich hier als Orte des Übergangs. So verstanden, sind sie keine abgetrennten Singularitäten, sondern »ein jeder Aspekt des Dinges, der in unsere Wahrnehmung fällt, bleibt eine Einladung, noch über ihn hinaus wahrzunehmen.« 27 Die Uneindeutigkeit des Bildinhalts erweist sich dann als treibende Kraft der Wahrnehmung. Wenn das Ding gänzlich erfasst würde, so Merleau-Ponty, »wäre es ohne jedes Geheimnis vor uns ausgebreitet. So aber hörte es im gleichen Augenblick, in dem wir glaubten, ganz in seinem Besitz zu sein, als Ding zu existieren auf«. 28 Nach Merleau-Ponty und Morandi ist ein Ding nur in seiner Unabgeschlossenheit und Offenheit.
VII. Schluss Wenn Stillleben immer auch Belege »eines Bewußtseins- und Mentalitätswandels« 29 sind, dann fragt sich, welcher Wandel sich mit Morandi ankündigt. Der Maler, der die Dinge von ihrer Zweckmäßigkeit befreit, befreit im Grunde auch sich selbst. So birgt hier jedes Stillleben die Möglichkeit einer kleinen Weltverschiebung. Dies insofern, als dass wir uns hier weder über die Dinge aber auch nicht nur vor sie oder unter sie stellen, sondern mit ihnen in einen produktiven Kontakt treten können. Morandi gestaltet die Dinge, indem er sie bewahrt. Und er bewahrt sie, indem er sie gestaltet. Auch der Sehende, wenn er sich der Welt der Stillleben öffnet, nimmt Anteil an jener bewahrenden Gestaltung. Dieses Bewahren steht einem gebrauchenden, verfügenden Umgang der Dinge entgegen. Ein Ding erweist sich hier schließlich als ein Ort des Übergangs. Wir sehen uns mit einem Zirkel aus Entstehen und Vergehen konfrontiert, wobei nicht auszumachen ist, wo diese Bewegung ihren Anfang nimmt und wo sie endet. Wenn der Dichter Philippe Jaccottet beschreibt, dass die Stillleben Morandis ein wenig so seien, »als er27 28 29
Ebd., S. 273. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 273. Schneider, Stilleben, S. 18.
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blickte man das Zittern des letzten Wortes, das von menschlichen Lippen ausgesprochen werden kann« 30 , so lässt sich vor diesem Hintergrund ergänzen, dass sie genau genommen wie das letzte und erste Wort zugleich sind. Sie sind mögliche Momente, in denen Bedeutungen hervorkommen, die jedoch nie einen finalen Schluss zulassen. Deshalb sind die Bilder so befremdlich, da wir einen Zustand hinnehmen müssen, der in uns Schwanken und Unsicherheit verursacht, da er kein Ende zu nehmen scheint und sich damit einer eindeutigen Zuordnung sträubt. Die tiefgehende Verwandlung des Sehens, die sich für Rilke mit Cézanne einstellt, trifft somit auch auf Morandi zu: »[…] und plötzlich hat man die richtigen Augen« 31 . Zum Abschluss soll in diesem Sinne noch ein anderer Verbündeter der einfachen Dinge zu Wort kommen: Francis Ponge, dessen Werk ganz im Zeichen einer »Parteinahme für die Dinge« 32 steht: Wenn ich schließlich doch mit dem Dasein einverstanden bin, so unter der Bedingung, es voll und ganz hinzunehmen, insofern es alles in Frage stellt; wie immer und so schwach meine Mittel auch sein mögen, […]; ich sehe nicht ein, weshalb ich nicht anfangen sollte, uneingeschränkt zu zeigen, daß es möglich ist, endlose Abhandlungen über die einfachsten Dinge zu schreiben, die aus ganz neuen, noch ungesagten Erklärungen bestehen würden, weil nämlich, um was es sich auch immer handelt, nicht allein noch nicht alles darüber gesagt worden ist, sondern noch beinahe alles darüber zu sagen bleibt. 33
Die Hinwendung zu den kleinen Dingen birgt einen Imperativ. Ihre verschlossene Präsenz gemahnt uns, aufzumerken, Abstand zu halten und sich mit Heidegger daran zu erinnern, dass die Möglichkeit höher als die Wirklichkeit steht. 34
30 31 32 33 34
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Jaccottet, Philippe, Der Pilger und seine Schale, München 2005, S. 64. Rilke, Rainer Maria, Briefe über Cézanne, Frankfurt a. M. 1983, S. 40. Ponge, Francis, Im Namen der Dinge, Frankfurt a. M. 1973. Ponge, Francis, Einführung in den Kieselstein, Frankfurt a. M. 1968, S. 145. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 38.
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Hannah Arendt, Edmund Husserl und die Phänomenologie Holger Sederström
Beansprucht die Phänomenologie für sich, eine Metaphysikkritik zu sein, so auch der Grundtenor der Konferenz, liegt die Pointe Hannah Arendts gerade darin, dass die Phänomenologie Metaphysik betreibe. Damit unterläuft Arendt das Selbstverständnis der Phänomenologie an ihrem entscheidenden Punkt – die Erneuerung der Philosophie durch die Erneuerung des Denkens, ein Anspruch, der in der Nachfolge Husserls durch Heidegger als Fundamentalontologie noch radikalisiert wurde. Andererseits wird Arendt als Phänomenologin angesehen, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit, die keiner einordnenden Begründung bedarf. Der nachfolgende Beitrag folgt der biografischen und im Anschluss daran der möglichen philosophischen Einbindung Arendts in die phänomenologische Schule und unternimmt von daher in Ansätzen eine Rekonstruktion des ambivalenten Verhältnisses Arendts zur Phänomenologie, die zugleich den Versuch einer Rekonstruktion phänomenologischer Methode im Denken Arendts umfasst.
I.
Einleitung
Zur Begrüßung auf der Konferenz zu Phänomenologie und Metaphysikkritik wurden Vertreter aufgeführt, die im weitesten Sinne zur Phänomenologie gerechnet werden können. Im Laufe der Aufzählung kam zur Sprache, dass »sogar Hannah Arendt« ein Platz in der Reihe der phänomenologischen Denker zugestanden werden kann. Dieses »sogar« apostrophiert bereits anschaulich das Zuordnungsproblem. Arendt steht singulär in der Philosophie und speziell im politischen Denken des 20. Jahrhunderts. Obgleich sie in ihrer Theoriebildung vielseitig in Anspruch genommen wird, scheint es, als käme sie aus einer philosophiehistorischen Leerstelle. Welcher philosophischen Schule ist sie zuzuordnen? Wo gehört sie hin? Von Überwundene Metaphysik?
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sich selbst sagend, sie betreibe politische Theorie und sei keine Philosophin, 1 steht bereits im Kontrast dazu, dass keiner der Lehrer Arendts sich in der Zeit ihres Studiums auch nur annähernd für Politik interessierte. Bei Karl Jaspers, dem späteren politischen Gewissen der jungen Bundesrepublik Deutschland, findet sich Ende der zwanziger Jahre eine kaum verhohlene Abneigung gegen alles politische, weil als begrenzt angesehene Denken und Handeln. 2 Und Martin Heideggers öffentliche Vorbehalte gegenüber der Politik – von der Phase ungeistigen Verfallenseins nach 1933 abgesehen – sind bekannt. 3 Edmund Husserl wiederum ist ein Philosoph, den wohl niemand auch nur in die Nähe politischen Denkens rücken würde. Eine »Philosophie als strenge Wissenschaft« lässt sich kaum mit den Unwägbarkeiten der Politik vereinbaren.
II.
Arendt und Husserl
So sehr vor allem die Bedeutung Heideggers in der Arendt-Forschung herausgestellt wird, weniger die Jaspers’, so wenig spielt Arendt in der Heidegger- oder der Jaspers-Forschung eine Rolle. Davon ist in weitaus stärkerem Maße auch die Husserl-Forschung betroffen. Hannah Arendt außerhalb der Arendt-Forschung zu präsentieren, verlangt demnach schon zwangsläufig nach einer biografischen Kontextualisierung mithin als Legitimation des inhaltlich Präsentierten. Gemeinhin läuft eine solche über ihr persönliches Verhältnis zu Martin Heidegger, seltener über ihr Studium und die lebenslange Freundschaft zu Karl Jaspers. Im vorliegenden Kontext ist es daher angemessen, Arendts Verhältnis zu Husserl nachzuspüren. Insofern versteht sich dieser Beitrag nicht nur als ein Beitrag für die ArendtForschung, sondern auch als einer für die phänomenologische ForArendt, Hannah, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München, Zürich 1996, S. 44. 2 Jaspers, Karl, Die geistige Situation der Zeit, Berlin, New York 1979, insbes. S. 78– 94. 3 In Sein und Zeit setzt Heidegger eine ebenso unscheinbare wie bezeichnende Pointe. Eine der Daseinsauslegungen, neben beispielsweise der Anthropologie, der Ethik, der Dichtung oder der Geschichtsschreibung sei die Politik. Und diese setzt Heidegger kommentarlos in Anführungszeichen (Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 16). Neben einem ebenfalls in Anführungszeichen gesetzten adjektivischen Gebrauch (ebd., S. 193) ist dies das einzige Mal, dass der Begriff Politik in Sein und Zeit überhaupt vorkommt. 1
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Hannah Arendt, Edmund Husserl und die Phänomenologie
schung, als Bestandsaufnahme und als Möglichkeit, Arendt näher zu bringen. Die Verbindung zwischen Arendt und Husserl ist spärlich. Arendt hörte nur ein Semester lang 1926 bei Husserl, nachdem sie vorher bei Heidegger und Jaspers studiert hatte. Nach der kurzen Zeit bei Husserl ging sie wieder zu Jaspers nach Heidelberg, um dort 1928 zu promovieren. In den 700 Seiten Briefwechsel mit Jaspers, dem bedeutendsten persönlichen Dokument Arendts, wird Husserl nur dreimal erwähnt, ausschließlich bezüglich des Verhaltens Heideggers 1933 Husserl gegenüber. Diese Passagen sind es, die in der ArendtLiteratur in der Hauptsache in Verbindung mit dem Namen Husserl aufgeführt werden, ausschließlich wiederum, um Arendts Verhältnis zu Heidegger zu thematisieren. Auch in ihren Denktagebüchern, einer Sammlung von Notizen und Reflexionen, spielt Husserl eine untergeordnete Rolle. Im Husserl-Archiv Köln sprach sie 1960 nicht über ihn, sondern über Lessing. Ihre veröffentlichten Schriften ignorieren ihn nahezu vollständig. Und wenn Arendt im eigenen Kontext von Phänomenologie schreibt, meint sie fast ausschließlich Hegel. Nur in wenigen Schriften fällt Husserls Name im erkennbar eigenen argumentationsrelevanten Zusammenhang. Diese weitgehende Abwesenheit Husserls bei Arendt korrespondiert mit der in der Arendt-Forschung. In dem Sammelband Hannah Arendt von 2008, der auf knapp 500 Seiten Schlüsseltexte der Arendt-Forschung der vorangegangenen 30 Jahre enthält, findet sich die Person Husserls nur dreimal – ausschließlich in marginalem inhaltlichen Zusammenhang. 4 Es werden Bücher über Hannah Arendt verfasst, ohne Husserl auch nur zu erwähnen. Der Eindruck drängt sich auf, dass keine Notwendigkeit besteht, Husserl im Arendt-Kontext näher zu beleuchten, insbesondere im angloamerikanischen Rezeptionsraum, in dem Phänomenologie ohnehin als eine eher exotische, kontinentale Form, Philosophie zu betreiben, angesehen wird. Überraschenderweise sind es dann, wie später gezeigt wird, gerade zwei angloamerikanische Forscherinnen, Margaret Betz Hull und Serena Parekh, die sich Edmund Husserl näher widmen. In der deutschsprachigen Literatur ist es fast singulär Dag Javier Opstaele, der Husserl und der Phänomenologie bei Arendt einen kontextualisierten Raum gibt. Auf alle drei Autoren wird später näher eingegangen.
4
Allen, Amy (Hg.), Hannah Arendt, Aldershot, Burlington 2008.
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Bei der ansonsten allgemeinen Abwesenheit Husserls ist zugleich in vielen Büchern über Arendt die Rede von ihrer Phänomenologie. Dieser Diskrepanz von nicht thematisiertem Einfluss Husserls und dem Apostrophieren einer arendtschen Spielart der Phänomenologie soll im Folgenden nachgegangen werden, beginnend mit der Zusammenstellung verwertbarer Äußerungen Arendts über die Phänomenologie und über Husserl, gefolgt von einer auf Husserl bezogenen Rekonstruktion von Phänomenologie bei Arendt. Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass Arendt der Phänomenologie, oberflächlich betrachtet, ablehnend gegenüberzustehen scheint.
III. Husserl bei Arendt explizit I Eine der wenigen Äußerungen Arendts zu Edmund Husserl und der Phänomenologie findet sich im Vorwort zum frühen Was ist Existenz-Philosophie?, 1946 auf Englisch, 1948 auf Deutsch erschienen. In diesem kleinen, fast literarischen Essay formuliert Arendt eine Kritik, die sie in späteren Schriften wieder aufgreifen wird, die Kritik an der berühmten Formel des Parmenides, die in Arendts Übersetzung lautet: »denn dasselbe ist Denken und Sein.« 5 Für Arendt ist an dieser Stelle ihres Werkes die Phänomenologie eine der »epigonalen philosophischen Strömungen«, die nach Hegel und seinem vorläufigen Schlusswort zur Philosophie erneut um die Einheit von Denken und Sein rangen. 6 Arendts Ablehnung der Phänomenologie erscheint kompromisslos, von einer Naivität Husserls ist gar die Rede. 7 Die daraus traditionell und selbst noch in neuerer Forschung abgeleitete Auffassung, dass Arendt von der Phänomenologie Husserls selbst »nicht genügend beeindruckt« gewesen sei und sie nur als »historisch einflussreich« ansieht, 8 birgt jedoch die Gefahr der Ver5 Arendt, Hannah, Was ist Existenz-Philosophie?, Frankfurt a. M. 1990, S. 6, vgl.: Arendt, Hannah, Vom Leben des Geistes. München, Zürich 1998, S. 137, S. 259. Es sei hier nur beiläufig erwähnt, dass Hannah Arendt Parmenides auf Altgriechisch – offenbar aus dem Gedächtnis – an zwei der drei Stellen recht frei und falsch zitiert, was sowohl den Herausgebern der Texte als auch der die Zitate übernehmenden Sekundärliteratur keine Kommentare wert sind. 6 Ebd., S. 7. 7 Ebd., S. 11. 8 Bajohr, Hannes, Dimensionen der Öffentlichkeit. Politik und Erkenntnis bei Hannah Arendt, Berlin 2011, S. 81.
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kürzung eines komplexeren Zusammenhangs. Denn schon biografisch gesehen sind es nicht nur die Vorlesungen bei Husserl, es sind auch die vorherigen Studien beim Husserl-Schüler Heidegger und die privaten so genannten Husserl-Abende, von Heidegger selbst »eine Art von ›Zirkel‹« genannt, 9 in denen eine Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie betrieben wurde. Nicht nur später an Jaspers, auch an Husserl hat Heidegger einen Empfehlungsbrief für Arendt geschrieben, der aber leider nicht erhalten ist. 10 Sie war also nicht nur über Heidegger mit Husserl vertraut, sondern mutmaßlich war es auch Husserl mit Arendt selbst. Der Widerstand gegen die Phänomenologie Husserls, der bei Arendt aufscheint und ihr in der Forschung zugeschrieben wird, speist sich in erster Linie aus eben ihrem Widerstand der philosophischen Identifikation von Sein und Denken und findet seinen Ausdruck in folgendem Satz: Husserl versuchte die uralte Beziehung zwischen Sein und Denken, die dem Menschen die Heimat in der Welt garantiert hatte, auf dem Umwege über die intentionale Struktur des Bewußtseins wiederherzustellen. 11
Literarischer formuliert: Husserls Phänomenologie sei der Versuch, »aus der unheimlich gewordenen Welt wieder eine [die alte] Heimat herauszuzaubern«. 12 Betrachtet man aber auch die anderen Äußerungen Arendts in diesem Zusammenhang, wird aus diesem Epigonalen der Phänomenologie zugleich etwas Revolutionäres: Denn nach Arendt war es Husserl, der die Philosophie »aus den Fesseln des Historismus befreit hat.« 13 Und wenn sie vom Historismus schreibt, meint sie nicht nur die aussichtslose Suche nach philosophischer Wahrheit in der Geschichte, sondern auch die versuchte Erneuerung der Philosophie durch historisierenden Rückgriff auf dieselbe, wie im Falle des Neukantianismus. Darin nun, den »phänomenal gegebenen Inhalt eines Vorganges von seiner Genese« abzutrennen, rückt Arendt zufolge Arendt, Hannah/Heidegger, Martin, Briefe 1925–1975 und andere Zeugnisse, Frankfurt a. M. 1998, S. 16 f. (Brief Nr. 6, Heidegger an Arendt, 21. 3. 1925), vgl. Anmerkungen S. 264 f. 10 Ebd., S. 33 (Brief Nr. 17, Heidegger an Arendt, 21./22. 5. 1925), vgl. Anmerkungen S. 270, S. 278. 11 Arendt, Existenz-Philosophie, S. 7. 12 Ebd., S. 9. 13 Ebd., S. 10. 9
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Husserl den Begriff des Menschen wieder in die Philosophie, es ist »nicht [mehr bloß] der geschichtliche oder natürliche oder biologische oder psychologische Ablauf, in den er verstrickt ist«. 14 Letztlich scheitert die Phänomenologie, so Arendt, zwar daran, dass der Mensch als Einzelner eben nicht Schöpfer seiner eigenen Welt ist und Denken und Sein daher nicht dasselbe sein können. Der phänomenologische Rekonstruktionsversuch von Denken und Sein, 15 die Konstitution von Welt in der Intentionalität des Bewusstseinsaktes, unterläuft Arendt gemäß nämlich die Welt, in der der Mensch unter seinesgleichen immer schon ist. Das befreiende Moment jedoch bleibt: Aus Husserls »zu den Sachen« 16 folgt ein zum Menschen. So wirkt Husserl als ein notwendiger und bedeutender Schritt zu einer conditio humana aus dem Denken selbst und nicht aus geschichtsphilosophischer Präskription. Der angesetzte Aspekt des Revolutionären findet sich wiederholt auch Jahre später in der Rede zu Heideggers 80. Geburtstag: Husserls »Sachen«, so heißt es dort, waren nun keine »akademische Angelegenheit« mehr, »sondern das Anliegen von denkenden Menschen«. 17 Husserl war der erste jener Rebellen, zu denen Arendt hier auch Heidegger zählt, die die Philosophie aus der Disziplinarität zurück in den Vollzug brachten. Es sei nur kurz darauf hingewiesen, dass Arendt, nicht nur in Was ist Existenz-Philosophie?, sondern auch in der Geburtstagsrede für Heidegger dessen Fassung der husserlschen Formulierung von den Sachen verwendet. 18 Sie befindet sich damit in einer Tradition, die erahnen lässt, wie sehr Husserl durch Heidegger verstellt ist. Das »Motto« der Phänomenologie wird größtenteils nicht aus den Logischen Untersuchungen zitiert, sondern aus Sein und Zeit: »Der Titel ›Phänomenologie‹ drückt die Maxime aus, die also formuliert werden kann: ›zu den Sachen selbst!‹« 19 Diese Heidegger-Paraphrasierung ist es, die als Husserls Ausspruch nahezu durchweg angenommen wird. Husserl selbst hat ihn mutmaßlich so nie getätigt: In den Logischen Untersuchungen heißt es:
14 15 16 17 18 19
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Ebd. Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Arendt, Hannah, Menschen in finsteren Zeiten, München, Zürich 1989, S. 174. Ebd., S. 173. Heidegger, Sein und Zeit, S. 27.
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Hannah Arendt, Edmund Husserl und die Phänomenologie
Bedeutungen, die nur von entfernten, verschwommenen, uneigentlichen Anschauungen – wenn überhaupt von irgendwelchen – belebt sind, können uns nicht genug thun. Wir wollen auf die »Sachen selbst« zurückgehen. 20
Eine ähnliche Formulierung findet sich Jahre später in Philosophie als strenge Wissenschaft: »Die Sachen selbst müssen wir befragen. Zurück zur Erfahrung, zur Anschauung […].« 21 Man könnte sich sprachanalytisch über die Präpositionen »auf« und »zu« streiten oder Heidegger vorwerfen, Husserl falsch zitiert zu haben – bedeutsamer scheint jedoch, dass es eben Heideggers Reformulierung Husserls ist, die berühmt wurde und nun wortwörtlich Husserl zugeschrieben wird – eine Reformulierung in einem Werk, dem Husserls Zuspruch bekanntlich verwehrt blieb. Schon in Was ist Existenz-Philosophie? findet sich also Arendts im Spätwerk expliziertes Interesse am Denken als Vollzug angelegt. Es wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass das Spätwerk durch Unzulänglichkeiten in der Rückschau auf Vita activa inspiriert ist. Wenngleich Arendt dies selbst zwar betont, 22 bleibt der Ansatzpunkt ein phänomenologischer: die Entkleidung des Denkens von seinen Ergebnissen. Es ist derselbe Ansatzpunkt, der schon für Vita activa eine Rolle spielte. Ihr berühmtes Buch über Arbeiten, Herstellen und Handeln lässt sich phänomenologisch verstehen: Was tun wir, wenn wir etwas tun? In Bezug auf die Frage nach dem Denken lautet sie: »Was ›tun‹ wir, wenn wir nur denken?« 23 Oder auch: »Was sind die Erfahrungen dieses Ichs, das denkt, das will, das urteilt, das, anders ausgedrückt, mit rein geistigen Tätigkeiten beschäftigt ist?« 24 Erst hier im Spätwerk wird dieses phänomenologische Interesse Arendts als an Husserl orientiert expliziert. – Von da her ließe sich Arendts Phänomenologie rekonstruieren, jedoch erfolgt eine solche Rekonstruktion gemeinhin nicht, ein phänomenologischer Zugang wird vorausgesetzt und als vorausgesetzt angewendet, aber nicht begründet.
Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen, Bd. 2. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Halle 1901, S. 7. 21 Husserl, Edmund, Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1965, S. 27. 22 Arendt, Ich will verstehen, S. 76. 23 Arendt, Leben des Geistes, S. 18. 24 Arendt, Ich will verstehen, S. 76. 20
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IV. Mutmaßungen über Arendt und die Phänomenologie Die Spielarten dessen, was weitgehend unreflektiert bei Arendt als Phänomenologie angenommen wird, reichen von der weitverbreiteten Kennzeichnung der »politischen Phänomenologie« bis hin zu Umschreibungen wie »Phänomenologie des Totalitarismus«, wie bei Seyla Benhabib,25 oder auch »existenzielle Phänomenologie«, wie bei Marco Estrada Saavedra. 26 Eine Explikation des fast immer adjektivisch bereicherten Phänomenologiebegriffs findet sich jedoch kaum. Annette Vowinckel überträgt ihn auf Arendts Geschichtsdenken, 27 womit ein weiterer Aspekt, eine Art »historische Phänomenologie« angerissen wäre. Doch auch hier ist nur von einer Übernahme die Rede, ohne auf Arendts Variante der phänomenologischen Methode abgrenzend näher einzugehen. Im konstatierten »Ersetzen« der »Geschichtswissenschaft […] durch einen phänomenologischen Zugang zur Geschichte […], wie er von Husserl und Heidegger entwickelt worden war«, 28 bleibt der Bezug auf eine mögliche Husserl-Rezeption Arendts, direkt oder durch Heidegger, unbetrachtet. Arendt selbst jedenfalls hat, in Bezug auf ihre eigene Theoriebildung, nie von Phänomenologie gesprochen, wenngleich es möglich bleibt, wie oben veranschlagt, eine solche zu rekonstruieren. Laut Elisabeth Young-Bruehl behauptete sie zwar, »eine Art Phänomenologin« zu sein, »aber, ach, nicht im Sinne Hegels – oder Husserls.« 29 Eine schriftliche Äußerung Arendts gibt es jedoch nicht. Dass statt Husserl nun aber Heidegger mit seiner phänomenologisch inspirierBenhabib, Seyla, Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998, S. 14. Benhabib rekurriert hier vor allem auf den Einfluss Heideggers, »Arendts Phänomenologie des Totalitarismus, […] ist Heideggers Sein und Zeit sowohl in ihrer kategorialen Struktur als auch in den speziellen phänomenologischen Beschreibungen verpflichtet.« Ebd., S. 121. 26 Estrada Saavedra, Marco, Die deliberative Rationalität des Politischen. Eine Interpretation der Urteilslehre Hannah Arendts, Würzburg 2002, S. 13, S. 116–123. 27 Vowinckel, Annette, Geschichtsbegriff und Historisches Denken bei Hannah Arendt, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 28. Der Hintergrund ist eine Analyse der Ähnlichkeiten der Geschichtsauffassung bei Arendt und Heidegger und der Einfluss der Phänomenologie wiederum auf jenen (ebd. S. 17–41). 28 Ebd., S. 340. 29 Young-Bruehl, Elisabeth, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 1991, S. 552. 25
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ten Existenzphilosophie maßgeblich für Arendt gewesen sein soll, bricht sich an einer bemerkenswerten Stelle aus den Denktagebüchern: Das Zu-den-Sachen-Selbst von Husserl hieß nicht nur: weg von den Theorien, sondern wesentlich auch: weg von den Büchern. Charakteristisch für Heidegger: Er war … den Büchern so verhaftet, dass er erst ein Leben lang brauchte, um in den Büchern die »Sachen selbst« zu entdecken, um schliesslich im Alter zu wagen, einen Text von sich selbst einem Seminar zugrunde zu legen. 30
Dies stellt auch die oben zitierte Rede zu Heideggers 80. Geburtstag in ein anderes Licht. Ohne den Einfluss Heideggers auf Arendt schmälern zu wollen, scheint es einen unterschwelligen Einfluss Husserls zu geben, der einen Anspruch an Unmittelbarkeit transportiert, hinter den Heidegger wieder zurücktritt. Selbst wenn man unterstellt, dass es Heideggers Variante einer hermeneutischen Phänomenologie ist, die über die Intentionalität von Bewusstseinsakten hinaus gehend nach der Entbergung von Sein selbst fragt, die Arendt gewissermaßen vorzieht, bleibt ungeklärt, inwieweit Arendts doch so unterschiedlich apostrophierte Phänomenologie in diesem Zusammenspiel von Husserl und Heidegger verortet ist. Dass sie »von der Phänomenologie Husserls und Heideggers inspiriert« worden sei, 31 ist leider oft das Einzige, das der Leser erfährt. Es war wohl Ernst Vollrath, der den Begriff der Phänomenologie in die Rezeption einbrachte, 32 in der er bis heute fortlebt. Arendt betrieb jedoch nie Phänomenologie als strenge Wissenschaft, so wie Husserl sie verstand. Einer der wenigen, die das formuliert haben, ist Heiner Bielefeld: Hannah Arendts Denkweise läßt sich in gewissem Sinne als »phänomenologisch« charakterisieren, wobei die spezifisch methodologischen Konnotationen einer philosophischen Phänomenologie allerdings ausgeblendet werden müssen. Sie lehnt methodologische Reflexionen nämlich ausdrücklich
Arendt, Hannah, Denktagebücher 1950–1973, Bd. 2, München, Zürich, 2002, S. 724 (Heft XXVI). 31 Benhabib, Hannah Arendt, S. 159. 32 Vollrath, Ernst, »Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens«, in: Adelbert Reif (Hg.), Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, Wien, München, Zürich 1979, S. 59–84, hier S. 66. Vollrath spricht hier erstmalig von einer »Phänomenologie des Politischen« (ebd.). 30
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ab, weil sie ihr von vornherein als Ausdruck von Weltentfremdung verdächtig sind. 33
Bei Dag Javier Opstaele, dem ersten wirklichen Referenzautoren für diese Betrachtungen, lässt sich eine Andeutung Husserls für Arendt ausmachen, wenn er davon schreibt, dass Arendts »Traditionsbruch«, die Standortlosigkeit des Geistes zwischen »Vergangenheit und Zukunft«, die philosophische Reflexion ihren Ausgang in einer Art Husserlschen epoché gegenüber allem theoretisch Vorgegebenen nimmt: Der Geist beginnt seine Tätigkeit damit, daß er von allen geschichtlich überlieferten Sinn- und Geltungsansprüchen, von allen vorgefaßten Meinungen und kulturellen Selbstverständlichkeiten absieht, damit das historisch Gegebene ihm in seiner politischen Besonderheit, jenseits aller theoretischen Verzerrung, »erscheinen« kann als das, was es von sich aus »ist«. Mit dem Begriff »Erscheinung« ist zugleich die zweite Bedeutung gegeben, die auf das Prädikat »phänomenologisch« verweisen soll. Es besagt hier, daß sich die philosophische Reflexion bei Arendt nicht mit den Gegenständen der empirischen Wirklichkeit befaßt, so wie sie in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben sind, sondern sich ausschließlich auf die Gegenstände der Erscheinungswelt bezieht, wie sie dem Geist dank der Einbildungskraft gegenwärtig sind. Schließlich soll mit dem Ausdruck »phänomenologisch« Hannah Arendts Vertrauen in die Macht der »kritischen Reflexion« herausgestellt werden, nämlich ihre Überzeugung, daß es möglich sei, mittels einer reinen Betrachtung des hermeneutisch Gegebenen zu dessen »Sinngrund« vorzudringen, wobei »rein« hier nicht nur unabhängig von Theorie und Empirie, sondern frei von jeglichem Zweck und Interesse bedeutet. 34
Obgleich ein viel zitiertes Buch, haben diese Betrachtungen Opstaeles, der eine Einbindung husserlscher Phänomenologie in Arendts Denken intendiert, keinen Widerhall gefunden. Letztlich aber lassen sich mit Opstaele erstens fast alle (politischen oder historischen) Ausführungen Arendts auf eine Anwendung der husserlschen epoché im Denken zurückführen. Der adjektivische Gebrauch von Phänomenologie in der Literatur zu Arendt hingegen verstellt den universellen Anspruch, der mit phänomenologischer Tätigkeit einhergeht. »Tätigkeit« ist in diesem Zusammenhang mit Arendt gebraucht: Wenn wir uns fragen, was wir tun, wenn wir tätig sind, ist diese Frage eine phänomenologische; in Absehung davon, worin diese Tätigkeit im Bielefeldt, Heiner, Wiedergewinnung des Politischen. Eine Einführung in Hannah Arendts politisches Denken, Würzburg 1993, S. 17. 34 Opstaele, Dag Javier, Politik, Geist und Kritik. Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, S. 216 f. 33
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Speziellen besteht. Statt also zu versuchen, eine bestimmte Spielart von Phänomenologie bei Arendt zu etablieren, lehrt uns der Rückgang auf Husserl, dass damit der Anspruch des phänomenologischen Ansatzes bereits wieder unterlaufen wird. Der zweite Aspekt, den Opstaele aufzeigt, findet seine Durchführung im Spätwerk und kann auch hier einem universalen Anspruch gerecht werden. In der Intentionalität des Bewusstseins liegt der Schlüssel für die phänomenologische Reflexion über das den Sinnen Gegebene. Arendts Verknüpfung von Phänomenologie und kantischer Erkenntnistheorie, hier das Moment der Einbildungskraft, im Weiteren Vernunft, Verstand und Urteilskraft, kann als Innovationsschub im philosophischen Denken angesehen werden, der seine kritische Würdigung noch nicht erfahren hat. Der dritte von Opstaele angesprochene Punkt erklärt sich bezüglich der Phänomenologie von selbst, schlägt jedoch auch wieder einen Bogen zu Kant: Phänomenologie entspräche in diesem Sinne einer Transformation des kantischen »interesselosen Wohlgefallens«, einer unverstellten Erkenntnisbewegung zum Gegenstand. Dies legt eine Deutung der Urteilskraft als diese phänomenologische Erkenntnisbewegung dar, die ihr den herausragenden Status sichert, um den Arendt sich, aufgrund ihres plötzlichen Todes leider unvollendet, bemüht hat. 35 Dieses »Vertrauen in die Macht der ›kritischen Reflexion‹«, wie Opstaele es nennt, korrespondiert mit dem, was Arendt »Wirklichkeitsempfindung« nennt, 36 und eröffnet ihr die Möglichkeit, die Phänomene, über die sie reflektiert, beispielsweise politische Phänomene, die den öffentlichen Raum überhaupt erst konstituieren, der wiederum diese bedingt, darzustellen, ohne methodisch darüber reflektieren zu müssen. Die bisweilen monierte Methodenarmut Arendts wäre somit nicht mehr und nicht weniger als das Vertrauen in die Phänomenologie. Dies kann nun auch erklären, warum erst im Spätwerk wieder offen von Phänomenologie die Rede ist. Erst hier vollendet sich der Bogen, der in der kleinen Schrift über Existenzphilosophie auf-
Arendt, Hannah, Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, München, Zürich 1985. 36 Arendt, Leben des Geistes, S. 59 f. Es liegt nahe, dass diese Umschreibung durch den »Wahrnehmungsglauben« aus Le visible et l’invisible Merleau-Pontys inspiriert ist, auf den Arendt wenige Seiten zuvor eingeht (ebd., S. 55). 35
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gespannt wurde und der von Arendts stetiger Beschäftigung auch mit phänomenologischer Reflexion zeugt.
V.
Husserl bei Arendt explizit II
Das Wirkliche in einer Welt der Erscheinungen zeichnet sich vor allem durch »etwas Stehendes oder Bleibendes« aus, das so lange währt, daß es Objekt der Erkennung und Anerkennung durch ein Subjekt werden kann. Husserls grundlegende und größte Entdeckung geht in letzter Ausführlichkeit auf die Intentionalität aller Bewußtseinsakte ein, d. h. auf die Tatsache, daß jeder subjektive Akt ein Objekt hat. 37
Es scheint Arendt wichtig zu sein, nach Jahrzehnten hier im Spätwerk Husserl erneut zu veranschlagen. Ihre Suche nach einer conditio humana – es sei daran erinnert, dass der Originaltitel der Vita activa im Englischen The human condition lautet – ist keine im Sinne einer philosophischen Anthropologie, sondern eine phänomenologische. Der für sie durch Husserls methodische Reduktion wieder aus seinen methodischen Verstrickungen befreite Mensch wird hier in seinen phänomenologischen Denkbewegungen betrachtet. Dies ist eine Betrachtung, die, wie gesagt, selbst schon wieder eine phänomenologische ist, dergestalt, dass sie nach der inneren Tätigkeit des Menschen fragt, entkleidet von präskriptiven Aspekten eines Erkenntnisinteresses. Arendt betreibt in Vom Leben des Geistes eine Phänomenologie des phänomenologischen »Bewusstseins«: Der erscheinende Mensch wird der denkende Mensch. Was durch Husserl als Methode und Anspruch (epoché) etabliert wurde, versteht sich für das Denken, und dies ist eine der bedeutendsten der unbeachteten Pointen Hannah Arendts, von selbst: Bei Husserl war die Aussetzung (epochē) dieses Gefühls [der Wirklichkeit] die methodologische Grundlage seiner Phänomenologie. Für das denkende Ich ist diese Aussetzung etwas Selbstverständliches und keineswegs eine besondere Methode, die gelehrt oder gelernt werden müßte; wir kennen sie als die ganz gewöhnliche Erscheinung der Geistesabwesenheit, die man bei jedem beobachten kann, der gerade von irgendwelchen Gedanken in Anspruch genommen ist. 38
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Die Geistesabwesenheit im bloßen Vollzug des Denkens ist phänomenologisches Tätigsein, unabhängig von »irgendwelchen Gedanken«, dem Denkinhalt. Wie die Phänomenologie bei Husserl eliminiert das Denken selbst, wie Arendt es versteht, alles Vorgängige, wirkt notwendigerweise zerstörend, unterminierend auf alle verfestigten Kriterien, Werte, Maßstäbe für Gut und Böse, kurz, auf die Sitten und Verhaltensregeln, die Gegenstand der Moral und Ethik sind. 39
Im Grunde sagt Arendt nichts anderes, als dass Husserl mit der Phänomenologie methodisch die Natur des Denkens als Tätigkeit herausgearbeitet hat. Das oben postulierte Vertrauen in die Phänomenologie ist demnach ein Vertrauen in das Denken selbst und bedarf, dies liegt in der Natur des Vertrauens, keiner methodischen Reflexion. Denn das Denken als Denken, als Tätigkeit, ist bereits in seinem eigenen Vollzug Methode, etwas, das nur als phänomenologisch bezeichnet werden kann, auch wenn der Denkende sich in der Konzentration auf den Inhalt des Denkvorgangs dessen nicht bewusst sein muss. Konzentriert sich die Forschung auf die Dialogizität des Denkens bei Arendt in ihrem Rekurs auf Sokrates, sollte dieser Parallelität zu Husserl mehr Beachtung geschenkt werden, will man der Natur des Denkens bei Arendt gerecht werden.
VI. Phänomenologie und Metaphysikkritik Dennoch, und hier beginnen die Schwierigkeiten und die Kritik, ist es immer der einzelne Mensch, der denkt. Das Denken der anderen kann der Einzelne aber nur unterstellen. Dadurch, dass ich es für mich bin, der denkt, und zwar allein, bleibt das Denken folglich »weltlos«. Es gibt – vorerst – keine Pluralität in der Tätigkeit des Denkens selbst. In der epoché liegt notwendig ein Verlust. Das »Gefühl der Wirklichkeit« 40 geht verloren, eine gemeinsame Welt lässt sich nicht denken, nur erleben. Dies liegt im notwendigen Rückzug von der Pluralität des Gegebenen im Sinne einer eidetischen Reduktion begründet. Die Grenzen des Denkens und damit die Grenzen der Phänomenologie liegen nach Arendt in der Unbeweisbarkeit einer allen gemeinsam gegebenen und somit pluralen Wirklichkeit. Und hier greift der schon 39 40
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früh formulierte Metaphysikvorwurf Arendts an die Phänomenologie erneut: Ebenso wie das Denken als Tätigkeit ist die Phänomenologie als Methode nicht davor gefeit, in Metaphysik abzugleiten und dabei die nicht denkend und nicht phänomenologisch zu beweisende Vorgängigkeit der Welt zu unterlaufen. Das Denken ist ein Vorgang, der sich aus der Welt der Erscheinungen zurückzieht und gegebene Erscheinungen in mögliche Gedankendinge transformiert. Dadurch bekommt das Denken eine eigene Dynamik, die in der Möglichkeit liegt, andere Wirklichkeiten zu schaffen, etwas als anders zu denken. Dies wiederum lässt die Wirklichkeit zum Problem werden: Wenn andere Wirklichkeiten als Möglichkeiten denkbar sind, ist dann die erfahrbare, äußere Wirklichkeit mehr als nur eine von vielen denkbaren, möglichen? Oder gibt es gar eine Wirklichkeit, die wirklicher ist als die unsere? Denn diese, unsere, schließt Vieles aus, was denkbar ist und kann sich selbst, als Erscheinung, nicht hinreichend erklären, ohne das Denken zu Hilfe zu nehmen. Selbst der Glaube beruht auf der Denkbarkeit eines Gottes oder eines Jenseits. Analog zu der unbeantwortbaren Frage, warum wir leben, entzieht sich auch das Denken seinem Warum. Es liegt nun in der schon von Hume melancholisch und Kant kritisch formulierten Eigentümlichkeit des Denkens, über das hinauszugehen, von dem es seinen Ausgang nimmt, den sinnlich gegebenen Erscheinungen, es läuft darauf hin, nach den Ursachen zu forschen, die unserer wahrnehmbaren Wirklichkeit zugrunde liegen könnten. Diese Ursachenforschung trägt den Titel der Metaphysik. Arendts Metaphysikkritik betont nun das Problem, dass mit dem Zusammenbruch einer metaphysischen Erkenntnis auch die je abgeleitete Wirklichkeit obsolet wird. Ein nachmetaphysisches Denken, das die Welt nicht nach seinen Ergebnissen erst konstituiert, muss daher bei den Erscheinungen bleiben, von denen es ausgeht. Arendt möchte den metaphysischen Begriff der Ursache durch den des Untergrunds ersetzt sehen: Während der Ursache einer Wirkung der höhere Rang zugeschrieben wird, ist der Untergrund einer Erscheinung gleichrangig mit ihr, er erscheint nur nicht, »doch der springende Punkt ist, daß unsere philosophische Tradition aus dem Grund, aus dem sich etwas erhebt, die Ursache gemacht hat, die es hervorbringt […].« 41 Die Besonderheit des Untergrunds liegt aber vielmehr in den »Wir-
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kungen, also den von ihm verursachten Erscheinungen, und nicht in seiner Kreativität als solcher.« 42 Sein und Erscheinung stehen somit bei Arendt in einem phänomenologischen Zusammenhang und nicht in einer metaphysischen Ableitung. Physikalisch gesprochen: Der Aufbau der Materie aus Elementarteilchen ist keine Ursache für einen Tisch, sondern Teil des Tisches, ein Teil, der eben nur nicht erscheint, das Elementarteilchen ist Tisch in dem Sinne, dass das Teilchen, wenn der Tisch nicht mehr ist, seine Bedeutung für den Tisch verliert. Zwar bleibt es Teilchen in dem Sinne, dass es Teilchen eines anderen sichtbaren Gegenstandes sein kann. Aber es kann als Teilchen nicht Teilchen aller Gegenstände sein, dergestalt, dass sich alle Gegenstände auf ein Teilchen zurückführen lassen. Aber dies geschieht, in Anlehnung an Hannah Arendt, philosophisch mit dem metaphysischen Sein, einem Sein, das als etwas nur Denkbares die Ursache für Seiendes als etwas Einzelnes darstellt, ihm somit vorgelagert wird. Basierend auf Husserls »Intentionalität aller Bewußtseinsakte«, der »Tatsache, daß jeder subjektive Akt ein Objekt hat«, 43 welche sie auf das Angewiesensein des Objekts auf einen Zuschauer überträgt, kommt Hannah Arendt unter zusätzlichem Verweis auf MerleauPonty zur »Gewißheit, daß das Wahrgenommene unabhängig vom Wahrnehmungsakt existiert.« 44 – Dieser Wahrnehmungsglaube benötigt jedoch kein »Ding an sich«, sondern eine Erscheinung als Begründungsmoment dahin gehend, dass nur etwas auch anderen Erscheinendes als ein Etwas angenommen werden kann. Das Problem ist jedoch, dass dieser phänomenologische Zusammenhang nur Gültigkeit erlangt unter der Annahme von Welt, die methodisch nicht zu erfassen ist. Ohne diese Vorannahme ist jedes Denken ein metaphysisches Denken. Eine mögliche Lösung lässt sich mithilfe der Betrachtungen zweier schon erwähnter angloamerikanischer Autorinnen herausarbeiten: Margaret Betz Hull und Serena Parekh. Sie zeigen eine Auseinandersetzung, die Phänomenologie bei Arendt nicht einfach nur konstatiert, sondern in abgrenzendem Rückgriff auf Husserl Arendts Eigenständigkeit herausarbeitet.
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Eine Auseinandersetzung mit den von der restlichen Literatur häufig synonym gebrauchten Phänomenologien Husserls und Heideggers findet sich in Margaret Betz Hulls Buch The Hidden Philosophy of Hannah Arendt. 45 Betz Hull geht der Frage nach, worin sich die Phänomenologien Husserls, Heideggers und Arendts voneinander unterscheiden. 46 Damit unterläuft sie genau dieses oben beschriebene Selbstverständnis, das davon ausgeht, es sei schon durch die adjektivische Nennung eindeutig, worin Arendts Phänomenologie besteht. Aus ihrer längeren Analyse sei stellvertretend folgende Passage wiedergegeben: Within Husserl’s original phenomenological epoche, Arendt’s emphasis becomes impossible to understand. She improves too upon Heidegger’s use of phenomenology, because, although he succeeded in departing from Husserl, he did not go far enough. Heidegger’s phenomenology does attempt to avoid extreme solipsism, yet it is still guilty of bracketing certain fundamental aspects of everyday life that results in a distorted picture in Arendt’s eyes. Notably, he ignores the whole potentially political dimension and the whole interactive dimension of Dasein. 47
Betz Hull grenzt Arendt doppelt ab: durch Heideggers Abgrenzung gegenüber Husserl und Arendts Abgrenzung gegenüber Heidegger. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, der weiter unten wieder aufgegriffen werden wird, dass beide, Husserl und Heidegger, nicht »weit genug gehen«. Wie oben in der Passage aus den Denktagebüchern angedeutet, scheint es aber angebracht, eben nicht den Umweg über Heideggers Auslegung der Phänomenologie zu versuchen, sondern in Verbindung mit den Äußerungen Arendts in Was ist Existenz-Philosophie? und im Spätwerk einen Bogen um Heidegger herum direkt zu Husserl zu schlagen. Die Bedeutung der epoché als Natur der Tätigkeit namens Denken wurde oben ja bereits herausgestellt. Betz Hull, Margaret, The Hidden Philosophy of Hannah Arendt, London, New York 2002, S. 81–101. 46 »To claim that phenomenology is basic to the philosophies of Husserl, Heidegger, and Arendt is somewhat self-evident, but what may not be self-evident is how each utilizes phenomenology as distinct from each other, especially Arendt’s unique working of it. […] Husserl’s concern was to provide a basis for all the sciences through philosophy, and Heidegger sought what is meant by Being. Arendt distinguished her aim as, superficially, to discuss political action and, more deeply, to promote human plurality.« Ebd., S. 81, 83. 47 Ebd., S. 85. 45
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Eine weitere Auseinandersetzung findet sich bei Serena Parekh. Den Begriff der Intersubjektivität fokussierend vergleicht sie den Gebrauch bei Husserl mit dem bei Arendt und kommt zu folgenden Schlüssen: First, for Husserl, the world becomes common because we perceive, think about and understand the same world. For Arendt, the emphasis is on the co-constitution of the common, that we build the world in common both through action, fabrication, and judgment. […] Further, Husserl’s intersubjectivity is a way of understanding the objectivity of the world and thus of scientific knowledge. For Arendt, the intersubjective constitution of the common world does not lead to a Husseralian objectivity. […] Finally, and most importantly, Husserl’s emphasis is on the sameness of our experience, that intersubjectivity allows us to see that others are like ourselves. The other for Husserl is a modification of myself and thus inherently like me. Husserl’s sense of difference is always connected to the core transcendental ego, which is always the same. For Arendt, in contrast, we must remember that sameness is always tied to difference. Arendt denies the existence of a stable, core sense of self (a transcendental ego) but insists that we require others in order to understand who we are. Our ability to act in the common world is based on the fact that we are both alike (as Husserl stresses) and different – in other words, it is based on the idea of plurality. 48
Diese Passagen sind hilfreich für das Metaphysikproblem zwischen Arendt und der Phänomenologie Husserls. Die erste Aussage beschreibt, dass wir nach Arendt die Welt gemeinsam überhaupt erst konstituieren, die wir verstehen – dies ist die berühmte Unterscheidung Arendts von bloßem Lebendigsein und Welt. Durch die bloße Feststellung, dass ausnahmslos niemand allein auf der Welt ist, kann die Welt nicht einfach angenommen werden, entweder ist sie gemeinsame Welt oder sie ist gar nicht. Die Welt als gemeinsame Welt stiftet ihren Sinn eben dadurch. So wird eine bei Husserl zu verstehende und zu denkende Welt zu einem metaphysischen Konstrukt. Die zweite Aussage ergibt sich aus der ersten. Die Annahme, dass durch Intersubjektivität die Objektivität von Welt gewährleistet wird, geht mit dem Problem einher, dass die anderen in der Welt Subjekt und Objekt zugleich sind. Mit Arendt lässt sich daher eine Objektivität Parekh, Serena, Hannah Arendt and the challenge of modernity. A phenomenology of human rights, New York, London 2008, S. 71. In einer Fußnote zum Kapitel der zitierten Passage merkt Parekh übrigens an: »As such, this chapter focuses on Arendt’s difference from Husserl, a topic that has received much less attention.« Ebd., S. 187.
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von Welt nicht begründen, sie kann nicht ohne metaphysische Spekulation erfolgen. Das dritte Moment rekurriert auf Arendts Handlungstheorie aus der Vita activa. 49 In der durch Gemeinsamkeit konstituierten Welt ist es gerade die Pluralität der Handlungsgemeinschaft, die in der Voraussetzung der Gleichheit und Verschiedenheit der anderen mit und von einem selbst liegt; ohne diese Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Verschiedenheit wäre Pluralität und damit Handeln nicht möglich, denn Gleichheit ohne Verschiedenheit wäre nichts weiter als Einheit, ein Handeln in einer Einheit könnte auf nichts verweisen, und Verschiedenheit ohne Gleichheit wäre einfach nur etwas Fremdes ohne Bezugspunkt zum eigenen Handlungsraum. Durch das Zusammen von Gleichheit und Verschiedenheit zeigt sich, dass der Begriff der Pluralität selbst, so konstitutiv er auch für das Handeln ist, nicht an sich gegeben ist, sondern er wird während des Handelns als konstitutiv für das Handeln selbst erfahren. Dies lässt sich explizieren am Beispiel der Sprache, die auch nicht einfach gegeben ist, sondern die als Sprechen, das ein miteinander Sprechen ist, das Miteinander in der Sprache überhaupt erst aufzeigt. Die Verschiedenheit zeigt sich in dem Ansprechen des Gegenüber im Akt des Sprechens, die Gleichheit im Ansprechen können, verstanden werden und verstehen können. Die Pluralität zeigt sich in der Möglichkeit des miteinander Sprechens durch das Sprechen selbst. Durch das Anfangen der Handlung konstituiert sich die Pluralität, die das Handeln als Handeln sichert. Dieses Anfangen zieht sich durch das gesamte Denken Hannah Arendts und spiegelt sich wider beispielsweise in der Natalität, der Kommunikation oder in Revolutionen. Dass das Handeln selbst auf Sprache angewiesen ist, und dass sich in der Sprache das Verhältnis von Gleichheit und Vielheit zeigt, wird deutlich daran, dass, wenn es nur Gleiches gäbe, alles Sagbare schon gesagt wäre, hingegen, dass nur Verschiedenes ein Sprechen unmöglich machen würde. Daraus folgt jedoch auch das prinzipiell Uneinholbare eines Gegenstandes durch die Sprache – auch als Ausdruck dessen, dass der Gegenstand selbst nie Ziel der Rede sein kann, sonst wäre es das zweckgerichtete Sprechen eines homo faber, eine Art Bedienungsanleitung, somit gibt es im Gespräch selbst kein Ende. Diese enge Verknüpfung zwischen Sprache und Handeln manifestiert sich in
49 Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 2007, S. 213–317.
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Hannah Arendt, Edmund Husserl und die Phänomenologie
der immer schon gegebenen Unabgeschlossenheit beider. Die Unmöglichkeit einer endgültigen Bestimmung des Gegenstandes und die prinzipielle Unabgeschlossenheit einer Handlung stehen für die Offenheit in der Pluralität. Eine Pointe wird deutlich: Arendt treibt die Phänomenologie gewissermaßen auf die Spitze. Die Konstitution von Welt schließt eine objektive und endgültig zu denkende Erkenntnis von Welt, das Zusammengehen von Denken und Sein, aus. Damit unterscheidet sich Arendts Phänomenologie signifikant von der Husserls und Heideggers, die beide, in philosophischer Tradition von einem Ich ausgehen, und damit notwendig dieses Ich in einen metaphysischen Begründungszusammenhang setzen müssen. Dass Arendt ihre Vorgehensweise selbst nicht Phänomenologie nennt, mag in der historischen Bürde des Begriffs liegen, dass sie einer phänomenologischen Methode folgt, zeigt sich in der Konsequenz, die auf Pluralität gründende Unbeweisbarkeit der Vorgängigkeit von Welt eben nicht zugunsten des auf sich selbst bezogenen Erkenntnisinteresses des denkenden Subjekts zu opfern. Parekh, Betz Hull und Opstaele verdeutlichen anhand der pointierten Äußerungen Arendts in Was ist Existenz-Philosophie? und der mehr systematisch verwendeten Passagen aus dem Denken Arendts Kenntnis der Phänomenologie Husserls und deren Weiterentwicklung hin zu einer auf vorgängiger Pluralität von Welt basierenden Phänomenologie. Diese Phänomenologie erscheint als konsequent, insofern Arendt das nicht metaphysisch begründende Denken als ein phänomenologisch vorgehendes ansieht. Dabei nähert sie sich in vielfältigen Äußerungen Sokrates, Platon, Heidegger, Descartes und Kant, mit ihrem nachmetaphysischen Vorschlag, die innere Wirklichkeit des Denkenden phänomenologisch mit der Außenwelt zu versöhnen. Husserls Gedanke war es, dass die Intentionalität des Erkennenden das Objekt der Erkenntnis konstituiert. Die Wirklichkeit des Erscheinenden ist also erst einmal nur abhängig von dem Subjekt, dem es erscheint. Die Wirklichkeit des Denkenden bei Arendt speist sich daran anknüpfend aus den anderen in der Welt und den Erscheinungen der Welt. Für Arendt ist ausschlaggebend, dass einzig die Intentionalität anderer die Welt des Erscheinenden für uns garantieren kann. Intentionalität verweist in einer Welt der Erscheinungen auf andere in dieser Welt. In dieser durch die Forschung weitgehend vernachlässigten Aufnahme des Konzepts der Intentionalität durch Arendt für ihr Konzept der Pluralität, der immer Überwundene Metaphysik?
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schon gegebenen Gemeinsamkeit der In-der-Welt-Seienden, liegt eine in ihrer möglichen Bedeutung noch nicht erschlossene Quelle auch ihrer politischen Theorie.
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»In den Netzen des Spinnengeistes« Idealismus-Kritik als Gemeinsamkeit zwischen Phänomenologie und Frankfurter Schule Jens Bonnemann
Es fällt wohl nicht leicht, zwei philosophische Schulen zu finden, die in einem größeren Gegensatz zueinander stehen als die Phänomenologie und die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Letztere analysiert ihre Untersuchungsgegenstände in ihrem Verhältnis zum jeweiligen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang; erstere beschreibt sie dagegen in ihrem Verhältnis zum Subjekt, also so, wie sie dem Bewusstsein des Phänomenologen erscheinen. Dieses Bewusstsein, das für Edmund Husserl den absoluten Ursprung aller Sinngebung darstellt, 1 ist jedoch aus dem Blickwinkel der Kritischen Theorie gerade nichts »Erstes«, sondern vielmehr ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse, die alles Denken, Fühlen und Handeln des einzelnen Subjekts präformieren. 2 1 Vgl. Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, Hamburg 1992, S. 86: »Jeder erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein […] fällt in den Bereich der transzendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein konstituierenden«. Phänomenologie ist daher wesentlich eine »Selbstauslegung des Ego«, »die systematisch zeigt, wie das Ego sich als in sich und für sich Seiendes eines eigenen Wesens konstituiert; und dann zweitens […] eine Selbstauslegung im erweiterten Sinne, die von da aus zeigt, wie das Ego in sich vermöge dieses Eigenwesens auch ›Anderes‹, ›Objektives‹ konstituiert, und so überhaupt alles, was für es je im Ich als Nicht-Ich Seinsgeltung hat« (ebd., S. 88). 2 Die folgenden Überlegungen Max Horkheimers lassen sich implizit als eine Kritik am Absolutheitsanspruch des phänomenologischen Subjekts verstehen: »Dieselbe Welt, die für den Einzelnen etwas an sich Vorhandenes ist, das er aufnehmen muß und berücksichtigt, ist in der Gestalt, wie sie da ist und fortbesteht, ebenso sehr ein Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis. Was wir in der Umgebung wahrnehmen, die Städte, Dörfer, Felder und Wälder tragen den Stempel der Bearbeitung an sich. Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozeß, wie er in den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzulösen. Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des
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Während Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse der Husserl-Schule vorhalten, dass sie das Bewusstsein nur in seiner Abstraktheit und Isoliertheit berücksichtigt, wird aus phänomenologischer Perspektive innerhalb der Kritischen Theorie mit erfahrungsfernen Konstruktionen gearbeitet, weil unentwegt Sachverhalte ins Spiel gebracht werden, die sich gar nicht phänomenologisch ausweisen lassen: So wäre z. B. von »Gesellschaft« nur dann berechtigterweise zu sprechen, wenn sich zeigen ließe, dass und auf welche Weise ein solcher Sachverhalt wie »Gesellschaft« überhaupt phänomenal gegeben sein kann. Was das wechselseitige Verhältnis zwischen diesen so unterschiedlichen philosophischen Schulen betrifft, so lässt sich jedenfalls bilanzierend feststellen, dass die Phänomenologie die Kritische Theorie weitgehend ignoriert hat, während sich zwar umgekehrt – z. B. im Werk von Adorno – umfangreiche Studien zu Edmund Husserl und Martin Heidegger finden, die aber letztlich doch immer wieder auf den Vorwurf hinauslaufen, es handle sich bei der Phänomenologie um einen haltlosen Subjektivismus und Idealismus, der blind für gesellschaftlich-historische Zusammenhänge sei. 3 In den folgenden Überlegungen möchte ich zeigen, dass sich dennoch eine Gemeinsamkeit zwischen Repräsentanten dieser beiden unterschiedlichen Schulen finden lässt – und zwar eine solche, die keineswegs gering zu veranschlagen ist. So bringen einerseits Adorwahrnehmenden Organs«. Horkheimer, Max, »Traditionelle und kritische Theorie«, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 4. 1936–1941, Frankfurt a. M. 2009, S. 162–225, hier S. 173 f. 3 Vgl. hierzu Adorno, Theodor W., »Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien«, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt a. M. 1997, S. 7–245; ders., »Jargon der Eigentlichkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt a. M. 1997, S. 413–526. Jürgen Habermas, der Hauptvertreter der zweiten Generation der Frankfurter Schule, plädiert seinerseits für diskursive Argumentation und gegen phänomenologische Anschauung und damit für einen Wechsel vom Paradigma des Subjekts zu dem der Sprache. Vgl. vor allem Habermas, Jürgen, »Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie«, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1995, S. 11–126, insbes. S. 35–59. Das frühe Denken von Herbert Marcuse zeichnet sich hingegen durch den Versuch einer Vermittlung zwischen Heideggers phänomenologischer Existenzial-Ontologie und marxistisch orientierter Gesellschaftstheorie aus. Vgl. Marcuse, Herbert, »Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus« sowie ders., »Über konkrete Philosophie«, in: ders., Der deutsche Künstlerroman. Frühe Aufsätze. Schriften Bd. 1, Frankfurt a. M. 1978, S. 347–384, S. 385–406.
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no, andererseits die Phänomenologen Emmanuel Levinas und JeanPaul Sartre entschiedene Bedenken am Primat des objektivierenden Weltverhältnisses zum Ausdruck, das ihrer Ansicht nach nicht nur in Philosophie und Wissenschaft, sondern ebenfalls in den Bereichen des institutionellen und lebensweltlichen Handelns zu verhängnisvollen Entwicklungen führt. Insofern jenes objektivierende Weltverhältnis zum vorherrschenden Maßstab wird, kommt dasjenige, was dem Subjekt begegnet, gar nicht erst in seiner Einzigartigkeit, Heterogenität und Andersheit, sondern in erster Linie nur als Exemplar eines allgemeinen Begriffs in den Blick. Eine solche Objektivierung ist jedoch – und auch hierin sind sich die genannten drei Philosophen einig – nichts Unschuldiges, denn auf diese Weise wird das Gegenüber zugleich der Herrschaft des erkennenden Subjekts unterstellt. Infolgedessen besteht der gemeinsame Vorwurf darin, dass im Denken der abendländischen Kultur etwas Gewaltsames liegt, weil es eine Reduktion des Besonderen auf das Allgemeine bzw. eine Reduktion des Anderen auf das Eigene vornimmt. Schließlich sehen sowohl Adorno wie auch Levinas sogar einen engen Zusammenhang zwischen den Verbrechen des Nationalsozialismus und der abendländischen Rationalität. Ich möchte zunächst im ersten Teil dieser Studie auf die Überlegungen von Levinas eingehen, der nach einer Erfahrung jenseits aller Objektivierung und jenseits aller Begrifflichkeit sucht. Diese Position lässt an Konsequenz kaum etwas zu wünschen übrig, bringt jedoch – wie gezeigt werden soll – gravierende Probleme mit sich, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob der Ausweg aus jenem objektivierenden Weltverhältnis wirklich in einer strikten Opposition von Begrifflichkeit und Erfahrung liegt. Adorno hat diesen französischen Phänomenologen wohl nicht gelesen, aber seine Negative Dialektik lässt sich als Alternativvorschlag interpretieren, der von einer ganz ähnlichen kritischen Diagnose ausgeht. Im zweiten Teil soll Adornos Antwort auf den erwähnten epistemischen Reduktionismus im Mittelpunkt stehen, welche – anders als es Adorno wohl Levinas vorhalten würde – explizit die Gefahr eines Intuitionismus und Irrationalismus zu vermeiden versucht. Insgesamt bleibt diese Position jedoch recht programmatisch und skizzenhaft, und an keiner Stelle buchstabiert Adorno seine Gedanken wirklich mit jener Klarheit aus, die man sich hier wünschen würde. Vor diesem Hintergrund soll schließlich im dritten Teil dieser Studie dafür argumentiert werden, das späte Denken Sartres als eine Überwundene Metaphysik?
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Konkretisierung und Ausführung dessen zu interpretieren, was bei Adorno lediglich im Vagen verbleibt. Sartres Reduktionismus-Kritik richtet sich hauptsächlich an die Adresse der marxistischen und szientistischen Orthodoxie, und es fehlt ihr deutlich jene globale, kulturkritische Dimension, die sich bei Levinas und Adorno findet. Die Hauptintention, die Sartre mit seiner so genannten regressiv-progressiven Methode verfolgt, besteht darin, einen individuellen Menschen von seinem gesellschaftlichen Kontext her zu verstehen, ohne ihn darauf zu reduzieren. Darüber hinaus lässt sich dieses Projekt aber auch als einen Beitrag zur Beantwortung jener Fragen begreifen, die Sartre selbst in dieser Tragweite nicht formuliert, welche jedoch Levinas und Adorno geradezu ins Zentrum ihres Denkens gerückt haben.
I.
Eine Erfahrung ohne Begriff – Levinas und das Antlitz
Etwas auf den Begriff zu bringen, bedeutet für Levinas, das Andere seiner Andersheit zu berauben – und dabei handelt es sich nicht einfach nur um ein abseitiges Problem der Philosophen in ihrem Elfenbeinturm, sondern diese begriffliche Gewaltsamkeit des abendländischen Denkens stellt seiner Ansicht nach die Grundlage für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts dar, in denen sich die Gewalt des Menschen gegen den Menschen ausgetobt hat. 4 Der Begriff »fängt den Schock der Begegnung zwischen dem Selben und dem Anderen ab« 5 und erweist sich somit als ein Herrschaftsinstrument: Erkennen heißt, in dem entgegenstehenden Individuum, in diesem Stein, der verletzt, in dieser Kiefer, die in den Himmel ragt, in diesem Löwen, der brüllt, dasjenige überraschen, wodurch es nicht dieses Individuum hier, dieses Fremde hier ist, sondern wodurch es sich verrät, wodurch es dem freien Willen, der in jeder Gewissheit waltet, eine Angriffsfläche bietet, wodurch es erfasst und begriffen wird, in einen Begriff eingeht. 6
Das Besondere wird hierbei auf das Allgemeine reduziert: 4 Vgl. das Vorwort in Levinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Totalität, Freiburg, München 1993, S. 19–34. 5 Ebd., S. 50. 6 Levinas, Emmanuel, »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, in: ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg, München 1992, S. 185–208, hier S. 190.
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Das besondere Sein wird verstanden, indem man bereits einen Platz jenseits des Besonderen einnimmt; verstehen, das ist: sich auf das Besondere beziehen vermittelst der Erkenntnis, die immer Erkenntnis des Allgemeinen ist. 7
Das Erkennen steht also im Dienst des Willens zur Macht und betreibt eine Zähmung der Welt: Es macht aus dem Gegenüber zunächst ein Objekt und Thema, um es anschließend als Beute, Raub und Opfer behandeln zu können. 8 Die Ontologie als Erste Philosophie wird unter diesem Blickwinkel als eine »Philosophie der Macht« 9 ausgewiesen, die dem »Primat des Selben« verpflichtet ist: »Sie ist keine Beziehung zum Anderen als einem solchen, sondern die Reduktion des Anderen auf das Selbe.« 10 Aus diesem Grund gilt für Levinas: »Der Solipsismus ist weder eine Verwirrung noch ein sophistischer Trugschluß: er ist die eigentliche Struktur der Vernunft.« 11 Ein Ausweg aus einem solchen Solipsismus scheint kaum noch möglich, denn bereits »die Wahr-Nehmung nimmt sich etwas; der Be-Griff setzt diese besitzergreifende Bedeutung fort«. 12 Trotzdem gibt es für Levinas eine Erfahrung des Anderen, die verschieden ist von derjenigen, durch die es in das Selbe verwandelt wird, also eine Erfahrung, die nicht auf Identifikation hinausläuft. Es ist der andere Mensch, der sich dadurch auszeichnet, dass er nicht einfach nur das Objekt einer Erkenntnis ist, sondern vielmehr ein Gesprächspartner, dem ich antworte. 13 Als solcher ist er das einzige Seiende, dem ich nicht begegnen kann, ohne ihm diese Begegnung zugleich auch zum Ausdruck zu bringen. Insofern der Andere von sich her bedeutet, leistet er einen Widerstand gegen meine konstitutiven Vermögen. Diesen Widerstand nennt Levinas das Antlitz des Anderen, das also nicht mit seinem objektivierbaren Gesicht verwechselt werden darf. 14 Sicher geschieht das Erscheinen des Anderen
7 Levinas, Emmanuel, »Ist die Ontologie fundamental?«, in: ders., Die Spur des Anderen, S. 103–119, hier S. 109. 8 Vgl. Levinas, »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, S. 198. 9 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 55. 10 Ebd. 11 Levinas, Emmanuel, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1989, S. 38. 12 Levinas, Emmanuel, »Das nicht-intentionale Bewusstsein«, in: ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München, Wien 1995, S. 154–166, S. 157. 13 Vgl. Levinas, »Ist die Ontologie fundamental?«, S. 111. 14 Vgl. Levinas, Emmanuel, »Die Spur des Anderen«, in: ders., Die Spur des Anderen, S. 299–235, S. 220 f.; ders., »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, S. 199.
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auch in derselben Weise, in der alle Bedeutung in der Welt hervortritt: Er ist präsent innerhalb eines kulturellen Kontextes, von dem aus er verständlich wird. 15 Da das Antlitz jedoch immer auch von sich selbst her bedeutet, durchbricht es gleichzeitig als unabhängige Quelle des Sinns diesen kulturellen Kontext. Solange der Andere nur gesehen wird, bleibt er ein Noema innerhalb meiner Intentionalität. Wenn er hingegen in seiner Andersheit auftaucht, dann ist er ein Sich-Sagen, ein Sich-Ausdrücken. 16 Im Antlitz wird das Andere daher in seiner Andersheit erfahrbar; es ist Ausdruck und kein Phänomen, das an den Horizont des Miterscheinenden gebunden ist: Während das Phänomen bereits Bild ist, Manifestation, die gefangen ist in ihrer plastischen und stummen Form, ist die Epiphanie des Antlitzes lebendig. Sein Leben besteht darin, die Form aufzulösen, in der sich jedes Seiende, sobald es in die Immanenz eintritt, d. h. sobald es sich als Thema darstellt, bereits verbirgt. 17
Indem dieser Ausdruck sich meinen sinnstiftenden Vermögen entzieht, kann ich den Anderen nur passiv empfangen; ich konstituiere und begreife ihn nicht. Die Beziehung zum Anderen zu realisieren, ist daher für Levinas etwas völlig anderes, als diese Beziehung zu thematisieren. Eine solche Thematisierung würde bereits den Verlust der Andersheit darstellen. Denn sobald sich das Subjekt das Verhältnis zum Anderen als Korrelation vorstellt, reflektiert es sich schon aus dem Geschehen der sozialen Beziehung heraus. Das Antlitz gibt sich also nicht als Gesehenwerden, sondern es spricht – und dieser Widerstand gegen die Objektivierung stellt einerseits mein Können und meine Gewalt in Frage, andererseits macht er mich verantwortlich, weil er meine Antwort erwartet: Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir durch seine Nacktheit, durch seine Not, eine Anordnung zu verstehen gibt. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zur Antwort. 18
Sicher kann ich, wie Levinas fortfährt, mich weigern, die Bitte des Anderen zu erfüllen, aber der Tatsache, dass ich aufgefordert werde, kann ich mich nicht entziehen. Durch diese Verantwortung, die damit zur Quelle des Individuationsprinzips wird, werde ich überhaupt erst 15 16 17 18
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Vgl. Levinas, »Ist die Ontologie fundamental?«, S. 117. Vgl. Taureck, Bernhard, Lévinas zur Einführung, Hamburg 1991, S. 65. Levinas, »Die Spur des Anderen«, S. 221. Ebd., S. 224.
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als ein Ich eingesetzt. 19 Wie sich also herausstellt, liegt die »Menschlichkeit des Bewußtseins« für Levinas nicht in seinem Vermögen, sondern in »seiner Passivität, in der Empfänglichkeit, in der Verpflichtung gegenüber dem Anderen«. 20 Das Bewusstsein ist nun anders als in der philosophischen Tradition nicht mehr nur durch sein konstituierendes Ergreifen und Mit-sich-Identifizieren des Anderen definiert, sondern durch seine Offenheit für ein nicht-intentionales Bedeuten, für das Vernehmen eines nicht-konstituierten Anspruchs. Levinas geht also von zwei unterschiedlichen Weisen aus, in dem das Subjekt sich zum Anderen verhalten kann. In der Erkenntnis ist der Andere Phänomen, Objekt und Thema, das in einem historischsozialen Kontext eingeordnet wird. Im Unterschied dazu erkennt die wahre ethische Begegnung kein Objekt, sondern sie empfängt das Antlitz des Anderen, wobei dieses Antlitz keinerlei soziale Eigenschaften, ja mehr noch: überhaupt keine Eigenschaften irgendeiner Art aufweisen soll. Denn all das würde für Levinas ja bereits wieder den Rückfall in die objektivierende und identifizierende Einstellung bedeuten. Das Antlitz ist »abstrakt oder nackt«, »ohne jedes kulturelle Beiwerk«. 21 Die Andersheit beruht also auch nicht auf spezifischen Differenzen, denn in der ethischen Beziehung nehme ich nicht einmal die Augenfarbe des Anderen wahr. 22 In letzter Konsequenz wird das Subjekt also der Besonderheit des Anderen nur dann gerecht, wenn es jegliche Begrifflichkeit und Phänomenalität vermeidet, die zu seiner Objektivierung führen könnten. Aber wenn der Andere nur noch eine »Erfahrung ohne Begriff« 23 darstellt, wie könnte ich jemals ausschließen, dass der Appell des AnLevinas, Emmanuel, »Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe«, in: ders., Zwischen uns, S. 132–153, hier S. 138. Ich zu sein, bedeutet für Levinas daher: »Sich wegen seiner Daseinsberechtigung ver-antworten müssen, nicht unter Berufung auf die Abstraktion irgendeines anonymen Gesetzes, auf irgendeine juristische Einheit, sondern aus Furcht um den Anderen. Sind mein ›In-der-Welt-Sein‹ oder mein ›Platz an der Sonne‹, mein Zuhause nicht schon Ursurpationen eines Platzes, der anderen gehört, die von mir unterdrückt oder ins Elend gestürzt, in eine ›Dritte Welt‹ geschickt werden: ein Zurückstoßen, Ausschließen, Ausstoßen, Der-Kleider-berauben, Töten.« (Levinas, Emmanuel, »Vom Einen zum Anderen«, in: ders., Zwischen uns, S. 167–193, hier S. 181). 20 Levinas, »Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe«, S. 142. 21 Levinas, Emmanuel, »Die Bedeutung und der Sinn«, in: ders., Der Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 9–59, hier S. 41. 22 Levinas, Emmanuel, Ethik und Unendliches, Wien 1992, S. 64. 23 Levinas, »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, S. 206. 19
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deren von einem Henker ausgeht? Wie kann ich ohne Objektivierung feststellen, ob das Mich-Anrufen von einem Opfer oder einem Täter ausgeht? Um das zu unterscheiden, komme ich nicht umhin, den Anderen auch zu »begreifen«. Die Überprüfung der Berechtigung eines Anspruchs wird bei Levinas jedoch von dem starren Dualismus von Ethik und Objektivierung unterlaufen, 24 der entweder nur das eine oder das andere erlaubt. Für Levinas gibt es nur rückhaltlose Geiselschaft oder Gewalt. 25 Deswegen ist es nur konsequent, wenn er sogar die abwegige Auffassung vertritt, dass ich den Henker gewähren lassen müsste, wenn wir nur zu zweit wären. 26 Es scheint allerdings schon mehr als fragwürdig, ob ich einem Anderen überhaupt ohne jegliches Begreifen eine sinnvolle Unterstützung anbieten kann. Ist es nicht ganz im Gegenteil sogar nahe liegend, dass ich dem Anderen in seiner Andersheit – und das heißt doch offensichtlich auch: mit Sorgen und Ängsten, die ich nicht teile – nur gerecht werden kann, wenn und gerade weil ich ihn auch innerhalb seines sozialen Kontextes betrachte, in dem er sein Leben bewältigen muss? Dies setzt aber eben voraus, dass ich ihn nicht jenseits, sondern vielmehr vermittels einer bestimmten Phänomenalität erfasse. Wenn ich ihm helfen will, darf ich ihn nicht nur, aber ich muss ihn doch auch als ein Objekt begreifen. Einem Vertreter des moralphilosophischen Universalismus wie John Rawls ist häufig der Vorwurf gemacht worden, dass er aufgrund der Abstraktheit und Allgemeinheit seines Subjektbegriffs die Relevanz kultureller Differenzen nur unzulänglich in den Blick bekommt. 27 Aber auch Levinas, der im Unterschied zu Rawls nicht die Gleichheit, sondern die Andersheit betont, tut sich mit diesem ProVgl. Schnell, Martin W., Zugänge zur Gerechtigkeit. Diesseits von Liberalismus und Kommunitarismus, München 2001, S. 214: »Zwischen Ethik und politischer Gerechtigkeit ist keine Ergänzung oder ein Kontinuum, sondern ein Umschlag.« 25 Bei Levinas kommt die theoretische Einstellung ebenso wie die Suche nach einer Gerechtigkeit, die abwägt, thematisiert, Ansprüche vergleicht usw., deshalb ins Spiel, weil ein zweites Antlitz, also der Dritte auftaucht. Von nun an wird meine absolute Verantwortung für den Anderen relativiert. Vgl. zur Gerechtigkeit vor allem Levinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1992, Kapitel V sowie Krewani, Wolfgang N., Emmanuel Levinas. Denker des Anderen, Freiburg, München 1992, § 40. 26 Vgl. Levinas, »Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe«, S. 134. 27 Vgl. Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1998 sowie die für den Kommunitarismus wegweisende Rawls-Kritik von Michael Sandel in: Sandel, Michael, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982. 24
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blem schwer, weil er den Anderen so fremd und einzigartig, wie es nur möglich ist, zu denken versucht. Wenn jedoch jede allgemeine Bestimmbarkeit ausgeblendet wird, dann gibt es z. B. auch kein schwarzes Antlitz, das um Anerkennung in einer von Weißen dominierten Welt kämpft.
II.
Mit Begriffen über die Begriffe hinaus – Adorno und die Negative Dialektik
Während Levinas’ Philosophie einerseits von der Phänomenologie Edmund Husserls und Martin Heideggers, andererseits von der Dialogphilosophie Franz Rosenzweigs und Martin Bubers maßgeblich beeinflusst ist, bewegt sich das Denken Theodor W. Adornos auf dem Boden der Dialektik von Hegel und Marx. Beide Philosophen wenden sich mit ihrer Kritik an der Gewalt der Erkenntnis auch gegen die eigenen Wurzeln: So wie für Levinas das intentionale Bewusstsein, von dem sein Lehrer Husserl spricht, eigentlich doch nur ein Aneignungsverhältnis ist, das jegliche Andersheit zum Verschwinden bringt, so versteht der Dialektiker Adorno Hegels Philosophie geradezu als das Paradebeispiel eines Denkens, das mit aller Konsequenz die Identität von Begriff und Sache unterstellt. Aus diesem Grund interessiert Hegel nicht, was die Sache selbst ist, sondern nur, unter welchen allgemeinen Begriff sie sich subsumieren lässt. In der folgenden Passage aus der Rechtsphilosophie springt diese Erkenntnishaltung geradezu ins Auge: Indem ich einen Gegenstand denke, mache ich ihn zum Gedanken und nehme ihm das Sinnliche; ich mache ihn zu etwas, das wesentlich und unmittelbar das Meinige ist […]. Wie Adam zu Eva sagt, du bist Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein, so sagt der Geist, dies ist Geist von meinem Geist und die Fremdheit ist verschwunden. Jede Vorstellung ist eine Verallgemeinerung, und diese gehört dem Denken an. Etwas allgemein machen heißt, es denken. 28
Ein Denken, das die Sache mit dem Begriff restlos identifizieren will, nimmt folgerichtig nur diejenigen Qualitäten in den Blick, die die fragliche Sache mit anderen Sachen, die unter denselben Begriff fallen, gemeinsam hat. Daher spielen all diejenigen Qualitäten keinerlei Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M. 1986, S. 47.
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Rolle, welche die Einzigartigkeit und damit die eigene Identität einer Sache ausmachen. Adorno teilt überdies Levinas’ Einschätzung, dass das identifizierende Denken in letzter Konsequenz immer auch als ein Herrschaftsinstrument funktioniert, das Mensch und Natur unter Kontrolle bringt: Die Menschen distanzieren denkend sich von Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zu beherrschen ist. Gleich dem Ding, dem materiellen Werkzeug, das in verschiedenen Situationen als dasselbe festgehalten wird und so die Welt als das Chaotische, Vielseitige, Disparate vom Bekannten, Einen, Identischen scheidet, ist der Begriff das ideelle Werkzeug, das in die Stelle an allen Dingen passt, wo man sie packen kann. 29
Kurz, das Denken richtet seinen Gegenstand zu »wie die Arbeit ihren Rohstoff«. 30 Allerdings begnügt sich Adorno nicht damit, das identifizierende Denken als »Widerschein der realen Naturbeherrschung« 31 zu entlarven. Neben einer solchen eher moralischen Kritik macht er nämlich zusätzlich den Einwand geltend, dass die Identitätsthese ihrem eigenen Anspruch überhaupt nicht gerecht werden könne. Da jede einzelne Sache immer auch Eigenschaften besitzt, die nicht aus ihrem Begriff abgeleitet werden können, weiß man deshalb noch lange nicht alles über diese Sache, nur weil man sie einem Begriff zuordnen kann: Das Moment der Nichtidentität in dem identifizierenden Urteil ist insofern umstandslos einsichtig, als jeder einzelne unter eine Klasse subsumierte Gegenstand Bestimmungen hat, die in der Definition seiner Klasse nicht enthalten sind. 32
Obwohl sich die Bedenken gegenüber der Begriffsverwendung nicht von der Hand weisen lassen, können wir aber, wie Adorno feststellt, in der Philosophie auf Begriffe nicht verzichten, weil ohne sie ErHorkheimer, Max/Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1992, S. 46. Adorno vertritt die Auffassung, »daß die These von der Identität zwischen dem Begriff und der Sache eigentlich der Lebensnerv überhaupt des idealistischen Denkens, man kann sagen: des traditionellen Denkens überhaupt ist«. Adorno, Theodor W., Vorlesung über Negative Dialektik, Fragmente zur Vorlesung 1965/66, Frankfurt a. M. 2007, S. 37. 30 Adorno, Theodor W., Drei Studien zu Hegel. Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt a. M. 1997, S. 247–381, hier S. 268. 31 Adorno, Theodor W., Negative Dialektik. Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt a. M. 1997, S. 266. 32 Ebd., S. 153; vgl. hierzu auch Knoll, Manuel, Theodor W. Adorno. Ethik als erste Philosophie, München 2002, S. 208. 29
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kenntnis unmöglich wäre. Selbst wenn die Anwendung von Begriffen die Sache in ihrer Eigenart verstellen mag, ist doch für den Philosophen nichts gewonnen, wenn er nun stattdessen – nach dem Vorbild von Georges Braque, Pablo Picasso oder dem Dadaismus – die Sache selbst, also Stücke der Realität in seine philosophischen Texte hineinkleben würde. 33 Zwar hat es, wie Adorno bemerkt, immer Philosophen gegeben, die die Ansicht vertreten haben, man könne ohne jegliche Begrifflichkeit rein intuitiv zu verlässlichen Erkenntnissen kommen. Als Beispiele nennt er hier Edmund Husserl, Henri Bergson oder Søren Kierkegaard. 34 Und bestimmt hätte Adorno Levinas dieser Reihe wohl hinzugefügt, wenn er ihn gelesen hätte. Solche Philosophen unterstellen die Existenz einer völlig unmittelbaren, begriffslosen Erfahrung, die Adorno jedoch für eine reine Fiktion hält. Er selbst hingegen hält daran fest, dass jede philosophische Erkenntnis immer nur eine begriffliche Erkenntnis sein kann. Wenn es sich aber so verhält, liegt der Schluss nahe, dass alles Nicht-Begriffliche – wie z. B. das Antlitz bei Levinas – von einer ernsthaften philosophischen Untersuchung ausgeschlossen ist. Es ist allerdings ein Missverständnis, wenn man Adorno so liest, als wäre für ihn das Nicht-Identische – also dasjenige an der Sache, das nicht in ihrem Begriff aufgeht – etwas Unmittelbares, das der begrifflichen Identitätsbildung vorausgehen würde. Keinesfalls stehen Nicht-Identität und Identität in einem kontradiktorischen Verhältnis, sondern sind dialektisch miteinander vermittelt. 35 Das Nicht-Identische und Nicht-Begriffliche entspringt erst der begrifflichen Identität und zeigt sich deshalb auch nur in ihrem Schatten – »nämlich als das Vernachlässigte, das Ausgeschlossene«. 36 Kurz, ohne die Identität des Begriffs gibt es auch nicht das Nicht-Identische. Wenn das identifizierende Denken einen gefährlichen Reduktionismus darstellt und ein begriffsloses Weltverhältnis unmöglich ist, dann kann Adorno zufolge die Lösung nur darin bestehen, »über den Begriff mit dem Begriff hinauszugelangen«. 37 Eine Negative Dialektik, wie sie Adorno vorschwebt, hält durch ihr Eingedenken des Vgl. Adorno, Theodor W., Vorlesungen über Negative Dialektik, S. 95. Vgl. ebd., S. 106–110; Adorno, Theodor W., Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt a. M. 1997. 35 Vgl. Knoll, Manuel, Theodor W. Adorno. Ethik als erste Philosophie, München 2002, S. 204. 36 Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik, S. 105. 37 Ebd., S. 140. 33 34
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Nicht-Identischen an der Kluft zwischen Begriff und Sache fest und versucht auf diesem Weg, die »eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen« 38 zu verteidigen. Anstelle einer Subsumtion der Sache unter einen Begriff soll nun eine Konstellation von mehreren Begriffen erfolgen, die die Sache umkreisen und sie aus verschiedenen Perspektiven beleuchten, ohne sie auf eine einzige dieser Perspektiven zu reduzieren. Ein solches konstellatives Denken »belichtet das Spezifische des Gegenstands, das den klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist oder zur Last«. 39 Indem die Philosophie durch das konstellative Denken mit den Begriffen über die Begriffe hinausgelangt, soll es möglich werden, dass die Sache nicht nur als ein mögliches Exemplar einer allgemeinen Kategorie, sondern in ihrer Einzigartigkeit und Andersheit in den Blick kommt. Wie Adorno hervorhebt, existiert nicht nur die Möglichkeit einer Identifizierung, also einer Angleichung des Objekts an das Begriffsrepertoire des Subjekts, sondern das Subjekt kann sich umgekehrt auch auf das Objekt zubewegen, d. h. sich von ihm selbst etwas sagen lassen. Ein solcher Umgang mit dem Objekt wird als Mimesis bezeichnet und genauer als eine »Identifikation mit der Sache« charakterisiert. Im Unterschied dazu unternimmt das identifizierende Denken mit Hilfe der Begriffe eine »Identifikation der Sache« 40 . Konstellatives Denken zeichnet sich bei Adorno nun dadurch aus, dass die Begriffe selbst ein mimetisches Verhältnis zu den Sachen eingehen. Wie dies nunmehr geschehen soll, wird nicht genauer ausgeführt, aber immerhin wird deutlich, dass die Rede von der Mimesis nicht so aufgefasst werden kann, als würde Adorno nun selbst eine unmittelbare Gegebenheit der Sache beschwören. Vielmehr bewegt sich die Mimesis auf die Sache zu, indem sie gleichsam auf dem Rücken der Begriffe reitet. Man muss allerdings an dieser Stelle kritisch einwenden, dass das Verfahren eines solchen konstellativen Denkens an keiner Stelle wirklich ausbuchstabiert wird. Adornos erkenntniskritische Gegenposition bleibt daher alles in allem vage, abstrakt und allenfalls programmatisch. Der Entwurf einer Negativen Dialektik versteht sich einerseits als Gegenpol zur Geschlossenheit eines begrifflichen Identitätssystems, andererseits aber auch zu jeglichem Intuitionismus 38 39 40
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und Irrationalismus. Die Aufgabe der Negativen Dialektik besteht darin, mit Hilfe der Begriffe über die Begriffe hinauszugehen, also dem Heterogenen, Besonderen, Individuellen einer Sache zu seinem Recht zu verhelfen. Wenn die Philosophie auch an den Begriffen nicht vorbeikommt, soll es dennoch möglich sein, die Sache zu erkennen, ohne sie auf eine allgemeine Kategorie zu reduzieren. Eine genauere Antwort, auf welche Weise dies möglich sein soll, bleibt Adorno jedoch schuldig. Überhaupt wird auch gar nicht klar, auf welche Weise es denn ausgerechnet den identifizierenden Begriffen möglich sein soll, sich mimetisch den jeweiligen Objekten anzugleichen. Während Levinas den Anderen jenseits der Begriffe fassen will und Adorno nach einer Erfahrung sucht, die mit den Begriffen über die Begriffe hinauszugehen imstande ist, nimmt Sartre nun das Problem auf und stellt sich die Frage, wie ein Individuum mit Hilfe verallgemeinernder Erkenntnisverfahren in seinen gesellschaftlich-historischen Kontext eingegliedert werden kann, ohne dass auf diese Weise seine Individualität aus dem Blick gerät. Sartre stellt die Identität von Begriff und Sache in Frage, aber er teilt zudem auch die Auffassung, dass sich das Einzigartige an der Sache erst dann zeigt, wenn die identifizierenden Begriffe zum Einsatz gebracht werden.
III. Das individuelle Allgemeine – Sartre und die regressivprogressive Methode des Verstehens Wie Levinas und Adorno kritisiert auch Sartre das Primat der Erkenntnis, insofern es zu einem reduktionistischen Blick auf die Welt führt. Im Hinblick auf seine eigenen akademischen Lehrer schreibt Sartre in den dreißiger Jahren: Wir haben alle Brunschvicg, Lalande und Meyerson gelesen, wir haben alle geglaubt, daß der Spinnen-Geist die Dinge in sein Netz locke, sie mit einem weißen Seidenfaden überziehe und langsam verschlucke, sie auf seine eigene Substanz reduziere […]. Die mächtigen Kanten der Welt wurden von jenen eifrigen Diastasen zerfressen: Assimilation, Vereinheitlichung, Identifikation. 41
Sartre, Jean-Paul, »Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität«, in: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 33–37, hier S. 33.
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Obwohl Sartre wie auch später Levinas Husserl den Vorwurf machen, dass seine Philosophie letzten Endes doch innerhalb der Grenzen des Idealismus verbleibt, verstehen beide die Phänomenologie von Husserl und Heidegger zunächst als einen Befreiungsschlag, der es erlaubt, die Gegenwart der Dinge in ihrem ganzen Reichtum wieder zu entdecken: »Nicht in irgendeinem Schlupfwinkel werden wir uns entdecken: sondern auf der Straße, in der Stadt, mitten in der Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen.« 42 Mit ganz ähnlichen Worten beschreibt auch Levinas im Rückblick die Phänomenologie als einen Ausbruch aus der idealistischen Universitätsphilosophie: Das Subjekt verharrt nicht länger in der Unbeweglichkeit des idealistischen Subjekts, sondern findet sich in Situationen fortgerissen, die sich nicht in Vorstellungen, die es sich von diesen Situationen machen könnte, auflösen. […] Das Ich bleibt nicht in sich, um alles Andere in der Vorstellung zu absorbieren. Es transzendiert sich wirklich. 43
Der späte Sartre, dessen Philosophie vor allem in der Kritik der dialektischen Vernunft (1960) und den Fragen der Methode (1957) ihren Niederschlag findet, bleibt seiner Position aus Das Sein und das Nichts (1943) insoweit verpflichtet, als er die Individualität des Einzelnen hervorhebt und jegliches Denken ablehnt, das den Menschen nur als ein Objekt begreifen kann. Gleichzeitig verfolgt er aber anders als in seinem früheren Denken nun auch die Absicht, das Gewicht der sozialen Situation und damit dasjenige zu berücksichtigen, was die Welt dem Einzelnen antut. Für Sartre kommt es darauf an, sowohl die Klippe des Subjektivismus wie auch die des Objektivismus zu umschiffen, d. h. den einzelnen Menschen weder auf seine persönlichen Entwürfe noch auf seine gesellschaftlich-historische Verankerung zu reduzieren. Dieser Vorsatz einer Vermittlung zwischen Existentialismus und Marxismus kommt zum Ausdruck in der plakativen Parole: »Kierkegaard und Marx«. 44 Selbst wenn ich einen individuellen Menschen verstehen will, komme ich nicht daran vorbei, ihn als Produkt von soziokulturellen
Ebd., S. 37. Levinas, Emmanuel, »Intentionalität und Metaphysik«, in: ders., Die Spur des Anderen, S. 140–153, hier S. 148. 44 Sartre, Jean-Paul, »Das singulare Universale«, in: ders., Mai 68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 123–150, hier S. 149 – Hervorh. J. B. 42 43
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Verhältnissen in den Blick zu nehmen. Dennoch will Sartre keinem Objektivismus das Wort reden und macht zugleich die Nichtreduzierbarkeit des Individuums auf allgemeine Strukturen geltend. Im Unterschied zu Levinas und Adorno klagt er jedoch nicht die gesamte abendländische Rationalität an, sondern richtet seine Einwände lediglich gegen einen Reduktionismus, wie er explizit im Szientismus und im Marxismus vertreten wird. Worauf es Sartre dabei ankommt, zeigt sich sehr anschaulich in seiner Kritik an den Engführungen der marxistischen Literaturinterpretation. Dem orthodoxen Marxisten genügt es zu wissen, dass ein Buch von einem Kleinbürger geschrieben worden ist. Auf dieser Grundlage formuliert er dann, wie Sartre hervorhebt, sein Urteil, ohne sich diesen Kleinbürger oder das fragliche Buch selbst noch einmal genauer anzusehen. Sartre will gar nicht in Abrede stellen, dass es möglich ist, ein Individuum als Repräsentanten einer allgemeinen Kategorie – wie etwa »Kleinbürger« – zu begreifen. So gibt z. B. Paul Valéry unweigerlich in seinen Schriften seinen gesellschaftlichen Standort, seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, seine Familiensituation usw. preis. Zweifellos lassen sich seine individuellen Entwürfe in das Allgemeine eingliedern, aber – und hierauf kommt es Sartre maßgeblich an – es ist unmöglich, sie darauf zu reduzieren: Es besteht kein Zweifel darüber, daß Valéry ein kleinbürgerlicher Intellektueller ist. Aber nicht jeder kleinbürgerliche Intellektuelle ist Valéry. Die heuristische Unzulänglichkeit des heutigen Marxismus ist in diesen beiden Sätzen enthalten. 45
So wie Adorno insistiert, dass die Sache schon deswegen immer auch ein Nicht-Identisches ist, weil sie Eigenschaften besitzt, die nicht bereits in ihrem Begriff enthalten sind, so erklärt auch Sartre den Versuch für aussichtslos, aus einem a priori definierten Begriff wie »Kleinbürger« alle wesentlichen Qualitäten eines Individuums abzuleiten. Wenn an dieser Stelle die Terminologie aus der Negativen Dialektik ins Spiel gebracht wird, fällt die Parallele zwischen Sartre und Adorno deutlich ins Auge: Die Individualität oder Nicht-Identität von Paul Valéry erschließt sich nicht ohne Vermittlung der begrifflichen Identität »Kleinbürger«. In seiner Hermeneutik des Individuellen, die
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im Folgenden vorgestellt werden soll, greift Sartre auf allgemeine Identifizierungen zurück, um das Heterogene und Besondere eines Individuums zu erschließen. Mit Adorno gesprochen, ist sich Sartre völlig darüber im Klaren, dass die Nicht-Identität einer Sache nur in den Blick kommt, wenn zugleich die Identität der Sache mit dem Begriff ernst genommen wird. Um das Individuelle zu verstehen, darf das Allgemeine also nicht – wie Levinas es tut – ausgeblendet werden, weil das Individuelle sich eben ausschließlich im Verhältnis zum Allgemeinen zeigt. In einer solchen Dialektik von Nicht-Identität und Identität lässt sich in Erfahrung bringen, auf welche individuelle Weise Paul Valéry sein Kleinbürger-sein verwirklicht. Es würde also für Sartre ebenso wenig wie für Adorno einen Sinn machen, für ein grundsätzliches Erkenntnisverbot im Stile Levinas’ einzutreten. Im Mittelpunkt von Sartres dialektischer Anthropologie steht weder der isolierte Einzelne noch die soziale Situation, die sein Denken, Fühlen und Handeln prägt, sondern beides, also »der einzelne Mensch im sozialen Feld«. 46 Um sich diesem komplexen Phänomen zu nähern, entwickelt er eine regressiv-progressive Methode, die aufzeigen will, wie einerseits das Allgemeine das Individuum bestimmt und wie andererseits das Individuum das Allgemeine erlebt und es in seinen Entwürfen überschreitet: Wir werden die Methode existentialistischer Annäherung als eine regressiv-progressive und analytisch-synthetische Methode definieren; sie ist gleichzeitig ein bereicherndes Hin-und-Her zwischen dem Gegenstand (der die ganze Epoche als hierarchisierte Bedeutungen enthält) und der Epoche (die das Objekt in seiner Totalisierung enthält). 47
Die Untersuchung beginnt mit der regressiven Analyse, die ihren Ausgang von der Objektivation eines Individuums (eine Äußerung, eine Handlung oder ein Werk wie z. B. Flauberts Roman Madame Bovary) nimmt und versucht, seine Bedingungen aufzudecken, also vom Einzelnen zum Allgemeinen zu gelangen. Insofern betrachtet sie
Ebd., S. 144. Ebd., S. 160. Vgl. zur Bedeutung von Sartres Konzeption für die Hermeneutik: Frank, Manfred, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a. M. 1985; ders., »Archäologie des Individuums. Zur Hermeneutik von Sartres Flaubert«, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt a. M. 1989, S. 256–333; Maler, Eduard, Sartres Individualhermeneutik, München 1986.
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das Individuum, soweit es ein Produkt seiner Epoche ist und daher Objekt des Wissens sein kann. Da seine Epoche ihn durch den Sozialisationsprozess zu einem allgemeinen Menschen macht, ist der Einzelne niemals nur ein Individuum, sondern nimmt eine kollektive Weltsicht ein. Und gerade weil der Einzelne dadurch allgemein und damit objektiv ist, kann er von den Historikern, Ethnologen, Soziologen, Psychologen usw. erforscht werden. Dennoch ist der einzelne Mensch nicht nur das Produkt der Geschichte, also nicht nur das, was man aus ihm gemacht hat, sondern auch das Überschreiten der erlebten und im Entwurf aufgehobenen Objektivität: Sie [die Arbeit eines Menschen – Anm. J. B.] definiert ihn jedoch gerade insoweit, als er sie beständig durch seine Praxis überschreitet (in einer Volksdemokratie beispielsweise durch Schwarzarbeit oder als »Aktivist« oder im schweigenden Widerstand gegen die Normerhöhungen; in einer kapitalistischen Gesellschaft durch Beitritt zu einer Gewerkschaft, mit der Entscheidung für einen Streik usw.). Das Überschreiten ist also als Beziehung des Existierenden zu seinen Möglichkeiten zu verstehen. 48
Diesem Sachverhalt will Sartre nun mit der progressiven Synthese gerecht werden, die umgekehrt den Weg von den Ausgangsbedingungen, welche die regressive Analyse entdeckt hat, zurück zur konkreten Objektivation des Individuums verfolgt, also etwa bis hin zu Flauberts Roman Madame Bovary. Das Individuum verinnert die Allgemeinheit, das sozio-ökonomische Bedingtsein, die Familienverhältnisse, zeitgenössische Institutionen und die geschichtliche Vergangenheit und entäußert diese Strukturen in individuellen Handlungen und Entscheidungen, die sich durch die allgemeine Bedingtheit erklären, aber nicht auf sie reduzieren lassen. Indem die progressive Synthese das ganze in der regressiven Analyse gewonnene Wissen einbezieht, versucht sie, den einzigartigen Lebensentwurf zu rekonstruieren, durch den der Einzelne im Zuge einer dialektischen Aufhebung der Ausgangsbedingungen sich selbst hervorbringt: Gesucht wird der Entwurf, durch den sich Flaubert, um dem Kleinbürgertum zu entkommen, […] zur entfremdeten Objektivation seiner selbst stürzte und sich unabwendbar und unauflöslich zum Autor der Madame Bovary und zu eben dem Kleinbürger machte, der zu sein er sich weigerte. 49
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Die progressive Synthese zeigt also, was der Mensch aus dem macht, wozu andere ihn gemacht haben, bzw. wie die literarische Objektivation – vermittelt durch den subjektiven Entwurf – aus den objektiven Verhältnissen hervorgeht. Während die regressive Analyse Wissen über das Individuum gewinnt, insofern es objektivierbar ist, rekonstruiert die progressive Synthese den Entwurf, durch den der Einzelne sich schafft, indem sie die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen integriert, die sich durch die regressive Analyse auffinden lassen. Jene Abweichung zwischen einem Roman und einer gegebenen Situation, zwischen den Bedingungen eines Entwurfs und seinem Ergebnis artikuliert nach Sartre die irreduzible Individualität eines Menschen. Es ist diese »Differenz«, die seine »Singularität« 50 konstituiert, also dasjenige, was dem Einzelnen aus dem zu machen gelingt, wozu andere ihn gemacht haben. Die menschliche Existenz zeichnet sich in der Welt der erkennbaren Dinge als eine Kluft zwischen den objektiven Ausgangsbedingungen und den objektiven Resultaten einer Handlung ab. Dass die zweite Stufe der Objektivität, z. B. ein Roman, nicht einfach aus der ersten Stufe der Objektivität, den gesellschaftlichen Verhältnissen, abgeleitet werden kann, darin zeigt sich für Sartre die Grenze eines jeden objektivierenden – oder wie Adorno sagen würde: eines identifizierenden Denkens. Die regressive Analyse lässt sich also verstehen als eine interdisziplinäre Suche nach adäquaten allgemeinen Begriffen: Kleinbürger, Puritaner, Neurotiker, Klaustrophobiker usw. Gefragt wird dabei, welche Begriffe für das jeweilige Individuum zutreffend sind. Und erst vor diesem Hintergrund erschließt sich dann auch die NichtIdentität dieses Individuums. Zusammen mit der Objektivität stößt damit allerdings auch das wissenschaftliche Verfahren an eine Grenze: Gerade weil das Individuum nicht erkannt, also in keinem Fall aus den Erkenntnissen der regressiven Analyse deduziert werden kann, bleibt für die progressive Synthese nur die Möglichkeit, den Entwurf auf dem Wege einer Orientierung an diesen Erkenntnissen zu »erraten« 51 . Sie lässt sich daher charakterisieren als eine durch die Ergebnisse der regressiven Analyse kontrollierte Empathie. Und in diesem Sinne räumt Sartre ein: »Die Wahrheit dieser Rekonstruktion kann
Ebd., S. 149. Sartre, Jean-Paul, Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857. Band 1: Die Konstitution, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 55.
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nicht bewiesen werden; ihre Wahrscheinlichkeit ist nicht messbar.« 52 Was also bleibt, wenn die objektivierenden Verfahren nicht weiter vordringen können, ist die »Empathie« als die »einzige zum Verständnis angemessene Haltung«. 53 Diese Empathie hängt jedoch nicht in der Luft, weil sie sich an den objektiven Resultaten der regressiven Analyse orientiert. Im Grunde findet in Sartres zweidimensionaler Methode also eine Zusammenarbeit von Wissenschaft und Empathie statt, in der diese jeglichen Reduktionismus und jene die bloße Phantasterei vermeidet. 54 An dieser Stelle tut sich eine weitere bemerkenswerte Parallele zu Adorno auf: Während bei Sartre das Verstehen des Individuums auf eine durch empirische Wissenschaften gesteuerte imaginierende Empathie hinausläuft, entkommt nach Adorno die Philosophie der Logik des Identitätszwangs durch eine ars inveniendi: »Organon dieser ars inveniendi […] ist Phantasie. Eine exakte Phantasie; Phantasie, die streng in dem Material verbleibt, das die Wissenschaften ihr darbieten.« 55 Im Unterschied zur begriffslosen Erfahrung bei Levinas kommt also bei Adorno und Sartre eine begrifflich kontrollierte ImaEbd., S. 56. Ebd., S. 8. 54 So schreibt Sartre über die Lesehaltung, die er sich für Der Idiot der Familie wünscht: »Ich möchte, daß man meine Studie über Flaubert wie einen Roman liest.« Sartre, Jean-Paul, »Über Der Idiot der Familie. Interview mit Michel Contat und Michel Rybalka«, in: ders., Was kann Literatur? Interviews, Reden, Texte 1960–1976, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 150–169, hier S. 153. Zugleich erhebt die FlaubertStudie aber auch einen Wahrheitsanspruch: Es handelt sich also um »einen Roman, der wahr ist.« Ebd.; vgl. auch Sartre, Jean-Paul, »Über die geplante Fortsetzung von Der Idiot der Familie. Interview mit Michel Sicard«, in: ders., Was kann Literatur?, S. 180–206, hier S. 187. Wie kann jedoch der Wahrheitsanspruch eines Werkes, das offenbar das Paradox einer nicht-fiktionalen Dichtung darstellt, überhaupt überprüft werden? Wenn das Verstehen auch nur imaginiert, so ist doch, wie Sartre erklärt, die »Hypothese […] unmittelbar verifizierbar; nur diejenige kann gültig sein, die in einer schöpferischen Bewegung die transversale Einheit aller heterogenen Strukturen verwirklicht.« Sartre, Fragen der Methode, S. 159. Wahrheitskriterien sind dann lediglich innere Stimmigkeit und methodische Strenge. Vgl. Sartre, »Über Der Idiot der Familie«, S. 161. Es stellt sich dann allerdings die Frage, ob nicht mehrere Verstehenshypothesen möglich sind, sofern nur jede die heterogenen Bedeutungsebenen in einen Zusammenhang integrieren kann. Trifft dies zu, dann ist die Wahrheit eines Menschen dennoch plural – und zwar nicht, weil die verschiedenen Fakten nicht synthetisiert werden können, sondern weil mehrere gleichwertige Synthesen möglich sind. 55 Adorno, Theodor W., »Die Aktualität der Philosophie«, in: ders., Philosophische Frühschriften. Gesammelte Schriften 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 325–344, hier S. 342. 52 53
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gination ins Spiel, wenn die Philosophie entgegen Wittgensteins berühmten Verdikt dasjenige zum Thema macht, worüber sich streng begrifflich nichts sagen lässt. 56
Vgl. den letzten Satz aus Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« Wittgenstein, Ludwig, Werkausgabe Bd. 1. Tractatus-logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1993, S. 85. Adorno erhebt dagegen Einspruch: »Ich würde deshalb sagen, daß der Satz von Wittgenstein, daß man über das, was man nicht klar ausdrücken kann, schweigen soll, der antiphilosophische Satz schlechthin ist. Sondern die Philosophie besteht gerade in der Anstrengung, das zu sagen, was nicht sich sagen läßt« Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik, S. 111 f.
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Die Kritik der Phänomenologie als Metaphysikkritik und die Methode der Phänomenologie in Helmuth Plessners Philosophischer Anthropologie Sebastian Edinger
Wenn man an phänomenologische Varianten von Metaphysikkritik denkt, wird einem gewöhnlich nicht als Erstes Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie in den Sinn kommen. In der weitverbreiteten Fokussierung auf die letzten Kapitel der Stufen des Organischen, in denen es um eine naturphilosophische Neubestimmung der spezifischen Lebendigkeitscharaktere von Pflanze, Tier und Mensch geht, gerät leicht die systematische Bedeutung der phänomenologischen Grundlegung des Ausdrucksgeschehens in der 1925 erschienenen Schrift Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs sowie die grundlegende methodische Rolle der phänomenologischen Deskription für die Gesamtanlage der Plessner’schen Anthropologie in Die Stufen des Organischen und der Mensch aus dem Blick. Um die Grundlinien beider phänomenologischer Entwürfe sowie deren metaphysikkritische Ausrichtung geht es im Folgenden in zwei Schritten, deren Explikationsziele hier kurz und knapp thesenhaft benannt werden sollen: (1) Die Deutung des mimischen Ausdrucks enthält bereits einen positiven Alternativentwurf zu den damals kurrenten Entwürfen Klages’, Schelers und Husserls und enthält eine phänomenologische Kritik metaphysischer Aporien, welche diese Entwürfe belasten. Drei Irrwege, so wird zu zeigen sein, weist Plessner dabei auf: 1. Klages’ Verdoppelung des Psychischen durch eine metaphysische Wirklichkeit, deren Erscheinung es bilde; 2. Schelers Restituierung der Binnenlokalisation des Psychischen durch den Begriff der inneren Wahrnehmung; und 3. Husserls Versuch, das reine Bewusstsein, dessen phänomenologische Grenzen mit dem Intentionalitätsbegriff gesetzt werden, zur Grundlage aller Wissenschaft zu machen. (2) Darüber hinaus ist skizzenhaft zu zeigen, dass Plessner in der Deutung des mimischen Ausdrucks und in den Stufen des Organischen ein phänomenologisches Modell in verschiedenen Varianten Überwundene Metaphysik?
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entwickelt. In den Stufen geschieht dies vor allem in einem größeren, auf eine Philosophische Anthropologie statt auf eine bloße Ausdruckslehre abzielenden Rahmen. Die phänomenologische Deskription – der Begriff taucht erst in den Stufen des Organischen auf – fundiert überdies im methodischen Ansatz bereits die nicht-metaphysische Ausrichtung der Analyse der Logik der lebendigen Form, welche die Grundlage des naturphilosophischen Projekts der Stufen bildet.
I.
Plessners phänomenologischer Ansatz in der Deutung des mimischen Ausdrucks
Die 1925 erschienene Schrift Die Deutung des mimischen Ausdrucks enthält sowohl Plessners ersten phänomenologischen Entwurf als auch seine erste Kritik der Bewusstseinsphänomenologie. Diese Kritik ist vor dem Hintergrund dessen zu betrachten, was Plessner phänomenologisch anstrebt, nämlich bisher allzu reichlich nach Fachbedürfnissen zerteilte und dadurch aus dem Zusammenhang des ganzen persönlichen Lebens gelöste Erscheinungen in den Blickpunkt zu bringen, so daß ihre Einbettung im Gesamtzusammenhang des geistig-seelischen und des physischen Geschehens gewahrt bleibt. 1
Weder durch Disziplinen überlieferte Zugangsweisen, Methoden oder Begriffe – sei es solche der Erkenntnistheorie, der Psychologie oder Biologie – können demzufolge einen Ausgangs- oder Ansatzpunkt bilden, um die Erscheinungsweise von Seiendem – Plessner spricht auch von »Urphänomenen« 2 – phänomenologisch unverstellt in den Blick zu bekommen. Um die Phänomene von deren Überformung durch Interpretamente jeglicher Art zu befreien, bedarf es laut Plessner der psychophysischen Neutralisierung als einer Methode, die Plessner sich in seiner Auseinandersetzung mit Max Scheler angeeignet hat, weshalb Plessner auch sagt, dass
Plessner, Helmuth, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt a. M. 2003, S. 67–130, hier S. 76. 2 Ebd., S. 76. 1
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diese hier skizzierte Theorie des mimischen Ausdrucks neue Wege einschlägt, die erst durch Schelers Entdeckung der psychophysischen Indifferenz des Leibes (im zweiten Band seiner Ethik) möglich geworden sind. 3
Unter psychophysischer Neutralisierung versteht Plessner im Anschluss an Scheler im Wesentlichen das Bemühen, die alltäglich-lebensweltliche Erfahrung von ihrem aktualen Vollzug her phänomenologisch zu beschreiben und sie damit gegen jegliche theoretischen Überformungen zu neutralisieren. Das Ziel der Deutung des mimischen Ausdrucks besteht somit in der Freilegung der »vorproblematischen« 4 Erfahrung sowie deren Freihaltung gegenüber ihrer Überformung durch theoretisches und wissenschaftliches Wissen. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, muss nach Plessner eine phänomenologische Distanzierung von der naiven Annahme erfolgen, es handele sich bei solchem Wissen um wahres und für eine jegliche Theoriebildung bereits in ihrem Ansatz verbindliches Wissen. Das Phänomen, an dem Plessners phänomenologische Untersuchung ansetzt, ist das Phänomen der Ausdrucksbewegung in seiner phänomenologischen Gegebenheit als Ausdrucksbild. Das Ziel der Untersuchung ist somit eine phänomenologische Theorie des Ausdrucks. Hingegen vom Ausdruck selbst statt vom Gegebensein des Ausdrucks als Ausdrucksbild auszugehen, hieße, auf der Grundlage eines konventionell-lebensweltlichen, in der Sphäre der natürlichen Erfahrung ausgebildeten Verstehens, diejenige Wirklichkeit gleichsam von der Realität her semantisch zu annektieren, welche phänomenologisch als Wirklichkeit erst noch zu erforschen wäre. Der natürliche Ort der Ausdrucksbilder ist Plessner zufolge die »Schicht des Verhaltens« 5 als die Sphäre, in der wir vor aller distanzierten und reflexiven Erschließung von Erfahrung und Erleben bereits leben und erleben und in welcher sich uns die Dinge zeigen, wie sie in nicht reflexiv oder interpretativ überformten Lebensvollzügen erscheinen. Am Beispiel des Leibes und seiner Bewegungsformen führt Plessner aus, dass der Leib in der »vorproblematischen« 6 Anschauung sich zeige als eine »Einheit, von der man weder sagen kann, sie sei phy-
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Ebd., S. 127. Vgl. ebd., S. 76. Vgl. ebd. Ebd.
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sisch, noch sie sei psychisch. Sie liegt in keiner der beiden Seinsebenen, ist aber darum nicht weniger reell«. 7 Die in dieser doppelten Negation angesprochene psychophysische Neutralität ist nicht zu verwechseln mit einer Neutralität der Ausdrucksbewegungen gegen ihre Verstehbarkeit überhaupt. Es wäre dann bestenfalls eine Hieroglyphe, eher noch wäre es schlichtweg etwas, was in keinerlei Weise überhaupt zu uns sprechen würde. Das phänomenologisch entscheidende Proprium der Ausdrucksbilder besteht darin, dass sie als solche sinnerfüllt sind, der Sinn also nicht nachträglich in ein vorhandenes und in sich abgeschlossenes Bild hineinzulesen ist: Im Ausdrucksbild erscheint der Sinn, und das Phänomen, die Gestalt wird selbst transparent, indem wir ihn verstehen. Das beruht also nicht auf einem mystischen Prozeß, einem Sichhervordrängen der Seele und des Geistes aus dem Körper, sondern liegt in der Auffassung des Bildes als eines Symbols für den Sinn begründet. 8
Plessner veranschaulicht den hier artikulierten Sachverhalt am Beispiel eines an uns emporspringenden Hundes. Das Verhalten des Hundes fassen wir nicht als einen motorischen Prozess auf, dessen Bedeutung wir erst zu ermitteln hätten: »Daß der Hund an mir emporspringt, ist objektiv konstatierbar; daß er mich freudig begrüßt, ist mir in seinem Gebaren als Richtungsform deutlich.« 9 Die paradigmatische Gestalt, die eine empirische Deutung in der Form sprachlicher Explikation annimmt, wäre hingegen die folgende: »Dass der Hund an dir emporspringt, bedeutet, dass er dich begrüßt bzw. bei psychologischer Einfühlung in den Hund, dass er dich begrüßen möchte.« Die psychophysische Neutralität bzw. Indifferenz stellt also kein phänomenologisches Postulat dar, dessen Einlösung artifizielle Winkelzüge erfordert, sondern wird von Plessner als der natürliche Gegebenheitsmodus des in der in sich sinnerfüllten Schicht des Verhaltens uns Begegnenden zum phänomenologischen Ausgangspunkt gemacht: »In solcher psychophysisch neutralen oder […] gleichgültigen Schicht leben wir selbst als Leibwesen wie auch die Tiere.« 10 In dieser
Ebd., S. 83. Ebd., S. 91. 9 Ebd., S. 82. 10 Ebd., S. 80. 7 8
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Schicht des Verhaltens nehmen wir zunächst wahr, dass auch andere belebte Wesen wahrnehmen, ohne dabei zu erfassen, was sie wahrnehmen. Letzteres zu ermitteln, weist Plessner der empirischen Forschung als deren genuine Aufgabe zu: Was das Tier sieht, hört, riecht und ob es das überhaupt kann, ermittelt in allen Zweifelsfällen das Experiment. Aber daß es […] in der Weise des Hörens, Sehens usw. die Umgebung dann gegenwärtig hat, ist mir in der anschaulichen Vergegenwärtigung der Leibumweltrelation deutlich. 11
Dieses »dass« ist nicht rätselhaft oder mysteriös, sondern vielmehr rätsellos; und diese Rätsellosigkeit gründet Plessner zufolge im spezifischen Sinncharakter und der Sinnerfülltheit des Ausdrucksbildes. Das Ausdrucksbild maskiert keinen Sinn, der in seiner Bedeutung allererst noch zu dechiffrieren wäre, sondern es ist in sich selbst sinnhaft. Plessner zufolge erscheint Sinn im Ausdrucksbild selbst, d. h. das Ausdrucksbild erscheint nicht anders denn als ein sinnhaftes, es ist also bereits als Anschauliches sinnhaft: »Im Ausdrucksbild erscheint der Sinn, und das Phänomen, die Gestalt wird selbst transparent, indem wir ihn verstehen.« 12 Das bedeutet nicht, dass wir einen Ausdruck nicht missdeuten könnten; es bedeutet lediglich, dass wir Ausdruckshaftes von Nicht-Ausdruckshaftem nicht erst auf dem Wege der Reflexion unterscheiden müssen, noch es überhaupt nachträglich auf rationalem Wege lernen könnten, wenn die Unterscheidung nicht bereits im sinnerfüllten Ausdrucksbild aufscheint. Im Ausdrucksbild, so ließe sich auch sagen, erscheint »Wirklichkeit«, wohingegen durch die Reflexion die verstandesmäßig präformierte »Realität« Gestalt annimmt. Doch nicht nur auf dem Weg der Reflexion lässt sich zum phänomenologischen Irrgang ansetzen. Gerade die Ausdruckstheorien von Ludwig Klages und Max Scheler stellen, so Plessner, zwei phänomenologische Irrwege metaphysischer Provenienz dar, die dieser in der Deutung des mimischen Ausdrucks kritisiert.
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Ebd., S. 81. Ebd., S. 91.
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II.
Plessners Kritik an Klages, Scheler und Husserl
II.1. Klages Klages wird von Plessner als wichtiger Kontrapunkt zur mechanistischen Erklärungsweise der Ausdrucksbewegungen eingeführt, zugleich aber als Verfechter der richtigen Intention mit den falschen Gründen dargestellt. Klages’ Theorie unterscheide sich in doppelter Hinsicht von der mechanischen, nämlich zum einen durch die Annahme einer Zielbestimmtheit der Ausdrucksbewegung, genauer einer »Zielbestimmtheit ihres Antriebs« 13 zum anderen durch das spezifische Reaktionsprinzip des Lebendigen, 14 das nicht darin bestehe, auf mechanistisch verstandene »nur analoge Reize« 15 mit gleichsam repulsionsartigen Reaktionen zu antworten, sondern »ähnlich auf Ähnliches«. 16 Die mechanistische Erklärung setze an dem »körperlichen Tatbestand« an, dass die »physiologischen Merkmale Ausdruck und Handlung gemeinsam sind und sein müssen«; 17 für sich betrachtet spielt diese gemeinsame Basis dem Mechanisten zunächst in die Hände. Doch Klages sprenge das mechanistisch-reduktionistische setting, indem er »die Ähnlichkeiten der Eindrücke […] von den Lebensbedürfnissen des Organismus« her begründet, 18 welche keiner mechanistischen Erklärung zugänglich sind. Im Falle des Menschen ist laut Klages jede Ausdrucksbewegung Ausdruck eines eigenlebendigen Wesens, jede menschliche Ausdrucksbewegung Ausdruck einer Persönlichkeit […], ebenso gibt es keine Darstellungsregung, in der sich nicht darstellen würde der persönliche Charakter. 19
Die Persönlichkeit fasst Klages im metaphysischen Sinne auf, d. h. als eine entitär und in der Wahrnehmung eigenschaftlich als das Innere des Ausdrucks sich zeigende Seele. Sowohl die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung als auch die Spezifik der ähnlichen Re-
Ebd., S. 101. Vgl. hierzu ebd., S. 101 f. 15 Klages, Ludwig, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, Leipzig 1923, S. 62. 16 Ebd. 17 Plessner, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«, S. 101. 18 Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 62. 19 Ebd., S. 101. 13 14
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aktion auf Ähnliches gründen in der Seele als dem die Erscheinung des Leibes prägenden Wesen der personalen Ausdrucksbewegungen: Das zwischen Leib und Seele wirklich bestehende Verhältnis ist nicht nur ein völlig anderes [als das der naturwissenschaftlichen Vorstellungsweise, S. E.], sondern auch ein in viel höherem Grade ursprüngliches […]: nämlich das der Erscheinung zum darin Erscheinenden. Der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele der Sinn des lebendigen Leibes. 20
Diese Transzendenz gegenüber der physiologischen Basis von Ausdruck und Handlung wird von Klages also auf metaphysischem statt auf phänomenologischem Wege erreicht, indem Klages die phänomenologischen Ausdrucksbilder zu Sinnbildern der Seele als dem Wesen der Persönlichkeit (v)erklärt. Der metaphysische Charakter von Klages’ Ausdruckstheorie ist Plessner zufolge die notwendige Konsequenz daraus, anstatt einer Sphäre sinnhaft-bildhafter Indifferenz einen Inbegriff von mehr oder weniger festen Sinnbildern oder Bildbedeutungen, also statt eines Spiels von Funktionen im Verhalten von Mensch zu Mensch eine Summe von Gestalten zu sehen. 21
Plessners Kritik bedarf hier einer Erläuterung, in deren Rahmen auch ein genauerer Blick auf die Ausführungen Klages’ geworfen werden soll, in denen zwischen Bildern als bloßen Erscheinungen, die wir uns mit »vollem Bewußtsein ihrer Unwirklichkeit« 22 vorstellen können – Klages nennt diese Bilder auch »beliebige Bilder« 23 – und den nicht zu flüchtigen Erscheinungen degradierbaren Bildelementen, die in der Wirklichkeit selbst ihren Ursprung haben, unterschieden wird: »Die Bildelemente selber aber können niemals vom Geiste hervorgebracht werden, sondern angehören der stets nur vorzufindenden Wirklichkeit.« 24 Weil in den seelischen Erscheinungen laut Plessner etwas sich ausdrückt und ausspricht, was diesen gegenüber eine höhere Wirklichkeit darstellt, ist die Erscheinung von Seelischem zugleich eine Erscheinung, in welcher der Sinn von Symbolen sich kundtue: Wäre der Mensch, statt machtbegierigen Geistes von der Wirklichkeit sich zu lösen, dem Sinn der Symbole nachgegangen, die sein noch weltverwobe20 21 22 23 24
Ebd., S. 16. Plessner, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«, S. 105. Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 127. Ebd. Ebd.
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nes Schauen zu finden vermochte, so hätte er den logozentrischen Irrweg vermieden und wahr gedeutet, was sogar heute noch jeder erlebt, dessen Eigenleben tief genug reicht, um empfängnisfähig zu sein: daß nämlich das in den Bildern Erscheinende und mithin »eigentlich« Wirkliche die Seelen der Bilder sind! 25
Zwischen den Erscheinungen und dem in den und durch die Erscheinungen hindurch erscheinendem Wirklichen besteht eine feste, die Bedeutung der Erscheinungen grundierende Zuordnung von Ausdrucksgestalt und seelischem Gehalt. Eine solche Zuordnung setzt aber auch eine Verdoppelung der Sphären des Seins voraus, da der Sinn des Verhaltens von einer der Sphäre des Verhaltens vorausliegenden Sphäre der Bilder gestiftet wird: »Er [Klages, S. E.] verdoppelt also, wo ursprüngliche Einheit in der Schicht des Verhaltens besteht«. 26 In der Sphäre des Verhaltens finde daher auf eine metaphysisch-artifizielle Weise eine »ursprüngliche Verschränkung des Physischen und Psychischen in einem dritten Reich« 27 statt. Das Zuordnungsproblem, das die Verdoppelung der Sphären aufwirft, stelle sich für Klages nicht als Problem oder Aporie, sondern als Aufgabe, die Klages zu lösen versuche durch das, was Plessner eine »phänomenologische Bedeutungsanalyse« 28 nennt. Gemeint ist damit das methodisch vollzogene Wörtlichnehmen von Namen seelischer Regungen, also Klages’ exorbitante metaphysische Annahme, dass die intrinsische Neigung seelischer Gehalte zur Verkörperung in Ausdrucksbewegungen die Voraussetzung der sprachlichen Einholbarkeit der seelischen Gehalte bilde und deren wechselseitige klare Zuordnung ermögliche. 29 Kurz: Dass Ausdrucksverhalten in Ausdrücken erfassbar sei, gründe in einer metaphysischen Harmonie zwischen den seelischen Gehalten und deren verkörperter Gestalt. Dieses Verhältnis zwischen seelischem Gehalt und körperlicher Ausdrucksgestalt benennt Klages in dem von ihm so bezeichneten »Ausdrucksgesetz«: »[J]ede ausdrückende Körperbewegung verwirklicht das Antriebserlebnis des in ihr ausgedrückten Gefühls.« 30 Die Methode des Wörtlichnehmens unterstellt eine Art prästabilisierter Harmonie zwischen Ausdrucksgestalt und sprachlicher Benennung, was 25 26 27 28 29 30
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Ebd., S. 128. Plessner, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«, S. 103. Ebd. Ebd., S. 102. Vgl. Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 18–20. Ebd., S. 22.
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sich in Klages’ Behauptung widerspiegelt, dass man in der Deutung bestimmter körperlicher Bewegungen nicht umhin komme, »dabei Wörter zu wählen, die, wenn nicht sämtlich, so doch größtenteils den Zustand schon namhaft machten, von dem sie der Ausdruck sind«. 31 Wörter sind unter solchen Voraussetzungen nicht bloße Wörter oder Begriffe, sondern »Namen für Lebenszustände wie für Bewegungsweisen und beschreiben in Wahrheit diese durch Angabe ihrer Charaktere«. 32 Diese Namensgebung sei nicht arbiträr, sondern durch die interne Relation zwischen dem Namen und dem Träger des Namens bedingt; – in Plessners Worten: Im Ausdruck äußern sich »Gemütsbewegungen«. Schon der Name bliebe »unverständlich« ohne die Annahme, daß den verschiedenen Gefühlen der erlebte Antrieb zur Ausführung von Bewegungen eigne. 33
Die von solch gravierenden metaphysischen Voraussetzungen getragene »phänomenologische Bedeutungsanalyse« bezeichnet Plessner auch als »Realsymbolismus«, der Klages’ Ausdruckslehre nicht nur untergründig durchwirke, sondern das »Fundament seiner Ausdruckslehre, […] seine[r] Erkenntnistheorie und Ontologie« bilde. 34 In den realsymbolistischen Denkfiguren erblickt Plessner die Restitution des aristotelisch-thomasischen Erbes, wonach die Seele wesenhaft die Form des Leibes und dieser die Erscheinungsform der Seele sei. 35
II.2. Scheler Plessners Klages-Kritik ist allein schon durch diesen Bezug auf die metaphysische Tradition von paradigmatischer Bedeutung; eine maßgebliche Akzentuierung erfährt diese Kritik jedoch in Plessners AusEbd., S. 18. Ebd. 33 Plessner, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«, S. 102. 34 Ebd. 35 Vgl. Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 16: »Das zwischen Leib und Seele wirklich bestehende Verhältnis ist nicht nur ein völlig anderes, sondern auch ein in viel höherem Grade ursprüngliches und von unvergleichlich größerer Innigkeit: nämlich das der Erscheinung zum darin Erscheinenden. Der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele der Sinn des lebendigen Leibes.« Plessner verweist in direktem Bezug auf diese Stelle auf die Lehren des Aristoteles und Thomas von Aquin, welche Klages aufs Neue bekräftige, vgl. Plessner, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«, S. 104. 31 32
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einandersetzung mit Scheler. Zwar konzediert Plessner Scheler, dass sein eigener Ansatz »erst durch Schelers Entdeckung der psychophysischen Indifferenz des Leibes (im zweiten Band seiner Ethik) möglich geworden« 36 sei, kritisiert aber auch, dass Scheler dennoch einem wahrnehmungstheoretischen, genauer: einem sensualistischen Paradigma verhaftet geblieben sei. Mit Scheler einig ist Plessner noch in der Kritik der oben angesprochenen realsymbolistischen Verdoppelung des Ausdrucks, in welcher Ausdrucksformen von Seelischem als Symbole oder Masken aufgefasst werden. 37 Diese Verdoppelung resultiert nach Plessner aufgrund der Annahme einer möglichen »Beseelung und Sinnerfüllung der Maske durch Rückbeziehung auf das eigene Ich im Wege des direkten Vergleichs«. 38 Scheler gehe von der »Möglichkeit einer direkten Wahrnehmbarkeit des Psychischen in (und nicht ›hinter‹) den Bildern« aus, 39 wodurch das eigene Psychische und das fremde Psychische dann in prinzipiell gleicher Weise und gleichem Maße zugänglich seien. Der gängigerweise als selbstverständlich vorausgesetzte privilegierte Zugang zur eigenen Psyche entfällt also; ebenso entfallen die beträchtlichen Probleme des Analogieschlusses, der Einfühlung oder des Mitvollzugs, mit denen das Problem der Intersubjektivität sich in aporetischer Weise formiert. So weit geht Plessner mit Scheler d’accord. Doch Scheler vollziehe darüber hinaus eine verhängnisvolle Unterscheidung zwischen einer inneren und einer äußeren Wahrnehmungsrichtung, welche das Problem »vom Bewußtsein des anderen Ichs«, von dem Plessners Deutung des mimischen Ausdrucks im Untertitel spricht, nicht beantworte. Denn Scheler beantworte mit dieser Unterscheidung
Plessner, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«, S. 127. Vgl. hierzu Scheler über das Verstehen des anderen Ich: »Nur dies sei hervorgehoben, daß dieses Aufnehmen und Verstehen weder durch einen Schluß (›Analogieschluß‹) erfolgt, noch durch projektive ›Einfühlung‹ und ›Nachahmungsimpulse‹ (Lipps). Daß ein Ich überhaupt gegeben ist, wenn uns ein Erlebnis gegeben ist, das ist unmittelbar in dem anschaulichen Wesenszusammenhang von Ich und Erlebnis gegründet; es bedarf dazu keiner Einfühlung des eigenen Ich.« (Scheler, Max, »Wesen und Formen der Sympathie«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 7: Wesen und Formen der Sympathie. Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Bern, München 1973, S. 7– 258, hier S. 20.) 38 Plessner, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«, S. 117. 39 Ebd., S. 118. 36 37
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nicht die Möglichkeitsfrage der Wahrnehmbarkeit des fremden Psychischen, sondern setzt eben an die Stelle dieses Problems nur das neue Problem der »inneren« Wahrnehmung. 40
In Plessners Augen perpetuiert Scheler mit dieser Unterscheidung ein Erbe, von dem loszukommen die psychophysische Indifferenz doch gerade ermöglichen solle, anders gesagt: Scheler verkenne, dass »das Psychische gegenüber der Unterscheidung von Innen und Außen wesenhaft gleichgültig ist und in sie nie einbezogen werden kann«. 41 Plessners Einwand gegen Schelers Begriff der inneren Wahrnehmung besteht also erstens darin, dass Scheler einerseits eine irreführende Unterscheidung (innere/äußere Wahrnehmungsrichtung) einführt, welche eine konsequente Ausformulierung einer Theorie des Psychischen gemäß der methodischen Errungenschaft der psychophysischen Indifferenz verhindere. Zweitens bringt Scheler mit seiner terminologischen Unterscheidung das fundamentale Problem der Phänomenologie, dessen Lösung Schelers methodische Innovation erforderlich gemacht hat, nämlich das Problem der Intersubjektivität, zum Verschwinden, statt es zu lösen: Scheler schießt hier in Plessners Augen übers Ziel hinaus, da er sich des Problems des dogmatischen Sensualismus phänomenologisch entledige, indem er zugleich das Problem der Intersubjektivität unterminiere durch den Begriff der inneren Wahrnehmung, in welchem der ursprünglich differentielle des Wahrnehmungsbegriffs überhaupt verlorengehe, dem der (undogmatische) Sensualist sich grundsätzlich zurecht verpflichtet sehe: Wenn auch der dogmatische Sensualist dieses Problem [der Wahrnehmbarkeit des Fremdpsychischen, S. E.] erst geschaffen hat, so darf doch die Lösung nicht einfach durch Einführung von Anschauungsweisen und Begriffen geschehen, deren Gültigkeit die Fragesteller leugnen und deren Leugnung sie gerade durch die Art der Fragestellung bekräftigen. Diesen methodologischen Fehler begeht die Schelersche Theorie aber gewiß. Nimmt man einmal eine innere Wahrnehmung an, so gibt es nicht mehr das Problem, zu dessen Lösung der Analogieschluß, die Einfühlung, Miterregung, Nachahmung und Mitvollzug eingeführt worden sind. Insofern hat der Sensualist ganz recht, wenn er die Schelersche Lösung schon aus methodischen Gründen ablehnt. 42
40 41 42
Ebd., S. 119. Ebd., S. 118. Ebd., S. 119 f.
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In der Zurücknahme der prinzipiellen Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung in Wahrnehmungsrichtungen hinein hebt Scheler jedoch die traditionell den Wahrnehmungsrichtungen zugeordnete Bindung an einander begegnende und unabhängig voneinander existierende Körper nicht auf, da Scheler zufolge einer jeglichen inneren Wahrnehmung »die ontische Bedingung, daß mein Körper Wirkungen erleidet, deren Ursachen im Körper des anderen liegen oder von ihm ausgehen«, zugrundeliege. 43 Zugleich gehört nach Scheler »zu jedem Akte möglicher innerer Wahrnehmung ein solcher möglicher äußerer Wahrnehmung« 44 und »zum Akte äußerer Wahrnehmung aber faktisch auch eine äußerlich ›sinnliche‹ Grundlage«, 45 welche in traditioneller Terminologie durch den Begriff eines dem Subjekt gegenüberstehenden Objekts bezeichnet wird. Diese traditionelle Relation durchzieht Schelers Begriff der inneren Wahrnehmung durch alle phänomenologischen Sinnmodifikationen des Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Anderen hindurch und bildet den entscheidenden Punkt der Plessner’schen Kritik an Schelers Begriff der inneren Wahrnehmung, welche Plessner zufolge zwangsläufig die Annahme einer Binnenexistenz des Erlebens im Subjekt restituiert: Die Annahme, daß die Reflexion auf Erlebnisse, die sogenannte Selbstbeobachtung, nach innen führt, begeht den Irrtum, die Binnenordnung des eigenen Körpers zu dem Ort zu machen, in welchem das Ineinander der Erlebnisse ihr Entstehen und Vergehen hat. 46
Schelers Begriffe einer inneren Wahrnehmungsrichtung sowie einer inneren Wahrnehmung einerseits und der psychophysischen Indifferenz andererseits stehen, so die summarische Fassung von Plessners Einwand, in einem Verhältnis der gegenseitigen Ausschließung, welche systematisch zugunsten der psychophysischen Indifferenz konsequent durchgehalten werden muss, wenn die Phänomenologie von metaphysischen Restbeständen befreit werden soll.
43 44 45 46
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Ebd., S. 243. Ebd. Ebd. Plessner, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«, S. 121.
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II.3. Husserl In Die Deutung des mimischen Ausdrucks beschränkt Plessner sich auf eine Kritik der metaphysischen Gehalte, welche den phänomenologischen Ansätzen Klages’ und Schelers ihr Gepräge verleihen. In den unter dem Titel Elemente der Metaphysik veröffentlichten Kölner Vorlesungen von 1931/32 wird jedoch auch die Husserl’sche Phänomenologie einer Kritik unterzogen. Die Einwände, die Plessner gegen Scheler formuliert, rühren, folgt man Plessners Husserl-Kritik in den Vorlesungen, noch vom Husserl’schen Erbe in Schelers Werk her. Dementsprechend findet man in Plessners Vorlesungen zu Husserl auch eine Kritik des Begriffs der inneren Wahrnehmung wieder. Plessner charakterisiert in dem Kapitel »Husserls phänomenologische Revision der Philosophie« dessen phänomenologischen Entwurf als »Generalangriff gegen die gesamte Erkenntnistheorie«. 47 Den genuin phänomenologischen Standpunkt Husserls bezeichnet Plessner als den »Standpunkt der Intentionalität«, 48 deren Proprium darin bestehe, das Sehen als solches in der Epoché freizulegen, statt es zu vergegenständlichen und es gleichsam durch ein Sehen des Sehens zu überformen. Was in diesem Sehen gesehen wird, ist der intentionale Gegenstand, der nicht mit »dem Objekt selbst« zu identifizieren sei: »Für das Erlebnis gibt es diese Trennung von intentionalem Gegenstand und Objekt bzw. der Sache selbst nicht.« 49 Das intentionale Objekt ist der Gegenstand des Erlebens, wie er sich im Erlebnis selbst zeigt und daher nicht das, was in psychologischer Begrifflichkeit als »Empfindung« bezeichnet wird: Man sehe sich einmal die Wahrnehmung an, man sagt immer, das sei eine Empfindung! Das ist es doch gar nicht! Zunächst ist es ein Leuchten, dieses Leuchten ist real. 50
Das Leuchten, das nicht das Leuchten dieses oder jenes Gegenstandes ist, sondern das Erlebnis des Leuchtens als solches, ist keineswegs weniger real als die Realität der natürlichen Anschauung, 51 sondern geradezu Teil der ursprünglichen Wirklichkeit. Wer – wie der PhänoPlessner, Helmuth, Elemente der Metaphysik, Berlin 2002, S. 74. Ebd., S. 75. 49 Ebd., S. 76. 50 Ebd. 51 »Wenn diese Täuschung, der der Betreffende unterlegen ist, den Wahrnehmungscharakter hat, dann ist das dem Phänomenologen genug, denn ihm kommt es darauf 47 48
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menologe – auf diese Wirklichkeit seine ganze Aufmerksamkeit lenkt, »versenkt sich in den Sinn des Bewußtseins« 52 . Dem Phänomenologen geht es um das, »was dem Wesen des Bewußtseins als Intentionalität angelegen ist«; 53 solches Bewusstsein ist nicht empirisches, sondern reines Bewusstsein. Daran, dass Husserl mit dem intentionalen Bewusstsein überhaupt weiter am Bewusstseinsbegriff festhält, setzt Plessners Kritik von Husserls Intentionalitätsbegriff an, welcher seine Grenze in dem Versuch finde, neben Vorstellungen auch Gefühle unter sein Schema zu bringen: Die Intentionalitätslehre scheitert an den Gefühlen. Die Gefühle sind nämlich etwas, was offenbar nicht mehr intentionalen Charakter hat. Wenn man etwas fühlt – sagen wir einen Schmerz, einen seelischen Schmerz –, dann ist dieser eigentümliche Zustand unmöglich in das Schema der Intentionalität zu bringen. 54
Der intentionale Gehalt von Gefühlen könne nur auf dem Umwege der Retention, also der Erinnerung des Gefühls und der vergegenständlichenden Hineinholung desselben in das Bewusstsein, herausgearbeitet werden. Damit falle Husserl dem Dilemma anheim, die Gefühle einerseits als »Nichtpsychisches« zu bestimmen, sie andererseits als ein solches dennoch mittels des Begriffs der Intentionalität fassen zu müssen, sollen die Gefühle dem Bewusstsein nicht gänzlich entgleiten. Kurz gesagt: Plessner zufolge sprengen Gefühle und Empfindungen den Begriff der Intentionalität: »Wenn nun aber das Wesen des Bewußtseins in die Intentionalität gesetzt wird, dann scheitert der Versuch, die Gefühlsempfindungen in dem Bewußtsein unterzubringen.« 55 Die Intentionalität markiert Plessner zufolge lediglich eine Modifikation der inneren Wahrnehmung, nicht deren Überwindung; sie hält unter phänomenologischen Vorzeichen am Modell eines sich auf sich selbst beziehenden Subjekts fest, wenn auch nicht unter naiven Vorzeichen: Husserl sagt, es gehört zum Wesen des Psychischen, daß es sich auf sich selbst richten kann und zwar in der Form der unmittelbaren Erinnerung an, ob an dem Erlebnis nicht zu zweifeln ist, ihm kommt es darauf an, den Wahrnehmungscharakter ermittelt zu haben.« (Ebd., S. 79.) 52 Ebd., S. 78. 53 Ebd., S. 77. 54 Ebd., S. 80. 55 Ebd., S. 81.
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oder der Retention, des Zurückbehaltens und zweitens in der Form des Richtens, des inneren Blickes auf das Erlebte und auf das Erleben des Erlebten. Dahin gehört auch der Begriff des Selbstbewußtseins, des Bewußtseins als immer mögliches Selbstbewußtsein. Husserl scheut, genau wie er sich bei den Empfindungen und Gefühlen scheut, das Intentionalitätsmodell aufzugeben, so scheut er sich auch hier, radikal zu werden. 56
Husserls phänomenologische Revision scheitert also Plessner zufolge an der Enge des Bewusstseinsbegriffs, doch nichtsdestotrotz überfrachte Husserl das reine Bewusstsein mit den weitreichendsten Begründungsansprüchen: »In diesem reinen Bewußtsein sollen buchstäblich die Grundlagen für alle Wissenschaften gefunden werden.« 57 Dieser Anspruch stellt sich in Plessners Augen als axiologische Überbestimmung der methodischen Ansetzung am intentionalen Bewusstsein dar, weshalb Plessner zufolge dieser Anspruch »auch metaphysisch eine ungeheure Behauptung« darstelle. 58 Die Behauptung ist nicht allein deshalb metaphysisch, weil sie ein transzendentes Begründungsprinzip in Anspruch nähme, sondern weil darüber hinaus dem reinen Bewusstsein eine Begründungsleistung zugesprochen wird, die nur von einem letzten Begründungsprinzip her geleistet werden könne – von einem Prinzip also, das als Inbegriff einer möglichen Begründung sowohl der Erfahrung als auch der Erfahrungswissenschaften fungieren könnte (Letztere führt Plessner als historisch wirkungsmächtige Opposition gegen die klassische Metaphysik an). 59 In diesem Sinne verwendet Plessner den Begriff der Metaphysik in seinen Vorlesungen: Was will die Metaphysik in ihrem allgemeinen Sinne? Sie will eine Lehre sein von dem Wesen der Welt und von dem, was in dieser Welt steht und was in dieser Welt geschieht; das soll unter letzten Prinzipien gefaßt werden. 60
Plessners Kritik der Entwürfe Klages’, Schelers und Husserls ist damit umrissen. Mittels welchen positiven Modells aber versucht Plessner nunmehr in seinem phänomenologischen Entwurf das Abgleiten
56 57 58 59 60
Ebd., S. 81 f. Ebd., S. 78. Ebd. Vgl. ebd., S. 33. Ebd., S. 28.
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in eine jegliche Metaphysik zu vermeiden und zugleich die psychophysische Indifferenz der Schicht des Verhaltens phänomenologisch stringent zu entfalten?
III. Die Rolle der Phänomenologie in Plessners Philosophischer Anthropologie Plessners phänomenologischer Entwurf in Die Deutung des mimischen Ausdrucks ist am Sachverhalt und Begriff der Schicht des Verhaltens orientiert, die in der psychophysisch indifferenten Anschauung gegeben ist. In dieser Anschauung erscheint die Relation zwischen organismischen Leibern und ihrer Umgebung neutral gegen substanzialistische Zuschreibungen, wonach etwa der Leib der Ort einer Seele oder einer Psyche wäre. Deutungen, die in solcherlei Zuschreibungen ihren Ausdruck finden, treten nur vermeintlich in der Sphäre des Verhaltens auf, setzen aber de facto eine diese Sphäre vergegenständlichende Distanzierung von derselben voraus, wodurch die anschauliche Gestalt- und Sinneinheit des Leibes mit seinen Ausdrucksformen in reifizierende Zuschreibungen zerrissen wird, die diese Einheit dualistisch aufspalten. Um diese Einheit aber geht es Plessner gerade: Der Leib und seine Bewegungsformen, verschieden je nach der biologischen Art, bilden eine Einheit, von der man weder sagen kann, sie sei physisch, noch sie sei psychisch. 61
In der psychophysisch indifferenten Betrachtung von Ausdrucksbildern geraten diese nicht gemäß der alltagsdualistischen Semantik in den Blick, welche Physisches und Psychisches als konstitutive Seinsbereiche der mimisch sich ausdrückenden Person auffasst. Stattdessen wird unter den Vorzeichen der psychophysischen Indifferenz die Differenz exponiert zwischen dem die Sphäre des Verhaltens bzw. die »eigentliche« Lebenswelt kennzeichnenden vortheoretischen Verstehen und dem alltagsdualistisch überformten Verständnis von Verhalten, welches die nachträgliche Aufspaltung der Ausdrucksbilder in substanziell distinkte Seinsbereiche beinhaltet. Die »ursprüngliche Verständlichkeit« gründet für Plessner darin, dass der Sinn des Aus-
61
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Plessner, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«, S. 83.
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drucks im Ausdruck erscheint. 62 Die an vielen Stellen von Plessner verwendete Präposition »in« ist entscheidend für das Verständnis von Plessners Schrift; das direkte Erscheinen des Sinns im Ausdrucksbild gründet nämlich darin, daß Elemente dessen, was sinnlich-bildhaft ist, der Modalität nach zugleich Elemente des Psychischen sind und diese Elemente einer gemeinsamen Form- und Funktionsgesetzlichkeit […] unterstehen: der Gesetzlichkeit der Sphäre des Verhaltens. 63
Das Ausdrucksproblem verbindet Die Deutung des mimischen Ausdrucks leitmotivisch mit den Stufen des Organischen: Philosophische Hermeneutik als die systematische Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung durch die Geschichte läßt sich nur in Angriff nehmen – oder gar durchführen – auf Grund einer Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks. 64
Das »Festhalten am Prinzip des methodischen Sensualismus und seinen Voraussetzungen«, 65 das in der Deutung des mimischen Ausdrucks federführend war, erwies sich als hinreichend, um das Ausdrucksverhalten in seiner psychophysisch neutralen Erscheinungsweise freizulegen, reicht jedoch nicht hin, um das Projekt zu begründen, das Plessner in den Stufen des Organischen anvisiert: nämlich die Ausformulierung einer »Lehre vom Menschen und den Aufbaugesetzen seiner Lebensexistenz« zuwege zu bringen. 66 Eine solche Lehre bedürfe zu ihrer Durchführung überdies einer systematisch ausgearbeiteten Naturphilosophie, welcher es Plessner zufolge darum zu tun ist, den Menschen »in Einer d. h. der menschlichen Existenz entsprechenden Erfahrungsstellung, welche ›Natur‹ und ›Geist‹ umspannt« 67 zu begreifen. Die »phänomenologische Deskription, die zur ursprünglichen Anschauung hinführt und in ihr verweilt«, 68 verwendet Plessner zur »Im Ausdrucksbild erscheint der Sinn, und das Phänomen, die Gestalt wird selbst transparent, indem wir ihn verstehen.« (Ebd., S. 91.) 63 Ebd., S. 129. 64 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung in die philosophische Anthropologie, New York, Berlin 1975, S. 23. 65 Ebd., S. 70. 66 Ebd., S. 24. 67 Ebd., S. 25. 68 Ebd., S. 23. 62
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allgemeinen Beschreibung sämtlicher Wahrnehmungsdinge, um herauszufinden, wie Lebendiges und Nicht-Lebendiges sich differentiell in der ursprünglichen Anschauung zeigen. Nicht-lebendige Wahrnehmungsdinge zeigen sich in der Anschauung Plessner zufolge »kraft des Doppelaspekts« 69 von Innen und Außen, wobei Innen und Außen Richtungsgegensätze im räumlichen Sinne bilden. Als Beispiel führt Plessner den Handschuh an, dessen Innenseite durch Umstülpung zur Außenseite werden kann und umgekehrt; Plessner spricht dabei von der »Richtungspolarität ›kongruenter Gegenstücke‹«. 70 Lebendige Dinge hingegen erscheinen nicht kraft des Doppelaspekts, sondern im Doppelaspekt 71 von Innen (Psychischem) und Außen (Physischem), 72 beide verstanden als am Ding anschaulich sich zeigende Richtungsgegensätze statt als distinkte Seinsbereiche, die das lebendige Wesen im Sinne der Zusammengesetztheit aus diesen Seinsbereichen konstituieren. Die Pointe der Richtungsgegensätzlichkeit bleibt einem verschlossen, solange man sich nicht an mimischen Phänomenen wie einem zornigen Gesichtsausdruck vergegenwärtigt, dass hier nicht ineinander überführbar ist, was als Ausdruckseinheit sowohl in der Aspektdifferenz verbleibt als auch ineinander strebt und darin einen anschaulichen und in seiner Anschaulichkeit in sich sinnhaften Sachverhalt bildet, weshalb wir nicht den Gesichtsausdruck als physische Gestalt und den Zorn als deren psychische Tiefenschicht, sondern den zornigen Gesichtsausdruck wahrnehmen. Die Richtungsgegensätzlichkeit von Physischem und Psychischem formuliert Plessner phänomenologisch in verschiedenen, den Sachverhalt metaphorisch einkreisenden Weisen aus. So sagt Plessner, dass »die Doppelaspektivität phänomenal das Über den seienden Körper hinaus bzw. In ihm hinein Sein bedeutet«. 73 Dies lässt sich wiederum am Beispiel des zornigen Gesichtsausdrucks exemplifizieren, an dem sich das »in ihm hinein Sein« zeigt als Ausdruck dieses Gesichts bzw. dieser Person – es konstituiert den Woher-Charakter des Ausdrucks –, während das »über ihm hinaus« dessen Wo-
69 70 71 72 73
214
Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 80. Vgl. Plessner, Die Stufen des Organischen, S. 89 und 129. Vgl. ebd., S. 84 und 86 f. Ebd., S. 130.
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hin-Charakter, die Transzendenz des Ausdrucks gegenüber der physischen Gestalt anschaulich verkörpert. Plessners aus der Deutung des mimischen Ausdrucks stammender Begriff der »Umweltintentionalität des Leibes« 74 gewinnt hier seine phänomenologische Ausdrucksbedeutung. Eine letzte Unterscheidung, die hier nur kurz angerissen werden kann, betrifft Plessners phänomenologische Unterscheidung zwischen Substanzkern und Eigenschaft. Plessner spricht vom »zunächst bloß anschaulichen Sachverhalt von Substanzkern und Eigenschaft«. 75 Um einen »zunächst« anschaulichen Sachverhalt handelt es sich dabei im emphatischen Sinne, weil es sich dabei nicht um ein bloß subjektives Moment des anschaulichen Sachverhalts handelt, der als solcher an das Subjekt der Anschauung gebunden wäre – dann wäre Plessners phänomenologische Deskription eine Fortführung einer egologischen Phänomenologie –, sondern bei Substanzkern und Eigenschaft handelt es sich um »dingkonstituierende Charaktere« des anschaulich Erscheinenden. 76 Dingkonstituierende Charaktere konstituieren das Ding als Erscheinendes, mit ihnen werden Strukturmomente dieses Erscheinens selbst angesprochen. Plessners objektive Transformation der Phänomenologie basiert auf der Fokussierung des Erscheinens in der Anschauung statt auf der Anschauung als eines subjektiven Aktes. Dementsprechend definiert Plessner auch die Aspektivität: Aspektivität als dem Objekt selbst zugehörige Begrenztheit, als die ihm im Erscheinen strukturell zugehörige Seitenhaftigkeit ist nicht mit dem Bilde zu verwechseln, das als Wahrnehmungs- oder Vorstellungsbild im Bewußtsein bleibt. 77
Substanzkern und Eigenschaft bilden als »dingkonstituierende Charaktere« Strukturmomente der Erscheinung von Lebendigem, nicht entitäre Konstitutionsmomente dieses Lebendigen selbst. Demgemäß »bedeutet der Substanzkern die ›Mitte‹ des Dinges in der Erscheinung«. 78 Diese Mitte tritt phänomenologisch in doppelter Weise auf, nämlich als Mitte im Sinne der Mitte des Dinges in der Erscheinung und der Mitte des Dinges in der Erscheinung: 74 75 76 77 78
Vgl. Plessner, »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«, S. 79. Plessner, Die Stufen des Organischen, S. 86. Ebd., S. 84. Ebd., S. 83. Ebd., S. 295.
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(1) Erstens fasst Plessner die Mitte als Mitte des Dinges in der Erscheinung im Sinne der »kernhafte[n] Mitte« auf, 79 die er mit dem Psychischen (Innen-Aspekt) bezeichnet, weshalb auch »die Abhängigkeit der Eigenschaft von der Kernsubstanz des Dinges« ein dingkonstitutives Abhängigkeitsverhältnis in der Erscheinung des Dinges ist. 80 Plessner exemplifiziert dies am Beispiel des Blattes und seines Grün, welches die Nichtumkehrbarkeit des Verhältnisses von Substanzkern und Eigenschaft deutlich zutage treten lässt: »Das Blatt hat das Grün an seiner Oberfläche, aber das Grün hat nicht auch umgekehrt das Blatt.« 81 Wenn jemand sagt, dass ein Blatt nicht notwendig grün sein müsse, so wird gleichsam begriffsanalytisch über einen Gegenstand gesprochen; der anschauliche Sinn der Doppelaspektivität als einer dingkonstitutiven Struktur tritt dabei allerdings hinter eine Kasuistik von bloßen, reflexiv-erdachten Anschauungsmöglichkeiten zurück. (2) Plessner fasst die Mitte als Mitte des Dinges in der Erscheinung in einem wesentlich weitreichenderen Sinne auf. In dieser Fokussierung wird die Mitte phänomenologisch aufgefasst als eine gegenständlich als Eigenschaft aufweisbare Grenze, welche zugleich Ansatzzone der absoluten Richtungsdivergenz ist. Diese Grenze muß sowohl Raumgrenze oder Kontur sein, weil sie ja gegenständlich in der Erscheinung auftreten soll, als auch Aspektgrenze, in welcher der Umschlag zweier wesensmäßig ineinander nicht überführbarer Richtungen erfolgt. 82
Der Eigenschaftsbegriff tritt bei Plessner in mehrfacher Funktion auf, denn er bezeichnet innerhalb der Doppelaspektivität die Aspekte als Eigenschaften, gleichzeitig aber bildet die richtungsneutrale Ansatzzone eine Eigenschaft. Dieser Eigenschaftsbegriff bleibt so lange unverständlich, wie man ihn im Sinne der konventionellen Wahrnehmung auffasst, denn in dieser treten keine dingkonstitutiven Charaktere zutage, sondern nur das Ding als solches, in dem der Doppelaspekt »als echte Bedingung […] sich in dem von ihm Bedingten« verliert, oder das Ding im analytischen Sinne, also als Gesamtprodukt seiner materialen Komponenten. 83 Die Entfaltung der Mitte im zweiten, hier angesprochenen Sinne, wäre erst dann vollgültig möglich, 79 80 81 82 83
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Vgl. ebd., S. 82. Ebd. Ebd., S. 82. Ebd., S. 102. Ebd., S. 89.
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wenn man den Übergang von der phänomenologischen Deskription zur funktionalen Analyse des Lebendigen in Angriff nähme, in welcher die Mitte einen zentralen Terminus bilden müsste, ohne als klassischer Substanzbegriff zu fungieren. Das kann hier allerdings nicht geleistet werden. Hier sollte lediglich gezeigt werden, wie Plessner von metaphysischen Gehalten getragene phänomenologische Ansätze kritisiert und mit seiner phänomenologischen Deskription in den Stufen des Organischen auf eine Analyse dingkonstitutiver Strukturen der Erscheinung von Lebendigem zielt, um den Unterschied zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem von dieser Erscheinungsstruktur her freizulegen. Weder ist dann der Rekurs auf einen substanzialistischen Seelenbegriff wie bei Klages nötig noch bedarf die Analyse des Erscheinens der Unterscheidung zwischen einer inneren und einer äußeren Wahrnehmungsrichtung wie bei Scheler, welche der vollständigen Überwindung der Subjekt-Objekt-Relation im Weg steht. Indem ferner Plessners Methode der phänomenologischen Deskription die Erscheinungsweise von Wirklichem in den Blick nimmt, ohne diese an ein Ego und dessen Intentionalität zurückzubinden, wird die Phänomenologie einer objektiven Transformation unterzogen; gemäß der Intention, die konstitutiven Wesensmerkmale des Lebendigen am erscheinenden lebendigen Körper selbst auszuweisen.
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Jenseits von Husserl: Subjekt und Zeit bei Emmanuel Levinas Federico Ignacio Viola
Nach Rudolf Bernet gibt es in der Geschichte der Philosophie zwei Zugangswege, um sich dem Rätsel der Zeit anzunähern. Der eine Weg »orientiert sich am Naturphänomen der Bewegung von Körpern im Raum« 1 und versteht dabei die Zeit als das Maß dieser Bewegung. Das klassische Beispiel dieser Analyse ist das von Aristoteles. Der andere Zugang zum Verständnis der Zeit verläuft über den Weg der Introspektion und »fasst die Zeit als eine Eigenschaft der menschlichen Seele und deren Vorstellungsvermögens« 2 auf. Das klassische Beispiel ist hierbei das XI. Buch der Bekenntnisse des Augustinus. Die husserlsche Lehre der Zeitlichkeit stellt in diesem Zusammenhang den Versuch dar, die Widersprüche dieser beiden philosophischen Traditionen zu überwinden. Indem Husserl nämlich durch seine phänomenologische Analyse des Bewusstseins der Zeit dieses Bewusstsein auf seinen Grenzbereich bringt, legt er gleichzeitig eine Eigentümlichkeit des Zeitbewusstseins frei, und zwar seinen irreduzibel empirischen Charakter. Durch diese Analyse entzieht sich Husserl einerseits der bloß empiristischen Analyse der Psychologie und andererseits dem transzendentalen Reduktionismus jedes Bewusstseins im Neukantianismus. Die husserlsche transzendental-phänomenologische Analyse sollte daher, so Bernet, transzendentaler Empirismus genannt werden. 3 Von Husserls Auffassung der Zeit geht Levinas aus, wenn er genau diesen unterschätzten empirischen Charakter des Bewusstseins übernimmt, um seine eigentümliche Konzeption der Zeit zu entwickeln.
Bernet, Rudolf, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. (1893–1917); Text nach Hua, Bd. X, Hamburg 1985, S. XI. 2 Ebd. 3 Bernet, Rudolf, Conscience et existence. Perspectives phénoménologiques, Paris 2004, S. 248. 1
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Jenseits von Husserl: Subjekt und Zeit bei Emmanuel Levinas
Man muss dabei betonen, dass Levinas gegenüber der husserlschen Phänomenologie im Allgemeinen absichtlich eine zweideutige Haltung einnimmt. Manchmal übt er mit Heidegger Kritik an Husserl, manchmal ist er mit Husserl einer Meinung. Bisweilen kritisiert er sowohl Husserl als auch Heidegger. Das liegt daran, dass die von Levinas entwickelte Konzeption der Zeit letztendlich anders ist als jene der Phänomenologie und auch, grob gesagt, als jene der abendländischen Tradition der Philosophie. Levinas sieht in der husserlschen Analyse des inneren Zeitbewusstseins tatsächlich den Keim eines anderen Verständnisses der Zeit.
I.
Levinas mit Heidegger contra Husserl
Levinas ist einverstanden mit jener heideggerschen Kritik an Husserl, nach welcher dessen phänomenologische Analyse des Zeitbewusstseins in einem gewissen Intellektualismus gefangen bleibt. Er übernimmt diese Kritik an Husserl, ohne jedoch mit Heidegger vollkommen übereinzustimmen. Er hält in der Tat die heideggersche Struktur der Sorge, die den Sinn der Zeitlichkeit des Daseins freilegt, letztendlich für selbstreferenziell. Die ontologische Analyse der Sorge impliziert ein von seinem eigenen Sein besorgtes Seiendes 4 , selbst wenn sich die Sorge als Fürsorge verstehen lässt. Der Vorgang der SichZeitigung des Daseins in der Sorge erweist sich deshalb als nicht weniger egozentrisch gegenüber der Intentionalität des repräsentationalen Bewusstseins. Laut Levinas schafft es weder Husserl noch Heidegger, sich hierbei einer Logik der Macht zu entziehen, die jede andere unter das Vermögen des Subjektes subsumiert. »Der zeitliche Sinn des Husserlschen intentionalen Bewusstseins und der Heideggerschen Sorge«, erklärt Bernet, »bestünde demnach darin, den Horizont der Möglichkeiten des eigenen Lebens um sich selbst herum zu entwickeln. An diesen Horizont müssen sich die Sachen halten, wenn sie die Vorteile aus dem Recht des Erscheinens und des Bedeutens ziehen wollen«. 5 4 Vgl. Levinas, Emmanuel, En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris 2001, S. 121. 5 Bernet, Conscience et existence, S. 252.
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II.
Levinas contra Husserl und Heidegger. Die Wiedergewinnung der Zukunft
Sowohl an Husserl als auch Heidegger richtet Levinas die Kritik, dem Neuen, dem Unvorhersehbaren, dem Unmöglichen als solchem keinen Platz einzuräumen. Bei Husserl, wie Bernet deutlich macht, wird »das Ereignis des plötzlichen Auftauchens einer neuen Gegenwart als die Erfüllung einer vorhergehenden antizipativen Intention gesehen und demnach ist das Neue nie wirklich neu« 6 . Heidegger seinerseits definiert den Tod als die eigenste Möglichkeit des Daseins. Er bildet demnach das extreme Können des Daseins so sehr, dass »das Sichvorweg-sein eben das Zu-jener-Möglichkeit-des-nicht-mehr-in-derWelt-seins-getrieben-sein« 7 ist, so Levinas. Deshalb ist der Tod bei Heidegger letztendlich kein wirklich Unvorhersehbares, denn auch wenn er die Unmöglichkeit des Daseins ausmacht, so besagt er doch immerhin die Möglichkeit jener Unmöglichkeit. Levinas aber kehrt diese ganze Analytik des Daseins um, indem er den Tod als die Unmöglichkeit jeder Möglichkeit konzipiert. Nur in diesem Sinne lässt sich der Tod als das Unvorhersehbare überhaupt denken, d. h. letztendlich als das, was man nicht übernehmen wollen kann. Denn Levinas denkt den Tod von der Zeit aus, anders als Heidegger, der die Zeit vom Tod aus konzipiert 8 . Der Tod stellt daher nicht die vorhersehbare, immer eintreffende und mögliche Zukunft der Zeit des Daseins dar. Da die Zukunft immer unvorhersehbar ist, ist der Tod vielmehr das Unmögliche jeder noch kommenden Möglichkeit. Die Zeit bleibt indifferent gegenüber dem Tod des Daseins. Levinas versucht damit, eine Zeitlichkeit des Neuen zu entwickeln, d. h. eine Zeitlichkeit, in der ein effektiver Bruch der Kontinuität der Immanenz der Existenz und des Bewusstseins einen wirklichen Sinn erhalten kann. Auf diese Weise wird eine von außen kommende Zeitigung der Existenz, eine Heteroaffektion des Bewusstseins denkbar. 9
Ebd. Levinas, Emmanuel, Gott, der Tod und die Zeit. Aus dem Französischen von Astrid Nettling und Ulrike Wasel, Wien 1996, S. 61. 8 Nur »durch den Tod gibt es Zeit und gibt es Dasein«, so die levinassche Interpretation Heideggers. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, S 63. 9 Vgl. Bernet, Conscience et existence, S. 254. 6 7
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III. Levinas (nochmals) mit Heidegger contra Husserl. Die Wiedergewinnung der Vergangenheit Levinas äußert noch einen Vorwurf gegen Husserl, der lautet, dass die Vergangenheit als solche dem Denken verschlossen bleibt. Die Vergangenheit ist bei Husserl letztendlich eine bloß in die Wahrnehmungsperipherie des Bewusstseins verschobene Gegenwart. Das ereignishafte Leben des Bewusstseins bildet einen Fluss, und zwar den Fluss ständig auftauchender intentionaler Akte, die die schon bestehenden Akte nach hinten verschieben (Vergangenheit). Die vergangenen Akte werden retendiert (Retention), und die zukünftigen protendiert (Protention). Das Bewusstsein der Gegenwart erscheint also immer als mit dem Bewusstsein der Vergangenheit und mit dem Bewusstsein der Zukunft verbunden. Daher ist das Bewusstsein ein Fluss und keine bloße Sukzession voneinander getrennter punktueller Augenblicke. Eher als eine vom Bewusstsein wahrgenommene Eigenschaft der Gegenstände zeichnet die Zeit die wirkliche Verwirklichung des transzendentalen Bewusstseins aus. Das Dasein des transzendentalen Lebens des Bewusstseins besteht genau in dieser unaufhörlichen Bewegung der Selbstzeitigung. Dieser Vorgang der Selbstzeitigung des Bewusstseins besteht im endlos erneuerten Auftauchen einer neuen Präsenz, einer neuen Gegenwart. 10 Diese husserlsche Lehre der Retention und der wiedererinnernden Vergegenwärtigung schützt zwar die Kontinuität des Flusses des intentionalen Bewusstseins, aber sie ordnet gerade deshalb die effektive Alterität der Vergangenheit der Gegenwart unter. Levinas versucht hingegen, die Vergangenheit als jene Vergangenheit zu denken, die niemals Gegenwart war. Er beschränkt sich hierbei jedoch nicht darauf, die heideggersche Lehre einer jeder Erinnerung ursprünglicheren Vergangenheit einfach zu wiederholen. Er versucht vielmehr, den Appell des Nächsten (autrui) in der anarchischen Spur des Unvordenklichen freizulegen. Jede vom Bewusstsein geleistete Vergegenwärtigung stellt sich gemäß dieser Analyse als schon immer vorausgegangen heraus. Die Alterität des Nächsten, jede Alterität als solche ist immer älter als jede Gegenwart. Dieses unwiederholbare Alter jeder Alterität bezeichnet die Diachronie der Vergangenheit und auf diese Weise ihre Wirklichkeit selbst. Diese Diachronie der Vergangenheit bildet jedoch keinen theoretischen Begriff als solchen 10
Vgl. ebd., S. 250.
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und lässt sich deshalb nur in der Spur des Altwerdens nahelegen, d. h. sie stimmt mit jener nicht synchronisierbaren Affektion des Alters überein, die das Fleisch des Bewusstseins selbst enthüllt. Diese levinassche Kritik an der Metaphysik der Präsenz stellt keine bloße Geringschätzung der Gegenwart dar. Levinas weist tatsächlich weder der Zukunft (wie bei Heidegger) noch der Vergangenheit zum Schaden der Gegenwart den Vorrang zu. Gerade umgekehrt und anders als es scheint, kann die Gegenwart im levinasschen Denken ihr Vorrecht aufrechterhalten, ohne deshalb einen metaphysischen Kompromiss einzugehen. Um diese These jedoch ausreichend zu rechtfertigen, wird es nötig sein, die Spezifität der levinasschen Konzeption der Gegenwart gegenüber den oben thematisierten Begriffen von Gegenwart hervorzuheben. Die Besonderheit der Gegenwart besteht bei Levinas darin, zunächst und zumal ein Ereignis zu sein, und zwar das Ereignis einer unvorhersehbaren und nicht vorwegzunehmenden Neuheit, die stets zu einem wirklichen Wiederanfangen des eigenen Lebens beiträgt. 11 Hiermit greift Levinas auf Husserl zurück, indem er die husserlsche Lehre der Verbindung von Zeit und Sinnlichkeit in dem urimpressionalen Charakter des inneren Zeitbewusstseins weiterentwickelt und thematisiert. Die Urimpression, in der Zeit und Sinnlichkeit übereinstimmen, wurde von Husserl als Selbstaffektion des Bewusstseins interpretiert. Levinas hingegen interpretiert sie als Heteroaffektion. Damit geht er mit Husserl über Husserl hinaus in dem Sinne, dass er die unwiederholbare Passivität der Urimpression der Aktivität der intentionalen Vergegenwärtigung gegenüberstellt und so die Grenze jeder traditionellen phänomenologischen Analyse überschreitet. Gerade deshalb muss Levinas auf andere Metaphern, auf einen anderen Wortschatz als jenen der philosophischen Tradition zurückgreifen, um sein Verständnis der Heteroaffektion zu verdeutlichen. Auf diese Weise bringt er ethische Phänomene wie die Vergebung (in Bezug auf die Vergangenheit) oder die Fruchtbarkeit (in Bezug auf die Zukunft) mit dem Phänomen der Zeit in Verbindung. Diese Ereignisse vollziehen jeweils die Wirklichkeit selbst der Vergangenheit bzw. der Zukunft. Die Vergebung macht auf diese Weise das Vergangene der Vergangenheit aus und die Fruchtbarkeit bildet das Futur »Le présent garde tout son privilège chez Levinas mais comme l’événement de la nouveauté imprévisible et comme la grâce d’un recommencement infini de ma vie.« Vgl. ebd., S. 255.
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der Zukunft. Auf diese Weise gelingt es Levinas, einerseits einen neuen Sinn für die Zeit zu gewinnen und andererseits Begriffen, deren Bedeutung banalisiert wurde, einen neuen Sinn zu verleihen. Es stellen sich jedoch noch einige Fragen – auf die Bernet mit Recht beharrt – und zwar die folgenden: Was für eine Andersheit ist jene, die das Bewusstsein angeht? Ist sie nicht etwa eine bloße Selbstaffektion, eine Selbstalteration der Subjektivität? Anders ausgedrückt, wann und wie ist die Alterität des Anderen als Proximität des Nächsten zu verstehen? Auf diese Fragen gibt es verschiedene Antworten, je nachdem, welche Bedeutung der Sinnlichkeit des Bewusstseins zugewiesen wird und je nachdem, wie Sprache gedacht wird. Die Sprache interpretiert Levinas als die wirkliche Bindung an die Alterität als solche. Sie ist eben die einzige Möglichkeit, mit dem Anderen wirklich in Verbindung zu treten, ohne seine Alterität zu annullieren. Die Sprache ermöglicht demnach die Überwindung der uneinholbaren Differenz, die die Diachronie der Zeit aufwirft, ohne diese Differenz abzuschaffen. Denn die Sprechenden bilden eine Einheit, die nicht als mathematische Einheit, als Nummer Eins, zu begreifen ist. Sprache geschieht immer im Dia-log bzw. als Bindung und kann nicht als Totalität definiert werden. Mittels ihrer teilt der Andere (autre) dem Selben seine Nächstenschaft (qualité d’autrui) mit. Diese Mitteilung ist aber keine Enthüllung einer besonderen subjektiven Eigenschaft, sondern eher der imperative Logos, der eben mit seiner Nächstenschaft übereinstimmt. Er lautet: Du wirst mich nicht töten. 12 Die Sprache wirkt performativ, und zwar in dem Sinne, dass durch sie das Subjekt als verantwortliche Ipseität für den Anderen eingesetzt wird. Auch wenn sowohl Husserl als auch Levinas die Sinnlichkeit des Bewusstseins als das Fleisch des Leibes interpretiert haben, stimmt der Sinn dieser Leiblichkeit bei Levinas letztendlich mit einem ethischen Sinn überein. Dieser ethische Sinn wird eben von nichts abgeleitet, er fällt vielmehr mit der grundlegenden Diachronie des Leibes Der Befehl »Du wirst mich nicht töten« muss zwar nicht als Gebot im religiösen Sinne interpretiert werden, aber auch nicht im Sinne einer bloßen ontologischen Beschränkung, als ob die Tötung des Anderen etwa unmöglich wäre. Dieser Logos bezeichnet zunächst und zumal einen ethischen Befehl, der eben wegen seines sprachlichen Charakters missverstanden bzw. überhaupt nicht gehört werden kann. »Du wirst mich nicht töten« bedeutet daher eher eine gewisse Unmöglichkeit bzw. Unfähigkeit – die effektive Anwesenheit der Alterität des Anderen, der der Tötung ausgesetzt ist. 12
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zusammen, der keinen Gegenstand des Raums bildet, indem er in der Welt, gegenüber der Welt und vor der Welt sich jeder strukturalen Gleichzeitigkeit entzieht. 13 Diese Diachronie des Leibes stimmt mit der Diachronie der Zeitlichkeit überein und ist letztendlich stärker als jeder strukturale Synchronismus und daher ethischer Art. Diese Uneinholbarkeit des Leibes wird von Levinas Position genannt. Diese Position stimmt mit dem Ereignis des Geboren-Werdens des Bewusstseins überein. Levinas übernimmt also die husserlsche Analyse des Raums, nach welcher die Nähe der Leiber zueinander nicht einfach als messbarer Abstand begriffen werden kann. Diese Nähe besagt tatsächlich nicht das bloße Beieinandersein der Objekte in der geometrischen Ebene, sondern sie bildet die ethische Nähe des Nächsten, die das jeweils inkarnierte Bewusstsein des Selben für ihn verantwortlich macht. Gerade in dem Augenblick, in dem sich das Bewusstsein als fleischlich erweist, ist es also nicht mehr möglich, es als in-different gegenüber dem Anderen zu begreifen. Die Identität des Selben, sein den Anderen Nicht-gleich-sein, macht deshalb nicht die Identität eines um sich selbst besorgten Individuums aus, sondern sie bedeutet eher die Nicht-In-differenz-des-Selben gegenüber den Anderen, d. h. sie legt Zeugnis ab von der unüberwindbaren ethischen Differenz des Einen zu dem Anderen. Jedenfalls bringt sie den Vorrang der ethischen Differenz vor jeder Identität zum Ausdruck und macht folglich die Verantwortung für den Anderen jenseits jeder Spontaneität und Freiheit nachvollziehbar. Der Leib erweist sich folglich als Anfang des Sinns der Ethik und steht daher diesseits jedes Ursprungs, jeder ersten Ursache oder jedes Prinzips, in dem Sinne, dass er sich als älter als jedes a priori herausstellt. Jede leibliche Erfahrung ist deshalb nicht »eine-Erfahrung-anstrebende-Wahrheit« sondern »die Quelle für ein transzendentales Wirken […], von der aus erst der eigentliche Begriff der Wahrheit einen Sinn empfängt«. 14 Aus dieser Erfahrung quillt also der Sinn jeder Bedeutung derart, dass das Sein selbst letztendlich sich vom Sinn her bestimmt. 15
Vgl. Levinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, aus dem Französischen von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg i. Br., München 1987, S. 180. 14 Vgl. ebd., S. 184. 15 Vgl. ebd., S. 288. 13
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Diese ethische Verantwortung, deren Ursprung sich nicht in der freien Spontaneität des Individuums ausmachen lässt, ist, wie schon erwähnt, zeitlicher Art. Sie ist anarchisch und anfänglich, und als solche hat sie ihren Sitz in der Gegenwart. Sie bildet dementsprechend weder ein Versprechen noch ein Projekt. Denn sie kommt von nichts und zielt auf nichts ab und erschöpft sich deshalb ganz und gar in der Gegenwart. Die Verantwortung verwirklicht sich anarchisch hic et nunc und ihr Appell ist kairologisch und daher unaufschiebbar. Ihre zeitliche Art und Weise koinzidiert dann mit jener des Kairos in dem Sinne, dass sie eine einzige Gelegenheit darstellt, die nicht verpasst werden darf. Die Gegenwart bildet also die tempus opportunus für den Anderen und als solche macht sie das Wesen, die Auszeichnung der Verantwortung aus. Als opportune Gelegenheit konstituiert folglich die Verantwortung die zeitliche Öffnung, die den Charakter apertus der Subjektivität ausmacht. Der offene Charakter der Subjektivität ergibt sich demnach nicht aus der intentionalen Modalität des Bewusstseins oder aus der ekstatischen Transzendenz des Existierens, sondern sie ergibt sich aus jener Verantwortung, deren Rechtfertigung in dem fleischlichen und daher zeitlich und räumlich positionierten Denken liegt. Die Überwindung der Metaphysik der Präsenz ist gerade in einem neuen Verständnis der Gegenwart bei Levinas enthalten. Diese Überwindung besteht eigentlich darin, die Gegenwart als Anfang zu verstehen. Diese jeweils neuanfängliche Gegenwart bildet eine das Bewusstsein stetig und unvorhersehbar durchsetzende Affektion, die einen absoluten Bruch zwischen der schon vergangenen und der noch eintreffenden Gegenwart setzt. Levinas interpretiert den impressionalen Charakter der Urimpression als heterologisch und dies auch in Bezug auf die Ethik, sodass jeder neue Augenblick der Zeit als absoluter, losgelöster Anfang einer Neuheit gedeutet wird. Levinas beharrt hierbei, wie bereits erwähnt, auf dem sinnlichen und vor-intentionalen Charakter der Retention, die von Husserl schon als »eigentümliche Intentionalität« bzw. »Intentionalität eigener Art« (Hua X, 31, 118) gekennzeichnet wurde. Die Eigentümlichkeit der Retention liegt in ihrem sinnlichen Charakter und in der Tatsache, dass die von ihr intendierten Gegenstände nicht objektiviert werden können. In der Retention versammeln sich in demselben Augenblick Gegenwart und Vergangenheit derart, dass sich innerhalb der Gegenwart des absoluten Bewusstseins ein absoluter Abstand des BewusstÜberwundene Metaphysik?
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seins zu sich selbst ergibt, ein unüberwindbarer Unterschied, der die absolute Identität des Individuums infrage stellt. Der synchronischen, linearen Identität des intentionalen Bewusstseins, dessen Kontinuität mit der Metapher des Flusses ausgedrückt wird, geht nach der levinasschen Interpretation eine grundlegende diskontinuierliche Diachronie voraus, die sich in keiner synthetisierenden Identität einholen lässt. Es handelt sich hierbei, wie gesagt, um keine theoretische Feststellung, sondern um die Zeitigung der Zeit selbst, die immer der feststellenden Reflexion vorausgeht. Die Feststellung kommt also immer zu spät. Tempus fugit, d. h. der Lapsus der Zeit ist für das Bewusstsein überhaupt uneinholbar. Die Verspätung des Bewusstseins zu sich selbst ist unüberwindbar und deshalb sagt Levinas, auf Proust anspielend, dass es letztendlich das Altern und die Suche nach einer verlorenen Zeit ist. 16 Das heißt nichts anderes, als dass »die Zeit nicht einer unbeweglichen Ewigkeit für ein unbeteiligtes Subjekt [entquillt]«. 17 Die Zeit entspringt in der Tat »weder einem zeitlosen Punkt noch vor dem Hintergrund einer gegebenen Zeit«. 18 Es gibt keine Zeit hinter der Zeit. Eine grundlegende Iteration also, eine Rückkehr zu sich selbst, macht eben die Zeitigung selbst der Zeit aus. So erklärt es Levinas: Geschehen und Bewusstsein sind auf derselben Ebene. Der Abstand der Urimpression ist das an sich erste Geschehen des Abstandes der Phasenverschiebung; es handelt sich nicht darum, diesen Abstand im Verhältnis zu einer anderen Zeit festzustellen, sondern im Verhältnis zu einer anderen Urimpression, die selbst »mit im Spiel« ist: Der Blick, der den Abstand feststellt, ist dieser Abstand selbst. Das Bewusstsein der Zeit ist nicht Reflexion über die Zeit, sondern die Zeitigung selbst: Die Nachträglichkeit der Bewusstwerdung ist das eigentliche Danach der Zeit. 19
Und im Folgenden: Das Fließen, das das Empfinden selbst der Empfindung ist, nennt Husserl absolute Subjektivität; sie ist tiefer als die objektivierende Intentionalität und geht der Sprache voraus. Hinter diesem ursprünglichen Strömen gibt es kein anderes Bewusstsein, das dieses Denken oder dieses Ereignis konstatieren würde. Das Strömen, in dem die Zweiheit des Bewusstseins und des Ereignisses überwunden ist, hat keine Konstitution mehr; es bedingt
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Ebd., S. 173. Ebd., S. 169. Ebd. Ebd.
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alle Konstitution und alle Idealisierung. Der Abstand ist Retention und die Retention ist Abstand: Das Bewusstsein der Zeit ist die Zeit des Bewusstseins. 20
Diese Iteration macht den oben erwähnten anfänglichen Charakter der Zeit und der ewigen Wiederkehr der Gegenwart aus. Die Spuren des völlig Neuen bleiben gemäß dieser Analyse in der unaufhörlichen Wiederholung desselben lesbar, und zwar derart, dass die Spur des Unvorhersehbaren sich nicht vollkommen aus der zeitlichen Kontinuität des Bewusstseins ausschließen lässt. Die Zeitigung der Zeit erweist sich, wie bei Descartes und Malebranche, als von einer kontinuierlichen Diskontinuität konstituiert. Die Gegenwart ist Anfang, weil sie ihren Sinn in sich selbst enthält. Diese anfängliche Gegenwart stimmt aber nicht mit der aktiven Spontaneität eines transzendentalen Subjekts überein, das sich mit jeder seiner Alterationen identifiziert. Diese Gegenwart wird hiermit heterologisch konzipiert. Das heißt, dass das spontane Auftauchen jeder neuen Urimpression sich nicht in der synthetischen Aktivität des Bewusstseins einholen lässt, sondern dass jede von außen stammende Urimpression sich als von dem Bewusstsein getrennt, d. h. als vollkommen anders durchsetzt. Der Fluss des Bewusstseins erweist sich daher letztendlich als diskontinuierlich, da sich jede neue »Empfindung« der Gegenwart als andere verstehen lässt und als von schon vergangenen bzw. zukünftigen Empfindungen der Gegenwart getrennt. Sinnlichkeit, Diskontinuität und Passivität machen also das levinassche Verständnis der Gegenwart aus, indem diese als urimpressionale Alterität-im-Selben interpretiert wird. 21
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Ebd., S. 179. Vgl. Bernet, Conscience et existence, S. 258.
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Die Bedeutung des Phänomens »Zeit« bei Levinas und das Erbe Kants 1 Max Brinnich
Levinas’ Zeitbegriff wird meist von der phänomenologischen Tradition, besonders von Husserl und Heidegger her, gelesen. 2 Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass sich Levinas Anfang der 1950er Jahre im »Kant’schen Echo«, wie er sagt, von dieser Tradition zum Teil auch distanziert. 3 Die Forschung zu Levinas’ Zeitbegriff hat Für die aufmerksame und kritische Durchsicht dieses Beitrags danke ich Oliver Bruns. 2 Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Levinas’ Zeitbegriff in der Regel bruchlos von seinen Frühschriften her gelesen wird, die der phänomenologischen Tradition noch besonders stark verpflichtet sind. Kant hat in diesen frühen Schriften bei Levinas noch einen sehr geringen Stellenwert. Das könnte erklären, warum der Name Kant in diesem Kontext bei Ludwig Wenzler in der bislang umfassendsten deutschsprachigen Untersuchung zu Levinas’ Zeitbegriff keine Erwähnung findet (vgl. Wenzler, Ludwig, Das Antlitz, die Spur, die Zeit, Freiburg i. Br. 1987, bes. S. 12– 30). Ähnlich auch in: Krewani, Wolfgang, »Zum Zeitbegriff in der Philosophie des Emmanuel Levinas«, in: Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Studien zum Zeitproblem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Freiburg, München 1982, S. 107–127; Hodge, Johanna, »Lévinas between Kant and Husserl«, in: Diacritics, 32/2002, S. 107–134; Pöggeler, Otto, »Andersheit, Unendlichkeit, Zeit. Die Wahrheitsfrage bei Lévinas«, in: Ernesto Garzón Valdés, Ruth Zimmerling (Hg.), Facetten der Wahrheit, Freiburg i. Br. 1995, S. 151–176; Esterbauer, Reinhold, »Die Zeit und ihr Ende«, in: Thomas Freyer, Richard Schenk (Hg.), Emmanuel Levinas – Fragen an die Moderne 1996, S. 73–94; Gelhard, Andreas, Levinas, Leipzig 2005 (vgl. etwa ebd., S. 1–36). 3 Levinas’ kritische Distanzierung von der Phänomenologie ist vor allem eine Distanzierung von der Ontologie Heideggers und erstreckt sich nach Einschätzung von Adriaan Theodoor Peperzak von 1927 bis 1950, die Ausbildung einer unabhängigen metaphysischen Lehre ist mit dem Hauptwerk 1961 anzusetzen (vgl. Peperzak, Adriaan Theodoor, Beyond, Evanston 1997, S. 38–39). 1950 erschien Levinas’ Aufsatz L’Ontologie est-elle fondamentale, der in der Levinas-Forschung weithin als Beginn der Abkehr von der ontologischen Methode einerseits und von Heidegger andererseits verstanden wird (vgl. ebd. S. 49 f.). Diese Abkehr geschieht nach Levinas’ Angaben im kantischen Echo (vgl. Levinas, »Ist die Ontologie fundamental«, in: ders., ZU, S. 11–24, 19). Allgemein gewinnt der Name Kant in späteren Schriften von Levinas in diesem Kontext stark an Bedeutung (vgl. zu dieser Thematik: Fischer, Norbert, »Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? Der Zugang zur Gottesfrage 1
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Die Bedeutung des Phänomens »Zeit« bei Levinas und das Erbe Kants
dies noch nicht aufgearbeitet und es fragt sich, ob sich in Levinas’ späteren Schriften, neben den bereits vielfach nachgewiesenen Einflüssen der praktischen Philosophie Kants, auch Spuren von dessen theoretischem Zeitbegriff finden. In Verbindung damit stellt sich auch die werkgeschichtlich relevante Frage, inwiefern sich Levinas in diesem Themenbereich an den Grundlinien von Heideggers Sein und Zeit bewegt, dem er bekanntermaßen viel verdankt. Zudem fragt sich, ob, wann und inwiefern Levinas sich im Zuge seines Projekts einer Ethik als Erster Philosophie von Heideggers rein ontologischer Bestimmung des zeitlich Seienden in Sein und Zeit distanziert, und ob Kant dabei eine Rolle spielt, die für Levinas’ Perspektive auf das Phänomen Zeit und seine Bedeutung für die Philosophie ausschlaggebend ist. Um diesen Fragen nachzugehen, wird hier in drei Schritten vorgegangen. Zunächst werden mögliche Überschneidungspunkte zwischen den Ansichten präsentiert, die Kant und Levinas zum Phänomen der Zeit und zu seiner Bedeutung für die Philosophie vertreten. Danach wird untersucht, inwiefern sich Levinas’ Perspektive auf diesen Themenbereich zwischen 1940 und 1960 verändert und inwiefern dieser Wandel mit einer Distanzierung von Heideggers rein ontologischer Bestimmung des Seienden in Sein und Zeit einerseits und mit einer Annäherung an Kant andererseits verbunden ist. In einem dritten und letzten Schritt wird dargestellt, inwieweit Levinas in seinem Spätwerk im Blick auf die dortige Bestimmung des zeitlich Seienden an Kant anknüpft und inwieweit er den kantischen Rahmen verlässt.
I. Im Zentrum der kantischen Überlegungen zur Zeitthematik steht das Theorem, dass Zeit die Form des inneren Sinns ist. Damit verbunden ist Kants strikte Trennung von Sinnlichkeit und Verstand, die überhaupt ein Dreh- und Angelpunkt der kantischen Philosophie ist 4 und bei Levinas durch kritische Anknüpfung an Heidegger und Kant«, in: ders. (Hg.), Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, Hamburg 2013, S. 49–85, 49). 4 Diese Interpretation verfolgt auch Levinas, der schreibt: »Die Kraft der kantischen Philosophie des Sinnlichen besteht, wie wir gesagt haben, darin, den irrationalen Charakter der Empfindung zu behaupten; die Empfindung ist auf immer Idee ohne Klarheit und Deutlichkeit, sie gehört dem Bereich des Nützlichen und nicht des Wahren Überwundene Metaphysik?
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eine rein verstandesmäßige Bestimmung der Zeit bei Kant unmöglich macht. Bei Levinas finden sich Anzeichen für eine Auseinandersetzung mit diesem kantischen Gedankengut. In seinem Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit zeichnet er in diesem Kontext das Bild einer zeitlichen Phänomenalität, deren Wahrheit vom Verstand unmöglich zu erkennen ist: Das »Was ist das« spricht das »dieses« als »jenes« an. Denn objektiv erkennen heißt, das Historische kennen, das Faktum, das schon Geschehene, das schon Überholte. […] Das Historische ist auf immer von seiner eigentlichen Gegenwart abwesend. Wir wollen damit sagen, daß es hinter seinen Erscheinungen verschwindet – seine Erscheinung ist immer oberflächlich und zweideutig, sein Ursprung, sein Prinzip, sind immer woanders. Es ist Phänomen – Realität ohne Realität. Das Verfließen der Zeit, in dem sich nach dem kantischen Schema die Welt konstituiert, ist ohne Ursprung. Da diese Welt ihr Prinzip verloren hat, an-archisch ist, phänomenale Welt, gibt sie keine Antwort auf die Frage nach dem Wahren; sie genügt dem Genuß, der Genuß ist das Genügen selbst. 5
Levinas sieht sich hier mit Kant darin einig, dass objektive Erkenntnis ein Phänomen ist, dessen Gegenstand vor seiner Zeit erschienen ist, was die objektive Erkenntnis der Zeit unmöglich macht. 6 Er scheint an. Die Kraft auch der kantischen Philosophie des Sinnlichen besteht darin, Sinnlichkeit und Verstand zu trennen, die Unabhängigkeit der ›Materie‹ der Erkenntnis im Verhältnis zum synthetischen Vermögen der Vorstellung festzuhalten.« Levinas, TU, S. 192/TI, S. 109. 5 Levinas, TU, S. 86/TI, S. 36, vgl. hierzu ders., TU, S. 192/TI, S. 109 sowie JS, S. 86 f./ AQ, S. 43 f.; i. Ggs. hierzu entgegnet Levinas Kant in seiner Frühschrift Die Zeit und der Andere noch, Zeit sei ein durch »die mannhafte Macht des Subjekts« gesetztes Schema (vgl. ders., TA, S. 34/ZA, S. 28 f.). Die These der Mannhaftigkeit des Subjekts steht bei Levinas später vielerorts in der Kritik, besonders zentral etwa in seiner Schrift Humanismus und An-archie. Ein interessantes Detail ist, dass auch Kant in seiner Inauguraldissertation noch die Ansicht vertritt, Zeit sei ein intellektuelles Schema (vgl. Kant, MSI, §§ 9 u. 13). 6 Kant betont in der Kritik der reinen Vernunft entsprechend, Zeit sei als Form der Anschauung weder etwas, »was für sich selbst bestünde« noch etwas, was »den Dingen als objektive Bestimmung anhinge« (Kant, KrV, A33/B49). Damit spricht er der Zeit ab, unabhängig von der Anschauung eines Objekts, aber auch, am Objekt der Anschauung real zu sein. Nach dieser Bestimmung ist die Zeit weder direkt noch indirekt ein mögliches Objekt des Verstandes. Als Form der Anschauung seines Gegenstandes ist die Zeit bei Kant aber eine epigenetische Voraussetzung des Verstandes, die dieser im Urteil über den ihm je schon gegebenen Gegenstand historisiert. Norbert Fischer weist in diesem Kontext mit vollem Recht darauf hin, dass nach Kant alle »Vergegenwärtigung des Zeitlichen« eine »Entzeitlichung des Gegebenen« ist und Kants Vergegenwärtigung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, davon
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damit zumindest Momente von Kants strikter Trennung von Sinnlichkeit und Verstand aufzunehmen, in deren Kontext Kant die objektive Erkenntnis der Zeit an sich ebenso ausschließt wie das Auffinden einer letzten Wahrheit als Bewusstsein eines Dinges an sich. Ferner ist in der eben zitierten Textpassage auch die Einsicht enthalten, dass Wissen nicht als ursprüngliche Präsenz einer Wahrheit an sich, sondern nur als Zurückwendung auf ein Faktum möglich ist, das sich in einer bereits verflossenen Zeit phänomenal konstituiert hat. 7 Damit ist einerseits die Diskursivität des erkennenden Verstandes verbunden, der zeitlich erst nach einem von seiner Gegenwart abwesenden Phänomen, das ihm zur Reflexion gegeben ist, möglich ist. Andererseits schließt das die Bestimmung der Erkenntnis als kritisches Bewusstsein der eigenen Faktizität ein – ein Wissen, das hinter seinen Ursprung zurückfragt, das heißt an faktische Voraussetzungen gebunden ist, aber zugleich frei ist, sie zu hinterfragen: Die Theorie, in der die Wahrheit entspringt, ist die Haltung eines Seienden, das sich selbst mißtraut. Das Wissen wird erst zum Wissen einer Tatsache, wenn es gleichzeitig Kritik ist, wenn es sich selbst in Frage stellt, wenn es hinter seinen Ursprung zurückgeht (darin Bewegung gegen die Natur, sie besteht darin, hinter den eigenen Ursprung zurückzufragen und bezeugt oder beschreibt eine geschaffene Freiheit). 8
nicht ausgenommen, darum ein »System der Epigenesis der reinen Vernunft« sei (Fischer, Norbert, »Die Zeit als Problem in der Metaphysik Kants«, in: ders. (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. Hamburg 2004, S. 409–431, 417; vgl. hierzu Kant, KrV, B417). 7 In Reaktion auf Garves Rezension seiner Kritik der reinen Vernunft artikuliert Kant in den Prolegomena sein dem nahe liegendes Anliegen, nicht »von dem Entstehen der Erfahrung […], sondern von dem, was in ihr liegt« zu sprechen (Kant, Prol, AA 04, S. 304). Diesen Gedanken formuliert er schließlich als Grundsatz, wonach Erfahrung nur immanent beurteilt werden kann (Kant, Prol, AA 04, S. 328). Damit verdeutlicht Kant die Natur unseres diskursiven Verstandes: wir müssen allererst Erfahrungen machen, um sie zu beurteilen (vgl. zur diskursiven Natur unseres Verstandes bei Kant bes. KrV, »Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt«). Nach dieser Einschätzung ist der Verstand ein Epiphänomen der Erfahrung, die er nur immanent beschreiben kann. Eine Konsequenz daraus ist, dass die Philosophie nach Kant keine objektiv konstitutiven, sondern nur subjektiv regulative Grundsätze der Erfahrung verhandeln kann (vgl. zum kantischen Begriffsapparat in diesem Zusammenhang bes. Bird, Graham, »Kant’s Analytical Apparatus«, in: Roxana Baiasu, Graham Bird (Hg.), Contemporary Kantian metaphysics, Basingstoke 2011, S. 125–139). 8 Levinas, TU, S. 113/TI, S. 54. Überwundene Metaphysik?
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Dieser Gedanke findet sich bei Levinas schließlich in dem Diktum wieder, »[d]as Phänomen selbst ist Phänomenologie«, 9 welches im Kern besagt, dass das Phänomen in der Weise existiert, verstanden und hinterfragt zu werden. Es existiert so, dass es den Sinn konstituiert, in dem es thematisch wird. Dabei ist das Phänomen seinem sein im verbalen Sinn nach von seiner Bedeutung getrennt. Denn indem das Phänomen Sinn konstituiert, der hinterfragt wird, wird sein sein durch verschiedene Anfänge skandiert, die den jeweiligen Sinn, der sein sein bestimmt, infrage stellen und ihm eine andere Bedeutung verleihen. Und diese Trennung von Sinn und Bedeutung des Phänomens ist der wohl wichtigste Schnittpunkt von Levinas’ Ansätzen mit denjenigen Kants. Ab 1951 bestreitet Levinas im Horizont dieser Trennung und »im Kant’schen Echo«, 10 wie er sagt, nämlich zunehmend die Möglichkeit einer fundamentalen ontologischen Bestimmung des Seienden. Das erklärt sich daraus, dass es zufolge dieser Trennung schlicht und ergreifend unmöglich ist, das Seiende, das verstanden wird – das Phänomen –, rein ontologisch zu verstehen, wenn es seinem sein nach von seiner Bedeutung je schon getrennt ist. In dieser kritischen Perspektive auf die ontologische Bestimmung des Seienden vermutet Levinas nun nicht ganz zu Unrecht den Kern von Kants so genannter kopernikanischer Revolution der Philosophie. 11 Das Stichwort »Revolution« meint dabei nicht nur eine radikale Veränderung, sondern ist auch im astronomischen Sinn als Umlaufbewegung der Planeten um die Sonne zu verstehen: nach Kopernikus rotiert die Erde um sich selbst, während sie selbst im astronomischen Sinne des Wortes, um die Sonne revoltiert. Kants kopernikanische Revolution der Philosophie orientiert sich daran und besagt, dass der Mensch seinem sein, um das er sich dreht, eine Bedeutung beimisst, die von dem Sinn, in dem dieses in geregelten Bahnen verläuft, streng zu unterscheiden ist. Kants Einschätzung birgt eine radikale Neubestimmung der Philosophie, die demnach auf ihrer metaphysischen Suche nach der Bedeutung des Seienden nicht mit der ontologischen Bestimmung desselben beginnen kann, wie es in der Tradition vor Kant noch üblich war, die in der Ontologie ein metaphysisches Lehrgebäude erblickte. Levinas, JS, S. 94/AQ, S. 48. Levinas, »Ist die Ontologie fundamental«, in: ders., ZU, S. 11–24, 19. 11 Vgl. hierzu die folgende Anmerkung. 9
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II. Dieses revolutionäre Verständnis von Philosophie, das beim späten Levinas als Zustimmung zum kantisch-kopernikanischen Grundgedanken ausführlich dokumentiert ist, 12 ist in dessen Frühschriften jedoch noch nicht zu finden. Dort begegnet Levinas Kant eher reserviert. 13 Mit zunehmender Distanzierung von Heideggers ontologischem Verständnis des Daseins gewinnt Kant in den Jahren zwischen 1951 und 1961 für Levinas schließlich an Bedeutung, was im Folgenden gezeigt werden soll. Vor dem Jahr 1951, in dem Levinas’ kurze Abhandlung mit dem Titel Ist die Ontologie fundamental? erscheint, sind seine Ausführungen jedoch noch weitgehend an Heideggers ontologischem Verständnis des Daseins orientiert. So bewegt sich Levinas in Vom Sein zum Seienden von 1947 und Die Zeit und der Andere aus den Jahren 1946/47 noch sehr nahe an den Grundlinien von Heideggers Sein und Zeit. Den Grundgedanken dieser beiden Arbeiten artikuliert er in unverkennbarer Replik an Heideggers Darstellung eines Seienden, das wesentlich dadurch bestimmt ist, »[d]aß es ist und zu sein hat«. 14 In Vom Sein zum Seienden hält Levinas fest: Das »Seiende« hat schon einen Vertrag geschlossen mit dem Sein. Man kann es nicht isolieren. Es ist. Es übt schon über das Sein eben die Herrschaft aus, die das Subjekt über sein Attribut ausübt. 15
Ähnlich wie das Dasein bei Heidegger ist das Seiende in dieser Szenerie gezwungen, das Sein als Subjekt zu übernehmen – es ist unentrinnbar jemand. 16 Das Ich steht hier am Ursprung alles dessen, was ist, umfasst das Verb sein in allen Filiationen. Alles geschieht so, dass
Siehe bspw. Levinas, GZ, S. 67–77, 196; Humanismus und An-archie, in: ders., HAM, S. 82/HAH, S. 82; JS, S. 287/AQ, S. 166; TU, S. 86, 270/TI, S. 36, 163; zu Kants Begriff der kopernikanischen Revolution in der Philosophie vgl. Kant, KrV, Kant, BXXII Anm. 13 Vgl. etwa Levinas, VS, S. 41, 64, 98, 121 ff./EE, S. 52, 86, 87 ff., 136 u. ders., ZA, S. 28/TA, S. 33 f. 14 Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 19 2006, S. 144. 15 Levinas, EE, S. 16/VS, S. 17; vgl. ders., TA, S. 34/ZA, S. 29 16 Vgl. Levinas, EE, S. 49/VS, S. 39; vgl. hierzu Andreas Gelhard, »Arrêt. Levinas’ frühe Philosophie der Zeit«, in: Andreas Gelhard, Ulf Schmidt, Tanja Schultz (Hg.), Stillstellen, Schliengen 2004, S. 250–260, bes. 250 f.; zu Levinas’ frühem dialektischontologischem Zugang vgl. Levinas, ZA, S. 18/TA, S. 18. 12
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»[d]as Individuum […] voll und ganz Ich« bleibt. 17 Die Zeit hat hier gegenüber dem souveränen Ich die vergleichbar untergeordnete Bedeutung des Schemas seines Ereignisses. Die Zeit, die sich ereignet, die Zeit, die ist, und von der in Levinas’ Worten eine »kantische Erfahrung« möglich ist, ist dagegen nur ein psychologisches Datum. 18 Auffallend ist nun ferner, dass Levinas in diesem Zusammenhang zwar nicht von Metaphysik im herkömmlichen Sinn spricht, wohl aber deren traditionelle Gegenstände verhandelt: Seele, Welt und Gott. So führt er aus, das Seiende empfange, um ein Ich zu werden und sich nicht in der Anonymität des Seins zu verlieren, die Differenz eines Innen zu einem Außen als Differenz zwischen Seele und Welt. 19 Ferner müsse es seine Setzung als Anstrengung, als kreatürlichen Akt begreifen, mithin seine »Unfähigkeit, sich im Sein zu bewahren« als »Notwendigkeit, in jedem Augenblick auf die göttliche Wirkungskraft zurückzugreifen«. 20 Seele, Welt und Gott werden hier zwar nicht aus einem ontologischen Lehrgebäude deduziert, sind aber gewissermaßen in einem ontologischen Begriff des Ich enthalten. 21 Daraus ergibt sich eine gewisse Nähe zum populären Schulbegriff eines metaphysischen Idealismus, aus der Levinas auch kein Geheimnis macht. Er ergänzt nur, dass die »idealistische Deutung der Identität des ›Ich‹ […] die logische Idee der Identität losgelöst vom ontologischen Ereignis der Identifikation eines Seienden« benutze – er tue das nicht. 22 Bei näherer Betrachtung ist das aber weniger schlüssig: das Ereignis der Identifikation des Seienden mit sich, könnte eingewendet werden, setzt nämlich die ontologische Trennung desselben von sich voraus. Die Identifikation mit sich wäre demnach geLevinas, VS, S. 48/EE, S. 62; vgl. ders., VS, S. 104/EE, S. 144 u. ZA, S. 28 f./TA, S. 33 f. 18 Vgl. Levinas, VS, S. 41, 64, 98, 121 ff./EE, S. 52, 86, 87 ff., 136 u. ders., ZA, S. 28/ TA, S. 33 f. 19 »Im ganzen abendländischen Idealismus bezieht sich Sein auf diese intentionale Bewegung eines Innen hin zu einem Außen. Das Sein ist das, was gedacht, gesehen, gehandelt, gewollt, gefühlt wird, das Objekt. So hat das Sein in der Welt immer eine Mitte; es ist niemals anonym. Der Begriff der Seele, eines verhüllten Inneren ist konstitutiv für die Welt. […] Die Welt ist das, was uns gegeben ist. […] Gewiß, das Gegebene kommt nicht von uns, aber wir empfangen es.« Levinas, EE, S. 58/VS, S. 45 f. 20 Levinas, VS, S. 92/EE, S. 129, vgl. zum Gottesbegriff ders., VS, S. 35, 73 f./EE, S. 43, 99. 21 Vgl. Levinas, VS, S. 17/EE, S. 15 f. 22 Levinas, VS, S. 107/EE, S. 149. 17
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genüber der dafür konstitutiven ontologischen Trennung von sich ein rein logisches Ereignis ohne ontologische Dignität. Nach diesem Einwand wäre die Identifikation des Seienden mit sich und mit ihr schließlich auch die Konstitution des Ich ein historisches und rein logisches Phänomen: beides wäre nach der Trennung des Seienden von sich anzusetzen und könnte sich auch nur in ihrem Rahmen bewegen, ohne ihren ontologischen Status zu verändern. Im Ich, das sich je schon in den Grenzen dieser Identifikation bewegt, müsste es dennoch so scheinen, als drehe sich alles nur um diese Identifikation mit sich selbst. Diesem idealistischen Schein könnte Levinas’ frühe Bestimmung des Ich in den Jahren zwischen 1946 und 1947 anheimgefallen sein. Einige Jahre später vertritt Levinas in diesem Punkt eine völlig konträre Ansicht. In Totalität und Unendlichkeit von 1961 findet sich ein ausgeprägtes Problembewusstsein für die eben dargestellten idealistischen Irrwege seiner beiden Frühschriften Vom Sein zum Seienden und Die Zeit und der Andere von 1946/47: Daß die Vorstellung durch das Leben bedingt ist, daß aber diese Bedingtheit nachträglich umschlagen kann – daß der Idealismus eine immerwährende Versuchung darstellt –, liegt selbst am Geschehen der Trennung, die man keinen Augenblick als abstrakten Schnitt im Raum deuten darf. Gewiß zeigt die Tatsache der Nachträglichkeit, daß die Möglichkeit der konstituierenden Vorstellung nicht der abstrakten Ewigkeit oder dem Augenblick das Privileg zurückgewinnt, für jedes Ding das Maß zu sein; sie zeigt im Gegenteil, daß das Ereignis der Trennung an die Zeit gebunden ist, und sie zeigt sogar, daß sich daher die Artikulation der Trennung in der Zeit an sich selbst ereignet und nicht nur in zweiter Linie für uns. 23
Levinas beschreibt den Idealismus hier als »immerwährende Versuchung«, das zeitliche Verhältnis von Leben und Vorstellung zu verkehren. Indem die Vorstellung nach Levinas durch das Leben bedingt ist, ruht sie auf »einem fertig konstituierten Realen«, 24 dem sie sich gegenüberstellt und auf dessen Grundlage sie sich konstituiert. Weil sie sich dabei dem eigenen Leben, auf dem sie beruht, gegenüberstellt, positioniert sie sich als ein Ich, das sich seiner Natur entgegensetzt. 25 Für dieses Ich stellt der Idealismus insofern eine »immerwährende Levinas, TU, S. 245/TI, S. 144. Levinas, TU, S. 245/TI, S. 144. 25 »Die Möglichkeit einer Vorstellung, die konstitutiv ist, aber schon auf dem Genuß eines fertig konstituierten Realen beruht, bezeichnet den radikalen Charakter der Entwurzelung dessen, der sich im Haus versammelt hat; im Haus stellt sich das Ich 23 24
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Versuchung« dar, als es sich seinem Leben nachträglich qua Vorstellung als konstituierendes Moment gegenüberstellt und sich damit als das je schon Frühere setzt. Im Blick auf das zeitliche Verhältnis von Leben und der ihm nachträglichen und für das Ich konstitutiven Vorstellung spielt die Zeit, wie soeben gezeigt werden konnte, eine für das Ich grundlegende Rolle. Die Zeit ist dort konstitutiv für das Ich – ereignet sich, wie Levinas sagt, in erster Linie für das Ich, das heißt, um es möglich zu machen, und nicht in zweiter Linie, etwa so, dass sich ein Ich, das der Sache nach schon da wäre, in der Zeit selbst konstituiert. Das hat Levinas in den späten 1940er Jahren, wie hier ebenfalls gezeigt werden konnte, noch ganz anders gesehen. Zwischen 1940 und 1961 kommt es bei Levinas in diesem Punkt demnach zu einem radikalen Perspektivenwechsel, der Levinas, wie nun zu zeigen ist, dem Denken Kants sehr viel näherbringt, als in der Forschung üblicherweise angenommen wird.
III. So erinnert bereits Levinas’ hier soeben dargestellte Rede von einer sich aufdrängenden idealistischen Versuchung, die seine Schriften mit Beginn der 1950er Jahre vielerorts prägt, sehr an Kant: es scheint so, als ob sich das eigene sein nach dem Denken richte, während und weil das Denken in der Zeit steht. 26 Diese Überlegung, die Kant in den Abschnitten über die Transzendentale Dialektik innerhalb der Kritik der reinen Vernunft ausbreitet, steht im Zentrum der kantischen Vernunftkritik und ist dort mit- oder sogar hauptverantwortlich dafür, dass Kant die Möglichkeit einer rein ontologischen Bestimmung des Seienden als eine vernunftimmanente Täuschung betrachtet, deren Darstellung mehr dazu dient, »Irrtümer abzuhalten, als Erkenntnis zu erweitern«. 27 Es ist daher nicht ganz unwahrscheinlich, dass die oben aus Levinas’ Spätwerk zitierte Textpassage zum Thema der nach seiner
einer Natur gegenüber, obwohl es gleichzeitig in den Elementen badet.« Levinas, TU, S. 245/TI, S. 144. 26 Vgl. zu dieser Thematik bei Kant vor allem Kant, KrV, »Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele«. 27 Kant, KrV, A851/B879.
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Ansicht immerwährenden idealistischen Versuchung bei Levinas ähnlich weitreichende systematische Konsequenzen für Levinas’ Verständnis von Metaphysik einerseits und von Zeit andererseits birgt wie bei Kant. Das liegt nicht zuletzt an dem darin enthaltenen Philosophem einer zeitlichen Trennung des Seienden von sich, der gegenüber die Identifikation des Seienden mit sich nachträglich und rein logischer Natur ist. 28 Dieses Theoriestück impliziert einen Begriff vom Denken qua Erinnerung oder nachträglicher Identifikation mit etwas, von dem es bereits absolut getrennt ist. Es ist dies ein Denken, das immer später als seine Ursache ist, dem es aber, da es sich nachträglich als rein konstitutives Moment setzt, so scheint, als ob es seiner Ursache vorhergehe, und das damit die chronologische in eine logische Ordnung verkehrt: Daß es eine chronologische Ordnung im Unterschied zur »logischen« Ordnung zu geben vermag, daß es in dem Vorgehen mehrere Momente geben kann, daß es ein Vorgehen gibt – eben das ist die Trennung. Dank der Zeit nämlich ist das Seiende noch nicht […]. Selbst seine Ursache, die älter ist als das Seiende, ist noch zu-künftig. Die Ursache des Seienden wird durch ihre Wirkung gedacht oder erkannt, als ob sie später wäre als ihre Wirkung. Man spricht leichthin von der Möglichkeit dieses »Als-ob«, als bezeichne sie nur eine Illusion. Indessen ist die Illusion nicht zufällig, sondern stellt ein positives Ereignis dar. Die Nachträglichkeit des Vorhergehenden – eine Umkehrung, die logisch absurd ist – ereignet sich nur, so könnte man sagen, kraft der Erinnerung oder kraft des Denkens. 29
Im Denken ist das Seiende bei Levinas demnach von dem, was ist, kraft der damit verbundenen Erinnerung getrennt. In diesem Zusam-
Levinas schreibt in diesem Zusammenhang entsprechend auch: »Das Ich ist […] die ursprüngliche Leistung der Identifikation« und »[d]as universale Denken ist ein ›Ich denke‹« (Levinas, TU, S. 40/TI, S. 6) – auch das erinnert sehr stark an Kant, bei dem die Vorstellung »Ich denke« die reine Apperzeption ist (vgl. zu dieser Thematik Kant, KrV, »§ 16. Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperception«). 29 Levinas, TU, S. 68 f./TI, S. 25. Wie Dieter Hattrup schreibt, stellt Levinas in seinem Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit vor allem »in Abrede […], daß das Wissen und die zugehörigen Techniken der Wissenschaft zum letztgültigen Sinn des Seins und des Lebens vorstoßen können. Folglich stellt es in Abrede, daß das transzendentale Ich das wahre Ich ist« (Fischer, Norbert/Hattrup, Dieter, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, Paderborn 1999, S. 30 f.). Zu Levinas’ Kritik an Kants Begriff eines transzendentalen Ich vgl. v. Vf., »Levinas’ kantisch-kopernikanische Wende: das Ich, die Freiheit und die Zeit«, in: Violetta L. Waibel (Hg.), Kant: Freiheit der praktischen Vernunft – vielstimmiger Widerhall, Berlin, New York voraussichtlich 2017. 28
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menhang spricht Levinas von einer »ontologische[n] Trennung des Metaphysikers und des Metaphysischen«. 30 Wie bereits vermutet zeigen sich in diesem Punkt erstaunliche Parallelen zum kantischen Gedankenhorizont: dem Ich, sofern es denkt, scheint es bei Levinas je schon so, als bilde es eine unzertrennliche Einheit mit seinem sein. Ähnlich kann das Ich, sofern es denkt, bei Kant der Illusion anheimfallen, es sei in seinem sein allein durch sein Denken zu bestimmen. 31 Zu beachten ist allerdings, dass Levinas in diesem Idealismus eine Grundbestimmung des Denkens erkennt – für Levinas ist der Idealismus nicht wie bei Kant eine »Illusion«, die auftreten kann, aber nicht muss, sondern ein konstitutives Moment des Denkens. Kant hingegen präsentiert den Idealismus im so genannten Paralogismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft als einen natürlichen Fehlschluss des rein spekulativen Denkens, das versucht, seine eigene Existenzweise zu bestimmen. Er sieht darin folglich eine Illusion, die das Denken nur unter der Bedingung befällt, dass es sich in rein spekulative Gefilde begibt, um mittelbar über seine eigene Existenzweise zu urteilen. Trotz dieser Differenzen sind die Gemeinsamkeiten zwischen Levinas und Kant in diesem Kontext, vor deren Hintergrund beide die Möglichkeit einer rein ontologischen Bestimmung des Seienden ausschließen, jedoch derart augenscheinlich, dass die Vermutung nahe liegt, dass Levinas sich in diesem Punkt, der einen entscheidenden Bruch mit seinem Frühwerk bedeutet, an Kant orientiert hat. 32 Ob Levinas, TU, S. 69/TI, S. 25. Vgl. Kant, KrV, »Von den Paralogismen der reinen Vernunft«. 32 Werkgeschichtlich gesehen gewinnt Kant und besonders das Herzstück von dessen Kritik der reinen Vernunft – die Transzendentale Dialektik – in Levinas’ späten Schriften jedenfalls stark an Bedeutung (diese Ansicht teilt auch Fischer, »Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?«, 49). Seine Spätschrift Jenseits des Seins einleitend nennt Levinas als Referenzen nur Kant in rein wohlwollender Absicht, diesen aber dreifach und in Rücksicht auf die Transzendentale Dialektik sowie im Zusammenhang mit den Begriffen von Subjekt und Zeit (Levinas, JS, S. 37, 48 Fn. 10, 54/ AQ, S. 10 f., 17 Fn. 10, 21). Sein Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit und seine Vorlesungsreihe zu Gott, der Tod und die Zeit, die eine dort nicht mehr auffindbare Kritik an Kants Begriff eines transzendentalen Ideals enthalten (vgl. bes. Levinas, TU, S. 281/TI, S. 170 u. GZ, S. 165–168), sind dahingegen, was die Trennung von phänomenalen und noumenalen Begriffen betrifft, ausdrücklich an Kants Ausführungen zur Transzendentalen Dialektik orientiert (vgl. Levinas, TU, S. 86, 109, 192, 269 f./ TI, S. 36, 51 f., 109, 162 f. u. GZ, S. 67–76, 196). Darüber hinaus führen alle zentralen Schriften von Levinas aus dieser Epoche nahezu deckungsgleich Kants kopernikanische Wende in der Philosophie im Zusammenhang mit den Begriffen von Subjekt 30 31
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diese Vermutung aber auch werkgeschichtlich gerechtfertigt ist, steht hier noch zur Debatte und ist nur im größeren Zusammenhang der Kant-Rezeption in Levinas’ Spätwerk zu entscheiden. Der Zusammenhang von Levinas’ und Kants Überlegungen ist in dieser Angelegenheit wie schon gesagt gut am Gedanken von Kants kopernikanischer Revolution in der Philosophie zu dokumentieren. Bei Kopernikus dreht sich die Erde um sich und um die Sonne. Bildlich gesprochen dreht sich zufolge von Kants kopernikanischer Revolution in der Philosophie der Zuschauer beziehungsweise das Subjekt um sein innerstes sein, dass seinerseits um ein äußeres Zentrum kreist, das dem Subjekt, dessen Anschauung nur die eigene Existenzweise in der Welt umfasst, so, wie es überhaupt und an sich selbst ist, unbekannt ist. Dennoch erkennt es das Äußere qua Anschauung seines inneren Selbst, das ja je schon in der Welt steht und sich daher auch als Phänomen des größeren Zusammenhangs der Welt präsentiert. Es kann dadurch aber eben weder sein eigenes sein noch die Dinge außer ihm, so wie sie an sich selbst sind, erkennen. 33 In dieser Szenerie spielt der Zuschauer in praktischer Hinsicht je schon nach den Regeln dieser Welt. In Levinas’ Worten gesagt: »[d]er Zuschauer ist zugleich der Schauspieler«. 34 Das heißt, er versteht die
und Zeit an (vgl. bspw. Levinas, GZ, S. 67–77, 196; Humanismus und An-archie, in: ders., HAM, S. 82/HAH, S. 82; JS, S. 287/AQ, S. 166; TU, S. 86, 270/TI, S. 36, 163). 33 Für Kants Veranschaulichung vgl. Kant, KrV, BXVI u. BXXII Anm. Die kopernikanische Revolution der Denkungsart impliziert hiermit eine Bedeutung der Subjektivität jenseits ihres objektiven Verstehens, die sie praktisch umsetzt, ohne sie je an sich zu erfahren. Es ist hier richtig, wenn Friedrich-Wilhelm von Herrmann schreibt, dass Kants Beschränkung der theoretischen Erkenntnisse der Vernunft auf den erfahrungsimmanenten Bereich mit der Erweiterung der Aufgaben der praktischen Vernunft auf ein Jenseits der Erfahrung einhergeht (vgl. Herrmann von, Friedrich-Wilhelm, »Kants Vorreden zur ›Kritik der reinen Vernunft‹ als Wegweisung zu einer neuen Wesensbestimmung der Metaphysik«, in: Norbert Fischer (Hg.), Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik, Hamburg 2010, 23–32, 24 f.). Herrmann folgert, es handle sich dabei um unlösbare Erkenntnisaufgaben. Die Folgerung ist nicht zwingend – die theoretische Vernunft könnte auch umgekehrt an sich unverständliche praktische Aufgaben zu verstehen suchen (vgl. das einschlägige Kapitel in Kant, KpV, »Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen«, AA 05; für die Rezeption dieses kantischen Lehrstücks bei Levinas vgl. dessen Schrift »Le primat de la raison pure pratique/Das Primat der reinen praktischen Vernunft«, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Jakub Sirrovátka, in: Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg 2004, S. 179–205). 34 Levinas, Die Bedeutung und der Sinn, HAM, S. 17/HAH, S. 26. Überwundene Metaphysik?
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Welt theoretisch nur darum, weil er praktisch schon nach ihren Regeln spielt. 35 Demnach ist mit Kants kopernikanischer Revolution in der Philosophie, wie bekannt, auch ein Primat der praktischen Absicht der Vernunft vor ihrer theoretischen verbunden und an diesem Aspekt von Kants kopernikanischer Revolution in der Philosophie scheint Levinas in seinem Spätwerk am meisten interessiert. Mit der These eines Primats der praktischen Vernunft ist für Levinas nämlich auch die Annahme verbunden, die Ethik stehe im Rang einer Ersten Philosophie. Denn diese These zeigt das Bild einer Subjektivität, die je schon nach den Regeln dieser Welt spielt und gibt damit eine Bedeutung zu erkennen, die älter ist als das »Ich denke«, das sich mit dieser Bedeutung praktisch je schon identifiziert hat – eine Bedeutung, die das Ich jenseits seines Selbst, mithin eine Bedeutung, die den Anderen bedeutet. 36 Die Annahme eines Primats der praktischen Vernunft führt auf diesem Weg zu einer primär ethischen Bedeutung des Verstehens und mithin auch der Philosophie. Dies ist der Weg, den Levinas im Ausgang von Kant nimmt und folglich besteht der Kern der kantisch-kopernikanischen Revolution der Philosophie nach seiner Ansicht im Primat der praktischen Absicht der Vernunft und damit verbunden der Ethik als einer Ersten PhiDiese Überlegungen zur kopernikanischen Revolution in der Philosophie zeichnen ein interessantes Bild der Autonomie des Subjekts bei Kant. Demnach bestünde dieselbe nicht im freien Entwurf der eigenen Freiheit, sondern in der faktischen Übernahme eines Gesetzes, dem die Subjektivität allgemein und damit als einem moralischem Gesetz unterliegt. Hierin läge eine gewisse Nähe von Levinas zu Kant. Fischer schreibt in diesem Kontext treffend: »Der Anfang mit der metaphysischen Ethik als der neuen ›Ersten Philosophie‹ läßt sich auch als korrigierende und verstärkende Bezugnahme auf Kants zweiten Anfang lesen, sofern Kant den neuen Anfang, unversehens nicht als ›Entwurf‹ denkt. Denn das Bewußtsein des moralischen Gesetzes benennt er, nachdem er es gefunden hat, als das ›einzige Factum der reinen Vernunft‹. Kants Neigung zur theoretischen Absicherung dieses Prinzips, führt nicht nur den Vorzug bei sich, daß es nicht als unvernünftig abgetan werden kann, sondern auch die Gefahr, daß das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft – analog dem Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch – als ›Produkt‹ der autarken Vernunft gepriesen oder denunziert werden kann. Denn an der Stelle der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, an der Kant zum ›Grund‹ des moralischen Prinzips spricht, wird noch nicht zureichend klar, daß es ›als gegeben anzusehen‹ ist, was Levinas mit seiner Einführung verdeutlicht, die auf seine ›Transzendenz‹ hinweist.« Fischer, »Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?«, S. 66. 36 Vgl. zum hier referierten Zusammenhang der kopernikanischen Revolution in der Philosophie und der Ethik als einer Ersten Philosophie bei Levinas Humanismus und An-archie, in: ders., HAM, S. 82/HAH, S. 82; analog in: ders., GZ, S. 67–77, 196; JS, S. 287/AQ, S. 166. 35
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losophie. 37 Es ist ein Weg, der ihn eine ethische Bedeutung des Seienden suchen lässt, und auf dem er sich in seinem Spätwerk mit Kant von Heideggers rein ontologischer Bestimmung des Seienden distanziert. 38 Interessant ist, dass sowohl Kant als auch Levinas Zweifel an einem rein spekulativ theoretischen Fundament der Philosophie haben und die damit verbundene Annahme eines Primats der praktischen Absicht der Vernunft vor ihrer theoretischen im Verweis darauf untermauern, dass es jederzeit möglich ist, sich in seiner Rationalität skeptisch zu hinterfragen. 39 Dieser Zweifel, der methodisch sein kann, da er grundsätzlich immer möglich ist, gilt ihnen als ein Beweis dafür, dass die Vernunft in der Praxis zwar als Faktum assertorisch gegeben, doch theoretisch unbegründet ist. 40 In der Tat belegt die Tatsache, dass es in praktischer Rücksicht jederzeit möglich ist, die Rationalität skeptisch zu hinterfragen, das Primat der praktischen Vernunft. Kant und Levinas eint in diesem Punkt also ein nach ihrer Ansicht berechtigter Zweifel an der traditionell rein spekulativ operieVgl. etwa Levinas, »Le primat de la raison pure pratique/Das Primat der reinen praktischen Vernunft«, oder ders., JS, S. 138/AQ, S. 74. Fischer schreibt: »Obgleich Kant sich in der Frage des Primats von theoretischer und praktischer Vernunft vorsichtig tastend bewegt, ist Levinas mit gutem Grund überzeugt, das Gesamtgebäude der Philosophie Kants mit seiner weitergehenden Interpretation des Primats sachgemäß ausgelegt zu haben.« Fischer, »Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?«, S. 57, für die Kopernikanische Revolution als Wende zur Ethik als Erster Metaphysik vgl. ebd., S. 65 f. 38 Vgl hierzu bes. Levinas’ Vorlesung »Die radikale Frage: Kant contra Heidegger«, in: Levinas, GZ, S. 67–71. 39 Für Levinas vgl. JS, S. 34, bes. 192 Anm. 18, 358 ff./AQ, S. 9, bes. 108 Anm. 18, 210 ff., aber auch TU, S. 98, 244 f./TI, S. 44, 144; für Kant vgl. etwa Kant, KrV, A423 f./B451. 40 Kants Rede davon, dass die praktische Vernunft jener Freiheit, die im theoretischen Bereich nur problematisch, das heißt vorausgesetzt ist, im Bewusstsein eines mit ihr verbundenen moralischen Gesetzes allererst Realität verschafft, verdeutlicht diesen Gedanken (vgl. hierzu Kant, KpV, AA 05, S. 6). Denn nach diesem Gedanken ist die Vernunft weder an sich, das heißt von vornherein, noch für sich, das heißt, durch eine Gesetzmäßigkeit, die sie einsehen könnte, begründet. Die Vernunft als reines Vermögen des Verstandes ist demnach wenn überhaupt nur immanent, das heißt, aus ihrer empirischen Faktizität gerechtfertigt. In kantischen Worten gesprochen bedeutet dies, dass »alle menschliche Einsicht zu Ende [ist], so bald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelangt sind; denn deren Möglichkeit kann durch nichts begriffen, darf aber auch eben so wenig beliebig erdichtet und angenommen werden. Daher kann im theoretischen Gebrauch der Vernunft nur Erfahrung dazu berechtigen, sie anzunehmen.« Kant, KpV, AA 05, S. 46 f. 37
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renden Metaphysik. Und doch ist der Weg, den die beiden Autoren im Ausgang von diesem Zweifel bestreiten, ein anderer. In seiner Kritik der Urteilskraft beschränkt Kant die Philosophie vor diesem Hintergrund auf die Faktizität der sinnlichen Wahrnehmung, die sie nach seiner Ansicht letztlich weder verlassen kann noch darf, die ihr aber gleichsam ein fester Boden ist, auf dem sie ein rein rationales Gebäude errichten kann. Levinas aber sucht die Bedeutung des Faktums der Vernunft jenseits ihrer Konkretion in einem Selbst, das heißt im absolut Anderen und zeichnet damit das Bild einer Philosophie, die sich in einer zutiefst unsicheren Lage befindet und von den Erschütterungen durch den Anderen nicht sicher ist. 41 Mehrfach weist Levinas auf diese Differenz zu Kant hin und betont mit Nachdruck, dass dieses Detail nicht vernachlässigt werden darf und in der Philosophie den Unterscheid zwischen einem festen Boden und einer unsicheren Lage macht. 42 Levinas radikalisiert Kant gewissermaßen dort, wo er die Bedeutung des Intelligiblen im Anderen, der ebenso eine Intelligenz ist, sucht. 43 Levinas beschreitet damit einen Weg, der sich, wie oben gezeigt werden konnte, zwar mit Kants kopernikanischer Revolution in der Philosophie vereinbaren lässt, den Kant aber nicht gewählt hat. Kant bindet den Menschen an den Boden der Erfahrung und macht ihn zugleich frei auf diesem Boden ein reines Vernunftgebäude in moralischer Absicht zu errichten. Levinas aber, nach dessen Ansicht der Mensch je schon die Bedeutung des Anderen in sich trägt, erkennt Genauer dazu Norbert Fischer, »Überlegungen zum systematischen Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹«, in: ders. (Hg.), Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, Hamburg 2013, S. 115–131. Fischer schreibt, Kant habe das moralische Gesetz zwar als Faktum der Vernunft angesehen, doch habe er nicht versucht zu rechtfertigen, warum dieses Faktum nicht nur denkbar, sondern darüber hinaus auch als wirklich anzunehmen ist. Eben diesem Versuch einer Rechtfertigung sei Levinas im dritten Kapitel von Totalité et Inifini nachgegangen (vgl. ebd., S. 123 f. und Fischer, »Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?«, S. 62). 42 Vgl. Levinas, Humanismus und An-archie, in: ders., HAM, S. 82/HAH, S. 82; analog in: ders., GZ, S. 67–77, 196; JS, S. 287/AQ, S. 166. 43 Die hier vertretene Ansicht wird von Levinas bestätigt, wenn er schreibt: »Das Ich ist nicht die Spezifizierung des allgemeinen Begriffs der Seele. Kant hat das in bestimmten Passagen seiner Schrift Transzendentale Dialektik gesehen, wenn er etwa darauf besteht (B405 u; A345), daß vom einen Subjekt zum anderen Subjekt übergehen dem positiven Tatbestand gleichkomme, sich an die Stelle des anderen zu setzen.« Levinas, JS, S. 48 Anm. 10/AQ, S. 17 Anm. 10. Zum Anderen als dem eigentlich Intelligiblen vgl. ferner Levinas, TU, S. 39 f., 68 f., 149, bes. 299 ff./TI, S. 5 f., 24 f., 78, bes. 182 ff. 41
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selbst in der Erfahrung die diesseitige Spur einer jenseitigen ethischen Verantwortung für den Anderen, und zwar deshalb, weil sie etwas Menschliches jenseits des je individuellen Selbst, also des Anderen, bedeuten muss. 44 Damit lanciert Levinas eine ethische Rechtfertigung der moralischen Pflicht im Dasein, die von Kant zwar gefordert werden müsste, 45 deren Möglichkeit er aber wie gesagt mit Nachdruck bestreiten würde. Bei Levinas liegt diese Möglichkeit in der Sprache, die der, nach seiner Ansicht, zwischenmenschlich ethischen Bedeutung einer Intelligenz gerecht wird und ihre Faktizität verständlich macht. 46 Aus diesem Grund ist die Metaphysik, indem sie danach trachtet, das Seiende in seiner Bedeutung zu verstehen, nach Levinas in der Ethik zu suchen. Ähnlich wie Kant und anders als Heidegger in Sein und Zeit, an dessen Grundlinien sich Levinas’ Frühschriften noch bewegen, gibt Levinas damit auch der Philosophie eine Aufgabe, die der ontologischen Bestimmung des Seienden fern liegt. Levinas wendet sich in seinen Spätschriften in diesem Punkt mit Kant gegen Heidegger, von dessen Philosophie er sein eigenes Projekt explizit unterschieden wissen will, »ganz gleich wie groß auch immer die Schuld sein mag, in der jeder zeitgenössische Denker Heidegger gegenüber steht – oft sehr ungern«. 47 Doch ähnlich wie Heidegger, der die Frage nach dem Dasein an den Anfang stellt, und anders als Kant, der ein transzendentalphilosophisches Projekt verfolgt, sucht Levinas, indem er die Philosophie mit der Ethik beginnen lässt, nicht danach, was, sondern wer das Seiende ist. 48 Die Metaphysik ist nach Vgl. zu dieser Thematik bes. Levinas, Die Bedeutung und der Sinn, »I. Bedeutung und Rezeptivität« HAM, S. 9–15/HAH, S. 17–24; ferner zum Begriff des Anderen als einer »Erfahrung schlechthin« vgl. ders., TU, S. 281/TI, S. 170. 45 Fischer betont in diesem Zusammenhang, dass die Rede von einer moralischen Verfasstheit des intelligiblen Subjekts bei Kant die Rekonstruktion der damit verbundene Verantwortbarkeit der eigenen Handlungen notwendig macht vgl. Fischer, Norbert, »Die Zeit als Thema der ›Kritik der reinen Vernunft‹ und der kritischen Metaphysik«, in: ders. (Hg.), Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik, Hamburg 2010, S. 80–100, 97, 97. 46 In diesem Sinne hält Levinas fest: »Wenn das Von-Angesicht-zu-Angesicht die Sprache begründet, wenn das Antlitz die erste Bedeutung im Sein stiftet – dann dient die Sprache nicht nur der Vernunft, sondern ist die Vernunft.« Levinas, TU, S. 300 f./ TI, S. 182. 47 Levinas, GZ, S. 18. 48 Vgl. zu dieser Fragestellung bei Heidegger bes. Der Begriff der Zeit (Vortrag 1924), GA 64, S. 125; vgl. zu Levinas’ Anlehnung an diese Fragestellung Levinas, GZ, S. 37. Bei Heidegger wird die Frage »Wer das Seiende ist« nicht in dieser Allgemeinheit 44
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Levinas darum in der Ethik zu suchen und sie verrät, wer man ist. 49 Dieter Hattrup bringt die Konsequenz daraus auf den Punkt: »Wer keine Metaphysik betreiben will, betreibt die beliebigste!« 50 Von der hier besprochenen Nähe und Distanz zwischen Kant und Levinas ist festzuhalten: ähnlich wie Kant geht Levinas in seinen späten Schriften davon aus, das Seiende sei in der Zeit von seiner Bedeutung getrennt und daher nicht rein ontologisch zu bestimmen. Während Kant jedoch behauptet, das Seiende sei deshalb von seiner Bedeutung getrennt, weil seine Bedeutung ein nachträgliches Produkt des erkennenden Verstandes ist, nimmt Levinas an, das Seiende sei in der Zeit insofern von seiner Bedeutung getrennt, als dieselbe ihm vorausgehe und seine Menschlichkeit bedeute. 51 Anders als bei Kant ist das Zeitliche bei Levinas daher kein rein ästhetisches Phänogestellt. Die Frage lautet bei Heidegger genauer, welches Seiende als »Wer« angesprochen werden kann (vgl. etwa GA 55, S. 174). Bei Levinas hingegen lässt sich die Frage sehr wohl in dieser Allgemeinheit stellen, da nach seiner Ansicht das phänomenale Seiende je schon »von der ›Welt‹ her und von der Position des Betrachtenden aus« bedeutet (Levinas, Sinn und Bedeutung, HAM, S. 22 f./HAH, S. 13 f.). 49 Otto Pöggeler scheint zu weit zu gehen, wenn er Levinas so interpretiert, dass »[d]ie Gipfel der Metaphysik […] sich der Überwindung der Metaphysik [entziehen], die keine ist, da sie zu eng ansetzt, nämlich Sein und Identität über die Verschiedenheit stellt« (Pöggeler, »Anderheit, Unendlichkeit, Zeit«, S. 166). Zum einen deutet dies ein starkes Naheverhältnisses von Metaphysik und Ontologie an, das für den späten Levinas so nicht haltbar ist. Zum anderen wird Levinas sehr konkret, was die Meisterschaft der zwischenmenschlichen Beziehungen (vgl. etwa Levinas, TU, S. 394 f./TI, S. 247) und damit der Metaphysik betrifft (vgl. hierzu etwa Levinas, TU, S. 109/TI, S. 51). 50 Fischer/Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, S. 243. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang noch auf die Nähe und Differenz davon zu Kant. Denn dieses Diktum gilt auch innerhalb der kantischen Philosophie, wenngleich in anderem Sinne. Denn nach Kant ist der Mensch kategorisch dazu verpflichtet, sich moralische Gesetze zu geben und trägt in diesem Sinne immer schon eine Metaphysik der Sitten in sich, obgleich in der Form eines Imperativs und nicht wie bei Levinas als Spur einer jenseitigen Verantwortung gegenüber dem Anderen (vgl. Kant, MS, AA 06, S. 216). Anders Levinas: »das Paradox solcher Verantwortung besteht darin, daß ich verpflichtet bin, ohne daß diese Verpflichtung in mir begonnen hätte« (Levinas, JS, S. 46/AQ, S. 16 f.; vgl. zum Begriff der Verpflichtung bei Levinas bes. Gelhard, Levinas, S. 98 f.). 51 Levinas schreibt: »Es heißt [das Anders als sein; M. B.], die Möglichkeit einer – schmerzlichen – Trennung vom sein denken. […] Es wird daher zu zeigen sein, daß die Ausnahme des ›Anderen gegenüber dem Sein‹, jenseits des Nichtseins, die Subjektivität oder die Menschlichkeit bedeutet, das Sich, das die Vereinnahmung durch das sein ausschlägt.« Levinas, JS, S. 35/AQ, S. 9; vgl. auch Levinas, TU, S. 167/TI, S. 92.
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men, das sich dem erkennenden Verstand in der Anschauung als sichere Unterlage präsentiert, sondern Spur einer ethischen Bedeutung, die den Menschen bis in die letzten Bastionen seines vernünftigen Seins infrage stellen kann. Der besagte Unterschied zwischen Kant und Levinas zeigt sich schließlich auch in Fragen des konkreten Lebens in der Zeit: nach Kant, der die Zeit auf den Bereich der inneren Wahrnehmung beschränkt, ist es der Philosophie, die sich im reinen Denken bewegt, unmöglich, mehr als eine Typik davon an die Hand zu geben, wie sich ein Leben in der Zeit realisieren lässt. Levinas hingegen beschreibt das Phänomen der Zeitlichkeit als Verantwortung, Geduld und Warten und gibt damit konkrete Begriffe an die Hand, die dazu dienen können, das eigene Leben in der Zeit zu meistern. Trotz dieses Unterschiedes ist die eingangs gestellte Frage, ob sich in Levinas’ späteren Schriften, neben den bereits vielfach nachgewiesenen Einflüssen der praktischen Philosophie Kants, auch Spuren von dessen theoretischem Zeitbegriff finden, eindeutig zu bejahen. Ein Stichwort ist hier Kants kopernikanische Revolution in der Philosophie und die, wie hier gezeigt werden konnte, damit verbundene Trennung des Sinns, in dem das Seiende als Phänomen erscheint, von seiner Bedeutung im erkennenden Verstand, die sich in adaptierter Gestalt in Levinas’ Spätwerk wiederfindet. Levinas’ Zeitbegriff wird ideengeschichtlich zumeist aus der Perspektive der phänomenologischen Tradition erläutert. Das geschieht mit Sicherheit, wie im Blick auf Heidegger auch gezeigt werden konnte, nicht zu Unrecht, lässt aber doch die Anleihen, die Levinas in seinen Spätschriften bei Kant nimmt, außen vor. Mit den vorliegenden Ausführungen sollte nachgewiesen werden, dass sich Levinas’ Kant-Rezeption in den Jahren zwischen 1946 und 1961 entscheidend verändert hat und dass dies mit dem Aufkommen eines ethischen Zeitbegriffs verbunden ist, der die Bedeutung des Menschen ins Zentrum stellt.
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I.
Einleitung: Kann und darf es eine Phänomenologie des Menschlichen geben?
Es macht den Anschein, dass der Begriff des Menschen in den letzten Jahrzehnten fragwürdig, brüchig geworden ist. Ist der Mensch vielleicht nur ein Gesicht aus Sand, das von einer Meereswelle vernichtet werden kann – so fragil, aber vielleicht auf lange Sicht auch: so bedeutungslos? 1 Ist der Begriff des Menschen, traditionell definiert als ζῷον λόγον ἔχον oder animal rationale, am Ende nur ein metaphysisches oder etwa biopolitisches Konstrukt, dem wir nachdenken müssen, um uns endlich von einer blindwütigen Metaphysik der Beherrschung der natürlichen Welt und der menschlichen Natur qua Selbstdisziplinierung zu befreien? In den letzten Jahren scheint sich zwar der Ton dieser Kritik gewandelt zu haben: Der schrille Abgesang auf den Menschen und die Verkündigung des Todes des Subjekts haben sich gemäßigt zu einem stiller werdenden Requiem. Dennoch gibt es zeitgenössische wirkmächtige Debatten, die von Posthumanismus sprechen. 2 Kann also überhaupt vom Menschen die Rede sein, ohne auf metaphysische Voraussetzungen eines zoon logon echon aufzubauen und damit eine blindwütige dominion over creation eines alleinherrschaftssüchtigen Tieres unter Tieren zu verbinden und eine Biopolitik entweder schönzureden oder zu verleugnen, deren Gewalt sich in der Disziplinierung der Natur um uns und der Natur in uns immer wieder aufs Neue zu prolongieren scheint? Wie kann es eine »rechtsgülVgl. Foucault, Michel, »Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften«, in: ders., Die Hauptwerke, Frankfurt a. M. 2008, 7–469, S. 463. Siehe auch: Agamben, Giorgio, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. M., 2002, S. 18 f. sowie S. 100 f. 2 Z. B.: Boddice, Rob, Anthropocentrism: Humans, Animals, Environments, Leiden 2011. Wolfe, Cary, What is Posthumanism? Minneapolis 2010. 1
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tige« Phänomenologie geben, die sich mit einem Konstrukt befasst, das sich ohnehin nur als Chimäre herausgestellt haben wird? Und ist die Phänomenologie dann nicht schon allzu oft in diese Falle getappt, etwas abseits der metaphysischen Setzung beschreiben zu wollen, das nur als diese metaphysische Interpretation zu haben ist? Diesen Fragen soll nun nachgegangen werden, indem exemplarisch die Bestimmungen des Menschseins bei Martin Heidegger (mit einem Seitenblick auf Max Scheler) und, davon aus- und weggehend, auch bei Giorgio Agamben und Jacques Derrida kritisch beleuchtet werden. Danach wird es darum gehen, nicht zuletzt im Anschluss an Cora Diamond 3 einem Phänomen des Menschlichen nachzuspüren, das, so meine These, uns vielleicht gar nicht so eindeutig in der theoretischen wie praktischen Verfügung steht, dass wir uns zwischen Abgesang des Biopolitiktheorems und Ehrenrettung oder Verwindung des Humanismus entscheiden könnten. Selbst vor dem Hintergrund entmenschlichender Praktiken sowie einer der metaphysischen Tradition geschuldeten potentiellen Animalisierung gibt es vielleicht eine Fundamentalerfahrung vom Menschen, die es immer auch verunmöglicht, das Menschliche auf theoretische Kriterien einer in der Tradition der Metaphysik stehenden differentia specifica zu gründen oder es bloß auf ein historisches bzw. politisches Konstrukt zu reduzieren.
II.
Schelers Stellung im Kosmos und Heideggers humanitas
Max Schelers Versuch, gegen die Dispersion des Begriffs des Menschen in Einzelwissenschaften und Ideenkreise anzudenken und eine zeitgemäße Grundlegung einer umfassenden philosophischen Anthropologie vorzulegen 4 , hat große Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Dabei ist jedoch der Ausgang von einer fast teleologischen Stufenfolge der Lebewesen hinsichtlich ihrer psychischen Kräfte und Fähigkeiten mit dem Kulminationspunkt Mensch 5 im Zentrum vieler kritischer Auseinandersetzungen gestanden. Bei Scheler steht der logos, zumindest hinsichtlich seiner Quantität, als eine Besonderheit des Menschen da, und auch wenn hier die Kontinuität einer Stufenfolge Diamond, Cora, Menschen, Tiere und Begriffe. Aufsätze zur Moralphilosophie, Frankfurt a. M. 2012. 4 Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos, München 1947, S. 9 f. 5 Ebd., S. 11 3
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bemüht wird, so spiegelt sich darin wohl unübersehbar das aristotelische Seelenmodell wider, demzufolge der vernünftige Seelenteil eine Addition zu einem vegetativen (pflanzlichen) und einem kinästhetischen (tierlichen) Seelenteil bildet. 6 Die Quantität wird, so könnte in einer Zuspitzung behauptet werden, zu einer qualitativen Differenz qua differentia specifica; der Mensch ist ein Tier, aber mit einer spezifischen, zu addierenden Eigenschaft. Die Kennzeichnung des Menschen als animal rationale bzw. animal plus X denkt laut Martin Heidegger im metaphysischen Entwurf, zumal sich damit eine unausweisbare Reduktion auf die animalitas als Substrat des Wesens des Menschen verbindet. Der Mensch ist damit nur (noch) ein Tier, dem eine bestimmte, exklusive Eigenschaft zukommt, die diesem Tier eine vermeintliche Sonderstellung unter Tieren garantiert. Folgendes Zitat aus Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den Humanismus soll dies belegen: Man denkt im Prinzip stets den homo animalis, selbst wenn anima als animus sive mens und diese später als Subjekt, als Person, als Geist gesetzt werden. Solches Setzen ist die Art der Metaphysik. Aber dadurch wird das Wesen des Menschen zu gering geachtet und nicht in seiner Herkunft gedacht, welche Wesensherkunft für das geschichtliche Menschentum stets die Wesenszukunft bleibt. Die Metaphysik denkt den Menschen von der animalitas her und denkt nicht zu seiner humanitas hin. 7
Der Versuch, die Metaphysik zu widerlegen, sei aber ein törichtes Unterfangen; allenfalls könnten wir dieses Denken aufnehmen, damit die »Wahrheit anfänglicher in das Sein zurückgeborgen und dem Bezirk einer bloß menschlichen Meinung entzogen wird.« 8 Das so verfolgte Projekt versucht zu zeigen, dass wir uns wohl immer auch vor dem Hintergrund der animalitas verstehen können und vielleicht auch müssen. Daraus ergeben sich die Fragen, ob wir damit dem Menschen als Menschen schon genüge tun, ihn fassen und ihm gerecht werden können, ob die Definition über genus proximus (aniVgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, München 2002, 1097b 21–1098a 20. Aristoteles’ berühmtes Ergon-Argument benennt drei verschiedene Seelenteile: erstens jenen, der Wachstum und Ernährung ausmacht und auch mit Pflanzen geteilt wird, zweitens jenen, der Wahrnehmung und Bewegung ausmacht und auch mit Tieren geteilt wird, sowie drittens den rationalen Seelenteil, durch den wir uns von allen anderen Lebewesen unterscheiden. 7 Heidegger, Martin, Platons Lehre von der Wahrheit mit einem Brief über den Humanismus, Bern 1975, S. 66. 8 Ebd., S. 82 6
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mal) und differentia specifica (rationale) hinreichend Aufschluss über das Menschsein gibt. 9 Sind wir denn wirklich, wie Giorgio Agamben in seinem Buch Das Offene (in einer recht einseitigen Kritik an Heideggers Grundbegriffen der Metaphysik) andeutet, nur Tiere, die allenfalls gelernt haben, sich zu langweilen? 10 Eine Seite weiter zitiert Heidegger aus Sein und Zeit: »Nur solange Dasein ist, gibt es Sein.« 11 Nur der Mensch ist dem Sein gewachsen, zumindest in einer geistigen Verfassung, die dies erlaubt. Es kann schwerlich nicht als eine Art geistige Kapazität verstanden werden, dass der Mensch Welt habe, die er als »die Lichtung des Seins« beschreibt, »in die der Mensch aus seinem geworfenen Wesen her heraussteht«. 12 Dies belegt auch ein Blick in die für ihn selbst so wichtigen Grundbegriffe der Metaphysik. Dort heißt es bekanntlich, der Stein sei weltlos, das Tier weltarm, der Mensch aber bilde bzw. habe Welt. 13 Das Tier sei »benommen« und vollständig eingenommen von seinem eigenen Enthemmenden; es sei für seine Umwelt offen, doch sei ihm selbige nicht offenbar. 14 Die Eidechse hat keinen Bezug zum sie wärmenden Stein, auf dem sie sitzt, als Stein. Hätte sie denselben, würde sie sicherlich darüber reden, wie uns Heidegger Jahre später, doch weitgehend ohne inhaltlichen Bruch versichert: Weil Gewächs und Getier zwar je in ihre Umgebung verspannt, aber niemals in die Lichtung des Seins, und nur sie ist »Welt«, frei gestellt sind, deshalb fehlt ihnen die Sprache. […] Sprache ist lichtend-verbergende Ankunft des Seins selbst. 15
Sprache, so hat Heidegger in mehreren Phasen seines Denkens einhellig ausgeführt, ist ausgezeichnet menschlicher, wissender bzw. verstehender Bezug zum Sein. 16 Einerseits löst Heidegger damit sein Programm einer privativen Vgl. schon die Überlegungen in Heideggers Marburger Vorlesungen: Heidegger, Martin, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA Bd. 18, Frankfurt a. M. 2002, S. 45–281. 10 Agamben, Das Offene, S. 79 11 Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 83. Siehe auch: Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 2001, S. 212. 12 Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 100. 13 Heidegger, Martin, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt, Endlichkeit, Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1992, S. 371. 14 Ebd. 15 Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 70. 16 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 51–56. Ferner z. B.: 9
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Interpretation ein, die auf der Endlichkeit der eigenen Perspektive beruht. Wir können gar nicht umhin, von uns auszugehen und Tiere von der eigenen durchschnittlichen Verfasstheit her zu verstehen, sodass dieselben uns als weltarm erscheinen. So gesehen sind wir vielleicht sogar genötigt, von Armut zu reden. Andererseits könnte aber konstatiert werden, dass auch Heidegger hier in gewisser Weise bloß ein weniger als …, also eine quantitative Differenz, denkt, die sich zu einer qualitativen Differenz auswächst. Er selbst meint, dass das Lebe-Wesen am schwersten zu denken sei, weil es uns am nächsten verwandt und zugleich durch einen Abgrund von unserem eksistenten Wesen geschieden sei. 17 Tiere als nichtsprachliche Wesen zu verstehen erscheint jedoch einfach, wenn dabei der berühmte Vergleich mit der Eidechse aus den Grundbegriffen der Metaphysik bemüht wird; neuere kognitionsbiologische Studien legen jedoch nahe, dass eine solch klare Differenz zwischen sprachlicher und nichtsprachlicher, nur lautierender Seinsweise 18 wenig plausibel erscheint, vor allem eben dann, wenn man sich nicht wie Heidegger auf Tierarten wie Eidechsen oder Amöben kapriziert. Und selbst, wenn solche Studien fehlgehen würden, weil sich in die Interpretation Züge eines Anthropomorphismus einschleichen, so ist umgekehrt zu fragen, was mir die Sicherheit verleiht, dass eine solch klare Differenz der Sprachlichkeit, des logos zur phoné als der bloß unmittelbaren (tierlichen) Kundgabe unmittelbarer Befindlichkeit, besteht. Heidegger behauptet jedoch, dass »[i]n der Ek-sistenz [Anm. M. H.: das Stehen in der Lichtung des Sein] […] der Bezug des homo animalis der Metaphysik verlassen« 19 werde. Die Grenze zwischen Tier und Mensch ist damit zwar scheinbar dicht gemacht, allerdings ist die Frage, ob damit nicht, wie Agamben polemisch vorbringt, erst recht der Mensch ex negativo vom Tier her zu verstehen wäre 20 und wie dann ein Mensch als Mensch auszumachen und zu behandeln sei Ders., Grundbegriffe der Metaphysik, S. 371 u. ö.; Ders., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 215 u. ö. 17 Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 69. 18 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, S. 53 ff. Hier beschreibt Heidegger die phoné als eine Art Antipode zum logos, auch wenn die tierliche Seinsweise noch im Menschen wirklich ist. Der Mensch ist nicht nur fähig, im Umkreis des tierhaften Zutunhabens anzuzeigen, dass z. B. etwas droht, sondern kann aus einer gewissen Distanz heraus Vorhandenes konstatieren. 19 Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 103. 20 Agamben, Das Offene, S. 74 bzw. 83.
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– als ek-sistentes Nicht-Tier? Und was ist mit den Menschen, denen aufgrund von z. B. intellektuellen Defiziten die Ek-sistenz verschlossen bleibt? Zusammenfassend könnte formuliert werden, dass das Distinktionsmerkmal zwischen uns und ihnen ein Gefälle der Weltoffenheit bzw. Welthabe ist. Damit scheint sich im Hintergrund doch erneut eine gemeinsame Skala anzukündigen, auf der wir durch eine besondere Kompetenz von Tieren abgesondert sind (differentia specifica). Die Beschreibung des Menschen als welthabend könnte also doch wiederum auf der impliziten Annahme eines Tiers plus X beruhen, zumindest insofern, als das Kriterium der Unterscheidung die Welthabe bzw. die Lichtung des Seins ist, die nur dem Menschen erlaubt, etwas als etwas und damit theoretisch zu fassen, anstatt »benommen« zu sein. Dies wäre jedoch von eminenter ethischer und politischer Bedeutung, wenn wir an die Möglichkeit eines mentalen Defizits bei Menschen denken – wie können wir diejenigen einstufen, die sich nicht, nur mit Vorbehalt oder nur auf Verdacht als Wesen beschreiben lassen, die in die Lichtung des Seins ek-sistierend hineinstehen 21 ? Werden sie dann nicht potentiell aus der humanitas in eine animalitas verstoßen, in die uns sonst vermeintlich nur die Metaphysik, jedoch mit Bausch und Bogen, verstößt?
III. Agambens anthropologische Maschine – homo ex machina? Giorgio Agamben hat in seinem Buch Das Offene. Der Mensch und das Tier eine von Heidegger ausgehende und sich zugleich mit Foucault gegen Heidegger wendende Denkbewegung im Hinblick auf die Unterscheidung von Mensch und Tier bzw. das menschliche Selbstverständnis dargestellt. Heidegger selbst bleibt der Vorwurf nicht erspart, dass sein Projekt einer Lösung von der metaphysischen Setzung des Menschen als animal rationale gescheitert sei. Die rhetorische Frage dazu lautet: Das Tier ist das Unerschließbare, das der Mensch bewahrt und als solches ans Licht bringt. […] Wenn die Humanität nur durch die Aufhebung der Animalität erworben worden ist und deswegen auf deren Schließung hin offen bleiben muß, in welchem Sinne entgeht Heidegger im Versuch, »das 21
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ekstatische Wesen des Menschen« zu begreifen, dem metaphysischen Primat der animalitas? 22
Für Agamben sind Mensch und Tier als Produkte der von ihm so bezeichneten anthropologischen Maschine zu verstehen. Diese Maschine fungiert folgendermaßen: Schon seit Anbeginn der abendländischen Metaphysik qua Biopolitik wird das Leben zwar niemals definiert, aber geteilt und handhabbar gemacht, was sich anhand der Distinktion von bios (das relationale Leben) und zoe (das nackte Leben, das Objekt der Naturbeherrschung) zum Ausdruck bringen lasse. Damit wird das Menschliche in einer Entgegensetzung des Humanen (bios) zum Animalischen (zoe) im Menschen selbst hergestellt, der damit eben das Tierliche (das, was wir dem aristotelischen ErgonArgument gemäß mit anderen Lebewesen teilen, ohne dass es im eigentlichen Sinne unsere psyché ausmacht) aus sich selbst ausschließt, ohne es loswerden zu können. 23 Agamben beschreibt die Anthropogenese absichtsvoll in einer Begrifflichkeit der techne. Die anthropologische Maschine stellt durch eine Exklusion das Tier und den Menschen her; beide sind »Artefakte«, wie Agamben expressis verbis zu verstehen gibt. 24 Was er damit aufweisen kann, ist die Struktur der Dehumanisierung von Menschen, die sich in den Figuren des Antisemitismus und auch der marginal cases zum Ausdruck bringt. 25 Es werden Kriterien der Exklusion gestiftet, die auch einige Lebewesen der Gattung homo sapiens aus dem Raum des Menschseins und der soziokulturellen wie politischen Relationalität ausschließen, mit allen nur allzu erdenklichen ethischen und politischen Folgen. Die Frage, die sich allerdings stellt, ist die nach der Reichweite des Herstellungsmodells. Agamben scheut sich nicht davor, die Forderung nach einem Abschalten dieser Maschine zu stellen, was selbstverständlich zu einer Art Eschatologie des Menschen führt. Die errichtete Barriere im Menschen, die ihn vom Tier und sich selbst als Inhumanen, als bloßen, obzwar lebendigen Körper, trennt, soll eingerissen werden, nun, am Ende der Geschichte, die (auch in Gestalt Heideggers) bios und zoe getrennt hat. Dies solle sich in der Aufgabe vollziehen lassen,
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Agamben, Das Offene, S. 83. Ebd., S. 31. Ebd. u. ö. Ebd., S. 47.
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die zentrale Leere auszustellen, den Hiat, der – im Menschen – den Menschen vom Tier trennt, bedeutet also, sich in dieser Leere aufs Spiel setzen: Aufhebung der Aufhebung, Shabbat sowohl des Tieres als auch des Menschen. Und wenn eines Tages das »Gesicht aus Sand« endgültig erlischt, das die Humanwissenschaften gemäß einer nunmehr klassischen Vorstellung ins Strandtuch unserer Geschichte geprägt haben, wird kein neues Mandylion oder die »Veronika« einer wiedergefundenen Humanität oder Animalität an seine Stelle treten. 26
Aber kann diese scheinbare oder wirkliche Barriere einfach eingerissen werden, die zentrale Leere, die den Raum zwischen Mensch und Tier abgibt, wie kann sie ausgestellt und ausgehalten werden und das Begehren nach dem (praktischen) Sinn des Menschlichen sich einfach in Luft auflösen; wie kann die Herstellung von Mensch und Tier ein Ende finden wie die Geschichte selbst? Gibt es nicht, einen Hinweis von Iris Därmann partiell aufgreifend 27 , eine notwendige Ein- und Ausgrenzung, die sich durch unsere lebensweltlichen Praktiken manifestiert, die aber gerade nicht als Herstellung des Menschen wie des Tiers zu verstehen ist (man denke an die bekannte aristotelische Unterscheidung von poiesis und praxis!) und daher nur bedingt in unserer Verfügung steht? Dann wäre das Menschliche kein bloßes Artefakt, sondern die Unausweichlichkeit einer Differenzierung, die zwar von je herrschenden Sichtweisen und Sprechweisen berührt, aber nicht völlig beherrscht werden kann. Ich werde diese Überlegung im fünften Abschnitt des Aufsatzes noch einmal aufgreifen und erläutern.
IV. Derridas Grenzen und der (faule?) Zauber eines Katzenblicks Jacques Derrida schlägt einen völlig anderen Weg als Agamben ein, der sich aber ebenso als Kritik sowohl an der abendländischen, hier logozentrischen Metaphysik sowie an Heideggers Modell eines eksistierenden, Welt bildenden Wesens verstehen lässt – welches sich entgegen der Intention Heideggers gerade nicht als Verwindung dieser Metaphysik verstehen lässt. In Das Tier das ich also bin kommt es Ebd., S. 100 f. Vgl. Därmann, Iris, »Von Tieren und Menschen. Martin Heidegger, Jacques Derrida und die zoologische Frage«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Bd. 5, Jg. 2011/2, 303–325, S. 305.
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Derrida zunächst darauf an, die binäre hierarchische Trennung von Mensch und Tier einer Dekonstruktion zu überantworten. Die Reduktion der animaux (Tiere in ihrer Vielfältigkeit) auf das animot (das Tierwort im Singular, phonetisch gleich wie der Plural der Tiere) bezeichnet Derrida wörtlich als Dummheit (bêtise). 28 Die Unterscheidung von Tier und Mensch, in der der Mensch als solcher auf dem Spiel steht, ist also keine eindimensionale, sondern eine pluralisierte. 29 Darüber hinaus zeigt sich eine Nähe als unausweichliche Verantwortung, wie der Autor in einigen Ausführungen plausibilisieren will, die an Jean-Paul Sartres Blickanalysen in Das Sein und das Nichts 30 , Emmanuel Levinas’ Ethik der Alterität (vor allem in Totalität und Unendlichkeit) und schließlich an Adornos Überlegungen zur Tierfrage in den Minima Moralia erinnern, wo er über die Degradierung des Tiers zum bloßen Tier räsoniert, die eine Vorbereitung der Degradierung des Menschen zum bloßen Objekt sei. Adorno beschreibt diese Verdinglichung als eine Art Trotz, eine Auflehnung gegen eine unabweisbare Erfahrung. 31 Ich bin vom Anderen als versehrbarem und als Zentrum einer mir fremden Welt betroffen, auch wenn sie/er ein Tier ist. Dies erschließt sich Derrida zufolge vornehmlich dann, wenn ich mich vom Tier gesehen sehe. Der Autor exemplifiziert dies anhand einer Katze, die ihn in flagranti nackt im Bad erwischt: Eher als sie zu verjagen, die Katze, bin ich eilig gedrängt, ja, gedrängt [pressé], das Sehen zu täuschen. Ich beeile mich, die Obszönität des Ereignisses zu überdecken, mit einem Wort, mich selbst zu bekleiden. 32
Mir ist zwar bewusst, dass die buchstäbliche Beschreibung eine metaphorische Dimension hat, aber ich beziehe mich nun auf die Ebene Derrida, Jacques, Das Tier das ich also bin, Wien 2010, S. 71 ff. Es geht Derrida hier darum, dass die Vereinheitlichung der Mensch-Tier-Beziehung auf ein einziges Phänomen den unterschiedlichen Erfahrungen von Tieren und diesen Tieren selbst nicht gerecht werden kann. Unterschiedliche leibliche Wesen in eine einzige Kategorie »Tier« zu pressen, ist deshalb eine Dummheit (Derrida verwendet für Dummheit bêtise, das in etymologischer und phonetischer Nähe zu bête qua Tier oder Biest verortet ist). 29 Ebd., S. 80. 30 Sartre, Jean-Paul, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologische Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 405–538. 31 Vgl. Adorno, Theodor W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 2002, § 68, bes. S. 118. 32 Ebd., S. 29. 28
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der konkreten phänomenologischen Beschreibung: Der nackte Autor kann dem Blick des nichtmenschlichen Anderen nicht Herr werden; Scham ist die Betroffenheit, die schwer auszuhalten und nicht zu tilgen ist. Derrida beschreibt, wie ich im Blick des Anderen nicht nur der Verantwortung für den Anderen ausgeliefert bin, sondern eben auch der Scham. Er könnte zu Recht darauf hinweisen, dass sich hier durch den nichthumanen Anderen eine Betroffenheit einstellen kann, die ich leugnen, aber nicht ungeschehen machen kann. Heuristische Belege hierfür könnten posttraumatische Belastungsstörungen bei Schlachthausmitarbeitern sein 33 , die triviale Möglichkeit, mit Tieren Mitleid zu empfinden, oder der Umstand, dass das Töten von Tieren wohl nicht zufällig historisch zumeist in religiöse oder quasireligiöse Praktiken und Rituale eingebunden war. 34 Bei Derrida ist aber die erzeugte Stimmung das Schämen, eine soziale Emotion, die sich gerade von einer Reziprozität innerhalb sozionormativer Praktiken her verstehen lässt, die sich im Blick eines Tiers schwerlich ohne anthropomorphisiernde Übertragung finden lässt. Die Katze wird zum Übertier, zur Hyperkatze, die mein Menschsein durchdringt und in Frage stellt, sodass die Degradierung zum bloßen Tier hier in ihr Gegenteil umschlägt. Gleichwohl ist Derrida überzeugt, dass da ein Graben ist, der vom Blick allenfalls zeitweilig überbrückt wird. Auch wenn die spatial und temporal vervielfältigte Grenze uns einer Eindeutigkeit des Verhältnisses zum Tier und mithin zum Menschen als Menschen beraubt, bleibt ein Abgrund. Lauert aber dann nicht hinter allen Differenzen doch wiederum eine Grunddifferenz, die jede Bewegung einer derridaschen différance schon reguliert hat? Ist da nicht ein metaphysisches Flussbett, das den mäandrierenden praktischen Unterscheidungen einen eindeutigen, wenn auch nicht weiter ausweisbaren Rand gibt? Ist es, trotz der eindringlichen Darstellung der Erfahrung, sich von einem Tier gesehen zu sehen, nicht so, dass, wie Levinas in einem späten Interview gesagt hat, das Antlitz des Menschen einen Vgl. Dillard, Jennifer, »A Slaughterhouse Nightmare. Psychological Harm Suffered by Slaughterhouse Employees and the Possiblitiy to Redress through Legal Reform«, in: Georgetown Journal of Poverty Law and Policy, Vol. XV, Nr. 2, 2008, S. 391. 34 Vgl. Burkert, Walter, Homo Necans, Berlin 1997. Tiertötung ist also auch in »archaischen« Gesellschaften keine bloße Formalität, sondern bedarf einer rituellen Einbettung, um als Geschehen nicht die Integrität des Tötenden zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen. 33
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Anspruch stellt, der im außerhumanen Bereich schwerlich zu finden ist (aber nicht prima facie ausgeschlossen werden sollte)? 35 Was aber macht dann den Menschen zum Menschen bzw. was nötigt uns dann, zumindest scheinbar, vom Menschen zu sprechen?
V.
Präliminarien für eine Phänomenologie des Menschlichen
Nachdem ich die Problematiken bei Heidegger, Agamben und Derrida in aller Kürze angesprochen habe, sollen nun vier Vorschläge zu einer Phänomenologie des Menschlichen knapp dargestellt werden, die als Ansatzpunkte, nicht als elaborierte Theorie zu verstehen sind:
V.1. Das Menschliche Wäre es möglich, dass in der Rede vom Menschen (oder auch: von der Person) schon die Tür zu einer essentialistischen Sichtweise offen steht? Wäre es vielleicht denkbar, sich mit einer Analyse des Menschlichen zu bescheiden, das sich in unterschiedlichen Erfahrungen ausmachen lässt, insofern es eine Fundamentaldimension in diesen Erfahrungen darstellt? Es wäre zu fragen, was die kriteriologische Unterscheidung einer differentia specifica in der Praxis austrägt, wenn wir von der unmittelbaren Wahrnehmung des Menschlichen her sprechen. Der hier im Hintergrund stehende und im Rahmen dieses Aufsatzes nicht elaboriert darstellbare Begriff der Wahrnehmung orientiert sich an Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung als Vorlage; es sind hier alle Sinne und Synästhesien mit ihrer schon Sinnbereitenden und als solcher unhintergehbaren Funktion angesprochen. 36 Diese Wahrnehmung ist nun eine, die sich nicht als gleichsam biologische Funktion oder als Datenempfang beschreiben lässt, sondern in der Natur und Kultur chiasmatisch verschränkt sind und die sich auf der Ebene von Gestalten bzw. Gestaltbildung zuträgt. Von hier aus finden wir Anschluss an die Refle-
Levinas, Emmanuel, »Lévinas, Emmanuel. The paradox of morality: an interview with Emmanuel Lévinas«, in: Robert Bernasconi/David Wood (Hg.), The provocation of Levinas: rethinking the other, London 1988, S. 168–180. 36 Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 13, S. 57, S. 500 u. ö. 35
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xionen von Cora Diamond, die aus einer von Wittgenstein beeinflussten Perspektive lebensweltliche Bedeutsamkeiten als Anker ihrer Überlegungen heranzieht. Menschsein hat eine besondere Bedeutung (und ist damit keinesfalls ein nacktes biologisches Faktum), die nicht bloß in argumentativer oder technischer Verfügung steht. 37 Diese meine Wahrnehmung kann mich täuschen, doch wird es grundsätzlich kaum der Fall sein, dass ich einen Menschen für ein Tier halte – und umgekehrt (auch wenn die Wahrnehmung von Menschlichem in einem Tier eine tief verstörende Erfahrung sein kann, die aber nicht Scham nach sich zieht). Vor allem werde ich auch einen Menschen mit schweren Behinderungen oder Erkrankungen nicht nicht als menschlich wahrnehmen, und ich vermute, dass Dispositive die Fundamentalerfahrung des Menschlichen nicht radikal restringieren, aber eine wirkmächtige Verführung darstellen könnten, die je Anomalen zu entmenschlichen. Keine herrschende Episteme kann die – obzwar geschichtliche – Fundamentalerfahrung des Menschlichen auslöschen, auch wenn sie jene marginal cases zu Schatten des gnothi seauton bzw. einer Anthropogenese macht. Dies lässt sich unter anderem dadurch stützen, dass wir die Entmenschlichung gewisser Bevölkerungsgruppen in Unrechtsregimen durchaus immer auch als Verantwortung der handelnden Personen, die womöglich selbst unterdrückt werden, verstehen, und es entsprechende Gerichtsurteile gibt. Die wichtige und spannende Frage, inwiefern und inwieweit eine solche persönliche Verantwortung in problematischen Verhältnissen besteht, muss hier jedoch leider unbehandelt bleiben.
V.2. Die Nötigung zur Anthropologie Wenn nun das Menschliche sich in gewissen Erfahrungen zum Ausdruck bringt, dann könnte dies auch bedeuten, dass wir auf gewisse Ereignisse nur mit einer Anthropo-logie, einem logos als einem Sichauf-das-Menschliche-verstehen, antworten können, wobei dies dann immer als ein responsives Geschehen gedeutet werden muss. Nur was aus der Erfahrung des Menschlichen her gegeben ist, kann rechtsgültig als Grund eines solchen Wissens von und eines damit im Zusammenhang stehenden Handelns mit und an Menschen angesehen werden. In Heideggers Diktion könnte dann gesagt werden, dass die 37
Diamond, Menschen, Tiere und Begriffe, S. 87.
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Konstruktion von marginal cases allenfalls ein Gemächte einer anmaßenden Vernunft sei 38 . In Krieg und Frieden beschreibt Leo Tolstoi eine Begegnung von Pierre Besuchow und General Davout folgendermaßen: Ist Pierre zunächst nur ein Kriegsgefangener, als Mensch verborgen hinter den scheinbaren Notwendigkeiten des Feldzuges der napoleonischen Armee in Russland, so eröffnet sich, nochmals mit Heidegger gesprochen, die Zuweisung 39 des Menschlichen für den französischen General, als sich sein Blick mit dem Pierres kreuzt. Tolstoi beschreibt in einer längeren Passage den kurzen Augenblick des Abfalls der dehumanisierenden Kategorien des Kriegsgefangenen qua moriturus. Anders als einige seiner Kollegen wird Pierre die Musterung durch Davout überleben, eben weil hier das Menschliche als solches »sichtbar« geworden ist. 40 Vielleicht ist damit aber weder die ratio des Seins noch die Lichtung desselben Seins gemeint, die sich nicht zwingend im Blick oder einem Gesicht als solche ankündigen. Doch eine elaborierte Anthropologie kann dem erst nachfolgen und kommt immer schon zu spät, etwa wenn es darum geht, Kriterien dafür zu stiften, wer etwa als Person gelten darf, kann oder muss und wer nicht. In einem Gedankenexperiment, das sich auf die notorische Debatte um Peter Singers Position zum Personenstatus mancher Tiere und mancher Menschen bezieht, macht Cora Diamond darauf aufmerksam, dass die oberflächlich plausiblen Kriterien der Leidensfähigkeit und der diachronen Identität (»Selbstbewusstsein«) sich als völlig kontraintuitiv und den lebensweltlichen Bedeutsamkeiten entgegengesetzt erweisen könnten, wenn man etwa in Betracht zöge, menschliche Unfallopfer anstatt eigens getötete tierliche Personen zu verspeisen. Die lapidare Entgegnung von Diamond auf das virtuelle Ansinnen lautet: »Wir essen sie einfach nicht.« 41 Es gibt eine (lebensweltliche) Bedeutsamkeit des Menschlichen, die sich etwa im Phänomen der Pietät ausdrückt und sich so nicht nur auf den nichtbewussten, sondern sogar auf den toten menschlichen Leib bezieht. Diese Bedeutsamkeit sperrt sich gegen einen radikalen Zugriff. Die Pietät ist m. E. ja nicht auf ein Sollen zu reduzieren, das sich auf der Ebene rein rationaler Argumentation stützen lässt – man könnte die 38 39 40 41
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Vgl. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 115. Ebd., S. 114. Tolstoi, Leo, Krieg und Frieden, München 1958, S. 1347. Diamond, Menschen, Tiere und Begriffe, S. 86.
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Ineffizienz der Pietät sogar als irrational bezeichnen, zumal die Aufwendungen für Lebende durchaus hoch und im Einzelfall sogar bedrohlich sein können. Es geht vielmehr um einen Bezug zum Anderen im Sinne einer Nicht-Indifferenz, die über die Gegenseitigkeit und Reziprozität etwa des Kommunikationszusammenhangs weit hinausgeht. Die Anerkennung des Anderen als Menschen ist nicht dem Sittengesetz oder seinen je aktuellen Präferenzen geschuldet. Cora Diamond plausibilisiert dies anhand eines Beispiels aus dem libanesischen Bürgerkrieg in den 70er Jahren, als auf einigen Leichen von Feinden getanzt wurde. Wir könnten das Beispiel aber auch auf den berühmt gewordenen Skandal der US-amerikanischen Soldaten übertragen, die in Afghanistan auf Tote urinierten: Und keinem, der sich an dieser Handlung beteiligt, fiele es im geringsten schwer zu begreifen, warum ein anderer – den man vielleicht zutiefst verachtet – statt dessen beiseite geht, um sich zu übergeben. 42
Dagegen ist weder ein Kraut noch ein Argument gewachsen. Die Autorin spricht in diesem Zusammenhang von »Erfahrungen, bei denen uns etwas Wirkliches so vorkommt, als sperre es sich dagegen, von uns gedacht zu werden« 43 , zumindest im Sinne eines zudringlichen Denkens, das sich die Dinge und in diesem Fall die Menschen kriteriologisch (als Feind, als marginal case usw.) zuzurichten trachtet – was die Autorin durchaus polemisch, aber keineswegs minder treffend als Abfälschung 44 bezeichnet. Dies unterminiert auch die Position von Giorgio Agamben, der, wie oben schon angedeutet worden ist, den Menschen als Produkt einer metaphysisch-politischen Maschine versteht, »durch die allein so etwas wie ein ›Mensch‹ bestimmt und hergestellt werden kann.« 45 Das jeweilige Wie des Verstehens des Menschlichen mag von unterschiedlichen Dispositiven mitbestimmt sein, sodass die Gefahr der Entmenschlichung bestimmter Menschen nie völlig gebannt sein kann, doch erweist sich die Herstellungsmetaphorik insofern als unzureichend (obgleich eine nachträgliche Anthropologie im oben erläuterten Sinne auf prädeterminierende Konstruktionen rekurrieren muss), als das Menschliche als solches gerade nicht auf ein Produkt reduzierbar und damit potentiell »rückbaubar« wäre. 42 43 44 45
Ebd., S. 102. Ebd., S. 25. Ebd., S. 39. Agamben, Das Offene, S. 31.
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V.3. Ein- und Ausgrenzung: Die Gleichursprünglichkeit des Menschlichen und des Nichtmenschlichen Eine solche antwortende Anthropologie müsste sich auch als relational verstehen lassen. Jede Anthropologie wird durch die zoologische Frage durchkreuzt und gestört, gestört schon in ihrer Genese, zumal sie immer auch eine zoologische Grenzmacht (Macht sei hier aber unterschieden von illegitimer Gewalt, wobei die Übergänge durchaus fließende sein können) ausbilden muss. Es werden die Anderen ausgegrenzt und dabei auch der Mensch »animalisiert und das Animalische des Menschen zugleich gewaltsam zu opfern, zu überwinden, zu kultivieren, abzusondern, einzuhegen, zu dressieren und zu züchten versucht.« 46 Das könnte gerade in Augenblicken der Scham merkbar werden, etwa wenn jemandes Leib z. B. olfaktorisch aufdringlich oder irgend sonst sozial unverträglich geworden ist. Scham erweist sich damit als eine sozial normierte, zwischenleibliche Angelegenheit, die allerdings nur in Ausnahmefällen die Grenze des menschlichen Miteinanderseins überschreitet. Insofern sind die Reflexionen von Giorgio Agamben hier von einer gewissen Relevanz, als sehr wohl ein historisch kontingenter, nie zum Stillstand kommender Konstitutions- und zugleich Machtprozess gleichursprünglich das Menschliche und das Nichtmenschliche entstehen lässt. Damit ist aber eben noch keiner anthropologischen Maschine im Sinne Agambens das Wort geredet, sondern einer Praxis, die sich als antwortend-ordnend verstehen muss, um lebensweltlichen Sinn zu manifestieren bzw. zu bewähren und politisch wirksam zu sein, was nie ohne ein Machtgeschehen möglich ist. Insofern ist das Menschliche in diesen Praktiken bezeugt, aber immer auch abgründig, zumal die Relationalität nicht zulässt, das Band zwischen Mensch und Tier in sich zu kappen. Umgekehrt mit Etienne de Condillac ausgedrückt: »Es wäre wenig interessant zu wissen, was Tiere sind, wenn es nicht ein Mittel wäre, um zu wissen, was wir sind.« 47 Anstelle einer differentia specifica könnte aber nun von einem notwendigen, weil responsiven Geschehen einer geschichtlich kontingenten Ein- und AusDärmann, »Von Tieren und Menschen«, S. 306 f. So gesehen ist es sehr wohl immer auch eine biopolitische Angelegenheit, was auf welche Weise als menschlich gilt und was als unmenschlich oder menschunwürdig dasteht. Jedoch werden so Menschen nicht als Menschen hergestellt. 47 Etienne de Condillac zitiert nach Wild, Markus, Tierphilosophie zur Einführung, Hamburg 2013, S. 26. 46
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grenzung 48 die Rede sein, die sich gerade nicht wie bei Agamben ausschließlich im Menschen ereignet, aber vom Menschlichen ausgeht, weil sich eine andere Perspektive (etwa der Standpunkt der Vernunft) nur als Wunschtraum herausstellen kann.
V.4. Die Relativität des Menschenbildes Schließlich wäre noch darauf hinzuweisen, dass das Menschliche ohne jeweiliges Menschenbild nicht zu haben ist und damit nie ganz metaphysikfrei sein kann im Sinne von fundamentalen Annahmen, die nicht weiter ausweisbar sind. Schon die (operativen) Begriffe einer Deskription des Menschlichen und der Praxis des Handelns am Menschlichen sind von einer soziokulturell geprägten Begrifflichkeit determiniert, die nur mehr oder minder verfügbare Entscheidungen mit einschließt. 49 Die Relativität (aber eben nicht Relativismus) einer soziohistorisch kontingenten Anthropologie bedeutet, dass das menschliche Gesicht aus Sand sich durch Gezeiten verändern, aber nicht zum Verschwinden gebracht werden kann. So flapsig ich zu Beginn dieses Aufsatzes über Foucaults berühmt gewordenes Diktum vom Ende des Menschen hinweggegangen bin, eines von vielen Verdiensten dieses Autors ist es natürlich, gezeigt zu haben, dass es gerade kein radikal ahistorisches Wissen vom Menschen selbst gibt, sondern allenfalls ein gegenwärtig herrschendes. 50 Das Menschliche kann ferner auch innerhalb eines soziokulturellen Kontextes variieren, je nach Blickpunkt, von dem aus es gesehen wird; aber der Mensch ohne Menschenbild würde allenfalls an den allseitig gesehenen Würfel in Merleau-Pontys Beschreibung der 48 Vgl. Waldenfels, Bernhard, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden Bd. 1, Frankfurt a. M. 1999, S. 41 f. Waldenfels geht es darum zu zeigen, dass eine (neutral zu konstatierende) Abgrenzung zwischen Bereichen die falsche Beschreibung für ein solches Unterfangen wäre. Wir sind es, die von uns aus eine notwendige Grenzpolitik der Ein- und Ausgrenzung betreiben und dadurch Eigenes und Fremdes gleichursprünglich entstehen lassen. Das bedeutet aber nicht Herstellung, sondern Konstitution des Menschen als Menschen und des Tiers als Tier. 49 Vgl. Diamond, Menschen, Tiere und Begriffe, S. 195. 50 Ich habe mich zu Beginn meiner Ausführungen auch eher gegen einen gewissen Interpretationsstrang gewandt, der eben eine Eschatologie des Menschen herbeizureden versucht, ohne dabei einer grundlegenden Erfahrung gerecht zu werden, der ich in diesem Abschlusskapitel des Aufsatzes auf der Spur bin.
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Wahrnehmung erinnern, der aufhört, noch als Würfel in Erscheinung zu treten. Die lebensweltlichen Bedeutsamkeiten, von denen ich im Zusammenhang mit den Reflexionen von Cora Diamond gesprochen habe, sind keine sakrosankten, überzeitlichen und universalen Normen, sondern unterliegen einer graduellen Verschiebbarkeit und damit auch Kritisierbarkeit, die sich aber nur sehr eingeschränkt vom Begriff der techne (man denke jedoch an die Relevanz medizinisch-technischer Mittel bis hin zu Eingriffen in das menschliche Genom und der damit sich verknüpfenden Begrifflichkeit) her verstehen lässt. So gesehen ist weder das Sprechen über Menschen und Tiere noch der Umgang mit Menschen sowie Tieren in ihrer Unterschiedlichkeit völlig vorgegeben oder normativ endgültig einholbar, keinesfalls allerdings völlig beliebig.
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Dank
Bedanken möchten wir uns zunächst bei der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, an der im November 2013 eine von uns organisierte Konferenz unter dem Titel »Phänomenologie und Metaphysikkritik« stattfand. Aus den dort gehaltenen Vorträgen sind die Aufsätze für den vorliegenden Band hervorgegangen. Unser Dank gebührt ebenso dem in Freiburg ansässigen Husserl-Archiv, das die Tagung nicht nur »ideell«, sondern auch finanziell unterstützt hat. Überdies danken wir Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg), Prof. Dr. Georg Stenger (Universität Wien) und Prof. Dr. Johann Kreuzer (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) für die umfassende Unterstützung bei der Tagungsorganisation. Für einen Druckkostenzuschuss danken wir dem Institut für Philosophie der Universität Wien und dem Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie dem Verleger Dong-Kwon Kang des koreanischen Verlags Ehak. Außerdem möchten wir den jungen Philosoph_innen Andreas Metzner, Tsutomu Ben Yagi, Jiaxin Wang, Apolonia Franco-Elizondo, Lina Xu, Anna Hollendung, Ilaria Massari, Andreas Beinsteiner und Sara Pasetto für ihre Mithilfe beim Tagungsablauf herzlich danken.
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Alexander Bilda, Studium der Philosophie, alten Geschichte und historischen Anthropologie in Freiburg und Paris; seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Max Brinnich, 2012 Abschluss des Diplomstudiums Philosophie in Wien; 2016 Abschluss des Doktoratsstudiums (Titel der Arbeit: Zeit und Leben: Leben in der Zeit. Über Sinn und Bedeutung des Lebens in der Zeit bei Kant und Levinas). 2009 bis 2012 Studienassistent am Institut für Philosophie in Wien, seit 2012 Universitätsassistent. Forschungsbereich: Metaphysik und Phänomenologie. Jens Bonnemann, PD Dr. phil., Akademischer Rat am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Wahrnehmungsphilosophie, Bildphilosophie und Ästhetik, Sozialphilosophie, Phänomenologie. Kristin Drechsler, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg; promoviert bei Prof. Dr. Christoph Jamme zum Wandel der Dingwahrnehmung in Kunst und Philosophie. Sebastian Edinger, Studium der Philosophie und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin und Mainz; 2011– 2014 Promotion im DFG-Graduiertenkolleg Lebensformen & Lebenswissen; Forschungsschwerpunkte: Ontologie, Philosophische Anthropologie, Kritische Theorie, Politische Philosophie, Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Dirk Fonfara promovierte 2002 an der Universität zu Köln über Aristoteles’ Substanzbegriff, weitere Veröffentlichungen zur antiken und Überwundene Metaphysik?
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Autorenverzeichnis
mittelalterlichen Philosophie sowie zu Husserls Phänomenologie; 2003–2013 am Husserl-Archiv Köln Editor der Husserliana-Bände XLI (2011) und IV-2/V-2 (erscheint 2016); ab 2014 tätig für die Heidelberger Akademie der Wissenschaften als Editor bei der Karl-Jaspers-Gesamtausgabe. Martin Huth hat in Wien Philosophie und Geschichte studiert und 2007 mit einer Arbeit zu Medizinethik und Phänomenologie promoviert (erschienen als: Den Anderen behandeln und betreuen. Phänomenologische Ansätze zu Grundfragen der Medizin. Freiburg im Breisgau: Alber 2011); seit 2008 arbeitet er als Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie an der Universität Wien, seit 2011 ist er Universitätsassistent am Messerli Forschungsinstitut in Wien. Bence Peter Marosan, BA und MA Studien in Philosophie (1997– 2004) und Ästhetik (2000–2008) an der Budapester Eötvös Loránd Universität; PhD-Studien in Philosophie, Phänomenologie an der Budapester Eötvös Loránd Universität (2004–2014); Stipendien: 2008, University College Dublin; 2009, Bergische Universität Wuppertal; 2010, L’université Paris 1 Panthéon-Sorbonne. Anna Orlikowski studierte Philosophie, Kunst und Pädagogik in Wuppertal; 2010 Promotion zum Spätwerk von Maurice MerleauPonty; Dozentin am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal; Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Intersubjektivität, Ästhetik, Gender Studies. Thomas Schmaus, Prof. Dr. phil., Dipl.-Theol.; Studium an der LMU und an der Hochschule für Philosophie in München sowie an der Universität Wien; 2009–2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2013 Juniorprofessor für philosophische Anthropologie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter/Bonn; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Phänomenologie, Philosophische Anthropologie, Kultur-, Kunst-, Technik- und Religionsphilosophie. Holger Sederström studierte Philosophie und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und war dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Volker Gerhardt tätig; sein aktuelles Promotionsprojekt befasst sich mit dem Denken als Tätigkeit bei Hannah Arendt; weitere Forschungsschwerpunkte und 266
ALBER PHILOSOPHIE
M. Ates / O. Bruns / Choong-Su Han / O. S. Schulz (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495811085 .
Autorenverzeichnis
-interessen: Geschichte und Theorie der Aufklärung, Politische Philosophie, Philosophische Anthropologie, Existenzphilosophie und Phänomenologie. Tomas Sodeika, Dr. phil., ist Professor am Zentrum für Studium und Erforschung der Religion an der Universität Vilnius, Litauen; Schwerpunkte der wissenschaftlichen Interessen: Phänomenologie, Religionsphilosophie, Philosophie des Dialogs, Medienphilosophie, Philosophische Praxis. Christian Sternad hat Philosophie und Geschichte studiert und ist derzeit Postdoctoral Research Fellow am Husserl-Archiv der KU Leuven, Belgien; Forschungsinteressen: Phänomenologie, (Post-)Strukturalismus, Geschichts- und Literaturtheorie; im aktuellen ERC-Projekt »The Great War and Modern Philosophy« (GRAPH) beschäftigt er sich mit Konzepten der Ewigkeit in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Federico Ignacio Viola, Dr. phil., absolvierte das Studium der Philosophie in Santa Fe, Argentinien; 2013 erfolgte die Promotion zum Thema »Der Kairos der Liebe: Das Konzept der Gerechtigkeit bei Emmanuel Levinas« (Verlag Ferdinand Schöningh, 2014), seine Forschungsschwerpunkte und Publikationen betreffen v. a. den Bereich der Ethik aus phänomenologischer Sicht. Guang Yang hat an der Nankai Universität in Tianjin und der Universität Freiburg Anglistik und Philosophie studiert; seit 2008 Promotion im Fach Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Freiburg bei Prof. Günter Figal über Heideggers Auffassung des Logos und der Dynamis; zahlreiche Publikationen zur antiken Philosophie und Phänomenologie.
Überwundene Metaphysik?
A https://doi.org/10.5771/9783495811085 .
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