Bücher aus dem Giftschrank : Eine Analyse der verbotenen und verfemten erotischen Literatur


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Bücher aus dem Giftschrank : Eine Analyse der verbotenen und verfemten erotischen Literatur

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Eberhard und Phyllis Kronhausen

Bücher aus dem Giftschrank Eine Analyse der verbotenen und verfemten erotischen Literatur

Rütten + Loening Verlag in der Scherz Gruppe Bern München Wien

Einzig bereAtigte Übertragung aus dem Amerikanischen von Helmut Degner Titel des Originals: «Pornography and the Laut» Schutzumschlag: Amrein-Pieren Erste Auflage 1969 Copyright © 1959 und 1964 by Eberhard Kronhausen GesamtdeutsAe ReAte beim SAerz Verlag für Rütten + Loening Bern und MünAen

Inhalt Einleitung.....................................................................

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I. Die Psychologie des erotischen Realismus ... 23 Erotischer Realismus in historischer Perspektive . 30 Erotischer Witz und Humor............................... 31 Der unbekannte Mark Twain.......................... 34 Erotischer Realismus von Poggio bis Martin Luther.................................................................... 51 Erotischer Realismus in der Autobiographie . . 69 Samuel Pepys — der «Spießer» mit Zivil­ courage ....................................................................... 78 Casanova—Meister der realistischen Romanze 93 Walter — Die Memoiren eines englischen Casanova............................................................... 109 Frank Harris — Unheiliger Kämpfer für den heiligen Geist der Wahrheit............................... 135 Henry Miller—Apostel des widerlichen Details 161 «Schmutzige» Wörter in sauberen Büchern . 166

II. Die Psychologie der Pornographie.......................... 177 Die Struktur des «obszönen» Buches .... 181 Verführung............................................................... 203 Defloration............................................................... 215 Inzest.......................................................................... 220 Die tolerant-verführende Elternfigur .... 226 Profanierung des Heiligen.......................................... 233 «Schmutzige» Wörter in «schmutzigen» Büchern 236

Sexualgiganten.......................................................... 239 Nymphomaninnen .....................................................246

Neger und Asiaten als Sexsymbole.......................... 249 Homosexualität .... 252 Flagellation............................................................... 258 III. Berühmte «Grenzfälle»............................................... 267 Edmund Wilson: «Erinnerungen an Hekates Land».......................................................................... 269 D. H. Lawrence: «Lady Chatterley» . . . 275 Zusammenfassung..................................................... 284 Der Fall «Fanny Hill»............................................... 289 ’ Die psychologische Wirkung der erotischen Lite­ ratur .......................................................................... 315 IV. Erotika von morgen.....................................................341 Erotischer Surrealismus.......................................... 343 Philosophie und Gesellschaftskritik in der eroti­ schen Literatur.......................................................... 349 Autobiographische Erotika.................................... 361 Erotischer Realismus............................................... 362 Erotischer Witz und Humor.................................... 368 Verzeichnis der zitierten Werke............................... 380

Einleitung

Bücher wachsen, wie Bäume, zuweilen an ungewöhnlichen Orten. Das Material für dieses Werk wurde während eines Zeitraumes von mehreren Jahren gesammelt. Die Idee da­ zu kam uns jedoch während der Hearings eines Gesetzes­ ausschusses des Staates Kalifornien, an denen wir als Be­ obachter teilnahmen. Bei einem dieser Hearings sagte ein junger Polizeibeam­ ter aus, er halte ein Bild auf dem Einband einer Broschüre für «obszön», weil es die weiblichen Genitalien zeige. Dr. Phyllis Kronhausen, die Mitautorin dieses Buches, fand die Auffassung empörend, daß irgendein Teil des weiblichen Körpers als «obszön» zu betrachten sei. Wenn irgendein Teil des menschlichen Körpers unanständig, unzüchtig oder gar «obszön» wäre, meinte sie, so sei der ganze Kör­ per obszön. Und wenn der menschliche Körper obszön sei, dann sei auch das ganze Leben obszön und die gesamte Schöpfung ein widerlicher Schmutzhaufen. Den zweiten Anstoß für dieses Buch erhielten die Auto­ ren, als einer von ihnen aufgefordert wurde, in einem Pro­ zeß, bei dem es um die angebliche Obszönität einiger Taschenbücher ging, ein Sachverständigengutachten abzu­ geben. Während dieses Prozesses stellte es sich bald her­ aus, daß eine klare Entscheidung in diesem Fall dadurch erschwert wurde, daß in der Öffentlichkeit wie im Gesetz hinsichtlich des Sinnes und allgemeinen Sprachgebrauches gewisser Worte weitgehend Unklarheit herrscht. Wir hal­ ten es deshalb zunächst einmal für erforderlich, eindeutig klarzustellen, was wir unter unverhüllter Obszönität oder

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Einleitung

Pornographie verstehen und was wir als erotischen Realis­ mus betrachten. Sowohl in der Technik wie in der Zielsetzung sind Por­ nographie und erotischer Realismus einander diametral entgegengesetzt. Die Wirkung mag manchmal infolge der Übereinstimmung der Thematik die gleiche sein. Doch darf man nicht übersehen, daß sich die zugrunde liegenden Absichten in beiden Fällen völlig unterscheiden. Einziges Ziel der Pornographie ist es, beim Leser eine erotische Reaktion hervorzurufen. Das Wesentliche am erotischen Realismus hingegen ist die wahrheitsgetreue Schilderung der Grundtatsachen des Lebens, wie das Indi­ viduum sie erfährt, selbst wenn die Wirkung ausgespro­ chen antierotisch ist. Doch kann der erotische Realismus den Leser selbstverständlich auch sexuell erregen. Ja, eine solche Reaktion ist ganz natürlich. Schließlich wird ein sen­ sibler Leser ja auch auf eine traurige Szene mit Weinen oder auf eine witzige Szene mit Lachen reagieren. Nach dieser Klarstellung zurück zum Prozeß. Bei der Vorbereitung ihres Gutachtens stellte Dr. Phyllis Kron­ hausen zunächst einen Vergleich zwischen den indizierten Büchern und anderer auf dem Markt befindlicher Literatur an. Sie kam bald zu dem Schluß, daß die angeblich obszö­ nen Bücher in der Darstellung erotischer Dinge nicht frei­ zügiger waren und nicht stärker gegen die «herrschenden gesellschaftlichen Normen» verstießen als viele andere für jedermann zugängliche Bücher. In ihrem Gutachten wies sie deshalb darauf hin, daß die Einstellung der Gesellschaft in den letzten zwanzig Jahren eine Wandlung durchgemacht hat, die auf eine allgemeine Liberalisierung der sexuellen Moral hinausläuft — eine ih-

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rer Meinung nach gesunde Entwicklung, wie sie dem Ge­ richt erklärte. Bezüglich der angeblich «obszönen» Bücher führte sie aus, daß Sprache, Handlung und darin wiedergegebene Ansichten eine für gewisse Teilbereiche unserer Kultur charakteristische Realität widerspiegelten und daß diese Bücher deshalb eine legitime Existenzberechtigung hätten. Die Prüfung eines Buches darauf hin, ob es kraß gegen die herrschenden gesellschaftlichen Normen verstoße, war nach Ansicht der Autoren jedoch kein brauchbarer Maß­ stab für die Entscheidung darüber, was «obszön» ist. Auch wenn man im betreffenden Fall beweisen konnte, daß die angeblich obszönen Bücher nicht schlimmer waren als viele andere, gegen die diese Gesellschaft nichts einzuwenden hat, so sagte dies nicht unbedingt auch etwas darüber aus, ob sie wirklich obszön waren oder nicht. Ebensogut könnte man zum Beispiel zugunsten eines Diebes vorbringen, daß Diebstahl in dieser Gesellschaft sehr häufig vorkomme und daß ein Dieb deshalb nicht kraß gegen die herrschen­ den gesellschaftlichen Normen verstoße. Bestürzt waren wir über die Tatsache, daß bei den Pornographie-Hearings weder die Ausschußmitglieder noch die als Zeugen auftretenden Beamten, noch die Richter, Verteidiger, der Staatsanwalt und die Geschworenen ge­ nügend echte pornographische Literatur gelesen hatten, um sich ein Urteil über die angeblich obszönen Bücher bil­ den zu können. Zwar hatten die Ausschußmitglieder eine Anzahl eindeutig pornographischer Schriften, Fotos und Filme studiert, doch außerdem hatten sie sich Dutzende von Aktmagazinen und «Pin-up»-Heften besorgt, die sie mit dem pornographischen Material in einen Topf warfen,

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da sie nicht imstande waren, das eine vom anderen zu unterscheiden. Uns, die wir Hunderte von pornographischen Texten gelesen und noch mehr «obszöne» Bilder gesehen hatten, schien der Unterschied zwischen echter Pornographie so­ wie derartigen Herrenmagazinen und erotisch-realisti­ schen Büchern und Bildern unverkennbar zu sein. Versuch­ ten wir jedoch Juristen, Kollegen und Freunden diesen Unterschied zu erklären, so hatten wir immer wieder die größten Schwierigkeiten, uns verständlich zu machen. Diese Verständigungsschwierigkeiten spornten uns zu einer noch eingehenderen Beschäftigung mit dem Material an. Während der Prozeß stattfand, lasen wir noch einmal eine Reihe pornographischer Bücher und bemühten uns, präzis darzulegen, was diese Bücher von jenen unterschied, die das Gericht als «obszön» ansah. Anfangs erschien es uns völlig unmöglich, den Unterschied zwischen pornogra­ phischen oder — wie die Juristen sagen — «obszönen» Bü­ chern und Werken mit erotischer Thematik, die jedoch nicht pornographisch sind, zu formulieren. Für den Begriff «obszön» gibt es eine interessante Defi­ nition. Sie lautet:

Jedermann hat sich mit zwei widerstrebenden Kräften aus­ einanderzusetzen : mit den Sexualtrieben sowie der sexuel­ len Neugier einerseits und der allgemeinen gesellschaftli­ chen Unterdrückung derselben andererseits. Dadurch wird ein gewisses Gefühl der Scham, der Verlegenheit oder des Unrechts hervorgerufen, das im sexuellen Bereich unseres Lebens eine wichtige Rolle spielt. Deshalb stehen Leute, die sich dadurch bereichern, daß sie diesen Konflikt vertie­

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fen, also gewissermaßen die Wunde reiben, unserer Mei­ nung nach außerhalb des Erlaubten. Wir wissen aus der klinischen Praxis, daß Neurosen und Psychosen von einem Gefühl der Schuld und Scham ge­ nährt werden, das einerseits gewöhnlich der Einstellung des Individuums zu seinem Körper, zu dessen Funktionen und Forderungen entspringt und andererseits seinem Be­ dürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung und Selbst­ achtung. Mit anderen Worten: Der Konflikt zwischen dem Geschlechtstrieb und der sexuellen Unterdrückung führt, wie in der Definition ausgesprochen, zu einem Gefühl der «Scham, der Verlegenheit oder des Unrechts». Wir glau­ ben jedoch nicht, daß dieser Konflikt durch verstärkte «gesellschaftliche Unterdrückung» bereinigt werden kann. Alle Versuche, einen instinktiven Trieb, der auf so starken biologischen Grundlagen beruht wie der Sexualtrieb, durch die Gesellschaft zu kontrollieren, müssen mit den Realitä­ ten der menschlichen Natur übereinstimmen, wenn sie sich nicht für die Entwicklung des Individuums und den Fort­ schritt der Gesellschaft als schädlich erweisen sollen. Nach Anschauung gewisser Kreise führt «obszöne» Li­ teratur leicht dazu, den inneren Konflikt zwischen dem Sexualtrieb sowie der («unanständigen») Neugier und dem Bedürfnis nach Vervollkommnung, Selbstachtung und gesellschaftlicher Anerkennung zu verschärfen. Gleichzei­ tig fürchtet man offensichtlich, daß eine Lockerung der se­ xuellen Unterdrückung zum Zusammenbruch jeder gesell­ schaftlichen Kontrolle und zum ungezügelten Ausleben der Instinkte führen könnte. Andererseits haben aber die durch die beiden Weltkriege bewirkten sozialen Verände­

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rungen und andere Faktoren eine Bresche in die Mauer der sexuellen Unterdrückung geschlagen. Der Konflikt zwischen den unterdrückten und unter­ drückenden Kräften in unserer Gesellschaft tritt deshalb heute schmerzlicher und krasser zutage als jemals zuvor. Es gibt kein besseres Barometer für die angeheizte Span­ nung als der hin und her wogende Kampf der Zensur. Auf der einen Seite stehen die immer stärker werdenden For­ derungen nach größerer Freiheit des Ausdrucks und der Mitteilung auf sexuellem Gebiet, auf der anderen Seite hört man das laute Verlangen nach erhöhter Wachsamkeit und strikterer Anwendung der repressiven Gesetze. Im Licht der Forschungsarbeit von Kinsey gewinnt die gesellschaftliche Unterdrückung der Sexualität, deren schärfste Waffe die Zensur ist, eine neue Bedeutung. So er­ hebt sich unter anderem die Frage, ob gewisse Gruppen der Gesellschaft durch die Unterdrückung erotischer Lite­ ratur nicht eigentlich eine Zensur über Gedanken und Mei­ nungen ausüben, denen verfassungsmäßiger Schutz zu­ steht. Der Gesetzgeber ist der Ansicht, daß unverhüllte Porno­ graphie keinerlei ernsthaften sozialen Wert besitze und deshalb auch keinen Anspruch auf den verfassungsmäßig garantierten Schutz der freien Meinungsäußerung habe. Oder wie Professor Lockhart es ausdrückt: «Offene Porno­ graphie ist so schmutzig und abstoßend, daß nur wenige Menschen die Abschaffung von Gesetzen gegen sie ins Auge fassen können — das wäre undenkbar.» Dies ist, auf die einfachste Formel gebracht, die Theorie, nach der Pornographie «Schmutz um des Schmutzes wil­ len» ist, ohne jeden anderen «nützlichen gesellschaftlichen

Einleitung Wert», wie künstlerisches oder literarisches Verdienst oder die Vermittlung von sozial oder philosophisch wichti­ gen Ideen. Folglich wird -natürlich erklärt, einziges und offensichtliches Ziel dieses Materials sei die Stimulation «lustvoller Gedanken und Begierden», das heißt, die se­ xuelle Erregung des Lesers. Diesem Argument kann man (wenn auch mit einigen Einschränkungen) noch folgen, soweit es sich um offen­ sichtliche und unzweifelhaft gezielte Pornographie han­ delt. Wir stimmen deshalb darin überein, daß eine gewisse gesellschaftliche Kontrolle dieser Literaturgattung vermut­ lich angebracht ist, vor allem hinsichtlich ihrer Verbrei­ tung unter der Jugend — ein Ziel, das man wahrscheinlich am besten erreichen kann, indem man den Verkauf strikt auf Erwachsene beschränkt. Wir sind jedoch in keiner Weise davon überzeugt, daß der Gesellschaft oder auch «den Jungen und am meisten Anfälligen» von der harten Pornographie her eine «offenkundige und unmittelbare Gefahr» droht. Im gegenwärtigen Stadium unserer wis­ senschaftlichen Kenntnisse über die Auswirkungen dieses Materials gibt es keinen Beweis dafür, daß die Lektüre offener Pornographie das Individuum dazu verführt, anti­ soziale Akte zu begehen. Unser Vorschlag, den Verkauf von Pornographie auf Erwachsene zu beschränken, ist also eher eine Konzession an die konservative Ansicht als eine Empfehlung, die auf einer wissenschaftlichen Grundlage beruht. Die gesetzliche Definition der Pornographie wird noch dadurch erschwert, daß nicht nur offensichtliche Pornogra­ phie, sondern auch Erotika von unbestreitbarem künstle­ rischen oder literarischen Wert die sexuelle Erregung des

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Lesers zum Hauptziel haben. Natürlich kann man argu­ mentieren, daß der hervorragende Stil oder die «Qualität» dieser Erotika einen «sozial nützlichen» Wert darstellt. Allerdings darf man die Tatsache nicht übersehen, daß auch härteste Pornographie manchmal hervorragend ge­ schrieben sein und dennoch in jeder Beziehung in Aufbau, Inhalt und Absicht unseren Kriterien für diese Literatur­ gattung entsprechen kann. Man muß also das Problem des «gesellschaftlich nütz­ lichen Wertes» von einem anderen, grundlegenderen Standpunkt aus angehen und sich fragen, warum man nicht von der Voraussetzung ausgeht, daß erotische Erre­ gung an sich ein «gesellschaftlich nützlicher Wert» ist. Ganz offensichtlich haben die Juristen das Problem bisher noch nie von dieser Prämisse aus überdacht. Andererseits gehört es nicht zur kulturellen Tradition unserer westlichen Zivilisation, die sexuelle Stimulation als einen positiven gesellschaftlichen Wert anzusehen. So­ gar eine sonst so fortschrittliche Definition des Obszönen, wie die von uns angeführte, spricht von einem notwendi­ gen Konflikt zwischen sexuellen und gesellschaftlichen In­ teressen und möchte jene bestraft sehen, die, wie es wört­ lich heißt, «sich dadurch bereichern, daß sie diesen Kon­ flikt vertiefen, also gewissermaßen die Wunde reiben ...» Bei unserer Kritik an diesem Standpunkt möchten wir darauf hinweisen, daß es keineswegs eine feststehende wissenschaftliche Tatsache ist, daß die Sexualität notwen­ digerweise mit anderen sozialen Interessen kollidiert, und daß eigentlich genau das Gegenteil zutrifft. Außerdem er­ schiene es uns vernünftiger, den augenblicklichen unleug­ baren Konflikt zwischen der Sexualität und den Versuchen,

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sie durch die Gesellschaft zu kontrollieren, beizulegen, in­ dem man die übertriebene Strenge einiger dieser Kontroll­ bemühungen mildert. Dies wäre vernünftiger als der Ver­ such, den Umfang der in unserer Kultur gestatteten sexuel­ len Stimulation regulieren zu wollen. (Tatsächlich kann der durch aie Pornographie gelieferte Reiz als minimal an­ gesehen werden, wenn man ihn mit sexuellen Stimuli, wie Werbung, Mode und vielen anderen starken sexuellen Er­ regungsfaktoren, die heute völlig akzeptiert und in unsere Kultur integriert sind, vergleicht.) Schließlich kann es auch kaum als fair angesehen wer­ den, das Profitmotiv gegen die Produzenten von Erotika ins Feld zu führen, da doch heute praktisch jede Ware un­ ter Ausbeutung sexueller Reizfaktoren verkauft wird und das Profitmotiv einer der erklärten Werte unseres freien Wirtschaftssystems ist. Wir möchten deshalb nachdrücklich empfehlen, das Konzept des «nützlichen gesellschaftlichen Wertes» im Blick darauf neu zu überdenken, daß die erotische Stimula­ tion als solche selbst einen derartigen Wert darstellt, ohne weiterer «nützlicher» Charakteristika, wie überragender ästhetischer Qualität des Werkes, einer philosophischen Botschaft oder eines anderen Aspektes neben seinem «ero­ tischen Appeal» an sich zu bedürfen. Es ist auch klar, daß bei der Neueinschätzung der Frage des «sozialen Wertes» Vorurteile, die sich aus gewissen vorgefaßten religiösen Meinungen ergeben könnten, aus­ geschlossen sein müßten, um so eine unvoreingenommene Untersuchung der Frage zu ermöglichen und zu verhin­ dern, daß abweichenden philosophischen Minderheiten in der Kultur religiöse Normen und Werturteile aufgezwun­

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gen werden, die niemals für die Gesamtheit einer kompli­ zierten modernen Gesellschaft bindend sein oder die Grundlage ihrer Gesetzgebung bilden können. Doch wir fürchten, daß nur ein grundlegendes Umden­ ken in der Frage des gesellschaftlichen Wertes zur Behe­ bung der gegenwärtigen Verwirrung in der gesetzlichen Theorie und Praxis führen wird: denn wenn erotische Sti­ mulation als «gesellschaftlich nützlicher Wert» angesehen werden kann, dann würden sogar absichtlich erotische Bü­ cher und bildliche Darstellungen automatisch unter die ge­ setzlich garantierte freie Meinungsäußerung fallen und nicht weiterer «nützlicher» Charakteristika bedürfen, um vom Gesetz akzeptiert zu werden. Es wird allerdings noch lange dauern, bis alle diesen Denkprozeß vollzogen haben. Und da die Auswirkungen der erotischen Literatur und bildlichen Darstellung (ein­ schließlich der offenen Pornographie) noch nicht bekannt sind, da weiterhin keine «unmittelbare Gefahr» droht, er­ scheint jede gesetzliche Unterdrückung von Erotika über die Beschränkung dieser Erzeugnisse auf Erwachsene hin­ aus unvereinbar mit den Realitäten und mit der Auffas­ sung vom freien Individuum in einer freien Gesellschaft. Dieses Buch will es dem Leser durch Gegenüberstellung von Beispielen des erotischen Realismus und der Porno­ graphie ermöglichen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und vielleicht zu den gleichen Schlußfolgerungen zu gelangen wie wir. Um den Unterschied zwischen Pornographie und eroti­ schem Realismus hinreichend zu erhellen, müssen drei Aspekte berücksichtigt werden, nämlich: Absicht, Inhalt und Wirkung. Dies ist nach unserer Erfahrung nur durch

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eine vergleichende Untersuchung beider Arten von Litera­ tur möglich. Erst wenn man diesen Unterschied erkannt hat, kann man die viel größeren soziologischen und moralischen Pro­ bleme der «gesellschaftlichen Normen» begreifen und ver­ suchen, einen brauchbaren Maßstab für die gesetzliche Be­ urteilung dieser Dinge zu finden. Wir hielten es für das beste, uns nicht auf einen be­ stimmten Zeitraum zu beschränken, sondern die erotische Literatur in einer größeren Perspektive zu betrachten. Nur wenn man sich mit dem erotischen Realismus von der Re­ naissance bis zur Gegenwart beschäftigt, gelangt man zu einem besseren Verständnis dieser Literatursparte. Das gleiche gilt für die Pornographie. Ein obszönes Buch kann aus nur wenigen Seiten bestehen, aber auch mehrere hundert Seiten umfassen. Es kann ursprünglich in Franzö­ sisch, Spanisch, Deutsch, Russisch oder irgendeiner ande­ ren Sprache geschrieben worden sein. Sein Akzent kann auf Flagellation, Fetischismus und anderen sexuellen Spiel­ arten liegen. Es kann in der Form eines «wahren Geständ­ nisses» oder als Roman verfaßt sein. Es kann gestern oder vor dreihundert Jahren geschrieben worden sein. Von all dem abgesehen, sind die den Stil, den Aufbau, die Struktur und den Inhalt bestimmenden psychologischen Prinzipien im Grunde stets die gleichen. , Wir haben deshalb dieses Buch so gegliedert, daß der Leser sich zuerst mit dem erotischen Realismus vertraut machen kann, der in allen Sparten der Literatur, ein­ schließlich der Satire, der Lyrik, des Romans und der Autobiographie vorkommt. Absichtlich haben wir Bei­ spiele aus verschiedenen westlichen Kulturkreisen und

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Zeitperioden ausgewählt — von Schriftstellern der italieni­ schen Renaissance, wie Poggio und Aretino, bis zu den zeitgenössischen Vertretern des erotischen Realismus, wie Frank Harris, D. H. Lawrence, Edmund Wilson und Henry Miller. Im zweiten Teil des Buches möchten wir den Leser mit einem Querschnitt durch pornographische Werke bekanntmachen. Schließlich werden zwei berühmte verkannte Grenzfälle untersucht: Edmund Wilsons «Erinnerungen an Hekates Land» und D. H. Lawrences «Lady Chatterley». Wir sind sicher, daß der Leser zu der Erkenntnis kommen wird, man hätte diese beiden Bücher sowie eine große Zahl anderer Werke des erotischen Realismus niemals mit obszöner oder pornographischer Literatur verwechseln können, wenn gültige Kriterien zur Definition von Pornographie zur Verfügung gestanden hätten. Es ging uns deshalb in erster Linie darum, klar zu definieren, worin die Merkmale der «unverhüllten Obszönität» oder Pornographie beste­ hen. Zur Klärung dieser schwierigen Frage hielten wir es zunächst für notwendig, gültige Kriterien für die Beurtei­ lung der Pornographie aufzustellen; erst danach erschien es uns sinnvoll, in eine Diskussion über das Für und Wider der erotischen Literatur im allgemeinen und der Pornogra­ phie im besonderen einzutreten. Im weiteren beschäftigen wir uns mit den möglichen Wirkungen erotischer Lektüre auf Erwachsene, Jugend­ liche und Kinder. Mangel an Information und zuverlässi­ gen Untersu

mung mit René Guyon, der, abgesehen von Freud, wie nur wenige zeitgenössische Denker das Recht des Menschen bejaht hat, seinen Körper und seine Sexualorgane in völli­ ger Freiheit zu gebrauchen, «vorausgesetzt, daß dies ohne Gewalt und Zwang geschieht, und ohne einem anderen Menschen Schaden zuzufügen». Wenn also erotische Lite­ ratur oder Kunst zu einem Ausleben der Sexualität stimu­ liert, so erfüllen sie damit unserer Meinung nach einen der seelischen Hygiene und dem menschlichen Glück nur för­ derlichen Zweck. Die Ansicht der Zensurbefürworter, eine Stimulierung der Sexualität führe zu Gewalttätigkeiten, können wir nur als paradox bezeichnen. Praktisch kommt so etwas nur bei Menschen vor, deren normale sexuelle Ventile derart blokkiert sind, daß es als Ersatz für die natürlichen sexuellen Handlungen zu Sadismus, Vergewaltigung und Mord kommt. Es ist unbegreiflich, warum man im Interesse des Gemeinwohls (ganz abgesehen von der geistigen Gesund­ heit des einzelnen) dann nicht lieber den normalen Sexual­ trieb akzeptiert, als versucht, alles zu unterdrücken, was ihn anregen könnte. Doch die Feinde der Sexualität können die freie sexuelle Entfaltung des Menschen nicht ertragen und deshalb auch keine Literatur tolerieren, die auf diesem Gebiet informie­ rend und erzieherisch wirkt und das Interesse steigert. Der beste Beweis dafür ist, daß die erotische Literatur die stän­ dige bevorzugte Zielscheibe dieser Zensoren von eigenen Gnaden darstellt, und daß sie dieser Literaturgattung die Schuld an Verbrechen und Gewalttaten zuschieben, wäh­ rend sie die ungeheure Menge von Büchern, die gräßlichste Gewalttaten auf detaillierteste Weise darstellen und sogar

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den Krieg und Massenmord verherrlichen, als «geeignet für alle Altersstufen» klassifizieren. Leider lassen sich auch viele aufgeschlossene Menschen, die gegenüber der Sexua­ lität an sich keine Vorurteile hegen, durch die tendenziöse Berichterstattung beeinflussen und sehen fälschlicherweise in der erotischen Literatur die Ursache von Gewaltverbre­ chen, wobei sie zudem keinen Unterschied zwischen eroti­ schem Realismus und Pornographie machen. Das hinter der derzeitigen Zensurdebatte liegende phi­ losophische Problem besteht darin, daß die Befürworter einer Zensur erotischer Kunst und Literatur — bewußt oder unbewußt — Anhänger der Paulinischen Doktrin von der »Fleischessünde» sind. Sie sind nicht imstande, die natür­ lichen Äußerungen des Sexualtriebes als etwas zu betrach­ ten, das jenseits von «Gut und Böse» liegt. Sie sind von der Überzeugung durchdrungen, daß Sexualität ihrem inneren Wesen nach böse, schmutzig und gefährlich sei und daß sie deshalb durch die verschiedensten Einschränkungen sorg­ fältig in Schach gehalten werden müsse. Dieses ideologische Element verleiht der Zensurdiskus­ sion, die mit größter Sachlichkeit geführt werden sollte, «einen erschreckenden Fanatismus, der an die Religions­ kriege früherer Zeiten erinnert; doch dies ist ganz natür­ lich, denn der Glaube an die Fleischessünde ist ein religiö­ ser Aberglaube, dem die einen anhängen und den die an­ deren verwerfen». (René Guyon.) Sexuelle und andere Verhaltensweisen werden in sehr frühem Alter erworben und können, sobald sie einmal der Persönlichkeit eingeprägt sind, nicht leicht geändert wer­ den. Wäre es nicht so, dann brauchten wir den Patienten, die Hilfe suchen, weil sie mit ihren emotionellen Pröble-

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III. Berühmte «Grenzfälle»

men nicht fertig werden, nur ein paar Bücher über geistige Hygiene zu lesen zu geben, anstatt eine lange und teure Behandlung durchzuführen. Dies widerspricht in keiner Weise unserer früheren Behauptung, daß Bücher erotischen Inhalts, und vor allem pornographische Bücher, erotische Phantasien auslösen, die zu sexueller Aktivität führen können. Das sexuelle Verhalten mit all seinen «normalen» Varianten ist im Grunde instinktiv; nur die Ausdrucksformen sind weitge­ hend «erlernt». Sexualverbrechen hingegen sind die Taten kranker Menschen in einer kranken Gesellschaft, welche die Befriedigung der wichtigsten biologischen und emotio­ nalen Bedürfnisse des Menschen problematisch, ja häufig unmöglich macht. Das Resultat dieser kulturellen Frustrationen sind Per­ versionen des Sexualtriebes, neurotische und psychotische Erkrankungen und Kriminalität. Es ist für die Gesellschaft viel einfacher und bequemer, der Lektüre eines Menschen die Schuld an einem Verbre­ chen zuzuschieben, als die zerrütteten Familienverhältnisse zu untersuchen, die viel häufiger die Ursache kriminellen oder auf andere Weise gestörten Verhaltens sind. Manch­ mal gehen Kriminelle auf die von Polizisten, Untersu­ chungsrichtern und Reportern gestellten Suggestivfragen nur allzu bereitwillig ein und konstruieren daraus eine willkommene Entschuldigung für ihre Taten. Diese Fälle sind psychologisch sehr interessant, denn die Justiz, die Öffentlichkeit und der Kriminelle gehen auf diese Weise unbewußt eine Verschwörung ein und einigen sich auf einen bequemen Sündenbock, der sowohl der Gesell­ schaft wie ihrem Opfer die schmerzhafte Notwendigkeit

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erspart, sich eingehender mit den sozialen und persönli­ chen Hintergründen des Verbrechens zu beschäftigen. Das vorliegende klinische und psychologische Erfah­ rungsmaterial läßt den eindeutigen Schluß zu, daß die tat­ sächlichen Ursachen für Gewaltverbrechen wesentlich tie­ fer liegen. Dr. Robert Lindner, ein bekannter, auf die Behandlung von Kriminellen spezialisierter Psychoanalytiker und Schriftsteller («The Fifty Minute Hour», «Rebel without a Cause»), sagt zu diesem Problem folgendes:

Ich bin strikt gegen jede Zensur des geschriebenen Wor­ tes, ganz gleich, von wem sie ausgeübt wird und gegen welche Art von Material sie sich richtet. Als Psychoana­ lytiker, der auf eine über zehnjährige Erfahrung mit seelisch gestörten Menschen und vor allem mit Krimi­ nellen zurückblicken darf, halte ich die Annahme für absurd, irgendeine Form von Lektüre, einschließlich der sogenannten Comics und sonstiger «anstößiger Litera­ tur», könne kriminelles Verhalten hervorrufen oder als Anleitung zu Verbrechen dienen. ... Wenn alle soge­ nannten anstößigen Bücher morgen vom Erdboden ver­ schwänden, so würde dies meiner Überzeugung nach die Statistiken über Kriminalität, amoralisches und anti­ soziales Verhalten sowie körperliche und seelische Krankheiten in keiner Weise beeinflussen. Die gleiche frustrierende und repressive Gesellschaft würde weiter­ bestehen, und sowohl Kinder wie Erwachsene würden sich dagegen auflehnen. Diese Probleme können nur ge­ löst werden, wenn wir den Mut aufbringen, uns mit den fundamentalen gesellschaftlichen und persönlichen Kon­

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III. Berühmte «Grenzfälle.

flikten auseinanderzusetzen, die solchem Verhalten zu­ grunde liegen.

Auch wir sind der Überzeugung, daß Comics, «Herren­ magazine» und selbst Pornographie nicht die Ursache von Sexualmorden und anderen Verbrechen sind, sondern weit häufiger ein Sicherheitsventil für sexuell Abartige und po­ tentielle Sexualverbrecher darstellen. Dies ist auch die Meinung vieler anderer erfahrener Kliniker, vor allem sol­ cher, die mit seelisch schwer gestörten Patienten und Kri­ minellen zu tun haben. So sagt zum Beispiel Dr. Benjamin Karpman, Chef-Psychotherapeut des St. Elizabeth Hospi­ tals in Washington: «Im Gegensatz zu der allgemein ver­ breiteten falschen Meinung begehen Menschen, die ob­ szöne Literatur lesen, weniger Sexualverbrechen als solche, die dies nicht tun, denn derartige Lektüre neutralisiert häu­ fig abwegige sexuelle Interessen.» Für Dr. Karpmans Ansicht, daß das Ausleben antisozia­ ler (sexueller und anderer) Impulse in der Phantasie von heilsamer Wirkung ist, gibt es zahlreiche Beweise. Die «Katharsis» oder «Abreaktion» solcher Neigungen in der therapeutischen Sitzung (bei Kindern durch Beschäftigung mit verschiedenen Spielsachen, zerstörbaren Puppen, Spielzeugpistolen, bei Erwachsenen durch symbolische Darstellung starker emotionaler Reaktionen, freie Hin­ gabe an sonst als unstatthaft betrachtete Phantasien, Flu­ chen und Schimpfen, Ausdrude durch künstlerische Mittel und im Psychodrama) sind heute allgemein anerkannte Behandlungsmethoden. Doch wir können unsere These, daß die Lektüre eroti­ scher Literatur, selbst «unverhüllter Pornographie», nicht

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nur überaus selten zu antisozialen Handlungen führt, son­ dern sogar therapeutisch von Nutzen sein kann, noch wei­ ter untermauern. Zunächst möchten wir das Problem in Bezug auf Kinder untersuchen. Welchen Einfluß hätte die Lektüre erotischer Literatur auf sie? G. V. Ramsey veröffentlichte im Jahr 1943 das Ergebnis einer Befragung, die er bei 291 jüngeren Knaben hinsicht­ lich der nichtsexuellen und sexuellen Quellen erotischer Stimulation anstellte, deren sie sich bewußt waren. Kinsey («Das sexuelle Verhalten des Mannes») vervollstän­ digte später diese Liste nichtsexueller und spezifisch se­ xueller Quellen erotischer Reaktion bei Knaben vor der Pubertät. Von diesen sexuellen Quellen ist nur eine für uns inter­ essant: «Liebesgeschichten in Büchern» (von Heftromanen bis zu pornographischen Produkten), doch scheinen selbst jüngere Knaben erotisch auf Geschichten, die von sexuel­ len Dingen im weitesten Sinne handeln, zu reagieren. Überdies ist, wie Kinsey bemerkt, «bei diesen jüngeren Knaben schwer zu unterscheiden, was eine erotische und was eine einfache körperliche Reaktion ist, oder wo eine allgemeine gefühlsmäßig erregende Situation vorliegt». Nirgends in der Untersuchung findet sich jedoch ein Hin­ weis darauf, daß sie auf eines der erwähnten Stimuli mit kriminellem Verhalten reagierten. Kinsey fügt noch einige Bemerkungen hinzu, die für die ganze Frage der Wirkung erotischer Literatur bedeut­ sam sind:

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III. Berühmte «Grenzfälle.

Wenn (der Mann) sich den Zwanzig nähert, so ist er bereits so geprägt, daß er selten auf etwas anderes als auf die direkte körperliche Stimulation der Genitalien oder auf speziell sexuelle psychische Situationen rea­ giert. Beim älteren Mann werden sogar die körperlichen Stimulationen selten eine Wirkung auslösen, wenn sie nicht von einer psychologischen Atmosphäre begleitet sind. Man muß sich wohl vorstellen, daß die Psycho­ sexualität aus einer viel allgemeineren und grundlegen­ den physiologischen Fähigkeit hervorgeht, die erst durch Erfahrung und Prägung sexuell im Sinne des Er­ wachsenen wird. Mit anderen Worten: präadoleszente Knaben können durch die verschiedensten Stimuli, die durchaus nicht se­ xuell sein müssen, «sexuell erregt» werden. Das gleiche kann auch eine Anzahl spezifisch sexueller Stimuli bewir­ ken, zu denen unter anderem das Lesen gehört. Wenn der Knabe jedoch zum Mann wird, verringert sich die Wirkung der nichtsexuellen Stimuli, und die sexuelle Stimulation muß auf direktere Weise erfolgen, vor allem durch eine Kombination physischer und psychischer Stimuli. Wir möchten uns nun einigen Untersuchungen zuwen­ den, die eigens zu dem Zweck unternommen wurden, die Ursachen der Jugendkriminalität festzustellen. Beginnen wir mit der Untersuchung von Sheldon und Eleanor Glueck, die sich eingehend mit 1000 kriminellen Jungen beschäf­ tigten. Sie ermittelten fünf Hauptfaktoren, die zur Krimi­ nalität führen: 1. kulturelle Konflikte 2. ungünstige Familienverhältnisse

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3. mangelnde Erziehung und Ausbildung 4. asoziales Verhalten in der Freizeit (z. B. Glücksspiel, Alkoholgenuß, Rauschgiftsucht, sexuelles Fehlverhalten) 5. psychische Defekte. Nirgends erwähnen die Gluecks erotische Literatur als ursächlichen Faktor der Jugendkriminalität. In einem Bericht mehrerer Psychologen der Brown University, der sich mit den angeblichen Zusammenhängen zwischen kriminellem Verhalten und «obszöner» Lektüre beschäftigt, werden als Hauptursachen persönliche Span­ nung, mangelnde Disziplin, Unsicherheit, unzureichende Erziehung und emotionale Labilität angeführt. Man be­ merkt sofort, daß all diese Faktoren mit tiefsitzenden emo­ tionalen Problemen und Störungen der zwischenmensch­ lichen Beziehungen Zusammenhängen, mit denen vergli­ chen das Lesen von Comics oder sogar von Pornographie geradezu trivial erscheint. In dem Bericht der Brown University wird außerdem eine Studie über die Hauptstimuli «lasziver Gedanken» und «sexueller Impulse» bei Studentinnen erwähnt. Da­ nach lösen Tanzen, Musik und in gewissem Maß auch Le­ sen «laszive Gedanken» aus. Die weitaus überwiegende Zahl der Befragten nannte jedoch als wichtigstes erotisches Stimulans den Mann, d. h. den Kontakt mit Angehörigen des anderen Geschlechts. Die Schlußfolgerung der Psychologengruppe der Brown University lautet, «daß es keinen zuverlässigen Beweis dafür gibt, daß Lesen oder andere Phantasiehandlungen zu antisozialem Verhalten führen». Wir stimmen dem mit voller Überzeugung bei, möchten aber die noch weiter­ gehende Behauptung aufstellen, daß erotische Bücher di­

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HI. Berühmte «Grenzfälle.

verse überaus nützliche therapeutische Funktionen erfüllen können. Wir haben bereits das Prinzip der Katharsis durch nach­ vollziehendes Erleben in Form von Lesen erwähnt. Es er­ scheint uns immer wieder unbegreiflich, daß viele Men­ schen dieser uralten Idee so verständnislos gegenüberste­ hen. Soviel wir wissen, hat bereits Aristoteles den Athe­ nern empfohlen, sich die Tragödien im Theater anzusehen, um antisoziale Impulse abzureagieren. Unserer Ansicht nach erfüllen die Pornographie und zum Teil auch der ero­ tische Realismus eine ähnliche Funktion. Wenn man bedenkt, wie begrenzt und unzureichend die sexuelle Erziehung in unserer Gesellschaft ist, so kann der erotische Realismus in der Literatur auch auf diesem Ge­ biet einen höchst nützlichen Zweck erfüllen. Man hat da­ gegen eingewandt, daß heutzutage genügend andere Quel­ len zur Information über sexuelle Dinge zur Verfügung stünden und daß Kinder ihr Wissen deshalb nicht aus Bü­ chern wie «Lady Chatterley», «Erinnerungen an Heka­ tes Land» und anderen Werken des erotischen Realismus beziehen müßten. Es läßt sich nicht bestreiten, daß heute ausgezeichnete Lehrmittel für die Sexualerziehung (Bücher, Broschüren, maßstabgerechte Modelle der Sexualanatomie) zur Verfü­ gung stehen (zumindest in größeren Städten), und es ist ein großer Fortschritt, daß immer mehr Schulen einen be­ grenzten Sexualunterricht bieten. Doch wäre eine andere Bezeichnung für dieses Lehrfach zutreffender, etwa «Fami­ lienkunde», «Ehevorbereitung», «Aufklärung über Ge­ schlechtskrankheiten» oder «Sexualanatomie», denn der Unterricht an den meisten Schulen beschränkt sich im we­

Die psychologische Wirkung

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sentlichen auf diese Themen. Infolge des von gewissen Kreisen ausgeübten Drucks und auf Grund gesetzlicher Be­ schränkungen bleibt dieser Unterricht im allgemeinen fragmentarisch. Die Empfängnisverhütung wird meistens nicht behandelt, ebenso die Physiologie des Sexualaktes, von der Technik des Geschlechtsverkehrs ganz zu schwei­ gen. Eine Erklärung über Homosexualität und andere sexuelle Abweichungen findet ebenfalls höchst selten statt. Ein weiterer Mangel des heutigen Sexualunterrichts ist die Trennung der sexualwissenschaftlichen Fakten von dem, was Harry Stack Sullivan den «Lustmechanismus» nannte. Wir könnten vielleicht noch Verständnis dafür aufbringen, daß dem Kind ausgewählte sexuelle Fakten gesondert von den emotionellen und freudespendenden Aspekten der Sexualität nahegebracht werden, doch dann müßten die Eltern das Wissen entsprechend ergänzen. Sie müßten dafür sorgen, daß das Kind die Kenntnisse, die es auf dem Gebiet der Sexualanatomie erwirbt, mit den emotionellen Aspekten der Sexualität in Verbindung bringt, daß es den Geschlechtsakt also nicht nur als reinen Zeugungsakt betrachtet. Dadurch, daß die lustbetonte Seite der Sexualität und ihre anderen emotionellen Aspekte bei der Sexualerzie­ hung vernachlässigt werden, entsteht eine Kluft zwischen dem sachlichen Wissen und den erotischen Gefühlen, die sich immer stärker bemerkbar machen, wenn der Mensch die Pubertät und die volle biologische Reife erreicht, und die bei fehlender oder unzureichender Aufklärung tiefe Schuld- und Angstgefühle auslösen können. Wir halten deshalb Werke des erotischen Realismus wie Lawrences «Lady Chatterley», Wilsons «Erinnerungen an

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III. Berühmte «Grenzfälle:

Hekates Land» oder autobiographische Bücher wie Frank Harris' «Mein Leben und Lieben» für eine ideale Ergän­ zung dessen, was Schule und Familie an sexueller Aufklä­ rung bieten. Solche Bücher würden dem jungen Menschen, der über Sexualanatomie und -physiologie aufgeklärt ist, das dringend nötige Wissen über den Lustmechanismus und die emotionellen Aspekte der Sexualität vermitteln. Wir bezweifeln nicht, daß in nicht allzu ferner Zukunft Heim und Schule diese Art kompletter Sexualaufklärung bieten werden. Sie wäre Teil einer Gesamterziehung, die darauf abzielt, Jungen und Mädchen auf die wichtigsten Funktionen und Aufgaben des Lebens (sowohl in persön­ licher Hinsicht wie bezüglich ihrer Rolle als Mitträger einer demokratischen Kultur) ausreichend vorzubereiten. Sexuelle Freiheit kann nur in einer freien Gesellschaft herrschen; in einem Klima politischer Tyrannei und wirt­ schaftlicher Restriktion kann sie nicht gedeihen. Je demo­ kratischer eine Gesellschaft ist, desto mehr sexuelle Frei­ heit gewährt sie ihren Mitgliedern. Je autoritärer das poli­ tische Regime einer Gesellschaft und je schwieriger seine wirtschaftlichen Verhältnisse sind, um so weniger sexuelle Freiheit kann es der Masse der Bevölkerung gewähren. Für diese Zusammenhänge zwischen Sexualität und autoritärer Politik gibt es einige interessante Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. In der So­ wjetunion schufen die Volksräte während der demokrati­ schen Periode der zwanziger Jahre, welche der Revolution folgte, das liberalste Sexualstrafrecht der Neuzeit. Unter anderem setzten sie eine Abschaffung der veralteten Eheund Scheidungsgesetze durch und legalisierten die medizi­ nisch indizierte Abtreibung und die Homosexualität. Diese

Die psychologische Wirkung

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demokratische Periode endete mit der Errichtung der sta­ linistischen Diktatur, die sämtliche Fortschritte und Refor­ men zunichte machte. Abtreibung und Homosexualität wurden wieder strafbare Delikte, Scheidungs- und Ehe­ gesetze den alten, traditionellen Formen angepaßt und die Sexualität als Zeichen «bürgerlicher Dekadenz» ver­ dammt. Die gleiche Entwicklung kann man heute in Frankreich, dem traditionellen Land sexueller Freiheit, beobachten. Das autoritäre gaullistische Regime hat dort strenge Zen­ surbestimmungen für erotische Literatur geschaffen. Diese Beispiele zeigen, daß nur eine demokratische Ge­ sellschaft ihre Mitglieder für intelligent und reif genug hält, selbst zu entscheiden, was sie lesen wollen. Ein auto­ ritäres Regime hingegen spricht seinen Untertanen die Fä­ higkeit ab, sich selbst zu regieren und selbst ihre Moral zu überwachen. Es belegt sie mit staatlichen oder religiösen Beschränkungen, bestimmt, was gut und schlecht ist und was sie lesen, sehen und tun dürfen. Wir hoffen, in Zukunft unsere Forschungsarbeiten über Wesen und Wirkung erotischer Literatur durch kontrol­ lierte Experimente ergänzen und dadurch zur weiteren Klärung der verschiedenen hier aufgezeigten Probleme und zum Abbau von persönlichen Vorurteilen auf beiden Seiten beitragen zu können. Die Autoren könnten bereits jetzt fundiertere Ergebnisse vorlegen, wenn nicht ein tie­ fer Widerstand gegen diese Art von Forschungen bestün­ de, ein Widerstand, der die Psychologen übrigens auch da­ von abhält, sich eingehender mit anderen Aspekten des sexuellen Verhaltens zu beschäftigen. Das äußerste, was Öffentlichkeit und Wissenschaft ge-

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III. Berühmte «Grenzfälle:

genwärtig auf diesem Gebiet tolerieren, ist eine Grundla­ genforschung vorwiegend statistischer Art, wie die be­ rühmten Untersuchungen von Kinsey. Unter den derzeit herrschenden Umständen ist es nahezu unmöglich, genü­ gend finanzielle Mittel und ausreichende wissenschaftliche und öffentliche Unterstützung zu erlangen, um etwa die folgenden Probleme mit der erforderlichen Gründlichkeit zu untersuchen: die unterschiedliche sexuelle Reaktion von Männern und Frauen auf Pornographie; die unterschied­ liche sexuelle Reaktion verschiedener Alters-, Berufs- und Standesgruppen auf «obszöne» Literatur; die Wirkung, die sie auf überführte Sexualverbrecher hatte oder hat; die «kathartische» Wirkung, die das Lesen oder Verfassen «obszöner» Geschichten möglicherweise bei «normalen» Personen und bei in Anstalten untergebrachten Patienten mit verschiedenen seelischen und geistigen Erkrankungen hat. Weitere Untersuchungen wären zur Klärung der Frage notwendig, welche Wirkung das Lesen auf bereits ausge­ prägte Haltungen hat und ob ein kausaler Zusammenhang zwischen Lesen und Verhalten besteht. Wir möchten nun auf die Rolle der Pornographie in un­ serer Gesellschaft zurückkommen und noch einmal darauf hinweisen, daß die von uns untersuchten pornographi­ schen Werke deutlich die kulturelle Neurose der westlichen Welt widerspiegeln. Ein kleiner Teil dieses Materials mag von schwer gestörten Personen stammen, doch wir haben gesehen, daß pornographische Werke ganz allgemein nicht nur wirklichkeitsfremd sind, sondern daß darin mit voller Absicht die Wirklichkeit verzerrt wird, damit sie den Hauptzweck, dem diese Literaturgattung dienen soll, näm-

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lieh als psychologisches Aphrodisiakum zu dienen, besser erfüllen können. Offenbar haben jede Epoche und jede Gesellschaft die Pornographie, die sie verdienen. Wenn der größte Teil der pornographischen Werke künstlerisch wertlos und ästhe­ tisch abstoßend ist, so müssen wir überlegen, ob nicht un­ sere starre, alles Sexuelle unterdrückende Haltung daran schuld ist. Wir können nicht erwarten, daß Autoren und Künstler von Rang sich der Herstellung qualitativ wert­ voller Erotika widmen, wenn die Gesellschaft, in der sie leben und von der sie wirtschaftlich abhängen, sie deshalb verdammen würde. Im Orient, zum Beispiel im alten Japan, haben bedeu­ tende Künstler und Dichter eine große Zahl Holzschnitte, Gemälde und literarische Werke erotischen Genres ge­ schaffen, die ganz offensichtlich als psychologische Aphro­ disiaka dienen sollten. In diesen Kulturen, die im Vergleich zu unseren relativ frei von antisexuellen Vorurteilen waren, wurde die Notwendigkeit psychologischer Aphro­ disiaka klar erkannt. Die zeitgenössischen Künstler waren nach Kräften bemüht, dieses Bedürfnis zu befriedigen, und die Gesellschaft anerkannte dies und dankte es ihnen. Im Westen hingegen herrscht in der Öffentlichkeit eine starke Opposition gegenüber jeder Art von erotischer Li­ teratur, einschließlich des erotischen Realismus, und man hat die besten Schriftsteller und Künstler abgeschreckt, sich auf ernsthafte Weise mit dieser Thematik zu beschäf­ tigen. Unbestreitbar befassen sich erotisch-realistische Bücher häufig mit ziemlich «schockierenden» Aspekten der Sexua­ lität, wie Perversionen und Abweichungen des Sexualtrie-

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III. Berühmte «Grenzfälle·

bes, Grausamkeit und einer Vielzahl pathologischer Emo­ tionen. Doch dies mindert in keiner Weise den literari­ schen oder wissenschaftlichen Wert solcher Werke. Versuche, Kinder vor den erfreulichen und unerfreuli­ chen Realitäten des Lebens zu bewahren, sind von höchst zweifelhaftem Nutzen; meistens wird dadurch das Gegen­ teil dessen erreicht, was man zu erreichen wünscht. Vor uns liegt ein Zeitungsartikel, der als Beispiel dafür dienen möge, was mit solchen «behüteten» Kindern geschehen kann. Er enthält den Brief eines Vaters, dessen kleine Tochter von einem fünfzehn Jahre alten «Musterknaben» sexuell mißbraucht und umgebracht wurde. Der jugend­ liche Mörder war ein ausgezeichneter Schüler, ein ruhiges, höfliches, etwas introvertiertes Kind, der Stolz seiner El­ tern. Mit tiefer Einfühlung in die psychischen Ursachen dieser schrecklichen Tat bemerkt der leidgeprüfte Vater mit Recht: «Es ist etwas wahrhaft Erschreckendes an einem Musterkind.» Die Tragödie, die über ihn und seine Fami­ lie hereingebrochen sei, wäre nicht geschehen, wenn man sich in unserer Gesellschaft mehr mit «dem ganzen Kom­ plex von Gefühlen und Emotionen, der unser gemeinsames menschliches Erbe ist und den wir aus Bequemlichkeit zu leugnen pflegen», beschäftigte und ihn besser zu begreifen suchte. Ja, dieser ungewöhnliche Vater wirbt sogar um Verständnis für den Jungen, der einen Tag zuvor «das Kostbarste» in seinem Leben getötet hatte. Mit geradezu übermenschlicher Selbstlosigkeit bemüht sich der Vater, der Ermordung seiner kleinen Tochter einen Sinn zu ge­ ben. Er gibt zu, daß er den Jungen, hätte er ihn bei der Tat überrascht, in blinder Wut wahrscheinlich umgebracht ha-

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ben würde, doch nun, bei Anbruch eines neuen Tages, er­ füllte ihn nur noch der Wunsch, der Tod seiner Tochter möge anderen neues Leben bringen. Er vergleicht die strahlende Fröhlichkeit und innere Frei­ heit seiner Tochter mit der unnatürlichen Höflichkeit und Verklemmtheit ihres Mörders, der wohl das kleine Mäd­ chen um das, was sie besaß, zutiefst beneidete, weil er es sich aus ganzem Herzen wünschte und nie erreichen konn­ te. Sie war ein glückliches, das Leben bejahendes, unver­ fälschtes Menschenkind, dessen tiefste menschliche Be­ dürfnisse erfüllt und befriedigt waren, während ihm die Menschen seiner Umgebung diese Selbstverwirklichung unmöglich machten. Niemand schien zu erkennen, daß er, wie jeder gesunde Junge, nicht ausschließlich gehorchen, gute Zeugnisse heimbringen, lächeln, sich verbeugen und schweigen konnte, wenn seine Eltern sprachen, sondern daß er sich auch hin und wieder prügeln, kratzen, schreien, kurz ein ungezogener Halbstarker sein wollte und auch sein mußte. Der Vater des ermordeten Mädchens bittet die Gesell­ schaft, den Jungen für seine Tat, die nicht mehr ungesche­ hen gemacht werden kann, nicht einfach zu bestrafen, son­ dern ihm seine aufgestauten Aggressionen zugute zu hal­ ten. Er ersucht uns zu erforschen, was diesen jungen Men­ schen mit solchem Haß auf die Gesellschaft erfüllte und was derartige Schuldgefühle in ihm auslöste, daß er sich zu einer so furchtbaren Gewalttat hinreißen ließ. «Es gibt keine Menschen, die einfach durch und durch böse sind», meint der Vater in seinem Brief, «doch bei manchen sind die elementaren Triebe so stark gehemmt — oft infolge einer übermenschlichen, die körperliche und

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111. Berühmte «Grenzfälle.

geistige Gesundheit zerstörenden Anstrengung, zu sein —, daß ihre Kontrolle ein ernsthaftes Problem für die Gesellschaft darstellt.» Er schließt mit den Worten: «Las­ sen wir uns nicht von primitiven Rachegelüsten beherr­ schen. Helfen wir lieber dem, der etwas so Menschliches getan hat.» Wir haben uns mit dieser Tragödie — einer von vielen Hunderttausenden, die jedes Jahr geschehen — vielleicht eingehender befaßt, als es in einem solchen Buch ange­ bracht scheint. Doch wir sind der Meinung, daß das, was dieser «Musterknabe» mit einem kleinen Mädchen in einem versteckten Keller getan hat, von wesentlicher Be­ deutung für den Sinn und Zweck dieses Buches ist. «Seht euch vor, Mitbürger», warnt der Vater des Mäd­ chens. «Das menschliche Tier läßt sich nicht ewig täu­ schen. Es will geliebt werden oder töten.» Ja, das menschliche Tier will geliebt werden. Doch da­ mit es ein so hochentwickeltes, kompliziertes Gefühl wie Liebe sich schenken lassen und selbst schenken kann, müs­ sen seine elementaren, instinktiven Bedürfnisse anerkannt und befriedigt werden. An frustrierten menschlichen Tie­ ren müssen alle Zivilisationsbemühungen scheitern. Man sollte diese Frustration nicht verstärken, indem man, vor allem jungen Menschen, die wichtigen Quellen ergänzender sexueller Aufklärung, welche die Werke des erotischen Realismus darstellen, versperrt. Denn die in ihnen dargestellten emotionellen Realitäten sind der höch­ ste Ausdruck menschlicher Sexualität. Viel wichtiger wäre es, den jungen Menschen beizubrin­ gen, daß wir keinerlei Anlaß haben, uns unserer Körper­ lichkeit und ihrer Triebe zu schämen, und daß das einzige,

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dessen wir uns schämen sollten, unsere Scham ist. Mark Twain hat es so ausgedrückt: Man hat den Menschen das lachende Tier genannt, doch auch der Affe lacht; man hat ihn auch das weinende Tier genannt, doch auch andere Tiere weinen. Der Mensch ist hingegen das einzige unanständige Tier, denn er allein hat einen schmutzigen Geist, er allein läßt sich von fal­ scher Scham beherrschen.

IV. Erotika von morgen

s besteht die Notwendigkeit, für jene erotische Litera­ tur, die sich weder in die kleine Gruppe unverhüllter Pornographie noch in die größere Sparte des erotischen Realismus und erotischen Humors einreihen läßt, eine neue Kategorie zu schaffen, für die wir die Bezeichnung Qualitätserotika vorschlagen möchten. Diese Kategorie würde jene Arten von Literatur umfas­ sen, die wir bereits besprochen haben, also den erotischen Realismus, die erotische Autobiographie, den erotischen Humor und die Satire (welche, wie wir gesehen haben, eine besondere Art des Humors mit gesellschaftskritischer Tendenz darstellt). Diesen Sparten möchten wir nun noch die philosophischen Erotika und den erotischen Surrealis­ mus hinzufügen.

E

Erotischer Surrealismus

Vor allem in Frankreich ist der erotische Surrealismus zu großer Blüte gelangt — als Teil der größeren surrealisti­ schen Bewegung in der Kunst und Literatur dieses Landes. Vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet, ist diese Sparte der erotischen Literatur vielleicht die interessante­ ste, da die darin wiedergegebenen erotischen Phantasien

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/V. Erotika von morgen

häufig Rückschlüsse auf die schädlichen Auswirkungen der traditionellen Sexualitätsfeindlichkeit unserer Kultur zu­ lassen, gegen die sich diese Bewegung auflehnt. Der bedeutendste Autor des erotischen Surrealismus war zweifellos Georges Bataille. Er schrieb unter verschie­ denen Pseudonymen (von Beruf war er Bibliothekar im französischen Staatsdienst) mehrere surrealistische Roma­ ne und Erzählungen mit starkem erotischem Gehalt. Sein bekanntestes Werk ist die «Histoire de l'CEuil» (Die Ge­ schichte des Auges). Zu dieser Geschichte, deren französische und englische Fassungen unter dem Pseudonym Pierre Angelique er­ schienen, schrieb Bataille unter seinem eigenen Namen ein «Vorwort», in dem er andeutet, daß die psychologische Thematik der Erzählung auf seiner lebenslänglichen Be­ schäftigung mit bestimmten erotischen «Images» und Symbolen basiere. Diese erotischen «Images» stammten, wie er erklärt, aus seiner unglücklichen Kindheit und hin­ gen vor allem mit der fortgeschrittenen syphilitischen Er­ krankung seines Vaters zusammen, der in seinen letzten Jahren nicht nur hilflos, blind und unfähig war, seinen Urin zurückzuhalten, sondern auch geistig völlig zerrüttet. Bataille berichtet, daß zu seinen stärksten, mit der Krankheit seines Vaters zusammenhängenden Kindheits­ eindrücken der Urin (den dieser nicht zurückhalten konn­ te) und das Auge (wegen der Blindheit seines Vaters) ge­ hörten. Es überrascht deshalb nicht, daß der Urin, das Auge und dessen Äquivalent, das Ei, die wichtigsten Sym­ bole seiner Geschichte darstellen. Ein anderes bedeutendes Werk des modernen erotischen Surrealismus, mit dem wir den Leser bekanntmachen wol­

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len, ist die berühmte «Geschichte der O.». Die Autorin ist angeblich die französische Schriftstellerin Pauline Réage, doch wurde das Buch verschiedentlich anderen Autoren zugeschrieben, darunter Jean Paulhan, der ein Vorwort dazu verfaßt hat. Das Buch, wie das Batailles, ein Werk von hohem lite­ rarischem Wert, steht in der Nachfolge de Sades, ist je­ doch nicht so kraß wie de Sades «Justine» oder wie die erotischen Erzählungen Apollinaires. Eine starke Ähnlich­ keit zu Batailles Buch liegt darin, daß das Hauptthema die «Hörigkeit» ist, welche die sadistisch-dominierenden männlichen und die masochistisch-unterwürfigen weibli­ chen Gestalten verbindet. «Die Geschichte der O.» hat je­ doch, wie wir gleich sehen werden, auch noch verschiedene andere interessante Aspekte, darunter fetischistische Ten­ denzen und eine faszinierende Variation über das Thema sexueller Eifersucht und Liebe, welches allein bereits die teilweise recht ermüdende sado-masochistische Thematik aufwiegt, ohne die die französische erotische Literatur nicht auszukommen scheint. In der folgenden Passage wird in surrealistischer Manier eine Taxifahrt durch Paris geschildert. Das «Hörigkeits­ thema», welches das ganze Buch durchzieht, klingt darin bereits an ; außerdem gewährt sie einen interessanten Ein­ blick in jene spezielle Art von Erotik, deren Grundzug dar­ in besteht, daß der Mann die Frau nicht nur seinem Willen und seinen Launen gefügig macht, sondern auch ihre «Sitt­ samkeit» zerstört, was in diesem Fall symbolisch dadurch dargestellt wird, daß er sie während der Fahrt zwingt, ihre Unterwäsche auszuziehen.

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ZV. Erotika von morgen

Ihr Geliebter führt O. eines Tages in einem Stadtviertel spazieren, das sie sonst nie betreten, im Pare Monsouris, im Pare Monceau. An der Ecke des Parks, einer Stra­ ßenkreuzung, wo niemals Taxis stehen, sehen sie, nach­ dem sie im Park spazierengegangen und Seite an Seite am Rand einer Rasenfläche gesessen waren, einen Wa­ gen mit Zähluhr, der einem Taxi gleicht. «Steig ein», sag­ te er. Sie steigt ein. Der Abend ist nicht mehr fern, und es ist Herbst. Sie ist gekleidet wie immer: Schuhe mit hohen Absätzen, ein Kostüm mit Plisseerock, Seiden­ bluse, keinen Hut. Aber lange Handschuhe, die über die Ärmel des Kostüms gezogen sind, und sie trägt in der ledernen Handtasche ihre Papiere, Puder und Lippen­ stift. Das Taxi fährt geräuschlos an, ohne daß der Mann etwas zum Chauffeur gesagt hätte. Er schließt die Schie­ bevorhänge rechts und links an den Scheiben und hinten am Rückfenster; sie hat ihre Handschuhe ausgezogen, weil sie glaubt, er wolle sie küssen oder sie solle ihn streicheln. Aber er sagt: «Du kannst dich nicht rühren, gib deine Tasche her.» Sie gibt ihm die Tasche, er legt sie außerhalb ihrer Reichweite und fährt fort: «Und du hast zu viel an. Mach die Strumpfhalter auf, rolle deine Strümpfe bis zum Knie: hier hast du Strumpfbänder.» Es geht nicht ganz leicht, das Taxi fährt schneller, und sie fürchtet, der Chauffeur könne sich umdrehen. Schließlich sind die Strümpfe gerollt, und es stört sie, die Beine frei und nackt unter der Seide ihres Hemds zu spüren. Außerdem rutschen die ausgehakten Strumpf­ halter hoch. «Nimm den Gürtel ab», sagte er, «und zieh den Slip aus.» Das geht einfach, man braucht nur mit den Händen hinter die Hüften zu fassen und sich ein

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bißchen hochzustemmen. Er nimmt ihr Gürtel und Slip aus der Hand, legt sie in die Tasche und sagt dann: «Du darfst dich nicht auf dein Hemd und auf den Rock setzen, du mußt beides hochziehen und dich direkt auf die Bank setzen.» Die Bank ist mit Kunstleder bezogen, es ist glitschig und kalt, man schaudert, wenn man es an den Schenkeln spürt. Dann befiehlt er ihr: «Zieh jetzt deine Handschuhe wieder an.» Das Taxi fährt noch immer, und sie wagt nicht zu fragen, warum René sich nicht rührt und nichts mehr sagt, noch was es für ihn bedeuten kann, daß sie reglos und stumm, so entblößt und so aus­ gesetzt, so wohl behandschuht, in einem schwarzen Wa­ gen sitzt und nicht weiß, wohin sie fährt. Er hat ihr nichts befohlen und nichts verboten, doch sie wagt we­ der die Beine überzuschlagen noch die Knie zu schließen. Sie hat die beiden behandschuhten Hände rechts und links auf den Sitz gestützt. «Voilà», sagte er plötzlich. Voilà: das Taxi hält in einer schönen Allee, unter einem Baum — es sind Platanen — vor einem kleinen Palais, ähnlich dem kleinen Palais am Faubourg Saint-Germain, das man zwischen Hof und Garten mehr ahnt als sieht. Die Straßenlaternen sind ein Stück entfernt, es ist dunkel im Wagen, und draußen regnet es. «Halt still», sagt René. «Halt ganz still.» Er streckt die Hand nach dem Kragen ihrer Bluse aus, öffnet die Schleife, dann die Knöpfe. Sie beugt den Oberkörper ein wenig vor, sie glaubt, er wolle ihre Brüste streicheln. Nein. Er tastet nur, faßt und durch­ schneidet mit einem Taschenmesser die Träger des Bü­ stenhalters und zieht ihn ihr aus. Unter der Bluse, die er wieder geschlossen hat, sind jetzt ihre Brüste frei und

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IV. Erotika von morgen

nackt, wie ihr Leib nackt und frei ist von der Taille bis zu den Knien. «Hör zu», sagte er. «Es ist soweit. Ich lasse dich jetzt allein. Du steigst aus und klingelst an der Tür. Du folgst der Person, die dir öffnet, du tust alles, was man von dir verlangt. Wenn du nicht sofort hineingehst, wird man dich holen, wenn du nicht sofort gehorchst, wird man dich zwingen zu gehorchen. Deine Tasche? Nein, du brauchst deine Tasche nicht mehr. Du bist weiter nichts als das Mädchen, das ich anliefere. Doch, doch, ich werde dort sein. Geh!»

Andere Szenen des Buches spielen in einem Schloß, wie wir es aus den Werken de Sades kennen: Frauen werden darin gefangengehalten und von Männern auf grausame Weise gezwungen, ihnen zu Willen zu sein. Im Grunde geht es darum, daß der «Sexualneid» der Frau gebrochen und sie auf diese Weise in eine Sphäre der Erotik einge­ führt wird, die ihr infolge ihrer eifersüchtigen Bindung an einen Partner ansonsten verschlossen geblieben wäre. Wir hoffen, dem Leser mit diesen Beispielen einen Ein­ druck von dieser wichtigen Literatursparte vermittelt zu haben, die praktisch im englischen und deutschen Sprach­ raum ohne Parallele ist. Es ist jedoch anzunehmen, daß mehrere dieser Werke in Übersetzungen erscheinen und daß sich infolge der zunehmenden Vertrautheit des gebil­ deten Leserpublikums außerhalb Frankreichs in anderen Ländern auch bald ein eigenständiger Surrealismus ent­ wickeln wird.

Philosophie und Gesellschaftskritik in der erotischen Literatur Wir möchten nun jene Erotika untersuchen, die sich in er­ ster Linie mit philosophischen Fragen und Gesellschafts­ kritik beschäftigen. Wer mit dieser Art Literatur nicht ver­ traut ist, mag dies bezweifeln, doch das Engagement der Autoren ist — im Gegensatz zu den Verfassern pornogra­ phischer Produkte — völlig echt und nicht nur ein Vor­ wand, hinter dem sich erotische oder pornographische In­ teressen verbergen. Unbestreitbar sind de Sades Werke von einer manchmal zutiefst abstoßenden Grausamkeit, doch darf man nicht vergessen, daß seine literarischen Ex­ zesse bei weitem nicht den Exzessen gleichkommen, die zu seiner Zeit tatsächlich vorkamen — und auch heutzutage noch vorkommen. Die Darstellung des Bösen diente de Sade dazu, aufzuzeigen, wie unmenschlich der Mensch ge­ genüber dem Menschen sein kann. Das erste Zitat stammt aus de Sades «Justine» oder «Das Unglück der Tugend». Die Szene spielt im Schloß eines gewissen Roland, den die unglückliche Justine geret­ tet hat, nachdem er von einer Räuberbande überfallen und schwerverletzt am Straßenrand liegengelassen wurde. «Zum Dank» lockte er sie in sein unheimliches Schloß und amüsiert sich damit, seine Geliebten Suzanne und Ju­ stine zu quälen. «Oh, meine Liebe! Wenn du eine Vorliebe für Brüste hegst», sagte Roland, «so mußt du dich an Suzanne halten; ich bin sicher, solche feine Zitzen hast du noch nie gehabt. Warte, wir wollen sie in Augenschein neh-

jo

IV. Erotika von morgen

men», und mit diesen Worten drückte er des armen Mädchens Brüste, bis seine Finger Löcher in sie bohrten. Nicht ich war es mehr, die ihn erregte, Suzanne war an meine Stelle getreten; kaum hatte er sie zwischen seinen Klauen, da sprang sein Pfeil aus seinem Köcher und be­ gann alles in seiner Nähe zu bedrohen. «Suzanne», sagte Roland, «sieh deinen schrecklichen Triumph. . . dies ist dein Todesurteil, Suzanne; ich hab's befürchtet», fügte dieser grausame Mann hinzu, während er ihre Brüste kniff und umklammerte. Was die meinen betraf, so saugte und kaute er nur daran. Schließlich hieß er Suzanne am Rand des Sofas niederzuknien und den Kopf zu neigen, und in dieser Stellung genoß er sie auf die ihm eigene schreckliche Weise; erweckt durch neue Schmerzen, setzt Suzanne sich zur Wehr, und Roland wechselt in meine Arme über und sucht bei mir Zuflucht in dem gleichen Schrein wie bei meiner Gefährtin, die zu quälen und zu belästigen er indessen nicht aufhört. «Diese Hure erregt mich furchtbar», sagt er zu mir, «ich weiß nicht, was ich mit ihr tun soll.» — «Oh, Mon­ sieur», sage ich, «haben Sie Erbarmen mit ihr; ihre Lei­ den könnten nicht schlimmer sein.» — «Oh, da täuschst du dich!» erwidert der Schurke. «Eines Nachts ... ah! hätte ich doch nur jenen berühmten Kaiser Kie bei mir, eine der größten Kanaillen, die je auf dem chinesischen Thron saßen — mit Kie wären wir wahrhaft imstande, Wunder zu vollbringen. Sowohl er wie seine Frau, sagt man, quälten täglich ihre Opfer und fügten ihnen vier­ undzwanzig Stunden die grausamsten Schmerzen zu, wobei sie darauf achteten, daß sie ständig nahe daran waren, ihren Geist auszuhauchen und doch nie wirklich

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starben, denn diese Ungeheuer leisteten ihnen soweit Beistand, daß sie zwischen Erleichterung und Qual schwebten, und erweckten sie nur immer wieder für eine Minute zum Leben, um sie in der nächsten zu töten ... Ich, Therese, ich bin zu sanftmütig, ich weiß nichts von diesen Künsten, ich bin bloß ein Lehrling.» Roland zieht sich zurück, ohne das Opfer zu vollenden, und sein vorzeitiger Rückzug schmerzt mich fast ebenso sehr wie sein Eindringen. Er wirft sich in Suzannes Arme und ruft, seine Wut mit Sarkasmus mischend: «Liebwertes Geschöpf, mit welchem Entzücken gedenke ich unserer ersten Vereinigungen; noch nie hatte eine Frau mich mit solch erregender Wonne erfüllt, noch nie hatte ich eine so geliebt wie dich .. . laß uns einander umarmen, Suzanne, denn mich dünkt, wir müssen uns trennen, und vielleicht wird unsere Trennung von sehr langer Dauer sein.» — «Ungeheuer», erwidert meine Gefährtin und stößt ihn voll Entsetzen von sich, «pack dich; füge zu den Qualen, die du mich leiden läßt, nicht noch die Ver­ zweiflung hinzu, deine schrecklichen Bemerkungen hö­ ren zu müssen; befriedige deine Gier, du Tiger, aber re­ spektiere wenigstens mein Leid.» Roland ergriff sie und streckte sie mit weitgespreizten Beinen auf die Couch nieder, so daß er zu ihrer Scham freien Zugang hatte. «Tempel meiner einstmaligen Freuden», rief die infame Kreatur, «du, die du mir so süße Wonnen verschafftest, als ich deine ersten Rosen pflückte, nun heißt es Ab­ schied von dir nehmen ...» Der Schuft! er grub seine Fingernägel hinein, wühlte mehrere Minuten darin her­ um, während laute Schreie Suzannes Mund entfuhren, und zog sie erst zurück, als sie mit Blut bedeckt waren.

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Befriedigt und ermüdet von diesem grauenhaften Tun und nicht mehr fähig, sich zurückzuhalten, sagte er: «Komm, Therese, komm, laß uns all dies mit einem Seiltänzerakt beenden.» Dies war der Name, den er je­ nem tödlichen Kunststück gab, das ich Ihnen schon ge­ schildert habe, als ich Rolands Höhle zum erstenmal er­ wähnte. Ich steige auf einen dreibeinigen Schemel, der Bösewicht legt einen Strick um meinen Hals und nimmt mir gegenüber Aufstellung; obgleich in schrecklicher Verfassung, erregt Suzanne ihn mit den Händen; ein Augenblick verstreicht, dann zieht er den Schemel unter mir fort, doch ausgerüstet mit der Sichel, durchschneide ich sofort den Strick und falle unversehrt zu Boden. «Gut gemacht, wirklich sehr hübsch», sagt Roland, «nun bist du an der Reihe, Suzanne, und wenn du eben­ so geschickt bist, will ich dich schonen.» Suzanne nimmt meinen Platz ein. Ach, Madame, gestat­ ten Sie mir, die gräßlichen Einzelheiten dieser Szene im Dunkel zu lassen.. . Die Arme hat es nicht überstan­ den. Der Leser hat sicherlich bemerkt, daß de Sade in dieser Szene Folterungen schildert, die Menschen unter gewissen Regimen tatsächlich zugefügt worden sind; in diesem Fall von einem einstigen chinesischen Kaiser und seiner sadisti­ schen Frau. Sade möchte damit aufzeigen, daß kein von einem einzelnen Menschen begangenes Verbrechen, und sei es noch so abscheulich und gemein, jenen Grausamkei­ ten gleichkommt, die nicht nur im Krieg, sondern auch in Friedenszeiten von Regierungen begangen werden. Die von den Nazis, von den sowjetischen Machthabern in der

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stalinistischen Zeit und vom französischen Militär wäh­ rend des Algerienkrieges begangenen Grausamkeiten be­ weisen, wie recht de Sade mit dieser Behauptung hat. Die entsetzliche Szene in der zitierten Passage, in der Roland mit bloßen Händen die Vagina seiner Geliebten zerfetzt, wird zweifellos an Grauenhaftigkeit von dem Bericht eines algerischen Mädchens noch übertroffen, dem französische Soldaten die Vagina mit einer zerbrochenen Flasche zer­ rissen. Genügend Stoff für seine Geschichten hätte de Sade auch die französische Polizei während des Höhepunktes der «Algerienkrise» geliefert, als die Hüter des Gesetzes in Paris Algerier zu Tode prügelten oder ins eiskalte Was­ ser der Seine warfen, aus der zu jener Zeit fast täglich ihre Leichen gefischt wurden. Auch die von den örtlichen Be­ hörden vorgenommene oder geduldete Lynchjustiz an Ne­ gern in den Vereinigten Staaten würde de Sade genügend Material zur Erhärtung seiner Thesen liefern. Eine gräßliche Parallele zu der zitierten Strangulations­ szene stellt die mit der Hand oder der Garotte vorgenom­ mene Erwürgung politischer Gefangener in einem angeb­ lich zivilisierten europäischen Land dar, in dem diese Art der Hinrichtung heute noch offiziell sanktioniert ist (abge­ sehen davon, daß Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl oder durch Inhalation von Giftgas nicht viel weniger «sadistisch» erscheinen). Mit anderen Worten: Solange Regierungen auf diese oder andere Weise Gewalt anwenden, um ihre Ziele zu verwirklichen oder «Gerechtigkeit» zu üben, sind de Sades Argumente unwiderlegbar. Im Fall Genet wollen wir uns auf Zitate aus seinem zum Teil autobiographischen «Tagebuch eines Diebes» be­

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schränken. Genet berichtet darin, wie er als Baby von sei­ nen Eltern verlassen und zuerst von Pflegeeltern und spä­ ter (nachdem er diese bestohlen hat) in Erziehungsanstal­ ten aufgezogen wurde. Später erzählt er von seinen Aufenthalten in verschiede­ nen Gefängnissen (er wurde mehrmals wegen Diebstahls und Rauschgifthandels zu Haftstrafen verurteilt), von sei­ nen Beziehungen zu anderen Häftlingen, die häufig homo­ sexueller Art waren, und von seinen Wanderungen als Bettler und Tramp durch ganz Europa. In der folgenden Passage begegnen wir ihm an der Süd­ küste Spaniens, das damals noch ein unberührtes, armes, verödetes Land war.

Andalusien war schön, heiß und unfruchtbar. Ich habe dieses Land von einem Ende zum andern durchstreift. In diesem Alter kannte ich keine Müdigkeit. Ich trug mit mir eine solche Last von Verzweiflung, daß ich sicher war, mein ganzes Leben lang durch die Welt zu irren. Landstreichertum war nicht mehr eine Einzelheit, die das Leben ziert, sondern die Wirklichkeit. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, aber ich erinnere mich, daß ich all mein Elend Gott darbot. In meiner Einsamkeit, fern von allen Menschen, war ich nicht weit von einem Zustand völliger Liebe und Hingabe entfernt. Bereits in diesem Absatz bemerken wir Genets im Grund religiöse Einstellung, die als erster Jean-Paul Sartre er­ kannte und über die er sein über 600 Seiten starkes Buch «Saint Genet» schrieb. Was Genet (und Sartre) unter Reli­ gion verstehen, hat freilich so gut wie nichts mit dem kon­

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ventionellen Begriff Religion zu tun, denn Genet ist eben­ so leidenschaftlich antiklerikal wie antisozial. Sein religiö­ ser Amoralismus wird jedoch verständlicher, wenn man bedenkt, daß das lateinische Wort sacer, von dem unser sakral abgeleitet ist, sowohl heilig wie das Gegenteil da­ von bedeutet. Indem Genet alle moralischen Maßstäbe verwirft und sich dem «Bösen» verschreibt, sucht er Gott an den einzigen Orten, von denen ihn seiner Meinung nach die bürgerliche Gesellschaft noch nicht vertrieben hat — in den dunklen Winkeln des Verbrechens, der Sünde und der Schande. Bettelnd und stehlend wie ein unheiliger Franz von Assisi wandert er die spanische Küste entlang.

San Fernando liegt an der Küste. Ich beschloß, nach Cadiz hinüberzugehen, das mitten im Wasser erbaut, aber mit dem Festland durch einen sehr langen Damm verbunden ist. Als ich den Damm betrat, war es Abend. Vor mir lagen die hohen Salzpyramiden der Salzsümpfe San Fernandos, und weiter zurück, mitten im Meer, eine Stadt voller Kuppeln und Minarette, die sich in der un­ tergehenden Sonne scharf abhoben: an der äußersten Spitze des Westens hatte ich plötzlich eine Synthese des Orients vor mir. Zum erstenmal in meinem Leben ver­ nachlässigte ich einen Menschen um der Dinge willen. Ich vergaß Stilitano (seinen Geliebten, einen üblen Ver­ brecher und Zuhälter). Um leben zu können, begab ich mich frühmorgens an den Hafen, die Pescatoria, wo die Fischer stets einige Fische aus ihren Barken zu werfen pflegten, die sie des Nachts gefangen haben. Alle Bettler kennen diesen

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Brauch. Anstatt sie wie in Malaga auf den Feuern der anderen Landstreicher zu braten, kehrte ich allein zu­ rück in die Felsen, die nach Porto Reale hin liegen. Die Sonne ging auf, wenn meine Fische gebraten waren. Ich aß sie fast immer ohne Brot und Salz. Aufrechtstehend, in den Felsen liegend oder darauf sitzend, an der äußer­ sten Ostspitze der Insel, dem Festland gegenüber, war ich der erste Mann, den der erste Sonnenstrahl beschien und wärmte. Er war die erste Kunde des Lebens. Im Dunklen hatte ich die Fische an den Anlegekais aufgele­ sen. Im Dunklen ging ich zu meinen Felsen zurück. Dann warf mich die Ankunft der Sonne zu Boden. Ich brachte ihr einen Kult dar. Eine Art boshaftes Vertrau­ ensverhältnis entstand zwischen ihr und mir. Natürlich ehrte ich sie ohne umständliches Ritual; der Gedanke, die Primitiven nachzuahmen, kam mir nicht. Aber ich weiß: dieser Stern wurde mein Gott. In meinem Körper ging er auf, setzte er seinen Kreislauf fort und beendete ihn. Wenn ich ihn am Himmel der Astronomen sah, so nur als die kühne Projektion dessen, den ich in mir be­ wahrte. Vielleicht verschmolz er sogar dunkel mit dem verschwundenen Stilitano. Ich deute euch hiermit an, von welcher Beschaffenheit meine Empfindungen zu jener Zeit waren. Die Natur beunruhigte mich. Meine Liebe zu Stilitano, die Heftig­ keit, mit der er in mein Leben eingebrochen war, und ich weiß nicht was noch, lieferten mich den Elementen aus. Die Elemente aber sind böse. Ich wollte sie in mei­ ner Nähe behalten, um sie zu zähmen. Ich weigerte mich, ihre Grausamkeit zu leugnen: im Gegenteil, ich

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beglückwünschte sie, weil sie soviel davon besaßen; ich schmeichelte ihnen. Etwas Derartiges kann nicht durch Dialektik erreicht werden. So nahm ich meine Zuflucht zur Magie, das heißt: einer freiwilligen, natürlichen Empfänglichkeit, wenn man so sagen kann — einem intuitiven Einver­ ständnis mit der Natur. Die Sprache hätte mir hier nichts genützt. Damals bekamen Dinge und Umstände für mich etwas Mütterliches, worin freilich, wie der Sta­ chel einer Biene, die Spitze des Hochmuts wachte. (Müt­ terlich: das heißt, ihr wesentliches Element ist weiblich. Mit diesen Zeilen will ich nicht auf zoroastrische Lehren anspielen; ich möchte nur darauf hinweisen, daß meine Sensibilität um sich herum weibliche Anordnungen ver­ langte. Sie konnte dies, weil sie verstanden hatte, sich männlicher Eigenschaften zu bemächtigen: Härte, Grau­ samkeit, Gleichgültigkeit.) Der Leser wird sich ebensowenig irreführen lassen, wie ich selbst, wenn ich versuche, meine damalige Haltung mit Hilfe von Worten zu rekonstruieren. Wir wissen, unsere Sprache ist unfähig, auch nur den Widerschein jener versunkenen, fremden Zustände ins Gedächtnis zu rufen. Und gleiches würde für dieses ganze Tagebuch gelten, wenn es Aufzeichnung dessen sein wollte, was ich war. Es will jedoch Auskunft geben — wie ich hiermit feststellen möchte — über den, der ich heute bin, wo ich dies schreibe. Ich bin nicht auf der Suche nach der Ver­ gangenheit; ich schreibe vielmehr ein Kunstwerk, dem mein früheres Leben als Vorwand dient. Es ist die Ge­ genwart, die mit Hilfe der Vergangenheit gestaltet wird, und nicht umgekehrt. Man wisse also: die Ereignisse

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waren, wie ich sie schildere, aber ihre Andeutungen sind — was ich geworden bin. Nachts streunte ich durch die Stadt. Ich schlief an eine Mauer gelehnt, im Windschat­ ten. Ich träumte von Tanger, dessen Nähe und Aus­ strahlung als Hochburg der Verräter mich im Bann hielt. Um meinem Elend zu entfliehen, dachte ich mir die wag­ halsigsten Verrätereien aus, die ich mit Besonnenheit hätte durchführen können. Heute weiß ich: an Frank­ reich bindet mich nichts, als meine Liebe zur französi­ schen Sprache — aber damals! Diese Neigung zum Verrat sollte noch deutlicher zum Ausdruck kommen, als ich anläßlich von Stilitanos Ver­ haftung vernommen wurde. «Müßte ich», so fragte ich mich, «für Geld und bei An­ drohung von Schlägen Stilitano denunzieren?» Ich liebe ihn noch immer und ich antworte: «Nein.» — «Aber müßte ich Pepe denunzieren, der den Rondaspieler auf dem Parallelo ermordete?» De Sade und Genet vereinigen in ihren Werken, vielleicht mehr als irgendein anderer Schriftsteller, die zwingend­ sten philosophischen Argumente und die klarste Logik; die höchste Moral und die niedrigste Unmoral. Und bei Genet findet man überdies edelste und reinste Gefühle neben den gemeinsten und verworfensten Ansichten. Was Genet betrifft, so hegen wir keinen Zweifel, daß er trotz all seiner Obszönitäten im tiefsten Innern ein Purita­ ner ist und in puncto Moral — trotz seiner unverhüllten Blasphemien — «päpstlicher als der Papst». In einem über­ aus interessanten Interview mit der Zeitschrift Playboy (im April 1964) sagte er über die erotischen Aspekte eini­

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ger seiner Werke: «Ich bin heute der Ansicht, daß meine Bücher schlecht geschrieben sind, wenn sie den Leser sexuell erregen, denn der dichterische Eindruck sollte so stark sein, daß der Leser sexuell nicht erregt wird. Sollte der Vorwurf zutreffen, meine Bücher seien pornogra­ phisch, so distanziere ich mich nicht von ihnen. Ich möchte dazu einfach sagen, daß es mir an gutem Geschmack man­ gelte.» Diese Worte enthalten zugleich eine tiefe Wahrheit und eine gefährliche Vereinfachung. Wahr ist unserer Meinung nach daran, daß ein reines Kunstwerk, etwa ein Gedicht oder ein Gemälde, von so großer ästhetischer Qualität sein sollte, daß diese keinerlei emotionelle oder ideologi­ sche Reaktion (also auch keine erotische) aufkommen läßt, sondern daß die Reinheit und Perfektion der Form den Leser oder Betrachter gänzlich gefangennimmt — eine Auf­ fassung, die in der Malerei von der Darstellung zur Ab­ straktion geführt hat, bei der ausschließlich Form, Struk­ tur, Farbe von Bedeutung sind und nicht mehr der gedank­ liche Gehalt. In dieser Beziehung hat Genet — der sich übrigens immer weiter weg vom ideologischen Gehalt zur «reinen» Kunst hin bewegt — völlig recht. Unrecht hat er (unserer Ansicht nach), wenn er unter­ stellt, daß nicht alle Literatur und Kunst «rein» ist, unab­ hängig davon, ob sie Ideen oder Gefühle vermittelt. Wenn Literatur oder Kunst Ideen vermittelt oder an Gefühle appelliert (und genau dies ist bei Genets früheren Werken zweifellos der Fall), so unterscheidet gerade das Maß an Wirkung, das in dieser Beziehung auf den Leser ausgeübt wird, gute von schlechter Kunst. Und es erscheint unlo­ gisch, daß die Auslösung erotischer Gefühle weniger

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«künstlerisch» sein soll als etwa die Auslösung von Mit­ leid, Zorn, Verachtung oder anderer Gefühle. Gerade die Fälle de Sade und Genet zeigen überdies, wie gefährlich für die Gesellschaft die Unterdrückung eroti­ scher Kunst sein kann. Denn öfter als man gemeinhin denkt, enthalten erotische Werke wertvolle Ideen und An­ sichten, deren Verbreitung durch Unterdrückung dieser Werke verhindert wird. Man kann sogar sagen, daß man­ che Autoren (und dies trifft besonders auf de Sade zu) ganz bewußt die Darstellung sexueller Handlungen als Mittel des Protestes gegen die Gesellschaft benützten, wo­ bei sie sich völlig im klaren darüber waren, wie unakzep­ tabel gerade diese Ideen für die bürgerliche Moral waren. Angesichts des auch heute noch herrschenden Widerstreits der Meinungen auf diesem Gebiet erscheint es überaus wahrscheinlich, daß wir in Kunst und Literatur noch mit einer großen Anzahl erotisch schockierender und heraus­ fordernder Werke konfrontiert werden, bis eine vernünf­ tigere Einstellung gegenüber der Sexualität einen derarti­ gen Protest unnötig machen wird.

Autobiographische Erotika

Die autobiographischen Erotika können grob in zwei Hauptkategorien eingeteilt werden: in offene, unverhüllte Autobiographien (wie Samuel Pepys' Tagebuch, Walters «Mein geheimes Leben» oder die Memoiren Casanovas, die allerdings zum Teil erdichtet sind) und autobiographi­ sche Romane, zu denen Henry Millers Werke zu zählen sind. Einige von Millers Büchern haben stärkere autobiogra­ phische Züge als andere, und gerade diese enthalten die krassesten erotischen Darstellungen (z. B. «Nexus», «Plexus», «Sexus» und «Stille Tage in Clichy»). Dafür gibt es einen guten Grund: in einem Interview mit der englischen Zeitschrift Books and Bookmen (April 1963) erklärte Miller auf die Frage, warum seine Bücher soviel Sex enthielten: «Das ist schwer zu beantworten. Ich glau­ be, ich habe ebensoviel ge­ schrieben — das behaupten zumindest mir übelwollende Kritiker — wie über Sex. Man stürzt sich aber immer auf den Sex. Nein, ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich kann nur sagen, daß er eine große Rolle in meinem Leben gespielt hat. Ich habe ein schönes, erfülltes Sexualleben geführt, und ich sehe nicht ein, warum ich das verschwei­ gen soll.» Wir möchten uns hier nicht auf eine eingehendere Ana­ lyse von Millers erotischen Werken einlassen, sondern nur noch einmal darauf hinweisen, daß er sich von denen anderer Autoren vor allem durch seine brutale Offenheit und seine Tendenz zur rücksichtslosen Selbstenthüllung

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unterscheidet. Diese Selbstenthüllung erscheint uns als Parallele zu der religiösen Gesinnung, die in Genets frü­ hen Werken zutage tritt. Beide Autoren läutern durch diese öffentliche Beichte ihre Seelen. Sie unterwerfen sich dem Urteil ihrer Mitmenschen, belasten sie aber auch mit der Entscheidung, den ersten Stein zu werfen. Bei Miller kommt zur Selbstenthüllung noch eine allge­ meine Enthüllung der menschlichen Natur mit all ihren Schwächen: häufig zeigt er sie mit ihrer ganzen Schmutzig­ keit, vor allem auf sexuellem Gebiet, wobei er sich selbst am wenigsten schont. Dabei ist sein dokumentarischer Stil frei von jeglicher Anklage oder moralischen Mißbilligung; er scheint eher an das Verständnis und Mitgefühl zu ap­ pellieren, auch für das allzumenschliche Obszöne im Han­ deln und in der Haltung seiner Gestalten.

Erotischer Realismus

Viele — und höchstwahrscheinlich die wichtigsten — eroti­ schen Werke werden in Zukunft möglicherweise Frauen schreiben. In unserem Besitz befindet sich das unveröffent­ lichte Manuskript einer bekannten amerikanischen Auto­ rin, das als Beispiel für diese Literatursparte gelten darf. Der Roman trägt den Titel «Life in Provincetown» (Leben in einer Provinzstadt) und behandelt in offener Weise die sexuellen Beziehungen zwischen verschiedenen Menschen

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in einer kleinen Stadt (also eine Art «Peyton Place», nur daß die Autorin ihr Augenmerk viel stärker auf die eroti­ schen Aspekte dieser Beziehungen richtet als auf das ge­ sellschaftliche Gefüge einer heuchlerischen, von Sexualität besessenen Kleinstadt). In der Passage, die wir zitieren möchten, hört ein portu­ giesischer Matrose, wie ein alleinstehendes Mädchen, das neben ihm wohnt, mit verschiedenen Männern sexuell verkehrt. Diese nächtlichen Szenen erregen ihn stark, und er versetzt sich in seiner Phantasie an die Stelle der ande­ ren Männer. Was ihn jedoch zutiefst verstört, ist der Um­ stand, daß das Mädchen auf dem Höhepunkt der Leiden­ schaft jedesmal hysterisch und höhnisch zu lachen anfängt, als wollte sie bei den Männern das Gefühl, sie sexuell er­ obert zu haben, zerstören und sie demütigen. Dieses Lachen reizt den Matrosen, der ansonsten keinen Kontakt mit dem Mädchen hat, so sehr, daß er beschließt, sie zu erobern — als verkörpere er alle verhöhnte Männ­ lichkeit und sie alle frigide Weiblichkeit. Er nimmt die Ver­ höhnung seiner Maskulinität so persönlich, daß er ent­ schlossen ist, sie eher umzubringen, als sich wie seine Vor­ gänger von ihr demütigen zu lassen. Der Portugiese trat in ihr Zimmer; er sah sehr groß und sehr dunkel aus und füllte den Raum mit seiner leben­ digen, kraftvollen Gegenwart. Der Mund der Frau war im Dunkeln zu sehen. Er zündete eine Kerze an, und in ihrem flackernden Schein lächelte sie ihn an ... er muß­ te sich zusammennehmen, um sich nicht auf sie zu stür­ zen. Ihr Mund war so einladend, so voll... wie zum Küssen geschaffen.

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Er setzte sich in die Nähe ihres Bettes, und sie unter­ hielten sich. Doch während sie miteinander sprachen, schlief sie ein, und der Portugiese konnte sie betrachten. Ihr dunkles Haar war über das Kissen gebreitet, ein dunkles Kissen, das sie umgab. Sogar im Kerzenlicht schimmerte ihr Mund rot und war halb offen wie eine Flamme. Der Portugiese trat zu ihr und küßte sie. Sie erwachte und legte ihre Arme um ihn. Er küßte sie wieder. Der Mund schmolz unter seinen starken Lippen. Er war warm und weich und prall wie noch kein Mund, den er geschmeckt hatte. Er überließ sich seinem Kuß, öffnete sich. Ihre Zungen­ spitzen trafen sich. Ihre Brüste waren so hart, daß er sie an seiner Brust spürte, während er sie küßte. Ihn beherrschte nur ein Gedanke: er wollte etwas mit ihr tun, was noch kein anderer Mann getan hatte; er wollte nicht, daß sie lachte, wie sie bei den andern ge­ lacht hatte; sie sollte etwas ganz Neues erleben, doch er wußte nicht, was es sein würde. Im Moment, da sie lachte, würde sie die Frau sein, die alle Männer besitzen konnten, und das wollte er nicht. Er fuhr fort, sie zu küssen und darüber nachzudenken. Etwas, das sie noch nie gespürt hatte, worüber sie noch nie gelacht hatte vor Lust. Was für eine neue Lust konnte er ihr schenken? Die Geschichte mit dem Jungen ging ihm nicht aus dem Kopf. Er wollte ihr Angst einjagen. Vor allem aber woll­ te er, daß sie nicht lachte, wie sie bei den andern Män­ nern gelacht hatte. Die Art, wie sie ihm ihren Mund überließ, erfüllte ihn mit Haß ... die Art, wie sie ihre

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Augen schloß. Sie schloß die Augen und öffnete den Mund, als wäre ihr im Moment jeder Mann recht, jeder Mund oder Penis. Sie lag da wie in Trance. Gleich, wenn er sie berührte, würde sie heiser und gemein zu lachen anfangen. Er packte wütend, mit beiden Händen, ihren Hintern und zog sie an sich, und sie spürte seine Männlichkeit. Sie war so stark und mächtig, daß sie, als er ihr Haar be­ rührte, bevor er in sie eindrang, wie unter einem elek­ trischen Schlag zusammenzuckte. Er grub seinen Mund tiefer in den ihren, ertastete jeden Winkel unter ihren Lippen, ihrer Zunge, spürte, wie ihre Zunge an der seinen leckte, seiner Zunge jedesmal ent­ gegenkam. Er liebkoste sie nicht. Er drang mit einem festen, kraft­ vollen Stoß in sie ein und lag dann still. Sie war noch nie so gut ausgefüllt gewesen, jeden Winkel ihres Flei­ sches füllte seine starke Männlichkeit, und als er in ihr war, schien es ihr, als dehne er sich noch ein wenig, als dränge er ihr weiches Fleisch zurück, als mache er es sich in ihr bequem, in aller Ruhe. Es war ein herrliches Gefühl, wie er sich in ihr einniste­ te, ganz tief, als wolle er immer in ihr bleiben. Es war wunderbar, sein hartes Glied in sich zu spüren, ganz still und reglos und nur leise bebend, wenn sie ihre Muskeln zusammenzog, um es noch mehr zu spüren. Fast unmerklich zog er sich hin und wieder ganz leicht zurück, als wolle er den Muskeln, die ihn umschlossen und ihn noch tiefer in sie hineinlockten, Platz machen. Sie lachte nicht. Sie war seltsam still und überließ sich ganz der Ruhe, mit der er in sie eindrang, der Ruhe, mit

IV. Erotika von morgen der er sich in ihr niederließ, als wolle er jede Bewegung, jedes Zucken ihres Fleisches um sein Glied erspüren. Die Ruhe und Härte seines Penis füllten sie ganz aus, und als ihr Schoß zu atmen begann, einzuatmen und auszu­ atmen im Dunkeln, ihn zu umschließen, sich dann zu öffnen wie ein Mund und sich wieder zu schließen, er­ füllte sie langsam und immer stärker werdend ein Ge­ fühl der Lust, das sie stumm machte. Er rührte sich nicht, bemühte sich nicht, ihre Lust zu er­ höhen. Sie lagen umschlungen, sein nackter Körper be­ deckte sie ganz, und sie preßte sich an ihn, die Beine gespreizt, die Augen geschlossen, Mund auf Mund. Dann wurde ihre Lust zu stark; sie wollte sich rühren, ihm entgegenstoßen, ihn noch tiefer in sich spüren, sich an ihn klammern, an ihm reiben, doch er hinderte sie daran, mit solcher Kraft seiner mächtigen Seemanns­ muskeln, daß sie wie gelähmt war. Sie fuhr fort, ihn mit ihrem Schoß zu streicheln und zu drücken und zu liebkosen, und versuchte, ihn tiefer in sich hineinzuziehen, versuchte, sich tief in ihrem Innern zu bewegen, da er nicht zuließ, daß sie ihren Körper be­ wegte. Ihr Körper blieb starr und reglos. Und als sie ihren Schoß zusammenzog, spürte sie, wie ihre Lust stieg und sie sich dem Höhepunkt näherte, und beinahe entrang sich ihrem geschlossenen Mund ein kehliger Laut, der tief aus ihrem Bauch kam, ein lustvolles Lachen, wenn er es zugelassen hätte, doch er legte plötzlich beide Hän­ de um ihren Hals und flüsterte wütend: «Wenn du lachst, erwürge ich dich!» Eine seltsame Angst kam in ihre Augen, der lustvolle

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Laut verstummte sofort, doch die wachsende, sie durch­ dringende Lust konnte sie nicht unterdrücken; wie flüs­ sige Lava strömte sie durch ihre Adem und erhitzte ihr Fleisch, und er umklammerte mit seinen Händen ihren Hals, und sie dachte, daß nichts zählte als die Lust; sie wußte plötzlich wie er, daß sie die höchste Lust verspü­ ren würde, denn sie konnte sie nicht unterdrücken, mit solcher Gewalt strömte sie durch ihre Adem und suchte in ihr zu explodieren. In ihrer Angst lag sie völlig regungslos, doch sie zog weiter ihren Schoß zusammen und er spürte das, und es erfüllte sie mit Lust, zu sehen, wie Lust auch ihn über­ kam und zwingen würde, ihren Hals loszulassen, doch sein Griff wurde nicht lockerer, sondern fester, und eine echte, tiefe Angst stieg in ihr auf, er könnte sie in seiner Lust erwürgen, denn seine Lust war mit Haß gemischt, Haß, daß sie so leicht dazu zu bringen war, seine Lust zu spüren, darauf zu reagieren wie ein Tier, nicht nur bei ihm, sondern bei allen. .. bei jedem Mann mit einem Mund zum Küssen und einem steifen Penis .. . Trotz der Angst und zugleich mit der Angst erfüllte sie ein fast schmerzhaftes Glücksgefühl, durchlief all ihre Adern, ließ ihre Fußsohlen prickeln, lief die Innen­ seite ihrer Beine hinauf, ihren Rücken, strich über die Spitzen ihrer Brüste, als streichle er sie, nichts als dieser Wein der Begierde durchströmte sie jetzt, und der Schmerz, den sie an ihrem Hals spürte, hielt ihn nicht auf: er strömte weiter. Wenn sie in ihrer Lust obszön gelacht hätte, so hätten sich seine Hände zusammengekrampft und sie vielleicht erwürgt. Doch sie lachte nicht, denn ihre Lust war so

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schmerzvoll, und da er sich nicht bewegte und sie des­ halb zu keinem Ende brachte, sondern die qualvolle Spannung erhöhte, stieß sie ein langgezogenes Wim­ mern aus, als ertrage sie den Schmerz nicht mehr, ein tiefes animalisches Wimmern, das ihn erregte und mit neuer Leidenschaft erfüllte, und nun bewegte er sich, bewegte sich nach allen Richtungen, immer und immer wieder rundherum, als wolle er sie ganz und gar durch­ pflügen und keinen Winkel unberührt lassen, und sie stöhnte, sie lachte nicht, sie stöhnte, und das Glücksge­ fühl, das sie erfüllte, war so stark, daß sie weinte...

Diese Passage läßt, wie alle von Frauen verfaßten Erotika, deutlich erkennen, wie gänzlich anders als der Mann die Frau den Sexualakt erlebt und darstellt.

Erotischer Witz und Humor

Wie wir bereits erwähnten, sind wir der Ansicht, daß ero­ tischer Witz und Humor unter den Erotika von morgen einen wichtigen Platz einnehmen werden, und sicherlich werden amerikanische Autoren zu dieser amüsanten und interessanten Literatursparte Wesentliches beisteuern. Zu dieser Erwartung berechtigt die Tatsache, daß solche Bü­ cher sich großer Beliebtheit erfreuen und daß der drasti­ sche erotische Humor eine große Tradition hat, wovon

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Mark Twains «1601», sein Vortrag über die «Wissen­ schaft der Onanie» sowie einige Werke Benjamin Frank­ lins beredtes Zeugnis ablegen. Das erste Beispiel, das wir zitieren möchten, ist ein von einem in Paris lebenden amerikanischen Schriftsteller und Maler verfaßter Roman mit dem Titel «Paula, der Graf und ich», der unter dem Pseudonym Akbar del Piombo erschienen ist, mit dem der Autor sich offensichtlich über die phantastischen und häufig exotischen Pseudonyme lu­ stig machen wollte, die sich häufig Verfasser pornographi­ scher Bücher zulegen. Das Buch ist eine brillante Satire auf die Pornographie und zugleich auf unsere von der Sexualität besessene Ge­ sellschaft, es ist so gut geschrieben und witzig, daß es uns schwerfiel, ein repräsentatives Beispiel auszuwählen. Wir haben uns schließlich für die nachstehend wiedergegebene Passage entschieden, nicht weil sie besser oder komischer ist als andere Teile des Buches, sondern weil sie eine Par­ odie auf die Sexualerziehung darstellt.

Das, was man am wenigsten bei einer solchen Gelegen­ heit erwartet hätte, war ein öffentlicher Vortrag. Den­ noch, so unglaublich das scheint, in dem angrenzenden Raum fand genau das statt. Worüber mochte da wohl gesprochen werden? Neugierig ging ich hinein und setz­ te mich in die letzte Reihe. Im ganzen waren dort etwa zwanzig Zuhörer versammelt, in der Mehrzahl Frauen. Neben mehreren Herzoginnen bemerkte ich Nonnen, die eine ganze Sitzreihe füllten. Die neueste Attraktion war ein Geistlicher, den ich noch nie gesehen hatte. Vorn war eine große Leinwand, und von Zeit zu Zeit

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wurden Bilder in dem kleinen, hinten stehenden Pro­ jektionsapparat ausgewechselt. Die Vortragende war eine junge Frau, die eine Hornbrille trug und mit einem langen Stock auf das auf den Bildern deutete, über das sie eingehender sprechen wollte. «... und das Wichtigste von allem sind die Hoden. Im Durchschnitt besteht eine Ejakulation aus sechzig bis einhundert Millionen Spermazellen. Dieser männliche Apparat steckt in einem Sack, der zwischen den Beinen herunterhängt und Skrotum heißt.» Auf der Leinwand erschien eine riesige Vergrößerung des «männlichen » Organs im Querschnitt, auf der man die Kanäle sah, die zu dem entsprechend etikettierten und numerierten herunterhängenden Schaft führten. «Außerdem», fuhr sie fort, «werden sechs bis zehn Milliarden dieser Spermazellen an einem einzigen Tag produziert. Daraus folgt, wie Sie alle sehen können, daß der Durchschnittsmann täglich physisch fähig ist, sech­ zig bis hundert Ejakulationen zu haben!» Sie blickte ihre Zuhörer triumphierend und herausfor­ dernd an. Ein Chor von Seufzern stieg von dem weib­ lichen Kontingent auf und einer des Entsetzens aus der Reihe, in der die Nonnen saßen. Während der Geist­ liche, wie mir schien, auf seinem Sitz langsam in sich zusammensank. Die Zahl war tatsächlich verblüffend. «Leider», und auch die Rednerin seufzte, «sind sich nur wenige Männer ihrer wirklichen Potenz bewußt und ge­ hen nur sehr sparsam mit dieser Gabe um. Aber wir wollen nicht länger bei diesem Thema verweilen und uns jetzt das weibliche Organ betrachten.» Auf der Leinwand sah man nun eine riesige weibliche

Erotischer Witz und Humor

Drüse. Vom Gebärmutterhals am Uterus führte der Ka­ nal in die Vagina hinunter und dann zu den Schamlip­ pen, die von einem beunruhigend kleinen Organ, das Klitoris hieß, überragt wurden. «Die Klitoris ist das eigentliche sexuelle Zentrum der Frau und vermag ebenso zu erigieren wie der Penis. Aber es ist lästig, daß die weibliche Öffnung sich gerade dort befindet, wo sie sich befindet, das heißt, hygienisch gesprochen. Sie liegt zwischen zwei Ausscheidungsöff­ nungen, und das bedeutet, daß das Genitalgebiet stän­ dig überwacht werden muß.» Mehrere Frauen begannen unwillkürlich an ihren Pitten zu kratzen. Die Nonnen wurden alle dunkelrot, als hät­ te man sie beschuldigt, einen widerlichen Geruch im Raum verbreitet zu haben. Die Rednerin gab ein paar Hinweise hinsichtlich des richtigen Waschens und der Pflege der Vagina und ging dann schnell zu dem erregenderen Teil ihres Vortrags, dem Koitus, über. «Wir im Abendland haben eine sehr begrenzte Kenntnis und Praxis in der feinen Kunst des Geschlechtsverkehrs.» Sie blickte die Zuhörer streng an, und die Nonnen fuh­ ren von neuem alle zusammen, als habe sie sie allein ge­ rüffelt. Die Adligen dagegen beugten sich alle vor, um das, was nun kam, eifrig in sich einzusaugen. «Im Orient haben Brauch und Überlieferung eine Viel­ zahl der verschiedensten Stellungen von einer Genera­ tion auf die andere vererbt, wogegen wir die reinsten Waisenkinder sind. Wir begnügen uns im allgemeinen mit der klassischen Stellung, in der die Frau auf dem Rücken liegt und die Beine breit macht.»

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Das weibliche Geschlechtsteil verschwand von der Lein­ wand, und an seine Stelle trat ein provozierendes Bild eines Paars ausgestreckter Beine, die zu dem behaarten Hügel führten, dem der Angriff gelten sollte. Gleich dar­ auf folgte eine Seitenansicht der gleichen Stellung im Querschnitt. «Wir werden jetzt genau sehen, was geschieht, wenn der Penis in dieser Stellung in die Vagina eindringt.» Die Leinwand wurde dunkel, da der Vor­ führer den Projektionsapparat ab- und einen daneben­ stehenden Filmvorführapparat anstellte. Fast die gleiche Szene wurde gezeigt, aber diesmal mit der überzeugenderen Illusion der Bewegung. Ein hun­ dertmal vergrößertes männliches Organ erschien in vol­ ler Erektion. Alle rückten auf ihren Stühlen vor, und ehrfürchtige Rufe ertönten bei diesem eindrucksvollen Bild. Dann erschienen die Haare über der wartenden Votze. Der Penis bewegte sich langsam vorwärts, hielt sich aber noch vor dem Entscheidenden zurück, verriet eine große Disziplin dessen, dem er gehörte. Die Votze lag dort bereit; man spürte geradezu ihre Erregung, ihr erwartungsvolles Zittern. Den Nonnen fielen fast die Augen aus dem Kopf. Der Geistliche hatte seine rechte Hand unter sein Gewand gesteckt, das dennoch nicht das Steife verbarg, das er mit der Hand umklammerte. Langsam, unwiderruflich wie ein seltsames urzeitliches Monstrum bewegte er sich über die Leinwand. Das Skrotum hing mit seinem Spermenarsenal herunter, be­ reit, seine sechzig bis hundert Millionen Samenzellen zu verschießen. Jetzt waren die Schamlippen deutlich zu erkennen, da die Frau ihre Schenkel noch weiter spreiz-

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te, und genau an der Stelle, wo sie sich oben vereinigten, erkannte man den kleinen herausragenden Kopf der hungrigen Klitoris. Niemand sprach, niemand hustete. Eine seltsame stumme Spannung bemächtigte sich der Zuhörer, und selbst die Vortragende verstummte, ganz in die Betrachtung der hypnotischen Szene vertieft. Wie groß der Kopf wirkte und wie lang der Schaft, aus dem er herausquoll! Es schien unmöglich, daß die kleine Spalte vor ihm solch eine Masse in sich aufnehmen konnte, aber als der Kopf ihre Lippen berührte, sahen wir, wie sie sich öffneten und langsam um den Kopf wanden, der hineinging. Immer weiter gingen sie aus­ einander, eifrig das schnell verschwindende Instrument schluckend, bis nur noch der Sack zu sehen war, und selbst der schien einen Augenblick lang dem Penis hin­ einzufolgen. «Was Sie da gerade gesehen haben, könnte man als den einfachen oder direkten Eintritt bezeichnen. Es ist eine glänzende Leistung, denn die Vorführenden sind keine Amateure. Wie einfach es auch ausgesehen haben mag, ich glaube kaum, daß einer von Ihnen es ebenso voll­ kommen fertigbrächte.» Im Dunkel blitzten ihre Brillengläser spöttisch wie die Augen einer Eule die Zuhörer an. Ihre Haltung begann mich zu ärgern. Das klang ja tatsächlich so, als sei sie die einzige in der Welt, die wußte, wie man richtig fickte. «Beobachten Sie jetzt genau die Bewegungen, die dem Eindringen folgen.» Als nächstes sah man, daß der große Schwanz bis ans Ende hineinglitt, dann dort eine Weile liegenblieb und

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wieder zurückglitt. Von da an war es das klassische Ficken, und mich interessierte nicht, was sie noch mehr zu bieten hatte. Wenn sie glaubte, sie allein wisse, wie ausgezeichnet die Vorführenden sich auf ihre Sache ver­ ständen, dann würde ich ihr ein oder zwei Nummern zeigen, die ich nicht in der Schule gelernt hatte. Der dunkle Raum und die «Spannung» des Publikums ermöglichten es mir, mich ungesehen dorthin zu stehlen, wo sie stand. Ich stellte mich genau hinter sie und blieb einen Moment stehen, um mich davon zu überzeugen, daß ich nicht beobachtet wurde. Aber sie blickte faszi­ niert auf das Treiben der großen Organe auf der Lein­ wand. Ich bereitete mich auf den kühnen Coup vor, in­ dem ich meinen Hosenschlitz aufknöpfte und meine Hosen fallen ließ. Mein reales Gegenstück zu dem auf der Leinwand arbeitenden und sich heftig bewegenden Penis sprang heraus und zitterte in Erwartung. Ihr Rock war kurz, und es war nicht schwer, ihn zu heben. Schwer war dagegen, ihn so zu heben, daß sie es nicht merkte, aber auch dabei half mir wieder die gespannte Aufmerk­ samkeit, mit der sie den Film verfolgte. Zwischen mir und ihrem eigenen Kanal war nur ein dünnes Spitzen­ höschen. Gerade als ich sie packen wollte, begann sie wieder zu reden. Mein Herz schlug wild, denn ich war sicher, man würde mich entdecken. Aber durch eine besondere Gunst der Umstände wechselte sie, während sie sprach, die Stellung, spreizte unbewußt die Beine, zweifellos in einer Reaktion des Unterbewußtseins auf die stimulie­ rende Wirkung ihres Vortrags. «Sie können sehen, wie beherrscht, wie gleichmäßig und

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nicht im geringsten sprunghaft die Bewegung ist. Es ist die Art von Bewegung, die den höchsten Genuß ver­ schafft.» Was du nicht sagst, dachte ich mit einem satanischen Lächeln. Nun, mein Herzchen, ich werde dir jetzt zeigen, wie eine gut ausgeführte sprunghafte Bewegung einen enormen Genuß bereiten kann. Ich hielt den Rode mit einer Hand hoch, und mit der anderen ergriff ich das Höschen am Spitzensaum, und so still wie eine Maus bewegte ich es nach einer Seite. Als ich es so weit fortge­ schoben hatte, daß ich mich mit meinem Schwengel ihrer Spalte nähern konnte, bedurfte es nur einer kleinen Be­ wegung, um den Kopf vorzuschieben, so wie wir es auf der Leinwand gesehen hatten. Entzückt entdeckte ich, daß ihre Schamlippen bereits feucht waren. Trotz ihres scheinbaren Über-den-Dingen-Stehens hatte die starke Koitusszene sie ebensowenig kühl gelassen wie alle an­ deren. Dessen war ich sicher. Ich überzeugte mich, daß ich richtig stand und der Peniskopf bereit war, die Schamlippen zu teilen, und schob ihn nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam hinein. Ich spürte, wie die kochend heiße Vagina, die in ihren eigenen Säften badete, meinen Schwengel beglückt empfing. Der Kon­ trast zwischen dem fühllosen Stoff, der einen Kontakt mit der hohen Temperatur in ihr verhinderte, machte das lustvolle Gefühl noch hundertmal stärker. Über ihrem Kopf konnte ich sehen, wie der Kinofick in höch­ ster Ekstase weiterging. Sie fuhr entsetzt und überrascht zusammen, als ich tiefer in sie eindrang. Als sie gerade sagte: «Und wenn die Schamlippen sich öffnen, empfan­ gen sie den willkommenen Schlag des Skrotums», stieß

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ich bei dem Wort «Schlag» zu, und der Rest des Satzes klang wie Katzenmiauen. In einem gewöhnlichen Vor­ trag wären die Zuhörer wohl fassungslos gewesen über eine so unerwartete Unterbrechung, aber hier bemerkte es kaum jemand und wenn, dann paßte es zweifellos wunderbar zu der erotischen Trance, in der alle waren. Weitere Beispiele erotischen Humors möchten wir nicht zitieren, da die Form sich nicht recht zur auszugsweisen Wiedergabe eignet. Zum Glück ist vor nicht allzu langer Zeit ein ausgezeichnetes Beispiel erotischer Satire erschie­ nen, das jedermann zugänglich ist. Wir meinen Terry Southerlands Roman «Candy», in dem die sexuelle Heu­ chelei, welche die westliche Welt beherrscht, auf unnach­ ahmliche Weise lächerlich gemacht wird. Candy, eine großäugige, wohlbehütete, arglose Studentin, gerät in alle möglichen unglaublich komische Situationen, in denen ihre Unschuld von einer Reihe von Männern attackiert wird, deren Geschmäcker, gelinde gesagt, sonderbar sind. Wäh­ rend sie in die wildesten sexuellen Abenteuer verwickelt wird, bleibt sie gänzlich unberührt von der Realität und bewahrt sich ihre strahlende Naivität. Unsere kurzen Ausführungen über die Erotika der Zu­ kunft können natürlich keinen Anspruch auf Vollständig­ keit erheben. Da ist, zum Beispiel, das lange vernachlässigte Gebiet des erotischen Theaters, das sich im achtzehnten Jahrhun­ dert bei den Angehörigen der Oberschicht in Frankreich großer Beliebtheit erfreute und von dem es zwei berühmte englischsprachige Beispiele gibt: das vermutlich von dem berüchtigten Earl of Rochester, einem Günstling König

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Charles II., verfaßte Schauspiel «Sodom», und die aus dem 19. Jahrhundert stammende Komödie «Harlequin, Prince Cherrytop», deren Autor umstritten ist. Seither ist in diesem Genre wenig geschrieben worden, es sei denn, man zählt Genets «Der Balkon» dazu, ein glän­ zend gemachtes Stück von starkem philosophischem Ge­ halt. Doch vielleicht wird eines Tages eine Wiedergeburt des erotischen Theaters stattfinden, oder es wird seine Fortsetzung in den sogenannten «Musicals» finden, die ihre große Beliebtheit zweifellos ihrer Offenheit in eroti­ scher Beziehung verdanken. Gegenwärtig scheint das Interesse an Qualitätserotika zuzunehmen, ein Umstand, den wir nur begrüßen können. Wir sind überzeugt, daß gute Erotika die schlechten ver­ drängen werden. Dies kann jedoch nur geschehen, wenn eine Einschränkung der Zensur wirklich talentierte und ästhetisch begabte Schriftsteller und Künstler ermutigt, solche Qualitätserotika zu schaffen, wenn also dieses Ge­ biet nicht drittklassigen Stümpern überlassen bleibt. An dieser Stelle möchten wir jedoch noch einmal unsere Warnung vor allen Bestrebungen wiederholen, mittels des Gesetzes eine Geschmacksdiktatur auszuüben. Größere Freiheit wird zwar zweifellos zur Produktion besserer Ero­ tika führen, doch darf man nicht annehmen, daß jeder­ mann sogleich nur das Beste auf dem Gebiet erotischer Kunst und Literatur akzeptieren wird, was ja auch auf an­ deren Gebieten, auf denen der «Geschmack» eine entschei­ dende Rolle spielt, nicht der Fall ist. Das Verbot von Erotika zu fordern, nur weil sie in literarischer oder künst­ lerischer Hinsicht nicht erstklassig sind, bedeutet jedoch, sich eine Autorität in Geschmadcsdingen anzumaßen — ein

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intellektueller Snobismus, der zu verwerfen ist. Es wäre ausgesprochen ungerecht, etwa jenem gebildeten und auf­ geklärten Teil der Gesellschaft, der zum Beispiel an einem Werk wie «Lady Chatterley» Gefallen findet, gegenüber anderen Teilen der Bevölkerung Privilegien einzuräumen. Unserer Ansicht nach sollte in einer freien Gesellschaft jede Geschmacksrichtung vor dem Gesetz gleichberechtigt sein. Wie wir bereits ausgeführt haben, üben auch nicht die in künstlerischer Hinsicht wertlosesten Bücher und Bilder (und auch nicht die «realistischsten») auf jedermann den stärksten erotischen Reiz aus. Auch hier darf die literari­ sche oder künstlerische Qualität nicht zur Grundlage ge­ setzlicher Entscheidungen gemacht werden. Wir sind der Meinung, daß, solange auf literarischem oder künstleri­ schem Gebiet irgendeine Form der Zensur existiert, allein maßgebend sein sollte, ob es sich um unverhüllte Porno­ graphie handelt oder nicht. Geschmack und Qualität dürf­ ten also in dieser Hinsicht keine Rolle spielen. Sie zu bil­ den und zu kultivieren, bedürfte es entsprechender Maß­ nahmen auf dem Gebiet des öffentlichen Erziehungswe­ sens. Wir sind sicher, daß auf lange Sicht ein freier Wett­ bewerb bei den Erotika zu einer allgemeinen Hebung des künstlerischen Niveaus führen wird, ebenso wie ein freier Wettbewerb auf anderen Gebieten eine Qualitätsverbes­ serung bei den entsprechenden Produkten zur Folge hatte. Eine verschärfte Kontrolle und strengere Zensur hingegen kann unserer Meinung nach nur zur fortgesetzten Unter­ drückung von Qualitätserotika und zur Förderung des illegalen Handels mit pornographischen Produkten führen. Angesichts dieser Tatsachen scheint es nur eine vernünf-

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tige Alternative zu geben: früher oder später muß die Gesellschaft sich entschließen, jegliche Form literarischer und künstlerischer Zensur für Erwachsene aufzugeben. In diesem Falle prophezeien wir ein allmähliches Nachlassen des allgemeinen Interesses für Erotika, insbesondere für Pornographie. Denn es ist erwiesen, daß die Schaffung künstlicher Tabus auf sexuellem Gebiet ein Verlangen ge­ nau nach dem auslöst, was verboten ist. Eine Abschaffung der Zensur auf sexuellem Gebiet für Erwachsene sowie eine Lockerung der sexuellen Tabus wird hingegen zu einem Nachlassen des übermäßigen Interesses an der Se­ xualität führen, das der Gesetzgeber zu zügeln wünscht und welches die verborgene Ursache für die Produktion und Konsumation von Pornographie ist.

Verzeichnis der zitierten Werke Anonym, «The Autobiography of a Flea», London und New York, The Erotica Biblion Society, 1901 Anonym, «The Confessions of Lady Beatrice. Showing how she kept the 11th Commandment