Über den Lehrer: De magistro. Zweisprachige Ausgabe. Hrsg., übers. u. komment. v. G. Jüssen, G. Krieger, J. H. J. Schneider. Einl. v. H. Pauli. Latein.-Dtsch. 9783787307487, 3787307486

Der Lehrer ist für Thomas von Aquin (1225-1274) eine Person, die - selbst im Besitz von Erkenntnis - einem anderen zu se

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German Pages 189 [242] Year 1988

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Über den Lehrer: De magistro. Zweisprachige Ausgabe. Hrsg., übers. u. komment. v. G. Jüssen, G. Krieger, J. H. J. Schneider. Einl. v. H. Pauli. Latein.-Dtsch.
 9783787307487, 3787307486

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Philosophische Bibliothek

Thomas von Aquin Über den Lehrer De magistro Lateinisch – Deutsch

Meiner

THOM AS VON AQUIN

Über den Lehrer De magistro Quaestiones disputatae de veritate Quaestio XI Summa theologiae Pars I, quaestio 117, articulus 1 Lateinisch – Deutsch

Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Gabriel Jüssen, Gerhard Krieger und Jakob Hans Josef Schneider Mit einer Einleitung von Heinrich Pauli

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BA ND 412

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ur­ sprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Ver­ ständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

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www.meiner.de © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2006. Alle Rechte vorbe­ halten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikro­ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektroni­ schen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alte­ rungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

Einleitung. Von Heinrich Pauli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi Editorischer Bericht. Von Jakob Hans Josef Schneider . . . . xlix 1.  Zu Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xlix 2.  Zu Zitationsweise und Literaturverzeichnis . . . . . lv

THOMAS VON AQUIN

Über den Lehrer De magistro        Von der Wahrheit. Elfte Quaestio . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Erster Artikel Kann ein Mensch lehren und Lehrer genannt werden oder allein Gott ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zweiter Artikel Kann jemand Lehrer seiner selbst genannt werden ? . 35 Dritter Artikel Kann der Mensch von einem Engel unterrichtet werden ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Vierter Artikel Ist das Lehren eine Tätigkeit des praktischen oder kontemplativen Lebens ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Summe der Theologie. Erster Teil, 117. Quaestio . . . . . 75 Erster Artikel Kann ein Mensch einen anderen unterrichten ?. . . . . 75

  Von der Wahrheit. Elfte Quaestio

Erster Artikel. Von Jakob Hans Josef Schneider . . . . . . . . 87 Zweiter Artikel. Von Gabriel Jüssen . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Dritter Artikel. Von Gerhard Krieger . . . . . . . . . . . . . . . 133 Vierter Artikel. Von Gabriel Jüssen . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Summe der Theologie. Erster Teil, 117. Quaestio Erster Artikel. Von Jakob Hans Josef Schneider . . . . . . . . 166 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Thomas von Aquin (ca. 1225 – 1274) Gemälde von Carlo Crivelli, 1476.

EINLEITUNG

Debet homo acquirere sapientiam cum aliis communicando

Thomas von Aquin, Sermo "Puer Jesus proficiebat"

1. Mag der Glaube die Geschichte brauchen, die Vernunft braucht sie nicht, so meinte dem Sinne nach Malebranche und hielt deshalb die Philosophen an, die Bücher anderer stets so zu lesen, "qu'on n'attende point d'etre instruit par les hommes". 1 Das Mittelalter glaubte an die soziale Dimension und an die Traditionsverfasstheit menschlicher Wahrheitssuche und hielt das Besondere in deren philosophischer Gestalt mit einer einfachen Unterscheidung für hinreichend bestimmt. Den Philosophen interessiert nicht die Absicht in äußerlichem Sinne und nicht der partikuläre Anlaß, ihn interessiert das Recht, mit dem andere etwas gedacht, gesagt oder getan haben. 2 Insofern ist seine Fragestellung notwendig abstrakt, auf das Allgemeine gerichtet, weil allein dieses die Wahrheit ermöglicht, um die es dem Philosophen geht. Dem so bestimmten Besonderen philosophischer Wahrheitssuche wird sich zumal derjenige verpflichtet fühlen, der sich einem Text des Thomas von Aquin mit philosophischem Interesse zuwendet. Denn es war Thomas, der meinte, wenn sie philosophisch sein wolle, könne die Beschäftigung mit vergangenem Denken ihren letzten Zweck nicht Vgl. dens„ De Ja recherche de Ja verite, tarne 1, livre II, II. partie, chap. VI; sowie - hier das angegebene Zitat - ebd. livre 1, chap. III. 2 Vgl. etwa Duns Scotus, Ord. I, dist. 8, pars 2, q. un. n. 250; Ed. Vat. IV, 294: De intentione istorum philosophorum Aristotelis et Avicennae (einige Handschriften und mit ihnen die älteren Drucke ergänzen hier: non euro). Nolo eis irnponere absurdiora quam ipsi dicant vel quam ex dictis eorum necessario sequantur, et ex dictis eorum volo rationabiliorem intellectum accipere quam possum. Das ist die "Streitkultur" des Mittelalters und ihr vornehmstes Kennzeichen: der Wille zur Objektivierung. 1

XII

Ober den Lehrer

darin haben, in Erfahrung zu bringen, was andere gedacht haben. Vielmehr müsse sich das Vergangene die Prüfung gefallen lassen, ob es wahr sei, und es werde zum Zweck dieser Prüfung hervorgeholt. 3 Freilich wird manchmal auch der Philosoph die Erfahrung machen, daß er zum Vorteil seines eigenen Geschäftes von den partikulären Bedingungen des Denkens nicht absehen kann. Er wird dann zum Historiker, und gerade die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Philosophie wird es ihm oft abnötigen, sich der materiellen Bestimmung seines Tuns nach in diesen zu verwandeln. Der Leser mag das folgende als Beispiel für diese Bedingung des Philosophierens mit dem Mittelalter auffassen, ein Beispiel das deutlicher ausfallen wird, wenn wir die natürliche Reihenfolge umkehren und sogleich und an erster Stelle nach dem Gewinn fragen, mit dem wir uns aus der Sicht gegenwärtig bedeutsam erscheinender Fragestellungen dem zuwenden können, was der hl. Thomas über das Lehren und Lernen gedacht hat. Es ist weniger schwer, als man vielleicht denkt, diese Frage zu beantworten. Der Lehrer ist für Thomas ein menschliches Subjekt, eine Person, die selbst im Besitz von Erkenntnis, einem anderen Subjekt zu seiner eigenen oder einer weitergehenden Erkenntnis verhilft, und zwar so, daß der andere selbständig das erkennt, was es zu erkennen gilt. Lehre ist dann diejenige Tätigkeit, die es einem anderen ermöglicht, vollziehendes Subjekt von Erkenntnis zu werden, ist die Vermittlung von Selbsterkenntnis in diesem Sinne. Die Tätigkeit des Lehrers (magister, doctor) heißt bei Thomas "docere" oder "doctrina", wobei er mit dem Substantiv zugleich den Erkenntnisinhalt bezeichnet, die Lehre also, zu welcher der Lehrer dem Lernenden den Zugang ermöglicht. 4 Der Erkenntnisakt des Schülers Vgl. dens., In De caelo et mundo, lib. 1, lect. 22, nr. 8; Ed. Leonina III, 91; sowie In Metaph. Iib. l, lect. 1, nr. 288 Spiazzi. 4 Vgl. Ver. 11, lc / 2c. (Das "corpus articuli" (= c) ist die jeweils in der Mitte eines Artikels stehende, von den Argumenten (objectiones), dem Andererseits (sed contra) und den Erwiderungen (solutiones ad 1 usw.) umrahmte, definitive Antwort (responsio) des Magisters) sowie In Anal. post. lect. 1, nr. 1 O; zur Doppelbedeutung 3

Einleitung

XIII

{discipulus), das Lernen, heißt "discere", bzw. {mit dem Nomen agens) "disciplina". 5 Um sein Ziel zu erreichen, das heißt, um dem Schüler das selbständige Erkennen, das Lernen heißt, zu ermöglichen, stehen dem Lehrer zwei Wege offen: die mündliche Unterweisung, und sie ist für Thomas die vorzügliche Form der Lehre, und die augenfällige Demonstration. 6 Für das Verständnis dessen, was Lehren und Lernen bedeutet, kommt es aber weniger auf diese zwei Wege an, als darauf, wie auf dem einen und auf dem anderen Weg die geistige Eigenaktivität des Lernenden erreicht wird, die ihm das Lernen ermöglicht. Es ist leicht, im Sinn des Thomas ein Beispiel zu bilden, um das zu verdeutlichen. Nehmen wir an, jemand solle lernen, daß die Zahl 438 durch 3 teilbar ist, oder, um diesen Fall gleich hinzuzunehmen, er solle lernen, bei einer Zahl wie 438 zu entscheiden, ob diese durch 3 teilbar ist oder nicht. Um allerlei raffinierten, aber irreführenden Verwicklungen zu entgehen, würde Thomas darauf bestehen, daß wir uns zunächst darüber Klarheit verschaffen, mit welchem Vorwissen derjenige, dem wir diesen Lernprozess zudenken, ausgestattet ist. Es ist nicht sehr sinnvoll anzunehmen, daß der, dem gerade dieses Lernziel zugemutet werden soll, nicht weiß, was der Satz "Ist die Zahl 438 durch 3 teilbar von "doctrina" vgl. G. Jüssen, Artikel "disciplina, doctrina" (gemeinsam mit G. Schrimpf), in: Hist. Wb. der Philos., Bd. 2, Basel 1972, Sp. 259f. 5 Vgl. die in Anm. 4 angegebenen Stellen sowie zur Einschränkung des Begriffes "disciplina" bei Thomas, G. Schrimpf, Titel wie in Anm. 4, Sp. 258f. 6 Vgl. Ver. 9, lc / 5c. (Den des Lateinischen nicht mächtigen Leser können wir für diese Texte nur auf Edith Steins Übersetzung der Quaestiones de veritate verweisen, die zuletzt 1952 als Band 3 und 4 der "Gesammelten Werke" Edith Steins erschien. Diese Übersetzung enthält nicht immer zutreffende Zusammenfassungen und bietet insofern einen "entproblematisierten" Thomas, als nur die corpora articulorum und die Erwiderungen (diese in Auswahl und oft gekürzt) übertragen wurden. Dennoch bleibt sie eine bedeutende Leistung. Eine wissenschaftlich zuverlässige zweisprachige Ausgabe der Quaestio 1 hat A. Zimmermann 1986 veröffentlicht. (= Philosophische Bibliothek Band 384) sowie Ver. 11, 1 ad 11 /ad 12 und S.th. 1, 11 7, 1 (Text und Übersetzung im folgenden).

XIV

über den Lehrer

oder nicht?" bedeutet. Wenn das so ist, dann dürfen wir voraussetzen, daß er über eine Vorstellung von dieser Zahl sowie den sie ausdrückenden Ziffern verfügt und den Begriff des Teilens kennt. Es gibt kein Lernen - das festzuhalten, ist Thomas wichtig 7 - dem nicht irgendeine Art von Wissen vorausgeht. Ebensowenig sinnvoll ist es aber nun, aus der genannten Feststellung für unser oder andere Beispiele abzuleiten, der Lernende wisse also das schon, was er lernen solle, und lerne demnach nichts. 8 Es läßt sich sehr präzise angeben, was er nicht weiß: Er weiß in unserem Beispiel nicht, ob die Zahl 438 durch 3 teilbar ist, bzw. wie er eben das bei dieser oder einer anderen Zahl überprüfen kann. Nehmen wir nun den Fall an, unser Kandidat wüßte, daß Zahlen, deren Quersumme durch 3 teilbar ist, ebenfalls durch 3 teilbar sind, er sei zudem in der Lage, die Quersumme der Zahl 438 zu bilden und deren Teilbarkeit durch 3 festzustellen. In diesem Fall wäre der Lehrer in der glücklichen Situation, seinen Schüler lediglich zu den beiden letztgenannten Schritten anhalten zu müssen. Thomas würde sich in diesem Fall, und in einem qualifizierten Sinn nur in diesem Fall, die Feststellung erlauben, unser Kandidat habe "der Möglichkeit nach" bereits gewußt, daß 438 durch 3 teilbar sei, ohne es jedoch "aktuell" zu wissen. 9 Wahrscheinlicher ist aber, daß unser Schüler die genannte Vgl. Ver. 11, 1 ad 3 und S.th. 1, 117, 1 arg. 4. Vgl Ver. 11, 1 arg. 3 und ad 3; S.th. 1, 117, 1 arg. 4. 9 Nach einer von Thomas aus der Aristotelischen Ontologie entnommenen Unterscheidung ist die eigentlich qualifizierte Form der Möglichkeit (die im ontologischen Zusammenhang nie mit dem bloß logisch Möglichen verwechselt werden darf) nicht die "potentia passiva" (die Fähigkeit des Holzes, zu brennen), sondern die "potentia activa". (die Fähigkeit des Ringers, der in der Ringkust ausgebildet ist, zu ringen) (Anwendung der Unterscheidung auf das Problem des Wissens bei Aristoteles, De anima II, 5. 417a 21ff.) Wie Thomas in Ver. 11, lc ausführt, gibt es die Fähigkeit, zu lernen, im Lernenden nie als bloße potentia passiva, sondern immer nur als Fähigkeit im Übergang von der potentia passiva zu einer potentia activa completa, und es ist der Fortschritt in diesem Übergang, an dem sich die Notwendigkeit lehrenden Eingreifens bemißt. Die Kenntnis der Prinzipien, mit deren Hilfe Einzelnes erkannt werden kann, die 7

B

Einleitung

XV

Regel nicht kennt. Dann bleiben dem Lehrer mehrere Möglichkeiten. Geht es nur um die Teilbarkeit der konkreten Zahl, könnte er fragen, ob der Schüler 42 für durch 3 teilbar halte, ob dann auch das Zehnfache, ob 18 usw. Er könnte ihn auch fragen, ob er die Zahlen 9, 12, 15 und 18 für durch 3 teilbar halte, ihm sodann den Begriff der Quersumme erläutern, ihn bitten, diese von der Zahl 438 zu bilden, dasselbe mit den Zahlen 12, 15 und 18 zu versuchen, usw. Er könnte ihm schließlich sogar erklären, warum eine Zahl, deren Quersumme durch 3 teilbar ist, stets auch selbst durch 3 teilbar sein muß, aber es ist wenig wahrscheinlich, diese Möglichkeit für unser Beispiel anzunehmen. Klammem wir sie aus, so würde einer der möglichen Schlüsse, die unser Schüler bildet, so lauten: Wenn in den von mir geprüften Fällen jede Zahl, deren Quersumme durch 3 teilbar ist, auch selbst durch 3 teilbar ist, dann ist es wahrscheinlich, daß diese Regel für alle Zahlen gilt, deren Quersumme durch 3 teilbar ist. Auch die Zahl 438 ist eine solche Zahl. Also ist sie durch 3 teilbar. Zwar beruht dieser Schluß in seinem ersten Teil nicht auf einem allgemein gültigen logischen Gesetz, aber doch auf einer Annahme, mit deren Hilfe wir gewöhnlich, und zwar mit Erfolg, die Zahl unserer Grundsätze erweitern. Für Thomas entscheidend ist folgendes: Der Lehrer mag durch wer weiß wie viele Reduzierungen es dem Schüler erleichtern, sich dem obigen oder einem ähnlichen Schluß anzuschließen, er kann es ihm aber auf gar keine Weise abnehmen, das Urteil zu fällen, auf dem dieser Entschluß beruht. In der Sprache des Thomas heißt das: Der Lehrer ist nicht in der Lage, den "tätigen Verstand" des Schülers zu ereine Kenntnis "im Allgemeinen" ist (Ver. 11, 2 ad 4), trägt von Anfang an den Charakter der potentia activa completa, was aber nicht bedeutet, daß sie nicht mehr differenziert werden kann, sondern, daß diese Differenzierung nur konfortativ von Außen zu fördern ist. Vgl. im übrigen Anm. 15 sowie die eingehende Darstellung des Kommentars.

XVI

Uber den Lehrer

leuchten, 10 er ist die "äußere", die "quasi instrumentelle'', nicht aber die "innere" Ursache des Lernens. 11 Wir brauchen uns hier nicht damit aufzuhalten, die Voraussetzungen dieser Sprache zu klären. Das geschieht im Kommentar, und wir werden weiter unten auf ein Beispiel zuriickkommen. Kehren wir also zur Sache zurück, um die es geht. Allein das Urteil, von dem wir sprachen, macht aus einem Satz, dessen Sinn der Schüler versteht, einen Satz, den der Schüler weiß. 12 Allein dieses Urteil holt jenen Satz in den Kreis seines Wissens ein. Und das geschieht durch eine Leistung, die ganz und gar niemand anderes erbringen kann als der Schüler selbst. Sollte er sich nicht in der Lage sehen, dieses Urteil zu fällen, zu dem ihn allein sein eigener Verstand nötigen kann, dann kann er diesen Satz bestenfalls glauben. Die Endlichkeit und zeitliche Erstreckung menschlicher Erkenntnis macht es häufig nötig, das weiß auch Thomas 13 , daß wir einem anderen etwas glauben, nicht nur in der Lehre, in welcher der Schüler dem Lehrer unter dem Vorbehalt späterer Einsicht etwas glauben muß, sondern auch in den Wissenschaften. Aber dann tritt an die Stelle jenes Urteils ein freier Willensentschluß und an die Stelle der Einsicht das willentliche Fürwahrhalten. Von einem Lernen kann in diesem Fall für Thomas keine Rede sein. Das heißt aber nun keineswegs, daß die Tätigkeit des Lehrers entbehrlich ist. Sie ist im Gegenteil höchst bedeutungsvoll. Lernen ist selbstvollzogene Erkenntnis, aber es ist keine Erkenntnis, die von selbst - in der Sprache des Thomas ausgedruckt - aus der "Möglichkeit" in die "Wirklichkeit" umschlägt. 14 Gesetzt den Fall - eine Situation, VgL Ver. 11, 1 ad 9 /ad 14; 11, 3 arg. 5 / sed contra 6 sowie S. th. 11-11, 1 73, 2c. Hier liegt der Unterschied zur Prophetie, in der Gott das iudicium des Proheten erleuchtet z.B. dasjenige Josefs, der den Traum des Pharao deutet. 11 Vgl. Ver. 11, lc/ad 13; 11, 2 arg. 1 sowie S.th. 1, 117, lc und S.th. 1-11, 111, 4c 12 Vgl. Ver. 11, 1arg.4/13. 1 3 VgL Ver. 11, 1 arg. 13 sowie Ver. 9, 1ad3; 12, lc; 14, lOc; ferner S.th. II-II, 2, 3c. 14 Vgl. Ver. 8, 6 ad 7. IO

Einleitung

XVII

die wir oben allerdings als wenig wahrscheinlich angenommen haben - der Schüler würde zwar unsere Quersummenregel kennen, käme aber nicht auf den Gedanken, sie auf die Zahl 438 anzuwenden: Wenn es wirklich so steht, und wir sollten uns nicht darüber täuschen, daß das bei komplizierteren Fällen häufig die Kondition unserer Erkenntnis ist, dann ist auf keinen Fall damit zu rechnen, daß er im strengen Sinne des Wortes von selbst, "automatisch", auf diese Anwendung verfällt. Würden wir stets auf den Zufall warten, daß ihm das doch eines Tages gelänge, wäre es mit der Weitergabe unseres Wissens schlecht bestellt. Es bedarf also eines Anstoßes, und es ist in der Regel der Lehrer, der ihn gibt. Ganz wie im Fall unseres Schlusses würde dieser Anstoß darin bestehen, eine Verbindung zu schaffen zwischen dem, was gewußt, und dem, was nicht gewußt wird. Thomas, der sich an der logischen Struktur orientiert, sagt: Der Lehrer muß den "Mittelbegriff" bereitstellen. 15 Der Mittelbegriff ist derjenige Begriff, der in beiden Prämissen eines Schlusses vorkommt und dabei die übrigen in diesem Schluß vorkommenden Begriffe verbindet. In dem Beispiel eines Schlusses, das wir angeführt haben, ist der Mittelbegriff der Begriff der Zahl, deren Quersumme durch 3 teilbar ist, und die deshalb die Eigenschaft hat, selbst durch 3 teilbar zu sein. Diese Eigenschaft ist dem Schüler, der die Regel kennt, aber nicht darauf kommt, sie auf die Zahl 438 anzuwenden, ja bekannt. In seinem Fall wäre deshalb der Mittelbegriff eines möglichen Schlusses einfach der Begriff der Zahl, deren Quersumme durch 3 teilbar ist. Nur die Tatsache, daß die Zahl 438 eine solche Zahl ist, müsste er ja noch erkennen. Natürlich kann sich die Leistung des Lehrers nicht immer darauf beschränken, einen solchen

Vgl. Ver. 9, 1ad2; dieselbe Bedeutung hat die in Ver. 11, 1 sowie 11, 3 Ueweils corp. art.) und in S. th. I, 11 7, 1 c in fine angedeutete Möglichkeit, daß der Lehrer dem Schüler eine Deduktion zur Beurteilung vorlegt, sowie die in S.th. I, 117, lc erhobene Forderung, der Lehrer müsse dem Schüler Sätze von geringerem Allgemeinheitsgrad (propositiones minus universaliores) anbieten. l5

XVIII

Ober den Lehrer

Mittelbegriff bereitzustellen. 16 Vielleicht muß er immer auch unsere Vorstellungskraft beanspruchen, muß uns die Möglichkeit zur Anschauung geben, muß uns zu Abstraktionsleistungen oder zur Prinzipienbildung veranlassen: In all dem bleibt entscheidend, daß er es uns niemals abnehmen kann, die Geltung von Prinzipien anzuerkennen und der Ableitung der sich aus ihnen ergebenden Folgen zuzustimmen 17 , also diejenigen Akte zu vollziehen, die allein Wissen, welches durch Gewißheit gekennzeichnet ist 18 , begründen. Nun verbinden sich mit dem, was wir bisher als Thomas' Meinung dargestellt haben, für ihn noch eine ganze Reihe von Voraussetzungen, Beobachtungen und weiteren Folgerungen. Davon soll gleich die Rede sein. Vielleicht ist es aber nützlich, schon an diesem Punkt eine prüfende Besinnung zu versuchen. Wir hatten eingangs die Erwartung geweckt, aus der Darstellung des Thomas zunächst solche Perspektiven auszuwählen, in die wir im Licht gegenwärtiger Fragestellungen ohne Mühe würden eintreten können, um ihnen darüber hinaus mit Gewinn zu folgen. In dieser Erwartung könnte man sich angesichts dessen, was wir bisher erfahren haben, enttäuscht sehen. Thomas bietet, so scheint es, eine erkenntnistheoretisch gewiß interessante Analyse der Erweiterung unseres Verstandeswissens. Ist seine Abhandlung aber mehr als der intelligente Zuschnitt des Problems des Lehrens und Lernens auf das Problem wissenschaftlicher Erkenntnis? Vor weit über zwanzig Jahren hat ein Pädagoge einer alten pädagogischen Einsicht die folgende, gewiß glückliche Formulierung gegeben 19 : Es sei die Aufgabe des Lehrers, zu erziehen (instituere ), zu belehren (docere) und nach der Wahrheit zu suchen (philosophari). Die Aufgabe des Lehrers, so will dieser Satz sagen, umgreift ein KonVgl S.th. 1, 117, lc. Vgl. Ver. 11, 1 ad 13; 11, 2 arg. 2 sowie S.th. 1, 117, 1 arg. 3. 1s Vgl. Ver. 11, 1arg.17. l9 H. von Hentig, Der Beruf des Lehrers, in: Neue Sammlung 3 (1963), 216-235, hier 225. 16 17

Einleitung

XIX

tinuum, in dessen Mitte die Vermittlung von Wissen steht. Aber das Ganze, das Lehren bedeutet~ beginnt mit der Aufgabe, uns auf ein Leben vorzubereiten, zu dem es auch gehört, in Funktionen einzutreten und sich in Institutionen zu bewegen, und es findet seine höchste Entfaltung dort, wo der Lehrer die Verantwortungsfähigkeit des Schülers vorwegnimmt, indem er sich darauf einläßt, mit ihm gemeinsam auf Ansprüche zu hören. Weil die Vorstellung, die in diesem Satz ausgedrückt ist, unseren Begriff des Lehrens und Lernens bestimmt, erscheint uns weithin nur ein Begriff als hinreichend allgemein, alle die menschlichen Lebensvollzüge zu erfassen, denen auf dem Wege des Lehrens und Lernens zu ihrer möglichen Vollkommenheit verholfen werden soll. Dieser Begriff ist weiter als derjenige des Wissens und betrifft eine Lebensäußerung, von der auf alle, nicht nur auf die kognitiven Veränderungen des Subjekts zurückgeschlossen werden kann. Es ist derjenige des Verhaltens. Eine zweite mögliche Enttäuschung nährt sich nicht von dem Verdacht der Engführung, sondern geht von der Weise aus, wie Thomas nach dem Lehren und Lernen fragt. Wir sind darauf eingestellt, diese Frage als die Frage zu verstehen, wie man lehrt und lernt. Thomas scheint eine andere Frage im Auge zu haben. Er scheint untersuchen zu wollen, was das eigentlich ist, das man tut, wenn man lehrt und lernt. Was nun unsere erste mögliche Enttäuschung betrifft, so wird auch der wohlwollend voreingenommene Thomasinterpret eingestehen müssen, daß die beschriebene Verengung des Problems nicht einer genialen Vereinfachung des Thomas entspringt, sondern geschichtlichen Vorgaben der Problemstellung, auf die zurückzukommen sein wird. Das schließt nun aber nicht aus, daß gerade diese Verengung 20 Vgl. dens. "Über Pädagogik'', A 13 (Kant, Werke in zehn Bänden hrsg. von W. Weischedel, Bd. 10, 711): "Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne." Dazu W. Ritzel, Kant und die Pädagogik, in: ders., Die Vielheit der pädagogischen Theorien und die Einheit der Pädagogik, Wuppertal 1968, 84-104.

XX

Uber den Lehrer

geeignet sein kann, eine Wahrheit hervortreten zu lassen, die weiter gilt. Ich meine, daß genau dies der Fall ist. Bekanntlich hat sich Kant einmal die Frage gestellt 20 , wie es möglich sei, in der sittlichen Erziehung des Menschen die Freiheit, auf die doch hier alles ankomme, mit dem Zwang zu vereinbaren. Es scheint mir, daß man Thomas zumindest so lesen kann, als gehe er hier noch weiter. In jedem Schritt, mit dem wir uns lernend die Möglichkeit aneignen, in dieser Welt unserem Wesen gerecht leben zu können, begegnen sich - so meine ich können wir Thomas lesen ein Moment der Aneignung und der Anerkenntnis. Dies gilt auch für den Glauben, den Thomas seiner grundsätzlichen Möglichkeit nach stets für vernünftig hält, mag es auch in diesem Leben unmöglich sein, diese Vernünftigkeit einzuholen. 21 Die Anerkenntnis ist ein Freiheitsakt, der nur durch eine einzige Instanz zu nötigen ist, durch die Vernunft selbst, die das Objektive, das es anzueignen gilt, als Objektives erkennt. Ein solcher Freiheitsakt liegt auch dann und gerade dort vor, wenn die von der Vernunft ausgehende Nötigung durch eine freie Zustimmung des Willens ersetzt wird. Das geschieht im Glauben 22 , und ist möglich in dem Vertrauen, daß er uns nichts abverlangt als das, was in einem anderen Stande auch die Vernunft von uns verlangen würde. Ist es so, dann zeitigt die "Engführung" des Thomas und seine besondere Frageweise vielleicht doch ein bedenkenswertes Ergebnis: Wenn Lehren und Lernen ein menschliches Tun sein sollen, dann setzt alles, was wir in ihrem Sinne unternehmen, in seinem geringsten Fall die Möglichkeit späterer Freiheit voraus, einer Freiheit, die sich allein selbst, nicht aber unter dem Zwang eines anderen zur Wahrheit entschließen kann. Wir werden es dem Theologen Thomas dabei gewiß zugestehen, wenn Vgl. Ver. 14, 10 ad 7. Vgl. Th. von Aquin, Ver. 14, lc. sowie Expositio sup. lib. Boethii de trinitate 3, 1, 4 = p. 115, lf. Decker; zu dieser und den in der folgenden Anmerkung genannten Stellen L. Oeing-Hanhoff, Gotteserkenntnis im Licht der Vernunft und des Glaubens nach Thomas von Aquin, in: ders. (Hrsg.), Thomas von Aquin 1274/ 1974, München 1974, 97-124. 21 22

Einleitung

XXI

es für ihn Gott ist, der nns zu konkreter Wahrheit nnd Freiheit befähigt; denn es ist die menschlichste Erfindung Gottes, die für Thomas die Vemnnft hell macht nnd nns zugleich die innere Selbstmächtigkeit verleiht, in der die Freiheit im letzten besteht: die Gnade 23 • II. Der Kreis der Gesichtspunkte, unter denen uns die folgenden Texte einladen, mit Thomas zu denken, ist damit nicht erschöpft. Um diesen Kreis weiter zu erschließen, ist es nnn allerdings nötig, sich näher mit einigen Voraussetznngen zu beschäftigen, aus denen weitere Fragen des Thomas erwachsen sind. Nur wenn wir diese Voraussetzungen wiedergewonnen haben, wird es nns in diesem Fall gelingen, mit Thomas in ein Gespräch zu kommen. Nach einer Vorstellung, die das Mittelalter aus der antiken Logik übernommen hat 24 , gründet jedes Fortschreiten im Wissen auf einem inventorischen, den Inhalt betreffenden, und einem iudikatorischen, die Form des Denkens betreffenden Moment. Wie wir im Vorangehenden gesehen haben, liegt das iudikatorische Moment - wir waren geneigt, darin Thomas zuzustimmen - ganz auf Seiten des Schülers. Erst sein Urteil, welches sich demjenigen des Lehrers anschließt oder nicht, begründet Wissen. Nnn bemüht sich Thomas im zweiten Artikel unseres Textes aus De Veritate, zu zeigen, daß man jemand nicht im qualifizierten Sinne des Wortes Lehrer seiner selbst nennen könne. Es ist der Begriff des Lehrers, der für Thomas diese Möglichkeit nicht zuläßt. Ein Lehrer ist jemand, der aus der Kenntnis des Ganzen möglicher Inhalte eines Sachgebietes bestimmte Inhalte auswählt, damit der Schüler an diesen sein Urteilsvermögen bewährt nnd so den Kreis seiner Kenntnisse um diese Inhalte erweitert. Der Lehrer Vgl. S.th. I-11, 108, 1, ad 2;sowie 1-II, 109, l /2 Vgl. Cic. top. 6; Boethius in Cic. top. com. PL64, 1045A/B; Thomas von Aquin, In Anal. post. prooem. nr. 6; Die Begriffe dienen ursprünglich dazu, innerhalb der Logik die zwei Zweige zu unterscheiden, die sich mit dem inhaltlichen, bzw. mit dem formalen Aspekt des Urteils befassen. Dabei wird jedoch die Logik als Inbegriff jeder wissenschaftlichen Methode verstanden. 23 24

XXII

Über den Lehrer

weiß um die Bedeutung des zu Lernenden im Rahmen eines Ganzen. Nun ist Thomas selbst Wissenschaftler, Forscher. Es wäre ganz unsinnig, von ihm zu erwarten, daß er den selbständigen Wissenserwerb, die via inventionis, für tmmöglich oder auch nur für weniger vornehm hielte. 25 Es ist für ihn aber offenbar wichtig, festzuhalten, daß der Forscher gegenüber dem Lehrer eines nicht vermag: Auch wenn der Forscher sich aus eigener Kraft bemüht, die Wirklichkeit in möglichst angemessenen Begriffen zu erfassen und diese Begriffe durch zutreffende Urteile zu einem System zu verbinden, auch wenn er sich selbst in den Besitz des "Materials" setzt, mit dem er arbeitet, so ist dieses Material doch mindestens unter einem Aspekt für ihn neu, und vielleicht ist das gerade der Aspekt, auf den es ankommt. Er kann diesen Aspekt nicht vorher zum Prinzip seiner Auswahl und seiner Begriffsbildung machen, auch nicht, wenn er an seinem Material lediglich eine bereits vorher formulierte Annahme zu überprüfen sucht. Der forschende Wissenserwerb ist immer durch ein zufälliges Moment, ein Moment des Gelingens, bestimmt. Die Auswahl der Untersuchungsgegenstände kann falsch sein, oder diese können sich weigern, das herzugeben, was sie hergeben sollen.· Aus genau diesem Grund kann man Wissenschaft nur in einem sehr beschränkten Sinn des Wortes Vgl. S.th. II-II, l, 7 ad 2: "Der Fortschritt in der Erkenntnis hat auf zweifache Weise statt. Einmal von Seiten des Lehrenden, der in der Erkenntnis vorwärts schreitet, sei es nur einer, seien es mehrere in der Abfolge der Zeiten. Und das ist der Grund des Wachstums in den Wissenschaften, die durch menschliche Vernunft begründet werden. Sodann von Seiten des Lernenden. So überliefert ein Meister, der seine ganze Wissenschaft beherrscht, diese nicht sofort von Anfang an dem Jünger, weil er sie nicht fassen könnte, sondern allmählich, indem er sich zu dessen Fassungskraft herabläßt. Und in dieser Weise haben die Menschen Fortschritte gemacht in der Erkenntnis des Glaubens in der Abfolge der Zeiten. Darum vergleicht der Apostel den Stand des Alten Bundes mit der Kindheit." (Übersetzung Die deutsche Thomasausgabe, Bd 15, Heidelberg 1950, 32; nach dieser übers. zitiert bei M.-D. Chenu, Thomas von Aquin, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargest., Hamburg 1960, 99). 25

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"organisieren". Das ist auch im Fall der Lehre nicht möglich. Aber das zufällige, sich dem Einfluß entziehende Moment liegt hier vom Wesen des Vorganges her auf der anderen Seite, im nicht zu erzwingenden Urteil des Schülers. Nun scheint es, als wenn das Bemühen um ein vertieftes Verständnis dessen, was das Wesen des Lehrens ausmacht, für Thomas ein völlig hinreichender Grund gewesen wäre, die Frage des zweiten Artikels der Quaestio XI zu behandeln. Tatsächlich kann man sich aber sowohl aus dem Zusammenhang des Textes wie aus historischen Überlegungen nicht ganz des Verdachtes entledigen, als sei es Thomas auch darum gegangen, einer möglichen Prätention entgegenzutreten. In der Antwort des ersten Artikels war ja bereits in aufwendiger Auseinandersetzung gezeigt worden, was im ersten Argument pro des zweiten Artikels vom fiktiven Gegner als quasi vernachlässigungsfähig hingestellt wird, daß ein "äußeres Prinzip" des Lernens unverzichtbar ist. Ebendort aber und in der Antwort des dritten Artikels wird auch gezeigt, daß die Annahme, ein Mensch könne tatsächlich einen anderen lehren, keineswegs Gott die ermöglichende Mitwirkung bei jeder Art von Erkenntnis, sein "einzigartiges Magisterium", bestreitet 26 , wenn man nur recht versteht, wie Gott bei unserem Erkennen mitwirkt. Auch unser Ureigendstes, der Urteilsakt, vollzieht sich ja nach dem dort Gesagten ebenso wie unser Lernen im Ganzen kraft einer durchaus vermittelten Unmittelbarkeit.27 Es scheint also, als sei Thomas daran interessiert, uns gerade dort, wo er die menschliche Selbstmächtigkeit zur Erkenntnis wie kein anderer betont, deren Abhängigkeit nicht vergessen zu lassen. Menschliche Erkenntnis ist für den Theologen die Erkenntnis eines Geschöpfes, und sie ist - um dessen gegenwärtig zu werden, 26 Man vergleiche die versöhnliche Interpretation Augustins in Ver. 11, 1 ad 8. 27 Ich verdanke die Anwendung dieses aus Hegelschem Geist stammenden Begriffs, der mir in der Tat genau das zu treffen scheint, was für Thomas "Lernen" bedeutet, auf unseren Sachverhalt, einem Gespräch, zu welchem sich Prof. Dr. Dr. h.c. Rudolf Haubst gütigerweise die Zeit nahm.

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Ober den Lehrer

bedarf es nicht des Glaubens - die Erkenntnis eines Wesens, das in sozialen Bezügen lebt. Das Bemühen um Wissen, das Thomas selbst kraft einer "Profession" vertritt, die Theologie, ist, wenn auch mit vorgegebenen Prinzipien arbeitend, ein solches sozial vermitteltes, menschliches Erkenntnisbemühen, das sich in einer Lehre (doctrina) auslegt. Von einer solchen "christlichen Lehre" hatte sich das Mittelalter von Augustin in einem berühmten Text 28 sagen lassen, daß sie die gewöhnliche Kondition ihres Zustandekommens und ihrer Weitergabe nicht vergessen darf, ohne sich in Neid und Überheblichkeit zu verstricken und sich im Kommunikationsverzicht zu isolieren. Christliche Theologie nach den Prinzipien des Thomas ist kommunikabel und überprüfbar. Ihre Maßstäbe sind die doctrina Christi, der Glaube der Apostel und das Zeugnis der Propheten. Nichts steht der Möglichkeit entgegen, daß eine künftige Communio fidelium diese im Einzelnen tiefer verstehen wird als wir. 29 Deshalb steht es in diesem Punkt für Thomas mit dem Glauben wie mit dem Wissen: Daß wir Mitglieder einer in Traditionen verfassten Kommunikationsgemeinschaft sind, beschränkt nicht die Wahrheitschancen des Einzelnen und der Gemeinschaft. 30 Eher vergrößert es sie. Wenden wir uns einem weiteren Gedanken zu. In einer deutschen Predigt Meister Eckharts heißt es an einer Stelle: "Und darumbe ist sin (Gottes) bekennen (Erkennen) min, als in dem meister (Lehrer) ein ist, daz er leret, und in dem jünger'(Schüler), daz er geleret wird." 31 Wie dem Vgl. Aug. de doct. christ. prooem. 5 / 6. Vgl. Ver. 14, llc. 30 V gL Ver. 14, 10 arg. 11 und ad 11 ; in einem zumindest von T. Eschmann für echt gehaltenen Predigtreportatum zu Lk. 2, 52 heißt es, Weisheit müsse der Mensch erwerben "im Austausch mit anderen" (cum aliis communicando). Der Text ist am bequemsten zugänglich in der Referenzausgabe des Index Thomisticus (Band 6, 33 sqq.; das Zitat ebd 34, Ps. 3, 114 sq.), die den Text nach der Editio Parmensis t.XXIV wiedergibt. 31 Eckhart, Predigt 76, DW 3, 320f. Quint. Der Herausgeber bezieht sich auf die ausführliche Behandlung der Frage in Thomas' 28

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gelehrten Herausgeber des Textes nicht entgangen ist, bezieht sich Eckhart im zweiten Teil dieses Satzes auf einen Gedanken des hl. Thomas. Er tut das mit einer Absicht, welcher der hl. Thomas nicht zugestimmt hätte, aber daran brauchen wir uns hier nicht zu stören. Wie verhält sich eigentlich, so fragt Thomas in unserem Text, das Wissen des Lehreres zu dem des Schülers? Wenn der Schüler von seinem Lehrer etwas gelernt hat, dann kann man sagen, er wisse jetzt in einem bestimmten Umfang das, was der Lehrer weiß. Aber in welcher Hinsicht handelt es sich um dasselbe Wissen? Es ist nicht so - daran, das festzustellen, liegt Thomas offenbar sehr viel3 2 - , daß der Lehrer sein Wissen einfach in den Schüler verpflanzt. Wissensvermittlung ist keine "Wissenstransfusion", mag man sie auch in loser Rede so nennen. 33 Wissen ist eine bestimmte Art, sich im Geiste auf Sachverhalte zu beziehen. Der Lehrer verpflanzt nicht eine seiner derartigen Beziehungen in den Schüler - ein solches unvermitteltes "intrare in mentem" ist ihm nach gemeinsamer mittelalterlicher Auffassung gegenüber Wesen der gleichen Ordnung gar nicht möglich -, er ermöglicht es dem Schüler vielmehr, seine eigene geistige Sachverhaltsbeziehung nachzuahmen, sie also in sich selbst neu in gleicher Weise zu bilden. Wissen vollzieht sich in diesem Sinne im Modus der Imitation 34 , und die Tätigkeit des Lehrers ist wesentlich "konfortativ" 35 , nicht

De unitate intellectus, c.5, nr. 258 Spiazzi, bei der Thomas seinem Lehrer Albert folgt. 32 VgL Ver. 11, 1 arg. 6 und ad 6. 3 3 Vgl. Ver. 11, 4 arg. 4 und ad 3; Das Bild begegnet in ähnlicher Form wohl zum ersten Mal bei Platon, bei dem es Symp. l 75d heißt: "Das wäre eine schöne Sache, lieber Agathon, wenn es mit der Weisheit eine solche Bewandtnis hätte, daß sie aus dem Volleren von uns in den Leereren hinüberflösse, wenn wir miteinander in Berührung kommen, gleichwie das Wasser durch einen Wollstreifen aus dem volleren Becher in den leereren hinüberf!ießt." (Übersetzung: Franz Susemihl). 3 4 Vgl. Ver. 11, lc; S.th. I, 117, lc, aber auch Nikolaus von Kues, De filiatione Dei IV,= h IV, 1, nr. 74. 35 Vgl. Ver.11, lcundad2;S.th. I, 117, lc.

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über den Lehrer

in dem Sinne, daß sie direkt auf die Abstraktionsfähigkeit und das Urteilsvermögen des Schülers einwirkt, aber doch so, daß sie es dem Schüler ermöglicht, beide Vermögen zu' üben, so daß ihm die Leichtigkeit und Zuverlässigkeit in deren Gebrauch erwächst, die das Kennzeichen echten Wissens ist. 36 Das vornehmste Beispiel, das dem Mittelalter für eine solche, lediglich bestärkende Funktion zur Hand ist, ist die Tätigkeit des Arztes. Die des Lehrers ist der seinen in dieser Hinsicht gleich. Ich denke, daß eine dritte und letzte Erkenntnis des hl. Thomas es verdient, hier erwähnt zu werden, die wir ebenfalls leicht nachvollziehen können, wenn wir uns nur ein wenig mit ihren Voraussetzungen beschäftigen. Wenige Philosophen wußten besser als der Theologe Thomas von Aquin, daß das menschliche Leben nicht nur aus theoretischen, sondern auch wesentlich aus praktischen Vollzügen besteht, und daß deshalb die Wahrheit nicht sein einziges Prinzip sein kann. Der Philosoph, dem dieser Band gewidmet ist, hat in Anlehnung an eine Formulierung des Thomas gesagt, "ein notwendiges Element jeder unter dem Maß der Vernunft stehenden Handlung" sei es, durch eben diese Vernunft unter die "moralische Differenz" gezogen zu werden. 37 Tatsächlich sind wir bei wichtigen menschlichen Lebensvollzügen und Tätigkeiten geneigt, den Handlungsaspekt, obwohl er nicht das Wesen des betreffenden Vollzuges oder der betreffenden Tätigkeit ausmacht, für einen ganz unverzichtbaren Begleitumstand zu halten. 38 VgL Ver. 10, 2c. 37 VgL W. Kluxen, Ethik des Ethos, Freiburg 1974, 16f. 38 Um die feinfühlige analytische Interpretation des Aristotelischen Handlungsbegriffes durch A. W. Müller auf unser Beispiel des Lehrens anzuwenden: Die Möglichkeit, daß wir den Satz "XY lehrt gut, bzw. schlecht." bilden können, zeigt an, daß es sich beim Begriff des Lehrens um einen Begriff des Machens h:tndelt, sofern wir die Begriffe des Tuns und des Machens so weit fassen, daß jedes auf eine äußere Bewegung hingeordnete Tätigsein des Menschen unter einen dieser beiden Begriffe fällt. Nun können wir aber auch einen Begriff des Lehrens bilden (Thomas: Der Lehrer kommt der Schwäche des Schülers zur Hilfe), der das gleiche Tätigsein unter einem Zielaspekt beschreibt, der es als Selbstzweck und als Verwirklichung 36

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Die Aufgabe des Arztes ist es, zu heilen, und diejenige des Lehrers, zu lehren, aber wir schätzen nicht den Arzt und den Lehrer, denen es nicht gelingt, sich in ihrer Tätigkeit in der ihnen möglichen Weise zugleich als Menschen zu beweisen. Dieser durchaus moderne Gesichtspunkt ist es nun nicht, den Thomas im Auge hat, wenn er im vierten Artikel unseres Textes zu zeigen versucht, daß das Lehren in je verschiedener Hinsicht sowohl als theoretischer wie als praktischer Lebensvollzug aufgefaßt werden kann. Vielmehr benutzt Thomas eine Unterscheidung, die jedem modernen Pädagogen unter dem Begriff des "pädagogischen Dreiecks" bekannt ist, um darauf hinzuweisen, daß sich in jedem Akt des Lehrens ein Sachbezug und ein personaler Bezug unterscheiden lassen. Der personale Bezug, der den Akt des Lehrens zur Handlung macht, besteht aber, soweit Thomas ihn hier im Blick hat, wohl darin, daß der Lehrer, was die Qualität seiner Lehre betrifft, gegenüber dem Schüler Verbindlichkeiten unterliegt, die aus der Bedeutung resultieren, welche die Tätigkeit des Lehrers für den Schüler besitzt. Der Lehrer kommt der Schwäche des Schülers zur Hilfe (subvenit infirmitatibus proximorum). 39 Für Thomas ist es diese Spezifikation des Lehraktes, die es erlaubt, ihn dem aktiven Leben zuzurechnen, und die sein Wesen sogar in vorzüglicherer Weise determiniert als der Sachbezug. Insofern ist seine Einsicht ein Beleg für die Tatsache, daß der Sinn einer Sache quoad nos in vorzüglicherer Weise von den Begleitumständen bestimmt werden kann, als von Wesenszügen im engeren Sinn. Leben hat seinen Sinn vom guten Leben. III. Der folgende, bisher nicht genauer datierte, jedenfalls aber im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts geschriebene einer ethisch qualifizierten Handlungsbereitschaft bestimmter inhaltlicher Ausprägung (Habitus) charakterisiert. Diese Möglichkeit weist auf das Mitschwingen eines Handlungsmomentes hin. (Vgl. A. W. Müller, Praktische und technische Teleologie, in: Poser, Hans (Hrsg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, Freiburg 1982, 37-70, hier bes. 61ff.) 39 VgL Ver. 11, 4 ad 1; ähnlich ebd. corp.

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Uber den Lehrer

Brief40 , der im Geist der Zeit, in der er entstanden ist, ebensowenig mit Gefühlen wie mit Worten geizt, führt uns in jene Jahre, in denen im Mittelalter zum ersten Mal der Titel "Meister" (magister) als reguläre Berufsbezeichnung begegnet 41 , und an jenen Ort, wo diese Berufsbezeichnung

40 Vgl. H. Denifle, Chartularium Universitatis Parisiensis, tome 1, Paris 1899, pars introductoria, nr. 54; unsere Ubersetzung spart die aus acht Druckzeilen bestehende Einleitung des Briefes aus. Ein für die örtliche Orientierung im folgenden sehr hilfreicher Plan der Stadt Paris zur Zeit des Königs Philipp-August findet sich im Artikel "Paris, histoire" von H. Leclercq im Dict. d'archeol. ehret. et de lit., tome 13, Paris 1938, Sp. 1941f. 41 Der Titel "magister" oder "doctor" begegnet im hohen Mittelalter zunächst als Anrede bestimmter Wanderprediger, die seit dem 11. Jahrhundert an wechselndem Ort die Aufgabe evangelischer Predigt übernahmen. Obwohl zum Teil Vorsteher einer Gemeinschaft, lehnten diese die herkömmlichen Titel wie "Abbas" oder "Dominus" möglicherweise deshalb ab, weil ihnen mit diesen Titeln die Obernahme weltlicher Macht und weltlicher Aufgaben verknüpft schien. (Zeugnisse bei J. v. Walter, Die ersten Wanderprediger Frankreichs, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1903-1906, Aalen 1972, Teil 1: 14, 20, 69, 93; Teil 2: 115f.; die Deutung ebd. Anm. 5) Dabei dürfte ihnen kaum bekannt gewesen sein, daß es die Anrede als "Lehrer" im Sinn der figura modestiae im spätantiken Mönchstum des Ostens bereits einmal gegeben hatte. (Vgl. Hieronymus, comm. in Math. IV; CCSL 77, !in. llOff. zu Mt. 23, 8f.) Das unter Gregor VII. erstarkte Papsttum scheint diesen Wanderpredigern in einigen Fällen seine Unterstützung nicht versagt zu haben, wohl wissend, daß die Schwierigkeiten der Aufgabentrennung die alte Kirche bewogen hatten, die in apostolischer Zeit (vgl. 1 Kor. 12, 28 Eph. 4, 11) noch voneinander unterschiedenen Befähigungen des Lehrers und Hirten in einem Amt zu vereinigen, dem des Episkopen, und allein diesem das Recht der Predigt zuzugestehen. Im Fall des Robert von Arbrissel möchte man dabei unserer Quelle (Vita Baldrici, PL 162, 1050 C.1051A) weniger glauben, daß Urban II. diesen im Jahr 1096 in Angers zum "Seminiverbius" ernannt haben sollte (der Titel ist eine Anspielung auf Act. apost. 17, 18, welche die buchstabengetreue, kaum aber richtige Vulgataübersetzung dieser Stelle voraussetzt), wenn nicht eine Provinzialsynode des gleichen Jahres (Mansi, Venedig 1775 und Nachdrucke, t.20, Sp. 934/35) den zum Priester geweihten Mönchen und Regularkanonikern gerade auch das Recht zur Predigt zugestehen würde, und zwar mit dem Hinweis, daß sich doch gerade in deren Leben die apostolische

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dann vorzüglich als Bezeichnung eines Amtes und emes akademischen Ranges Geltung erlangen sollte. "Ich befinde mich in Paris, und mir geht es geistig und körperlich hervorragend. Allein die Gewißheit, daß es Dir genauso ginge, könnte

Verfügungsbereitschaft verwirkliche, die im Evangelium zur Grundlage der Sendung gemacht werde. (vgl. Lk 10, lff.) Damit begegnet zum ersten Mal jenes Argument, das von den Päpsten noch zur Zeit des Thomas benutzt wird (vgl. Bullarium ordinis praedicatorum, ed. Bremond, Rom 1729ff., I, 37, nr. 51, Bulle Gregors IX. vom 3.2. 123 2), um dem Weltklerus die erneute Unterstützung einer von der Übernahme anderer Ämter unabhängigen Berufung zur Predigt zu erklären. Die Weltkleriker zur Zeit des Thomas erwidern darauf (vgl. Denifle, Titel wie in Anm. 40, pars prima, nr. 230, p. 253), zu einer Weltentsagung, die sich Lk. 10, 4 zum Programm mache, gehöre dann auch der Verzicht auf die Ambition der Lehre, und beziehen sich dabei auf eben die Stelle, die Thomas Ver. 11, 1 arg. 1 zitiert: "Laßt Euch nicht Lehrer nennen!". Thomas weiß, daß das Zitat ein Argument in diesem Streit ist. (vgl. dens., contra impugn. 2, 1; nr. 13 Spiazzi) Während sich nun die Lehrer an den Kathedral- und Klosterschulen des 11. Jahrhunderts - aus Bescheidenheit gegenüber den "sacri doctores", wie wir unterstellen dürfen - als "Schulmeister" (scholastici, magistri scholarum; so hieß auch das entsprechende Amt innerhalb eines Dom- oder Stiftskapitels) bezeichnet zu haben scheinen, nannten sich "magistri" dann im 12. Jahrhundert jene Lehrer, die wie die genannten Wanderprediger und im frühen Mittelalter schon die irischen Gelehrten (gute Übersicht bei H. Löwe, die Iren und Europa im frühen Mittelalter, in dem von demselben unter dem gleichen Titel herausgegebenen Sammelband, Teilband 2, Stuttgart 1982, 1013-1039, hier Abschnitt III, 1026ff.) zunächst am wechselnden Ort ihre Schülerschaft um sich versammelten, später jedoch ihren Namen meist mit einem bestimmten Ort verknüpften, und nicht selten am Ende ihrer Karriere in hohe kirchliche Ämter berufen wurden. Der Anschluß an einen solchen Lehrer bedeutete oft auch ein Bekenntnis zu dessen Lehre, so daß es in der "Metamorphosis Goliae episcopi" heißen konnte: "et professi plurimi sunt Abaielardum". (Th. Wrigth, The latin poems commonly attributed to Walter Mapes, London 1841, p. 29; zit. bei 1. Brady, Peter Lombard: Canon of Notre Dame, Rech. theol. anc. med. 32 (1965 ), 280) Als letztes Motiv in der Vorgeschichte des universitären Magisteramtes ist schließlich zu berücksichtigen, daß es den "Magister" im ganzen Mittelalter als Dialogfigur gab, welche dem Schüler wie in Anselms "De veritate" Rede und Antwort steht.

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mein Wohlbefinden noch steigern, und noch besser ginge es mir natürlich, wenn Du mir nicht fehltest. Ich bin in Paris, der Stadt der Könige, die nicht nur durch ihre natürlichen Vorzüge ihre Bewohner erfreut, sondern auch die anlockt, die fern von ihr weilen, und die einlädt, die sich nicht in ihr befinden. Denn wie der Mond das Licht der Sterne verblassen läßt, weil der Glanz der Sonne heller in ihm widerstrahlt, so erhebt diese Stadt über die anderen majestätisch ihr Haupt unter dem Signum ihrer königlichen Würde. Lieblich liegt sie im Tal, ringsum ein Hügelkranz, auf dem sich Ceres und Bacchus in gegenseitigem Wettstreit ermuntern. Die Seine, der kleinste nicht von Frankreichs Strömen, fließt stolz in ihrem Bett und umgreift dabei, von Osten sich nahend, mit ihren zwei Armen das Haupt, das Herz, den Kern der Stadt so, daß sie eine Insel bildet. Links und rechts erstrecken sich zwei Vorstädte, deren kleinste geeignet wäre, jeden vollstädtischen Konkurrenten neidisch zu machen. Von den beiden Vorstädten aus ermöglichen zwei steinerne Brücken den Zugang zur Insel, die beide ihren Namen von ihrer Größe her tragen. Denn die, welche sich nach Westen und zum englischen Meer hin erstreckt, wurde "grand pont" genannt, die ihr entgegengesetzte aber, die in Richtung der Loire führt, ''petit pont". Am grand pont herrscht eine rege Geschäftigkeit. Die Kauflustigen drängen sich, das Geld rollt, es herrscht ein Gewimmel, ein atemberaubendes Gedränge, ein Uberfluß von Schiffen, Reichtümern und Waren, oder, wenn Du willst, ein Gewimmel von Schiffen, ein atemberaubendes Gedränge von Reichtümern und ein Uberfluß von Waren. Dieser Ort hat nicht seinesgleichen. Der petit pont aber ist der Stammplatz der Dialektiker (logicis dedicatus est), die entweder schnell vorübergehen (aut praetereuntibus) oder gemessenen Schrittes einherschreiten42 (aut spatiantibus) oder ihre Streitgespräche führen (aut disputantibus). Auf der einen Seite der Insel ragt das Palais Royal zu eindrucksvoller Höhe empor und reckt sich dabei den beiden Seiten der Stadt gebieterisch entgegen. Dieser Eindruck beruht jedoch weniger auf der gewiß bewundernswerten baulichen Anlage des Gebäudes als auf dem Herrschaftsanspruch, den es repräsentiert."

Hier flicht der Autor in seinen Brief sechs Zeilen eines Gedichtes ein, in welchem das Palais Royal als Zentrum der Macht Frankreichs gefeiert wird, um dann fortzufahren:

42 Ich lasse mich verleiten, auch die beiden ersten Partizipien auf die Logiker zu beziehen und mit "spatiari" das gemessene Fortschreiten der Deduktion und mit ''praeterire" das schnelle

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"Auf dieser Insel hat schon von Alters her die Liebe zur Weisheit (filosofia) ihren Königsthron aufgerichtet. Als einzige mit nur einem Gefolgsmann zufrieden, nämlich dem Streben nach Erkenntnis (sola solo comite contenta studio), und im Besitz einer Burg, die als Wohnstatt des unsterblichen Lichtes die Zeiten überdauert, setzt sie ihren siegreichen Fuß auf den welk gewordenen Blütenflor einer Welt, die sich anschickt, zu altem. Sieben Schwestern haben auf dieser Insel eine dauernde Wohnung genommen, die sieben freien Künste 1 nämlich, und, eingeleitet durch rhetorische Fanfarenstöße (intonante eloquentiae thuba42a), hält man Vorlesungen im kanonischen und römischen Recht. Reich strömt hier die Quelle der Theologie (doctrinae salutaris) und teilt das Verständnis der hl. Schrift (sacrae paginae spiritalem intellectum), indem sie gewissermaßen drei Bäche klarsten Wassers aus sich entspringen läßt, welche den geistigen Wiesen ihr Naß spenden, in den historischen, den allegorischen und den moralischen. Lieber Freund! Ich umarme Dich in aufrichtiger Anhänglichkeit und bitte Dich inständig: Entsage dem Vergnügen, das die Welt Dir bietet, und den Verlockungen eines sorgenfreien Lebens, die Dich zurückhalten! Und wenn es schwer ist, sich von ihnen freizumachen, dann zerreiße lieber heute als morgen die Bande, die Dich halten. Eile zu mir, erstens, weil ich Dich liebe, und zweitens wegen der Berühmtheit des Ortes, um Dir anzueignen das Wissen von den göttlichen und menschlichen Dingen, die Bekanntschaft vornehmer Leute, die Gunst brauchbarer Männer und die Freundschaft von vielen."

Die örtlichkeit, von der in diesem Brief die Rede ist, ist noch nicht der Dunstkreis jenes später berühmten Quartier Latin, und die· Einrichtungen und Menschen, von denen wir hier erfahren, bilden noch nicht jene "Gemeinschaft der zu Paris Lehrenden und Lernenden" 43 , von deren theo-

Hinwegeilen über problematische Voraussetzungen angedeutet zu sehen. Wer dem nicht folgen will, wird mit Leclercq (sp. 1950 des in Anm. 40 zitierten Artikels) die Stelle so auffassen: (pons autem parvus dedicatus est) ... "des passants, des promeneurs, des etudiants". 42a Eine lebendige Darstellung des Gemeinten vermittelt Giraldus Cambrensis, De rebus a se gestis, lib. 2, c. l / 2; (opera, ed. Brewer, t. l, London 1861,p. 45-47). 43 Diese Bezeichnung für das, was wir heute die Universität Paris nennen, taucht zum ersten Mal in einer Urkunde aus dem Jahr 1221 auf, die Denifle, Titel wie in Anm. 40, pars prima, nr. 42 bietet. Bereits in einer Urkunde des Jahres 1205 (ebd. nr. 3) ist aber

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logischer Fakultät Thomas mehr als ein halbes Jahrhundert später unter recht widrigen Umständen zum Professor (magister) der Theologie promoviert werden sollte, um bald darauf nach damaligem akademischen Brauch44 neben seinen Vorlesungen jene öffentlichen Disputationen zu beginnen, von denen uns eine oder ein Teil einer solchen in unserer Quaestio de magistro in ausgearbeiteter Form vorliegt. Das Milieu, in das uns dieser Brief führt, ist vielmehr das der seit dem frühen 12. Jahrhundert an Notre-Dame 45 , an St. Victor, an St. Germain-des-Pres (der späteren Maurinerabtei) und an anderen kirchlichen Einrichtungen entstandenen, städtischen oder der Stadt zugeordneten Kathedral-, Kloster- und Stiftschulen, aber auch das der öffentlichen Schullokale, mit denen einzelne berühmte Magister wie Adam von Petit-Pont schon im 12. Jahrhundert den Ruhm der Hauptstadt des Frankenreiches gegen den anderer berühmter und teilweise älterer Schulstädte wie Chartres und Laon verbreitet hatten. Die Inhalte, von denen wir erfahren, sind diejenigen, die an diesen Schulen

von den "universi magistri et scolares Parisienses" die Rede. Dieselbe Urkunde zeigt an anderer Stelle, daß das Abstraktum "Universitas" hier schlicht die "universi magistri et scolares" meint. 4 4 Genaueres mit besonderer Rücksicht auf die "Quaestiones de veritate" jetzt bei J. Weisheipl, Friar Thomas d' Aquino: His life, thought and works, New York 1974, 123-128 (= ders„ Thomas von Aquin: Sein Leben undseineTheologie,Graz, Wien 1980, 119-124); vgl. ferner den editorischen Bericht meines Kollegen J. H. J. Schneider, unten XLVIII sq. Das Wesentliche zu den Institutionen und Formen philosophischer Lehre im Mittelalter demnächst kurz bei G. Schrimpf, Artikel "Philosophie, Institutionelle Formen der Philosophie im Mittelalter, in: Hist. Wb. der Philosophie, Band 7, Basel 1988. 45 Vgl. A. L. Gabriel, Les ecoles de la Cathedrale de Notre-Dame et Je commencement de l'universite de Paris, in: Rev. d'hist. de l'eglise de France, 50 (1964), 73-99; reiche Literaturangaben zum folgenden überhaupt bei G. Schrimpf, Titel wie in Anm. 44. Das früheste mir bekannte Zeugnis für die Attraktivität der Stadt Paris als Schulort findet sich, wenn wir unserem Zeugen trauen dürfen, in der Vita des Robert von Arb risse! (vita Baldrici, PL 162, 104 7 A/ B), der unter Gregor VII. (1073-1085) in Paris studierte.

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gelehrt wurden, und das Konzept, das dem theologischphilosophischen Teil dieser Inhalte seine Einheit gibt, ist jener Begriff der christlichen Weisheit, der für die mittelalterliche Theologie vor Thomas von Aquin kennzeichnend war. 46 Dennoch ist der Brief in mehrfacher Hinsicht für unsere Zwecke lehrreich. Er führt uns nämlich in einem Zusammenhang zu den drei wichtigsten Wurzeln der städtischen Kultur des Mittelalters und zeigt uns deren Zusammenwirken gerade zu der Zeit, als die erfolgreichste Form menschlichen Zusammenlebens im Mittelalter, eben die Stadt, ihren eigentlichen Siegeszug begann. Die drei Wurzeln sind die wirtschaftliche Macht, die politische Macht und die Schule. Das Mittelalter ist eine Kultur der Schule, aber es ist bezeichnend, daß die Stadt in dem Augenblick ihren Siegeszug als Lebensort antrat, in dem es ihr gelang, die drei wichtigsten Einrichtungen des profanen Lebens auf Dauer an sich zu binden, welche die genannten Wurzeln ausmachen. In diesem Brief erscheinen die wirtschaftliche und die politische Bedeutung der Stadt Paris nun gar als Additamente zu ihrer Ausstrahlung als Schulort. Es ist sicher nicht erstaunlich, daß es von der Mitte des 12. Jahrhunderts an gerechnet gut hundert Jahre dauerte, bis man in der qualifizierten Weise, wie das bei Thomas der Fall ist, darauf reflektierte, was denn nun eigentlich in der Vgl G. Wieland, Weisheit, Dialektik, Wissenschaft; in: W. Kluxen (Hrsg.), Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch, Freiburg 1975, 204-211; ferner dens., Rationalität und Verinnerlichung, Aspekte der geistigen Physiognomie des 12. Jahrhunderts; in: J. P. Beckmann u.a. (Hrsg.), Philosophie im Mittelalter, Hamburg 1987, 61-79; sowie W. Kluxen, Thomas von Aquin und die Philosophie, oben an erster Stelle angegebener Sammelband, 212-244; Ein klassischer Text für dieses Konzept christlicher Weisheit ist Bonaventuras "De reductione artium ad theologiam". Der bereits erwähnte Giraldus Cambrensis hat dieses Konzept, einem alten Bild folgend, welches zuletzt durch Prov. 9, 1 angeregt ist, so beschrieben: " ... seque Parisiis studiis ... applicare curavit, quatenus super artium et litteraturae fundamentum legum et canonum parietes in altum erigere et sacrum scripturae theologicae tectum a superiori concludere, et sie aedificium triplici structura connexum firmissimis stabilire iuncturis praevaleret." (Stelle wie in Anm. 42a, hier p. 45) 46

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Schule geschieht. Wenn aber Thomas von Aquin nicht nur als einziger uns bekannter mittelalterlicher Autor die anstehenden Fagen in einer eigenen Qua,estio de magistro zusammenfaßte, 47 sondern offenbar auch der einzige ist, von dem wir eine Definition der Schule, bzw. der Universitas Thomas ist allerdings keineswegs der einzige, der diesen Gegenstand so ausführlich behandelt hat. Die "Quaestio disputata de seien tia et scibili in generali ", welche sich als 1. Artikel in den von den späteren Herausgebern so genannten "Summae quaestionum ordinariarum" des Heinrich von Gent findet, greift in den Fragen 5-9 genau die gleichen Themen auf, die Thomas in der "Quaestio de magistro" behandelt. (vgl. Henry of Gent, Summae quaestionum ordinariarum, Reprint of the 1520 Edition, St. Bonaventure 1953, Bd l, foL 14v-19v) Es ist für uns schwer, zu beurteilen, ob Heinrich von Gent auf Thomas oder auf eine Tradition reagiert, in der auch Thomas steht. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, im Einzelnen die Fäden der Diskussion zurückzuverfolgen, die Thomas aufgegriffen hat. So findet sich schon bei Philipp dem Kanzler (gest. 1236), der mit Thomas verglichen allerdings durchaus augustinisch denkt, der Hinweis, daß der menschliche Lehrer ebenso wie ein Engel den Verstand eines anderen nur konfortativ erleuchten könne: "Docere enim dicuntur removendo impedimenta et praeparando intellectum ad recipiendum divinae lucis infusionem". (Summa de bono, de bono gratiae in homine, pars 1, q. 1, lin. 88ff. Wicki; die Stelle ist aus der handschriftlichen Überlieferung schon zitiert bei B. Decker: Die Entwicklung der Lehre von der prophetischen Offenbarung von W. von Auxerre bis zu Thomas von Aquin, Breslau 1940, 70, Anm. 1 7) Natürlich kann man mit Thomas annehmen, daß weder ein Engel noch ein menschlicher Lehrer den Verstand des Menschen im eigentlichen Sinn erleuchten kann, und zugleich gegen ihn überzeugt sein, genau das tue in jedem unserer Erkenntnisakte Gott. (So Matthaeus ab Aquasparta, quaest. disp. de providentia, q. 6 = p. 378, 24-381, 6 Ga!) Ferner beschäftigt sich - um ein weiteres Beispiel aufzugreifen - schon Albert der Große in seinem kurz vor Thomas' "Quaestiones de veritate" geschriebenem "De anima" Kommentar (ed Colon. VII, 192, 58-74) mit der von Thomas Ver. 11, 1 behandelten Frage, inwieweit des Wissen des Schülers dasselbe wie dasjenige des Lehrers ist, und löst diese Frage mit dem Hinweis, die Beziehung auf den gleichen Gegenstand begründe die Selbigkeit des Wissens. (zitiert bei Quint, Titel wie in Anm. 31, a.a.O.) Thomas wie Albert mußten sich in dieser Frage mit Siger von Brabant, einem der führenden Köpfe der Artistenfakultät auseinandersetzen. (vgl. Denifle, Titel wie in Anm. 40, pars prima, nr. 473, These 11 7) Im übrigen.genügt es, Bonaventuras Predigten zum Thema "Christus unus omnium 47

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magistrorum et scholarium besitzen 48 , dann nährt das den Verdacht, daß es für Thomas bei aller schon von seinem ältesten Biographen gerühmten Fähigkeit seines Geistes, Neues als bedeutsam zu erkennen, einen zusätzlichen Grund gab, sich gerade mit dieser Frage so zu beschäftigen. Wie mir scheint, gab es diesen Grund, und er liegt darin, daß sich für Thomas in der Frage des Lehrens wie in einem Brennspiegel einige Anliegen und Einsichten verdeutlichen ließen, die er seinen wichtigsten Anliegen und Einsichten zugerechnet haben dürfte. Es sei abschließend versucht, in zwei Abschnitten darauf näher einzugehen. IV. Um die verschiedenen mittelalterlichen Auffassungen vom menschlichen Erkennen besser zu verstehen, ist es sehr nützlich, sich mit einigen Annahmen zu beschäftigen, die, indem sie gemeinsam vorausgesetzt oder bestritten wurden, eine Art gemeinsamer Orientierungslinie aller dieser Auffassungen angeben. Eine der vornehmsten gemeinsamen Voraussetzungen liegt in der Annahme eines sehr einfachen Unterschiedes 49 : in der Annahme, daß unser Erkennen über sehr verschiedene Möglichkeiten verfügt, je nachdem ob es Artefakten oder Naturdingen gegenübersteht, und daß diese Differenz der Erkenntnissituation eine Grundbedingung menschlichen Erkennens ist. Die Eigenschaft, die nun Artefakte zu einer besonderen Klasse von Erkenntnisobjekten macht, ist die, daß sie ebenso wie geistige Konstrukte, aber in reduzierterer Weise, nämlich nur hinsichtlich einer ihrer Dimensionen, ihre Entstehung ganz und gar dem menschlichen Geist verdanken. Was der Geist hervorgebracht hat, kann er hinsichtlich der Dirnenmagister" (Werke V, 567ff. /IX, 44lff.) zu lesen, um zu begreifen, daß Thomas eine Auseinandersetzung an mehreren Fronten zu führen hatte. 48 Die Gemeinschaft des Studiums ist eine zeitbegrenzte Zweckgemeinschaft, die auf Akte des Lehrens und Lernens hingeordnet ist. (contra impugn. Dei cultum et rel., pars 1, cap. 2, nr. 55/57 Spiazzi). 49 Zum folgenden vgL Ver. 1, 2c; 1, 8c; 2, 5c; 2, 8c und viele andere Stellen.

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sionen, in denen er es hervorgebracht hat, durch und durch erkennen. So kann der Künstler - und die Kunst ist mittelalterlich immer die entwerfende, nicht die konkret ausführende Betätigung eines Könnens - die Truhe (arca), die er entworfen, nicht notwendig aber selbst gezimmert hat, durch und durch erkennen. Aber diese Penetranz des Erkennens geht natürlich nur bis zu den Merkmalen, die auch im Vorentwurf schon begegnen. Die materielle Struktur, beispielsweise der Truhe, in ihrer konkreten Dimension gehört nicht dazu. Sie ist auch nicht erzeugt, sondern vorgefunden. Es ist einsichtig, daß sich diese Beschränkung nun im Fall der Naturdinge schon zu einer massiven Behinderung entwickelt. Nun ist nicht allein die konkrete materielle Struktur, es ist auch die intelligible Struktur nicht selbsterzeugt. Sie muß in einem mühsamen, und schon von Seiten der Sinne möglichen Einschränkungen unterworfenen Vorgang abgehoben, losgelöst werden, und es steht zu erwarten, daß dabei der Anzahl nach stets mehr unterscheidende Merkmale übersehen als vergegenwärtigt werden. Diese Situation hat die mittelalterliche Erkenntnislehre zu der beliebten Resignationsformel veranlaßt, der Versuch, eine einzige Mücke zu erkennen, reiche aus, um die Grenzen menschlicher Erkenntnis ahnen zu lassen. so Demgegenüber sehen nun die mittelalterlichen Denker, und auch das gehört noch zu den von ihnen gemeinsam bejahten Voraussetzungen, Gott in einer wesentlich vorteilhafteren Situation. Der Penetranz seines Erkennens ist keine Grenze gesetzt, denn es gibt keine Dimension der Wirklichkeit, hinsichtlich derer diese nicht aus ihm hervorgeht. Er ist in der Erkenntnissituation des Künstlers, der auch die konkrete materielle Dimension seines Kunstwerkes erkennend zu durchdringen vermag. Es versteht sich, daß sein Erkennen auch kein passives Moment enthält, da es ja alles quasi im Entwurf erkennt. Eher schon muß man erklären, auf welche Weise sein Erkennen ebenso wie seine Fürsorge so cognitio nostra est adeo debilis, quod nullus philosophus potuit unquam perfecte investigare naturam unius muscae: Thomas, in symbolum Apostolorum, prooem. nr. 864 Spiazzi.

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auch das einzelne erreicht, wo doch der Entwurf tendenziell immer die Struktur des Allgemeinen hat. Leider hat der Mensch nun, und das ist die von allen Denkern gemeinsam bestrittene Voraussetzung, nicht die Möglichkeit, in dieses entwurfbezogene, von Ewigkeit her alles gegenwärtig habende Erkennen Gottes einfach einzutreten. Jedoch meinen einige Denker - und jetzt beginnen sich die Wege zu scheiden - menschliche Erkenntnis könne auf gar keine andere Weise erwirkt werden als dadurch, daß Gott es uns von sich aus doch irgendwie ermögliche, in seine entwurfbezogene Erkenntnis teilhabend einzutreten, etwa dadurch, daß er im einzelnen Erkenntnisakt in uns etwas aufleuchten lasse, in dem wir dann die erkennbare Struktur dessen wiederzuerkennen vermöchten, was uns in der Wirklichkeit begegnet. Der hl. Thomas hat sich nicht davon überzeugen können, daß wir, wenn diese Theorie zuträfe, etwas anderes erkennen könnten als stets neu uns selbst. Wie das Mittelalter den philosophiegeschichtlichen Hintergrund dieser Lehre eingeschätzt hat, sagt uns Meister Eckhart: "Platon sagt und mit ihm Augustinus: Die Seele hat alles Wissen in sich, und alles, was man von außen ausüben mag, das ist nur ein Erwecken des Wissens." 51 Tatsächlich sind viele Augustinusstellen geeignet 52 , die Meinung zu rechtfertigen, Augustin habe einen exemplaristischen Ennatismus gelehrt. Bedeutende Gelehrte, unter ihnen Etienne Gilson 53 , sind aber der Meinung, es sei nicht die Auffassung des hl. Augustinus gewesen, daß Gott unserem Predigt 36, DW 2, 192, 11-193, 1 Quint; vgl. ferner etwa Nikolaus von Kues, Über den Ursprung (de principio), übers. von M. Feig!, Heidelberg, 2. Aufl. 196 7 (= Philosophische Bibliothek 346), nr. 21. Die kritische Erstedition dieses Textes, besorgt durch A. D. Riemann und C. Bormann, ist soeben als Faszikel 2b des Bandes X der Heidelberger Cusanus-Ausgabe erschienen. s2 Vgl. quant. an. 26; 50f. soliloq. 1, 23, 1-6 conf. 10, 11; 18 trin. 12, 15; 24; der im Mittelalter meist zitierte Text ist aber de div. quaest. LXXXIII, quaest, XLVI (De ideis). S3 Vgl. dens., lntroduction a l'etude de Saint Augustin, Paris, 2. Auf. 1943, chap. III, 5e degr., Ja connaissance rationelle, ebd. 88-147 (= ders., Der hl. Augustinus, Hellerau 1933, 124-190). SI

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Geist ihrem Inhalt nach fertige Begriffe einpräge, wohl aber habe er sagen wollen, die Notwendigkeit, welche das Verstandesurteil auszeichne, sei nur erklärbar, wenn man davon ausgehe, daß Gott in jedem Verstandesakt neu unseren Verstand auf eine Ordnung hin hell mache, welche die Ordnung seiner (Gottes) Gedanken sei. Ich denke, daß diese Meinung richtig ist. Aber es ist auch bei einer solchen Deutung Augustins deutlich, wie schwer es unter seinen Voraussetzungen ist, einem menschlichen Lehrer bei unserem Erkennen eine wirklich wichtige Rolle zuzugestehen, und wie verlockend, diese wirklich wichtige Rolle nur einem einzigen zuzugestehen, nämlich Gott. Augustin hat das in immer neuen Ansätzen in seiner eigenen, im Jahr 389 verfaßten Schrift Uber den Lehrer (De magistro) zu zeigen versucht. Man kann alle dort vorgetragenen Argumente gut verstehen, wenn man sich die V oraussetzungen Augustins zu eigen macht, aber man kann sie keinen Augenblick für wirklich überzeugend halten, wenn man in den Bahnen des hl. Thomas denkt. Man gewinnt bei näherem Zusehen den Eindruck, als versuche Thomas, den Namen des Kirchenlehrers nur insoweit mit einem Argument zusammenzubringen, als er diesem Argument gerade noch folgen oder ihm einen guten Sinn geben kann. Für die Zeitgenossen kann jedoch gar kein Zweifel bestanden haben, daß Thomas bereits im ersten Argument des ersten Artikels unseres Textes Augustins Position aufgreift. Dabei ist es gamicht so einfach, die Ausgangsbeobachtungen Augustins nicht in dem Sinn zu deuten, in dem er das tut. Bei Augustin ebenso wie in den im Hintergrund stehenden einschlägigen Texten Platons 54 geht es stets um VgL Platon, Menon Slc-d; 85c-86a; Phaidon 72e-75e; Phaidros 245c-249b; mit dem in diesen Texten behandelten Ursprungsproblem hat sich Aristoteles mehrfach auseinandergesetzt, und zwar in ethischer Hinsicht in der "Nikomachischen Ethik" (Ethica Nie. II, 1), in ontologischer Hinsicht in der "Physik" (Phys. 1, 7ff. /II, 1 ff.) und in der "Metaphysik" (Metaph. 1, 6 /VII, 7 /8 / IX, 6/7) und in erkenntnistheoretischer Hinsicht in den "Zweiten Analytiken" (AnaL post. 1, 1) und in dem Buch "Über die Seele" (De anima II, 5) Diese Texte kannte Thomas sämtlich. Im übrigen 54

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drei Probleme, das Ursprungsproblem, das Geltungsproblem und das Problem der Intersubjektivität. Wie ist es möglich, daß wir in der Lage sind, uns etwa einen Begriff von Gerechtigkeit zu bilden, nicht ohne je die Erfahrung von Gerechtigkeit gemacht zu haben, wohl aber, ohne je die Erfahrung von Gerechtigkeit gemacht zu haben, die wir in diesem Begriff festhalten, und zwar möglicherweise gegen alle unsere bisherigen Erfahrungen mit der Gerechtigkeit, gewiß aber tiefer und geschlossener als in deren Beispiel? Wie ist es möglich, daß wir etwa einem konkreten Schluß unsere Zustimmung nicht meinen versagen zu können, obwohl uns das logische Gesetz, auf dem der zwingende Charakter dieses Schlusses beruht, niemals in der Erfahrung begegnet ist? Wie ist es möglich, daß Menschen ganz verschiedener Zeiten, Orte und Lebenserfahrungen sich ein und denselben Begriff der Gerechtigkeit gebildet haben? Thomas hat diese Fragen durchaus ernst genommen. Er hat darüber hinaus erkannt, daß sich alle drei Probleme lösen lassen, wenn es gelingt, eines zu lösen, nämlich das Ursprungsproblem, und er hat, angeleitet durch Aristoteles, gesehen, daß sich dieses im Blick auf zwei Lebensvollzüge in gleicher Weise stellt: im Blick auf das wahre Erkennen und im Blick auf das gute Handeln. 55 Die Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, wird Thomas durch einen völlig anderen erkenntnistheoretischen Ansatz scheint keiner seiner Zeitgenossen sich die Zuspitzungen der Augustinischen Auffassung der Sprache zu eigen gemacht und Argumente wie die' von Thomas Ver. 11, 1 arg. 2/3 vorgetragenen ernsthaft favorisiert zu haben. Es wäre sonst merkwürdig, wenn viele Autoren in der Prophetielehre ohne Zögern Texte zitieren, die den von Thomas im Sed contra des 1. Artikels referierten an die Seite zu stellen wären, wie die Glosse zu 1 Kor. 14, 2: "lingua vero est quaelibet signorum prolatio, cui intellectus accedit, qui est mentis vel revelatio fit, vel agnitio, vel prophetia vel doctrina." 55 VgL Ver. 11, 1 c; zu einer ähnlich ausführlichen Auseinandersetzung holt Thomas Ver. 10, 6c aus. Die Konsequenzen der in beiden Texten behandelten Positionen (dazu Näheres im Kommentar) für die Frage der Einheit des Menschen und seiner Selbstmächtigkeit zur Erkenntnis werden im dritten Kapitel der Schrift "De unitate intellectus", in S.c.g. II, 68ff. sowie S.th. I, 76 behandelt.

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eröffnet. 56 Erkenntnis ist eine Leistung des Verstandes, und an dieser Leistung ist der Verstand jedesmal mit zwei verschiedenen Vermögen beteiligt. 57 Thomas nennt diese Vermögen, die wohlgemerkt Vermögen ein und desselben Verstandes sind, den "tätigen Verstand" (intellectus agens) und den "möglichen", den "aufnehmenden" Verstand (intellectus possibilis). Kein Ding befindet sich so im Verstand wie in der Wirklichkeit. Der Verstand übernimmt nicht die materielle Kondition, sondern nur die Struktur, mittelalterlich gesprochen die "Form" (species), das "Ähnlichkeitsbild" (similitudo) des Dinges. Er sieht auch von der materiellen Kondition ab, anders als die Vorstellungskraft (imaginatio ), die das einzelne in seinen konkreten Bezügen aus der Erinnerung wiederentstehen lassen kann. Der Verstand geht stets auf das Allgemeine, sei es, daß er dieses von den Dingen im Allgemeinbegriff (species intelligibilis) abhebt, sei es, daß er dieses im Dingbegriff (intentio intellecta) auf eben die Dinge zurückbezieht, von denen er es zuvor abgehoben hat, um so diese aus der Verschiedenheit ihrer allgemeinen Bezüge wieder zu einer Einheit zurückzuführen. Das Allgemeine aber gewinnt er als "tätiger Verstand" nicht durch eine Abstraktionsleistung im modernen Sinne, sondern kraft eines ursprünglichen Vermögens58 , die Dinge auf das sich in ihnen zeigende Allgemeine hin zu erhellen. Dieses Allgemeine ist entweder die die Dinge maßgeblich bestimmende Struktur, mittelalterlich gesprochen ihr "Wesen", ihre "Natur", oder jede Eigentümlichkeit, in welcher der fragliche Sachverhalt mit mindestens einem anderen übereinkommt. Für beide Arten der 56 Zum folgenden vgl. S.th. I, 85 und S.c.g. I, 53 (dazu Ver. 11, ad 4) sowie L. Oeing-Hanhoff, Artikel "Abstraktion", in: Hist. Wb. der Philos„ Bd. 1, Basel 19 71, Sp. 4 7ff. 57 in omni enim actu, quo homo intellegit, concurrit operatio intellectus agentis et intellectus possibilis: Ver. 10, 9 ad 11. 58 Die Aristotelischen Wurzeln dieser Auffassung behandelt mit vorzüglicher Klarheit mein Freund H. Seid! in seiner Habilitationsschrift "Der Begriff des voV