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German Pages 424 [432] Year 1980
Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch Leinen, 412 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
Dieser Band enthält eine Sammlung von 34 wertvollen Beiträgen über das Kloster Lorsch. In ihr sind die seit 1964 bei den eindrucksvollen Gedenkfeiern in Lorsch gehaltenen Vorträge und in verschiede nen Schriften veröffentlichten Abhand lungen vereinigt. Einige bereits früher vor allem in den Geschichtsblättern für den Kreis Bergstraße erschienenen Auf sätze wurden von den Autoren überar beitet oder ergänzt. Mit dieser Sammlung werden dem Wis senschaftler wie dem Freund der Hei matgeschichte neue Erkenntnisse der Lorsch-Forschung und wertvolle Ein zeldarstellungen zur Abteigeschichte dargeboten. Zugleich ist sie Festgabe zum 80. Geburtstag des langjährigen verdienten Klosterführers und Überset zers des Lorscher Codex Karl Josef Minst.
Umschlaggestaltung: Heinz Soell, Bensheim-Schönberg
GESCHICHTSBLÄTTER KREIS BERGSTRASSE SONDERBAND 4
Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch
Zweite, verbesserte Auflage
Lorsch 1980
Herausgegeben vom Heimat- und Kulturverein Lorsch in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft der Geschichts- und Heimatvereine im Kreis Bergstraße Sonderband 4 in der Reihe der Geschichtsblätter für den Kreis Bergstraße Die erste Auflage ist 1978 erschienen mit Unterstützung der Stadt Lorsch, des Kreises Bergstraße, des Regierungspräsidenten in Darmstadt und der Bezirkssparkasse Bensheim. Für die zweite, verbesserte Auflage, erschienen 1980, gaben. die Stadt Lorsch und der Kreis Bergstraße wiederum einen Zuschuß. Schriftleitung: Paul Schnitzer Satz und Druck: Buchdruckerei Otto KG, 6148 Heppenheim a. d. Bergstr. Einband: Verlagsbuchbinderei Georg Kränk), 6148 Heppenheim a. d. Bergstr. Vertrieb: Verlag Laurissa, 6143 Lorsch, Heinrichstraße 49-51
INHALT Friedrich Knöpp: Vorwort.........................................
11
Hans Maier: Ein großes Jenseits ...............................................
13
Heinrich Büttner t: Ein Gedenken zur Gründung des Klosters Lorsch vor 1200 Jahren . . . . . . . .
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Hans-Peter Wehlt: 1200 Jahre Reichsabtei Lorsch ......................................
43
Josef Fleckenstein: Erinnerung an Karl den Großen .....................................
63
Roswitha Zeilinger-Büchler: Kunstgeschichtliche Betrachtungen zur Datierung der Lorscher Königshalle ................ . . . . ..... . . ............ ... .. .
79
Alois Fuchs t: Die Königshalle des Klosters Lorsch . . .. ............. ........ . . .. ....
93
Paul Schnitzer: Für die Rettung der Königshalle .................. . . . . ... . .. . . .. . . ..
99
Heinz Biehn t - Marta Heise: Restaurierungen in der karolingischen Königshalle ... ...... . . . . . . . . . . .. 103 Eberhard Worsch: Die Restaurierung der Natursteinteile der Lorscher Königshalle .... ...... 111 Nikolaus Derstroff: Die Verehrung Lorscher Heiliger einst und jetzt .................. ..... 115 Hans-Peter Wehlt: Kaiser und Könige in der Reichsabtei Lorsch ....................... . . . 123 Adalbert Erler: Karl der Große und Lorsch .............. . .... . .. ................ .. 1.2 7 Karl Josef Minst: Die Beisetzungen in der Königsgruft . . . . . . . .......................... 135 Theodor Schieffer: Zum 1100. Todestag König Ludwigs des Deutschen .................. .. 145 Eduard Beriet: Der Sarkophag Ludwigs des Deutschen . . ....... . . ................... 165 Hans-Peter Wehlt: Das Aufgebot der Lorsch er Abtei für das Reichsheer ............. . . . . . . . 173 Karl Josef Minst: Das Mutterkloster Altenmünster. .. . . ............... . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5
Paul Schnitzer: Kloster Hagen am Seehof .... ....... .. ... .. .. ... ... .. ..... . ... ..... 183 Wolfgang von Moers-Messmer: Die Lorscher Filialklöster auf dem Heiligenberg ... ...... ....... .. .... . 193 Albert Ohlmeyer: Kloster Neuburg . .. . . .. ... ..... . . . . . .. ..... .. .... ....... . ... .. ... 205 Heinrich Büttner t: Lorsch und St.Gallen ..... .. .. . .. ..... ............... ... ... ..... .. 213 Friedrich Knöpp: Die Bibliothek der Reichsabtei Lorsch .. ... .. .. ... ... .. .. .... ....... . 227 Willy Lizalek: Heilkundliche Rezepte aus der Lorscher Klosterbibliothek ......... .. .. . 253 Wilhelm Höck: Zur Wiederherstellung des Lorscher Evangeliars ............ ... ... .. ... 265 Heinrich Fichtenau: Abt Richbod und die Annales Laureshamenses . .... ...... . ..... ..... .. 277 Kassius Hallinger: Erzbischof Willigis von Mainz und die Benediktiner von Lorsch .......... 305 Karl Josef Minst: Herzog Tassilo in Lorsch ..... .............. . ... ... ..... ........... Philipp Anton Brück: Die letzten Lorscher Pröpste .... ... .. .. ... ... ... ... .. ...... ... .. .. . Rudolf Kunz - Paul Schnitzer: Die Prämonstratenserpröpste des Klosters Lorsch . ... .. ........ ... .. . . Hans \V�rle: Die Vögte der Reichsabtei Lorsch im 11.und 12.Jahrhundert . .. ...... .. . Alfons Schäfer t: Die Grafen von Hohenberg im Pfinzgau - Vögte der Reichsabtei Lorsch - Gründer von Gottesaue ... .. .... ..... ........ .. . Karl Josef Minst: Die rätselhafte südöstliche Halle im Kloster Lorsch ............ ... .. . .. . Karl Josef Minst: Merians Kupferstich vom „Closter Lorsch" ... ..... .. ....... ... ...... Friedrich Knöpp: Professor Dr.Friedrich Behn zum Gedächtnis ... .... ..... ...... .. ... . . Heinrich Meyer zu Ermgassen: Hertwich, ein Eberbacher Mönch als Abt in Lorsch . . . .. .. ....... . ..... Zeittafel, Literatur, Bildnachweis, Ergänzungen und Korrekturen, Nachwort ........................................... 6
313 333 335 351 359 369 391 403 407 419
AUTOREN Dr. Eduard Beriet, Schulrat a. D. Dr. Heinz Biehn t, Regierungsdirektor a. D. DDr. Philipp Anton Brück, Universitätsprofessor Dr. Heinrich Büttner t, Universitätsprofessor Nikolaus Derstroff, Pfarrer Dr. Adalbert Erler, Universitätsprofessor Dr. Heinrich Fichtenau, Universitätsprofessor Dr. Josef Fleckenstein, Universitätsprofessor Dr. Alois Fuchs t, Prälat, Professor Dr. Kassius Hallinger O.S.B., Hochschulprofessor Marta Heise, Restauratorin Dr. Wilhelm Höck Dr. Friedrich Knöpp, Archivdirektor a. D. Rudolf Kunz, Realschullehrer a. D. Dr. Willy Lizalck, Studiendirektor a. D. Dr. Hans Maier, Professor, Staatsminister Dr. Heinrich Meyer zu Ermgassen, Akad. Rat Karl Josef Minst, Klosterführer a. D. Dr. Dr. Wolfgang von Moers-Messmer Dr. Albert Ohlmeyer 0.S.B., Seniorabt Dr. Alfons Schäfer t, Staatsarchivdirektor Dr. Theodor Schieffer, Universitätsprofessor Paul Schnitzer, Oberstudienrat Dr. Hans-Peter Wehlt, Oberstaatsarchivrat Dr. Hans Werle, Universitätsprofessor Eberhard Worsch, Restaurator Dr. Roswitha Zeilinger-Büchler
Alzey Bad Homburg Mainz Bad Godesberg Ingelheim Frankfurt Wien Göttingen Paderborn Rom Planegg Stuttgart Darmstadt Jugenheim Heppenheim München Marburg Lorsch· Eppelheim BJdcn-Baden 1--- .1rlsruhe ll.1J Godesberg Lorsch Detmold Mainz Wolbeck Bensheim
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KARL JOSEF MINST zur Vollendung des 80. Lebensjahres am 26. April 1978
Vlro et CoO I Cis pretlosl transLatlone et lterata portl CVs reglae PraeÜ I Catlone gratla Vere Dlgno Dem Manne, der des Dankes wahrhaft würdig ist durch die Übersetzung des wertvollen Codex wie auch durch die oft wiederholte rühmende Erklärung der Königshalle
Diese von Abt Dr. Albert Ohlmeyer verfaßte Widmung stellt ein CHRONOGRAMM dar: Alle in dem lateinischen Text vorkommenden Buchstaben mit Zahlenwert, durch Großdruck hervorgehoben, ergeben in ihrer Summe die Jahreszahl 1978
Wappen der Abtei Lorsch
VORWORT
Geschichtliche Darstellungen von Abteien gehören zu den Seltenheiten, wenn man nur an die wissenschaftlichen Ranges denkt. Selbst die neuesten zu Jubiläen erschienenen Werke - die Reichenau-Festschrift von 1925 ausgenommen - sind in aller Regel lediglich eine Vereinigung von Einzel aufsätzen, ohne daß sie das Bild der Abtei in ihrer Allseitigkeit darzubie ten vermöchten. Dazu kommt ein Weiteres: Die historische Forschung hat in den letzten Jahrzehnten eine solche Verfeinerung ihrer Methoden erreicht, daß die Vielfalt der geschichtlichen Probleme geradezu nach Ein zelbehandlung verlangt. Der Fortschritt d.er Wissenschaft beruht auf der Einzeluntersuchung. So ist es einsichtig, daß die Ergebnisse solcher Forschungsarbeit, was die Veröffentlichungsstelle angeht, so weit zerstreut und dem einzelnen For scher nicht so leicht greifbar sind. Dem Wissenschaftler wie dem begei sterten Freund der Heimatgeschichte wird es in gleicher Weise fast stets unmöglich sein, sich diese - manchmal vergriffenen - Aufsätze in Dauer besitz zu beschaffen, zumal es gar häufig nur um Aufsatzteile geht, welche die Spezialprobleme der Abtei zum Gegenstand haben. Gerade aber das an so versteckter Stelle erschienene Schrifttum fördert fast ausnahmslos die wissenschaftliche Erkenntnis um so nachhaltiger. Es ist daher ein begrüßenswerter Gedanke gewesen, eine Sammlung wert voller Beiträge über das Kloster Lorsch, mit zahlreichen Abbildungen versehen, vorzulegen. In ihr wurden die seit 1964 bei den eindrucksvollen Gedenkfeiern gehaltenen Vorträge und in verschiedenen Schriften veröf fentlichten Abhandlungen vereinigt. Einige bereits früher erschienene Aufsätze wurden von den Autoren überarbeitet oder ergänzt. Wenn dieser Strauß von Beiträgen zum 80. Geburtstag des durch Jahr zente in Treue dem bedeutenden Ort deutscher und rheinischer Ge schichte verbundenen ehemaligen Klosterführers Karl Josef Minst auf den Gabentisch gelegt wird, ist das ein Zeichen des Dankes für den Mann, der so lange der ehrwürdigen Stätte des einstigen Nazariusklosters gedient hat. Im April 1978
Friedrich Knöpp
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Hans Maier
Ein großes Jenseits Festansprache am 31. August 1974 zur 1200-Jahrfeier der Weihe der Abteikirche auf dem Klostergelände!IWir haben uns zusammengefunden, das 1200jährige Lorsch zu feiern. Mit der Pfarrei St. Nazarius im Bund sind die Pfarreien der Dekanate Bensheim und Heppenheim, die Diözesen Mainz, Fulda, Trier, Regensburg, Passau und Metz, das Kloster Neuburg, das katholische Deutschland - und Frankreich. Denn Lorsch ist ein großer Name der europäischen kirchlichen und politischen Geschichte. Regalis locus et thronus imperialis, einen königlichen Ort und Thronsitz der Kaiser - so nennt es überschwenglisch der Chronist. Der eben verlesene Text aus dem Codex laureshamensis erinnert uns daran, daß die Weihe der Basilika an jenem Septembertag des Jahres 774 nicht nur ein kirch lichec Akt war, sondern ein politischer, ein staatsrechtlicher Vorgang - wie denn Religion und Politik in dieser Zeit noch nicht zu scheiden sind. Ein denkwürdiger Moment: Der König der Franken und Langobarden nimmt Anteil an der Weihe einer Basilika im rechtsrheinischen Zentrum seines Rei ches, er zeichnet sie aus durch eine Schenkung, er nennt Lorsch s e i n Kloster und übereignet ihm Ländereien, Wohnhäuser, Bauern, Hörige, Weinberge, Wälder, ja ein Fischrecht im Rhein. Das geschieht zum Wohl der Kirche. Aber auch das eigene Seelenheil wird bedacht und das von Frau und Kindern. Fa milienpolitik, Territorialpolitik, Reichs- und Kirchenpolitik klingen zusam men. Die Weihe einer Kirche - ein liturgischer Vorgang - wird zum Staats akt. - Was war Lorsch, daß es solchermaßen ins Zentrum unserer frühen Geschichte rückte als Reichsabtei und kultureller Mittelpunkt einer weiten Region? Und was bedeutet seine Geschichte für uns heute?
1. Gründung Der Zeitgenosse kennt vielleicht den Lorscher Bienensegen. Kennt er auch Lorsch? Eine kleine Stadt in Hessen nahe der Bergstraße, der römischen Strata Montana, die östlich vorbeiläuft; im Westen die alte Straße nach Gernsheim und Mainz, die heutige Autobahnstrecke; nach Osten führt, erinnerungs schwer, die Siegfriedstraße, weiter nördlich die Nibelungenstraße. Wir sind im oberen Rheingau. Worms ist nahe. Hier suchte Karl Simrock 1851 den Ort, wo der Nibelungenhort in den Rhein versenkt wurde - vergeblich, denn der '' Auszugsweise wurde dieser Vortrag veröffentlicht in der .Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 12. Oktober 1974, Nr. 237, unter der Überschrift: .Ein großes Jen seits. Das Kloster Lorsch. Zu seiner Bedeutung und Wirkung." 13
Strom hatte längst die Dörfer weggespült, die das mythenhafte Lied als Steck brief nennt. Noch erinnern Namen wie Guntersblum und Hagenwerth an die Topographie der Nibelungensage. Der Altrhein greift weit ins Land hinein. Da ist das Ried, von Elisaberh Langgässer beschrieben, die Vögel und Pflan zen des Altwassers, die Büsche mit Hexenzwirn und Baumrebe, darüber Pap peln, Weiden und der Wormser Dom - eine Landschaft von „rauschhafter Klarheit". Lorsch hängt über die Weschnitz, die früher wasserreicher war als heute, mit dem Rheinsystem zusammen, Neckar und Main sind nicht fern. Hier liegt das Zentrum des Alten Reiches, die vis maxima regni - und folge richtig wird das Kloster in der folgenden Zeit, unter Karolingern, Ottonen und Saliern, zu einem geistigen und politischen Mittelpunkt der Zeit. Die Anfänge freilich sind bescheiden. Der erste Bau duckt sich in einer Einöde zwischen zwei Weschnitzarmen, inselhaft im Fluß wie das frühe Niederaltaich in Bayern - ein geistlicher Brückenkopf rechts des Rheins, wo es damals noch kaum Klöster gibt. Lorsch beginnt als Eigenkloster einer gräflichen Familie. Früh steht es im Zusammenhang mit anderen fränkischen Klostergründungen im Stammgebiet der Karolinger. Von Gorze aus besiedelt, vom Metzer Erz bischof Chrodegang ein wichtiges Jahr lang geleitet, wächst es rasch in die sich bildende fränkisch-aristokratische Reichsorganisation hinein - ein jün gerer Klostertyp, in dem benediktinische Reformimpulse mit fränkischer Sy stematik im Aufbau geschlossener Herrschaftsgebiete verschmelzen. Fulda und die Reichenau, frühere Gründungen, liegen schon zurück, sie werden in dieser Zeit eingemeindet, frankonisiert, und während die Erinnerung an die großen frühen Christusboten - Pirmin im Süden, Winfried-Bonifatius im Norden und Osten - verblaßt, entwickelt sich in Lorsch das Neue: Immuni tät und Königsschutz, das Patrozinium des römischen Märtyrers Nazarius, lauffeuerartig am Rhein sich ausbreitend, Neubau und Weihe der Kirche, die nun außerhalb des alten, eng gewordenen Stammsitzes steht. Der Dotation durch den König gehen voraus und folgen unzählige Schenkungen, ein riesiger Streubesitz entwickelt sich von Holland bis zum Oberrhein, Grundlage für das Aufblühen von Kunst, Literatur und Wissenschaft. Mit dem Frankenreich, der „Achsendrehung der Weltgeschichte nach Norden" (H. Pirenne), steigt Lorsch als Reichskloster zu seiner weltgeschichtlichen Be deutung empor - und es sinkt, als die übernationalen Bindekräfte jenes Rei ches schwächer werden.
2. Lorsch wird Reichskloster Der Zeitgenosse hat möglicherweise von einem Kloster im frühen und hohen Mittelalter allzu spiritualistische Vorstellungen. Er denkt an Mönchsgesang, 14
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Bericht über die Kirchweihe am 1. Sept. 774 Lorscher Codex, Vermerk 7 Bayer. Hauptstaatsarchiv München, Mainz Lit. 19
spekulative Theologie und literarisch-künstlerische Kultur. Dies alles gibt es selbstverständlich in Klöstern, auch in Lorsch. Aber die feine Essenz monasti scher Tätigkeiten in Gestalt bemalter Codices und Evangeliare ist nicht alles. Die materiellen Grundlagen sind kräftiger und breiter. Ein Kloster dieser Zeit ist kein reduit für .i\stheten. Es ist kein Freiraum geistiger Muße innerhalb einer durch politische Macht befriedeten Welt; vielmehr muß es sich Freiheit und Muße erst schaffen - durch Macht. So nehmen die Klöster an Grund akten und Landnahme und Staatswerdung teil; an Rodung; an Befestigung ; an der Stellung von Kriegern, der Verwaltung von Gütern ; an Wirtschafts expansion und Erschließung von Steuerkraft. Vergessen wir nicht : Das abend ländische Kloster dieser Zeit, geprägt durch die Regel Benedikts, ist ein oikos, ein wirtschaftlich autarker, nach außen abgesicherter Raum, eine staathaft geordnete Verdichtung des Lebens in einer Epoche dünner Siedlung, schwan kender Herrschaft, fließender sozialer und kultureller Verhältnisse. Klöster in dieser Zeit sind nicht Rückzugsgebiete. Sie sind auch nicht einfach, wie es dem heutigen Betrachter erscheinen mag, Residuen spätantiker Kultur in einer Zeit des anarchischen Aufbruchs und Übergangs. Viel eher sind sie Vorposten. I n ihnen entwickelt sich religiöse Kultur auf dem harten Grund politischer Selbstbehauptung in einer unfriedlichen Zeit: kein Zufall, daß allenthalben, wie auf der Weschnitzinsel, schwer zugängliche Gebiete für den Beginn sol cher Unternehmen ausgesucht werden. Benedikts Regel hatte, entgegen dem spätantiken Ideal des philosophischen Lebens, die Zweiheit von Gebet und Arbeit in den Mittelpunkt des Ordens lebens gestellt. Eben hierdurch überwand sie ein Mönchsideal reiner Beschau ung, theoria, in der antike Affekte gegen den Banausos, den arbeitenden und erwerbenden Menschen, fortlebten. Individuelle und soziale, theoretische und praktische Seite des Lebens sind bei Benedikt zu einer neuen, spannungskräf tigen Einheit gebracht. Hierin liegt ein Grund für die weltgeschichtliche Wir kung seiner monastischen Normen. Gewiß darf man den Gründer von Monte Cassino nicht zum Vorläufer moderner Arbeitshaltungen, einer innerwelt lichen Askese machen; Arbeit wird nicht an Stelle der Muße und Betrachtung gesetzt. Aber sie erhält einen Platz in der aszetischen Praxis ; sie wird ein Mittel geistig-sittlicher Bildung. Sie wird programmatisch in das christliche Streben nach dem Heil der Seele einbezogen als »Bindeglied zwischen Welt und Askese" (F. Prinz). Damit verschiebt sich ein jahrhundertealter Werte kanon : Arbeit ist nicht mehr reine Mühsal, Labor improbus, und Muße ist nicht unbedingt und in jedem Fall ein der Arbeit vorzuziehendes Gut. Denn es gibt neben dem notwendigen otium, so weiß es Benedikt, auch die otiositas, den Müßiggang als Feind der Seele. Herausfordernd taucht der neutestament16
Erhaltener Teil der ehern. Klosterkirche Drei Joche des Mittelschiffes der romanischen Vorkirche ( 1 1 4 1-1 148) von Südosten 17
liehe Satz „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" in Mönchsregeln auf. Landarbeit, Roden, Forstwirtschaft, Garten- und Landschaftspflege, Bauen werden in den mönchischen Tageslauf einbezogen. In den Ausbauräumen fränkischer Macht wirken rodende und missionierende Mönche als Pioniere, und ihre Arbeit leitet den riesigen mittelalterlichen Landesausbau ein, dessen Ergebnis die Siedlungs- und Landschaftsgestalt Europas auf Jahrhunderte prägt. Klöster wie Lorsch rücken so von selbst in wirtschaftliche, kulturelle, dy nastische und politische Zusammenhänge ein, die weit über die örtliche Wirksamkeit eines Konvents hinausführen. Sie sind Knotenpunkte in einem geschichtlichen Netzwerk, das sich enger und enger knüpft, bis jene verwal tungsmäßige, wirtschaftliche, geistige Durchdringung erreicht ist, die wir mit dem Begriff des modernen Territorial-Staates verbinden. Es wäre aber zu ein fach, wollte man die fränkischen Klöster dieser Zeit nur als Instrumente poli tischer Herrschaftsbegründung und -Stabilisierung sehen. Gewiß, das Cha risma der Klöster dient auch der Sanktionierung von Herrschaft in einer Zeit, in der alte Geblütsheiligkeit verfällt und neue, rationalere Legitimierungen vordringen in einer vom christlichen Glauben geprägten Welt. Heiligenver ehrung in Sippenklöstern des Adels hat stets auch eine politische Seite, vor allem dann, wenn die Klosterinsassen sich aus dem Adel rekrutieren und auch die Heiligen aus den eigenen Reihen kommen. Aber das ist nicht alles. Gottes lob, Fürbittgebet, Bildung von Geistlidien, literarisdie und kulturelle Tätigkeit der Klöster schaffen rings um die herrschaftliche Sphäre eine neue Dimen sion. Sie erweitert sich im Lauf der Zeit - im gleichen Maß, in dem vor den Toren und Ländereien draußen eine staatlidi befriedete Gesellsdiaft heran wächst. Jetzt können die Klöster ihre Wehr-, Kultur- und Wirtschaftsauf gaben abbauen, delegieren. Sie können sich a u f s R e I i g i ö s e konzentrieren - das erst jetzt als eigener, dem Gesetz des primum vivere enthobener Kos mos hervorzutreten beginnt. Sie können die Zeit in die Schranken fordern, dürfen provozieren und kritisieren, ohne selbst für die Folgen ihres morali schen Tuns politisch voll einstehen zu müssen. Kurz, sie werden zu einem Element der Kirchen- und Politikreform - moralische Gewichte jenseits des politisch-administrativen Instanzenzugs. Die Reichsabtei Lorsch ist diesen Weg, der zu den Reformorden des Investi turstreits führt und von da zu den Bettelorden des Hoch- und Spätmittelalters mit ihrem bürgerlichen, volkspädagogischen Empfinden, nicht mitgegangen - sie konnte ihn nicht mitgehen. Sie bleibt gebunden an das fränkische und ottonische Modell, an die Gemengelage politischer und kirchlicher Gewalten in der Reichsverfassung - an jene Zeit, in der ein Chrodegang ebenso Abt 18
von Lorsch wie Erzbischof von Metz wie Kanzler des Reiches sein konnte, in der das übernationale ebenso dominierte wie der Zusammenklang von Kir che und weltlicher Ordnung in der einen ccclesia. Das ist die Größe von Lorsch wie auch seine Grenze. Es hat keinen Niedergang erlebt wie andere Klöster. Es verschwindet einfach, als seine Zeit vergangen ist. Der Übergang des Lorscher Klosters und Gebiets an Mainz im Jahre 1 232 ist die Zäsur: Von da an ist Lorsch nur noch ein Dach für ein paar kleine Konvente, die Geschichte der Reichsabtei mit den über hundert Mönchen der Blütezeit und über tausend Ländereien 1.wischen Nordsee und Alpen ist zu Ende. Mehr als ein halbes Jahrtausend umspannt diese Geschichte, sie umschließt den Auf stieg der Karolinger, die Herrschaft Karls des Großen, die Teilung seines Rei ches unter den Söhnen Ludwigs des Frommen und die Anfänge Deutschlands unter Ottonen und Saliern. Ludwig der Deutsche, in dessen Politik zuerst „der Begriff Germania wirksam geworden ist" (G. Tellenbach), wurde, wie sein Sohn Ludwig der Jüngere, in Lorsch begraben. Aber auch der Bayern- . herzog Tassilo starb hier, nach seiner Absetzung und Verzichtleistung, als Laienbruder im Jahr 797. Die Gründer und Schenker hatten bei der Wahl des Orts nicht nur das mächtige Fulda im Blick, dem Lorsch Konkurrenz machen sollte, sondern auch die Verkehrswege nach Bayern, dessen reiche agilolfingi sche Klostergündungen dem Frankenreich in dieser Zeit wie eine reife Frucht in den Schoß fallen sollten.
3. Die kulturelle Bedeutung der Abtei Lorsch war reich. Schon bei der Steuereinstufung im Jahr 8 1 7 überflügelte es das ältere Fulda. Die ökonomische Prosperität und Liberalität kam den Kün sten und Wissenschaften zugute: Bauwerke, Büchersammlungen, Elfenbein kunst, Wand- und Buchmalerei, dazu die Stellung als Vorort der Reichshisto rie, die freilich bald verloren ging, rückten die Abtei an geistiger Ausstrahlung unmittelbar neben die Reichenau, St. Gallen, Weißenburg und Fulda. Wir sind gewohnt, die Klöster der Spätantike und des frühen Mittelalters und ihre Bewohner vorwiegend als überlieferer des antiken Bildungsgutes zu se hen: In ihren Schreibstuben sammelt sich das schmal gewordene Rinnsal anti ker Literatur und Erziehung, reduziert auf das christlich-propädeutisch Ver wendbare aus den Schriften der Dichter und Philosophen und auf die päd agogische Not-Ration der septem artes. Ganz ungefähr stimmt dieses Bild. Doch die bewahrende Zuwendung der Christen zu den antiken Schätzen war nichts Selbstverständliches. Wenn schon die heidnische Antike Verfinsterung, radikale Kulturkritik und philosophische Weltflucht kannte - was lag näher, als daß die Christen ihrerseits den Protest gegen die Zeit weitertrieben bis zur 19
völligen Emwertung der Welt? Ansätze gab es genug, zumal im frühen Mönchtum. Nur wenig hätte gefehlt und das weite Feld von Praxis und Poiesis wäre unter dem Ansturm des platonischen „Ontozentrismus" (W. Dil they) und des christlichen „Gott und die Seele" ins Leere versunken. Erst die theologischen Notbrücken der Väter stellten die abgebrochene Verbindung wieder her. Die B i b e 1 r h e t o r i k stilisierte die Heiligen Schriften zu Sprach kunstwerken - also durfte es dem Christen nicht verboten sein, gut zu reden und zu schreiben und Gutgeschriebenes zu überliefern. Die Theorie der spolia Aegyptiorum lieferte eine zusätzliche theologische Legitimation: Wie die Ju den bei ihrer Flucht aus Agypten Gold und Silber der Agypter mitnahmen, so sollte auch der christliche Gelehrte den Heiden ihre Schätze entreißen und sie zur Verkündigung des Evangeliums gebrauchen. Freilich, so meint Augu stin, auch wer Agypte_n reich verläßt, kann doch nicht gerettet werden, wenn er sein Paschamahl nicht gehalten hat. Wissenschaft und Bildung sind also kein Selbstzweck, sie sind neutrale Güter; über ihren Wert entscheidet der richtige Gebrauch. Als Lorsch gegründet wird, liegen diese Kämpfe schon zurück. Man hat unter scheiden gelernt. Der Glaube hat sich mit den litterae eingelassen. Wie anders wäre er zu überliefern gewesen! Es ziemt sich für den Christen, so die allge meine Überzeugung, nicht nur weise, sondern auch beredt zu sein. Wenn trun kene Lehrer den Wein des Irrglaubens ausschenken, muß man deswegen die Worte nicht anklagen. So werden die antiken Schriften, wo man ihrer hab haft werden kann, gelesen, überliefert, abgeschrieben. Die Lorscher Texte, heute zerstreut zwischen Rom, Wien, Heidelberg und München, enthalten als Kostbarkeiten die fünf letzten Bücher des Livius, einen Teil des Ammianus Marcellinus, die älteste Handschrift des Historikers Florus, eine gleichfalls alte Vergilhandschrift (leider verloren). Christliche Zeugen treten hinzu : ein Martyrologium, eine berühmte Inschriftensammlung aus römischen Kirchen, eine in Lorsch geschriebene Litanei. Und dann setzen schon die Franken ein, mittellateinisch redend mit ungelenker Zunge, an der Spitze Gregor von Tours, der Staatshistoriograph. Nur weniges ist geblieben von der Bibliothek, die einst, nach dem Urteil Sebastian Münsters, die herrlichste in Deutschland war. Nach Heidelberg verschlagen, kam der größte Teil durch Tilly nach Rom - entging dadurch freilich auch der Zerstörung Heidelbergs im Jahre 1 689. Manche Schätze sind aber auch schon zu Lebzeiten der Reichsabtei ge tilgt worden, so die im Auftrag Karls des Großen angelegte Sammlung alt hochdeutscher Texte, die der Verbrennungsaktion Ludwigs des Frommen zum Opfer fiel. Nur das zauberhafte „sizi sizi bina, inbot dir sancte Maria", der
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Lorscher Bienensegen, summt und tönt noch leise durch die frühe Geschichte unserer Literatur. Noch weniger kann sich der heutige Betrachter ein Bild der Basilika und der ausgedehnten Klosterbauten machen. Zu gering sind die Reste, zu viel muß die Phantasie ergänzen ; es ergeht einem wie in Cluny, wenn man, umgeben von zerfallenden Fragmenten in einer Stadt, die einst eine einzige riesige Kir che war, im Musee Ochier die sorgfältigen Rekonstruktionen von John Ken neth Conant auf sich wirken läßt - der Abstand ist zu groß. Und in Lorsch ist noch weniger erhalten als in Cluny, im Grund nur ein Stück der Vorkirche, eine Zehntscheune aus viel späterer Zeit, Baureste der Fundamente und end lich - als einziges völlig erhaltenes Glanzstück - die Königshalle. Man er mißt die Leistung Friedrich Behns und seiner Nachfolger, die den archäologi schen Bestand inzwischen so erschlossen haben, daß man wenigstens die mächtige Ausdehnung dieser ältesten großen Klosterkirche auf dem rechten Rheinufer nachvollziehen kann. Die Königshalle, eine der „ wichtigsten In kunabeln deutscher Baukunst" (G. Dehio), ein zweigeschossiges, unten in dreijochigen Arkaden geöffnetes Bauwerk, ist nach Ost und West mit roten und weißen Sandsteinplatten prächtig verkleidet - eine germanische Antike wie Aachen und Ottmarsheim. Im Obergeschoß sind Reste karolingischer Architekturmalerei freigelegt worden, daneben stehen gotische Wandbilder aus dem 14. Jahrhundert : Passion und Himmelfahrt Christi, die Krönung Mariens im Himmel, musizierende und singende Engel vor einem blaßblauen sternenübersäten Himmel. 4. Geschichtliche Wirkung Die geschichtliche Wirkung Lorschs ist schwer meßbar. Gewiß, man weiß: Hier ist Schule gehalten, sind Priester ausgebildet worden, Annalen wurden geschrieben, Texte überliefert und ausgelegt. Herrscher gingen aus und ein. Aber nicht einmal der Anteil an der Missionierung des Gebiets steht fest. Folgt man Friedrich Knöpp, so hat Lorsch nicht unmittelbar das Christentum in die Gegend gebracht. ,,Der Benediktinerorden steht hierin den hochmittelalter lichen Orden mit ihrer werbenden Kraft nicht gleich. Hier ist das fürbittende Gebet und das Gotteslob alles." Gerade die leisen Wirkungen, die von den Klöstern ausgingen, entziehen sich einer schematischen Beschreibung. Und doch darf man annehmen, daß die Einflüsse kirchlicher Erziehung, vielfältig sich wiederholend durch Predigt, Liturgie und gemeinschaftliches Leben, unmerklich den Geist der Menschen geformt haben. Sicher haben sie tiefere Spuren hinterlassen als die bewegten äußeren Vorgänge, die Kämpfe und Friedensschlüsse zwischen Kirche und 21
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