Über Fortschritte und Rückschritte der Theologie unseren Jahrhunderts und über ihre Stellung zur Gesammtheit der Wissenschaften: Rede gahalten am 1. Mai 1878 bei Übernahme des Rectorats der Keiser-Wilhelms-Universität Strassburg [Reprint 2019 ed.] 9783111455150, 9783111087726


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German Pages 36 [40] Year 1878

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ÜBER FORTSCHRITTE UND RÜCKSCHRITTE DER THEOLOGIE UNSERES JAHRHUNDERTS UND ÜBER IHRE STELLUNG ZUR GESAMMTHEIT DER WISSENSCHAFTEN
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Über Fortschritte und Rückschritte der Theologie unseren Jahrhunderts und über ihre Stellung zur Gesammtheit der Wissenschaften: Rede gahalten am 1. Mai 1878 bei Übernahme des Rectorats der Keiser-Wilhelms-Universität Strassburg [Reprint 2019 ed.]
 9783111455150, 9783111087726

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ÜBER

FORTSCHRITTE UND RÜCKSCHRITTE DER

THEOLOGIE UNSERES JAHRHUNDERTS UND ÜBER IHRE STELLUNG ZUR

GESAMMTHEIT DER WISSENSCHAFTEN

REDE GEHALTEN AM 1. MAI 1878 BEI ÜBERNAHME DES RECTORATS DER KAISER-WILHELMS-UNIVERSITÄT STRASSBURG VON

HEINRICH HOLTZMANN, DOCTOR U S D OR1). PROFESSOR DER THEOLOGIE.

STRASSBURG. K A R L J. T R Ü B N E R . LONDON TRÜBNER & COMP. 1878.

Es sei mir gestattet, an dieser Stelle zunächst zwei Säeularerinnerungen wachzurufen, welche auch dann kaum abgewiesen werden könnten, wenn der Boden, darauf wir stehen, vor hundert Jahren nicht zu Frankreich gehört hätte. In das Semester, welches wir beginnen, fällt das Gedächtniss an Voltaire's und Rousseau's Todestage. In unserem Strassburg hat der Eine 1753 auf seinem Rückzug aus Preussen zwei Monate zugebracht. Etwas kürzer war die Rast bemessen, welche sich der Andere 1765 auf seiner Flucht aus der Schweiz hier gönnte. Indessen durften die Strassburger stolz sein auf die schmeichelhaften Worte, womit sie der Geächtete von schon so zahlreich gewordenen Gegenständen seines Unmuths ausdrücklich unterscheidet. Die Erinnerung daran ist heute nahezu verklungen. Für die Mehrzahl des gegenwärtigen Geschlechts überhaupt bedeuten vielleicht beide Namen zunächst nur gewisse, mit ihrem Andenken in der Geschichte verbundene, Excentricitäten, welche den Yorabend der Revolution charakterisiren. In Wahrheit freilich vertreten sie Ideen, welche in das allgemeine Bewusstsein der modernen Zeit eingegangen sind und, wie immer fortgebildet und geläutert, heute noch kräftig in demselben wirken. Und welche Wissenschaft, welche Facultät könnte gar gleichgültig bleiben, wo man ihrer gedenkt? Beispielsweise seien genannt, weil sie beide sich dermalen in grösster gegenseitiger Entfernung bewegen, Naturwissenschaft auf der einen, Theologie auf der andern Seite. Rousseau's Appell an die heilige Natur hatte freilich des Widersinns genug in seinem Gefolge. Aber noch vorher werthe man ihn als ein günstiges Vorzeichen für das Er1

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wachen jenes Natursinnes, ohne welchen eine allgemeine Betheiligung an naturwissenschaftlichen Bestrebungen nicht leicht eintreten wird. Die Naturschwärmer und Naturphilosophen sind in der Regel nicht allzulange vor den Naturforschern erschienen. Das war schon früher in England zu beobachten. Yon dort brachte nunmehr Voltaire den Sinn für inductive Methode, das Interesse für mechanische Erklärung der Naturerscheinungen mit nach Cirey, wo das Scliloss der Marquise du Chätelet eines der frühesten jener niemals allzuhäufig gewesenen Beispiele bot, dass in einem Salon d'esprit, wie sich Yoltaire in der Dedicationsepistel zur Alzire ausdrückt, „die "Werke der Geometrie mit derselben Leichtigkeit gelesen werden, wie man anderwärts Romane liest"; dass überhaupt Mathematik und Physik diejenige Rolle spielen, welche in solchen Kreisen sonst der schönen Literatur oder der Geschichte, zuweilen auch der Theologie zufällt. Wenden wir uns herüber zur letzteren, so bestätigen die namhaft gemachten Erscheinungen zunächst nur eine allgemeine Regel, welche für die gesammte Aufklärung des vorigen Jahrhunderts gilt: dass nämlich fast alle Culturfragen noch innerhalb des Rahmens einer theologisch bestimmten Weltanschauung behandelt und zum Austrag gebracht werden. Ganz besonders war dies bei uns in Deutschland der Fall. Man gedenke nur des Mannes, welcher vor gerade hundert Jahren das letzte Bruchstück aus Reimarus herausgegeben und den „Antigöze" geschrieben hat. Auch eine solche Säcularerinnerung darf nicht dahinten lassen, wer als Theologe Einiges bemerken möchte über Fortschritte und Rückschritte in der seitherigen Entwicklung der wissenschaftlichen Theologie. Zur selben Zeit, als Lessing eben im Nathan sein künstlerisch abgerundetes Glaubensbekenntniss vorbereitete, reifte auch schon Göthe der classischen Periode seiner Productivität entgegen und war überhaupt die ganze glanzvolle Entfaltung unserer Nationalliteratur allseitig im Anzüge. Damit wurde dann freilich die Theologie auf lange in den Hintergrund der geistigen Bestrebungen und Interessen gedrängt, während vorher — und so namentlich noch vor hundert Jahren, d. h. auf dem Höhepunkt der Aufklärung — alle Regungen der



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Wissenschaft, Kunst und Literatur Allem

mit

treten.

derselben Theologie

sich beeilt zeigen,

vor

in Auseinandersetzungen zu

Gerade die Emancipation von der theologischen Er-

fassung der Probleme vollzieht sich meist noch innerhalb der allgemeinen Sphäre der Theologie.

Ein beredter Zeuge für

diese Thatsache ist Rousseau's savoyardischer Yicar mit seinem in Paris wie in Genf den Flammen übergebenen, ein Menschenalter später von der Revolution zum offiziellen Glauben des französischen Volkes erhobenen Bekenntnisse. Aber auch für Voltaire's theologische Feder begann im Wetteifer mit den rasch geahnten Erfolgen dieses eine neue, ja die fruchtbarste Periode.

Credos

Erst jetzt erfuhr man

in der OefFentlichkeit etwas von jenem merkwürdigen Seitenstück zu Reimarus, der hinterlassenen Handschrift des Pfarrers von Etrepigny, welche Voltaire doch schon seit einem Vierteljahrhundort gekannt hatte.

Es sollte das Vicarsbekenntniss

durch das Pfarrersbekennlniss an Kühnheit überboten werden, während die Homilien zugleich der W e l t zeigen mussten, dass Voltaire auch erbaulich sein Icönne. Für uns Heutige unterscheiden

sich die theologischen

Räsonnements Voltaire's und Rousseau's fast nur noch durch eine allerdings sehr erhebliche Differenz des beiderorts herrschenden Temperaturgrades.

A n nicht Wenigen dürfte jetzt

sowohl das kalte wie das heisse Bad verloren sein. liegt die Sache schon bezüglich Lessing's,

Anders

welcher der zeit-

genössischen Form des Theismus keinen rechten Geschmack abzugewinnen vermochte

und der Ansicht war, jene

selige

Existenz, welche der Gottheit allein zugeschrieben wird, übersteige

nicht etwa

überhaupt völlig an die

„Kritik

blos alle unsere Begriffe, ausser dem Begriffe.

sondern liege

Dies erinnert schon

der reinen Vernunft", welche

vor

hundert

Jahren erst noch auf dem W e g e nach dem Licht der Oeffentlichkeit war.

Die

Erkenntnisstheorie

der kritischen

Philo-

sophie sollte bald jenen Graben definitiv ziehen, welcher uns von der ganzen alten Metaphysik und eben damit auch von der alten Theologie, selbst der sogenannten natürlichen eines Voltaire

und Rousseau,

prinzipiell

trennt.

Diesseits dieses

Grabens, wo fast alle heute lebendigen Gedankengänge erst 1*



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beginnen, kann die alte Scheidelinie nicht mehr weitergeführt werden, welche einst zwischen der platonisch-aristotelischen Metaphysik einerseits und der biblischen Yorstellungswelt andererseits hinlief, um natürlich begreifbare und übernatürlich geoffenbarte Theile des christlichen Dogmenkreises zu sondern. Thomas von Aquino, die mittelalterliche Autorität, welche dieses Schema am klarsten vertritt, hatte sich ein Haus gedacht, dessen unteres Stockwerk bei geöffneten Penstern der natürlichen Tagesbeleuchtung zugänglich ist, während das obere die Läden geschlossen hält und künstlich illuminirt wird. Beide zusammen beherbergten den ganzen Haushalt. Aber schon die spätmittelalterliche Dogmatik sollte vermöge immer schärferer Ausbildung und Durchführung der Verstandeskategorien einen Verlauf nehmen, in dessen Folge zuletzt so gut wie die ganze Habe in den oberen Stock geflüchtet werden musste. Die viel kürzer abfliessenden Zeitfristen des protestantischen Dogmatismus stellen uns fast noch ein bedenklicheres Bild beständigen Auf-, Ab- und Umziehens dar. Zunächst war das Verhältniss beider Domänen durchaus zu Gunsten der höheren Ordnung gestaltet, bis, ohne der letzteren zu nahe zu treten, Leibniz und Wolff die natürliche Theologie in vorzugsweise Behandlung nahmen. Die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts richtete sich im schroffen Gegensatz zur gesammten Vergangenheit immer vollständiger zu ebener Erde ein, brach endlich auch die Stiege ab und erklärte, die obere, die tianscendente Wohnung sei forthin den Fledermäusen und Eulen zu überlassen. Nun aber zieht das neunzehnte Jahrhundert herauf, naturgemäss unter das Gesetz des Rückschlags fallend: ein Wasserspiegel, dessen Oberfläche von fast lauter umlenkenden und rückfluthenden Strömungen bedeckt ist, während in seiner Tiefe zukunftsfreudige Gedanken um so energischer arbeiten und vorantreiben. Aber jene mit Vorliebe oder ausschliessend an der Vergangenheit sich orientirenden Richtungen waren auf den Gebieten der Rechts-, Staats- und Gesellschaftslehre doch schon wieder erschüttert, als sie sich auf dem Gebiete der Kirche und der allmälig vorzugsweise praktischen Instinkten folgenden Theologie um so dauernder zu befestigen



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vermochten. Zu verwundern ist dies aus vielen Gründen nicht. Unter Anderem hatte gerade liier am wirksamsten jene Romantik vorgearbeitet, deren Einflüssen zu Anfang des Jahrhunderts sich ja selbst Naturwissenschaft und Medicin nicht völlig zu entschlagen vermochten. Dem aristokratischen Geschmack der Romantik entsprach es vollkommen, wenn man nunmehr gegentheils wieder das Erdgeschoss ärmlich und gemein fand. Mit souveräner Yerachtung überliess man es zunächst dem hausbackenen Gemeinverstand, bis mit der Zeit die Entdeckung gemacht wurde, dass die Einwohnerschaft da unten je länger je unangenehmer und begehrlicher werde. Man vorsuchte ihr zu kündigen, und sofort begann jener häusliche Krieg, in welchem es sich nicht mehr, wie früher, um Abgrenzung des Mobiliars, sondern direkt um das Hausrecht handelt. Diesem kurz skizzirten Yerlaufe der äusseren Geschichte entspricht nun aber ein innerer Prozess, dessen Tragweite unmissverständlich schon durch die eine Thatsache illustrirt wird, dass jener häusliche Streit einen sehr bedeutenden Bruchtheil denkender Zeitgenossen gar nicht mehr interessirt, sofern sie finden, wenn man sich einmal herzhaft auf den nackten Boden der realen "Wirklichkeit stelle, werde man der alten Metaphysik wie als Fundament so auch als Bedachung und Behausung entbehren können. In diesem Sinne werthet man den Rückzug eines Rousseau aus den Kirchen der Confessionen unter das natürliche Himmelszelt vielfach noch heute auch d a , wo man der matten Himmelsfarben seiner natürlichen Theologie eutrathen kann. In diesem Sinne ist in Yoltaire's Vaterland heutzutage vielfach an die Stelle seiner Religion, wie er auf Grundlage naturwissenschaftlicher Kenntnisse und mit Zuratheziehung der praktischen Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft sie construirt hatte, der einfach religionslose Positivismus getreten. Und nicht in demselben, aber in einem, was die Negation betrifft, doch verwandten Sinne hat bei uns Lessing eingewirkt, wenn er, als abgesagter Feind jedes Dogmatismus, sich nicht blos gegen die Orthodoxie, sondern auch gegen jenes vernünftige Christenthum verwahrte, von dem man so eigentlich nicht mehr wisse, weder wo ihm die



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Vernunft, noch wo ihm das Christenthum sitze. Und auf derselben Linie bewegen sich die mächtigsten Instanzen der ihm sofort nachrückenden Philosophie, wie sie in Deutschland von den Resultaten Kant's ausgegangen ist, um schliesslich, in einer unsere jetzigen Universitäten vielfach beherrschenden Richtung, zur Problemstellung desselben Kant auch wieder zurückzukehren. "Was dieser kritisch geschulte Verstand einzuwenden hatte, das berührte bekanntlich die in unförmlichen Quartanten niedergelegte Scholastik der Confessionen nicht mehr oder minder wie auch jedwede Miniaturdogmatik mit eleganterem Format. W a s er einzuwenden hat, jener kritisch geschulte Verstand, ist eben wieder einfach dies, was im Grunde schon den nominalistischen Ausläufern der mittelalterlichen Theologie vorschwebte, dass überhaupt bei jeder Construction eines einheitlichen, Geist und Natur umfassenden, Weltbildes über das erfahrungsmässig Gegebene, d. h. über den einzigen und ausschliesslichen Stoff, darauf der menschliche Denkapparat eingerichtet und gestimmt ist, hinausgegangen werde durch einen Act producirender Anschauung; dass also, wenn man Alles beseitigt, dahinter der kritische Verstand ein wohlbegründetes Fragezeichen setzen muss, überhaupt nichts mehr übrig bleibe, nicht die ökumenischen Bekenntnisse der alten Bischofsversammlungen, aber auch nicht die Privatbekenntnisse moderner Vicare. Es ist eine delicate und in der fliegenden Kürze eines Berichtes kaum andeutungsweise zu beantwortende Frage, wie auf Grundlage so gestalteter Begriffe von den Gesetzen des denkenden Geistes und der seelischen Thätigkeit die religiöse Function, zumal wenn sie bis zur Erzeugung von Dogmen und zur cultischen Uebung fortschreitet, positiv und dem Wesen und Werth einer so allgemein menschlichen Angelegenheit angemessen beurtheilt sein will. Benützen wir die grossen Namen, an deren Gedächtniss unser Versuch anknüpfte, so lässt sich constatiren, dass der von Voltaire nach englischem Muster gebahnte teleologische Pfad heute ziemlich unkennbar geworden und fast wie zugewachsen erscheint. Ueber Steine, Pflanzen und Thiere gibt es einen directen W e g zum Gottesgedanken in der Regel nur da, wo noch die



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naive Addition von wissenschaftlich constatirtenThatsachen, Begriffen, Gesetzen und von praktischen Idealen besteht, bei deren Production doch weniger logische, als ästhetische und ethische Gesichtspunkte massgebend und leitend waren. E s ist aber die erste Forderung eines disciplinirten geistigen Haushaltes, dass man was nicht ejusdem generis äst, auch unverworren erhalte und völlig disparate Währungen auseinander zu halten vermöge. Um so angelegentlicher hat sich die neuere Philosophie in ihren ästhetischen und religiösen Erörterungen mit der idealbildenden Thätigkeit des menschlichen Geistes und, mit dem Gefühl als der subjectiven Grenze des Intellects beschäftigt. Der Natur der Sache nach kann es sich hier mehr nur um ein Betasten von aussen als um ein Erklären und Verstehen von innen heraus handeln. Aber ernstlich ist man auch unter den nüchternsten Voraussetzungen auf Fertigung handhablichercr Massstäbe bedacht, um Vorgänge und Erlebnisse, deren ausschliessliche Stätte das Gemüthsleben ist, als gesetzmässige Erscheinungen des menschlichen Geisteslebens einer blos pathologischen Beurtheilung zu entziehen. Zwischen dem Menschen als Subject, wie er allein um jene Vorgänge weiss, und dem Menschen als Object, dem allseitig determinirten Naturwesen, von welchem die Wissenschaft weiss, liegt jener Abgrund, davon der Dichter s a g t : „Der Himmel über mir will die Erde nie berühren, und das Dort ist niemals Hier" Die beide Mittelpunkte umschwingenden Cirkel beschreiben verschiedene Bahnen; in der beredten Geltendmachung ihres widerspruchsvollen Verhaltens zu einander, welches die Tragik des menschlichen Geschicks bildet, erschöpft sich vielfach das Pathos eines Rousseau, welcher der religiöseste aller Menschen heissen dürfte, wenn gewisse günstige Aussichten für die Religion die volle Existenz derselben bedeuteten. So die elementare Gewalt, womit das Welträthsel den Menschen fasst und schüttelt, o l e r die Resonanz, welche das von allen Seiten auf ihn eindringende, in keine verstandesmässige Verarbeitung eingehende, Weltganze auf dem Untergrunde seines Bewusstseins. findet. Was aber in der Rechnung mit den bekannten Grössen

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der übrigen animalischen Lebenserscheinungen ohne Rest nicht aufgehen will, das ist das der blossen Naturbestimmtheit nach innen entwachsende, sittliche Wesen des Menschen. Man kann sich mit Lessing des Eingehens in jenes ganze Gebiet entschlagen, dessen wir uns, weil es die Beziehung zum Unendlichen enthält, nur in völlig unmessbaren Erregungen des Gefühls und mit Hülfe der dichterischen Phantasie zu bemächtigen vermögen, und man kann desshalb dennoch mit demselben Lessing der Ansicht sein, Sinn und Recht der Religion seien aus dem sittlichen Wesen des Menschen zu verstehen. Hat ein verhältnissmässig freies Yorwalten des formgebenden Factors das ästhetisch geartete Weltbild der Religion zunächst hervorgerufen, so würdigt man es auf diesem Standpunkte doch vorzugsweise nach seiner Rückwirkung auf Wollen und Thun des Anschauenden, und die Religion erbaut so ein Reich der Zwecke ausser und über dem Reich der Ursachen, um im Verein mit der Sittlichkeit das Schwungrad zu bilden, welches die geistigen Lebensfunctionen des Menschengeschlechts fortwährend über den todten Punkt hinaushebt. Immer auf's Neue bildet sich so jener Gemüthsprozess der Befreiung, Läuterung und Erhebung, welchen die Menschheit in wechselnden Formen der religiösen Anschauung beständig durchmacht, und wozu ihre eigenthiimliche Situation sie fortdauernd anhalten wird, so lange sie sich mit dem Bewusstsein unbedingt verpflichtender Aufgaben, mit dein Gefühl der Verantwortlichkeit und der Nöthigung zu handeln in eine Welt hineingestellt sieht, deren Causalzusammenhang nur sehr fragmentarisch erkennbar ist und, soweit erkannt, nur in dürftigem, unsicherem Masse die Prämissen liefert für die N o t w e n d i g k e i t sittlicher Leistungen und heldenmüthiger Opfer. Aber wie auch immer eine fortschreitende Erkenntniss vom ganzen Wesen des Menschen die Frage nach der Religion beantworten mag: das -Dogma erscheint unter allen Umständen nur noch in gebrochenem Licht;- der Werth eines directen Beitrags zur wissenschaftlichen Welterklärung, einer unmittelbar theoretischen Aussage über irgendwelche übersinnliche Dinge ist ihm entfallen. An sich ein unlebendiges



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Anschauungsbild, welches der Erinnerung übrig bleibt, wenn die Wärme des religiösen Moments verausgabt ist, soll es gegen jede Verwechselung mit verstandesmässiger Erkenntniss der "Wirklichkeit gesichert werden, seinen Werth dagegen behaupten als Symptom für die Art und Weise, wie sich in einer bestimmten Zeit und Gemeinschaft der religiöse Prozess vollzogen hat, als Yereinigungs- und Erkennungszeichen solcher, welche ihn in gleicher Weise erlebt haben, als ein religiöse Motive ausdrückendes S\7mbol. Symbolik — so heisst eine der Disciplinen, welche nach der älteren Werthung ihres Inhaltes die zusammenhängende Gruppe der sog. systematischen Theologie, den ersten unter den drei Hauptstämmen des Ganzen, bilden. Eine Umwandelung, von welcher vielleicht alle Theile dieser systematischen Theologie ergriffen werden können, lässt sich an dieser Symbolik veranschaulichen. Sie ist hervorgegangen aus der berüchtigten altprotestantischen Polemik; die Gegensätze der Confessionen bildeten ihren breiten Tummelplatz. Im Verlaufe des vorigen Jahrhunderts hatten schon die mildernden und ausgleichenden Einflüsse des Pietismus das Interesse daran gelähmt; die Herrschaft der natürlichen Theologie brachte es vollends zum Stillstand. Voltaire's stehender Vorwurf gegen den Protestantismus blieb es, derselbe habe seine Aufgabe verkannt, indem er den Supernaturalismus der Scholastik wesentlich beibehielt. Rousseau's Conversionen beweisen nicht minder, wie wenig er auf den Unterschied des Lehrgehalts gab. So schlief die Polemik ein, um sich bei ihrem Wiedererwachen zu Anfang dieses Jahrhunderts als eine rein historische Disciplin vorzufinden. Ist doch sogar die ganze Dogmatik von hervorragender Seite einfach als letztes, systematisch geordnetes, Capitel der Dogmengeschichte, als inneres Seitenstück zur kirchlichen Statistik behandelt worden. Ein ähnlicher Querschnitt, an früheren, entscheidungsvollen Stellen des dogmengeschichtlichen Prozesses angebracht, ergibt den Inhalt der neueren Symbolik. Seiner bemächtigt sich nunmehr vielfach ein ihm objectiv gegenübertretendes räsonnirendes Urtheil, um verbrauchten Controversbegriffen eine neue Seite des Verständnisses abzugewinnen. Wenn



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beispielshalber das in den Symbolen fixirte Lehrsystem des Katholicismus die sog. justitia originalis als eine, zur Natur des Menschen von vornherein keineswegs gehörige, übernatürliche Zugabe auffasst, welche verloren geht durch Sündenfall, wiederhergestellt wird durch Erlösungsgnade, während der symbolische Protestantismus in der ursprünglichen Gerechtigkeit das der Menschennatur vielmehr begrifflich eignende Bild Gottes erkennen will, so sind das zunächst Notizen, welche für den heutigen Stand der religiösen Bildung wenig in Betracht kommen. Durchschaut man aber die scheinbar zufällig und willkürlich angelegte Differenz tiefer, so spiegelt sich in diesem Brennpunkte eine weitgreifende Verschiedenheit des beiderseitigen religiösen Bewusstseins selbst ab. Die Art und "Weise der religiösen Selbstbeurtheilung muss eine andere sein, wo die menschliche Natur vorgestellt wird als durch den Fall in ihrer wesentlichen Constitution unbeeinträchtigt, so dass also erstlich der Verlust jenes donum superadditum auf ihr nur wie ein schlechthin unbegreiflicher, durchaus übernatürlicher Bann ruht, und dass zweitens die diesen Bann brechende Erlösung den Menschen eigentlich über sich selbst, auf eine rein übernatürliche Höhe hebt, zu welcher jene Menschennatur von Haus aus in keinem nothwendigen Verhältnisse steht; eine andere wieder da, wo durch den Fall ein integrirendes Stück der Menschennatur gl; ichsam herausgeschlagen und in Folge dieser Vorstellung das W e r k der Erlösung unter den Gesichtspunkt eines wieder zu sich selber Kommens gerückt erscheint. Von da eröffnen sich nach allen Seiten überraschende Einblicke in die Differenzen in Bezug auf die allgemeine Stellung des Menschen zu Gott und Natur, sowie auf die weit auseinanderliegenden Begriffe, welche man beiderseits, mit den Namen Sünde, Erlösung, Gnade verbindet. Man begreift, wie Parteien, in deren Bewusstsein schon das allgemeine Bild des menschlichen Wesens so verschiedene Reflexe erzeugt, sich auf Schritt und Tritt missverstehen und auch in ihren weiteren Gedankenreihen fortwährend feindlich kreuzen mussten. Und nicht minder lässt sich beobachten, wie gewisse Unterschiede in der Vergegenwärtigung der religiösen Erfahrung auch die innerevan-



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gelische Differenz beherrschen, wie z. B. die lutherische Lehre die verschiedenen Stadien der erlebten Erhebung und Befreiung als dramatische Acte in möglichst contrastirendem Lichte katastropheuartig sich gegenüberstellt, während das reformirte Schema von vornherein den Gesichtspunkt eines continuirlichen Prozesses erkennen last, so dass dort eine mehr künstlerisch phantasievolle Anschauung, hier eine mehr verstandesmässige Reflexion ihre Rechnung finden. So drückt sich durchweg in den kirchlichen Hauptsystemen eine Differenz aus, welche nicht blos auf zufällige und gelegentliche Geschichtsursächen zurückweisst, sondern bleibende Bestimmtheiten der menschlichen Natur zur Unterlage hat. Man lernt dann die geistig-sittliche Eigenthiimlichkeit der Religionssysteme erfassen und dieselben als Grundformen beurtheilen, darauf der menschliche Geist in einem bestimmten Stadium seiner religiösen Entwickelung immer wieder zurückkehren wird; man lernt die in den kirchlich anerkannten Symbolen fixirten Dogmen selbst nur als Niederschlag einrs idealen Princips erkennen, und zwar desselben, welches sich zugleich als Geist des vielfach verschlungenen Ganzen der kirchlichen Organisation kund gibt. Damit aber hat die Symbolik ihre Stelle im allgemeinen System der Wissenschaft gefunden. Sie erinnert in etwas an die Völkerpsychologie. Wenn hier die Volksgeister nach ihren wesentlichen Erscheinungen in Sprache, Sitte, Kunst untersucht werden, so umschliesst solche Forschung an sich schon auch die religiöse Seite, und speciell innerhalb des Christenthums wird sich die Symbolik mit der Besonderung geschichtlicher Gestaltungen zu befassen haben, welche die kirchliche Weltanschauung im Laufe der Zeiten hervorgebracht hat. Lässt man vollends an die Stelle der Confessionen die Religionen selbst treten, so fühlt man die Zeitnähe einer naturwissenschaftliche Grundlagen suchenden Psychologie noch deutlicher. Alle Untersuchungen über die sittlichreligiöse Weltanschauung des Christenthums weisen auf Fragen nach dem psychologischen Ursprung und der geschichtlichen Entwickelung der Religion selbst zurück. Alle Bemühungen um Begriff und Wesen der Religion aber wollen



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auf der Unterlage eines breiten historisch - ethnologischen Materials ruhen. Eine in dieser Richtung ausgebaute Religionswissenschaft ist das nur erst begonnene "Werk des letzten Jahrhunderts. Während die Philosophie jetzt anfing, das Problem in erkenntnisstheoretischer und psychologischer, statt, wie früher, in metaphysischer Weise zu behandeln, wurde gleichzeitig der Nachweis des empirischen Auftretens der Religion in den unzähligen Gestaltungen und Uebergangsformen der menschlichen Entwickelungsgeschichte versucht. Dies führte auf die vergleichende Religionsgeschichte, an deren Arbeiten zur Zeit so ziemlich alle Cultürnationen betheiligt sind, während die eigentliche Fachtheologie erst neuerdings mit in den Arbeitskreis eingetreten ist. In der Regel dagegen bilden die Länder- und "Völkerkunde, die Anthropologie und Psychologie die Ausgangspunkte, also lauter Arbeitsgebiete, welche sich zwischen die so lang getrennt erhaltenen Territorien der Natur- und der Geisteswissenschaften als Verbindungsglieder hereinschieben. Zu diesen ausgleichenden Factoren gehört endlich auch die vergleichende Sprachkunde, mit welcher die auf dem Gebiet der Religionswissenschaft zur Geltung gelangende comparative Methode engere Fühlung gesucht hat, um durch diese Vermittelung sich selbst mit jenen rein physiologischen Untersuchungen zu berühren, welche die naturwissenschaftliche Unterlage aller Sprachwissenschaft bilden. Wir blickten zu Anfang dieser Betrachtung auf die Zeit ¿vor hundert Jahren zurück. Damals war man sich zwar des Gegensatzes von erfahrungsmässig gewährleistetem und lediglich' traditionellem Wissen im Allgemeinen wohl bewusst. Man kannte aber noch lange nicht die ganze Breite der Gebiete, darauf erst Erfahrungen gesammelt, Thatsachen festgestellt, Bausteine gebrochen sein wollten für einen encyklor pädischen Tempel, wie ihn die Zeit- und Gesinnungsgenossen Yoltaire's und Rousseau's weitläufig angelegt hatten. Selbstverständlich weiss jenes grosse ABC-Buch der Weltanschauung des vorigen Jahrhunderts auch über die Religion nur Weniges und Unzuverlässiges mitzutheilen im Vergleiche mit den, durch die orientalischen Wissenschaften seither neu auf-

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geschlossenen, Gebieten und den übrigen, schon massenhaft aufgespeicherten und in F o l g e jedes neuen Reiseberichtes sich mehrenden Notizen über primitive oder degenerirende Religionsformen, wie sie uns heute zu Gebote stehen. Danebenher gehen mannigfache Bestrebungen, dem vollständiger erhobenen Thatbestand auch das geistige Gesetz abzulocken, welches darin zur Erscheinung kommt. Indem man aber solcher Gestalt den Stoff für die Religionswissenschaft in theils allgemeinen, theils individuellen Yorkommnissen des menschlichen Seelenlebens finden lehrte, hat man im Grunde nur versucht, ihr den Charakter einer ErfahrungsWissenschaft zu geben. Mit der Zeit musste man sich in Verfolgung dieses Zieles daher auch derjenigen Methode unterwerfen, welche allein am Platze ist, wo Erfahrungen gesammelt, Erfahrungen verarbeitet werden. Damit haben wir uns den TJebergang zu der zweiten Hemisphäre unserer Betrachtungen gebahnt. Der Begriff der Methode spielt in der neueren Zeit eine Rolle zuerst in der Reformpädagogik schon seit dem siebzehnten Jahrhundert. Im unsrigen kam das Wort am meisten in Betracht für die Hegelische Philosophie einerseits, für die Naturwissenschaften andererseits. Beiderorts vertritt es zwar genau das Entgegengesetzte. Sofern aber Naturwissenschaft für uns nicht etwa blos eine Summe von Naturkenntnissen bedeutet, sondern auch bewusste Einsicht in die zu ihrer Vermehrung allein dienende Arbeitsweise, kann man sagen, dass auch sie zusammenfalle mit ihrer Methode. Von jener Philosophie des absoluten Idealismus ist dies bekannt; nicht minder aber auch, dass diese letztere, in dem andren Sinne des Wortes, zusammen mit ihrer Methode gefallen ist. Spricht man heute von einem allgemeinen und unbestrittenen Sieg der Naturwissenschaften, so hat daher diese Rede unter aljen Umständen dann ihre Richtigkeit, wenn man die Methode meint. Wir sprachen vorhin von einer in's Unübersehbare sich steigernden Masse von Thatsachen, welche die Wissenschaft zu verarbeiten hat. Sie hinterlässt nur dann nicht den Eindruck trostlosen Fortschritts von multum zu multa, wenn man sich einer Einheit des regelmässigen Verfahrens bewusst sein darf, nach welchem schliesslich jeder Stoff be-



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wältigt sein will. Jene unendliche Vielheit scheint überdies der Idee einer Universitas literarum tödtlich werden zu müssen. Dennoch soll letztere aufrecht erhalten werden, und auch unser Statut spricht fast dogmatisch von der „Einheit aller Wissenschaften", welche durch die Gliederung der Universität in Facultäten nicht zu Schaden kommen solle. Wo aber ist bei der dernialigen unermesslichen Ausdehnung der Detailstudien, bei der noch immer nicht erschöpften Fruchtbarkeit des Princips der Arbeitstheilung, bei der zunehmenden Enge der Zellen, welche den Mitgliedern dieses Conclave als Arbeitsstätten angewiesen werden — wo ist jene Einheit der Wissenschaft welche der Idee einer Universitas literarum zu Grunde liegt, überhaupt noch in Wirklichkeit anzutreffen, annähernd constatirbar, wenn nicht an diesem Punkte? Wo bewährt sich noch die grundlegende und zusammenhaltende Aufgabe der Philosophie, wenn nicht dadurch, dass sie, die Grundsätze der Forschung und den Massstab aller geistigen Arbeit feststellend, der zunehmenden Isolirung der Einzelwissenschaften entgegenwirkt? Und will sich die Theologie ihre altherkömliche Voranstellung nicht in dem Sinne verständlich machen, in welchem antediluvianische Zustände überall die Priorität haben, so wird sie nachzuweisen haben, dass sie sich dem gemeinschaftlich befolgten Yerfahren anschliesst. Damit wäre die Richtung angegeben, welche die weiteren Rückblicke auf gewisse Errungenschaften der letzten Vergangenheit einhalten sollen. Auch hierbei werden wir uns möglichst im Allgemeinen halten und vor Allem die Rechnung nur sozusagen in unbenannten Zahlen anschreiben. Das zu Sagende wird den Erweis zweier Sätze einzubringen haben, die als leitende Gedanken gleich formulirt werden mögen. WQ immer in unserer heutigen Theologie statt blos überliefert und geübt, vielmehr wirklich gelehrt und geforscht wird, da geschieht dies erstens in demselben Masse, als zugleich die nämliche Methode befolgt wird, welche sich in den übrigen Geisteswissenschaften Bahn gebrochen hat, und da geschieht dies zweitens so, dass zugleich jene principielle Einheit der Methode, wie sie die Geisteswissenschaften den Natur-



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Wissenschaften genähert hat, auch auf diesem Endpunkte der ganzen Linie erkennbarst zu Tage tritt. Anfechtbar ist nun freilich schon die eben gemachte Yoraussetzung der Existenz einer wesentlich einheitlichen Methode. Schon vor Jahrhunderten wurde, wie in Vorahnung der grossen technischen Fortschritte, welche aus bewusster' Benutzung der in ihrem gesetzmässigen Wirken durchschauten Naturkräfte sich ergeben sollten, die zu so erstaunlicher Steigerung der Macht des Menschen leitende Methode dahin formulirt: per inductionem et experimentum omnia. Damals geschah das zweifellos im Sinne einer bewussten Kriegserklärung gegen die Methode des gleichzeitigen Humanismus, welche Steine, Bäume und Thiere nur in der Gestalt von Worten alter Schriftsteller über Steine, Bäume und Thiere kennen zu lernen vermochte. Der Ruf: „Zurück zu den Quellen", womit einst Melanchthon's Antrittsrede zu Wittenberg eine neue Aera der Wissenschaften in Deutschland inaugurirt hatte, bedeutete ein wahrhaft durchschlagendes und fruchtbares Princip erst, seitdem man unter diesen Quellen nicht wieder lediglich Bücher verstand, nur eben etwas ältere oder richtiger ausgelegte Bücher, als vorher der Scholastik zu Gebote gestanden hatten. Alle Factoren, welche die neue Zeit bilden halfen, hatten sich doch erst damals zusammengefunden, als man sich allmälig dazu aufschwang, die Nachrichten der Alten über die Natur durch eigene Beobachtung zu ergänzen, zu corrigiren, überflüssig zu machen; als reif geworden erscheint uns der Geist der neuen Zeit erst, seitdem er z. B. eine näher liegende Methode kennt, um die Frage, ob und inwieweit Oele gefrieren können, zu entscheiden, als die noch in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts für diesen Fall von Muret vorgeschlagene und geübte: Befragung des Aristoteles durch fleissige Leetüre seiner Schriften. Was unsere heutige, zur Alterthumswissenschaft erweiterte Philologie von jenem früheren Höhepunkt ihrer Entwickelung, wie "ihn etwa Muret einnahm, charakteristisch unterscheidet, das ist nicht zum wenigsten eine Weise, an den Stoff heranzutreten, welche die zunehmende Gleichartigkeit der allgemeinen Bedingungen erkennen lässt, unter welchen sich Natur-

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und Geisteswissenschaften seit etwa hundert Jahren entwickeln. "Wie die historischen und exegetischen Studien auf dem Gebiete der Jurisprudenz in unmittelbarer Fühlung stehen mit dieser neueren Philologie, so auch die ganze zweite Hauptgruppe theologischer Disciplinen, die historische, und unter diesen wieder ganz besonders diejenigen Studien, welche sich auf die Yoraussetzungen und Anfänge des Christenthums, auf die alt- und neutestamentliche Literatur beziehen. Als ein solches Eingangscapitel zur historischen Theologie bietet sich die exegetische Theologie, die biblischen Wissenschaften im weitesten Umfange. Hier nun hatte zur Zeit des LessingGöze'schen Streites die Aufklärung ihr Werk zum Theil schon gethan, indem sie durch Sprengung der dogmatischen Fesseln eine historische Betrachtung überhaupt erst ermöglichte. Unterscheidung zwischen dem geistigen Gehalt und Duft der Reli-. gion und dem Erdgeschmack ihrer geschichtlichen Entstehungsverhältnisse : dies bildete das Thema jener Lessing'schen Streitschriften. Aber auch die grammatisch-historische Erklärung, wie sie von der gelehrten Behandlung • der Classiker abstrahirt ist, war in Folge der damals noch vielfach und in glanzvoller Weise bestehenden Personalunion von Philologie und Theologie in die letztere principiell eingeführt. Freilich dauerte es noch lange, bis sich jener unbefangene historische Sinn einstellte, welcher nirgends das Seine sucht. Eine so äusserst interessirte Exegese, wie sie z. B. der Rationalismus übte, unterschied sich von der allegorischen des kirchlichen Alterthums und von der dogmatischen der Reformationszeit nur durch noch grössere Geschmacklosigkeit in der einen, durch noch grössere Unfähigkeit, den Schriftsteller selbst zum Wort kommen zu lassen, in der andern Richtung. Man bekämpfte den Aberglauben in allen seinen Formen unter der abergläubischen Voraussetzung, dass das Christenthum Christi selbst und der Apostel mit der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts sich decke. Dieses ganze Yorurtheil, als bestehe eine rationelle Exegese darin, dass sie rationellen Inhalt zu Tage fördert, d. h. womöglich unsere heutige Weltanschauung den alt- und neutestamentlichen Schriftstellern aufnöthigt, ist gründlich fast erst im Laufe des letzten Menschenalters ge-



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brocken worden. Von dem sog. Lehrbegriff des Paulus kann man beispielsweise ohne Uebertreibung sagen, dass er vorher weder nach seinen zeitgeschichtlichen Factoren, noch nach seinem inneren Gefüge wirklich erkannt war. Eine so kunstvolle Reproduction einer Gedankenwelt, welche um ihres eminent individuellen Charakters willen schon den Zeitgenossen und unmittelbar folgenden Generationen mehr oder weniger unfassbar sich erwiesen hatte, war nur möglich als Ergebniss eines mikroskopischen Verfahrens, welches von genauester Beobachtung der Gedankenbildung zu einem Zusammenhang von Wahrscheinlichkeitsschlüssen fortschritt, der schliesslich auch eine befriedigende Totalansicht ergab. Aehnliches gilt von der gesamniten philologisch verfahrenden Theologie. Erst musste durch vorwaltende Richtungen auf Naturkenntniss der speculativ-ästhetische Trieb, der synthetische Factor, welcher das Denken früherer Generationen beherrscht hatte, erheblichst zurückgedrängt worden sein, ehe überhaupt ein so eifriges Sammeln nicht blos, sondern vor Allem eine so aufmerksame Beobachtung, Prüfung und Vergleichung des Details, eine so unbedingte Achtung vor jeder, auch der kleinsten, Thatsache möglich war, wie unsere hervorragendsten Leistungen auf dem Gebiete der neutestamentlichen Lexikographie und Grammatik sie erkennen lassen. Die eigenthümliche Abwandalung, welche die griechische Umgangssprache der alexandrinisch-römischen Zeit durch das schriftstellernde Judenthum erlitt, hat als ein eigenes Capitel in der Geschichte der griechischen Sprache so eingehende und erschöpfende Behandlung gefunden, dass für die Zukunft Irrthümer ausgeschlossen sind, wie sie, aus vorschneller Ueberträgung classischer Formen in das semitisch gefärbte Element hervorgegangen, nicht blos der Theologie, sondern auch der Philologie alter und neuer Zeit begegnen konnten. Ist es nun aber auch gelungen, den Inhalt einer Schrift vermittelst philologischer Kunst so zu reproduciren, wie ihn die ersten Leser verstanden haben, müssen, oder gar wie er im Verfasser selbst lebte, so stellt sich jetzt erst die den Historiker angehende Frage: inwiefern und wofür ist diese Schrift eine Quelle? Dafür galt und gilt noch vielfach ein 2



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alt- oder neutestamentliches Geschichtsbuch in dem Sinne, wie der Talisman der Fabel, den man an's Ohr hält, um sich von ihm etwas vorerzählen zu lassen, eine Quelle heissen kann. Einem wissenschaftlichen Verfahren dagegen können alle sog. Geschichtsquellen zunächst nur in der Weise etwas erzählen, wie Calcinate und Incrustationen den Petrefactenkundigen etwas von früheren Zuständen der Erdrinde wissen lassen. So wie hier aus dem Gestein die frische Quelle vorweltlicher Kunde, so sprudelt aus den in Buchstabenform erstarrten Ueberresten, aus versteinerten Reliquien früherer organischer Prozesse uns uralte Sage, Ueberlieferung und Gedankenbildung entgegen. Es kommen mit anderen Worten solche Schriften für Zustände, die für sie selbst schon in der Vergangenheit zurückliegen, davon sie uns also zu erzählen hätten, nur in abgeleiteter und durchaus erst in zweiter Linie, in erster dagegen als Urkunden für die Kenntniss der Zeit in Betracht, in welcher sie selbst entstanden sind. Die Gesteinsschicht, welcher das jedesmal vorliegende Exemplar selbst angehört, will zunächst bestimmt sein. Dem Naturforscher fällt mitunter auch ein Stein in die Hände, welcher die Frage veranlasst, ob er nicht Spuren urvordenklicher Bearbeitung durch Menschenhände aufweist. In diesem Falle fangen sogar die Steine schon an so zu reden, wie sie auch für den Historiker reden. Denn die Inschrift ist die unzweideutigste und ausgiebigste Spur menschlicher Thätigkeit; und mit ihr rangirt die auf anderem Material erhaltene Schrift principiell gleich. Auch wo alt- und neutestamenstliche Schriften schweigen, reden die Steine noch zu dem biblischen Forscher, dort, um von Zweifelhaftem zu schweigen, Keilschriften und Hieroglyphen bis herab zum Bilderschmuck am Titusbogen, hier z. B. die erst neuerdings in umfassenderen Betracht gezogenen Inscriptionen, welche uns einen Einblick in das Wesen jener griechischen Cultvereine gewähren, deren Vorbild für die Gestaltung urchristlicher Gemeindeverhältnisse vielleicht fast so wichtig war wie dasjenige der Synagoge. Eine positive Darlegung der Geschichte kann mithin erst dann versucht werden, wenn hinreichend basirte Urtheile zu Gebote stehen über das gesammte Verhältniss des Inhaltes

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der Quellen zu ihrer eigenen Entstehungszeit, über die Stellung, welche die Verfasser zu den diese Zeit bewegenden Fragen theoretisch und praktisch eingenommen, über die Absichten, welche sie möglicher Weise bei ihrer Schriftstellern befolgt haben. Zunächst also Selbstzeugnisse verschiedener Epochen, Parteien, massgebender Kreise und Individuen für die eigenen Anschauungen und Bestrebungen, bieten solche Schriften einen brauchbaren Massstab für die kritische Sichtung der in ihnen mitgetheilten Nachrichten erst dann, wenn sie als ein Medium betrachtet und gehandhabt werden, dessen eigene productive Thätigkeit zuerst auf eine gewisse Regel und Gesetzmässigkeit zurückgeführt und dadurch unschädlich gemacht sein will. Zu diesen in Abzug zu bringenden Zuthaten gehört z. B. im Allgemeinen die der ganzen hebräischen, urchristlichen und altkirchlichen Schriftstellerei gemeinsame Eigentümlichkeit, in die jeweils darzustellende Vergangenheit bewusst oder unbewusst die Zustände und Anschauungen der eigenen Gegenwart zu übertragen; ähnlich wie die früheren Maler den Personen der heiligen Geschichte die Tracht des jeweiligen Jahrhunderts liehen und damit unwillkürlich den Mangel einer Datirung der Arbeit einigermassen ersetzten. So sind es z. B . die unmittelbar vorgefundenen Cultuszustände, welche der durchaus für levitische Angelegenheiten interessirte Verfasser der Chronikbücher unbedenklich in die Zeiten David's hinauf verlegt. Das Meiste in seinem Gemälde vom Tempelbau und Tempeldienst kommt nur als Darstellung der eigenen nachexilischen Tage in Betracht. Daneben, und im Zusammenhange damit, spielt natürlich auch die eigentliche Tendenz eine Rolle, und man merkt es wohl, dass die. israelitische Königsgeschichte überhaupt theils von prophetischen, theils von priesterlichen Händen geschrieben worden ist. Im Neuen Testamente bietet das unter dem Namen der Apostelgeschichte bekannte, schon dem Anfang des zweiten Jahrhunderts entstammte Buch, wenn wir es mit den wenigen Documenten der eigentlich apostolischen Zeit vergleichen, eine ähnliche Reihe von widerspruchsvollen Räthseln. Behufs ihrer Lösung sind scharfsinnige Hypothesen gebildet worden, welche aber bald den paulinischen Briefen Unrecht thun, indem sie ihre Aussagen 2*



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auf das Mass des abgeschwächten Paulinismus der Apostelgeschichte herabdriicken, bald aber auch dem Verfasser der •Apostelgeschichte, indem sie allen seinen Abweichungen von der geschichtlichen Wirklichkeit eine raffinirt durchgeführte Tendenz unterlegen. Die wahre Lösung der Schwierigkeiten ergibt sich aus der Einsicht, dass der Yerfasser die werdende Kirche seiner Zeit so darstellt, wie sie ihm erscheint, als wäre sie nicht erst durch Gegensätze und Yermittlungen der mannigfachsten Art hindurchgegangen, sondern die directe Stiftung des in vorausgesetztem bestem Einvernehmen mit den Jerusalemiten handelnden Paulus. Das ist aber einfach das bekannte dogmatische Traditionsprincip, dass, was zu einer bestimmten Zeit in der Kirche als massgebend gilt, auch zu jeder Zeit massgebend gewesen, also von den kirchenstiftenden Persönlichkeiten als Massstab eingeführt worden sein muss. So wurde denn auch in der weiteren Folge jedes neue Ergebniss, welches der so unendlich complicirte Prozess abwarf, oft schon während es* selbst sich erst noch consolidirte, bereits in das apostolische Zeitalter zurückdatir't, nicht etwa, wie die Aufklärung des vorigen Jahrhunderts, Voltaire voran, voraussetzte, aus Unaufrichtigkeit und Vorliebe für Betrug, sondern in Folge einer, auch auf anderen Gebieten der alten und mittelalterlichen Welt nachweisbaren, naiven Anwendung des an sich richtigen Satzes, dass schliesslich immer die eigene Gegenwart den Massstab zur Beurtheilung der Vergangenheit bietet. In richtiger Anwendung dieses Satzes wird sich der Historiker bewusst sein, immer eine doppelte Vergangenheit vor sich zu haben, zunächst das Perfectum, welches für den Schriftsteller einst Gegenwart war, dann das Plusquamperfectum, davon jener im Erzählungsstil redet. Daraus resultirt für die heutige, auch für unsere biblische, Geschichtsforschung die Aufgabe, den Einfluss der früher ignorirten Zwischenschichten nachträglich mit in Anschlag zu bringen und auf solche Weise eine falsch reflectirte. Geschichte vermöge einer kunstgerecht vollzogenen Berechnung in ihr wahres Licht zurückzustellen, die Folgen jenes vorschnellen Uebertragens der gesammten Gegenwart in jedwede Vergangenheit wieder aufzuheben, den ganzen Knäuel der sich im Laufe der Jahr-



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hunderte gebildet, sorgsam bedächtig wieder aufzuwickeln, sozusagen einen verwickelten Naturprozess rückwärts in Bewegung zu setzen. Solche Operation wird ein vielleicht umfänglich überraschend zusammengeschmolzenes, aber dafür inhaltlich um so werthvolleres Resultat in demselben Masse abwerfen als sich die Untersuchung möglichst auf dem Gebiete der sprachlich messbaren, logisch begrenzbaren, mathematisch vergleichbaren und combinirbaren Grössen hält. Beispielsweise sind alle Mittheilungen über den Inhalt der evangelischen Geschichte streng genommen verfrüht, ehe die eine so auffällige schriftstellerische Wahlverwandtschaft darbietenden Evangelien bis auf jedes Wort, jede stilistische Eigenthümlichkeit, jede Nuance der Sprachfarbe und Begriffsbildung vollständige und allseitige Beachtung und Verwerthung gefunden haben. Auf Grund des klar erkannten schriftstellerischen Umwandelungsprozesses, welchen ein gemeinsamer Stoff hier gefunden hat, wollen die Quellen erst zurechtgestellt und die Weite ihres Abstandes von einander und von der Thatsache gemessen werden. Die Masse selbst, welche hier in Betracht kommen, ergeben sich aus genauer Bekanntschaft mit der allgemeinen Zeitgeschichte, insonderheit mit dem religiösen und sittlichen Gehalt des damaligen Judenthums, endlich aus denjenigen Theilen der neutestamentlichen Literatur, welche in den Evangelien selbst bereits vorausgesetzt werden, mit hinreichender Sicherheit, um aus dem eigenen gegenseitigen Verhalten der letzteren ein Gesetz ableiten zu können, vermöge dessen die zur Herstellung eines geschichtlichen Bildes vorhandenen Stoffe organisirbar erscheinen. Das Ideal wäre da erreicht, wo aus einer möglichst exacten Behandlung und Sichtung der Urkunden die Zeichnung der allgemeinen Umrisse der Geschichte ganz von selbst sich ergäbe. Auch mit Bezug auf alle diese, der Geschichte Israels und des Urchristenthums gewidmeten, Forschungen der neueren Zeit, lässt sich mit Bestimmtheit behaupten, dass erst einiges Yerständniss dioptrischer Gesetze in das allgemeine Bewusstsein eingedrungen, die Theorie des Sehens begründet und das Misstrauen gegen den sinnlichen Schein physikalisch gerecht-



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fertigt sein musste, ehe man sich an den auf dem Gebiete der unmittelbaren Sinneswahrnehmung gemachten Erfahrungen orientiren und sich sagen konnte, dass man in der schriftlichen Ueberlieferung vergangener Ereignisse niemals diese Ereignisse selbst, sondern nur den Eindruck vor sich hat, welchen sie auf näher oder ferner stehende Berichterstatter gemacht haben. Thatsächlich ist man erst seither dazu fortgeschritten, die Gläser, welche uns behufs Recognoscirung des Terrains der biblischen Geschichts- und Gedankenwelt zu Gebote stehen, sauber zu putzen und richtig zu handhaben. So wie das hinzutretende Urlheil, sei es auch vermöge eines unbewussten Schlusses, es ist, was uns lehrt, in die zunächst allein errungene Flächenanschauung die Wahrnehmung der Tiefedimension hineinzulegen, und ein auf Combinatiori der Sehund Tastorgane beruhender Prozess es ist, vermöge dessen das Kind allmälig verlernt, nach dem Monde zu greifen: ebenso wurde der geschichtlichen "Wissenschaft, welche in ihrer verhältnissmässigen Kindheit die Ueberlieferungen des Älterthums mehr wie bilderbogenartig angereihte Flächenanschauungen vor sich hatte, vermöge zahlreicher, sich gegenseitig unterstützender, berichtigender und versichernder Einzelurtheile gleichsam die Dimension der Tiefe erschlossen, d. h. die richtige Perspective eröffnet. Man sah die verschiedenen Bergspitzen nicht mehr blos wie auf einem Gemälde, sondern auch wie auf einer Reliefkarte hinter einander. Man bemerkte aber auch den Duft, der um die Häupter sich webt, den Nebel, der in den Niederungen schwebt. Von diesen, dem Gewühl des geschichtlichen Lebens unaufhörlich entsteigenden, strahlenbrechenden und lichtablenkenden Dunstmassen ist der Begriff des Mythus abstrahirt, in welchem manche der eigenthümlichsten und überraschendsten Erfahrungen der modernen Geschichtsforschung sich gesammelt und Ausdruck gefunden haben. Wird dieser Ausdruck noch vielfach anstössig befunden, so hat das denselben Grund, aus welchem auch das kindliche Denken erst eine gewisse Schulung durchmachen muss, bis es begreift, dass die abends im rothen Luftmeer badende Sonne nicht zehnmal grösser ist, als die Mittags am blauen Himmel stehende, ja, dass sie sogar schon



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unter dem Horizont herabgesunken sein kann, während die atmosphärische Refraction sie dem Auge noch zeigt, und dass die alsdann heraufsteigenden Sterne dem Zenith nicht so nahe rücken, als es den Anschein hat. Mit Naturanalogien, wie sie sich auf dem Gebiete der Bewusstseinserscheinungen reichlich einstellen, ist freilich das eigentümliche Wesen der letzteren noch nicht erklärt. In der verhältnissmässigen Unerkennbarkeit dieser Erscheinungen, in der Incommensurabilität des psychischen Elementes liegt der Grund für die meisten der wirklichen Differenzen, welche zwischen der Methode der Naturwissenschaften und derjenigen der Geisteswissenschaften nachgewiesen werden wollen. Dieselben fassen sich darin zusammen, dass die Natur der Sache eine geringere Auswahl an Hülfsmitteln der Forschung und nicht minder auch eine geringere Sicherheit der Resultate mit sich führt. Die Geisteswissenschaften haben es nicht blos mit der Wahrnehmung zu thun, sondern mit der Yerarbeitung derselben durch das werthgebende und schätzende Gemüth, mit dein Vermögen der Seele, alle Erfahrung in Empfindung und Leidenschaft umzusetzen. Die Verborgenheit der Gesetze der Gemüths- und Charakterbildung, das Zusammenwirken unberechenbar vieler Agentien, die capriciöse Complicirtheit historischer Prozesse — dies Alles bedingt einen fühlbaren Mangel an bestimmter Begrenzung constatirbarer Thatsachen, präcis formulirbarer Gesetze, consequent durchführbarer Regeln. Selten ist das Urtheil rein logischer Art, wie bei den Inductionen der Naturwissenschaft , welche bis zu scharf ausgesprochenen, sämmtliche gleichartige Fälle umfassenden Sätzen fortgeführt werden können. Mehr oder weniger zeigt es dagegen Verwandtschaft mit denjenigen Functionen des Geistes, durch welche das künstlerische Schaffen bedingt ist. Je mehr die Geschichtsschreibung von der blossen Constatirung von Thatsachen zur Erfassung der Grundlagen und des Standes der Cultur eines Zeitalters oder Volkes fortschreitet, desto mehr treten an die Stelle eines logisch vollendeten Beweises reflectirende, von Eingebungen der Imagination und Divination getragene Urtheile, welche einen causalen Zusammenhang andeuten, denk-



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bar machen, vielleicht zum höchsten Grade der Wahrscheinlichkeit erheben, die Möglichkeit des Anders- oder des Nichtganzsoseins aber niemals ausschliessen. Hypothesen spielen hier eine grosse Rolle. Das thun sie zwar in der Naturwissenschaft auch. Aber hier steht ihnen das unvergleichliche Hülfsmittel des Experiments zur Seite. An das verschleierte Bild der Natur, nicht an das Schicksal, hat der Mensch die Frage frei. Und auch wo die Fälle, die man gerade braucht, nicht künstlich erzeugt werden können, sondern aufgesucht werden müssen, sind noch über das Gebiet der "Wahrnehmung hinausführende Schlüsse möglich, für welche die Probe der Yerification übrig bleibt. Bewaffnete Augen suchen den berechneten Planeten, bis er sich einstellt. Das historische Wissen bringt es über die vergleichende Abschätzung verschiedenartiger Zeugenaussagen nicht hinaus, und wenn solche nicht vorhanden sind, um z. B . eine irgendwie zuverlässige Kunde über den Verfasser des vierten Evangeliums zu begründen, so sehen wir zwar die christliche Weltanschauung des zweiten Jahrhunderts von einem eigenthümlich gearteten, vielfach neuen Lichte bestrahlt; aber jener Stern erster Grösse, welcher gerade dieses Licht aussendet, bleibt uns schlechterdings unbekannt. Nachweisen können wir nur die Rolle, welche er in der Tradition spielt, und die leitenden Gedanken, welche dieser Tradition zu Grunde liegen. So weit nun aber auch diese Differenzen sich noch verfolgen Hessen, eine principielle Verschiedenheit der Methode lässt sich darauf nicht begründen. Der Philologe, welchem der Genius einer Sprache geläufig, die Individualität eines Schriftstellers vertraut ist, kann sich in der Lage befinden, kraft eines, ihm aus zahllosen, nicht mehr unterscheidbaren, aber im Gedächtniss zusammengewachsenen Eindrücken sich ergebenden Bewusstseins um das heraus zu entscheiden, was wohl unter den Bedingungen, unter welchen der betreffende Schriftsteller denkt und schreibt, gedacht und geschrieben werden konnte. Aber darum, dass in solchem Falle der geistige Prozess nicht in allen seinen Momenten zur logischen Durchsichtigkeit gediehen ist, ist er doch offenbar kein anderer geworden. Der Satz von den vielen Ursachen, wßlcher es



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dem Kirchenhistoriker so schwierig macht, z. B. gewisse Wirkungen der christlichen Idee und Erzeugnisse des germanischen Yolksgeistes auf einem bestimmten Culturgebiete auseinanderzuhalten — dieser böse Satz beschäftigt in seiner Weise auch den Arzt am Krankenbett. Ueberhaupt nöthigt die Praxis fortwährend zu ähnlichem Yerfahren, ohne dass dieses darum seiner wissenschaftlichen Begründung und Art verlustig zu gehen brauchte. Ein psychologisches Tactgefühl gibt in nicht seltenen Fällen den Ausschlag, wo der Iurist die Glaubwürdigkeit eines Thatbestandes und die Worte handelnder Personen zu beurtheilen, wo er in eine verwickelte Masse von Aussagen Ordnung zu bringen hat; und die sorgfältigst berechnete taktische Operation schliesst Entscheidungsfälle nicht aus, da zu verantwortende Schlüsse gezogen sein wollen aus Prämissen, die sich im Augenblick schwerlich alle übersehen und logisch klarstellen lassen. Genug! Man hat eine logisch und eine mehr künstlerisch geartete Induction unterschieden; aber auf der Erfahrung beruht auch die letztere, und diese ganze Methode des sich Daraufführenlassens, welche die Naturwissenschaften zu einer so ungeahnten Vermehrung des menschlichen Wissens und Könnens geführt hat, ist schliesslich nichts Anderes, als die naturgemässe und gesunde Art und Weise, wie der kritisch geschulte und bis zu. einem gewissen Masse hinter sein eigenes Geheimniss gekommene menschliche Intellect an alle Dinge herantritt. Es ist aber ganz begreiflich, dass diese Methode sich zunächst an der Bearbeitung derjenigen Stoffe entwickeln musste, welche in solcher Rechnung gewissermassen ohne Rest aufgehen; und es ist nicht minder in der Ordnung, wenn Wissenschaften, welche es mit einem jederzeit nur relativ zu bewältigenden Stoffe zu thun haben, eine allgemeine Orientirung an denjenigen Studien suchen, welche fragelos die grössere Vollendung der wissenschaftlichen Form voraus haben. Das sind aber die mathematisch ausgebildeten Theile der Naturwissenschaft. Ihr Ziel wäre erreicht, der Weltprozess in eine mathematische Formel gebannt, wenn auf der einen Seite alle in der Natur wirkenden Kräfte ermittelt, auf der andern der Zustand, in welchem die Materie in einem be-

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stimmten Augenblick sich befindet, bekannt wäre. Von diesem archimedischen Standpunkte einer idealen Gegenwart aus könnte auf den gesammten vorangegangenen Naturprozess, also auf jede Yergangenheit, mit Sicherheit zurückgeschlossen werden. In das Gebiet des concret Vorstellbaren übertragen liefert dieses Princip die richtige Methode, einer beliebigen Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Relativ bekannte Situationen und Vorgänge sind zu benutzen, um "von da auf relativ unbekannte Zustände und Bewegungen Rückschlüsse zu machen. "Wenn nicht in der Darstellung, so wird diese Methode doch im Princip den umgekehrten Weg einschlagen, als die ab. ovo erzählende Chronik, d. h. also den regressiven "Weg. Auf diesem Wege sind die verschiedenen Schichten der biblischen Literatur bestimmt, und ist die alttestamentliche Geschichte, die Geschichte des Volkes Israel, total umgearbeitet worden. Als die denkbar früheste Operationsbasis erwiesen sich die geschichtlichen Bewegungen und Zustände des achten oder siebenten vorchristlichen Jahrhunderts. Höher hinauf darf man nicht mehr gehen, seitdem die Kritik des Pentateuch dermassen ins Schwanken gerathen ist, dass, was von der älteren, traditionellen Schule als Anfang der gesammten Entwickelung betrachtet wurde, der sog. Mosaismus, sich der neueren als allmählige Ablagerung, der neuesten sogar als schliessliche Codificirung erweisen will. Nach der älteren Auffassung waren die Grundgedanken des israelitischen Volksgeistes von Anfang an in einer Weise ausgesprochen und als Programm anticipirt, wodurch den kommenden Jahrhunderten ihre Geistesarbeit einfach vorweggenommen erschien, und wunderbarer noch als diese zum voraus unternommene Regulirung von Verhältnissen, wie sie nicht am Sinai, aber auch selbst zu David's Zeiten noch nicht in Wirklichkeit anzutreffen waren, fiel dann die Thatsache auf, dass im ganzen Verlaufe der früheren Acte des Dramas der Volksgeschichte kaum jemals eine handelnde Person Notiz nimmt von der Existenz jenes im Gesetz schon explicirten Programmes der Theokratie, ja selbst in den Prophetenschriften nirgends unzweifelhafte Rücksicht genommen wird auf ein schon in altheiligem Ansehen stehendes Gesetzbuch, dass vielmehr Alles,



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was sich der Theorie nach als conservative und restaurative Thätigkeit geben müsste, thatsächlich als producirende auftritt. Der wissenschaftliche Prozess ist daher jetzt bei der grossen Streitfrage angelangt, ob nicht das, was als Mosaismus den Anfang der geschichtlichen Darstellung zu bezeichnen pflegte, richtiger, etwa als Esraismus, ihren Endpunkt und damit zugleich den Uebergang aus der Geschichte Israels in die Geschichte des Judenthums markire. Unter allen Umständen aber können nur die prophetischen Schriften der assyrischen Periode, wie sie durch die Kritik bereits hindurchgegangen sind, als unmittelbare Quellenschriften für die ältere Geschichte des Yolkes Israel gelten. Arnos und Hosea, Micha und Jesaja — das sind Festland repräsentirende Punkte, von welchen aus in die terra incognita früherer Jahrhunderte bis hinauf zur Einwanderung der Israeliten in Kanaan wohl vorsichtig operirende Entdeckungsreisen unternommen und in deren Folge gewiss noch manche Linie Landes, ähnlich wie auf unseren fortschreitenden Nordpolkarten, gezeichnet, nimmermehr aber von historischer Gewissheit geredet werden kann. Kaum viel vor Ende des zweiten Jahrhunderts wird sich auch das, was Christenthum heist, unter einer so allgemein deutlichen Beleuchtung darstellen, dass für die Geschichtschreibung der Boden einer idealen Gegenwart in dem besprochenen Sinne zu gewinnen wäre. Das zweite Jahrhundert selbst bietet zwar der Punkte., welche bereits Licht geworden sind, manche; aber nicht wenige der ihm angehörigen Denkmäler vertragen dermalen nur erst eine ganz allgemeine Datirung, und gar den ersten siebzig Jahren unserer Zeitrechnung ist mit irgendwelcher Gewissheit keine Quellenschrift zuzuschreiben, als mindestens vier, höchstens sieben paulinische Briefe und die johanneische Apokalypse. Auch hier sind wir mithin wesentlich auf Rückschlüsse verwiesen, welche von der Epoche der consolidirten Kircheneinheit auf den dahinterliegenden Bildungsprozess gezogen werden. Diese Rückschlüsse werden das allgemeine Schema bilden, kraft dessen Documente, welche sich aus den beiden ersten Jahrhunderten noch erhalten haben, ein erkennbares Verhältnis3 zu einander eingehen. Viel anders wären wir



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selbst dann nicht gestellt, wenn wider alles Yermuthen etwa morgenländische Klöster uns noch mit Schätzen beschenken würden, wie sie vor sechzehnhundert Jahren in den Bibliotheken des Origenes und des Pamphilus angetroffen wurden. Günstigsten Falles würde damit die Operationsbasis um ein Menschenalter weiter zurück in der Richtung nach dem Ursprungspunkte verlegt, d. h. aber doch eben erst in eine Zeit, da eine constante Tradition in der Kirche gerade nur beginnt; und diese Tradition ist ihrerseits wieder durchaus von der Voraussetzung getragen, dass die Entstehung des Christenthums mit derjenigen der Kirche zusammenfalle; sie hat mithin, da diese Yoraussetzung nicht diejenige der neutestamentlichen Schriften ist, selbst keine Wurzeln in der wirklichen Yergangenheit, sondern ist von vornherein, was sie auch stets geblieben ist, dogmatischer Art. Wie die systematische Theologie in ihrer religionsphilosophischen Begründung der Philosophie, so würden die Fächer der exegetisch-historischen theils der Philologie, theils der Geschichte anheimfallen, wenn jene Klammer hinweg gedacht werden könnte, welche die so mannigfach divergirenden Beschäftigungen der theologischen Facultät zusammenhält, das Interesse an Kirchenleitung und Kirchendienst, zu dessen Wahrung ein dritter Hauptstamm von Fächern, derjenige der praktischen Theologie, sich erhebt. Ihm soll daher keinerlei Abbruch geschehen durch ein Gleichniss, welches nur die theoretischen Fächer betrifft. Es ist die Pflicht des wohlberathenen Menschen, sein Haus bestellt zu erhalten und des Lebens sich so zu freuen, wie wenn er jederzeit abberufen werden könnte. So werden wir unserer Berufsaufgabe als Pfleger der theoretischen Theologie in dem Masse genügen, als wir zugleich jederzeit auf eine an sich mögliche Umpflanzung und Uebersiedelung unserer Producte aus dem specifisch theologischen Bereich in ein allgemeineres wissenschaftliches Betriebsfeld vollkommen eingerichtet sind und denjenigen Fächwissenschaften, welche uns in unseren theologischen Arbeiten ablösen würden, wenn die jetzige Form derselben aufgehört hätte, eine möglichst umfassende und gesicherte Erbschaft übermachen können. In einer solchen Yer-



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allgemeinerung der Gesichtspunkte ist zweifelsohne das letzte Ziel zu erkennen, welchem die Theologie als "Wissenschaft zustrebt; dasselbe kann in nichts Anderem bestehen, als in der Ausbildung einer jeden einzelnen Disciplin bis zu derjenigen Klarheit und Durchsichtigkeit der Resultate, die sie fähig macht, unmittelbar in den Zusammenhang der einen, untheilbaren Wissenschaft einzutreten, welche ihre Gesetze in sich selbst trägt und einer im Grunde einheitlichen Behandluügsweise unterliegt, wenngleich die Spaltung in Naturund Geisteswissenschaften durch die Organisation des menschlichen Wesens überhaupt, und die weitere Zertrennung in unzählige Einzeldisciplinen durch das Gesetz der Arbeitsteilung bedingt ist, welches wieder auf der erfahrungsmässigen Einseitigkeit und Unzulänglichkeit aller individuellen Begabung beruht. So wird auch fernerhin in der Theologie der Eine obliegen der diplomatischen Kritik, aber er wird es so thun, dass auch.sein Stück Arbeit dazu beiträgt, die Bibel je länger je mehr als dasjenige Stück der Weltliteratur erscheinen zu lassen, an welchem, weil die Mittel zur Lösung weitaus am reichlichsten vorhanden sind, die Textkritik ihre Aufgabe in reinlichster, vollständigster und in dieser Beziehung für jegliches Werk der Reconstruction eines Productes des Alterthums vorbildlicher Weise hinausführen soll. Dem Andern wird die historische Kritik zufallen; wie es in neuerer Zeit vorgekommen ist, dass Gelehrte, welche ihre erste kritische Schulung der Theologie verdankten, dem Profangebiete sich zuwandten und z. B. die Entwickelung des römischen Yolkes oder die Geschichte der griechischen Philosophie in ein streng geschichtliches Licht gestellt haben, so werden andererseits die Gesetze, nach welchen der Theologe die Entstehungsverhältnisse einzelner Bücher bestimmt, mit der von den Philologen und Juristen ausgebildeten Methode gleichen Schritt zu halten haben. Schon jetzt dürfen wir im Hinblick auf die unübersehbare Menge der gründlichsten Einzelforschungen, auf die umsichtige Vevwerthung, welche das unscheinbarste Detail findet, mit einem gewissen Stolze auf unsere alt- und neutestamentliche Kritik hinweisen, deren Resultate zusammengestellt zu werden pflegen in der alt- und neutestamentlichen Einleitung. Aber so durch-

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schlagend auch die Zweckmässigkeitsgründe sind, welche den Fortbestand dieser, durch den specifisch theologischen Begriff der Kanonicität äusserlich abgegrenzten, Disciplin rathsam erscheinen lassen, so gewiss wird sie je länger je mehr in einer Weise cultivirt, dass es nur noch der Abstreifung der äusseren Form bedarf, um ihren Inhalt als Literaturgeschichte des Volkes Israel einerseits, des Urchristenthums andererseits, das gesammte Material mithin als- naturwüchsigen Zweig am grossen Baum der allgemeinen Literaturhistorie erscheinen zu lassen. Alttestamentliche Forschung insonderheit ist heutzutage mit Erfolg nur noch so zu führen, dass sie sich fortwährend verjüngt in dem mächtig anschwellenden Strom der orientalischen Wissenschaften überhaupt und ihre Resultate, wie sie allerseits bedingt sind durch Analogien und Beiträge aus Aegypten, Arabien, Phönizien, Syrien und Babylonien, so auch unmittelbarer Einverleibung in die Annalen jener Wissenschaften fähig erscheinen. Auf diesem Punkte sind daher auch die Grenzen der Facultätswissenschaften thatsächlich vielfach verwischt; es finden Uebersiedelungen statt von dem Lehrstuhl für Altes Testament, welcher in die theologische, auf denjenigen für semitische Sprachen, welcher in die philosophische Facultät gehört. Solcher Gestalt in einen grösseren Zusammenhang hineinwachsend, hat die alttestamentliche Sprachkunde, Exegese und Kritik eine Ausbildung erreicht, hinter welcher im Grossen und Ganzen die neutestamentliche noch zurückbleibt. Letzteres nicht etwa, weil es an dem erforderlichen Fleiss und Eifer gefehlt hätte. Sondern es liegt in der Natur der Sache, dass jene restaurative Strömung, mit welcher sich die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts im Allgemeinen identificirt hat, auf die neutestamentlichen Studien den unmittelbarsten, so zu sagen lebensgefährlichsten, Druck ausübt. Vorübergehend sei hier als charakteristisch nur bemerkt, dass im letztverflossenen Menschenalter die herrschenden Schulen bezüglich des Urtheils über Verfasserschaft und Entstehungszeit mehrerer neutestamentlicher Schriften sogar hinter diejenige Linie zurückgeschritten sind, welche schon der kirchenväterlichen Kritik des dritten und vierten Jahrhunderts, dann wieder im sechzehnten Jahr-



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hundert nicht etwa blos dem Reformator Luther, sondern nicht minder auch seinem Gegner, dem päpstlichen Cardinallegaten Cajetan, vollkommen erreichbar war. E s ist eines der bezeichnendsten Symptome für die pathologischen Zustände unserer theologischen Gegenwart, dass bezüglich des Alten Testamentes auch in weiteren Kreisen ein ziemlich freier Muth und guter "Wille herrscht, vom Yorurtheil sich zu befreien, während die Anwendung derselben Gesetze, die sich hier fruchtbar erwiesen haben, auf Literatur und Geschichte des Neuen Testamentes nicht etwa blos meist mit einer an sich ganz löblichen Vorsicht betrieben, sondern auch in argwöhnischer Richtung bewacht wird. Nichtsdestoweniger lässt sich die Beobachtung machen, wie selbst hier allmälich das theologische Concept sich verrückt und die mit zähem Eifer von beiden Seiten fortgesetzte Controverse unwillkürlich auf einen Boden hinübergespielt wird, auf welchem die neutestamentlichen Schriften, während sie das gleiche Ansehen als urbildliche Typen christlicher Weltanschauung und Andacht behalten, doch unter das geschichtliche Licht einer fortschreitenden Literaturkette treten, welche alle Stadien des kirchebildenden Prozesses bis tief in das zweite Jahrhundert herein begleitet und unmittelbar überleitet in die Literatur der alten katholischen Kirche, j a zum Theil dieser selbst schon angehört. J e weiter dann die Zeit vorschreitet und von dem Noli me tangere des ersten und zweiten Jahrhunderts sich entfernt, desto unbefangener wird auch die kirchengeschichtliche Forschung, so dass wir das eigentliche Gebiet der Kirchengeschichte als ein zweites Territorium bezeichnen können, welches vielfach aufgehört hat, ausschliesslich theologische Domäne zu sein. Während die kirchengeschichtlichen Forschungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts fast ausschliesslich von dogmatischem und polemischem Interesse hervorgerufen und beherrscht erscheinen, haben die darauf folgenden Zeitläufe eine nicht unbedeutende Reihe von historischen Leistungen hervorgebracht, welche beweisen, dass die Theilnahme der Kirchengeschichte an den Arbeiten der s. g. Profangeschichte im Wachsen begriffen ist und die moderne Methode sich eingebürgert hat.

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Zwar lässt sich nicht läugnen, dass selbst in sonst correct gearbeiteten und inhaltlich bedeutungsvollen "Werken vieles Wissen, das zur Mittheilung gebracht wird, nur die verrottete Hinterlassenschaft einer, sei es von vornherein verfehlten, sei es doch im Laufe der Zeit gleichgültig gewordenen Gelehrsamkeit darstellt. Ueber solcherlei Balast verfügen aber auch Philologie und Jurisprudenz, und selbst die Historiker der Chemie • und Medicin ergehen sich, sogar wohl nicht ganz ohne Frucht, in dem Irrgarten einer Yorgeschichte, die theilweise bis in die Tage Yoltaire's und Rousseau's reicht. Allerdings aber gibt es Erzeugnisse des menschlichen • Geistes, welche fast nur als individuelle Bildungen den Eindruck gesunder und nothwendiger Prozesse mächen, - dagegen wo sie auf dem grossen Markte des Lebens, welchen die Muse der Geschichte inspicirt, auftreten, überwiegend nur Zustände der Degeneration aufweisen. Daher es dem Einen begegnet, über beständigem Anblick des dureh Schlamm mühsam sich hindurcharbeitenden trüben Gewässers den Glauben an die ewig sprudelnde Quelle zu verlieren und seine eigene geistige und sittliche Ueberlegenheit über den zu behandelnden Stoff hinter eine mehr oder weniger pessimistische Grundauffassung zu flüchten. Was hat es denn schliesslich noch für einen Sinn und Yerstand, immer nur den Schlaf der Jahrtausende zu belauschen und traumhafte Regungen zu verzeichnen? Nur Steigerung könnte eine solche Stimmung erfahren angesichts der Wahrnehmung, wie sich geistreiche und fruchtbare Forscher derselben entschlagen haben vermöge eines gewissen Aberglaubens an die Selbstbewegung des Begriffs, welcher zugleich die Achillesferse ihrer eigenen Leistungen bildete und die correcte Uebung der Methode hinderte. Auf der anderen Seite aber hilft sich die Bequemlichkeit auch vermöge selbsterwählter Beschränkung des Gesichtskreises. Anstatt es peinlich zu empfinden, wenn die Arbeitsleistungen sich widerstreitender Kräfte in ihrer Summe gleich Null zu sein scheinen, setzt man diejenige Zahl vor die Null, welche die Illusion früherer Zeiten davor stehen sah. Allzuleicht verliert man sich in das Interesse und in die Weltanschauung -der zur Darstellung gebrachten handelnden Personen und kommt auf



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diesem Wege dazu, das in Wahrheit Abnorme am Ende f ü r normal zu halten, das „Ueberlebsel" als ewiges Recht und das „ Auflebsei" als Auferstehung zu feiern. Die Methode, nach welcher gearbeitet wird, und der Reichthum des Materials gehören dann dem neunzehnten Jahrhundert, das Urtheil, welches sich zwischen hinein vernehmen lässt, dem Mittelalter oder überhaupt dem jeweils zur Darstellung gebrachten Jahrhundert an. Es sind Esau's Hände, aber es ist Jakob's Stimme. Damit dürfte die falsch-theologische Schwäche nicht weniger, vielleicht sonst überaus anerkennenswerther Leistungen unserer Zeit berührt sein. Die als Fortsetzung der s. g. biblischen Theologie erscheinende Dogmengeschichte ist erst im Laufe der letzten hundert Jahre begründet worden als ein Bindeglied zwischen Kirchengeschichte und Dogmatik. Sollte letztere in dem oben angedeuteten Sinne einmal zur historischen Theologie geschlagen werden, so würden diejenigen ihrer Stoffe, welche einer solchen Metamorphose widerstreben, theils der Religionsphilosophie und religiösen Erkenntnisslehre, überhaupt der ersten Gruppe theologischer Disciplinen, theils aber auch als Lehre vom populären Religionsunterricht der dritten Gruppe anheimfallen. Denn die Katechetik umfasst, wenn sie nicht reine Formalia enthalten soll, jedenfalls auch das praktisch Werthvollste von dem was die Dogmatik mit sich führt. Nennen wir sodann neben der Katechetik noch Homiletik, Liturgik, Pastorallehre, unter Umständen auch Kirchenrecht, so haben wir diejenigen Disciplinen namhaft gemacht, welche unter der Eventualität der Aufhebung der theologischen Facultäten ganz auf die kirchlichen Seminarien überzugehen hätten, während die einzelnen theoretischen Disciplinen, welche in Folge jenes praktischen Interesses in eine jeder derselben an sich fremde Association versetzt waren, in die an sich naturgemässe Verbindung mit den namhaft gemachten Fächern zurückkehren würden. Daraus ergeben sich zum Schlüsse noch zwei Folgerungen. Die erste betrifft die Bedeutung der praktischen Theologie für die dermalige Existenz der Theologie als Facultätswissenschaft. Sofern das Da- und Sosein einer christlichen Theo3



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logie ganz durch die Thatsache einer christlichen Kirche bedingt ist, besteht in den praktischen Fächern das zusammenhaltende Band, und für sie müssen sich allerdings die Ergebnisse der theoretischen fruchtbar erweisen. Auf der Kanzel und im Religionsunterrichte erst kann jene, der heutigen religiösen Bildung angemessene, neue Sprache allmälig gefunden und ausgebildet werden, deren wir dringend bedürfen, um, was sich im Wesen der Religion wissenschaftlicher Yermittelung noch entzieht, wenigstens unmittelbar anschaulich machen zu können. Zweitens aber noch ein Wort über und für den Fortbestand dieser theologischen Facultät selbst! So wenig es ausserhalb der Befugnisse eines seine eigenen Interessen verstehenden Staates gelegen ist, durch eine von seiner Seite aus zn besetzende theologische Facultät die Kirche in dem, ihr so leicht verloren gehenden, Zusammenhang mit dem sich entwickelnden wissenschaftlichen, künstlerischen und politischen Bewusstsein der Zeit zu erhalten, so wenig kann etwas dem Wesen einer Universität Widerstrebendes darin gefunden werden, wenn sie die Religion dadurch, dass sie dieselbe zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen erhebt und wissenschaftlicher Controle zugänglich macht, verhindert, blind ihre eigenen Wege zu gehen und zu eiaer unbändigen Elementarmacht heranzuwachsen, welche alle Errungenschaften unserer Cultur, in nicht blos eingebildeter Weise, zu bedrohen im Stande wäre. Auch kann die Machtstellung einer Univesitas literarum, in welcher alle idealen Bestrebungen des Volkslebens ihren Brennpunkt finden sollen, nur wachsen, wenn sie durch eine ihr homogene theologische Facultät ihren Arm auch in die Pfarrhäuser und in die Mitte des Volkslebens selbst hereinstreckt. Darum können auch die praktischen Fächer, darum auch die homiletischen und katechetischen Uebungsplätze an der Universität Raum finden. Gibt es doch heutzutage in allen Facultäten Societäten, darin Anleitung zu selbstständigen Arbeiten auf theoretischem, Seminarien, darin Ueberführung auf das praktische Gebiet bezweckt wird. In der Herstellung solcher Institute ist die theologische Facultät also den übrigen vorangegangen. Nur fortschreitende Infection des kirchlichen Lebens könnte an diesem



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Sachverhalte Aenderungen hervorrufen, von welchen jede theologische Facultät in demselben Masse betroffen wäre, als sie etwa die Würde der "Wissenschaft praktischen Interessen zum Opfer gebracht hätte. Es war meine Absicht, in gedrängten Zügen ein Bild von den Bestrebungen und Zielen der wissenschaftlichen Theologie der Gegenwart zu entwerfen und den Standpunkt zu kennzeichnen, welchen sie in Folge des grossen, seit hundert Jahren eingetretenen, Umschwungs eingenommen oder wenigstens anzustreben hat. Dieser Umschwung hatte auf der einen Seite eine ungeahnte Erweiterung des zu bearbeitenden Materials zur Voraussetzung, so dass die gemalte Grenzlinie, welche auf der Karte der Wissenschaften dereinst eine sacrosancta theologia aus umliegendem profanem Gebiete ausgeschieden hatte, überall anfängt ausgewaschen zu werden. Auf der andern Seite hatte der geschilderte Umschwung sein treibendes und leitendes Princip in der bewussteren Erfassung einer Methode, welche von den Naturwissenschaften am adäquatesten Stoffe, daher auch in logisch präcisester Form geübt worden war, übertragen auf die Geisteswissenschaften aber die schneidigere Kritik der Gegenwart bedeutet. Da Wissenschaft nur treiben kann, wer sie im Geist des Ganzen treibt, so konnten auch die Zustände unserer wissenschaftlichen Theologie, soweit sie Fortschritt bedeuten, zur Anschauung nur gebracht werden, indem zugleich die Aussicht auf den Zusammenhang der Wissenschaften, auf das Wechselverhältniss ihrer Studien frei und offen blieb. Eher bedarf es einer Entschuldigung, wenn dieser freiere Um- und Ueberblick doch meist nur diejenigen Partien des dermaligen Territoriums der Theologie betraf, auf welchen durchgearbeitetes und cultivirtes Feld in den Ebenen oder Baumschulen auf den waldigen Höhen begegnen. Aber den Stoff begrenzt das individuelle Yermögen der Darstellung. Campagna und Urwald sind für die Maler. Eine andere Frage könnte den Ursachen gelten, wesshalb dermalen weite Strecken statt mit Culturpflanzungen vielmehr mit üppigen Schlinggewächsen und anderer Augenweide für die Phantasie eines Romantikers bedeckt sind. Doch darüber liesse sich



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nicht mehr in der Weise einer wissenschaftlichen Revue handeln. Das wäre •vielmehr ein Stück Zeitgeschichte, und vollends ist diese festliche Stunde nicht dazu angethan, ein Klagelied zu singen. Berufspflicht des Forschers bleibt es jedenfalls auch hier, dem Pessimismus zu wehren und zu arbeiten unter der Yoraussetzung, als wäre das Ziel, das sich ihm stellt, erreichbar. Auch bei hellstem Tageslichte kommt es nicht gelten vor, dass das Einzelne, was in Untersuchung genommen wurde, dem Ganzen sich nicht fügen, eine befriedigende Totalansicht sich nicht einstellen will. Dann geht der Werktag hin, während sich das Gefühl in die Seele bohrt, dass man die Sache noch nicht von innen, aus ihrem Kern heraus begriffen habe. Nachgehends kommen wohl auch wache Stunden der Nacht, und nachdem in den gesammten Gehalt des Bewusstseins wieder Ruhe und Gleichgewicht eingekehrt, beginnt das Gehirn aufs Neue seine Arbeit, und siehe da — Alles, was wir gesucht, Sache und Form, Begriff und Ausdruck, treten plötzlich in klarer, gleichmässiger Beleuchtung vor uns hin. So könnten dereinst einmal die harten Gegensätze dieser unserer Gegenwart verschlafen sein, ohne dass darum der menschliche Geist der Fülle von Anregungen und Beziehungen, die sie ihm eingetragen, verlustig gegangen wäre. Nachdem verhältnissmässige Ruhe eingetreten, könnten diese Schätze wieder langsam sich heben, und, nachdem gewisse Enttäuschungen ein- für allemal constatirt und der Schmerz darüber verwunden ist, dafür jene grossen Ideen nur um so fassbarer und zugleich fruchtbarer werden, welche den Verstand mit dem Leben versöhnen, das müde Gefühl von der Seele nehmen und Flammen eines neuen guten Willens anfachen-, um auch der Noth des gesellschaftlichen Lebens der Menschheit mit überlegenen Kräften entgegen zu treten. Solche Hoffnungen machen wohl den Eindruck eines künstlich hergestellten Schattens, dessen der Wanderer im Sonnenbrande der Wüste zuweilen bedarf, um ein wenig zu ruhen und zu träumen. Sie" können aber auch denjenigen Schatten bedeuten, welchen Dinge der Zukunft vor sich herzuwerfen pflegen.

Buchdrurkerei

v o n G. O t t o in D a r n i s t a d t .