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German Pages 352 Year 2002
Olaf Asbach Die Zähmung der Leviathane
POLITISCHE IDEEN
Band 15
Herausgegeben von Herfried Münkler
Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.
Olaf Asbach
Die Zähmung der Leviathane Die Idee einer Rechtsordnung zwischen Staaten bei Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-05-003714-8
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Norbert Winkler, Mannheim Druck: Primus Solvero, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
9
EINLEITUNG
I.
Die neuzeitliche Staatenwelt als Problem politischer Theorie
11
1.1
Politische Wissenschaft und internationale Beziehungen im Übergang zum 21. Jahrhundert
13
Staat und internationale Beziehungen in der politischen Philosophie der Neuzeit
27
1.2 1.3
Staat und internationale Beziehungen in der französischen Aufklärung. Zu den Problemen und Themen der Untersuchung
38
TEIL A : D I E POLITISCHE THEORIE DES A B B É DE SAINT-PIERRE
H.
Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé de Saint-Pierre
45
II. 1
Saint-Pierre und die politische Philosophie im Übergang zum Zeitalter der Aufklärung
46
Vernunft und Geschichte: Die geschichtsphilosophische und anthropologische Grundlegung politischen Denkens
57
Wissenschaft und Kritik: Saint-Pierres methodisches Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis
66
Politik zwischen Wissenschaft und Staat
71
11.4.1 Politische Wissenschaft als Schlüsselwissenschaft der Moderne
72
11.4.2 Zur naturrechtlichen Fundierung politischer Wissenschaft
77
11.4.3 Politische Wissenschaft und die Rationalisierung staatlicher Herrschaft ...
82
11.2 11.3 11.4
(a)
Die Reform von Politik, Staat und Verwaltung
(b)
Politische
Reform und die Änderung der gesellschaftlichen
83 Verhältnisse
...
90
6 HI.
Inhalt
Das Projet de paix perpétuelle des Abbé de Saint-Pierre als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
93
III. 1
Strategien des Vergessens: Beobachtungen zu einer verfehlten Rezeption
96
111.2
Politik, Frieden und Recht: Die Begründung internationaler Rechtsverhältnisse im Projet de paix perpétuelle
103
111.2.1 Die Reform von Gesellschaft, Staat und internationalen Beziehungen
103
111.2.2 Die naturrechtliche Begründung internationaler Rechtsverhältnisse
109
Reichsverfassung und föderativer Staatenbund: Das Alte Reich als Modell der Union Européenne
123
111.3.1 Das Alte Reich und die europäische Ordnung
123
111.3
(a) (b)
Der Weg des Alten Reichs ins Friedensprojekt: Zur Textgenese des Projet de paix
125
Der Ort des Alten Reichs im Projet de paix von 1713
132
111.3.2 Geschichte und Struktur des Alten Reichs in der Perspektive des projet de paix" (1712/13) (a)
111.4
136
Zur Vorgeschichte der Union Germanique: Der Zerfall des Karolingerreichs
136
(b)
Die Bildung einer föderalen Union Germanique
139
(c)
Struktur, Funktion und Defizite der Union Germanique
145
Die ' Union Germanique' als Projekt
145
Die 'Union Germanique' als historisches System
151
Union Germanique und Union Européenne Die Idee einer Föderation souveräner Staaten bei Saint-Pierre
157
111.4.1 Historische Entwicklungen und staatsrechtliche Bewertungen der Reichsverfassung im 17. und frühen 18. Jahrhundert
158
111.4.2 Saint-Pierres Darstellung der Reichsverfassung zwischen historischer Erkenntnis und politischer Praxis
168
111.4.3 Die Konzeption einer Föderation souveräner Staaten: Das Modell des Alten Reichs als Lösung eines rechtsphilosophischen Dilemmas?
176
TEIL B : D I E POLITISCHE THEORIE J E A N - J A C Q U E S R O U S S E A U S
IV.
Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand in der politischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus
185
IV. 1
Rousseaus politische Theorie zwischen Gesellschaftskritik und Philosophie der Freiheit
186
IV. 1.1 Gesellschaftskritik, Geschichtspessimismus und die Möglichkeit der Politik: Rousseau und die Aufklärung
188
Inhalt
7 IV. 1.2 Rousseaus Auseinandersetzung mit dem Abbé de Saint-Pierre und die Herausbildung seiner politischen Philosophie
IV.2
IV.3
in Rousseaus politischer Philosophie
210
IV.2.1 Die Theorie internationaler Beziehungen als Folgeproblem: Die Sicherung der Existenz kleiner Republiken
214
IV.2.2 Die Theorie internationaler Beziehungen als Strukturproblem: Die Staatenwelt als Natur-und Kriegszustand
218
Natur, Geschichte und Politik W e g e aus d e m Naturzustand z w i s c h e n Staaten?
227
IV.3.1 Die europäische Gesellschaft als System des Gleichgewichts
228
IV.3.2 Das Alte Reich als Kern einer europäischen Ordnung? Exkurs: Zum historischen Hintergrund der föderativen der Verfassungsstruktur des Alten Reichs
233 Interpretation
IV.3.3 Die rechtliche Dimension des europäischen Friedens: Rousseau zum Kriegs- und Völkerrecht IV.4
IV.5
201
D i e Notwendigkeit einer Theorie internationaler Beziehungen
240
249
Internationale Rechtsgemeinschaft und politische Freiheit - Rousseau und das Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre
263
IV.4.1 Vom'Contrat social'zum'Contrat international'?
264
IV.4.2 Rousseaus Perspektivwechsel in Analyse und Strategie internationaler Konflikte
268
Republikanische Inseln im Meer der internationalen Staatenwelt: Die Aporien des Staats- und Völkerrechts bei Rousseau
277
IV.5.1 Die Konföderation autarker Republiken als Ausweg aus dem internationalen Naturzustand?
278
IV.5.2 Die Unaufhebbarkeit des Naturzustands zwischen Staaten bei Rousseau
288
SCHLUSSBETRACHTUNG
V.
Die Theorie internationaler Rechtsverhältnisse bei Saint-Pierre, Rousseau - und darüber hinaus
295
V. 1
Saint-Pierre und der Primat der Reform des internationalen Systems
299
V.2
Rousseau und der Primat der gesellschaftlichen Reform
302
V.3
D a s politische Projekt internationalen Rechtsfriedens zwischen historischer Skepsis und geschichtsphilosophischer Hoffnung
305
8
Inhalt
ANHANG VI.
Q u e l l e n - u n d Literaturverzeichnis
317
VI.l
Archive und Bibliotheken
317
VI.2
Ungedruckte Quellen
319
VI.2.1 Abbé de Saint-Pierre
319
VI.2.2 Weitere Quellen
320
Gedruckte Quellen
321
VI.3.1 Schriften des Abbé de Saint-Pierre
321
VI.3.2 Schriften des Jean-Jacques Rousseau
324
VI.3.3 Weitere Quellen
325
Forschungsliteratur
329
VI.3
VI.4
Personenregister
347
Vorbemerkung
Der Anstoß zur Beschäftigung mit der politischen Philosophie des Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseaus und ihrer Auseinandersetzung mit der Sphäre der internationalen Beziehungen ging von Fred E. Schräder (Paris) aus, der 1994 ein deutsch-französisches Kooperationsprojekt anregte. Schnell stellte sich heraus, daß hier ein Forschungsgebiet vorlag, das in mehrfacher Hinsicht fruchtbar zu werden versprach. Einerseits lieferte die Situation nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes Anlaß genug, Fragen wie die nach der Möglichkeit, den Perspektiven, den Widersprüchen und Dynamiken politischen Handelns und politischer Institutionen auf gesellschaftlicher und auf internationaler Ebene zu reflektieren und zu untersuchen. In diesem Rahmen war auch dem Problem nachzugehen, inwiefern die Tradition politischer Theorie Beiträge geliefert hat, um die Probleme und Dynamiken gegenwärtiger Prozesse zu analysieren und Wege zu ihrer Lösung aufzuzeigen. Andererseits hat der Umstand, daß sich 1995 das Erscheinen der Kantischen Schrift Zum ewigen Frieden zum 200. Mal jährte, in der wissenschaftlichen, darüber hinaus aber auch in einer breiteren Öffentlichkeit dazu geführt, diesem von der politischen Theorie und Philosophie eher vernachlässigten Problemfeld die ihm zukommende und angesichts der realen Probleme des ausgehenden 20. Jahrhunderts so dringend notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Und schließlich hat die nähere Beschäftigung mit den Schriften Saint-Pierres und Rousseaus deutlich gemacht, daß diesen - was Saint-Pierre anbetrifft - vermeintlich fruchtlosen und wenig originellen oder - was Rousseau angeht - scheinbar von allen Seiten bereits hinreichend ausgeleuchteten Theoretikern zahlreiche neue Aspekte abzugewinnen waren, die in der bisherigen Forschungsliteratur oft nur wenig Beachtung gefunden hatten. Wenn mit der vorliegenden Arbeit nun die Ergebnisse der seither durchgeführten Forschungen präsentiert werden, 1 so wird sie von der Hoffnung geleitet, daß sie einerseits einen Beitrag zu bisher nur wenig beleuchteten Aspekten der politischen Philosophie der französischen Aufklärung leisten kann, andererseits zu den Grundlagen und zu den wesentlichen Konzeptionen der politischen Philosophie internationaler Beziehungen, wie sie innerhalb des 18. Jahrhunderts entwickelt und nicht nur für die Kantische Konzeption einer internationalen Rechtsgemeinschaft bedeutsam wurde. Da diese Konzeptionen und deren zugehörige
Mehrere Vorarbeiten sind in überarbeiteter Form in die vorliegende Monographie eingegangen: Politik und Frieden beim Abbé de Saint-Pierre (1996), Internationaler Naturzustand und Ewiger Friede (1998), Internationale Rechtsgemeinschaft oder Autarkie kleiner Republiken? (1999), Politik und Wissenschaft in der französischen Frühaufklärung (2000), Von der 'Union Germanique' zur 'Union Européenne' (2001), Reichsverfassung als föderativer Staatenbund (2001).
Vorbemerkung
10
Begriffe auch für unser heutiges Problem- und Problemlösungsverständnis insgesamt prägend geworden sind, mag die Studie schließlich vielleicht dem besseren Verständnis gegenwärtiger Problemlagen und der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit ihnen dienlich sein. Den verschiedenen Institutionen, die die Untersuchung gefördert haben, gebührt mein herzlicher Dank. Zu nennen ist dabei an erster Stelle die Volkswagen-Stiftung, deren großzügige Förderung des deutsch-französischen Projektverbundes die Grundlage meiner Arbeit gebildet hat. Dem Deutschen Akademischen Auslandsdienst (DAAD) und der Maison des Sciences de l'Homme (Paris) danke ich für die Gewährung eines Forschungsstipendiums, das mir einen längeren Forschungsaufenthalt in Paris ermöglicht hat. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) danke ich für die Gewährung einer Druckbeihilfe. Danken möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den verschiedenen Archiven in Paris, Caen, Rouen, Genf und Neuchâtel 2 : die Möglichkeit, dort zu arbeiten, und die dabei gewährte Unterstützung bei meinen Nachforschungen nach Dokumenten und Manuskripten vor allem des Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseaus, waren für die Durchführung der Arbeit unverzichtbar. Mein tiefer persönlicher Dank gilt Michael Th. Greven, dem die Arbeit mehr verdankt, als er selbst ahnen mag. Daß er, der mir seit vielen Jahren auf dem langen Weg zur akademischen Qualifikation zur Seite stand, nun auch die Begleitung der Habilitation zu übernehmen bereit war, erfüllt mich mit Freude und mit der Hoffnung, daß auch er sein Vertrauen gerechtfertigt finden wird. Danken möchte ich Fred E. Schräder dafür, daß er nicht nur den ersten Anstoß zum Thema gegeben hat, sondern auch in der Folge stets zur Stelle war, wenn es galt, den Fortgang der Arbeit aktiv zu unterstützen und zu fördern. Herfried Münkler danke ich für die Aufnahme in die von ihm herausgegebene Reihe „Politische Ideen", dem Akademie Verlag - und hier vor allem Mischka Dammaschke - für die Bereitschaft, das Buch in sein Programm aufzunehmen, sowie Norbert Winkler, der die technische Endredaktion übernahm. Des weiteren möchte ich all jenen danken, die in den verschiedenen Phasen des Entstehungsprozesses der Arbeit durch ihre wissenschaftliche und/oder ihre persönliche Unterstützung zu ihrem Gelingen beigetragen haben, wobei ich insbesondere an Reinhard Brandt, Volker Gerhardt, Dieter Hüning, Uli Vogel und Dorothea Wildenburg denke. Sie sollen damit jedoch nicht für die Fehler und Irrtümer der Arbeit verantwortlich gemacht werden; verantwortlich sind sie vielmehr dafür, daß es derer nicht noch mehr geworden sind.
Marburg und Hamburg, im Mai 2002
Eine genaue Liste der Archive und Bibliotheken findet sich im Anhang zum Buch, S. 317 f.
Olaf Asbach
EINLEITUNG
I. Die neuzeitliche Staatenwelt als Problem politischer Theorie
Für ein angemessenes Verständnis der Geschichte, Entwicklungen und Defizite der Versuche, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen, ist die Einsicht in den historischen Charakter und Stellenwert theoretischer Erkenntnis unverzichtbar. Ob sie sich als überzeitliches, absolutes Wissen versteht, das die Gesamtheit des Gegebenen in seiner faktischen und normativen Bestimmtheit aus sich heraus erfassen zu können glaubt, oder ob sie sich bescheiden als wissenschaftliches Instrument zur Erfassung und Bearbeitung eines scharf umrissenen, begrenzten Wirklichkeitsbereichs gibt: Stets antwortet theoretische Erkenntnis mit ihren Konzeptionen auf konkrete gesellschaftliche und politische Problemlagen, Widersprüche und Krisenphänomene, von denen sie in doppelter Hinsicht abhängig ist. Auf der einen Seite ist sie in ihren Begriffen und Konzeptionen, in denen sie die gesellschaftlichen und politischen Prozesse faßt, von diesen in ihrer Struktur und Reichweite wesentlich geprägt. Dadurch aber ist auf der anderen Seite das, was ihr als Problem und Fragestellung in den Blick kommt, ebenso von der allgemeinen historischen Entwicklungsstufe und den besonderen Situationen und Problemlagen bedingt wie der Umstand, daß ihr gegebenenfalls bestimmte Strukturen, Problemdimensionen und Handlungsoptionen gar nicht erst in den Blick kommen. Dies bedeutet: 'Subjekt' und 'Objekt' der wissenschaftlichen Erkenntnis sind ebenso wie die begrifflichen und praktischen Beziehungen, die jeweils zwischen ihnen bestehen, Teil eines historischen Praxiszusammenhangs. Demnach erscheint zwar, wie Max Horkheimer es programmatisch formuliert hat, die „gesamte wahrnehmbare Welt [...] als Inbegriff von Faktizitäten", tatsächlich jedoch ist sie „Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis", 1 d. h. der unter den jeweiligen historischen Bedingungen ihre Lebenswirklichkeit praktisch erzeugenden individuellen und kollektiven Akteure; und ebenso prägen die kategorialen Strukturen der Erkenntnis selbst in je historisch spezifischer Wei-
Horkheimer,
Traditionelle und kritische Theorie, S. 173.
12
D i e neuzeitliche Staatenwelt als Problem politischer Theorie
se die Wahrnehmung und ihre produktive Verarbeitung in wissenschaftliche Erfahrung wie auch ihr Verhältnis zur Wirklichkeit. 2 Was für die theoretische Erkenntnis im allgemeinen Geltung hat, gilt auch im besonderen für die Politische Wissenschaft, wie sie sich seit dem 17. und 18. Jahrhundert aus dem Bereich praktischer Philosophie ausdifferenziert hat. 3 Für sie ist es aufgrund ihres Gegenstandes geradezu konstitutiv, beständig mit historischen Prozessen, Strukturen und Problemen konfrontiert zu werden, die ihre Konzeptionen, ihre Begriffe und ihr Selbstverständnis immer neuen Belastungs- und Bewährungsproben aussetzen und auch jenseits säkularer Brüche oder 'Paradigmenwechsel' politischen Denkens 4 ihre permanente Änderung und Weiterentwicklung erforderlich machen. Prägnant hat Tocqueville diesen historischen Status der Politikwissenschaft gekennzeichnet, als er bemerkte, „[qu'il] faut une science politique nouvelle ä un monde tout nouveau", - eine Feststellung, die anhand der folgenden, einleitenden Bemerkungen zu der historischen und theoretischen Dynamik seit dem 16. Jahrhundert im Hinblick auf die neuzeitliche politische Theorie internationaler Beziehungen an Plausibilität gewinnen mag. 5 Ihre 'Bewährung' sowohl als „Resultat historischer Erfahrung" wie auch als „Moment der Wirklichkeit" umfaßt also unterschiedliche Aspekte, insofern einerseits die „soziale und politische Realität, auf die Politikwissenschaft sich bezieht, [...] stets das Ergebnis kollektiver und individueller Leistungen" ist, insofern andererseits „Politische Wissenschaft das theoretisch und methodisch mehr oder minder geklärte Selbstverständnis der politischen Wirklichkeit einer Zeit darstellt". 6 Beständig muß sich deshalb (politik-)wissenschaftliche Erkenntnis befragen lassen, inwiefern sie zum einen für das (theoretische) Begreifen dessen, was ist, tauglich ist, inwiefern sie zum anderen sich praktisch eignet, alternative Institutionen und Verfahren für Handeln und gesellschaftliche Problemlösungen zu entwickeln. Denn insofern politische Theorien „nicht nur von Gesellschaften [handeln], sondern [...] auch in ihnen" wirken, 7 können sie die Frage nach ihrer Rolle innerhalb des realhistorischen Entwicklungsprozesses nicht einfach als außerwissenschaftliches Faktum abtun. Diese 'Bewährung' politischer Theorie gilt für das Erfassen gesellschaftlicher und politischer Einrichtungen und Prozesse im allgemeinen, und ebenso gilt sie im besonderen im Hinblick auf die Untersuchung der Sphäre der internationalen, die einzelnen Gesellschaften und ihre politisch-staatlichen Organisationsformen überschreitenden Beziehungen. Die Not2
3
4
5
6
7
Vgl. Horkheimer, Der neueste Angriff auf die Metaphysik, S. 146. Ausführlich zu Horkheimers Bestimmung einer ihrer historischen Vermitteltheit bewußten Theorie vgl. Asbach, Kritische Gesellschaftstheorie und historische Praxis, S. 158 ff., v. a. 166 ff. Vgl. Maier, Epochen der wissenschaftlichen Politik; ders., Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre; Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft. Vgl. zur Frage von 'Paradigmenwechsel' und 'Theoriendynamik' innerhalb der Entwicklung politischer Theorie Stammen, Grundlagen der Politik, S. 32 ff. Tocqueville, De la démocratie en Amérique, p. 5. - Einführend zu den methodologischen Grundlagen politischer Wissenschaft in der Auseinandersetzung mit den historischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen vgl. Stammen, Grundlagen der Politik, S. 24 ff., Röhrich/Narr, Politik als Wissenschaft, S. 17 ff. u. 43 ff. Lenk, Politische Wissenschaft, S. 16 f. - Zum Begriff der 'Bewährung' von Gesellschafts- und politischer Theorie vgl. Horkheimer, Zum Problem der Wahrheit, S. 298 ff.; hierzu Asbach, Kritische Gesellschaftstheorie und historische Praxis, S. 124 ff. Greven, Die politische Gesellschaft, S. 21.
Politische Wissenschaft und internationale Beziehungen im Übergang zum 21. Jahrhundert
13
wendigkeit und die Dringlichkeit, aber auch die Schwierigkeiten und die Problematik dieses Unterfangens, eine analytisch und normativ angemessene Theorie internationaler Beziehungen zu entwickeln, haben sich im gesamten Verlauf des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts zur Genüge bestätigt, mit zum Teil fatalen Konsequenzen für die Menschen und ihr Bemühen, die Bedingungen individuellen und gesellschaftlichen Lebens erträglich und menschenwürdig zu gestalten. Im folgenden sollen einleitend einige der aktuellen Entwicklungen und Probleme der internationalen Verhältnisse mitsamt den Folgen, die sich daraus für die gegenwärtige politische Theorie ergeben, dargestellt werden (1.1). Anschließend wird der Frage nachzugehen sein, in welchem Maße diese Entwicklungen auf Strukturen und Probleme moderner Staatlichkeit und des aus ihr resultierenden neuzeitlichen Staatensystems zurückverweisen, die die neuzeitliche politische Theorie seit ihren Anfängen prägen (1.2). Im Rahmen der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts sind diese Verhältnisse erstmalig in einer Weise zum Gegenstand einer praktisch-kritisch ausgerichteten politischen Theorie der Strukturen, Dynamiken und Perspektiven der internationalen Beziehungen gemacht worden, die der Auflösung des mittelalterlichen Universalismus nicht mehr mit den Mitteln eines den internationalen Naturzustand lediglich zu hegen suchenden Völkerrechts begegnet, sondern die Voraussetzungen, Institutionen und Verfahren einer dauerhaften Rechts- und Friedensordnung aufzeigen will (1.3).
1.1 Politische Wissenschaft und internationale Beziehungen im Übergang zum 21. Jahrhundert Im Hinblick auf die Beziehung der Völker und Staaten zueinander sieht sich die politische Theorie zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor die ernüchternde Frage gestellt, inwieweit es ihr gelungen ist, sich der Formulierung einer angemessenen Theorie internationaler Beziehungen anzunähern. Inwiefern kann von einer Theorie gesprochen werden, die nicht nur die Prinzipien der herrschenden Dynamik internationaler Verhältnisse, Problem- und Konfliktlagen zu erfassen vermag, sondern die auch Perspektiven entwickelt, sie in Bahnen zu lenken, durch welche die inner- und zwischenstaatlichen Konflikte reduziert und Rahmenbedingungen gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen geschaffen werden können? Bestätigen sich nicht pessimistische Auffassungen, wie sie aus dem Blickwinkel der 'realistischen Schule' hinsichtlich des Anspruchs einer Theorie internationaler Beziehungen nahegelegt werden? So etwa von Martin Wight, der provokativ die Auffassung vertritt, es könne weder für die Gegenwart noch für die Vergangenheit von der Existenz einer Theorie internationaler Beziehungen gesprochen werden, wobei der Grund dafür schlicht darin liege, daß sich „internationale Politik grundsätzlich gegen Theorie [sträube], da sie im Umkreis diplomatischer Erfahrung" verbleibe und somit den Bereich pragmatischen Erfahrungswissens prinzipiell nicht transzendieren könne. 8 Man ist versucht, dieser Position zuzustimmen,
So zusammenfassend Gärtner, Neue Theorien der internationalen Politik, S. 125. Zur Frage nach dem 'Theorie-' bzw. 'Theoretisierungsproblem' internationaler Politik vgl. auch mit weiteren Exempeln die Uberlegun-
14
D i e neuzeitliche Staatenwelt als Problem politischer Theorie
wenn man sieht, wie etwa Joseph Drouet zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in seinem Buch über den Abbé de Saint-Pierre den Fortschritt zu bezeichnen gesucht hat, den die Beziehungen zwischen den Staaten seit dem frühen 18. Jahrhundert genommen hätten. „Sans doute, ce serait calomnier notre époque de prétendre que les idées de justice et d'humanité n'ont pas fait un grand pas sur le terrain international. Le nombre est légion, non seulement des économistes, mais encore des h o m m e s d'état qui en ont été les apôtres. La guerre est maintenant plus humaine". 9
Diese Versicherung hinsichtlich des erreichten Fortschritts in Theorie und Praxis einer 'Humanisierung' und Verrechtlichung der internationalen Konflikte schrieb Drouet im Jahre 1912. Getragen wurden diese sich nur allzuschnell als trügerisch erweisenden Hoffnungen durch die theoretischen wie praktisch-politischen Tendenzen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts darauf abzielten, die Notwendigkeit und Möglichkeit internationaler Kooperation, Regelungen und Einrichtungen zu zeigen, vermittels derer die aus den zunehmenden weltwirtschaftlichen und -politischen Verflechtungen resultierenden Konflikte und wechselseitigen Rechtsansprüche ohne Gewaltanwendung beizulegen wären. Obwohl die Bewegungen nur von kleinen intellektuellen Kreisen, vor allem bestehend aus Pazifisten, Völkerrechtlern und Aktivistinnen der Frauenbewegung, getragen wurden, führten sie zu bemerkenswerten politischen Ereignissen wie den Haager intergouvernementalen Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 - bei denen 'Humanisierung' des Kriegsrechts, Abrüstung und die Regelung internationaler Konflikte durch Schiedsgerichtsbarkeiten auf der Tagesordnung standen - , oder der Gründung des internationalen Schiedsgerichtshofs in Den Haag 1901. 10 Diese Bestrebungen konnten sich freilich nicht gegen die imperialistischen Tendenzen und Interessen durchsetzen, die innerhalb der europäischen Mächte vorherrschten und auf die Stärkung ihrer Position im internationalen System und auf die Vergrößerung der Kolonialreiche abzielten, was Initiativen wie die zu einer allgemeinen Abrüstung oder gar Unterordnung nationaler Interessenpolitik unter internationale Rechtsprinzipien und sie vertretende und durchsetzende Institutionen grundsätzlich ausschloß. Da von den beteiligten Staaten „ausdrücklich Vorbehalte gegenüber einer Einschränkung der staatlichen Souveränität formuliert wurden", war eine Änderung der bestehenden Staatenwelt und der in ihr herrschenden Dynamik prinzipiell unmöglich, so daß es wenig verwundert, daß die „Bilanz der friedenssichernden Leistungen [...] der beiden Haager Konferenzen [...] insgesamt negativ" gewesen ist.11 Dies bemerkt auch Drouet, der seine oben erklärte Zuversicht durch den Hinweis relativiert, daß, „tandis que le monde continue à retentir des hymnes à la paix, on entend le bruit des armes que l'on forge partout [...]. Cette vision des épées éguisées, cette odeur de poudre sèche donnent à réfléchir". 12 Wie recht er damit hatte, zeigt der nur zwei Jahre nach der Publikation dieser Worte ausgelöste erste von zwei Weltkriegen, die ein zu-
9 10
11 12
gen von Albrecht, Internationale Politik, S. 21 ff., sowie Meyers, Die Lehre von den Internationalen Beziehungen, S. 29 f. Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 146. Vgl. Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, S. 301 ff., 315 f.; Czempiel, Friedensstrategien, S. 124 f.; ausführlich Diilffer, Regeln gegen den Krieg? So die abschließende Bewertung von Diilffer, Regeln gegen den Krieg?, S. 336. Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 148 f.
Politische Wissenschaft und internationale Beziehungen im Übergang zum 21. Jahrhundert
15
vor unvorstellbares Ausmaß an rational kalkulierter und organisierter Vernichtung, Tod und Leid mit sich brachten. Nur für kurze Zeit konnten im Anschluß an die beiden Kriege politische und völkerrechtliche Konzeptionen zur Geltung gebracht werden, die auf eine dauerhafte, institutionell und rechtlich abgesicherte Neuordnung der internationalen Beziehungen abzielten. In beiden Fällen führte die Erfahrung der katastrophalen Folgen des bestehenden Systems der internationalen Beziehungen und seiner Defizite zunächst zu Versuchen, ihnen durch neue Formen einer internationalen Organisation zu begegnen, um durch die „Veränderung des internationalen Kontextes, die Abschwächung bzw. Aufhebung der anarchischen Struktur des internationalen Systems [...] [zur] Beseitigung einer der großen Gewaltursachen" zu kommen. 13 Im Gefolge des Ersten Weltkriegs wurde 1919 die Gründung des Völkerbundes beschlossen, der zur Verhinderung gewaltsamer Konflikte Institutionen vorsah, wie Ständige Versammlungen, Sekretariate und andere Einrichtungen zur frühzeitigen Klärung und gemeinsamen Regelung von Streitfällen. Ergänzt wurde dieser Bund durch die Gründung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs 1920 und den Briand-Kellogg-Pakt von 1928, der erstmals die ausnahmslose Ächtung von Angriffskriegen als eines Instruments der Politik beinhaltete. Diese Elemente und Einrichtungen internationaler Organisation und des Völkerrechts wurden nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der 1945 gegründeten Vereinten Nationen (UNO) übernommen und beträchtlich weiterentwickelt. Deren Charta ächtete nicht nur generell die Anwendung militärischer Gewalt und das Führen von (Angriffs-)Kriegen, sie schuf auch zahlreiche Instanzen und Regelungen, die sich in historisch völlig neuartiger Weise zu einer weltumspannenden Organisation auswuchsen, durch die „die globalen Aufgaben der tätigen Friedenssicherung, des Schutzes der Menschenrechte, der Durchsetzung der Gleichberechtigung aller Völker und der weltweiten Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen" in Angriff genommen wurden. 14 Damit wurde zumindest im Prinzip der Frieden zwischen Staaten als ein auf sehr komplexen Voraussetzungen basierendes Projekt anerkannt und zum Gegenstand globalen politischen Handelns erklärt. Doch selbst wenn man den Völkerbund als Beginn der „eigentlichen Zeitenwende" und die Charta der UNO als „Epocheneinschnitt in der Völkerrechtsgeschichte von welthistorischer Dimension" ansehen mag: 15 Bis zum heutigen Tage kann man nur in sehr begrenztem Maße davon sprechen, daß mit ihnen der „Durchbruch" zur Einschränkung der „Anarchie des internationalen Systems" gelungen ist und die Staaten „sich in einem Bund zusammengeschlossen [haben], der ihre Beziehungen untereinander prinzipiell verändern und damit von der kriegerischen Gewaltanwendung befreien" könnte. 16 Sowohl beim Völkerbund als auch bei den Vereinten Nationen führten strukturelle Mängel sowie die Überlagerung durch gegenläufige Entwicklungen internationaler Politik dazu, daß sie ihre Ziele nicht oder nur sehr unvollständig realisieren konnten. Auf struktureller Ebene konnten beide Systeme ihrem universellen Anspruch als Staatenorganisationen, „deren Ziel es war, die gesamte Welt durch Rechtsregeln zu organisieren und dadurch die Sou-
13 14 15 16
Czempiel, Friedensstrategien, S. 109. Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, S. 372. Kimminich, Der Beitrag der Vereinten Nationen, S. 13 f. Czempiel, Friedensstrategien, S. 125.
16
D i e neuzeitliche Staatenwelt als Problem politischer Theorie
veränität der Staaten einzuschränken",17 zu keiner Zeit wirklich gerecht werden. Ihnen fehlten die zur Realisierung ihrer Nonnen und Ziele erforderlichen Kompetenzen und Instrumente, ebenso wie dem Internationalen Gerichtshof, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 in fast unveränderter Form erneut gegründet wurde, die zur Durchsetzung seiner Urteile erforderliche Zwangsgewalt vorenthalten blieb.18 Weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränitätsrechte, was die Voraussetzung dafür gewesen wäre, daß eine internationale Konfliktregelung überhaupt funktionieren konnte. Ganz im Gegenteil wurden die hier zu konstatierenden Prozesse der Verrechtlichung der internationalen Staatenwelt jeweils schnell wieder durch gegenläufige Entwicklungen des internationalen Systems überlagert. Dem Völkerbund wurde nicht nur zum Verhängnis, daß es ihm „an Vollstreckungsgewalt und dem richtigen System kollektiver Sicherheit" mangelte,19 oder daß ihm, der im Zusammenhang mit den Versailler Friedensverträgen aus der Taufe gehoben wurde, das Odium der Politik der 'Siegermächte' des Ersten Weltkriegs anhaftete, das seine universalistische Tendenz konterkarierte. Besonders nachteilig wirkte sich aus, daß der Völkerbund über keinerlei Instrumente verfügte, die es ihm erlaubt hätten, die zahlreichen ökonomischen, politischen und sozialen Krisenherde und Konflikte in Europa, Asien und zunehmend auch in den afrikanischen Kolonien zu regulieren und ihnen entgegenzuarbeiten. Nicht Verrechtlichung und Aufhebung der partikularen Mächte und ihrer Interessen im Rahmen einer übergreifenden Ordnung internationaler Kooperation, sondern eine Verstärkung der regionalen Blockbildungen, der imperialistischen und nationalistischen Politiken und der Strategien von Konfrontation und Aggression setzte sich durch.20 Ebenso verhielt es sich im Falle der Vereinten Nationen, die ihr regulatives Potential über Jahrzehnte hinweg nicht zur Geltung bringen konnten. Zwar weitete sich die Zahl der Mitglieder wie auch die der Unterorganisationen der UNO beständig aus, und ein gleiches gilt vor allem seit den siebziger Jahren - hinsichtlich der von ihr behandelten regionalen und globalen Problemlagen. Doch schon kurz nach ihrer Gründung gerieten die Vereinten Nationen in den Bann des entstehenden Ost-West-Antagonismus, der die Struktur der internationalen Beziehungen und ihre Dynamik für mehr als vier Jahrzehnte dominierte und durchformte.21 Die internationale Ordnung, die sich nun durchsetzte, gründete auf dem System von nuklearer Rüstung und Abschreckung, in dem zwei hegemoniale Mächte in einer historisch einzigartigen Weise die gesamte Welt in politischer, militärischer und ökonomischer Hinsicht dominierten und strukturierten. Diese Ordnung basierte nicht auf Prinzipien einer Gewalt ausschließenden, rechtlich gestützten Kooperation freier und gleicher Subjekte, sondern beförderte und erzeugte im Gegenteil blutige Stellvertreterkriege, Interventionen und die Schaffung und Aufrechterhaltung von aggressiven, despotischen Regimen, solange dies nur im Sinne der jeweiligen Hegemonialmacht innerhalb des 'Systemkonflikts' nützlich und 17 18
19 20 21
Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, S. 332. Vgl. zu diesen beiden Internationalen Gerichtshöfen Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 719 ff. u. 779 ff. Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte, S. 437. Vgl. Pfeil, Der Völkerbund; Walters, A History of the League of Nations. Vgl. zur völkerrechtlichen Bedeutung der Nachkriegsentwicklung zwischen bipolarem System und internationaler Vergemeinschaftung Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 749 ff.; zur UNO Volger, Geschichte der Vereinten Nationen.
Politische Wissenschaft und internationale Beziehungen im Übergang zum 21. Jahrhundert
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wünschenswert war.22 Zwar sind zur gleichen Zeit, wie der Ausweitungsprozeß der Arbeit internationaler Organisationen, das wachsende Bewußtsein 'blockübergreifender' Problemlagen, wie die des Bevölkerungswachstums, der Ökologie oder der Energieversorgung zeigen, durchaus auch Fortschritte möglich gewesen. Dies aber sind Fortschritte, die nicht zuletzt auf die Einsicht in die offensichtliche Verhängnishaftigkeit eines weiteren, mit nuklearen Waffen geführten Weltkrieges zurückzuführen sind, wodurch die Suche nach prinzipiell neuen Wegen der Schaffung, Verankerung und Sicherung einer alternativen, die Sicherheit, Freiheit und Entwicklungschancen der Menschen und Völker gewährleistenden Organisation der internationalen Beziehungen befördert worden ist. Freilich ändert dies nichts daran, daß bis zum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts stets noch die zaghaften Versuche zum Scheitern verurteilt waren, das überkommene System nationalstaatlich dominierter, von hegemonialen Interessen partikularer Mächte bestimmter Beziehungen zu überwinden, allgemeine rechtliche Regelungen, Instanzen und die zur Umsetzung benötigten Zwangsmittel zu schaffen, denen sich die Staaten zur Sicherung verläßlicher Strukturen internationaler Sicherheit und Handlungsfreiheit zu unterwerfen hätten. Rechtlichen und institutionellen Kooperationsformen oberhalb dieser Ebene der von Staaten und Blöcken geprägten internationalen Sphäre kam de facto nur solange eine Rolle zu, als sie sich innerhalb dieses Zusammenhangs für die eine oder andere Seite instrumentalisieren ließen oder sie zumindest in ihren Interessen nicht berührten.23 Diese realhistorische Situation führte in der Sphäre politikwissenschaftlichen Denkens zur Dominanz der Vertreter der 'realistischen Schule'. Indem sie von einem Staatensystem ausgingen, das aufgrund des Fehlens einer seinen Mitgliedern übergeordneten Macht den Akteuren die Freiheit und die Verpflichtung ließ, durch alle von ihnen als angemessen betrachteten Mittel - seien es Rüstung oder Abrüstung, eine Bündnis- oder Gleichgewichtspolitik, sei es aber eben auch das Führen von Kriegen - die Sicherheit und die Erhaltung der einzelnen Staaten zu gewährleisten, erscheint der 'Realismus' für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg „als wissenschaftliche Rationalisierung und modellhafte Rekonstruktion der realhistorisch faßbaren Grundzüge des Kalten Kriegs".24 Zugleich sehen sich die (neo-)realistischen Positionen selbst durch das Ende der bipolar strukturierten Weltordnung noch bestätigt. Dieser Position zufolge handelt es sich schließlich beim Kalten Krieg und bei dem nach dem Ende dieses Systems erreichten Zustand lediglich um unterschiedliche Varianten der Machtkonkurrenz internationaler Akteure und Organisationen. Die Lage ist nach Ansicht der Vertreter dieser Position durch das Ende des Ost-West-Dualismus freilich alles andere als überschaubarer oder berechenbarer geworden: gerade aufgrund der Auflösung die-
Vgl. zum bipolaren System und seinen Folgen Link, Die Entwicklung des Ost-West-Konflikts, Schöllgen, Was hat der Ost-West-Gegensatz bewirkt?, sowie die Bestandsaufnahme von Rittberger/Zürn, Transformation der Konflikte, S. 383 ff. Insofern kann man nur sehr bedingt davon sprechen, daß die Vereinten Nationen die „globale Ebene repräsentierten", und ,,[u]nterhalb dieser Ebene rangierte diejenige der Blöcke" (Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, S. 372). Dagegen wird man wohl sagen müssen, daß die Bedeutung der UNO stets von den jeweiligen Interessen der Blöcke und dem Stand der Beziehungen zwischen ihnen abhing. Meyers, Grundbegriffe der Internationalen Beziehungen, S. 238; zur Entwicklung von Realismus und Neorealismus in der Auseinandersetzung mit 'idealistischen' und 'globalistischen' Schulen vgl. ebd., S. 236-257.
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ses stabilisierenden Rahmens erscheint sie ihnen vielmehr unsicherer als in den Jahrzehnten zuvor.25 In jedem Falle ist seit den in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts einsetzenden Umbrüchen ein tiefgreifender historischer Einschnitt zu konstatieren, der theoretisch und praktisch zu verarbeiten ist. Auch wenn, wie Regimetheoretiker und Neorealisten gleichermaßen hervorheben, zahlreiche Akteure, Faktoren, Institutionen und Probleme über den Systembruch hinweg identisch geblieben sind, läßt sich doch nicht übersehen, daß mit dem Zusammenbruch der in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominierenden Weltordnung der Zusammenhang, innerhalb dessen sie bisher wirkten, ein prinzipiell neuer, erst noch zu bestimmender und zu formender ist. Solange dies aber nicht gelungen ist, herrscht Unsicherheit vor, die bisher freilich innerhalb des Gebiets internationaler Beziehungen die Akteure stets zum Rückgriff auf vermeintlich realistische Positionen der Steigerung der Ressourcen und Potentiale von politischer, ökonomischer und militärischer Macht verleitet hat. Die gewandelte internationale Situation und die sich aus ihr ergebenden krisenhaften Umstrukturierungsprozesse haben das Bewußtsein für die Notwendigkeit theoretischer und praktischer Neuorientierung geschärft. Nur kurze Zeit konnte die Vorstellung bestehen, nach dem Wegfall des sowjetisch dominierten Pols könnten die USA bzw. „der freie Westen" zum Kern einer neuen, 'unipolaren' Weltordnung werden, in der sich die Prinzipien kapitalistischer Ökonomie und liberaler politischer Systeme weltweit alternativlos durchsetzen würden.26 Stattdessen hat die Vielzahl der neu entstehenden oder wieder aufbrechenden alten, nur durch den Systemdualismus am Ausbruch gehinderten Konflikte schnell zum Zusammenbruch solcher Hoffnungen geführt: Es scheint nunmehr weniger ein 'Vorwärtsschreiten' in Richtung auf eine neue, von überkommenen Strukturen und Verhaltensweisen befreite internationale Kooperation zu geben, als vielmehr ein 'Zurück' zu Formen der Konfrontation und des gewaltsamen Konfliktaustrags.27 Insofern mit dem Ost-West-Konflikt „einige der Kategorien und Kriterien zur Wahrnehmung und Beurteilung weltpolitischer Vorgänge überholt" worden sind, „ist es auch kein Einen Überblick über den 'realistischen' Blick auf den Ost-West-Konflikt und die Situation danach liefern Rittberger/Züm, Transformation der Konflikte, S. 401 f. Exemplarisch für diese Auffassung, wie sie 1990 vom damaligen amerikanischen Präsidenten, George Bush, auf den Begriff einer 'neuen Weltordnung' gebracht wurde (vgl. von Bredow, Turbulente Welt-Ordnung, S. 17 u. 21 f.), ist das von Fukuyama proklamierte „Ende der Geschichte", insofern für ihn zu dem existierenden marktwirtschaftlichen und demokratischen System keine historische Alternative mehr erwachsen werde. Krauthammer hat das Ende der bipolaren Ordnung auf den Begriff des „Unipolar Moment" (1991) gebracht, wonach die Alternative zum drohenden Chaos „[lies] in American strength and will - the strength and will to lead a unipolar world, unashamedly laying down the rules of world order and being prepared to enforce them" (ebd., p. 33). Mearsheimer, einer der profiliertesten Vertreter des „offensive" bzw. „aggressive realism" des vergangenen Jahrzehnts, kann sich denn auch nur amüsiert zeigen über 1989 keimende Hoffnungen auf „a new peace. With the Cold War over, it is said, the threat of war that has hung over Europe for more than four decades is lifting. Swords can now be beaten into ploughshares, harmony can reign among the states and people of Europe. Central Europe [...] can convert its military bases into industrial parks, playgrounds, and condominiums" (Back to the Future, p. 5). Statt solche sentimentalen Hoffnungen zu hegen, hat man sich Mearsheimer zufolge eher auf die Rückkehr zur klassischen, Krieg und militärischen Zwang als legitimes Mittel einschließenden Politik einzustellen (s. unten, Anm. 30); vgl. hierzu die die unterschiedlichen Entwicklungen und Gefahren zu einem 'Negativszenario' bündelnde Darstellung bei Senghaas, Friedensprojekt Europa, S. 181-186.
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Zufall, daß sich nach 1989/90 politische Praktiker und Politikwissenschaftler gleichermaßen beunruhigt und irritiert auf die Suche nach neuen Kategorien und Kriterien begaben, Konflikte, militärische Kämpfe, ihre Ursachen sowie die Möglichkeiten ihrer (am besten: friedlichen) Steuerung angemessen zu erfassen und einzuordnen".28 Dabei ist es, um die neue internationale Situation überhaupt bestimmen und angeben zu können, welche Optionen sie für künftige Organisations- und Handlungsformen bietet, offensichtlich zunächst einmal notwendig, dasjenige zu erkennen, was nun zu Ende geht. Das Bedürfnis danach läßt sich an den zahlreichen Versuchen ablesen, die in der Theorie internationaler Beziehungen im Laufe der vergangenen Jahre unternommen wurden, 1989 als 'Epochenjahr' in der politischen Wirklichkeit theoretisch auf den Begriff zu bringen. Die offenkundige Unsicherheit, die aus dem Zusammenbruch des vertrauten kategorialen Rahmens resultiert, hat dabei zunächst einmal dazu geführt, Orientierungsmarken in der Vergangenheit zu suchen, - wohl in der Annahme, das Ende der 'Erstarrung' lege einen status quo ante plötzlich wieder frei, dessen Wiedererkennen für die Gestaltung des Kommenden hilfreich sein könne. Was also hat geendet, was überlebt den 'Epochenbruch', welches sind die neuen Faktoren, Strukturen, Probleme und Potentiale, die es so zuvor noch nicht gab? Auf diese Frage sind, wie im folgenden kurz gezeigt werden soll, ganz verschiedene Antworten gegeben worden. Für denjenigen, der das Jahr 1989 vor allem als Zusammenbruch der sich in den ersten Nachkriegsjahren herausbildenden bipolaren Ordnung sieht, erlangen die durch den Systemgegensatz zwischen Ost und West blockierten Entwicklungstendenzen neuen Spielraum. Demnach kann und muß auf eine Fortsetzung jener friedenspolitischen, institutionell und (völker-)rechtlich verankerten Initiativen gesetzt werden, wie sie um die Jahrhundertwende mit den Haager Kongressen, nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Völkerbund und nach dem Zweiten mit den Vereinten Nationen eingeleitet und schließlich auch unter den bisherigen Bedingungen institutionell und materiell weiterentwickelt wurden.29 Ganz anders sieht es für jene Interpreten aus, für die sich nach dem Ende des Intermezzos des 'stabilen Abschreckungsfriedens' die zuvor herrschende Staatenwelt mitsamt ihren grundlegenden Strukturen und Problemen wieder zur Geltung bringt.30 Demnach droht die Rückkehr zur Lage am Beginn des 20. Jahrhunderts, zur 'Weltordnung von 1914', d. h. zu einer polyzentrischen, von großen Mächten bzw. von mehreren regionalen Blöcken bestimmten Staatenwelt.31 Trotz und vermittels internationaler Politik, Vernetzung und Institutionen würde die Weltordnung nun wieder vor allem dem Spiel und Diktat der Interessenspolitik zumindest der mächtigsten der weiterhin souveränen Nationalstaaten unterliegen. Nur eine Variante dieses Konzepts stellt hierbei das vieldiskutierte Szenario Huntingtons
von Bredow, Konflikte und Kämpfe, S. 104. - Vgl. zu diesen 'turbulenten Diskursen' von Bredow, Turbulente Welt-Ordnung, S. 18 ff. Vgl. Kimminich, Der Beitrag der Vereinten Nationen, S. 16 ff.; zu den weiteren Aufgabenfeldem und Entwicklungsperspektiven Czempiel, Aktivieren, reformieren, negieren?; Kühne, Die Vereinten Nationen; Volger, Die Vereinten Nationen. So sieht Mearsheimer das Ende des Kalten Krieg mit einem weinenden Auge, denn „bipolarity, an equal military balance, and nuclear weapons have fostered peace in Europe over the past 45 years. [...] the Cold War was principally responsible for transforming a historically violent region into a very peaceful place" (Back to the Future, p. 51). Die Zeit solch friedlicher Verhältnisse sei nun wohl dauerhaft vorbei: „the stability of the past 45 years is not likely to be seen again in the coming decades" (ebd, p. 56). Vgl. Schwarz, Die neue Weltpolitik, S. 15 ff.
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über den kommenden Clash of Civilizations dar, der „das machtpolitische Paradigma [des Realismus] auf der Grundlage eines Pluralismus sich gegeneinander abschottender Kulturkreise mit allen dazu gehörigen, aus der Zeit der nationalstaatlichen Politik des 19. wie des geopolitischen Dualismus des 20. Jahrhunderts bekannten Ingredienzien" rehabilitiert.32 Noch weiter zurück gehen Autoren, die mit dem Jahr 1989 gleichsam einen „Paradigmenwechsel" in der Weltgeschichte und gar „das abrupte Ende der Moderne" als solcher sehen,33 einer Ordnung der internationalen Beziehungen, wie sie sich 1789 mit der Französischen Revolution durchgesetzt habe. Demzufolge signalisieren die derzeit zu konstatierenden internationalen Prozesse und ihre Wirkungen auf die nationalen Gesellschaften, daß wir uns nunmehr in einer neuen „Achsenzeit" befinden. In dieser gehe nicht nur eine spezifische Form der internationalen Beziehungen zu Ende, sondern auch das bisher als gültig unterstellte Modell eines territorial verfaßten, souveränen Nationalstaats mitsamt seinen Rechts-, Wohlfahrts- und Demokratiepotentialen. Darüber hinaus aber hätten schließlich auch die Werte des aufgeklärten 'westlichen', d. h. vor allem des von den Prinzipien individueller Freiheit und Gleichheit getragenen Gesellschaftsmodells und das ihm zugrundeliegende, „durch rationales Denken geprägte Welt- und Menschenbild" seine prägende Kraft verloren.34 Oder bedeutet nicht, um schließlich einen vierten und letzten Schritt in die Vergangenheit zu machen, das 'Epochenjahr 1989' sogar das Ende des „Westfälischen Systems" der modernen Staatenwelt, wie es 1648 am Ende des Dreißigjährigen Krieges im Westfälischen Frieden erstmals festgeschrieben worden war?35 Demzufolge steht nun nicht die Rückkehr zum Denken in Kategorien einer rational zu kalkulierenden, an der Staatsraison orientierten Politik im Feld der internationalen Beziehungen zu erwarten: Ganz im Gegenteil ist es gerade diese Welt(-ordnung) prinzipiell freier und gleicher Staaten, die sich im Zerfallsprozeß befindet und von einer „postmodernen Welt-Unordnung" abgelöst wird, die in ihrer Widersprüchlichkeit und in der Ungleichzeitigkeit ihrer regionalen und nationalen Erscheinungen, Prinzipien und Strukturen allen Hoffnungen, eine dauerhafte, Frieden und Entwicklung sichernde internationale Ordnung erreichen zu können, einen negativen Bescheid zu geben scheint.36
Kersting, Globaler Rechtsfrieden und kulturelle Differenz, S. 65; vgl. Huntington, 'Clash of Civilizations' 1993; zu der sich hieran anschließenden Debatte Menzel, Globalisierung versus Fragmentierung, S. 70-96. Menzel, Globalisierung versus Fragmentierung, S. 25. Ebd., S. 7-8. Eine euphorische Version und Einschätzung dieser Entwicklung liefert Albrow, Abschied vom Nationalstaat. Vgl. Schilling, Der Westfälische Frieden, S. 25 f.; Held, Democracy and the Global Order, pp. 73 ff.; Cooper, Gibt es eine neue Weltordnung?, S. 102 ff.; LyonsIMastandundo, Beyond Westphalia?; ausführlich Rosenau, der die aktuelle „Turbulence in World Order" als Resultat langfristig angelegter Tendenzen versteht. Vgl. etwa Cooper, Gibt es eine neue Weltordnung?, S. 107-119; einen anderen Ausgang aus dem 'Westfälischen System' vertritt Held, Kosmopolitische Demokratie und Weltordnung, S. 232 ff., der auf die Etablierung eines „Konzepts von kosmopolitischer Demokratie" setzt und damit in der 'modernen', an der Kantischen Weltfriedensidee orientierten Tradition steht. Daß die 'postmodernen' Konzeptionen de facto letztlich nur Varianten altbekannter 'moderner' Schulen sind - womit sich der Streit um die Attribute 'modern' versus 'postmodern' ad absurdum führt - , zeigen ihre sich nüchtern und 'realistisch' gebenden Konklusionen, nach denen „wir möglicherweise zu den rauheren Methoden früherer Zeitalter zurückkehren" müssen (Cooper, Gibt es eine neue Weltordnung?, S. 117): Restauriert wird letztlich die Idee einer von Interessen beherrschten Machtkonkurrenz zwischen internationalen Akteuren, wobei das Zustandekommen der Konflikte jeweils in-
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Die Unterschiedlichkeit dieser Analysen und Einschätzungen, die Vielfältigkeit der Perspektiven und Vorschläge für künftiges Handeln in der Sphäre der internationalen Beziehungen, die durch die Umbrüche der späten achtziger Jahre bei Theoretikern und Praktikern hervorgerufen bzw. angeregt worden sind, resultiert aus der radikalen Neuartigkeit der gegenwärtigen Situation. „Im Verlauf weniger Jahre haben sich außerordentliche Veränderungen in der internationalen Politik ereignet. Für nahezu ein halbes Jahrhundert bestand ein in Ost und West gespaltenes Herrschaftssystem. Fast über Nacht jedoch verschwand dieses System und hinterließ kaum Anhaltspunkte dafür, durch welche Alternativen es ersetzt werden könnte." 3 7
Plötzlich also scheint Geschichte 'offen' zu sein, so daß nun die Möglichkeit, aber eben auch die Notwendigkeit besteht, die Entwicklungen in einer sehr viel grundsätzlicheren Weise, als dies bisher erforderlich und möglich war, zu durchdenken und zu bestimmen. Dieser Zwang, inhaltlich und institutionell die eingefahrenen Gleise zu verlassen und nach neuen Prinzipien und Wegen internationaler Kooperation und Politik zu suchen, hat die politische Theorie internationaler Beziehungen als 'Krisenwissenschaft' vor neue Anforderungen gestellt, ihr damit aber auch konzeptionell neue Chancen eröffnet. Nachdem es über Jahrzehnte hinweg nur darauf anzukommen schien, sich innerhalb eines vorgegebenen Rahmens mitsamt der ihn prägenden und von ihm geprägten Akteure und Strukturen zu bewegen, um Handlungsoptionen und Entwicklungswege in ihm auszuloten, ist es nun auf einmal der Rahmen selbst, der in Auflösung begriffen und neu zu reflektieren und zu entwerfen ist. Die vermeintliche Gewißheit darüber, in welchem internationalen Ordnungsgefüge man sich bewegt, welches die tragenden Akteure sind, welches die zentralen Strukturen, Dynamiken, Widersprüche, Probleme und Entwicklungsmöglichkeiten, sind seitdem einem neuen Prozeß der Reflexion und Kritik ausgesetzt. Die Breite der aktuell stattfindenden Diskussionen und die Bemühungen, die Bedeutung des Systems, mit dem gebrochen wird, historisch und systematisch zu bestimmen, verweisen auf den Intensitätsgrad des sich vollziehenden Bruchs. Es geht offenbar nicht um kurzfristige Veränderungen und Reformnotwendigkeiten, sondern um das gedankliche Erfassen und zugleich auch das praktisch-politische Verarbeiten von Wandlungen säkularen Ausmaßes. Auf der einen Seite nämlich führt der Zerfall des bipolaren Systems gleichsam zur Wiederkehr altbekannter Probleme internationaler Konflikte, d. h., der Frage der Organisation militärischer Sicherheit innerhalb eines neuen internationalen Kontextes. Nachdem die Blockkonfrontation, „die durch einen Konflikt hoher Intensität gekennzeichnet war, dessen gewaltsamer Ausbruch allerdings eine geringe Wahrscheinlichkeit hatte", zu Ende gegangen ist, tritt an die Stelle dieses einen Hauptkonflikts nun „eine Vielzahl von Konflikten [...], deren Intensität weit geringer ist als das alte Konfliktpotential, die jedoch durch hohe Wahrscheinlichkeit eines tendenziell eskalierenden und gewaltträchtigen Konfliktaustrages gekennzeichnet sind." 38 Zugleich weist die Art und Weise der nunmehr auftretenden Konflikte in ihren Entstehungsgründen und Verlaufsformen auf der anderen Seite darauf hin, daß es sich kaum mehr um internationale Konflikte im traditionellen Sinn handelt. Die überwieternen, aufeinander nicht reduzierbaren und nicht miteinander kompatiblen, geschweige denn gar vermittelbaren Prozessen und Logiken geschuldet ist. Held, Kosmopolitische Demokratie und Weltordnung, S. 221. Senghaas, Friedensprojekt Europa, S. 16.
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gende Mehrzahl der aktuellen Konflikte gründet in Verhältnissen und Problemen, deren Ursprung, treibende Kräfte und Dynamik jenseits der durch souveräne Staaten geprägten Welt internationaler Beziehungen zu suchen ist. Bei allen Unterschieden in den Analysen und der Bewertung stimmen die meisten Untersuchungen in der Konstatierung zweier prima vista widersprüchlich erscheinender, tatsächlich jedoch vielfach miteinander vermittelter 'Megatrends' (U. Menzel) von Globalisierung und Denationalisierung einerseits und Fragmentierung, d. h., politischer, kultureller und ethnischer Zersplitterung, andererseits überein. Diese Tendenzen führen zu historisch neuen Strukturen, Akteuren, Dynamiken und Konflikten, die zu ihrer Regulierung neuer politischer Institutionen und Verfahren bedürfen. Die besondere Komplexität der Situation ergibt sich daraus, daß sich ein Umbruchprozeß vollzieht, der nicht nur in seiner (globalen) Reichweite, sondern auch in seiner sachlichen Dimension und Intensität gleichsam allumfassend ist und keinen Bereich des individuellen und gesellschaftlichen Lebens unberührt läßt. Dies alles geht vor sich, ohne daß Klarheit oder gar Übereinstimmung hinsichtlich der gesellschaftlichen, staatlichen und internationalen Prinzipien und Einrichtungen bestünde, die zur Bearbeitung der Probleme und zur Vermeidung oder Entschärfung der Konflikte beitragen könnten. Mehr noch: Es sind diese Prozesse, die die bisherigen Instanzen der politischen Regelung, Bearbeitung und Lösung von Problemen und Konflikten zunehmend in Frage stellen, delegitimieren und paralysieren. Im Zentrum der Diskussion steht daher die Rolle des Nationalstaats und sein unaufhaltsam scheinender, unter dem Titel des „End of Sovereignty" geführter Niedergang.39 Auf der einen Seite transzendieren und untergraben die unter dem Begriff der 'Globalisierung' subsumierten Phänomene die in den vergangenen Jahrhunderten gültigen Strukturen der nationalen und internationalen Institutionen. Neben den erwähnten neuen sicherheitspolitischen Konfliktlinien zeigt sich dies in den Formen des sich globalisierenden Kapitalismus, dessen Folgen auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche zurückwirken, es zeigt sich anläßlich der bereits aktuell erfahrbaren wie auch der künftig zu erwartenden ökologischen Folgen politischer und ökonomischer Entscheidungen nationaler, sub- oder transnationaler Akteure, es zeigt sich aber auch an den durch die modernen Kommunikationstechnologien und die Zerstörung der traditionellen Arbeits- und Lebenswelten beförderten Prozessen der Auflösung überkommener Formen der Kommunikation und ihrer Folgen für individuelle und kollektive Identitäts- und Interessenbildung, politische, soziale und kulturelle Orientierung, Handlungs- und Organisationsformen. Die formierende und regelnde Kraft und Reichweite staatlicher Institutionen geht in den politischen, ökonomischen, technologischen oder sicherheitspolitischen Bereichen gesellschaftlicher Organisation ebenso zurück wie in jenen der Bildung individueller und kollektiver Identitäten, der kulturellen, religiösen oder sozialen Integration.40
Vgl. Camilleri/Falk, The End of Sovereignty. Während Camilleri und Falk den neuzeitlichen Staat durch „a mosaic of local, regional, national, supranational and transnational spaces, loyalities and institutions" überformt und gleichsam funktional entkernt sehen (The End of Sovereignty, S. 256), zeichnet Albrow (Abschied vom Nationalstaat, S. 253 ff.) euphorisch das Bild eines postmodernen „Globalen Zeitalters", in dem ein neuartiger „Weltstaat" die entstehende Weltgesellschaft organisiert und den traditionellen Staat auflöst: „Wenn der Staat ein polyzentrisches weltweites Netz von Praktiken ist, in dem Individuen als unabhängige Weltbürger agieren und nationale Hoffnungen regelmäßig außerhalb der etablierten Nationalstaaten liegen, dann hat die Regierung die Macht über das Schicksal verloren" (S. 265).
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Ebenso verhält es sich auf der anderen Seite mit den neuen innergesellschaftlichen, gewissermaßen substaatlichen Problemen, Prozessen und Akteuren, die die bisherigen Formen nationaler und internationaler Politik unterlaufen. Obwohl diese Tendenzen von Fragmentierung und Regionalisierung nicht unabhängig von den 'Globalisierungsprozessen' zu sehen sind, sondern vielmehr zumeist Folgeprodukte, Reaktions- oder Abwehrhaltungen gegen deren Erscheinungsformen und oft destruktive Auswirkungen auf die individuellen und kollektiven materiellen und ideellen Sicherheiten und die vertrauten Lebenswelten insgesamt darstellen:41 Deutlich wird an den zahlreichen Phänomenen jedenfalls, daß der Globalisierungsprozeß nicht mit dem Prozeß zur Herausbildung einer 'Weltgesellschaft' in eins gesetzt werden darf, die - analog zu den Entwicklungen innerhalb einzelner Gesellschaften in einem wie auch immer konflikthaften Prozeß über kurz oder lang dazu käme, sich gemeinsame Einrichtungen und Verfahren der Regelung der allgemeinen Angelegenheiten, d. h., ein politisch-rechtliches System, zu geben.42 Die 'Staatenwelt' wird in diesem Sinne nicht durch eine Weltgesellschaft, sondern vielmehr durch eine 'Gesellschaftswelt' abgelöst,43 deren 'Einheit' sich durchaus auch als widersprüchliche, anarchische, konflikthaft verlaufende entpuppt, in der in letzter Instanz lediglich das durch politische, ökonomische und militärische Ressourcen gespeiste Recht des jeweils Stärkeren die 'neue Weltordnung' dominiert. Am Ausgang des auf Abschreckung basierenden, die Welt im Bann der nuklearen Katastrophe haltenden Ost-West-Konflikts scheint am Horizont des historisch Möglichen weniger die Option einer sich internationalisierenden, weltumspannenden Gesellschaft und einer sie übergreifenden und sichernden Rechts- und Friedensordnung zu stehen. Möglich scheint vielmehr auch eine Renaissance des von Hobbes als 'Krieg aller gegen alle' beschriebenen gesellschaftlichen Naturzustands, der schließlich kein auf die Sicherheitsproblematik im engeren Sinn reduzierbares Problem beschreibt.44 Es handelt sich demgegenüber um das fundamentale Problem einer jeden Ordnung, in der aufgrund des Fehlens einer allgemeinen, Recht nicht nur verbindlich setzenden, sondern in konkreten Fällen auch anwendenden und durchsetzenden Instanz Recht und Macht zusammenfallen und der Konflikt auf Dauer gestellt ist. Die aktuellen gesellschaftlichen und internationalen Entwicklungen führen somit zurück zu der fundamentalen Frage der neuzeitlichen politischen Theorie nach jenen Institutionen und Verfahren, die geeignet sind, die Beziehungen zwischen prinzipiell freien und gleichen Subjekten - seien es Individuen oder Staaten - in Bahnen zu lenken, in denen ihre Freiheit, 41
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Vgl. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, S. 256 ff.; Menzel, Globalisierung versus Fragmentierung, S. 40 ff. Vgl. Wobbe, Weltgesellschaft; Forschungsgruppe 'Weltgesellschaft', Weltgesellschaft, sowie die Beiträge von Wolfgang R. Vogt, Kurt Tudyka oder Wilfried Röhrich in Calließ, Auf dem Wege zur Weltinnenpolitik, S. 21 ff., 33 ff. u. 127 ff. So die Formulierung von Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, S. 14 f. u. 105 ff., der hierunter vor allem den Umstand fassen will, daß internationale Politik zunehmend durch innergesellschaftliche Konflikte und Anforderungen beeinflußt wird. So findet Hobbes' Naturzustandstheorie in der Theorie internationaler Beziehungen gerne als Modell für das systemisch bedingte 'Sicherheitsdilemma' der Akteure innerhalb des anarchisch strukturierten internationalen Staatensystems Verwendung; vgl. paradigmatisch Herz, Staatenwelt und Weltpolitik, S. 39 ff.; Senghaas, Friedensprojekt Europa, S. 142 ff. - Zum systematischen Gehalt der Hobbesschen Theorie und ihrer Bedeutung für die Analyse der internationalen Beziehungen vgl. unten, S. 30 f. u. 33 ff.
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ihre Selbsterhaltung und ihr materieller Wohlstand dauerhaft gesichert werden können. Die angesprochenen, durch 'Globalisierung' und 'Fragmentierung' geprägten Entwicklungen zeigen, daß die Antwort, die die neuzeitliche Theorie und Praxis auf das dadurch umrissene Problem gegeben hat, nämlich die Errichtung des modernen, durch seine souveräne Herrschaft über ein spezifisches Territorium und (Staats-)Volk sowie durch souveräne Freiheit nach außen definierten Staates, heute selbst problematisch geworden ist. Angesichts der globalen ökologischen, ökonomischen und politischen Entwicklungen und Probleme in seiner Regelungskompetenz hoffnungslos überfordert,45 scheint das 'Modell Nationalstaat' dort, wo gesellschaftliche Akteure sich jenseits seiner Institutionen organisieren, bestenfalls irrelevant, dort aber, wo sich Probleme und Spannungen in Gestalt ethnischer, religiöser oder kulturell begründeter Nationalismen kleiden,46 selbst eher Teil des Problems als Element seiner Lösung zu sein. Wenn also tatsächlich von einem 'End of Sovereignty' in ihrer bisherigen, territorialstaatlich bestimmten Gestalt gesprochen werden muß, stellt sich die Frage nach alternativen Organisations- und Regulierungsformen der inner- und zwischengesellschaftlichen Beziehungen, sofern man sich nicht mit der Restaurierung des Rechts des Stärkeren zufrieden geben will. Auf die mit der Entstehung der neuzeitlichen Ordnung vergleichbare Problematik im Übergang zum 21. Jahrhundert hat Habermas mit Recht hingewiesen: „Der Nationalstaat war seinerzeit eine überzeugende Antwort auf die historische Herausforderung, ein funktionales Äquivalent für die in Auflösung begriffenen frühmodernen Formen der sozialen Integration zu finden. Heute stehen wir vor einer analogen Herausforderung. D i e Globalisierung des Verkehrs und der Kommunikation, der wirtschaftlichen Produktion und ihrer Finanzierung, des Technologie- und Waffentransfers, vor allem der ökologischen und der militärischen Risiken stellen uns vor Probleme, die innerhalb eines nationalstaatlichen Rahmens oder auf dem bisher üblichen W e g e der Vereinbarung zwischen souveränen Staaten nicht mehr gelöst werden können. W e n n nicht alles täuscht, wird die Aushöhlung der nationalstaatlichen Souveränität fortschreiten und einen Auf- und Ausbau politischer Handlungsfähigkeiten auf supranationaler Ebene nötig machen, den wir in seinen Anfängen schon beobachten." 4 7
Diese Perspektive steht im Zentrum zahlreicher politiktheoretischer, in überraschendem Maße aber auch praktisch-politischer Überlegungen zur weiteren Entwicklung gesellschaftlicher und politischer Institutionen. Die Anforderungen an eine neue Bestimmung von innergesellschaftlichen, staatlichen und internationalen Dynamiken und Möglichkeiten für die Regelung, Eingrenzung oder Aufhebung dabei auftretender Konflikte zeigen, daß die Beantwortung dieser Fragen am vermeintlichen Ende des Zeitalters der modernen, nationalstaatlich organisierten Welt von ebenso entscheidender Bedeutung ist wie an ihrem Beginn; - hier wie dort geht es um nichts weniger als um die Neubestimmung der Form, in der Individuen und Gesellschaften ihre allgemeinen Angelegenheiten auch und gerade im Kontext Zürn konstatiert, „daß die Reichweite der Gültigkeit von nationalstaatlichen Regelungen die realen Grenzen des betroffenen Handlungszusammenhangs als Folge einer gesellschaftlichen Denationalisierung häufig unterschreitet. [...] Gesellschaftliche Denationalisierung hebt generell die Kongruenz der sozialen und politischen Räume auf. Dies stellt aber die Effektivität der Politiken des modernen Nationalstaats in Frage. Mehr denn je scheint das bon mot zuzutreffen, wonach der Staat für die großen Probleme zu klein und für die kleinen Probleme zu groß ist" (Regieren jenseits des Nationalstaates, S. 10 f.). Vgl. Menzel, Globalisierung und Fragmentierung, S. 45 ff. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 129 f.
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der internationalen bzw. sich 'globalisierenden' Beziehungen regeln. Es ist deswegen keineswegs als rein akademische Reminiszenz oder als erinnerungspolitisches Ereignis zu verbuchen, daß 1995 das Jubiläum der Publikation von Immanuel Kants Zum ewigen Frieden zum Ausgangspunkt einer erstaunlich breiten Diskussion wurde und zu einer Vielzahl von Tagungen, Sammelbänden und Studien führte.48 Daß diese kleine Schrift, die von den Zeitgenossen und der Nachwelt oft nur als Gelegenheitsschrift betrachtet wurde,49 nunmehr ein solches publizistisches Echo auslöste, liegt darin begründet, daß die in ihr verhandelten Fragen nach den Prinzipien, Strukturen und Voraussetzungen einer internationalen Rechts- und Friedensordnung seit den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts von einer ganz neuen Aktualität sind. Wolfgang Kersting zufolge ist mit den Umbrüchen im Gefolge des Zerfalls des Ostblocks 1989 zuallererst der historische Moment erreicht worden, in dem die „Chance für einen internationalen Kantianismus" und die Voraussetzungen dafür bestehen, „das vorherrschende Modell des Abschreckungsfriedens durch das anspruchsvollere Modell des kantischen Rechtsfriedens zu ersetzen. Anspruchsvoller ist dieses Modell, weil es sich ein normatives universalistisches Fundament gibt und ein komplexes politisches Programm entwirft, das eine Vielfalt von Strategien verbindet: die Bildung von Sicherheitsbündnissen, die Etablierung supranationaler Organe globaler Rechtspflege und Friedenssicherung; die Verdichtung ökonomischer, politischer und ökologischer Kooperation; die Entwicklung einer sowohl staatlichen wie weltgesellschaftlichen Menschenrechtspolitik und gelegentlich auch ein zaghaftes Bemühen um eine gerechtere globale Verteilungsordnung."50
Ob man der Analyse, Diagnose und Perspektive der jeweils damit verbundenen politischpraktischen Positionen bei den verschiedenen Teilnehmern dieser Debatte beipflichtet oder nicht: Die plötzliche Neubelebung der theoretischen Frage nach der Notwendigkeit und den Bedingungen internationaler Institutionen und Rechtsverhältnisse ist ganz offenbar durch die historische Situation gleichsam erzwungen. Der (affirmative oder kritische) Rekurs auf das Kantische Programm ist mithin keine anachronistische Flucht vor den Problemen der Gegenwart, sondern ein Versuch, sich ihnen zu stellen und ihnen historische und systematische Tiefenschärfe zu verleihen. Dabei wird bei näherem Hinsehen deutlich, daß die von Kant entwickelten Positionen selbst nur den Schlußpunkt einer längeren Tradition bilden, in der Konzeptionen entwickelt wurden, die auch unabhängig von der spezifischen Gestalt, in der sie bei Kant aufgenommen werden, eigenständiges Interesse verdienen. Völlig zurecht nämlich hat etwa Dieter Senghaas bereits vor Jahren den Bogen von den heutigen Problemlagen bis zurück ins frühe 18. Jahrhundert geschlagen, insofern nach dem Ende des OstWest-Konflikts und des auf Abschreckung beruhenden 'Sicherheits'-Konzepts „in Wissen48
Vgl. exemplarisch Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf, Lutz-Bachmann/Bohman, Frieden durch Recht, Merkel/Wittmann, 'Zum ewigen Frieden'; zur Debatte vgl. Lorz, Die dauerhafte Aktualität, und Kaufmann, Wie gegründet ist Kants Hoffnung?
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Alexander von Humboldt etwa äußert 1795 in Briefen an Friedrich Schiller, er könne die Kantische Schrift „nicht sehr wichtig nennen", sie mache auf ihn „keinen großen Eindruck" (in: Dietze/Dietze, Ewiger Friede, S. 125 u. 133). Werner Sombart erklärt das kleine Werk gar für „ein schwächliches Erzeugnis der Senilität" Kants (zit. nach Vorländer, Immanuel Kant, Bd. n, S. 235). Weitere Beispiele für die - im 19. und 20. Jahrhundert vor allem durch die Präferenz nationalstaatlicher Machtpolitik gespeiste - Ablehnung der Kantischen Friedensschrift referiert Cavallar, Pax Kantiana, S. 410 ff.
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Kersting, Globaler Rechtsfrieden und kulturelle Differenz, S. 63 f.
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schaft und politischer Praxis das konstruktive Konzept eines dauerhaften Friedens erforderlich" sei, wobei die „ihm zugrundeliegende Problematik [...] gerade auch im Hinblick auf Europa alt [ist], lautete doch schon der Titel eines berühmten friedenspolitischen 'Bestsellers' im 18. Jahrhundert: 'Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe' (Abbé de St. Pierre)".51 Konkreter noch hat Ernst-Otto Czempiel wiederholt darauf hingewiesen, daß das heute dringliche „Konzept zur Bearbeitung der Systemanarchie [...] schon aus dem 18. Jahrhundert [stammt] und [...] vom Abbé de Saint-Pierre erstmals in den ausgearbeiteten Vorschlag der Errichtung einer internationalen Organisation gegossen" wurde, womit er eine in den gegenwärtig bestehenden Institutionen noch längst nicht eingeholte theoretische Erkenntnis formuliert habe.52 Nicht nur rein ideengeschichtliche oder systematische Gründe, sondern aktuelle Probleme politischer Theorie und Praxis sprechen für ein neues Interesse an der Tradition neuzeitlicher politischer Philosophie der internationaler Beziehungen.53 Dabei darf nicht erst bei Immanuel Kant, sondern muß bereits beim Abbé de Saint-Pierre und dem kritisch an ihn anschließenden Jean-Jacques Rousseau angesetzt werden. Hier nämlich beginnt jene Reflexion auf die normativen Prinzipien und die institutionellen Voraussetzungen von Recht und rechtlich gesicherter Handlungsfreiheit und Entwicklungsperspektiven von Individuen und Gesellschaften, die in aktuellen politischen, politikwissenschaftlichen und völkerrechtlichen Diskussionen über Staatlichkeit, internationale Organisationen und eine internationale Rechts(friedens-)ordnung oft in Vergessenheit geraten.
Senghaas, Friedensprojekt Europa, S. 9. Czempiel, Die Ursachen des Krieges, S. 7; vgl. ders., Friedensstrategien, S. 116, wo er feststellt, daß „der Plan des Abbé alle Grundelemente der Internationalen Organisation als Staatenbund [enthält], die in den nachfolgenden Plänen anderer Autoren lediglich variiert, nicht prinzipiell verändert worden sind. Selbst die Gründung des Völkerbundes und die der Vereinten Nationen sind nicht über die Konstruktion des Abbé hinausgegangen, die in bezug auf die Bundesexekution den Völkerbund und im Hinblick auf die Schiedsgerichtsbarkeit sogar noch die Vereinten Nationen überholte". Auf die praktische Bedeutung eines auf alternative institutionelle Strukturen und Handlungsformen in der Sphäre der Theorie internationaler Beziehungen abzielenden Denkens, wie es sich Saint-Pierre zur Aufgabe machte, hat Carl Friedrich von Weizsäcker (Der ungesicherte Friede, S. 25 f.) bereits vor Jahrzehnten aufmerksam gemacht: „Der Weltfriede steht vor uns als die große gedankliche Aufgabe unserer Zeit. Hier mag der Satz nicht ganz übertrieben sein, daß Theorie die radikalste Praxis sei. Denn die Notwendigkeit einer solchen globalen Ordnung wird sich den Menschen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher aufdrängen. Im Wirbel der Interessenkämpfe und der politischen Torheiten wird sich dann doch auf die Dauer diejenige Struktur als praktikabel herausschälen, welche die Menschen gedanklich zu fassen gelernt haben; man kann nichts verwirklichen, was man nicht begreifen kann. Deshalb sollte keine Aufgabe den Ehrgeiz denkender Köpfe so sehr reizen wie der Entwurf einer möglichen Friedensordnung."
Staat und internationale Beziehungen in der politischen Philosophie der Neuzeit
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1.2 Staat und internationale Beziehungen in der politischen Philosophie der Neuzeit Die im vorhergehenden umrissenen aktuellen Entwicklungen und Unsicherheiten über die Dynamik und Perspektiven der sich zunehmend internationalisierenden ökonomischen, ökologischen, politischen und kulturellen Prozesse haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einer Renaissance der theoretischen Reflexion auf die Sphäre von moderner Staatlichkeit und internationaler Beziehungen geführt. Politikwissenschaftler, Philosophen und Völkerrechtler merken kritisch an, es mache sich nun erst bemerkbar, daß das politische Denken der neuzeitlichen Theoretiker eine bemerkenswerte Einseitigkeit aufweise. Viel zu lange nämlich habe sich die politische Theorie auf die Begründung, Rechtfertigung und das institutionell-verfahrensmäßige Funktionieren des Staates und der durch ihn verfaßten Gesellschaft kapriziert. Demgegenüber habe sie die Analyse der Notwendigkeit und der Möglichkeiten einer normativen und praktisch-politischen Änderung und Neubegründung der zwischenstaatlichen Verhältnisse zumeist sträflich vernachlässigt und nur als Folge- und Bestandsproblem souveräner Staaten behandelt und damit systematisch unterschätzt. Die „normative systematische politische Philosophie" setzt damit nach Wolfgang Kersting nur eine lange Tradition fort, insofern bereits „ihre große Vorgängerin des 17. und 18. Jahrhunderts vornehmlich eine Philosophie der binnenstaatlichen Ordnung" gewesen sei.1 Diese Feststellung wird auch von politikwissenschaftlicher Seite unterstrichen, wenn betont wird, daß die neuzeitliche politische Theorie vornehmlich „die Entwicklung des europäischen Nationalstaats und [...] dessen Machtvollkommenheit nach außen" reflektiert und legitimiert, sich aber „kaum mit den Außenbeziehungen und noch weniger mit dem Frieden befaßt" habe, wofür mit Thomas Hobbes und John Locke zwei der prominentesten und gleichsam paradigmenbildenden 'Väter' der modernen politischen Theorie beispielhaft stehen könnten.2 Insgesamt erscheint die Geschichte der politischen Ideen somit „durch ein symptomatisches Defizit an transnationaler Denkungsart gekennzeichnet".3 Worin liegt der Grund für diese Situation? Ihn allein in der 'Blindheit', in mangelndem Problembewußtsein oder unzureichender Reflexion der neuzeitlichen Denker sehen zu wollen, würde nicht nur vom Dünkel der Nachgeborenen, sondern auch von einem unhistorischen (Miß-)Verständnis politischer Theorie zeugen. Denn das Problem und die entsprechenden theoretischen Konzeptionen selbst sind schließlich Produkt historischer Prozesse. Aus systematischen und historischen Gründen ist es erst aufgrund der zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert stattfindenden Entwicklungen sukzessive möglich und notwendig geworden, das Problem der internationalen Beziehungen zum Gegenstand jener Reflexion zu machen, die seitdem mit Recht von ihr eingefordert wird. Begriff und Wirklichkeit des modernen Staates und der von einer Pluralität solcher souveränen politischen Einheiten gebildeten Staatenwelt mitsamt der Dynamik der in ihr auftretenden Konflikte sind Resultat der Entwicklungsprozesse der frühen Neuzeit, und sie erst erzeugten jene Akteure, Probleme und
Kersting, Probleme der politischen Philosophie, S. 9. Czempiel, Friedensstrategien, S. 154. Guggenberger, Die Zukunft der Industriegesellschaft, S. 599.
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Widersprüche internationaler Beziehungen, aber auch die Prinzipien und Konzeptionen, die zu ihrer rechtlichen und politisch-institutionellen Regulierung nötig sind. 4 Daß „Frieden" und „Recht" als solche nicht im Zentrum der neuzeitlichen politischen Theorie 5 gestanden haben, wird man kaum behaupten können. Selbst bei jenen, oft als Verfechtern von Gewaltherrschaft verrufenen Theoretikern und Praktikern des Machtstaats und Verfechtern der Staatsraison als oberster Maxime politischen Handelns wie Machiavelli, Botero, Richelieu oder Rohan geht es im Kern um die Schaffung und Stärkung staatlicher Macht, die im Inneren wie im Äußeren stark genug ist, die Selbsterhaltung der - wie auch immer im einzelnen formal oder zweckhaft bestimmten - politischen Körperschaft zu sichern. 6 Die politische Theorie und Praxis des 16. und 17. Jahrhunderts antwortet auf Probleme, die im Übergang von der sich auflösenden mittelalterlichen ökonomischen und sozialen, politischen, rechtlichen und religiösen Ordnung zu den Anforderungen der sich herausbildenden (früh-)kapitalistischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen und der dabei auftretenden Konflikte entstanden sind. Der moderne Staat stellt sich dabei als eine historisch neuartige Organisationsform politischer Regulierung dar, deren Entstehung sich in einem über mehrere Jahrhunderte hinziehenden, in den unterschiedlichen europäischen Ländern sehr verschiedene Erscheinungsformen annehmenden Prozeß vollzieht und zunächst in die Gestalt eines mehr oder weniger stark entfalteten Absolutismus mündet, dessen politisch-administrative Strukturen, Kompetenz- und Souveränitätsansprüche für moderne Staatlichkeit insgesamt grundlegend wurden. 7 Die im Fürsten vereinigte Zentralgewalt monopolisiert schrittweise die partikularen Herrschaftsrechte innerhalb eines besonderen Territoriums, so daß aus den vielfältigen feudalen Herrschaftsträgern und konkurrierenden gesellschaftlichen Mächten Untertanen der fürstlichen Gewalt werden, die ihre Rechte, Pflichten und Kompetenzen nunmehr von der Staatsgewalt erhalten. Der mittelalterliche 'Personenverbandsstaat' wird durch den neuzeitlichen institutionellen Territorialstaat abgelöst. 8 Nur durch eine im staatlichen Oberhaupt zentral gebündelte Form politischer und rechtlicher Herrschaft war den zahlreichen Konflikten und (Bürger-)Kriegen beizukommen, die das Bild des Zerfalls der europäischen Ordnung im Übergang vom Mittelalter zur Neu-
Zur 'Gleichursprünglichkeit' der Entstehung von moderner Staatlichkeit und des neuzeitlichen Staatensystems mitsamt der daraus resultierenden Folgeprobleme vgl. zur ersten Orientierung List u. a., Internationale Politik, S. 60 ff. Unter 'neuzeitlicher politischer Theorie' werden in diesem Zusammenhang generell die Traditionslinien verstanden, die - sei es auf der Grundlage des modernen oder des antik-christlichen Naturrechts, des republikanischen Prinzips oder desjenigen der Staatsraison - versuchen, Staat und Politik (neu) zu begreifen und zu legitimieren. Umfassend zu der - eben auch die Willkür der Machthaber durch ihre Verpflichtung auf die Interessen des staatlichen Ganzen verpflichtenden - neuzeitlichen Theorie der Staatsraison vgl. Münkler, Im Namen des Staates. Zum Übergang von der mittelalterlich-ständischen zur 'absolutistischen' politisch-sozialen Ordnung und zu den Ungleichzeitigkeiten, die dabei zwischen den europäischen Staaten bestanden, vgl. Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates; zur Genese des modernen Staats im frühneuzeitlich-absolutistischen Gewand vgl. Hoftnann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, Blänkner, 'Absolutismus' und 'frühmoderner Staat', Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt; zu der durch Henshalls Buch 'The Myth of Absolutism' neu belebten Diskussion um den Begriff des Absolutismus vgl. Asch/Duchhardt, Der Absolutismus - ein Mythos? Vgl. zur Terminologie Mayer, Die Entstehung des 'modernen' Staates, S. 211 f.
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zeit prägten: Der Staat emanzipiert sich von den gesellschaftlichen und religiösen Parteien und streift die Fesseln ab, die ihn an sie binden. Dadurch kann er als jene gesellschaftliche Instanz fungieren, die über allen Parteien steht, für sie gleichermaßen verbindliche Regeln erläßt und als einzige befugt ist, Urteile zu sprechen und durchzusetzen, um auf diese Weise gesellschaftlich eine Ordnung des Friedens und allgemeiner Verhaltensnormen zu stiften.9 Es ist dieser Prozeß der Herausbildung des modernen souveränen Staates, der den gemeinsamen Erfahrungshintergrund der Exponenten der neuzeitlichen politischen Theorie ausmacht. Diesen Staat in seinem rechtlichen Verhältnis zu den gesellschaftlichen Akteuren theoretisch und praktisch zu begründen und zu legitimieren, ist die Aufgabe, vor die sich jene Denker gestellt sahen. Der Niedergang und der Zerfall der im Mittelalter vorherrschenden Idee einer allgemeinverbindlichen Ordnung, die alle gesellschaftlichen Stände integriert und jedem das Seine, d. h. seinen besonderen Ort, sein spezifisches Recht und seine Pflichten zuschreibt, wird in den zahlreichen, zumeist die Form von Religionskriegen annehmenden Bürgerkriegen, die den Staatenbildungsprozeß im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts begleiten und schließlich im Dreißigjährigen Krieg gesamteuropäische Dimensionen annehmen, zum Ausgangspunkt einer neuen theoretischen Begründung gesellschaftlicher Friedens- und Rechtsstiftung durch den souveränen Staat. Nur in dem Falle, so heißt es nun, wenn sich der Staat als diejenige Instanz begründet und bewährt, die dem gesellschaftlichen Handlungszusammenhang verbindliche, weltanschaulich neutrale, die gewaltsame Konfliktaustragung ausschließende Regeln vorzugeben und durchzusetzen vermag, ist der Permanenz des Bürgerkriegs, d. h. des gesellschaftlichen Natur- und Kriegszustandes, ein Ende zu bereiten. Dies verdeutlicht ein kurzer Blick auf einige der wesentlichen Positionen, die hierzu im 16. und 17. Jahrhundert mit außerordentlicher praktischer Wirksamkeit entwickelt worden sind. Bei Machiavelli wird das neue, in der 'Raison' des Staates gründende Politikverständnis erstmals und für die weitere Entwicklung folgenreich entfaltet, wenngleich in einer im wesentlichen auf die Technik der Bildung, Stabilisierung und Erhaltung staatlicher Herrschaft konzentrierten Gestalt. Der Staat wird bei ihm zu einer Einrichtung erklärt, die jenseits aller transzendenten Begründung oder Bindung ihren Grund und ihren Zweck in sich selbst findet, zu deren Erhaltung alle Mittel gerechtfertigt seien, - ohne daß dadurch die de facto bestehende funktionale, nunmehr freilich rein innerweltliche Zweckbestimmtheit des Staates geleugnet würde.10 Jean Bodin hat 1576 die zentrale Funktion des modernen Staates im Verhältnis zu der von ihm regulierten Gesellschaft auf ihren Begriff gebracht, und zwar auf den Begriff der Souveränität, die in „la puissance absolue & perpetuelle d'vne Republique" bestehe.11 Entscheidend ist dabei, daß sich, wie Bodin in theoretischer Zuspitzung der Posi-
Vgl. Schulze, Staat und Nation, S. 27 f.; Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 100 ff.; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. - Münkler (Im Namen des Staates, S. 279) weist darauf hin, daß die allein die staatliche Macht in den Blick nehmende Politik trotz ihrer vermeintlichen Willkürlichkeit das Moment der Allgemeinheit zur Geltung bringt: „Staatsraison-Lehre und Interessenanalytik operierten an zwei Fronten - sie wandten sich gegen das Privatinteresse der Regierenden, verlangten dessen Unterordnung unters Staatsinteresse, und sie verwahrten sich dagegen, daß das Staatsinteresse mit einem am unmittelbaren Nutzen der Bürger orientierten Allgemeininteresse verwechselt werde." Zu dieser Bestimmung von Staatlichkeit und ihrem Verhältnis zu Machiavellis Republikanismus vgl. Pocock, The Machiavellian Moment, und Münkler, Machiavelli. Bodin, Six livres de la République, 1.8, p. 122. Vgl. ausführlich Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 243 ff.
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tionen der Politiques als der dritten, sich jenseits von katholischem Königtum und hugenottischer Opposition verortenden Partei um Michel l'Hospital 12 schreibt, der Staat über eine Gesetzgebungskompetenz definiert, die unabhängig von allen Ständen, weltlichen und religiösen Korporationen bleibt, deren Willen gegenüber dem allgemeinen und absoluten des Staates zu partikularen werden.13 Alle besonderen (Regierungs-)Rechte sind Ausfluß der einen und unteilbaren Souveränität des Staates, die selbst nicht wieder gesetzlich beschränkt sein kann: „souueraineté [...] absoluë, infinie, & par dessus les loix, les Magistrats & les particuliers".14 Angesichts religiöser, politischer und sozialer Differenzen und Interessen, die nicht mehr durch eine allgemein geteilte transzendente, natürlich oder religiös begründete Ordnung zur Deckung gebracht werden, wird Frieden zum Produkt des alle politische Gesetzgebungs- und Entscheidungsbefugnis und die Mittel legitimer Gewaltausübung monopolisierenden souveränen Staates.15 Ihren entfaltetsten Ausdruck erhält die neuzeitliche, gesellschaftlichen Frieden und Recht im Begriff des souveränen Staates begründende Theorie in der politischen Philosophie des Thomas Hobbes. Entstanden vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkrieges, bricht sie radikal mit den überkommenen Traditionen der Begründung politischer Herrschaft und baut sie neu auf dem Fundament einer natur- und vernunftrechtlichen Analyse der Grundlagen, Voraussetzungen und institutionellen Bedingungen gesellschaftlichen Friedens.16 Vermittels der juridischen Konstruktion eines Naturzustandes, in dem sich die freien und gleichen Individuen ohne jede positiv-rechtliche Ordnung aufeinander beziehen, versucht Hobbes den Nachweis der unbedingten Notwendigkeit der Einrichtung allgemeiner, alle Einzelnen übergreifender rechtlicher Strukturen und der institutionellen Sicherung ihrer Durchsetzung und Unangreifbarkeit durch die Monopolisierung aller Gewaltmittel beim Souverän zu führen. Die hypothetische Annahme eines natürlichen Zustands zwischen Individuen17 zeigt dabei,
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Vgl. knapp zum Hintergrund des französischen Bürgerkriegs im 16. Jahrhundert Schräder, Formierung der bürgerlichen Gesellschaft, S. 17 ff., sowie Sellin, Politik, S. 811 ff., der hier „die Einbruchsstelle der neuen Auffassungsweise des Politischen in das überlieferte Verständnis" des aristotelischen Politikbegriffs vermutet (ebd., S. 811); zu den 'Politiques' vgl. Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 102 ff.
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Vgl. Bodin, Six livres de la République, 1.10, p. 221: „la première marque du Prince souuerain, c'est la puissance de donner loy à tous en général, & à chacun en particulier: mais ce n'est pas assez, car il faut adiouster, sans le consentement de plus grand, ni de pareil, ni de moindre que soy". Ebd., m.5, p. 431. Prägnant hat Quaritsch (Souveränität, S. 59) diese Transformation des Konfliktaustrags bestimmt: „politisch interne Konflikte werden in externe gesellschaftliche Probleme verwandelt, in die Umwelt des Staatsapparates verlagert und auf diese Weise lösbar gemacht. Die Stände werden gesellschaftliche Interessengruppen; dadurch ist es ihnen versagt, weiterhin ihre Meinungen, Interessen und Ziele als verbindliche Bestandteile des staatlichen Handlungsprogramms verfolgen und gegenüber dem Fürsten rechtsansprüchlich geltend machen zu können." Während für Hobbes der Bürgerkrieg unzweifelhaft den realhistorischen Erfahrungshintergrund seiner Rechts- und Staatsphilosophie bildet, wie ihn beispielsweise Münkler, Thomas Hobbes, zum Ausgangspunkt seiner Darstellung des Hobbesschen Denkens nimmt, ist aus dieser Perspektive heraus der rechtslogische Argumentationskern der Theorie des Naturzustands, der natürlichen Gesetze und der Begründung des Staates nicht zu erkennen und zu erklären; vgl. hierzu Geismann/Herb, Einleitung und Scholien in: 'Hobbes über die Freiheit' sowie Hüning, Freiheit und Herrschaft. Abstrahiert wird bei Hobbes also nicht nur von der traditionellen Annahme, es gebe aus der natürlichen oder göttlichen Ordnung des Universums herleitbare, unmittelbar verpflichtende und gültige Gesetze, indem er methodisch so tut, als ob „die Menschen - gleichsam wie Pilze - plötzlich aus der Erde hervorgewachsen und er-
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daß die Subjekte sich ohne eine übergreifende Instanz der allgemeinverbindlichen Bestimmung des Rechts und Unrechts konkreter äußerer Handlungen und der objektiven Unterscheidung zwischen Mein und Dein in einem Zustand befinden, in dem der Krieg aller gegen alle herrscht. Jeder ist Herr und einziger Richter in eigener Sache, jeder hat ein Recht auf alles, was ihm zu seiner Selbsterhaltung notwendig scheint, so daß Konflikte und präventive Gewaltakte der ihre Selbsterhaltung verfolgenden Individuen nicht nur wahrscheinlich, sondern strukturell unaufhebbar sind.18 Die vernunftrechtlichen Bedingungen des Friedens - die natürlichen Gesetze - können sie in diesem Zustand zwar erkennen und moralisch - in foro interno, wie Hobbes in Abgrenzung vom foro externo als der Sphäre des äußeren Handelns schreibt - anerkennen: Verbindlich, konkret und vor allem objektiv und für alle Subjekte gleichermaßen verpflichtend bestimmbar werden sie jedoch erst, wenn sie in eine mit unwiderstehlicher Zwangsgewalt ausgestattete positive Rechtsordnung überführt werden, die somit als Resultat der die objektiven Bedingungen der Realisierung ihrer Freiheit konstituierenden Subjekte gelten kann und muß.19 Erst durch die Begründung eines mit absoluter Macht ausgestatteten souveränen Staates, welche „to the end [erfolgt], to live peaceably amongst themselves, and be protected against other men",20 sind für Hobbes der omnipräsente Kriegszustand und die jederzeit gegenwärtige Gefahr des Umschlags sozialer, religiöser oder politischer Konflikte in offene Gewalt und die Herrschaft des Rechts des Stärkeren zu bannen. Diese wenigen Bemerkungen zu zentralen Begriffen und Konzeptionen neuzeitlicher politischer Theorie bei Machiavelli, Bodin und Hobbes zeigen bereits in aller Deutlichkeit, daß die Konstituierung von modernem Staat, Recht und Frieden die Basis der theoretischen und praktischen Bemühungen neuzeitlicher Politik darstellt. Ebenso deutlich freilich machen sie, daß es in ihnen noch nicht darum ging, einen - wie es dann bei Kant heißt - „ewigen Frieden" zwischen den Staaten zu installieren und zu garantieren. Ihr Ziel war es vielmehr, einen - wie es terminologisch 1495 für das Alte Reich fixiert wurde, der Sache nach aber auf der Agenda aller europäischer Gesellschaften stand - „Ewigen Landfrieden" zu schaffen, d. h. eine rechtlich gesicherte Ordnung innerhalb der verschiedenen, sich gegeneinander abschließenden territorialen Herrschaften zu begründen. Die Gestalt, in der diese neue politische Organisationsform gesellschaftlichen Lebens sich nunmehr vollzog, führte dabei histo-
wachsen wären, ohne daß einer dem anderen verpflichtet wäre" (Hobbes, De cive, Vin.l, S. 161). Er abstrahiert insbesondere von der Existenz des Staates als jener gesellschaftlichen Instanz, der die Setzung und Durchsetzung einer für alle Einzelnen gleichermaßen verbindlichen Rechtsordnung obliegt, denn es „muß bei der Ermittelung des Rechtes des Staates und der Pflichten der Bürger der Staat zwar nicht aufgelöst, aber doch gleichsam als aufgelöst betrachtet werden" (ebd., [Vorwort], S. 67). Vgl. Hobbes, De cive, 1.7 ff. zur Deduktion der im Naturzustand herrschenden, zum Kriegszustand führenden Handlungslogik, die in die Behauptung mündet, daß „dieser Krieg seiner eigenen Natur nach ewig [ist], da er bei der Gleichheit der Streitenden durch keinen Sieg beendet werden kann". Der Ausgang aus dem Naturzustand wird somit eine Vernunftpflicht, denn wer „meint, daß man am besten in dem Zustande geblieben wäre, wo allen alles erlaubt war, der widerspricht sich selbst" (ebd., 1.13, S. 84). Denn im Naturzustand verpflichten „die natürlichen Gesetze immer und überall innerlich und vor dem Gewissen" (Hobbes, De cive, 111.27, S. 111), aber eben nur zu dem Willen, daß sie allgemein gelten mögen: „The Lawes of Nature oblige in foro interno; that is to say, they bind to a desire they should take place: but in foro externo-, that is, to the putting them in act, not alwayes" (Hobbes, Leviathan, XV.36, p. 215); zu Hobbes' Theorie der natürlichen Gesetze vgl. Hüning, Freiheit und Herrschaft, S. 94 ff. Hobbes, Leviathan, XVffl.1, p. 229.
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D i e neuzeitliche Staatenwelt als Problem politischer Theorie
risch wie auch systematisch zu einem radikalen Bruch mit den bis dahin als gültig betrachteten Vorstellungen hinsichtlich der Grundlagen und Strukturen der Organisation der individuellen, gesellschaftlichen wie auch der internationalen Verhältnisse: Die Begriffe von Krieg und Frieden gewinnen in einer von souveränen Staaten geprägten Welt eine prinzipiell neue Bedeutung, einen neuen gesellschaftlichen Gehalt, bezeichnen sie doch Verhältnisse, Voraussetzungen und Dynamiken, die als solche in der antik-mittelalterlichen Welt unbekannt waren. Gebrochen wird nunmehr mit der stoisch-christlichen Vorstellung einer universalen, alle Menschen und Gesellschaften übergreifenden Ordnung, aus der heraus alle besonderen Herrschaften ihre Legitimation und Schranken erhalten.21 Der souveränen Herrschaftsgewalt der staatlichen Körperschaft im Inneren korrespondiert im Verhältnis zu anderen politischen Körperschaften nach außen die absolute, rechtlich nicht beschränkte Freiheit der Bestimmung dessen, was Recht und Unrecht ist. Souveränität im Außenverhältnis und Souveränität im Binnenverhältnis sind zwei Seiten derselben Sache: der Durchsetzung rechtlich unbeschränkter, ein spezifisches Territorium umfassender und den gesellschaftlichen Zusammenhang politisch-rechtlich gestaltender staatlicher Herrschaft.22 Morgenthau, einer der prominentesten Vertreter der 'realistischen' Schule in der Politikwissenschaft, hat diese Bedeutung moderner Souveränität klar formuliert: „Sovereignty is the supreme legal authority of the nation to give and enforce the law within a certain territory and, in consequence, independence from the authority of any other nation and equality under international law." 23
Das die souveränen Staaten überformende 'international law' bezeichnet jedoch keineswegs eine hierarchische Struktur, die sie in ihrer Freiheit rechtlich beschneiden könnte und ihnen prinzipiell übergeordnet wäre. Denn folgerichtig führt Morgenthau in der Tradition von Bodin und Hobbes zu der ¿niernationalen Dimension des Begriffs staatlicher Souveränität aus: „Being sovereign, nations cannot be subject to a lawgiving or law-enforcing power operating directly on their territory. International law is a law among co-ordinated, not sub-ordinated entities. Nations are sub-ordinated to international law, but not to each other; that is to say, they are equal." 2 4
Der Prozeß der historischen Herausbildung des modernen souveränen Staates ist mithin zugleich auch der Prozeß der historischen Herausbildung der Welt von souveränen Staaten, da „sich die gradualistisch vom Kaisertum her organisierte Welt mittelalterlicher Herrschaften 21 22
2i 24
Vgl. Janssen, Frieden, S. 232 f.; Bellers, Die Ordnung der Welt, S. 23 ff. Plastisch spricht Stolleis (Staat und Staatsraison, S. 13) in diesem Zusammenhang von einer „machtpolitische[n] Abrundung des Fürstenstaats nach außen [...]. Er bildete sozusagen eine 'Außenhaut', festigte seine Grenzen militärisch und wirtschaftlich, vor allem aber bildete er eine Identität aus, die ihn befähigte, eigene Interessen und Rechtspositionen zu formulieren.sowie Ansprüche konkurrierender Staaten abzuweisen". Morgenthau, Politics among Nations, p. 312. Ebd., p. 309. - Freilich hat Morgenthau damit dem international law eben jene Qualität zugesprochen, die in der neuzeitlichen Tradition politischer Theorie den Verzicht auf die 'natürliche Freiheit' (d. h. die 'Souveränität') der Individuen rechtfertigen soll: indem alle nur dem allgemeinen Gesetz unterworfen, nicht aber mehr der Willkür eines anderen, sind sie freie und gleiche Subjekte - freilich nicht mehr souverän, sondern der Gesetzgebung des Gemeinwesens und somit den Entscheidungen der zu ihrer Durchführung bestimmten Einrichtungen unterworfen. Dies jedoch ist genau das, was Morgenthau auf internationaler Ebene bestreitet: „sovereignty is incompatible [...] with a strong and effective, because centralized, system of international law" (ebd., p. 307).
Staat und internationale B e z i e h u n g e n in der politischen P h i l o s o p h i e der N e u z e i t
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in die Pluralität des neuzeitlichen Staateneuropa" wandelte.25 Einander als freie und gleiche gegenübertretend, anerkennen sie weder im Inneren noch im Äußeren Instanzen, die ihnen im Hinblick auf die Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Rechte und Willensbestimmung Schranken auferlegen könnten. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges als des letzten großen, weite Teile Europas in seinen Strudel reißenden Religionskrieges markierte eine wesentliche Etappe des Bildungsprozesses des souveränen Staates und des durch ihn begründeten wie auch geprägten internationalen Systems: In den 1648 im Westfälischen Frieden geschlossenen Verträgen wird dieser Prozeß theoretisch und praktisch zum Abschluß gebracht und „die neuzeitliche Staatengesellschaft Europas [konstituiert], indem sie von der Gleichheit der Vertragspartner ausgehen" und somit vertragsrechtlich kodifizieren, „daß die neuzeitliche Staatengesellschaft keine Spitze und kein Oberhaupt mehr haben sollte. [...] Völkerrechtlich gesehen war der Westfälische Friede ein Gleichordnungs-Vertrag."26 Das Resultat dieses auf rechtlicher Freiheit und Gleichheit der Staaten aufbauenden Systems der europäischen Staaten war hingegen weniger befriedend, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. „Der W e s t f ä l i s c h e Frieden formalisierte i m Jahre 1648 ein Staatensystem, das sich einer umfassenden Anarchie annäherte. D i e Außenpolitik der europäischen M ä c h t e war durch e i n e w e i t g e h e n d e Handlungsfreiheit gekennzeichnet, n a c h d e m sich das mittelalterliche K o n z e p t der res publica
Christiana
aufgelöst hatte." 27
Wiederum ist es Hobbes, der die bis heute in ihrer fundamentalen Logik unverändert wirksamen Konsequenzen der Ausbildung der modernen Staatlichkeit paradigmatisch entwickelt und theoretisch ausbuchstabiert hat.28 Im Gegensatz zu der bei Hobbes zu Ende gedachten Logik des Verhältnisses souveräner Staaten zueinander, wurde in den Anfängen der neuzeitlichen Bemühungen im Natur- und Völkerrecht noch versucht, die sich aus der universalen Ordnung emanzipierende Staatenwelt in einen rechtlichen Zusammenhang zu bringen und die zerbrechende Rechtsgemeinschaft so zu retten. Dabei wurde auf „die Idee einer natürlichen, d. h. durch das natürliche Recht konstituierten Gemeinschaft aller Menschen" zurückgegriffen, um doch noch eine übergreifende normative Einheit gewährleisten zu können, aus welcher die rechtlichen Beziehungen zwischen den Staaten, das Kriegsrecht, die Unterscheidung zwischen 'gerechten' und 'ungerechten' Kriegen etc. ableitbar sein sollten.29 Anders als die sogenannten 'Väter' des neuzeitlichen Völkerrechts Vitoria, Suarez oder Grotius führt nach Hobbes die Idee eines vom Naturrecht unterschiedenen Völkerrechts oder von
Schilling, Der Westfälische Frieden, S. 11. Ebd., S. 25. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, S. 43 f.; historisch zur Ausbildung dieses europäischen Staatensystems Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, S. 84 ff., 127 ff. Diese Kontinuität ist für die fortwirkende Bedeutung der im 17. und 18. Jahrhundert geführten Diskussionen verantwortlich: „Mit Beginn der Neuzeit, der Herausbildung des modernen Kapitalismus und des bürgerlichen Nationalstaates, werden die Prinzipien des äußeren Politik dieser Gesellschaft formuliert. Hernach wird zu denen wenig grundsätzlich Neues vorgetragen" (Albrecht, Internationale Politik, S. 39). Vgl. zu dieser Frage auch Abendroth/Czempiel, International Relations, v. a. S. 20 ff. Hüning, „Inter arma silent leges", S. 130; vgl. auch die ebd., Anm. 4, aufgeführten Belege und Hinweise auf die Literatur.
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D i e n e u z e i t l i c h e S t a a t e n w e l t als P r o b l e m p o l i t i s c h e r T h e o r i e
der Existenz einer verpflichtenden Ordnung jenseits und über den Staaten in die Irre.30 Die Aufhebung des Naturzustands zwischen Individuen durch die Schaffung einer souveränen Zwangsgewalt führt gerade dazu, daß die Sphäre der zwischenstaatlichen Beziehungen als jene ausgezeichnet wird, in der der Naturzustand und die in ihm wirkende Logik nunmehr allein noch herrscht, insofern mit der Heraufkunft der modernen Staaten das internationale System gleichsam zum „Kriegssystem" wird.31 Nicht nur historisch-empirisch gilt, daß der Naturzustand, der auch nach Hobbes zwischen den Individuen vielleicht niemals bestanden hat, in den internationalen Beziehungen exemplarisch zu beobachten sei: „in all t i m e s , K i n g s , and P e r s o n s o f S o u v e r a i g n e authority, b e c a u s e o f their I n d e p e n d e n c y , are in c o n t i n u a l l j e a l o u s i e s , and in the State and posture o f Gladiators; h a v i n g their w e a p o n s p o i n t i n g , and their e y e s f i x e d o n o n e another; that is, their Forts, Garrisons, and G u n s u p o n the Frontiers o f their K i n g d o m e s ; a n d c o n t i n u a l l S p y e s u p o n their n e i g h b o u r s ; w h i c h is a posture o f War."3?
Der Kriegszustand zwischen souveränen Staatspersonen ist gerade das Resultat der Herstellung des gesellschaftlichen Friedenszustands. Der Krieg, der zuvor zwischen Individuen bestand, ist nun ein Begriff, der nur noch für die internationale Sphäre Geltung besitzt.33 Während mit dem Staat der Naturzustand zwischen den Individuen beseitigt und die natürlichen Gesetze durch eine positive Rechtsordnung aufgehoben werden, besteht nunmehr zwischen den Souveränen keine allgemeine, ihr Handeln rechtlich bindende und sanktionierende Instanz. Zwischen ihnen wird der Naturzustand also nicht geschaffen, sondern hier dauert der stets schon bestehende fort und wird lediglich nicht aufgehoben. Er besteht somit auf einer neuen Ebene, mit neuen Akteuren, doch unter Beibehaltung seiner Strukturprinzipien: Als freie und gleiche (Staats-)Personen sind die Staaten Richter in eigener Sache, ist die Frage der Einhaltung von Verträgen und Abmachungen etwas, was stets unter Abwägung des Selbsterhaltungsgebots neu entschieden werden muß.34 Sowenig wie zuvor zwischen Individuen von Natur aus eine das äußere Handeln verbindlich regelnde Beziehung bestehen konnte, sowenig gibt es nach Hobbes für Staaten Verpflichtungen jenseits der natürlichen, in ihrer Selbsterhaltung zentrierten und in der Anwendung ihrer je subjektiven Urteilskompetenz unterstellten Gesetze:
Vgl. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 2 2 2 ff. (zum spätscholastischen und grotianischen Naturrecht) sowie S. 4 0 8 ff. (zu Hobbes' Bruch mit dieser Tradition); zur Diskussion dieser Problematik im 18. Jahrhundert vgl. unten, S. 255 ff. Vgl. Albrecht, Hobbes,
Internationale Politik, S. 123 ff.
Leviathan, Xffl. 12, pp. 187 f.
Hobbes macht damit, so Meyers
(Krieg und Frieden, S. 222), gedanklich den „Weg frei, den Krieg auf das
Binnenverhältnis der Souveräne, den internationalen Naturzustand, zu beschränken und ihn als rechtlich geregelte Form bewaffneter Konfliktaustragung zwischen Staaten zu begreifen". Vgl. Hobbes,
De cive, XIH.7 f., S. 207 f., w o explizit auf die Verpflichtung des Staates hingewiesen wird, wie
die Individuen im Naturzustand gegebenenfalls präventiv zu Gewaltmaßnahmen zu greifen, um der vom Souverän eingegangenen Verpflichtung zur Erhaltung des „body politick" gerecht zu werden; vgl. ausführlich zu Hobbes' Völkerrecht Hüning, „Inter arma silent leges"; Schröder,
'Völkerrecht' und 'Souveränität'.
Staat und internationale Beziehungen in der politischen Philosophie der Neuzeit
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„the Law of Nations, and the Law of Nature, is the same thing. And every Souveraign hath the same Right, in procuring the safety of his People, that any particular man can have, in procuring the safety of his own Body." 35
Damit hat Hobbes die theoretischen Konsequenzen aus dem Bildungsprozeß des modernen souveränen Staates auf den Begriff gebracht. In der ihm eigenen Klarheit und Radikalität hat er damit aber zugleich nur deutlich ausgesprochen, was in der Konsequenz der theoretischen und praktischen Entwicklungen des 16. und 17. Jahrhunderts insgesamt lag. Die Begründung und Rechtfertigung des gesellschaftlichen Frieden und Rechtsverhältnisse schaffenden souveränen Staates einerseits, die Erzeugung einer Welt von souveränen Staaten, in der der Naturzustand mit der ihm eigentümlichen Dynamik bestehen bleibt, andererseits: damit sind Aufgabenstellung, Ziel und Schranken der politischen Theorie der Neuzeit insgesamt umrissen. Frieden und Recht nicht nur innerhalb, sondern auf vergleichbare Weise auch zwischen den Staaten dauerhaft und auf sicherer Basis zu begründen, lag hingegen außerhalb des Interessenhorizonts, den sich die politische Theorie dieser Zeit - und zumeist auch die der folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte - gespannt hatte. Die Versuche, die vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert unternommen wurden, das zwischen den nunmehr zunehmend als souverän verstandenen Staaten herrschende Völkerrecht neu zu begründen, sind nämlich auf einer prinzipiell anderen Ebene angesiedelt, insofern es ihnen gerade nicht um die Aufhebung des Naturzustands und die institutionell gesicherte Verrechtlichung der Beziehungen geht, sondern um Versuche der Beschränkung und Einhegung der Erscheinungsformen und Folgen des internationalen Naturzustands. Dies zeigt ein kurzer Blick auf Grotius, der mit seinem 1625 publizierten Buch De Jure Belli ac Pacis lange Zeit als 'Vater' des modernen Völkerrechts angesehen worden ist. 36 Auf der einen Seite nämlich versucht Grotius, auch nach der faktischen Auflösung des christlichen Universalismus mit Kaiser und Reich als den höchsten Instanzen, die Idee einer übergreifenden Gemeinschaft aller Menschen und Völker dadurch zu retten, daß er von einem universalen, auf dem Trieb zu Geselligkeit und geordneter Gemeinschaft basierenden Naturrecht ausgeht, welches vernunftgemäß erkannt werden könne und allen positiven Ordnungen zugrunde liege bzw. ihnen übergeordnet sei. 37 Insofern ist nach Grotius das natürliche Recht eine Forderung der vernünftigen und geselligen Natur selbst, und zwar eine Forderung, der auch die souveränen Staatsgewalten unterstehen sollen. 38 Auf der anderen Seite jedoch etabliert er mit dem ius gentium volontarium ein vom Naturrecht unterschiedenes Recht, das nicht auf der universalen, von faktischer Beistimmung und Beschluß unabhängigen Vernunft gründet, sondern „durch den Willen aller oder vieler Völker seine verbindliche Kraft erhalten hat" und somit nicht von Natur, sondern auf menschlicher Satzung beruht und Hobbes, Leviathan, XXX.30, p. 394. Ein Titel, den sich Grotius zum einen mit den spanischen Moraltheologen Vitoria und Suarez teilen muß, der zum anderen aufgrund der traditionellen Elemente seines Denkens auch sachlich problematisch ist; vgl. Grewe, Grotius - Vater des Völkerrechts?; Hüning, 'Nonne puniendi potestas reipublicae propria est'; kritisch hierzu Ziegler, Die Bedeutung von Hugo Grotius, v. a. S. 358 ff. Vgl. Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges, S. 32 f. (Vorr., §§ 6-11), S. 47 f. u. 50 f. (1.1, §§ 3 u. 10). Zur Geschichte dieser Idee Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 173 ff.; Grawert, Francisco de Vitoria, v. a. S. 116 ff. Denn es handele sich um ein „Naturrecht [...], welches für die Staatshoheit gilt" (Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges, S. 172 [H.4, § 13]).
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D i e neuzeitliche Staatenwelt als Problem politischer Theorie
die historisch entstandenen Übereinkünfte, Sitten und Bräuche zwischen den Völkern und Staaten umfaßt.39 Mit dieser doppelten Bestimmung des Natur- und Völkerrechts läßt sich bei Grotius wie bei vergleichbar argumentierenden politischen Theoretikern von Vitoria über Pufendorf bis zu Wolff - eine zweifache Problematik des neuzeitlichen Völkerrechtsdenkens aufzeigen. Einerseits tritt das hier entstehende 'klassische' Völkerrecht mit dem Anspruch auf, die Beziehungen und den Verkehr zwischen den Staaten auf eine neue, vernünftig und vertraglich gesicherte und systematisierte Rechtsgrundlage zu stellen. Es liegt demgegenüber jedoch nicht in seiner Absicht, Gewalt und Krieg als Mittel dieses 'Verkehrs' generell auszuschließen. Das Völkerrecht reguliert und beschränkt vermittels des Kriegsrechts das Recht zum und im Krieg, es beansprucht nicht, dieses Recht zu untergraben oder gar förmlich aufzuheben. Insofern geht es Grotius zwar darum, „eine entartete Kriegsführung" zu ächten und zu verhindern, und er will durchaus auch vermeiden, daß man „aus unbedeutenden oder gar keinen Gründen zu den Waffen" greift.40 Dies hindert jedoch nicht, daß er zur gleichen Zeit um die positive Bestimmung bemüht ist, welches die Gründe für das Führen 'gerechter Kriege' sind, was im Krieg erlaubt ist und was das Kriegsrecht verbietet, welches die Wege und Instrumente zur Beendigung von Streitigkeiten zwischen Staaten sind. Gewalt und Krieg sind also für Grotius weiterhin konstitutiver Teil des internationalen Systems und seines (Rechts-)Verständnisses, und sie werden als solche durch das neuzeitliche Völkerrecht nicht problematisiert, sondern nur in ihrer 'Rechtlichkeit' charakterisiert.41 Andererseits bleibt der Rechtscharakter des zwischen den souveränen Staaten behaupteten Völkerrechts im Unterschied zu dem positiven Recht im Inneren prekär. Die vermeintliche Universalität des rational begründeten Naturrechts jenseits des historisch und regional kontingenten Völkerrechts ist schließlich an die Voraussetzung geknüpft, daß es „als Schranke der Souveränität anerkannt blieb und so die Fähigkeit behielt, die im Zustande der natürlichen Freiheit lebenden Staaten zu binden und zu verbinden".42 Die Gültigkeit dieser entscheidenden Prämisse jedoch schwand mit der Entfaltung des modernen Staates: Je stärker die einzelnen Staaten ihre innere und äußere Souveränität zu festigen wußten, desto deutlicher wurde, daß bei ihnen allein die Entscheidungskompetenz darüber lag, ob und in welcher Weise sie den Verpflichtungen nachkommen, die sich für sie aus den sie übergreifenden 'Rechtsprinzipien' ergeben, seien diese nun naturrechtlich begründet oder Resultat von völkerrechtlichen Willensäußerungen, Abmachungen oder Gewohnheitsrechten. Denn selbst wenn man, wie es bei Grotius oder nach ihm etwa bei Locke der Fall ist, davon ausgeht, daß die im Natur-
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Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges, S. 53 (1.1, § 14, Nr. 1); vgl. ebd., S. 34 (Vorr., § 17); vgl. zu diesen Bestimmungen unten, S. 257 ff. Ebd., S. 37 (Vorr., § 28). Vgl. bspw. Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges, S. 58 ff. (1.2, §§ 1 ff.). - Kimminich (Völkerrecht und friedliche Streitschlichtung, S. 151) weist also völlig zurecht daraufhin, „daß das klassische Völkerrecht nicht auf Kriegsverhütung angelegt war. Wer heute dem Völkerrecht vorwirft, es habe bei der Unterdrückung des Krieges völlig versagt, sollte bedenken, daß das Völkerrecht in den ersten drei Jahrhunderten seines Bestehens gar nicht den Versuch unternahm, den Krieg als Mittel der internationalen Politik zu ächten. Erst im 20. Jahrhundert kam die Wende, die zugleich den Abschluß der Epoche des klassischen Völkerrechts bedeutete". Ausführlich zur Entwicklung des neuzeitlichen Völkerrechts vgl. Reibstein, Völkerrecht, Bd. I, Kap. HI u. IV, sowie Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Zweiter und Dritter Teil. Gierke, Althusius, S. 361.
Staat und internationale Beziehungen in der politischen Philosophie der Neuzeit
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zustand bestehende Ordnung den Akteuren verbindliche Gesetze auferlegt, so mögen daraus zwar für die einzelnen (Staats-)Personen bindende 'moralische Verpflichtungen' folgen, doch es ergibt sich aus ihnen keine Eindeutigkeit und keine wechselseitige Verbindlichkeit im äußeren Handeln. Wenn die Rechtssetzung und -bestimmung im Hinblick auf die internationale Sphäre in die Kompetenz der einzelnen souveränen Akteure fällt, bedeutet dies nichts weniger als die Negation allgemein verbindlicher Rechtsverhältnisse zwischen Staaten überhaupt.43 Ob nun also der zwischen Staaten bestehende Zustand als ein solcher angesehen wird, der einer natürlichen Ordnung und Gesetzlichkeit unterliegt, ob er als einer gilt, der von positivrechtlichen internationalen Verträgen und völkerrechtlichen Abkommen und Bindungen geprägt ist, oder schließlich als einer, in dem die Staatsraison und (vermeintlich) kein weitergehender inhaltlicher Zweck gebietet: In jedem Fall stimmen die verschiedenen Vertreter der politischen Theorie der Neuzeit ungeachtet ihrer zahlreichen und tiefgreifenden Differenzen darin überein, daß der internationale Naturzustand als solcher nicht mehr zur Disposition gestellt werden kann. Im Gegensatz zur innergesellschaftlichen Ebene wird die Frage, wie der herrschende Naturzustand zwischen Staaten überwunden und die Objektivität des in ihm rein subjektiv bleibenden Rechts durch Schaffung allgemeiner Institutionen gesichert werden kann, gar nicht erst gestellt. Der souveräne Staat hebt den Naturzustand auf und garantiert im Inneren Frieden und Recht; daß er auf internationaler Ebene gleichzeitig einen Naturzustand schafft, dessen destruktive Folgen diejenigen des individuellen Naturzustandes bei weitem übertreffen können,44 tritt demgegenüber aus dem Blickfeld. Historisch steht das Problem einer internationalen Organisation und des internationalen Rechts im 16. und 17. Jahrhundert offenbar noch nicht auf der Tagesordnung.
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Es ist also nicht nur mit Blick auf die Lockeschen Bestimmungen der über Krieg und Frieden entscheidenden 'föderativen Gewalt', welche die Klugheit und Angemessenheit des Handelns ins Zentrum der Erhaltung des Staates gegen äußere Gefahren ins Zentrum stellt (vgl. Locke, Second Treatise of Government, §§ 146-148, S. 365 f.), sondern auch systematisch mehr als problematisch, hier sozusagen bereits eine kosmopolitische Dimension einer internationalen Rechtsgemeinschaft zu sehen. Dies scheint bei Goyard-Fabre der Fall zu sein, wenn sie erklärt, Locke schreibe der „gouvernement d'un État une compétence juridique internationale [zu] qui signifie que le devoir de justice [...] passe les frontières" (Réflexions sur le pouvoir fédératif, p. 135). In diesem Sinne lautet Rousseaus (Discours sur l'inégalité, p. 127) Kritik an dieser unvollständigen Aufhebung des Naturzustands; vgl. hierzu unten, S. 222 ff.
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Die neuzeitliche Staatenwelt als Problem politischer Theorie
1.3 Staat und internationale Beziehungen in der französischen Aufklärung. Zu den Problemen und Themen der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung versucht aufzuzeigen, wie vom Beginn des 18. Jahrhunderts an versucht wird, der dargestellten Einseitigkeit des theoretischen Interesses der politischen Philosophie der Neuzeit entgegenzuwirken. Mit dem einsetzenden Zeitalter der Aufklärung wird von einigen Theoretikern der Versuch unternommen, sich der bis dahin in dieser Form noch nicht gestellten Frage nach Voraussetzungen, Möglichkeiten und Prinzipien einer Änderung der internationalen Beziehungen in Richtung auf eine dauerhafte Rechts- und Friedensordnung zu nähern. Allzu deutlich wird nun die Crux jenes 'Friedensprojekts Nationalstaat' empfunden, welcher zwar in der Lage ist, die religiösen Konflikte und die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu pazifizieren und in rechtliche Bahnen zu lenken, dessen Kehrseite jedoch in der Permanenz von Unsicherheit, Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten besteht. Diese 'Folgewirkungen' souveräner Staatlichkeit sind dabei kein ihr 'äußerlich' bleibendes Problem. Denn wenn es auch richtig ist, daß die Voraussetzung dafür, den Frieden als Problem der zwischenstaatlichen Verhältnisse anzusehen, darin besteht, „daß der Bürgerkrieg aus dem Erfahrungshorizont gewichen und der 'ewige Friede' im Staate als öffentliche Ruhe und Sicherheit bereits Realität geworden war"1: Im 18. Jahrhundert wächst das Bewußtsein dafür, daß aufgrund der neuen internationalen Konstellation Frieden und Recht in zumindest zweifacher Hinsicht weiterhin gefährdet sind. Einerseits nämlich hat die Eliminierung des Bürgerkriegs durch die Schaffung von souveränen Staaten zu einer Dynamik zwischenstaatlicher Kriege geführt, die auf die ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen innerhalb der Staaten negativ zurückwirken. Andererseits führt bereits die Ausrichtung auf einen starken, im internationalen Naturzustand machtvoll und gegebenenfalls aggressiv auftretenden Staat innergesellschaftlich zu Strukturen, Interessen und Organisationsprinzipien, die den Ansprüchen, die von Seiten der Gesellschaft an die politisch-administrativen Strukturen gestellt werden, widerstreiten. Es ist wenig überraschend, daß diese Probleme und Zusammenhänge zuerst, am intensivsten und am folgenreichsten bei prominenten Vertretern der beginnenden bzw. der Blütezeit der französischen Aufklärung, beim Abbé de Saint-Pierre und bei Jean-Jacques Rousseau, analysiert und konzeptionell aufzulösen versucht worden sind. Historisch ist schließlich das Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts jenes Land gewesen, das am reinsten und für viele europäische Staaten gleichsam vorbildhaft Idee und Wirklichkeit moderner Staatlichkeit entwickelt und umgesetzt hat. Das Selbstverständnis des absolutistischen Systems Ludwigs XIV. - daß sich in seiner Person der Wille des Staates verkörpere - , ist hierbei ebenso zu nennen wie der Versuch, von der staatlichen Mitte aus die Gesellschaft durch ein einheit-
Janssen, Frieden, S. 248.
Staat und internationale Beziehungen in der französischen Aufklärung
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liches System politisch-administrativer Strukturen, Einrichtungen und Akteure zu organisieren und zu regieren.2 Zugleich sind die positiven und die negativen Konsequenzen, die mit dem Aufstieg zu einer sich nach innen und außen als absolut souverän definierenden Staatsmacht verbunden sind, kaum irgendwo so spürbar gewesen wie im Frankreich eines Richelieu oder Ludwigs XIV. Denn der Ausbau der Zentralmacht ging mit einem militärischen Expansionsund Hegemoniestreben im entstehenden internationalen System Europas einher, durch das die ökonomische, politische und soziale Entwicklungsdynamik der französischen Gesellschaft wiederum blockiert zu werden drohte. Spätestens mit dem Übergang zum 18. Jahrhundert und den katastrophalen Auswirkungen des sich über mehr als ein Jahrzehnt hinziehenden Spanischen Erbfolgekriegs wurde das Nachdenken über die Struktur der europäischen Staatenwelt und ihre mögliche Pazifizierung zum Gegenstand breiter politischer, diplomatischer und philosophischer Diskussionen. Die Vertreter der Aufklärungsbewegung gingen demzufolge mit ihrer Kritik an den bestehenden Verhältnissen in und zwischen den Staaten von einer Situation aus, die sich in spezifischer Weise von der Problemlage der politischen Theoretiker des 16. und 17. Jahrhunderts unterschied. Auf der Grundlage der durch den Staat garantierten gesellschaftlichen Rechts- und Friedensordnung im Inneren standen nunmehr die Konsequenzen auf dem Priifstand, die sich aus der spezifischen Gestalt ergaben, in der diese Ordnung realisiert worden war. Indem eine umfassende, alle gesellschaftlichen Bereiche den Imperativen einer aufgeklärten Vernunft unterwerfende Analyse und Kritik der bestehenden Ordnung vollzogen wurde, konnte die Vermeidung des Bürgerkriegs und die Durchsetzung eines gewaltfreien Verkehrs der gesellschaftlichen Akteure für sich genommen kein hinreichender Ausweis für die Vernünftigkeit politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen mehr sein. Zwar bestanden innerhalb der Aufklärungsbewegung tiefgreifende Unterschiede in Analyse, Diagnose und Therapievorschlägen für die bemerkten Mißstände, und die beiden jeweils der politischen Theorie Saint-Pierres und Rousseaus im allgemeinen gewidmeten Kapitel der vorliegenden Studie werden zeigen, daß sie in vielerlei Hinsicht als gegensätzliche Extreme angesehen werden können.3 Gemeinsam war hingegen diesen beiden wie den Protagonisten des Aufklärungszeitalters insgesamt der Anspruch, daß das gesellschaftliche Zusammenleben nach Prinzipien organisiert sein mußte, die Willkür, Despotie und persönliche Abhängigkeit ausschlössen, daß die gesellschaftlichen und politischen Institutionen Maßstäben vernünftigen Eigeninteresses Genüge tun mußten, daß sie mithin in ihrer Legitimität von ihrer Fähigkeit abhingen, gesellschaftliche und individuelle Sicherheit und Wohlfahrt zu erreichen sowie die Maximierung der Freiheit und des Glücks der rechtlich freien und gleichen Bürger zu ermöglichen. Der Abbé de Saint-Pierre und die auf ihn folgende, von Anfang an auf praktisch-politische Veränderung ausgerichtete Aufklärung nehmen die internationalen Beziehungen erstZur Bedeutung des französischen Absolutismus für die Entstehung des modernen Staates in Europa vgl. Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa, S. 71 ff.; zur Theorie und Praxis des französischen Absolutismus Mandrou, Vernunft und Staatsraison, S. 26 ff. u. 131 ff. Vgl. zur politischen Theorie Saint-Pierres, ihren methodischen und geschichtsphilosophischen Voraussetzungen und ihrer Stellung zur historischen Praxis ausführlich Kap. n, S. 45 ff., zu Rousseaus Analyse und Kritik der historischen, zivilisatorischen und politischen Verhältnisse und ihrer möglichen Veränderung Kap. IV. 1, S. 186 ff.
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D i e neuzeitliche Staatenwelt als Problem politischer Theorie
mals systematisch in den Blick und untersuchen, inwiefern sie ebenso wie die innerstaatlichen Verhältnisse Gegenstand rationaler Kritik und einer zielgerichteten Veränderung oder gar Neubegründung werden müssen.4 Dabei ist entscheidend, daß diese Kritik nicht auf die Wiederherstellung der zerbrochenen Einheit der universellen societas christiana abzielt und nicht hinter die mit der Entstehung der allgemeine Rechtsgleichheit und -Sicherheit gewährenden Formen moderner Staatlichkeit zurückkehren will.5 In der Analyse wie hinsichtlich der Perspektiven einer Reform der Verhältnisse wird vielmehr von den Rationalitätsstandards der erreichten politischen und gesellschaftlichen Institutionen und Zielvorgaben ausgegangen - kritisiert wird hingegen die Unvollständigkeit ihrer Realisierung. Wie die Kritik am despotischen Charakter des souveränen Staates, wie er sich seit dem 16. und 17. Jahrhundert darstellte, kein Zurück zur Pluralität feudaler 'Freiheiten' und persönlicher Sonderrechte und Abhängigkeiten implizierte, sondern die Rationalisierung der politischen Einrichtungen und die Vollendung der als legitim und vernünftig anerkannten Herrschaft des Gesetzes bezweckte, so führt auch die Kritik an den katastrophischen Folgen der entstehenden Welt souveräner Staaten nicht zur Sehnsucht nach einer 'prä-staatlichen' Ordnung, sondern zur Suche nach Wegen der weiteren Entwicklung der inter- und transnationalen Vergesellschaftung und ihrer Institutionalisierung, die die entstehende Dynamik von Konflikt und Krieg aufheben könnte. Gegenstand der Kritik wird der Aufklärung nicht der 'Prozeß der Moderne' selbst, sondern die Unvollständigkeit seiner bisherigen Gestalt, so daß nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen den staatlich verfaßten Gesellschaften weiter nach vernunftgemäßen Strukturen und Wegen ihrer Realisierung gefahndet werden muß. Mit der französischen Aufklärung tritt somit gleichsam das Bewußtsein für die 'internationale Dimension' des aufgeklärten, die Wirklichkeit vernunftgemäßen Maßstäben unterwerfenden Denkens und Handelns ins Leben, ebenso wie die Überzeugung, daß die Aufhebung des Naturzustands und die Schaffung vernünftiger Verhältnisse nicht nur auf die gesellschaftliche Ebene beschränkt werden muß - und auch nicht darauf beschränkt werden darf. Diese 'Globalisierung' rechtlichen Verkehrs und friedlicher Konfliktlösung ist für die Aufklärung notwendig und machbar, denn „daß es noch keinen ewigen Frieden" gibt, ist für sie eben kein naturgegebenes Faktum, sondern liegt primär „an den von den Menschen irrtümlich geschaffenen (schlechten) Institutionen".6
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Dies bedeutet durchaus nicht, daß Saint-Pierres Kritik der Struktur internationaler Beziehungen von allen Aufklärern geteilt wird; vgl. etwa zu Voltaire unten, S. 100 f. Zumindest mißverständlich ist es deshalb, wenn Janssen (Frieden, S. 229) schreibt, von der 'pax aetema' des heiligen Ambrosius bis zu Saint-Pierres Projet de paix bleibe es bei „dem erhabenen Pathos, [...] der über die real erfahrene Bedingtheit alles Irdischen hinausweisenden Gestimmtheit" des Friedensbegriffs, da in säkularisierter Form die moralischen und geschichtsphilosophischen Motive fortgeführt würden, so daß „nach dem Verblassen des christlichen Weltverständnisses in der Neuzeit der obsiegende politisch-soziale Friedensbegriff [...] deren Sinn- und (vor allem) Gefühlsgehalte in säkularisierter Form in sich aufnahm und es so vermochte, einen pseudoreligiösen Wertcharakter zu erwerben. Der Friede der natürlichen menschlichen Gemeinschaft war die auf der gerechten, der richtigen Ordnung gegründete Eintracht der socii" (ebd., S. 234). Demgegenüber wird weiter unten (S. 66 ff., S. 109 ff.) zu zeigen sein, in welchem Maße bei Saint-Pierre diese Dimension des Friedensdenkens überwunden worden ist. Janssen, Frieden, S. 255. - Hier zeigt sich ein Grundzug des aufgeklärten politischen Denkens der Neuzeit, durch den die theologische oder ontologische Hypostasierung gesellschaftlicher - oder eben internationaler Zustände verhindert und in die Verantwortung der handelnden Subjekte gelegt wird. Denn für die Aufklärung gilt, daß „Sachverhalte oder Organisationen nicht einfach 'von Natur aus' politisch oder unpolitisch sind, son-
Staat und internationale Beziehungen in der französischen Aufklärung
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Mit dem Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau werden in der vorliegenden Untersuchung zwei Vertreter der französischen Aufklärung in den Blick genommen, die das 'Schweigen' der neuzeitlichen politischen Theorie angesichts der Probleme der internationalen Beziehungen - „les silences [...] devant le droit international" - als nicht langer hinnehmbar bewerten, nicht zuletzt, da durch sie die bis dahin erreichten und/oder noch möglichen Fortschritte gesellschaftlicher Entwicklung substantiell gefährdet werden.7 Sie gehen von der auch und gerade in unseren Tagen noch immer aktuellen Einsicht aus, daß mit der Begründung souveräner Staaten nicht nur nicht davon ausgegangen werden kann, daß dadurch die hinreichenden Bedingungen für gesellschaftliche Sicherheit und Entwicklung geschaffen wären; vielmehr steht für sie außer Frage, daß ohne einen weitergehenden Prozeß der Aufhebung des internationalen Naturzustands die einzelnen Staaten aus inneren wie äußeren Gründen ihre Zweckbestimmung, für 'life, liberty and estate' (Locke) der Bürger Sorge zu tragen, verfehlen müssen. Weder die Logik der wechselseitigen Abschreckung der gegeneinander gerüsteten Staaten, auf die Hobbes mit seinem mächtigen Leviathan zu setzen schien,8 noch die Versuche, auf politisch-diplomatischem Wege die bestehende, auf das Völkerrecht oder auf das neu entstehende System des Gleichgewichts zwischen den Staaten gründende Ordnung des Friedens auf Dauer zu stellen, konnten die kritischen Beobachter der zeitgenössischen Entwicklungen noch länger überzeugen. Die Kritik dieser bis in die Gegenwart hinein für das Denken und Handeln relevanten Versuche, das internationale Staatensystem zu stabilisieren, basiert bei Saint-Pierre wie bei Rousseau auf der Einsicht in die ihm zugrunde liegenden Defizite und Probleme, von denen zwei von besonders weitreichender Bedeutung sind. Einerseits wird nunmehr in aller Konsequenz die zwischen den souveränen Staaten bestehende Handlungsstruktur in ihrer juridischen Widersprüchlichkeit analysiert und deutlich gemacht, in welchem Maße sie selbst zur Perpetuierung von Rechtskonflikten und Kriegen beiträgt und im Ergebnis ebenso kategorisch den Ausgang aus diesem Zustand fordert wie der Hobbessche status Hominum extra Societatem civilis. Seit dem Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre erhält Hobbes' Theorie des Naturzustands in einer auch für Rousseaus und Kants Analyse der internationalen Beziehungen verbindlich bleibenden Weise eine neue Bedeutung, insofern sie nunmehr ex negativo auch die Bedingungen einer Friedensordnung zwischen Staaten anzugeben ver-
dern dazu gemacht werden können. In einem solchen Konzept von 'Politik' steckt zugleich zwangsläufig ein Handlungsmoment. Konsequent beschreibt es dann auch nicht einen gesellschaftlichen Zustand, sondern gesellschaftliche Aktivitäten. Offenbar steht nicht ein für allemal fest, was in einer Gesellschaft politisch ist und was nicht. Ebenso steht damit nicht ein für allemal fest, was politisches Handeln bedeutet" (Bödeker, Überlegungen zu einer Geschichte der Politisierung, S. XIII). Es ist Goyard-Fabre, die im Titel eines ihrer Aufsätze das Wort von den „silences de Hobbes et Rousseau devant le droit international" geprägt hat; die vorliegende Arbeit wird zu zeigen versuchen, daß diese Gleichsetzung zwar im (sichtbaren) Ergebnis richtig ist, daß jedoch die Gründe und die Einschätzungen, die diesem Schweigen bei Hobbes und bei Rousseau jeweils zugrunde liegen, deutlich voneinander abweichen. Hobbes selbst äußert sich nicht zu der Frage, warum nicht im Anschluß an die Aufhebung des gesellschaftlichen Naturzustands auch der Naturzustand zwischen Staaten aufgehoben werden muß. Hier gibt er sich offenbar mit der eigentümlichen Erklärung zufrieden, es herrsche zwischen Staaten im Unterschied zu dem zwischen Individuen ein Naturzustand, der sich qualitativ von diesem unterscheide. Der internationale Naturzustand fördere nämlich „the Industry of their Subjects; there does not follow from it, that misery, which accompagnies the Liberty of particular men" (Hobbes, Leviathan, XIÜ.12, p. 188). - Hierzu Hüning, „Inter arma silent leges", S. 158 f.
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D i e neuzeitliche Staatenwelt als P r o b l e m politischer Theorie
mag.9 Damit ziehen Saint-Pierre und in seinem Gefolge dann auch Rousseau bereits jenen von Kersting und vielen anderen Interpreten erst Kant zugeschriebenen Schluß aus dem kontraktualistischen Argument, daß dieses „aus systematischen Gründen, aus Gründen innerer argumentativer Konsistenz ein weltstaatsorientiertes, auf einen einzigen Staat zielendes Argument" ist: insofern nämlich „der Naturzustand [...] selbst so groß wie die Welt" ist, muß auch seine Lösung „auf die Problemweite zugeschnitten sein. Der das Naturzustandsproblem a u f l ö s e n d e Rechtszustand muß sich über die g a n z e W e l t erstrecken [...]. Der Gesellschaftsvertrag ist n o t w e n d i g e r w e i s e ein Weltgesellschaftsvertrag; und die in i h m gründende politische Organisationsform zielt auf einen Weltstaat. Der Kontraktualismus unterläuft das Paradigma des Nationalstaates." 1 0
Andererseits wird seit dem frühen 18. Jahrhundert bereits der interne Zusammenhang, der zwischen der Etablierung einer die Staatenpluralität übergreifenden Rechts- und Friedensordnung und den ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen innerhalb der Staaten besteht, deutlich erkannt und benannt. Nicht erst mit Kant, sondern beginnend mit Saint-Pierre wird deutlich zu machen versucht, „daß die Möglichkeiten von Leben und Wohlstand, Freiheit und Glück, Frieden und Demokratie immer auch im interstaatlichen Zustand wurzeln, in den Gesetzmäßigkeiten des 'äußeren Staatenverhältnisses'".11 Wie ein instabiles internationales System direkt oder indirekt negative Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung hat, worunter die Theoretiker des Aufklärungszeitalters zumeist neben den unmittelbaren Verlusten durch Rüstung und Kriegseinwirkungen vor allem die Unterbrechung von internationaler ökonomischer Kooperation zählen, so führt die bloße Existenz eines solchen 'irrationalen' Systems auf internationaler Ebene zugleich auch zur Deformation des inneren politischen und gesellschaftlichen Systems. Nicht mehr die Festigung und Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Bedingungen von Wohlstand und Freiheit stehen dann im Zentrum des staatlichen Handelns und des Interesses der herrschenden Gruppen, sondern was dann noch zählt, ist der Kampf um Macht und Einfluß innerhalb eines ganz auf Selbsterhaltung, äußere Expansion und militärische Vormacht ausgerichteten Staates. Von der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert an wird also von Seiten der politischen Theorie der französischen Aufklärung die Frage von Krieg und Frieden zwischen Staaten nicht nur als eine solche erkannt, die nunmehr über die nach der vernünftigen Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus notwendigerweise zu deren Realisierung und Erhaltung theoretisch und praktisch zu lösen ist. Die Verwirklichung einer dauerhaften Rechtsund Friedensordnung wird vielmehr immer deutlicher als ein komplexes Projekt betrachtet, bei dem innergesellschaftliche Verhältnisse, politisch-administrative Strukturen und die Einrichtung der internationalen Beziehungen untrennbar miteinander zusammenhängen und
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Geismann hat eine direkte Linie gezogen und von 'Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau' gesprochen. Eine wesentliche Begründungsaufgabe der vorliegenden Arbeit wird darin liegen zu zeigen, daß diese Traditionslinie im Hinblick auf die Theorie internationaler Beziehungen um den Abbé de Saint-Pierre erweitert werden muß; vgl. hierzu als ersten Überblick Asbach/Hüning, Naturzustand und Rechtsbegründung. - Detailliert zu Saint-Pierre weiter unten, v. a. Kap. m.2; zu Rousseau Kap. IV.2.2 sowie IV.4. Zusammenfassend zu dieser Tradition vgl. die Schlußüberlegungen in Kap. V. Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 212-213. Guggenberger, Die Zukunft der Industriegesellschaft, S. 600.
Staat und internationale Beziehungen in der französischen Aufklärung
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einander - sei es im positiven, produktiven Sinne, sei es im negativen, destruktiven Sinne wechselseitig verstärken. Zu Bewußtsein kommt somit seit Saint-Pierre „la nécessité d'une vision globale de la politique, axée sur le rapport fondamental paix-aisance-développement". 12 Saint-Pierre und Rousseau entwickeln mit ihren Fragestellungen und Überlegungen wesentliche, in mancher Hinsicht einander - und zum Teil auch sich selbst - widersprechende Begriffe und Konzeptionen, die ihre Relevanz für die Herstellung der komplexen 'inneren' und 'äußeren' Voraussetzungen des Friedens bis in die Gegenwart hinein behalten haben. 13 Daß die gesellschaftlich hervorgebrachten staatlichen Steuerungs- und Regelungssysteme nicht hinreichend sind, sondern durch solche auf internationaler Ebene ergänzt werden müssen, war den Theoretikern internationaler Beziehungen am Beginn der Ära souveräner (Nationalstaaten dabei bereits so bewußt wie drei Jahrhunderte später jenen, die sich am vermeintlichen Ende dieses von Staaten dominierten Zeitalters durch die anstehenden Problemlagen gezwungen sehen, nach neuen Wegen politischer und rechtlicher Regulierung und Absicherung der gesellschaftlichen Entwicklungen und Konflikte zu suchen. In geradezu frappierender Weise zeigen sich diese Überschneidungspunkte an der Diskussion um die Problematik der Souveränität von Staaten, sobald sich die Notwendigkeit ergibt, zur Schaffung verbindlicher, die einzelnen Staaten übergreifender Rechtsverhältnisse eine ihnen übergeordnete Instanz zu begründen. Der Abbé de Saint-Pierre diskutiert - wie nach ihm dann auch Rousseau - das hier in Rede stehende Problem der Erzeugung einer 'Föderation souveräner Staaten', das in souveränitätstheoretischer Betrachtungsweise „der Quadratur des Zirkels" gleicht,14 am Beispiel der „Union Européenne": Als ein Bund von (souveränen) Staaten soll sie die Souveränität der Staaten erhalten helfen, zu diesem Zweck muß sie jedoch deren Souveränität bestreiten, denn nur dann kann die Föderation für alle verbindlich Recht setzen, sprechen und durchsetzen. Als Modell und historisches Vorbild dieser Union Européenne führt Saint-Pierre die „Union Germanique" an, worunter er das Alte Reich versteht mit seiner Verfassungsstruktur, wie sie 1648 im Westfälischen Frieden kodifiziert wurde und wie sie von Saint-Pierre als Idealtypus einer Föderation souveräner Staaten konstruiert wird.15 Diesem Hinweis zur Verfassungsstruktur des Alten Reichs eingehender nachzuspüren, ist mithin historisch und systematisch gleichermaßen von Interesse. Denn sowohl im Hinblick 12 13
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Bottaro Palumbo, 'De justice paix, de paix abondance', p. 27. Vgl. zu diesen Dimensionen des Friedensbegriffs Czempiel, Friedensstrategien, S. 29: „Friede ist [...] als einer der schwierigsten dynamischen Zustände eines internationalen Systems anzusehen, der, bedingt durch die Systemtradition und die sozioökonomischen Strukturen der Systemmitglieder, auf den beiden Handlungsniveaus durch das Verhalten von Politischen Systemen und gesellschaftlichen Akteuren sowie ihrer Interaktion auf relative Dauer mit der Tendenz zur Verstärkung eingerichtet werden will." Gierke, Althusius, S. 362. Zu der Rezeption der Verfassungsstruktur des Alten Reichs beim Abbé de Saint-Pierre unten, Kap. HI.3, zur Diskussion des in dieser Diskussion verborgenen sachlichen Problems der Souveränitätszuschreibung Kap. ffl.4.3, S. 176 ff. Bei Rousseau wird Saint-Pierres Hinweis auf das Alte Reich ebenfalls aufgenommen, freilich in einem auf spezifische Weise veränderten Sinn; vgl. Kap. IV.3.2. Zur historischen Entwicklung der Reichsverfassung vgl. den Exkurs, S. 240-248, auf die verfassungsgeschichtlichen Interpretationskämpfe um das Alte Reich, wie sie in der deutschen und französischen Publizistik des 16. und 17. Jahrhunderts stattfanden und aus denen sich Saint-Pierres und Rousseaus Bild der Reichsverfassung gespeist hat, wird in Kap. IK.4.1 eingegangen.
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D i e neuzeitliche Staatenwelt als Problem politischer Theorie
auf die sachliche Problematik wie auch hinsichtlich des historischen Rekurses auf das Alte Reich lassen sich ohne Mühe Verbindungslinien zu aktuellen Diskussionen ziehen. Dies hat denn auch einige Interpreten dazu animiert, eine Verwandtschaft der Problemlagen und Optionen zwischen der Situation am Beginn des Zeitalters der Nationalstaaten und der an seinem Ende zu sehen.16 Die Aktualität der theoretischen und praktischen Probleme und Aufgaben ist offenkundig: Sei es nämlich in einer in den Vereinten Nationen zentrierten globalen Rechtsordnung, die in der Lage ist, die internationalen Konflikte zu regulieren und die Voraussetzungen für eine Entwicklung zu schaffen, in der Probleme der ökonomischen, ökologischen, politischen, menschenrechtlichen oder kulturellen Entwicklungen ohne den Einsatz von Gewalt und ohne massenhafte Verelendungsprozesse lösbar werden;17 sei es die manchen als monstrum simile, anderen als eine im Entstehen begriffene Föderation erscheinende Europäische Union;18 - die hierbei behandelten Fragen nach den gesellschaftlichen und den politisch-institutionellen Voraussetzungen, den Möglichkeiten und Schranken einer Verwirklichung von Rechts- und der Aufhebung von Gewaltverhältnissen innerhalb und zwischen Staaten sowie der Sicherung der Freiheit und Entwicklungschancen von Individuen und Gesellschaften knüpfen in jedem Falle an Diskussionen an, die, wie in der folgenden Untersuchung gezeigt werden soll, im 18. Jahrhundert beim Abbé de Saint-Pierre und bei Jean-Jacques Rousseau ihren Ausgang genommen haben. Wer würde ernsthaft behaupten wollen, daß am Beginn des 21. Jahrhunderts diese Konzeptionen eingeholt sind, daß die ihnen zugrunde liegenden Perspektiven und Hoffnungen vom inzwischen Erreichten eingelöst oder gar überholt wären?
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Vgl. mit Blick auf das Alte Reich Hartmann, Bereits erprobt: Ein Mitteleuropa der Regionen, sowie Evers, Auf dem Weg zum postmodernen Imperium? Vgl. zu den vielfältigen Dimensionen der anstehenden internationalen Regelungen Höffe, Demokratie; knapp Kühne, Die Vereinten Nationen, S. 447 ff. Wie Pufendorf in seiner Schrift über 'Die Verfassung des deutschen Reiches' (Kap. 7, § 9, S. 106) die Verfassung des Alten Reichs als „einen irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper" beschrieben hat (dazu unten, S. 161 ff.), hat Abromeit (Föderalismus, S. 214-216) die komplexe Struktur der gegenwärtigen Europäischen Union als 'Monstrum' bezeichnet. Umgekehrt hat der deutsche Außenminister Joschka Fischer die Idee einer „Europäischen Föderation" als Zielpunkt des europäischen Integrationsprozesses zu bestimmen versucht. Wenn er davon spricht, daß man eine „Europäische Föderation [anstreben müsse], voll souverän und doch auf selbstbewußten Nationalstaaten als Glieder dieser Föderation beruhend", insofern sie auf einer auf dem Subsidiaritätsprinzip basierenden „Souveränitätsteilung von Europa und Nationalstaat" gründen könne und müsse (Fischer, Vom Staatenbund zur Föderation, S. 759), so steht er vor eben jener Problematik, die auch an der Konzeption der vom Abbé de Saint-Pierre angestrebten Union Européenne diskutiert werden kann (vgl. weiter unten, S. 176 ff.); systematisch zu diesen Debatten Asbach, Verfassung und Demokratie.
TEIL A : DIE POLITISCHE THEORIE DES ABBÉ D E SAINT PIERRE
II. Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé de Saint-Pierre
,JM politique est préférable à chacune des autres sciences, comme le tout est préférable à une de ses parties." (Saint-Pierre, 1734)
Blickt man in philosophiegeschichtlicher Perspektive auf den Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau, die im Zentrum der vorliegenden Studie stehen, so ist die Kluft, die zwischen beiden im Rahmen der herrschenden Geschichtsschreibung zur Entwicklung der neuzeitlichen politischen Philosophie besteht, unübersehbar. Im Unterschied zum politischen und philosophischen Werk Rousseaus ist dasjenige Saint-Pierres weitgehend unbekannt geblieben. Eine Untersuchung zur politischen Theorie der französischen Aufklärung, die die Namen beider Autoren gleichberechtigt im (Unter-)Titel führt, muß also zunächst einmal der Frage nachgehen, inwiefern Saint-Pierres Schriften überhaupt in vergleichbarer Weise - wie die Rousseaus - für zentrale Intentionen, Begriffe und Konzepte des Aufklärungszeitalters stehen können. Zu diesem Zweck sollen im folgenden Kapitel im Anschluß an den Versuch, den Gründen für das vorherrschende Bild Saint-Pierres nachzugehen und seine Stellung innerhalb der politischen Philosophie der Neuzeit zumindest in groben Linien zu skizzieren (II. 1), die wesentlichen Bestimmungen herausgearbeitet werden, die es erlauben, Saint-Pierre als einen zentralen Wegbereiter und Protagonisten des Denkens der französischen Aufklärung zu bezeichnen. Dies soll zum einen anhand der von ihm entfalteten grundlegenden Bestimmungen von Vernunft, Wissenschaft und Geschichte aufgezeigt werden (II.2), zum anderen an seiner Betonung der praktischen Dimension des neuzeitlichen Verständnisses wissenschaftlicher Rationalität (II.3). Von besonderem Interesse aber ist für den hier behandelten Zusammenhang die Reflexion auf die Grundlagen der Verhältnisse innerhalb und zwischen staatlich verfaßten Gesellschaften, daß Saint-Pierre einen neuen Begriff von Politischer Wissenschaft entwickelt, welcher Politik und Wissenschaft in einen wechselseitigen Be-
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gründungszusammenhang bringt (II.4). Diese science politique wird bei ihm zum zentralen Vehikel der Bestimmung, Verwirklichung und Regulierung der neu entstehenden, von den überkommenen Traditionen, Einrichtungen und ständischen Zwängen befreiten Gesellschaft.
II. 1 Saint-Pierre und die politische Philosophie im Übergang zum Zeitalter der Aufklärung „i7 n 'est pas difficile de voir que c 'est l'obscurité qui arrête, & que l'on va lentement quand on va à tâtons: mais qu 'on avance à mesure que la lumiere commence à croître, & que quand on a aporté au Projet d'un établissement, une lumiere suffisante, c 'est alors que les obstacles s'évanouissent". (Saint-Pierre, 1716)
Die Einschätzung der Stellung und Bedeutung des Abbé de Saint-Pierre im Prozeß der französischen und europäischen Aufklärung ist bis heute durch eine eigentümliche Ambivalenz geprägt. Auf der einen Seite fehlt es nicht an Hinweisen, nach denen er „ohne Zweifel zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der französischen Frühaufklärung" zu zählen ist.1 Dies betrifft insbesondere seine Rolle als eines wichtigen Wegbereiters und Vertreters des modernen Verständnisses von Politik und politischer Wissenschaft,2 insofern er zu den ersten gehörte, „die in Frankreich von 'politischer Wissenschaft' (science politique) sprachen und die überzeugt waren, daß sie zum Glück der Völker entscheidend beitragen werde".3 Dies gilt sowohl für die Reflexion der methodischen, geschichtsphilosophischen und anthropologischen Voraussetzungen politischen Denkens und Handelns als auch für die Analyse und Kritik der vorherrschenden Prinzipien, Verfahren und Institutionen. Vor diesem Hintergrund wäre es also fahrlässig, die Bedeutung und den Einfluß Saint-Pierres auf die französische Aufklärung zu unterschätzen: „all too often w e have been content to sketch the A b b é ' s ideas and then to dismiss them as if they were childish or silly. This undoubtedly is an error. Saint-Pierre is certainly one of the founders in France of the science of government, in both its theoretical and practical aspects". 4
Auf der anderen Seite steht dieser Einschätzung eine weitgehende Vernachlässigung seines Werks in der überwiegenden Mehrheit der wissenschaftlichen Forschungsliteratur gegenüber, in der er - wenn überhaupt - allenfalls als epigonaler Denker und als einer der zahlrei1 2
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Bahner, Die Friedensideen, S. 99. Vgl. etwa Fetscher, Politisches Denken, S. 436, der - freilich ohne viel Resonanz - Saint-Pierre „Zu den Wegbereitern des Politischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert" gezählt hat. Bahner (Die Friedensideen, S. 99) konstatiert, daß Saint-Pierre „sich um die Herausbildung politischer Wissenschaften [bemühte], indem er ohne jedes Moralisieren darüber nachdachte, was zum öffentlichen Wohl beitragen und wodurch eine größere gesellschaftliche Nützlichkeit erreicht werden könnte." Hömig, Der Abbé de Saint-Pierre, S. 8 f. Wade, Structure and Form, I, pp. 321 f.; ähnlich Keohane, Philosophy and the State, p. 364, Bottaro Palumbo, 'De justice paix, de paix abondance', p. 28.
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chen Vorläufer aufklärerischer Philosophie des Übergangs vom 17. zum 18. Jahrhundert in Erscheinung tritt.5 Die Frage ist, worin die Gründe für diese Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit der theoriegeschichtlichen Einordnung Saint-Pierres liegen. Sie können auf zwei unterschiedlichen Ebenen gesehen werden. Einerseits kann die Unterbewertung Saint-Pierres paradoxerweise gleichsam als ein Resultat des Erfolges seines Denkens erscheinen. Dies gilt vornehmlich für jenes Projekt, durch das sein Name der Nachwelt vor allem in Erinnerung geblieben ist und das auch zeitlebens im Zentrum seines eigenen Denkens gestanden hat, insofern er dessen Propagierung und Umsetzung jahrzehntelang energisch betrieben hatte. Die Rede ist vom Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe, das er von 1712 an in unterschiedlichen Versionen der Öffentlichkeit vorlegte.6 Mit diesem Buch eröffnete Saint-Pierre, wie die vorliegende Untersuchung detailliert zeigen wird, zu Beginn des Jahrhunderts der Aufklärung eine neue systematische Perspektive auf die Behandlung der Frage einer rechtlichen Ordnung zwischen Staaten. In der Mitte und am Ende des 18. Jahrhunderts hat diese Diskussion in den Schriften Rousseaus und Kants weitere Höhepunkte erlebt und jene konzeptionelle Bedeutung entfaltet, die ihr bis heute Aktualität und bleibendes Interesse sichert. Zugleich hat die Prominenz und philosophiegeschichtlich herausragende Stellung dieser seiner 'Nachfolger' wie auch die Art und Weise ihrer Bezugnahme auf ihn dazu geführt, daß Saint-Pierre vor allem zu einem Stichwortgeber reduziert worden ist - der politiktheoretische Gehalt seines Denkens wurde hingegen beiseite gedrängt.7 Besonders Rousseau spielt hier eine zwiespältige Rolle: Betätigte er sich einerseits als Popularisator Saint-Pierres, indem er seine zentralen außen- und innenpolitischen Reformprojekte zusammenfaßte und tradierte, so hat er andererseits nicht nur diese Projekte, sondern auch Saint-Pierres Grundpositionen einer scharfen Kritik unterzogen. Indem diese Kritik jedoch zumeist Zerrbildern galt, die Rousseau von Saint-Pierre zeichnete, wurden geläufige, schon zu Lebzeiten eingefahrene Wahrnehmungsweisen Saint-Pierres als rationalistischem Projektemacher und Anhänger politischer Utopien und Schimären verstärkt und weitergeführt.8 Dadurch aber wurden zahlreiche Übereinstimmungen und Kontinuitäten von Fragestellungen und Positionen zwischen beiden ebenso er-
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Sein Name fehlt in vielen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der politischen Theorie (z. B. Schwan, Politische Theorien), oder er taucht, wie bei Reinhard, Vom italienischen Humanismus, S. 332 u. 346, nur en passant auf; eine Ausnahme bildet Fetscher, Politisches Denken, S. 436 ff. Bereits vor dem Erscheinen der ersten beiden Bände des Projet 1713 hatte Saint-Pierre ein Jahr zuvor ein einbändiges 'Mémoire pour rendre la paix perpétuelle en Europe' publiziert; ausführlich zur Entstehungsgeschichte unten, S. 125 ff. 1729 veröffentlichte Saint-Pierre ein 'Abrégé du projet de paix perpétuelle', dem er 1738 eine wiederum erweiterte Fassung folgen ließ. Hinzu kommen zahllose kleinere Texte, in denen er die Grundzüge seines Projekts zusammenfaßt oder - auf konkrete politische Situationen reagierend - es zur Lösung aktueller Konflikte vorschlägt. Vgl. exemplarisch Seroux d'Agincourt, Exposé des projets de paix perpétuelle, pp. 15 ff., 32, 58; Reitemeyer, Perfektibilität gegen Perfektion, S. 199 ff. Saint-Simon (Mémoires, tome 14 [1718], p. 43) mischt Anerkennung und Spott, wenn er Saint-Pierre „l'esprit, des lettres et des chimères" zuschreibt: „fort rempli de lui-même, bon homme et honnête homme pourtant, grand faiseur de livres, de projets et de réformations dans la politique et dans le gouvernement en faveur du bien public."
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folgreich der Aufmerksamkeit der Beobachter entzogen wie der politiktheoretische Gehalt von Saint-Pierres Denken selbst.9 Andererseits ist Saint-Pierre jedoch wesentlich selbst dafür verantwortlich, daß sein Werk nur selten die ihm gebührende Aufmerksam gefunden hat. Schon der Stil und die äußere Gestalt, in der es seinen Lesern präsentiert wurde, haben für seine Rezeption ein bemerkenswertes Hindernis dargestellt. Als Rousseau sich in den Jahren nach 1755 intensiv mit SaintPierres Schriften befaßte, beklagte er eindringlich deren Form: „diffus, confus, pleins de longueurs, de redites" seien sie und „d'excellentes choses si mal dites que la lecture en étoit difficile à soutenir".10 Dieses Mißbehagen blieb nicht auf Rousseau beschränkt, sondern wird etwa auch durch d'Alembert hervorgehoben, der hierin den Grund sieht, daß SaintPierre zwar in vielem, wie er in seiner 1775 gehaltenen Eloge de Saint-Pierre bemerkt, zentrale, inzwischen zum Gemeingut aufklärerischen Denkens gewordene Positionen entwickelt habe, ohne daß dies recht bewußt geworden und anerkannt worden wäre.11 Man war eben „während der Epoche der grossen Schriftsteller Frankreichs nicht begierig, ein grosses, politisches Werk, das in einer ganz neuen Schreibart, in der Weise eines geometrischen Lehrbuches und in langweiliger Prosa geschrieben war, zu lesen".12 Freilich liegt diese Rezeptionsbarriere, wie hier bereits anklingt, nicht primär im Fehlen schriftstellerischen Vermögens begründet, auch wenn dies - „longueurs, défaut de méthode, négligence de style, et jusqu'à la singularité de l'orthographe, qui suffirait toute seule pour rendre cette lecture pénible"13 erschwerend hinzugekommen sein mag. Die oft kritisierte Form von Saint-Pierres Schriften ist gleichsam programmatisch begründet. Ironischerweise resultiert sie gerade aus dem Umstand, daß er vom Geist der Geometrie, der Demonstration, der rationalen Begründung und Aufklärung beseelt ist und sich beredt zu dessen Anwalt macht. Saint-Pierre ist von den Zeitgenossen und der Nachwelt offenbar, legt man die von Diderot getroffenen Unterscheidungen dreier verschiedener Stilarten zugrunde, als idealtypischer Vertreter des Stils eines Geometers wahrgenommen worden, insofern er beansprucht, „simple, clair, sans figure, sans mouvement, sans verve, sans couleur" zu schreiben und zu argumentieren, somit das genaue Gegenteil vom majestätischen, bilderreichen Stil eines Naturgeschichtlers wie Buffon oder dem leidenschaftlichen, irritierenden und bewegenden Stil eines Rousseau darstellend.14 Ausdrücklich wendet SaintPierre sich gegen die verbreitete „Methode der Redner", welche politische Werke mit dem „Schmuck der Eloquenz" versähen, während er selbst „jene Art von Beredsamkeit [bevorzu-
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Vgl. hierzu die Hinweise bei Perkins, The moral and political philosophy, pp. 97 ff., Carter, Rousseau and the Problem of War, pp. 145 ff., sowie unten, S. 97 ff.; zu Rousseaus Rezeption und Kritik des Friedensprojekts ausführlich unten, S. 264 ff. u. 268 ff. Rousseau, Confessions, 1. IX, p. 408. Vgl. die mit der Einschätzung Rousseaus konvergierenden Bemerkungen von d'Alembert, Éloge de SaintPierre, p. 255. ter Meulen, Der Gedanke der internationalen Organisation, Bd. I, S. 183. d'Alembert, Éloge de Saint-Pierre, p. 255. Diderot, Réfutation d'Helvétius, p. 588. Diderot führt diese Unterscheidung auf die unterschiedliche Funktion zurück, die die Sprache jeweils zu erfüllen hat. Ähnlich Saint-Pierre führt er zum Geometer aus: „Quelle est la fonction du géomètre? De combiner des espaces, abstraction faites des qualités essentielles de la matière; point d'images, point de couleurs, grande contention de tête, nulle émotion de l'âme. Quelle est celle du poète, du moraliste, de l'homme éloquent? De peindre et d'émouvoir."
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ge], die der Geometrie und deren einfacher und eingänglicher Methode eigen ist".15 Die Form, in der Saint-Pierre diesen Anforderungen rationaler Argumentation nachkommen zu müssen glaubte, verhinderte offenbar jedoch gerade das erklärte Ziel: seine Schriften sind alles andere als 'eingängig' gewesen. Sein Verständnis von 'geometrischer' Argumentationsweise brachte ihn dazu, unzählige Abhandlungen zu verfassen, in denen er seine zahlreichen politischen Reformvorschläge in immer neuen Fassungen vorbrachte, sie endlos wiederholte, sie immer neuen realen oder imaginären Einwänden aussetzte, um diese umständlich zu widerlegen und zum Anlaß neuer Ausführungen - observations und éclaircissements - zu nehmen. Gerade der Wille, mit seinen Schriften praktisch wirksam zu sein und die politisch Handelnden zu erreichen, führte dazu, daß er sich nie lange mit systematischen Begründungsversuchen aufhielt und niemals zu einer gründlichen Darlegung seines politischen und philosophischen Denkens kam.16 Auf diese Weise wirkte Saint-Pierre zwar an der Erarbeitung, Fortentwicklung und Verbreitung zentraler Begriffe und Konzeptionen des wissenschaftlichen und politischen Denkens und Handelns der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft mit, ohne doch als eigenständiger Theoretiker Beachtung gefunden zu haben. Es ist diese in Saint-Pierres Methode der Argumentation und Darstellung begründete Diskrepanz von Bedeutung und öffentlicher Beachtung, die bereits um 1755 Madame Dupin beklagt hat, die während des letzten Jahrzehnts seines Lebens 'Schülerin' Saint-Pierres gewesen und später maßgeblich an dem Versuch beteiligt war, Rousseau, der mehrere Jahre lang bei ihr als Sekretär gewirkt hatte, zu einer neuen Ausgabe von Saint-Pierres Schriften zu bewegen: „Les 2 5 vol. de M . l'abbe de St pierre trop peu lûs, et trop peu estimés, m ê m e par c e u x qui disent q u ' i l s les estiment, sont pleins d ' u n e raison sublime et simple, c e s ouvrages sont politicques et p h i l o s o p h i q u e s 2 c h o s e s plus nécessaire à concilier q u ' o n ne croit c o m m u n é m e n t . C e s ouvrages sous des titres détachés contiennent un sisteme total de gouvernement". 1 7
Schließlich ist im Hinblick auf die unglückliche Wahrnehmung der Arbeiten Saint-Pierres noch auf einen zunächst kurios erscheinenden, doch rezeptionsgeschichtlich bedeutsamen Umstand aufmerksam zu machen. Einen großen Teil seiner Werke hat Saint-Pierre, der als Mitglied der Académie française lange Jahre mit Problemen und Entwicklungen der franzö-
Saint-Pierre, Polysynodie, S. 122-123. - Näher zu Saint-Pierres 'geometrischer Methode' in der wissenschaftlichen Argumentation unten, Kap. n.3, v. a. S. 68 ff. Saint-Pierre bestätigt selbstkritisch die problematische Form seiner Schriften und erklärt sich den Umstand, daß viele seiner konkreten Vorschläge noch nicht verwirklicht worden sind, mit seinem schriftstellerischen Unveimögen und damit, daß er sie nicht in die übliche, rhetorisch eingängige Form gekleidet habe, die ihnen eine ganz andere Aufnahme und Wirkung verschafft hätte (vgl. Saint-Pierre, Pensées de Morale, Ouvr., XHI, p. 258; ders., Réflexions morales, Ouvr., XV, p. 84; ders., Reflexions morales, Ms. Neuchâtel, R 157, p. 65). Dabei verkennt er freilich immer noch, daß es eben nicht nur um den 'schönen Stil' geht, sondern vor allem um das Fehlen eines Versuchs, seine Begriffe und Konzeptionen in dem systematischen Zusammenhang zu entwickeln, in dem sie faktisch bei ihm stehen und den er stets voraussetzt bzw. voraussetzen muß; dieser argumentative Zusammenhang ist oft erst zu rekonstruieren. - Zu den in der vorliegenden Arbeit für SaintPierres Schriften und Manuskripte sowie die jeweiligen Archive verwendeten Siglen vgl. die Angaben im Anhang. Diese Einschätzung von Madame Dupin findet sich in einem unveröffentlichten Notizbuch von ihr; zit. bei Sénéchal, Jean-Jacques Rousseau, secrétaire, p. 273. - Vgl. zu Madame Dupin und ihrer Stellung zu SaintPierre und Rousseau unten, S. 204 ff.
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sischen Sprache befaßt gewesen war,18 in einer zunehmend der Lautsprache angenäherten Fassung drucken lassen. Im Bestreben, die französische Rechtschreibung zu vereinfachen und rationaler zu gestalten, hat er die von ihm propagierte Reform gleichsam exemplarisch umzusetzen versucht.19 Das Resultat ist, wie nicht anders' zu erwarten: Der greise SaintPierre geriet endgültig in den Ruf eines verschrobenen Projektemachers, der als politischer Denker nicht weiter ernstgenommen werden muß. Diesen Umstand hat schon Grimm 1768 in seiner Correspondance littéraire festgestellt, als er bemerkte, „si l'abbé de Saint-Pierre n'eût pas affecté une orthographe qui rend ses livres presque indéchiffrables à des yeux non exercés, il serait, je crois, devenu auteur classique".20 Damit sind einige der wesentlichen Gründe genannt, die dazu geführt haben, daß der Bedeutung, die Saint-Pierre für die Ausbildung und Entwicklung der französischen Aufklärung und ihre philosophischen und politischen Konzeptionen gehabt hat, nur selten nachgegangen wurde. Dies ist jedoch als ein deutliches Defizit in der Forschungsliteratur zur Herausbildung zentraler Konzepte der französischen Aufklärung und der modernen politischen Theorie insgesamt zu bezeichnen. Insofern Saint-Pierre als ein politischer Schriftsteller angesehen werden muß, der für die Ausbildung der aufklärerischen Positionen und Tendenzen in gewisser Weise 'mitverantwortlich' und auch repräsentativ gewesen ist, ist die Kenntnis seiner Arbeiten nicht nur zur richtigen Einschätzung von Saint-Pierres Wirken selbst, sondern auch zum Verständnis dieser Periode politischen Denkens und Handelns insgesamt erforderlich. Saint-Pierre war aktiv an den intellektuellen Entwicklungen und Veränderungen beteiligt, die sich von der Glanzzeit der absolutistischen Herrschaft Ludwigs XIV. bis zur Blüte der Aufklärung in der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzogen haben. Während dieser Zeit nämlich bewegte er sich in jenen Zentren der französischen Hauptstadt, in denen die wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Tendenzen der Zeit diskutiert und für die weitere europäische Entwicklung folgenreich - intellektuell verarbeitet wurden. Dies kann bereits durch einen knappen Blick auf seine Biographie deutlich gemacht werden.21 Bereits in frühen Jahren hatte sich der 1658 in Saint-Pierre-Église, einem kleinen Ort nahe Cherbourg in der Normandie, geborene und in Caen und Rouen ausgebildete Castel de Saint-Pierre intensiv mit den Fortschritten der Naturwissenschaften seit Descartes befaßt, deren revolutionäre Neuerungen nach der Mitte des 17. Jahrhunderts über die engen Zirkel 18
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Die Académie française, der Saint-Pierie von 1695 bis zu seinem Ausschluß 1718 angehörte, war eine von Richelieu begründete Einrichtung zur Pflege der französischen Sprache und arbeitete am großen Dictionnaire mit, das 1694 in erster und 1718 in zweiter Auflage erschien; hierzu Reichardt, Einleitung, S. 93. Saint-Pierre begründet die Notwendigkeit einer Rechtschreibreform im Discours pour perfectioner l'Ortografe (1725) und im Projet pour perfectioner l'ortografe (1730). - Seit den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts publiziert Saint-Pierre seine Texte in dieser reformierten, alles andere als homogenen und oft innerhalb derselben Texte wechselnden Schreibweise. Diese für heutige wie zeitgenössische Leser oft kurios erscheinende Orthographie Saint-Pierres wird in der vorliegenden Arbeit bei Zitaten unverändert wiedergegeben. - Zu Saint-Pierres Sprache und Orthographievorstellungen vgl. Meißner, Zu Sprache, Übersetzung und Text, S. 76 ff., hier v. a. 95 ff. Grimm, Correspondance littéraire, ni, p. 474. - Saint-Pierre selbst hat, wie bemerkt, die ausbleibende Reaktion auf seine Schriften deutlich erkannt, die Hoffnung, daß sich dies künftig ändern werde, freilich nicht aufgegeben; vgl. Saint-Pierre, Sur le Gouvernement des Rois de France, Ouvr., IX, pp. 241 f. Zur Biographie vgl. ausführlich Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, chap. I-VI; Perkins, The moral and political philosophy, pp. 17 ff., sowie - wenngleich mit einigen Ungenauigkeiten - Dietze, Charles Abbé de SaintPierre, S. 3-18.
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der Gelehrten hinaus für Aufsehen und zur erstmaligen Ausbildung eines breiten, wissenschaftlich interessierten Publikums sorgten. Seit seiner Übersiedlung nach Paris im Jahre 1680 pflegte er intensiven Kontakt mit Naturwissenschaftlern und Philosophen, die sich im Gefolge der cartesischen Revolutionierung des wissenschaftlichen Denkens die rationale Aufklärung und vernünftige Beherrschung der Natur zum Ziel gesetzt hatten. 22 Insbesondere durch seine lebenslange Freundschaft mit Fontenelle, dem führenden Kopf der Partei der modernes in der Querelle des anciens et des modernes, wurde Saint-Pierre zum entschiedenen Verfechter der Positionen der Modernen. 23 In jenen Jahren nach 1686 nämlich, in denen Fontelle seine programmatischen Schriften zur traditionskritischen neuzeitlichen Wissenschafts- und Geschichtsauffassung verfaßte - Schriften, die Werner Krauss zufolge „das Tor der französischen Aufklärung bilden" 24 - , bewohnte dieser gemeinsam mit dem Historiker Vertot und dem Mathematiker Varignon, Mitglied der Académie des sciences und Korrespondent von Leibniz, und Saint-Pierre ein Haus in der Rue Saint-Jacques. Übereinstimmend berichten Saint Pierre und Fontenelle, wie sie dort regelmäßig ihre jeweiligen Ansichten und Vorhaben diskutierten, indem „ils aloient 1'apres midi continuer leurs conversations et leurs disputes au Jardin du Luxembourg et profitoient ainsi de leurs critiques mutuelles". 25 Dies hat Emil Faguet dazu veranlaßt, dieses Haus Saint-Pierres, in dem auch Malebranche verkehrte, als „Wiege" des Jahrhunderts der Aufklärung zu bezeichnen: „c'était le XVIII e siècle, philosophique, historique, scientifique, qui naissait et s'agitait, dru et fort déjà dans son berceau". 26 Seit den neunziger Jahren des 17. Jahrhundert ist Saint-Pierre in Einrichtungen und Verhältnissen etabliert, die seine Nähe zu den offiziellen wie den oppositionellen Kreisen des politischen Systems einerseits, zu den führenden intellektuellen Zirkeln andererseits dauerhaft sicherstellen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Aufnahme Saint-Pierres in die Académie française. Sie erfolgte bereits 1695 im Zuge der Bestrebungen, in der Académie die Partei der Modernes zu stärken, wie sie Fontenelle vertrat, der bereits seit 1691 zu ihren Mitgliedern zählte und sich schon seit 1687 publizistisch in der Querelle des anciens et des modernes auf die Seite der Modernen geschlagen hatte. 27 1693 erwarb Saint-Pierre das Amt des Almoseniers von Elisabeth Charlotte von Orléans, der aus der Pfalz stammenden Schwägerin Ludwigs XIV. und Mutter des nach dessen Tode regierenden Herzogs von Orléans. Durch diese Position bekam er einerseits die Möglichkeit, das Funktionieren und die
Von dieser Beschäftigung zeugen etwa nachdrücklich zwei der ältesten erhaltenen Notizhefte Saint-Pierres aus den Jahren 1689-1691 (Saint-Pierre, Pensées diverses, Ms. Neuchâtel, R 242/243), die eine Vielzahl von Notizen und kürzeren Texten zu den verschiedensten naturwissenschaftlichen und medizinischen Themen enthalten, angefangen mit Bemerkungen über Descartes' Empfindungslehre, das Funktionieren und die Gesundheit des menschlichen Körpers, über Meteorologie und Erdbeben bis hin zur Auswertung von Reisebeschreibungen oder Diskussionen über Huygens Traité de la lumière; vgl. ausführlich hierzu Perkins, The moral and political philosophy, pp. 27 ff. Zu Fontenelle vgl. Krauss, Vorwort zu 'Fontenelle und die Aufklärung'; Niderst, Fontenelle; auf die „Querelle" wird weiter unten, S. 53 ff., eingegangen. Krauss, Vorwort zu 'Fontenelle und die Aufklärung', S. 7. Saint Pierre, Annales de Castel, Bibl. Rouen, Ms. 950, p. 215; vgl. ebenso Fontenelle, Eloge de Varignon, p. 175 f. Faguet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 561; vgl. umfassend Perkins, Saint-Pierre and the Seventeenth-Century Intellectual Background. Vgl. Fontenelle, Digression sur la Anciens et les Modernes, sowie unten, S. 54.
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Probleme des politischen Systems Frankreichs aus nächster Nähe zu beobachten, andererseits fand er Kontakt zu Politikern und Staatsmännern, die dem herrschenden System des Sonnenkönigs eng verbunden waren, zum Teil jedoch in Opposition zu ihm standen. Seine Stellung am Hof beschrieb Saint-Pierre 1697 in einem Brief: „En prenant une charge à la cour, je n'ai fait qu'acheter une petite loge pour voir de plus prez ces Acteurs qui joüent souvant, sans le savoir sur le teatre du monde, des rôles trez importans au reste des sujets. [...] Je voi ici notre Gouvernemant dans sa source [...]. J'amasse ici des matériaux pour en former un jour quelque edifice qui puisse être de quelque utilité".28
Nicht nur Saint-Pierres große Werke über die inneren und äußeren Verhältnisse von Staat und Regierung, sondern auch eine Vielzahl kleinerer, konkreter Projekte und Vorschläge, die sich aus heutiger Sicht zum Teil mit scheinbar abseitigen Fragen und Problemen befassen, erklären sich aus dieser Nähe zu den Prozessen der Regierungs- und Verwaltungspraxis. Vor allem im Jahrzehnt nach seinem Ausschluß aus der Académie française, der 1718 aufgrund der scharfen Kritik, die er in seiner Schrift über die Polysynodie an dem Regierungssystem unter Ludwig XIV. geübt hatte, durch den Regenten angeordnet wurde,29 erreichte die aus diesem Fundus schöpfende Produktion des Abbé de Saint-Pierre „sa plus grande fécondité: statistique, administration, instruction publique, ponts et chaussées, guerre, marine, finance, diplomatie, morale, sermons, théâtres, il pensait à tout, écrivait sur tout, perfectionnait tout."30 Auch in den Jahren ab 1720 war Saint-Pierre führend an der Ausbildung eines neuartigen Forums beteiligt, das es ihm ermöglichte, seine politischen Ideen und Projekte zu ent-
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Saint-Pierre, Lettre à Madame de Lambert, 14.1.1697, in: Ouvr., XVI, pp. 170 u. 173. Über die Marquise de Lambert, die den ersten großen, vom Hof losgelösten, von Fontenelle bis Montesquieu von allen politisch und geistig bedeutenden Köpfen der Zeit besuchten Salon unterhielt, vgl. Heyden-Rynsch, Europäische Salons, S. 65 ff.
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Vgl. Goumy, Étude sur la vie, pp. 37-50; Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 6 7 - 7 4 . Interessant ist hierzu der Bericht von Saint-Simon, der zwar auf den vergleichsweise niedrigen Stand Saint-Pierres herabblickt (Mémoires, tome 5 [1706], pp. 203 f.), diesen aber in der Kritik am absolutistischen System unterstützt, wenn er mit der Schrift über die 'Polysynodie' vermeintlich jenes Projekt einer Reform des französischen Regierungssystems verteidigt, das Saint-Simon selbst - freilich mit ganz anderen, auf Wiederherstellung der auf vor-absolutistische Verhältnisse abzielenden Motiven - entworfen und während der Zeit der Régence umzusetzen versucht hatte; vgl. Mémoires, tome 14 (1718), pp. 43 f.; vgl. inhaltlich hierzu unten, S. 86 f., v. a. Anm. 60. Goumy, Étude sur la vie, p. 52. - Daß Saint-Pierre in den vielen, in der überwältigenden Mehrheit erst nach dem Tode Ludwigs XIV. und vor allem im Rahmen seiner Oeuvres nach 1733 im Druck erschienenen Texten auf Material zurückgegriffen hat, das schon in dieser Zeit entstanden ist, läßt sich zum Teil nur indirekt erschließen, kann aber als gesichert gelten (vgl. hierzu unten, S. 86, Anm. 60). In seinem 1736 verfaßten Vorwort zu Band XIII seiner Werke berichtet er, daß er, nachdem er sich 1693 besagte „charge à la Cour" gekauft habe, ,,commensai[t] aussi bientôt après à écrire quelques réflexions politiques mais sans aucun sistême" (p. 5), die er dann „il y a cinq ou six ans" durchzusehen und für eine Publikation auszuwählen begonnen habe. Dieser Ablauf läßt sich auch inhaltlich an zahlreichen Stellen seines Projet de paix, dessen Manuskript 1712 abgeschlossen vorlag, belegen, finden sich in ihm doch jene Konzepte auch für eine Reform des politischen und gesellschaftlichen Systems, wie sie erst in dem dann folgenden Vierteljahrhundert gedruckt wurden. Bis dahin kursierten die Manuskripte, die dann für den Druck jeweils noch einmal überarbeitet wurden. Nur von diesen letzten Überarbeitungen zum Druck finden sich in Saint-Pierres Nachlaß in den verschiedenen Archiven Abschriften, zumeist durch ihn mit dem Überarbeitungsvermerk , / e v u " oder „corrigé" mit Datum und Ort versehen. Die ursprünglichen Manuskripte aus der Zeit Ludwigs XIV. sind danach offenbar meist vernichtet worden.
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wickeln, vorzustellen und der Kritik auszusetzen: des Club d'Entresol,31 In diesem „club à l'anglaise [...] ou de société politique parfaitement libre, composée de gens qui aimaient à raisonner sur ce qui se passait" 32 , trafen sich allwöchentlich Intellektuelle und Staatsmänner wie der Marquis d'Argenson, Bolingbroke und zeitweise auch Montesquieu. Man verfuhr bei den Sitzungen nach einem festen Schema: nach der Lektüre aktueller, von d'Argenson zusammengestellter Zeitungsausschnitte und Nachrichten wurden aktuelle politische Ereignisse und Schriften diskutiert, bevor man schließlich in der letzten Stunde eigene Werke vorstellte und diskutierte, die zumeist Probleme der Politik, des Rechts und der Geschichte zum Gegenstand hatten. 33 Der Club d'Entresol verstand sich als ein Zentrum der politischen Debatte und Kritik, „où tout en parlant de pacification générale, on recherchait les moyens d'enrayer à la fois le paupérisme et l'autorité royale". 34 Nicht umsonst wird in der Forschungsliteratur zur Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit gerade auf diesen Club hingewiesen, der für die kontinentale Entwicklung der Kritik am absolutistischen System der vorrevolutionären Jahrzehnte eine vorbildhafte Funktion erfüllte, insofern in ihm „die politische Kritik, die in ihr gepflegt wurde, eine nach außen, unter Umgehung der staatlichen Gewalten, d. h. indirekt wirkende politische Gewalt" entfaltete. 35 Diese politische Bedeutung wird nicht zuletzt dadurch bestätigt, daß der damalige Regierungschef, der Kardinal Fleury, den Klub 1731 verbieten und schließen ließ. In einem Brief an Saint-Pierre begründete Fleury diesen Schritt mit dem Hinweis, man befasse sich in diesem Kreis in einer für den Staat unakzeptablen - weil, so muß man wohl hinzufügen, in seinen Wirkungen unkontrollierbaren - Weise mit „des ouvrages de politique. Comme ces sortes de matières conduisent ordinairement plus loin qu'on ne voudrait, il ne convient pas qu'elles en fassent le sujet." 3 6 Schon dieser kurze Blick auf den Lebensweg des Abbé de Saint-Pierre zeigt, daß man ihn im Zentrum der französischen Frühaufklärung verorten muß, war er doch „strategically placed near the very center of early eighteenth-century French scientific, legal, and political thought, took füll advantage of his position to know the intellectual currents, the chief Personalities, and the major events of his day." 37 Es ist nicht zuletzt dieses „large réseau des rapports qu'il a entretenu avec les hommes de culture ainsi qu'avec des hommes politiques français et étrangers", das trotz der genannten Rezeptionsbarrieren zu jenem Nachwirken seines Denkens geführt hat, zu jener Präsenz und jenem zuweilen verkannten Einfluß, wie sie das gesamte 18. Jahrhundert hindurch bis hin zur Revolution dokumentierbar sind. 38 Für die Entwicklung von Saint-Pierres Denken wie für die Entstehung frühaufklärerischer Positionen bildete die Querelle des anciens et des modernes von den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts an gleichsam den Katalysator der zeitgenössischen Tendenzen der Verall-
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Vgl. hierzu die Zeugnisse des Marquis d'Argenson und Bolingbrokes, die von Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, pp. 78 f., anführt werden. Marquis d'Argenson, zit. n. Goumy, Etude sur la vie, p. 51. Vgl. ausführlich hierzu d'Argenson, Histoire des conférences de l'Entresol. Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 78. Koselleck, Kritik und Krise, S. 54; den Brückenschlag ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts vollzieht Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 89. Schreiben des Kardinal Fleury an Saint-Pierre, 11. August 1731, zit. n. Goumy, Étude sur la vie, p. 55. Perkins, The Moral and Political Philosophy, p. 24. Bottaro Palumbo, 'De justice paix, de paix abondance', p. 47; vgl. hierzu auch ebd., S. 47 ff.
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gemeinerung theoretisch und praktisch gerichteter Strömungen des neuzeitlichen Rationalismus. In dieser sich über Jahrzehnte hinziehenden, immer wieder neu aufflammenden Debatte formen sich Saint-Pierres Bewußtsein und seine Positionen, ergreift er entschieden Partei und übt selbst nachhaltigen Einfluß aus. Schon bald, nachdem die Querelle 1687 offen ausgebrochen war, verlor sie ihren zunächst auf die Frage nach der Überlegenheit von Literatur und Kunst in der Antike oder in der französischen Klassik beschränkten Charakter. Ihr unmittelbarer Ausgangspunkt war der unpolitisch erscheinende Eklat gewesen, den Charles Perrault am 27. Januar 1687 in der Académie française mit der Verlesung seines Lobgedichts auf Le siècle de Louis le Grand ausgelöst hatte, in welchem er dieses Zeitalter zum Gipfelpunkt der zivilisatorischen Entwicklung erklärte. 39 Diese Rede rief entschiedenen Protest hervor, da sie die Dominanz der antiken Kunst und Literatur radikal in Frage stellte. Dieses Ereignis bedeutete zunächst den Auftakt zu der sich über Jahrzehnte hinziehenden Querelle um die Frage nach der Vorbildlichkeit der Kunstwerke und ästhetischen Normen der Antike; im Zentrum stand also die Frage, inwiefern die „Anciens [...] sont les sources du bon goût et de la raison, et les lumières destinées à éclairer tous les autres hommes", und ob sie gar schon „ont tout inventé". 40 In diesem Falle nämlich könnte „das Vollkommene" nur mehr „durch Nachahmung der Alten" erreicht werden. 41 Dem gegenüber vertrat Perrault die Auffassung, „que cette grande preference qu'on donne aux Anciens sur les Modernes, n'est autre chose que l'effet d'une aveugle & injuste prétention", und „qu'il n'y a aucun Art ny aucune Science ou mesme les Anciens ayent excellé, que les Modernes n'ayent portez à un plus haut point de perfection". 42 Dieser Disput weitete sich rasch zu einem Prozeß philosophischer und wissenschaftlicher Selbstreflexion aus und wurde zum Anlaß, ein umfassendes neues Selbstverständnis der Moderne zu entwickeln, welches das Bewußtsein seiner Überlegenheit über die Antike aus den methodischen Prinzipien und sachlichen Erkenntnissen der neuzeitlichen (Natur-)Wissenschaften bezog und auf der Idee eines kontinuierlichen geschichtlichen Fortschritts basierte. 43 Die Querelle markiert den historischen Zeitpunkt, an dem die Verallgemeinerung jener Revolutionierung der Wissenschaften einsetzt, wie sie sich seit der ersten Hälfte des
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Vgl. hierzu Gembicki/Reichardt, Progrès, S. 109 ff., die Perraults umfangreiche, in den Jahren bis 1697 hierzu erschienene Schrift als „eine wahre 'machine de guerre'" bezeichnen, „die während des ganzen 18. Jahrhunderts die literarische Debatte anregen sollte" (ebd., S. 110). Fontenelle, Digression sur les Anciens et les Modernes, pp. 147 u. 149. Jauß, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion, S. 48. Perrault, Parallèle des anciens et des modernes, I, pp. 104 f. - Francis Bacon ist der Stammvater dieser Kritik an dem .Ansehen der Alten und [der] Verehrung großer Namen in der Philosophie und daraus erfolg[endem] Nachbeten", wodurch der „Gang der Wissenschaft zurückgehalten und gleichsam festgebannt" werde (Bacon, Novum Organum, § 84, S. 62 ). Denn für ihn sind „nicht blos die Ueberschätzung alter Autorität und blinder Beifall derselben [...] die Veranlassung des Stillstands der Erfindungen, sondern ebensowol das müßige Anstaunen von Erzeugnissen, welche wir schon längst besessen haben" (ebd., § 85, S. 63). Zu Bacons Einfluß auf die französischen Aufklärer vgl. White, The influence of Bacon. Ein wichtiges Dokument dieser Debatte ist Fontenelles 'Digression sur les Anciens et les Modernes' (1687), in welcher er erklärt, aufgrund der prinzipiellen Gleichheit der Menschen aller Gegenden und Zeiten seien die Nachgeborenen den Alten gegenüber im Vorteil, da sie vom akkumulierten Wissen ihrer Vorgänger ausgehen und den prinzipiell unbeschränkten Erfahrungs- und Wissenshorizont kontinuierlich ausbauen können (vgl. Krauss, Vorwort zu 'Fontenelle und die Aufklärung', S. 28 ff.). Diese Konzeption wird, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, von Saint-Pierre aufgegriffen und fortgeführt.
Saint-Pierre und die politische Philosophie i m Zeitalter der Aufklärung
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17. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Naturerkenntnis vollzogen hatte und mit den Namen Galileis, Descartes' und Newtons verbunden ist.44 Die Prinzipien des methodischen Zweifels, der Kritik an unhinterfragbaren Autoritäten und der Gewinnung und Überprüfung allen Wissens auf dem Wege von Erfahrung und vernünftiger Einsicht werden zunehmend auf die Bereiche von Philosophie, Wissenschaft und Theologie übertragen. Was Diderot 1765 von dem Prinzip der Kritik erklärt hat - „Tout est soumis à sa loi"45 - , nimmt hier seinen Ausgang.46 Zugleich führen aber die aktuellen und langfristigen Entwicklungen im Frankreich des ausgehenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts dazu, daß sich diese Debatten zunehmend über die Sphäre der Erkenntnis und der Kunst hinaus auch auf das Verständnis von Geschichte und Gesellschaft auswirken; es hat demzufolge durchaus nicht erst bis zu Turgot oder Condorcet gedauert, bis das spezifisch 'moderne' Verständnis von Vernunft und Fortschritt auf konkrete Probleme von Geschichte und Gesellschaft übertragen wurde.47 Ein Beleg genau dafür ist - wie sich zeigen wird - das politische, gesellschaftstheoretische und geschichtsphilosophische Denken des Abbé de Saint-Pierre. Die säkularen Umbrüche in den gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen im Übergang zur modernen bürgerlichen Gesellschaft, im Prozeß der Herausbildung der Strukturen des modernen Zentralstaats und in der Entstehung des neuzeitlichen wissenschaftlichen und religiösen Weltbildes werden in der zweiten Hälfte der Regierungszeit Ludwigs XIV. aufgrund zahlreicher Krisen und Spannungen verstärkt spürbar; zu erinnern ist hier nur an die gewaltigen Lasten der absolutistischen Expansionspolitik, an die Entmachtung des feudalen Adels durch die Zentralisierung staatlicher Herrschaft, an die repressive Politik gegenüber Hugenotten und Jansenisten wie auch gegenüber der in diesem Prozeß entstehenden 'kritischen Intelligenz'.48 All diese Entwicklungen und Konfliktfelder provozierten vor allem seit der Wende zum 18. Jahrhundert Neuorientierungen und eine zunächst noch im Bereich der literarischen Produktion und der entstehenden neuartigen Formen der Öffentlichkeit von Cafés, Salons und Akademien verbleibende Opposition, in der die neuen, kritischen Verfahren philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnis auf immer weitere Bereiche der geschichtlichen Wirklichkeit angewendet werden, so daß die gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen, Mechanismen und Handlungsweisen zunehmend unter den Druck des Ausweises ihrer Vernünftigkeit und Legitimität geraten.49
Gembicki und Reichardt (Progrès, S. 108) sprechen von den modernes als einer „Generation von 1660", die aus der „Fülle naturwissenschaftlicher Entdeckungen von Galilei bis Newton [...] ein neues Bewußtsein" gewonnen habe, aus denen sie insbesondere „in der langdauernden Debatte der 'Querelle des anciens et des modernes' [...] ihre entscheidenden Argumente" beziehen konnte. Diderot, Salon de 1763, zit. n. Koselleck, Krise und Kritik, S. 97. Vgl. Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung, S. 16, der festgestellt hat, daß „das 'Zeitalter der Aufklärung' [...], die Umorientierung im Denken [...] schon in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts" begonnen hat. Vgl. Fetscher, Politisches Denken, S. 427. Insofern spricht einiges für Hazards Urteil, wonach in diesen Jahren die Inhalte der Aufklärung des folgenden Jahrhunderts schon vorweggenommen worden seien; verglichen mit diesen erschienen „die Kühnheiten der Aufklärung in der nach ihr so benannten Epoche [...] blaß und bescheiden [...]. In den Jahren, die das 17. Jahrhundert beschlossen, hat eine neue Ordnung der Dinge begonnen" (Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, S. 514-515). Vgl. als ersten Überblick Mandrou, Staatsraison und Vernunft, S. 36 ff., 131 ff. Vgl. insgesamt hierzu Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit; s. a. Koselleck, Krise und Kritik, Kap. 2.Ü u. 2.IV. - Innerhalb dieses Prozesses bildet die sog. „reaktionäre Opposition" der feudal-ständischen Kreise eine eigentümliche Mischung mit fortschrittlichen, aufklärerischen Kräften, was zu unterschiedlichsten
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Vor dem Hintergrund dieses Prozesses sind Saint-Pierres Wirken und seine Schriften zu betrachten und zu bewerten. Schon als Person verbindet er die heterogenen Kreise, aus denen heraus sich die Aufklärungsbewegung und ihr Verständnis von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik entwickelt haben. Er konnte jene Erfahrungen verarbeiten, die er im Umkreis der politischen Führungsschicht und der oppositionellen Kreise in Versailles und im Palais Royal ebenso sammeln konnte wie als Mitglied der Académie française oder als Teilnehmer an den Diskussionen in den entstehenden Clubs und Salons der literarisch, philosophisch und politisch interessierten und engagierten Kreise. Zwar steht Saint-Pierre anfangs der aristokratischen Reformbewegung um Vauban, Fénelon, Saint-Simon oder Boisguilbert nahe, die scharfe Kritik an den ökonomischen und sozialen Folgen der absolutistischen Politik übten und ihre Hoffnungen auf den Duc de Bourgogne setzten.50 Dennoch bricht SaintPierre radikal mit dem Verständnis von Geschichte, Gesellschaft und Politik, wie es in diesem Kreis vorherrschend und im ganzen noch an der Rückkehr zur vorabsolutistischen, die Privilegien des Adels wiederherstellenden 'alten Verfassung' orientiert war.51 Demgegenüber erweist sich Saint-Pierre als ein wegweisender Vorkämpfer und Vertreter aufklärerischen Denkens, dessen philosophische und politische Dimensionen im folgenden näher beleuchtet werden sollen.
Kombinationen von ständisch-reaktionären, absolutistischen und aufklärerischen Positionen führte; vgl. hierzu Göhring, Weg und Sieg der modernen Staatsidee, S. 130 ff., Wade, The Structure and Form, I, pp. 318 u. 494, Jacob, The Radical Enlightenment, pp. 146 ff. Vgl. Fetscher, Politisches Denken, S. 431 ff., der insbesondere auf Fénelon Absolutismuskritik und Vaubans Pläne zu einer Reform der ökonomischen und sozialen Lage und des Steuerwesens als drängendstem der Probleme der Zeit hinweist. Zwar beruft sich Saint-Pierre bei seinen innenpolitischen Reformvorschlägen stets auf die Pläne des Duc de Bourgogne, die dieser seines Erachtens nach dem Tod des Sonnenkönigs verwirklicht hätte, wenn dies nicht sein früher Tod 1712 verhindert hätte (vgl. etwa Saint-Pierre, Projet pour perfectioner le Gouvernement, Ouvr., m , p. 10, 40 f., 89, 232, 234). Doch diese Berufung auf den Duc erfüllt für Saint-Pierre die gleiche Funktion, die jene auf den Grand Dessin, den vermeintlichen europäischen Friedensplan Heinrichs IV. und seines ersten Ministers, Sully, im Projet de paix perpétuelle hat (vgl. unten, S. 143, Anm. 80): sie dient zur Legitimierung von Vorhaben, die inhaltlich mit den Absichten und Interessen dieser bourbonischen Fürsten denkbar wenig zu tun haben; vgl. im Hinblick auf das Friedensprojekt Seroux d'Agincourt, Exposé des projets de paix perpétuelle, p. 46 ff.
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II.2 Vernunft und Geschichte: Die geschichtsphilosophische und anthropologische Grundlegung politischen Denkens „... le tems est à nous". (Saint-Pierre, 1734)
Saint-Pierres Begriff von Politik und seine Bestimmung der Bedeutung und Ziele politischer Wissenschaft gründen in einer Konzeption von Vernunft und geschichtlichem Prozeß, die sich in besonderer Weise von den überkommenen Traditionen politischer Philosophie abheben. Die lebhaften zeitgenössischen Diskussionen um die Positionsbestimmung der modernes in der Entgegensetzung zu den überkommenen philosophischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Traditionen werden von Saint-Pierre gleichsam als Katalysator benutzt für die Ausbildung und Schärfung eines ganz neuen Verständnisses rationaler Philosophie und Wissenschaft und ihrer Beziehung zur gesellschaftlichen Praxis. Die von Saint-Pierre in der Auseinandersetzung mit den Verfechtern der Tradition entwickelte Überzeugung, daß Aufklärung und vernünftige Einsicht das theoretische und praktische Verhältnis der Menschen zur Wirklichkeit prägen können und sollen, weisen ihn als einen frühen Vertreter des aufklärerischen Denkens aus. Mit Recht ist hierbei vor allem darauf hingewiesen worden, daß er „ein glühender Vertreter der Fortschrittsidee" war, wobei er unter „'progrès' [...] wie die philosophes Diderot und d'Alembert stets ein Fortschreiten der Vernunfterkenntnis" verstand. 1 Die Originalität und Radikalität, insbesondere die Reichweite dieser Position ist jedoch bisher zumeist unbeachtet geblieben. Dabei entwickelt SaintPierre der Sache nach nichts weniger als eine geschichtsphilosophische Untermauerung eines wesentlich praxisorientierten Perfektibilitätsgedankens, wie er im neuzeitlichen Fortschrittsdenken zum Allgemeingut geworden ist. An die Stelle der bisher dominierenden naturalistischen oder zyklischen Geschichtsvorstellungen 2 rückt bei Saint-Pierre wie bei seinem Freund Fontenelle die Auffassung, daß Geschichte ein einheitlicher, vorwärtsgerichteter Prozeß ist. Diese Idee treibt Saint-Pierre in seinen Schriften weiter und entwirft ein Selbstverständnis der Moderne, wie es dem neuzeitlichen Denken insgesamt und selbst noch dem ihm korrespondierenden Alltagsbewußtsein zugrunde liegt: Erstmals wird bei ihm Geschichte als ein beständiger Prozeß des Fortschreitens begriffen, der einerseits alle Bereiche des geistigen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens erfaßt, der andererseits Resultat des bewußten Erkennens und Handelns der gesellschaftlichen Subjekte ist. Diese Position ist bereits in seinem Friedensprojekt von 1713 zu identifizieren. Hier schon wurden die Fortschritte in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zur Idee eines allgemei-
Hömig, Der Abbé de Saint-Pierre, S. 53. Allgemein zu diesen Konzeptionen Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik; knapp (und mit Bezug auf Rousseau) informiert Müller, Anthropologie und Geschichte, S. 250 ff.
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nen historischen Fortschritts zusammengeschlossen 3 und in bemerkenswerter Weise mit der „amélioration de l'organisation juridique interne et internationale" verknüpft. 4 Den Rahmen von Saint-Pierres Konzeption des historischen Fortschritts bildet seine Lehre von den vier aufeinanderfolgenden Stadien der geschichtlichen Entwicklung. Diese Stadien habe die Menschheit zu durchlaufen bzw. - was das letzte Stadium der Vollendung der gesellschaftlichen Entwicklung anbetrifft - noch abzuschließen, um vom vorgesellschaftlichen Naturzustand, in dem Gefahr, Elend und früher Tod drohen, zu jenem goldenen Zeitalter zu kommen, in dem die Errichtung eines Systems des universellen Rechtsfriedens allgemeine Sicherheit und Wohlstand erlaubt. 5 Demzufolge kann für Saint-Pierre das 'Goldene Zeitalter' der höchsten kulturellen und gesellschaftlichen Blüte nicht in der Vergangenheit gesucht werden, sondern es kann erst in der Zukunft erreicht werden, und zwar als Resultat eines menschheitsgeschichtlichen Lern- und Entwicklungsprozesses, welcher „toutes les Nasions qui ont été & qui seront sur la terre" umfasse. 6 Die Alten befanden sich seiner Ansicht nach im Stadium eines 'eisernen Zeitalters', 7 in dem sie gleichsam noch in der Kindheit der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Vernunft lebten, 8 da sie erst damit begannen, jenes Wissen zu erlangen und die Techniken zu entwickeln und anzuwenden, derer er bedurfte, um die gesellschaftlichen Grundlagen für die Realisierung des 'âge d'or' zu schaffen. Saint-Pierres gesamtes Werk wird vom geschichtsphilosophischen Vertrauen in den „progrez nécessaire & indéfini de la Raison humaine" und in die „aquizition perpétuelle de nouvelles lumières naturelles & de la raizon universelle" 9 getragen. Dieses Vertrauen gründet in der Überzeugung von der prinzipiell unbeschränkten Lernfähigkeit und Perfektibilität der Menschen und der Hoffnung, daß sie sowohl in technischer als auch in praktischer Hinsicht von dieser Disposition Gebrauch machen und ihre Lebensverhältnisse so gestalten, daß sie dem Glück und „la plus grande utilité" der Menschen zugute kommen. 10 Damit beugt 3
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Vgl. die Beschreibung des Fortschritts in den unterschiedlichen Wissenschaften und Wirklichkeitsbereichen und ihres Zusammenhangs mit den gesellschaftlichen Handlungen und Einrichtungen in Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 214 ff. u. 226 ff. Goyard-Fabre, Introduction, Présentation, Notes, p. 504 Anm. 21. Zu diesem geschichtsphilosophischen Modell der menschlichen Gattungsgeschichte vgl. 'Céte metode amènera à l'âge d'or' des 'Projet pour perfectioner le Gouvememen des Etats' in Saint-Pierre, Ouvr., ED., pp. 2 2 5 232; wichtig für Saint-Pierres geschichtsphilosophische Fortschrittsidee sind insbesondere seine 'Observasions sur le progrèz continuel de la Raizon Universel', Ouvr., XI, pp. 257-316 (erweiterte Fassung in: Ms. Neuchâtel, R 210), sowie die 'Conséquances du progrez nécessaire & indéfini de la Raizon humaine, malgré les interruptions des guerres', Ouvr., XV, pp. 100-112. So lautet nach Saint-Pierre, Observasions sur le progrèz continuel, Ouvr., XI, p. 274, die Bestimmung von „le janre humain". Saint-Pierre spricht vom „âge de fer" als erster Stufe der Menschheitsentwicklung (Projet pour perfectioner le Gouvernement, Ouvr., III, pp. 225 ff.). Vgl. Saint-Pierre, Sur le grand homme, Ouvr., XI, p. 51 : „ces Anciens [...] vivoient dans l'anfanse de la raison humaine". Saint-Pierre, Conséquances du progrez nécessaire, Ouvr., XV, pp. 100/105. Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., II, p. 242. - Seine Bestimmung der Begriffe von Glück und Nutzen verweisen direkt auf den Utilitarismus und den Materialismus der Aufklärung: „Rien n'est precieux, rien n'a réellement de valeur ou de prix pour nous qu'à proportion que nous pouvons en tirer ou plaisir ou cessation de douleur, qui est une sorte de plaisir. [...] Les hommes sont hureux à proportion qu'ils sont délivrez de plus de maux & plus grans & à proportion qu'ils sentent plus de plaisirs & plus grans;
Vernunft und Geschichte: D i e Grundlegung politischen Denkens
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Saint-Pierre also Annahmen eines historischen Automatismus vor. Zwar besteht für ihn kein ernsthafter Zweifel daran, daß ein solcher Fortschritt zumindest langfristig tatsächlich stattfinden wird, doch gleichzeitig weist Saint-Pierre bereits explizit darauf hin, daß es dafür keine letzte geschichtsphilosophische Gewißheit und Garantie gibt. Bei Saint-Pierre kann aufgrund dieser Rückbindung des Fortschritts an das praktische Handeln der Menschen folglich nicht einfach, wie es das seit Rousseau weit verbreitete Bild von ihm nahelegt, von einem ,,trunkene[n] Vertrauen auf die Macht der Vernunft" gesprochen werden, welches „zur Proklamierung des Gesetzes eines unendlichen Fortschritts" führe. 11 Denn bei Saint-Pierre sind Aussagen wie jene, daß „l'esprit humain va toûjours en croissant", stets an die Bedingung gebunden, daß „les Nations policées ne retombent dans la Barbarie, & dans l'impolice", denn: „elles peuvent y retomber". 12 Der Fortschritt ist demzufolge nichts, was notwendig eintritt und unabhängig vom Handeln der Individuen und Staaten wäre. Vielmehr findet das Vorwärtsschreiten auf dem Weg zu einer vernünftigen Gestaltung der Wirklichkeit Saint-Pierre zufolge dann nicht statt, wenn die Menschen die bestehenden und wissenschaftlich demonstrierbaren Chancen zu ihrer Verwirklichung nicht ergreifen und die Hindernisse, die ihr entgegenstehen, nicht aus dem Weg räumen, d. h. eben jene „obstacles [...], qui non seulemant ont rétardé son [d. i., der Menschheit; O.A.] progrèz, mais qui l'ont au contraire fait réculer en diférans pèys & en diférans siècles vers l'ignoranse & vers l'inprudanse". 13 Die stets drohende Gefahr eines Rückschlags im Hinblick auf die objektiv bestehenden Möglichkeiten des geschichtlichen Fortschritts durch innergesellschaftliche Konflikte oder äußere Kriege 14 gründet jedoch nach Saint-Pierres Auffassung eben darin, daß, wie die Analyse der grundlegenden Prinzipien und Mechanismen des menschlichen Handelns zeige, die Vernunft gerade nicht als die treibende Kraft der Geschichte angesehen werden kann. Vielmehr legt er seiner politischen Philosophie eine Anthropologie zugrunde, die mit wesentlichen Grundzügen derjenigen von Thomas Hobbes identisch ist.15 Wie bei diesem ist auch
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& les maux & les biens sont plus grans à proportion qu'ils sont plus sensibles & plus durables" (ebd., Ouvr., D, p. 240). Zur Rede von der Möglichkeit einer potentiell grenzenlosen „perfection des hommes" vgl. ders., Observations sur le Ministère Général, Ouvr., VI, pp. 7 f. Dietze, Charles Abbé de Saint-Pierre, S. 22; diese falsche Fährte hatte Rousseau schon wirkungsvoll in seinen Confessions, p. 422, gelegt, als er schrieb, der Abbé habe die Auffassung vertreten, „que les hommes se conduisoient par leurs lumières plustôt que par leurs passions." - Auch wenn Saint-Pierre zweifellos von der Unwiderstehlichkeit des sich real vollziehenden Fortschritts überzeugt ist: systematisch macht es einen entscheidenden Unterschied, ob man den Geschichtsprozeß handlungstheoretisch relativiert oder selbst zum Subjekt hypostasiert, indem man von der „großen Künstlerin Natur" (Kant, Zum ewigen Frieden, S. 360 u. ff.) oder der „List der Vernunft" in der Geschichte (Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 49) spricht. Saint-Pierre, Projet de paix, DI, p. 449. Saint-Pierre, Observasions sur le progrèz continuel, Ouvr., XI, p. 277. - Diese gleichsam „handlungstheoretische" Begründung der Geschichtsphilosophie bildet die Voraussetzung von Saint-Pierres Versuchen, historische Erfahrungen und Beispiele als Anregung und Modellfall konkreter Lernprozesse nehmen zu können; vgl. in diesem Sinne seine Rezeption der Verfassungsstruktur des Alten Reichs; unten, S. 168 ff. Auf diese Gefahren verweist Saint-Pierre in einem 1713 entstandenen Manuskript 'Observation sur le genre Historique', Ms. Neuchâtel, R 175, p. 10. Saint-Pierre hat die Konsequenz der Argumentation von Hobbes besonders hervorgehoben (Observations sur le Ministère Général, Ouvr., VI, p. 128) und verdankt ihm - wie noch gezeigt wird - hinsichtlich wesentlicher Bestimmungen seiner Moral- und seiner politischen Philosophie mehr, als dies vordergründig der Fall zu sein scheint (vgl. hierzu Perkins, The Moral and Political Philosophy, pp. 52 ff.). Daß dieser Einfluß nicht nur von
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bei Saint-Pierre das Streben nach Selbsterhaltung dasjenige Prinzip, auf welchem alles menschliche Handeln basiert: „Les h o m m e s n'agissent, durant leur vie, que pour diminiier leurs maux, ou pour augmenter leurs biens. La crainte de la douleur, le dézir du plaizir, voilà le seul ressort de toutes les actions des Hommes." 1 6
Da für Saint-Pierre also der Primat der Leidenschaften gilt, so ist von Natur aus nur dasjenige gut oder böse, was dem ursprünglichen Interesse an Selbsterhaltung und an der Verbesserung des Lebens förderlich bzw. was ihm entgegengesetzt und damit schädlich ist. Obwohl die Vernunft dasjenige Instrument ist, durch das die Individuen in die Lage versetzt werden, abzuwägen, welches die allgemeinen Bedingungen sind, um die erstrebten Güter zu erreichen und die gefürchteten Übel zu meiden, ist die Vernunft alleine doch nicht in der Lage, diese Bedingungen für alle verbindlich zu formulieren und ihnen dauerhaft Geltung zu verschaffen; die Vorherrschaft der Leidenschaften macht die stets richtige Einschätzung des wohlverstandenen Eigeninteresses unmöglich. Die Allgemeinheit der Herrschaft der Vernunft und die Möglichkeit vernunftgeleiteten Handelns selbst liegen auf diese Weise für Saint-Pierre nicht unmittelbar im Bereich individuellen Willens: Die Realisierung der Vernunft ist nur möglich, wenn sie - einerseits über Gesetze, andererseits über Erziehung - institutionell organisiert und auf Dauer sichergestellt wird, so daß dadurch die Leidenschaften beeinflußt und das Handeln und die Motivation der Akteure geprägt wird, um sie auf diese Weise in jene vernünftige Bahnen zu lenken, für deren Sicherung vernünftige Erkenntnis zwar fundamental, allein für sich genommen aber noch nicht ausreichend ist.17 „II est vrai que les h o m m e s ne se conduisent guéres que par des passions & des intérêts mal entendus [...]. Dans les Chrétiens l'intérêt spirituel a toujours à combattre contre l'intérêt sensible, & le sensible l'emporte toûjours: c'est que les h o m m e s se conduisent ordinairement par sentiment, & jamais par spéculation, à moins que la spéculation ne soit parvenue par le secours de l'habitude à être elle-même un sentiment, ce qui est rare. Les passions naissent des choses sensibles, et l'intérêt ordinaire des hommes, c'est la satisfaction de leurs passions; peu se gouvernent par raison et par motifs de Réligion." 1 8
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Zeitgenossen, sondern auch von zahlreichen Interpreten wie Goumy, Dietze, Drouet u. a. weitgehend ausgeblendet wird, hängt sowohl mit der Neuheit und Radikalität der Fragestellungen als auch damit zusammen, daß Hobbes „était alors un philosophe malaimé et, au début du XVIIIe siècle, on ne prononçait même pas son nom" (Goyard-Fabre, Introduction, Présentation, p. 542 Anm. 14) - ein Verdikt, an das sich Saint-Pierre in seinen publizierten Schriften bis auf wenige Ausnahmen gehalten hat. Saint-Pierre, Vie de Socrates et de Pomponius Atticus, Ouvr., X., p. 76. Die Vernunftskepsis wie auch die Möglichkeit, die Herrschaft der Vernunft gleichsam indirekt auf institutionellem Wege zu etablieren, indem gute gesellschaftliche Einrichtungen und pädagogische Maßnahmen die Ausbildung guter Staatsbürger mit entsprechenden Handlungsdispositionen und -motiven geschaffen werden, verweisen direkt auf ähnlich gelagerte Überzeugungen Rousseaus, wie sie paradigmatisch im Contrat social und im Emile zum Ausdruck kommen; unten, S. 196 ff. u. 198 ff. Saint-Pierre, Projet de paix, H, pp. 103 f. - Die Religion kann dabei - und auch hier erweist er sich als treuer Schüler des Hobbes' und der politiques (hierzu Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 100 ff.) - nur in ihrer staatlich sanktionierten Gestalt dem bürgerlichen Frieden dienen, während religiöse Diskussionen ansonsten „ne servent qu'à troubler les consciences, à former des erreurs et surtout des haines, des chismes et des partis dans un Etat" (zit. n. Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 17).
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Diese Analyse einerseits der 'anthropologisch' bedingten Konflikte, andererseits der prinzipiellen Konflikthaftigkeit der gesellschaftlichen Handlungsstruktur 19 führt Saint-Pierre zu der Einsicht, daß der Fortschritt der Vernunft in der Geschichte kein Prozeß mit einer unaufhaltbaren Eigendynamik ist. Zugleich verweist sie auf die Notwendigkeit praktischer Aufklärung, die das darauf gegründete, politisch-institutionell wirksame Handeln evident macht. Denn die Erkenntnis der Möglichkeit eines Scheiterns des Prozesses der Verbesserung der gesellschaftlichen Einrichtungen und Lebensverhältnisse verweist nach SaintPierre eindringlich auf die zentrale Aufgabe der wissenschaftlichen Erforschung der moralischen und politischen Gesetzmäßigkeiten, insofern sie die Bedingungen für die Wohlfahrt und Sicherheit erfassen und auf diese Weise aktiv zur Steigerung des Glücks der Menschen beitragen kann. Dies bildet für ihn den Antrieb für das politische Engagement der philosophisch und wissenschaftlich Tätigen, wie er es zeitlebens fordert, da nur die aktive Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in und zwischen den Staaten die Fortführung der historischen Aufwärtsbewegung möglich mache. Damit ist die relative Überlegenheit der Modernen über die Alten für Saint-Pierre nicht nur nicht zu bestreiten, sondern geradezu unvermeidlich, und das Bewußtsein einer solchen systematischen und allgemeinen, alle Bereiche des Denkens und Handelns umfassenden Überlegenheit der Moderne teilt er mit vielen seiner Zeitgenossen. Allzu evident erscheint schließlich die „infériorité marquée des anciens par rapport à leurs successeurs, le caractère global de la supériorité de ces derniers, qui est morale, autant que technique et politique, le rôle libérateur de la Raison et l'importance des sciences". 20 Es ist Descartes, auf dessen Leistung Saint-Pierre in diesem Zusammenhang immer wieder zu sprechen kommt und dessen Denken er als eine entscheidende Etappe im Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis und Methodik ansieht. Vor allem Descartes war es seiner Einschätzung nach, der „[a su] surpasser en raizon les plus grans génies de l'Antiquité", indem „il nous à donné plus de conoissanses vraisamblables sur la Fisique en vint ans, que dix mille Sectateurs de Platon, d'Aristote, & d'Epicure n'avoient fait en deux mile ans". 21 Diese scharfe Kritik und Abgrenzung hindert Auf diese handlungstheoretisch und rechtsphilosophisch fundamentale Dimension wird unten ausführlich zurückgekommen; vgl. Kap. n.4.2, S. 77 ff. Rouvillois, L'invention du progrès, p. 18. - Insofern spricht Baczko (Lumières de l'utopie, p. 181) zu Recht davon, bei Saint-Pierre sei „la supériorité des modernes sur les anciens [...] le point de départ de sa réflexion sur l'histoire". Saint-Pierre, Sur le grand homme, Ouvr., XIV, pp. 126/127. - Saint-Pierre drückt damit eine allgemeine Überzeugung aus, die sich nicht nur bei Pascal findet (s. u., Anm. 26 auf S. 63 f.), sondern auch bei Malebranche (Recherche de la vérité, I. IH, § n, p. 64), wenn er schreibt, „Descartes à découvert en trente annés plus de véritez, que tous les autres Philosophes", weil er den Prinzipien klarer und evidenter Erkenntnis gefolgt sei. Ebenso heißt es schließlich bei einem anderen Freund Saint-Pierres: „M. Descartes nous a appris à ne plus respecter les opinions des anciens philosophes; il nous a même appris à ne point respecter les sciences en nous montrant que dans les sciences il n'y a que la vérité qui soit digne de notre respect". Dies schreibt Varignon (zit. n. Krauss, Vorwort zu 'Fontenelle und die Aufklärung', S. 21) im Jahre 1690, also unmittelbar in jener Zeit, in der er einer der engsten Diskussionspartner Saint-Pierres war, der Varignon sogar einen Teil seines Einkommens überschrieben hatte, um dessen wissenschaftliche Studien materiell abzusichern. Es liegt nahe, daß man Saint-Pierre in jenem „nous" Varignons einbegriffen sehen kann. - Zum hier angesprochenen Wissenschafts- und Methodenbegriff vgl. weiter unten, S. 66 ff. Entsprechend negativ fällt Saint-Pierres Urteil über den Nutzen des Studiums antiker „Filosofes & d'autres Anciens" aus wie auch das über die zahlreichen Kommentare, die es zu ihren Werken gibt: da sie vollkommen überholt seien, sei die Befassung mit ihnen bestenfalls sinn- und nutzlos: „Les nouveaux Filosofes les ont tous
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Saint-Pierre jedoch nicht daran - und dies ist gerade aufgrund seiner linearen Geschichtskonzeption nur konsequent - , gleichzeitig die Verdienste der Alten anzuerkennen, insofern sie einen unverzichtbaren Grundstein des seiner Ansicht nach bisher erreichten Fortschritts bilden. Die anciens sind nicht einfach das 'ganz Andere' der modernes, sondern sie sind Teil jener historischen Kontinuität, ohne die die 'Modernen' selbst nicht denkbar wären. Wenngleich also die Beschäftigung mit den Werken eines Sokrates, Piaton, Aristoteles oder Archimedes heute nur noch von „peu d'utilité" sei, sieht Saint-Pierre in diesen Autoren doch „les premiers genies de leurs Siècles". 22 Deren Leistungen aber seien für ihre Zeit - und indirekt damit für alle weitergehenden Entwicklungen - von ebensolcher Bedeutung gewesen, wie es diejenige Descartes' für die Neuzeit gewesen seien. „Nous sommes déjà arivez à trouver, que nos plus habiles Anciens ne raisonoient pas si juste, ni si profondemant, que nos habiles d'aujourdui sur les arts & sur les sianses, & à mesure que nôtre rezon se perfexione, nôtre respect pour eux & pour leurs ouvrajes va en diminuant. Nous commansons à regarder Platon & Aristote comme excelans pour leur tems, mais seulemant comme excèlans dans le tems de l'anfanse de la rezon humaine."23
Die von Saint-Pierre im Streit der intellektuellen Strömungen der Wende zum 18. Jahrhundert erklärte Überlegenheit der modernes gründet für ihn mithin nicht in einem besonderen Genius der modernen Menschen generell oder einzelner Individuen, sondern entspringt aus dem Moment innerhalb des historischen Kontinuums, in dem sie leben und wirken. Da Saint-Pierre von der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen überzeugt ist, hängt es davon ab, in welcher Zeit und unter welchen sozialen und persönlichen Umständen jemand aufwächst, um seine Potentiale entfalten zu können; nicht die Natur, sondern die (historische) Kultur bewirkt die Unterschiede zwischen den Menschen und ihren materiellen und geistigen Erzeugnissen. 24 Wenn „nos médiocres Savans ont vint fois plus de conoissanses que Socrate & Confucius", so nur deshalb, weil sie „vivent dans un siècle vint fois plus savant & plus éclairé qu'eux". 25 Somit können sie auf dem Grundstock eines im Laufe der Geschichte akkumulierten Wissens aufbauen, welches für ihre antiken Vorläufer noch unerreichbar war. Wie der einzelne Mensch unmöglich als erwachsenes und voll ausgebildetes Wesen zur Welt kommen kann, muß auch die Menschheit erst Stadien der Unwissenheit und des Erwerbs von Wissen, technischen Fähigkeiten und institutionellen Strukturen durchlaufen, auf deren Grundlage die Lebensverhältnisse verbessert werden und ein weitergehender Fortschritt ermöglicht und erleichtert wird. Explizit parallelisiert Saint-Pierre in diesem Zusammenhang - in Fortführung von Motiven Pascals - die Entwicklungsetappen der einzelnen Menschen mit denen der Menschheit insgesamt, des „progrèz de la Raison du janre humain selon ses divers âges" mit dem „progrèz de chaque homme en particulier selon ses divers
rendus inutiles pour la Filosofie, ils ne sont plus bons qu'à faire des envelopes" (Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., II, p. 261). Auch diese Kritik an den Kommentaren, die vergangene Irrtümer perpetuieren und durch die Kaprizierung auf die Wiederholung alter Schriften den Erkenntnisfortschritt bremsen, findet sich bereits bei Malebranche, Recherche de la vérité, II. H V-VI, pp. 289-303. Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., H, pp. 262 f. Saint-Pierre, Anéantissement Futur du Mahometisme & des autres Religions humaines, Ouvr., X m , p. 239. Vgl. Saint-Pierre, Observasions sur le progrèz continuel, Ouvr., XI, pp. 265 ff. Vgl. ebenso bereits in ders., Pdp, m , pp. 443 f., 449. Saint-Pierre, Observasions sur le progrèz continuel, Ouvr., XI, p. 262.
Vernunft und Geschichte: Die Grundlegung politischen Denkens
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ages". 26 Damit vollzieht Saint-Pierre freilich keine Naturalisierung des Prozesses der menschlichen Gattungsgeschichte. Denn zwischen diesen beiden Bildungsprozessen besteht für ihn der wesentliche Unterschied, daß im Gegensatz zum Menschen der historische Entwicklungsprozeß der Gattung potentiell unendlich und nicht der zyklischen Struktur der Natur unterworfen ist, in der auf Wachstum und Blüte stets Niedergang und Tod folgt. Während die einzelne „machine humaine" sterblich und vergänglich sei, gelte dies für den allgemeinen „esprit humain" nicht: „le janre humain, étant inmortel par sa succession perpétuèle & infinie, se trouve au bout de dix mile ans plus propre à croître facilemant en Sajesse, en Raison & en bonheur, que s'il n'étoit âgé que de quatre mile ans."27 Saint-Pierre entwirft in seiner geschichtsphilosophischen Transformierung der Querelle des anciens et des modernes eine Konzeption, die auf eine konsequente Historisierung der Leistungen der jeweiligen individuellen und kollektiven Akteure hinausläuft. Obwohl er auf der einen Seite die Lehre von der überragenden Bedeutung großer Männer in der Geschichte vertritt und die Vorbildlichkeit ihres Handelns zum Inbegriff seiner politisch und moralisch reflektierten Geschichtsschreibung zu erheben scheint, 28 läßt er auf der anderen Seite aber auch schon diese personalisierende Perspektive auf historisch-gesellschaftliche Entwicklungsprozesse hinter sich und schätzt die anonymen, kollektiv erreichten Fortschritte noch höher ein, sofern sie eine breitere gesellschaftliche Wirkung erzielen und das Leben der Menschen dauerhaft verändern können. Als Beispiel hierfür führt er die Entwicklung und Verbreitung des Buchdrucks in Europa an, die zwar im Laufe der Jahrhunderte von vielen mittelmäßigen Geistern bewerkstelligt worden sei, doch dies könne „valoir cent fois davantage que tout ce que feu M. Leibnitz aleman et feu M. Neuton anglois trèz grans fiziciens, Saint-Pierre, Observasions sur le progrèz continuel, Ouvr., XI, p. 270. - Saint-Pierre greift an dieser Stelle Gedanken aus Pascals Einleitung zum Traité du vide auf und entwickelt sie weiter. Schon seit den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts hatte er sich mit dessen Schriften befaßt (vgl. Ouvr., XII, p. 87; s . a . ebd., pp. 286 ff., XV, pp. 93 ff., XVI, pp. 267 ff.) und erklärt, er schätze „la grandeur de l'esprit de Pascal" als den „plus grand esprit, plus grand genie que n'ont été Descartes, Newton, Leibnitz" (Saint-Pierre, Grans Esprits, Grans Genies. Ms. Caen, Doss. VII, p. 3). Auch Pascal hatte in allem, was innerhalb der Erkenntnis nicht auf Offenbarung, sondern auf Vernunft und Erfahrung gründet, auf die Kontinuität des Wachstums des menschlichen Geistes und Wissens gesetzt - „sa fécondité inépuisable produit continuellement, et ses inventions peuvent estre tout ensemble sans fin et sans interruption" (Pascal, Traité du vide, p. 132). Und wie Saint-Pierre hatte schon Pascal die Entwicklungsstadien der Menschheit insgesamt mit denen des Individuums verglichen und daraus gefolgert, daß sich die vermeintlichen „Alten" realiter in der Kindheit der Menschheit befanden und ein falscher Respekt ihnen gegenüber deplaziert sei (vgl. ebd., pp. 138-141). Saint-Pierre, Observasions sur le progrèz continuel, Ouvr., XI, p. 275; vgl. ebenso bereits Fontenelle, Digression sur les Anciens et les Modernes, pp. 154 f. - Aus diesem Grund geht Hannah Arendts Versuch, im gleichzeitigen Vertreten der Fortschrittsidee und der Parallelisierung von Onto- und Phylogenese einen Denkfehler erkennen zu wollen, ebenso am Kem des Problems vorbei wie die Konsequenz, die sie daraus zieht: „Wenn die Menschheit eine Kindheit kennt, dann kann sie dem Alter nicht entgehen, auf den biologischen Aufstieg folgt unweigerlich ein Abstieg; die Fortschrittsideologie ist denn auch [...] immer von einer Untergangsideologie begleitet gewesen" (Arendt, Macht und Gewalt, S. 29). Arendt unterstellt Pascal und seinen Nachfolgern eine Naturalisierung der Geschichtsphilosophie, die keineswegs zwingend ist. Zumindest im Falle Saint-Pierres ist deutlich, daß es auch ganz im Gegenteil um die Folgerungen gehen kann, die sich aus der Möglichkeit der Menschen ergeben, Geschichte praktisch zu gestalten und sich aus den Zwängen naturhafter Verstrickungen zu lösen. Vgl. hierzu unten, Kap. m.4.2, v. a. S. 169 ff.
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé de Saint-Pierre
trèz grans Geometres ont inventé de plus utile Et publié dans leurs livres pour augmenter le bonheur de la Société humaine, parce que le publiq tirera cent fois plus d'utilité de l'art de l'imprimerie que des Ecrits merveilleux de feu M. Leibnitz et de feu M. Neuton". 29 Durch diese Konzeption bewertet Saint-Pierre die Beiträge der Alten zum gesellschaftlichen Fortschritt in doppelter Hinsicht, nämlich einerseits innerhalb des jeweiligen historischen und kulturellen Kontexts, andererseits im Hinblick auf die Bedeutung, die sie für die Weiterentwicklung der Menschheit im ganzen gehabt haben. Die Bedeutung der Werke der Anciens und generell des Wissens der Vergangenheit für die Gegenwart besteht für SaintPierre demnach auf drei unterschiedlichen Ebenen: Erstens bildet dieses Wissen die unerläßliche Grundlage, die es den nachfolgenden Generationen überhaupt erst ermöglicht hat, zu der inzwischen erreichten Stufe theoretischen und praktischen Wissens zu gelangen. Darüber hinaus halten die Werke der Alten zweitens als „monumens historiques du progrèz de la Raizon humaine" 30 auch das Bewußtsein über die bisher vollbrachten und damit auch für die Möglichkeit weiterer Leistungen wach und erfüllen so gleichsam eine erzieherische Funktion. Und drittens schließlich können die Werke der antiken Klassiker seiner Auffassung nach durchaus noch als Instrumente der politischen und moralischen Belehrung dienen. Dies ist möglich, weil Saint-Pierre einerseits von der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen hinsichtlich ihrer kognitiven und technischen Fähigkeiten ausgeht, andererseits den historischen Prozeß und die gesellschaftlichen Verhältnisse als solche betrachtet, die von kausalmechanischen Gesetzmäßigkeiten und Beziehungen bestimmt werden. Aufgrund dieser Voraussetzungen ist es sinnvoll und nützlich, die einmal festgestellten Kausalitäten in den gesellschaftlichen Einrichtungen wie auch im menschlichen Handeln festzuhalten und den Menschen zu Bewußtsein zu bringen, damit sie aus den bisherigen Erfahrungen lernen und vermeiden können, einmal gemachte Fehler zu wiederholen. 31 Dieses Bewußtsein des geschichtlichen Charakters des jeweils erreichten Grades vernunftgemäßer Erkenntnisse führt Saint-Pierre schließlich auch dazu, den zu seiner eigenen Zeit erreichten Stand des Wissens über Natur und Gesellschaft nicht zu hypostasieren. Wie das Wissen der Vergangenheit, so sei auch das gegenwärtig erreichte nur als eine Zwischenetappe zu betrachten und nicht zu verabsolutieren: durch die künftig möglichen Erkenntnisfortschritte werde es überholt werden und „dans l'oubli", d. h. als weitgehend anonyme Voraussetzung in den dann weiter fortgeschrittenen Erkenntnisprozeß eingehen. 32 Die Querelle wird somit bei Saint-Pierre gleichsam zum historischen Dauerphänomen, da die Fortschritte der Vernunft in der Moderne die je neuesten Entwicklungen bald wieder
Saint-Pierre, Bibliomètre, Ms. Rouen 948, pp. 976 f. Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., II, p. 263. Deshalb plädiert Saint-Pierre dafür, die in diesem Sinne als Träger allgemeingültiger Wahrheiten fungierenden Werke der Antike zu überarbeiten und in dieser Form zu verbreiten, wie er es selbst mit den Lebensbeschreibungen Plutarchs versuchte (vgl. Ouvr., XIV, pp. 168 ff.; XI, pp. 173 ff.; Ms. Caen, Dossier m.5). - Die Auffassung von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen und die Einsicht, daß Unterschiede auf historische und kulturelle Unterschiede zurückzuführen sind, hat Saint-Pierre u. a. den Schriften Descartes' (vgl. etwa dessen Discours de la Méthode, n.4, p. 27) entnehmen können; auf Saint-Pierres Cartesianismus wird im folgenden Abschnitt zurückgekommen, auf die Idee geschichtlicher Gesetzmäßigkeiten unten, Kap. HI.4.2, v. a. S. 171 ff. Saint-Pierre, Observation sur le genre Historique, Ms. Neuchâtel, R 175, pp. 10 f.
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einholen und dem 'Alten' und 'Überholten', dem nicht länger Nützlichen zuschlagen, denn „il est de la nature du meilleur, qui est nouveau, d'anéantir le moins bon qui est ancien".33
Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., Ü, p. 248. - Daß er die eigenen Positionen davon nicht ausnimmt, illustrieren eindringlich seine stakkatoartigen Versicherungen in den Observasions sur le Testament Politique du Cardinal de Richelieu, wo er jeden Abschnitt mit der Beteuerung beschließt, daß er die Möglichkeit zu seiner zuweilen scharfen Kritik an Richelieu nur dem Umstand verdanke, daß er auf die Erfahrung der 100 Jahre zurückgreifen könne, die vergangen seien, seit dieser geschrieben habe. Nach weiteren hundert Jahren würde ihm das gleiche Schicksal widerfahren und „les Filozofes politiques mes Successeurs" würden seine Fehler und Versäumnisse gewiß ebenso geißeln; vgl. etwa Ouvr., XVI, pp. 19, 22, 25, 44.
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé Saint-Pierre
II.3 Wissenschaft und Kritik: Saint-Pierres methodisches Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis ,J^es Siences [...] diminuent tous les jours les maux causez par l'ignorance grossiere tels que sont les extravagances, & les dereglements du Fanatisme, [...] un Fanatisme furieux, turbulent & tiranique qui diminue par conséquent tris souvent & très considérablement le bonheur de la Société humaine". (Saint-Pierre, 1733)
Die Bestimmung der Begriffe, Aufgaben und Ziele von Philosophie und Wissenschaft und ihre Situierung innerhalb der Idee eines universalhistorischen Fortschritts der Vernunft ist bei Saint-Pierre keinem primär philosophischen Interesse geschuldet, sondern sie gehorcht von Anfang an einem praktisch gerichteten, aufklärerischen Impetus, der die Sphäre philosophischer Grundlagenreflexion meist schnell hinter sich läßt. Dementsprechend treibt ihn nicht das Interesse an den Auffassungen der anciens als solchen, mit deren Positionen er sich kaum einmal auseinandersetzt.1 Das Bild, das er von ihnen zeichnet, ist vor allem als ein Konstrukt, als Negativfolie zu sehen und für ihn nur von instrumentellem Wert: auf diese Weise versucht er die geistigen und materiellen Faktoren aufzuzeigen, die die weitere gesellschaftliche Entwicklung fördern oder behindern können. Die Betrachtung des Alten dient ihm insofern vor allem dazu, sich der seither vollzogenen Fortschritte bewußt zu werden, so daß der falsche, hinderliche Respekt vor ihm abgelegt werden muß, wenn die Tradition den Fortschritt nicht länger behindern soll: „l'Evidence de ce progrèz nous aidera à sortir du grand respect pour lèz lumières dez anciens, respect, qui est souvent un grand obstacle au progrèz de la raison."2 Entscheidend für die weitere Entwicklung ist somit ein prinzipiell kritisches Verhältnis zur Tradition und zu den überkommenen Autoritäten, deren Geltung nicht länger als durch sie selbst gesichert gelten kann, sondern an vernünftig nachvollziehbaren Maßstäben gemessen werden muß. Folglich ist „dans les anciens" nur noch das zu respektieren, „ce qu'ils nous prézantent de raizonable"3. Die Kritik an den anciens ist - ganz im Sinne von Kondylis' Bestimmung des Charakters der Genesis aufklärerischen Denkens im neuzeitlichen Rationalismus4 - die polemische Gestalt, in der sich das Neue in strikter Abgrenzung vom überkommenen 'Alten' zu bestimmen sucht. Dies gilt bei Saint-Pierre, der vornehmlich an der Zukunft, d. h. an der Frage nach
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Dabei würde eine solche Beschäftigung prinzipiell durchaus seiner oben skizzierten Forderung eines jeweils historisch und kulturell zu situierenden Verständnisses von Werken der Vergangenheit entsprechen; dieses 'historistisch' motivierte Interesse wird freilich aufgewogen durch den Vorrang des unmittelbar nützlichen Denkens. Saint-Pierre, Observations pour perfectioner 'Le receüil déz Ordonnances' (Ms. Neuchâtel, R 215), p. 3. Dieser übermäßige Respekt ist für Saint-Pierre nicht durch die Qualität ihrer Werke selbst erzeugt, sondern „à force de les antandre souvant louer & admirer", d. h. durch falsches Traditionsbewußtsein (ders., Anéantissement Futur du Mahometisme & des autres Religions humaines, Ouvr., Xm, p. 238). Saint-Pierre, Lettre à Mme Du Tort (1. Juli 1698), Ouvr., XVI, p. 175. Vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 20 ff. u. ö.
Saint-Pierres methodisches Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis
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dem wissenschaftlich, technisch und institutionell Machbaren interessiert ist, in doppelter Hinsicht. Zum einen nämlich propagiert er eine radikale Neubestimmung der Methoden und Aufgabenstellung von Philosophie und Wissenschaft in der zeitgenössischen Gesellschaft. Damit überschreitet er jedoch zum anderen die wissenschaftsimmanente Dimension: seine Kritik an den anciens wendet sich der Sache nach gegen die herrschenden Zustände in Wissenschaft und Gesellschaft im Frankreich und gesamten Europa der Jahrzehnte vor und nach der Wende zum 18. Jahrhundert. Saint-Pierres Bestimmung von Philosophie, Wissenschaft und Geschichte transportiert mithin eine entschiedene Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen mitsamt der überkommenen, bis dato als unhinterfragbar geltenden Strukturen und Vorstellungen des Alltags- wie des wissenschaftlichen Bewußtseins, die sie prägen, legitimieren und bisher aufrechterhalten haben. Erkenntnis-, Wissenschafts- und Gesellschaftskritik gehen bei ihm eine unmittelbare Verbindung ein. In diesem Zusammenhang ist die spezifische philosophische Argumentation und Methode zu sehen, wie Saint-Pierre sie vertritt und die er wesentlich mit dem Namen Descartes' verbindet. Sie ist für ihn kein äußerliches Moment, sondern steht im Zentrum des wissenschaftlichen Denkens, wie er es als Errungenschaft der jüngsten Zeit kritisch der Tradition entgegenstellt. In diesem Sinne ist Saint-Pierre als einer der ersten philosophes anzusehen: Er fordert, theoretische und praktische Konsequenzen aus den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen zu ziehen. Die Anfänge dieser Überzeugung wurden bereits in der Mitte der siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts gelegt, als Saint-Pierre auf dem Jesuitenkolleg in Caen erstmals in enge Berührung mit der cartesischen Philosophie kam.5 Hier lernte er die methodischen Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis kennen, an denen er zeitlebens festgehalten hat. Das cartesische Verfahren des systematischen Zweifels und die Forderung, nichts für wahr zu halten, was nicht durch die eigene Vernunft für wahr erkannt ist, bilden die Meßlatte, die er stets an wissenschaftliche Erfahrung angelegt sehen wollte: nur auf diese Weise könne die bloß angemaßte Autorität des Überkommenen - sei es im wissenschaftlichen, religiösen oder politischen Bereich - überwunden werden. Descartes nämlich habe gelehrt, „à ne nous plus soumètre en rien à l'autorité humaine", sondern von der eigenen Fähigkeit zu vernünftiger Einsicht und Erfahrung Gebrauch zu machen.6 Mit dieser Methode verbindet sich für Saint-Pierre ein spezifisches Verständnis von Erkenntnis aus Erfahrung einerseits - „voir par nos propres yeux" - , von Erkenntnis aus vernünftiger Reflexion andererseits - „faire uzaje de notre propre Raizon."7 Nur dank des methodischen Zusammenspiels von Vernunft und Erfahrung sind jene „idées claires & distinctes",8 die ersten Prinzi1736 berichtet Saint-Pierre in der 'Préface' zu Ouvr., XU! von dieser frühen „lecture des Ouvrajes de Descartes & des Cartéziens au [...] Collège" (p. 3). Saint-Pierre, Bibliomètre, Ms. Rouen 948, p. 990. Descartes „nous a apris à remètre à l'examen la plupart des opinions fausses que nous regardions comme certaines" (ders., Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., H, p. 258). Nicht auf Autorität, sondern auf das eigene Urteil kommt es an, wie Descartes in der obersten seiner Erkenntnisregeln betonte: „ne recevoir jamais aucune chose pour vraie, que je ne la connusse évidemment être telle" (Descartes, Discours de la Méthode, n.7, p. 30). Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., H, p. 264. Ausführlicher hierzu Perkins, The Moral and Political Philosophy, pp. 27 ff. Saint-Pierre, Préface, Ouvr., XIII, p. 3; vgl. Descartes' „allgemeine Regel [...], daß alles das wahr ist, was ich ganz klar und deutlich einsehe" (Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, IH.2, S. 31), oder: „Alles Wissen besteht in einer sicheren und klaren Erkenntnis" (ders., Regeln zur Leitung des Geistes,
n.l, S. 6).
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé Saint-Pierre
pien der beobachtbaren Erscheinungen analytisch aufzufinden, vermittels welcher ein sicheres Wissen der Erscheinungswelt zu gewinnen ist. Während dies bei Descartes jedoch noch auf das Gebiet der Naturwissenschaften beschränkt blieb, geht es Saint-Pierre darum, diese methodischen Erkenntnisse und Verfahrensweisen der modernen Naturwissenschaften nun auch für die Bereiche von Moral und der Politik fruchtbar zu machen. Das universell gültige, „la raison et l'expérience" 9 untrennbar verbindende Verfahren naturwissenschaftlicher Erkenntnis sollte auch zur Erkenntnis der ersten Prinzipien, der Regelmäßigkeiten und Beziehungen zwischen den Erscheinungen und damit zu einem sicheren Wissen der in diesen praktischen Sphären wirkenden Gesetze verhelfen. Es ist dieser rationalistische Beweisanspruch, der auch für die Form verantwortlich ist, in der Saint-Pierre seine vielfältigen Projekte darstellt und begründet, insofern er zwei verschiedene Ebenen wissenschaftlicher Argumentation und Demonstration für notwendig erachtet. Auf der ersten Ebene müssen demnach „durch stichhaltige Beweise die großen Vorteile" von Reformvorschlägen begründet werden.10 Überzeugt werden soll der Leser nicht durch rhetorische Künste, sondern durch ,gichtige und klare Ideen": Nicht autoritative oder emotionale Gründe sollen den Argumenten und Vorschlägen Gewicht verleihen, sondern die „exakte Analyse", „die echte Kraft des Arguments", das „der Geometrie und deren einfacher und eingänglicher Methode eigen[e]" Verfahren der ,,rechte[n] Verknüpfung richtiger und solider Überlegungen".11 Auf der zweiten Ebene der Argumentation werden die dergestalt demonstrierten Wahrheiten und Reformprojekte einerseits auf die besonderen Problem- und Interessenlagen angewendet und konkretisiert, andererseits Einwänden ausgesetzt, die sowohl auf seiten der behandelten Gegenstände als auch auf der des zu überzeugenden Adressaten für weitere Klärungsprozesse sorgen soll. „Die verschiedenen Einwände bieten Gelegenheit, den Gegenstand von unterschiedlichen Seiten aus zu beleuchten. Der menschliche Geist ist zu Recht argwöhnisch, vor allem Neuerungen gegenüber. Er verlangt Aufklärung, was den Unterschied zur bloßen Überredung ausmacht. Nun kann man diese Aufklärung vor allem dann gut bieten, wenn man ihm zeigt, daß, wie er den Gegenstand auch wenden, von welchem Standpunkt aus er ihn auch betrachten mag, wie er auch immer die mit der Neuerung verbundenen Vorteile gegenüber dem Alten wägt, im Vergleich der Nachteile des einen und des anderen das Ergebnis doch stets gleich ausfällt."12
Durch diese doppelte Bewegung soll folglich dem strengen Anspruch genügt werden, zugleich die theoretische als auch die praktische Notwendigkeit und Möglichkeit der erhobenen Behauptungen zu demonstrieren. Die aus vernünftiger Überlegung gefundenen Wahrheiten sollen dadurch auch als praktisch vernünftig gezeigt werden, daß sich jedes konkrete Individuum trotz und wegen seiner je besonderen Interessenbestimmtheit dazu gezwungen sieht, ihnen zuzustimmen.13 Diesem Verfahren ist nicht zuletzt auch die oft beklagte Weitschweifigkeit geschuldet, die Saint-Pierres Werke - und besonders sein Friedensprojekt -
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Saint-Pierre, zit. n. Perkins, The Moral and Political Philosophy, p. 37. Saint-Pierre, Polysynodie, S. 174. Ebd., S. 123. Ebd., S. 174. Vgl. zu diesem Verfahren Goyard-Fabre, Introduction, Présentation, pp. 83 f.
Saint-Pierres methodisches Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis
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auszeichnet;14 sie reflektiert eben nicht nur einen persönlichen Charakterzug, sondern den aufklärerischen Versuch, das für bewiesen Erachtete aus den verschiedensten Perspektiven zu beleuchten und allen nur erdenklichen Einwänden auszusetzen und an ihnen zu erproben. Mit seiner Forderung, alle wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Ansprüche der Überprüfung durch die eigene vernünftige Einsicht zu unterwerfen,15 sowie mit der damit verbundenen Kritik an allen Formen politischen und religiösen Fanatismus' und Aberglaubens, an Traditionen und Vorurteilen vollzieht Saint-Pierre - und hierauf wird noch näher einzugehen sein - einen kaum verhüllten Angriff auf die Strategien, mit denen die in Politik, Gesellschaft und Kirche etablierten Strukturen - und die darin enthaltenen Herrschaftsinteressen - gerechtfertigt wurden. Dementsprechend ist für Saint-Pierre die tatsächliche Bedeutung des im 17. Jahrhundert neu entwickelten Verständnisses von Philosophie und Wissenschaft in ihrer möglichen Anwendung auf die praktischen Probleme und Entwicklungen des gesellschaftlichen und individuellen Lebens zu sehen. Erst die konsequente Anwendung der „lumieres de la raizon" könne dazu führen, daß die Menschen ihre Urteile und Einsichten „sans le secours d'aucun autorizianisme, d'aucun fanatisme" treffen.16 Denn weil Descartes „nous a apris ä ouvrir les yeux & ä en faire usaje", sei es möglich geworden, das scholastische Verfahren zu durchbrechen, vermittels der Berufung auf die Alten und die Auslegung ihrer Schriften alle neuen, das traditionelle Weltbild gefährdende Erkenntnisse auszuschließen.17 Da Saint-Pierre die Forderung nach Aufklärung und rationaler Begründbarkeit über die (natur-)wissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Fragen hinaus für alle Sphären menschlichen Handelns erhebt, kommt den Versuchen, die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der politischen und gesellschaftlichen Strukturen aufzuzeigen, innerhalb seines Werkes ein zentraler Stellenwert zu. Seine politischen Konzeptionen - so könnte man die bisherigen Überlegungen zu den Grundlagen seiner politischen Philosophie zusammenfassen - basieren unmittelbar auf seinem Verständnis der Möglichkeit eines prinzipiell unbeschränkten historischen Fortschritts und der Bedeutung der methodischen Prinzipien, wie sie zu den Entdeckungen der modernen Naturwissenschaften
In den ersten beiden Bänden des Projet de paix hatte Saint-Pierre schon 70 Einwände versammelt und zu widerlegen versucht, und der dritte Band enthält nochmals zahlreiche Einwände, Beobachtungen und Versuche, die nachweisen sollen, warum das Projekt denn nun auch im wahrhaften Interesse wirklich aller Staaten und Fürsten liege. Der Erkenntnisfortschritt bemißt sich für Saint-Pierre „par l'augmantasion du nombre des démonstrasions spéculatives, soit d'ancienes véritez inportantes qui n'avoient été qu'indiquées par les Anciens, soit par l'augmentasion du nombre des nouvêles véritez inportantes non seulemant indiquées, mais ancore démontrées" (Saint-Pierre, Observasions sur le progrèz continuel, Ouvr., XI, pp. 277 f.). Zitate aus Saint-Pierre, Dialogue sur la divinité, Ms. Rouen 948, p. 537, sowie ders., Prédictions politiques, Ms. Rouen 950, p. 583. Zitat aus Saint-Pierre, Sur le grand homme, Ouvr., XI, p. 52. - Vor der cartesischen Aufklärung seien die Menschen deshalb „en aveugles" gegangen, da man die Augen vor der Wirklichkeit habe verschließen und sich auf die Auslegung durch die dafür vorgesehenen Autoritäten habe verlassen müssen: „nous étions réduits à nous citer les uns les autres, & à citer même des Anciens de deux mile ans, nous, qui aidez de leurs lumières, & des lumières de soixante générations dévions avoir incomparablement plus de conoissanses & de lumières que ces Anciens" (ebd., Ouvr., XI, p. 51).
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé Saint-Pierre
geführt haben.18 Die bisherigen, 'unaufgeklärten' Verhältnisse sieht er davon bestimmt, daß die Menschen von ihren Leidenschaften, Vorurteilen und falschen Einsichten geleitet werden und als unhinterfragbar geltenden Autoritäten und Traditionen folgen. Dem setzt SaintPierre das Verfahren rationaler Überprüfung und Rechtfertigung aller Handlungsmotive und -optionen, aller gesellschaftlichen und politischen Traditionen, Einrichtungen und Herrschaftsformen entgegen. Ihren Maßstab hat diese Prüfung in der Frage, inwiefern sie dem Ziel förderlich sind, zur Verwirklichung des Glücks, der Sicherung von Freiheit, Leben und Eigentum der Bürger beizutragen. Hier liegt der Kern des Vernunftbegriffs, den Saint-Pierre dem in Vergangenheit und Gegenwart das Denken und Handeln dominierenden kritisch entgegenhält, welches er irrational nennt, weil es das Glück - le bonheur, la bienfaisance, la justice19 - von Individuen und Gesellschaft nicht oder nur in unangemessener Weise ins Kalkül zieht. Maßstab für die Prüfung der Vernünftigkeit der politisch-gesellschaftlichen Einrichtungen und aller das Leben prägenden Verhältnisse sind für ihn „des plaisirs, des maux plus grans, plus durables & qui regardent un plus grans nombre de familles".20 Die aufgeklärten Wissenschaften haben für Saint-Pierre folglich nicht nur die alten Strukturen, Erkenntnisse und Institutionen zu kritisieren und neu zu entwerfen, sondern sie müssen darüber hinaus auch die Standards und die Schemata der Vergleichbarkeit produzieren, denen sich nicht nur die gesellschaftlichen Handlungen und Einrichtungen zu unterwerfen haben, sondern auch die Wissenschaften selbst mitsamt ihrer Inhalte und Zielbestimmungen.21 Saint-Pierre hebt somit die in der Querelle des anciens et des modernes einsetzende Differenzierung eines neuen Bildes der Natur, der Gesellschaft und des Menschen auf eine neue Stufe, indem er die Konsequenzen aus der progressiven Geschichtsauffassung und dem an empirischer Überprüfbarkeit und praktischer Nützlichkeit ausgerichteten Vernunftbegriff zieht und seine Anwendung auf die Gesamtheit der menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse fordert. Das Medium dieses Praktischwerdens der aufgeklärten Vernunft aber ist für Saint-Pierre vor allem die Politik.
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Zu den revolutionären Konsequenzen der neuen wissenschaftlichen Methoden in den verschiedensten Bereichen vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 226 f.: „les Sciences aident à perfectionner les Arts, & les Sciences Spéculatives elles-mêmes, par leurs lumières & par leurs Méthodes, peuvent beaucoup servir à perfectionner la Médicine, la Jurisprudence, la Morale, & surtout la Politique, dont dépend le bonheur des Souverains & de leurs Sujets." So bezeichnet Saint-Pierre die obersten Ziele und Inhalte vernunftgemäßen Denkens und Handelns; vgl. hierzu den folgenden Abschnitt. Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., n, p. 244. - In Saint-Pierre, dem es immer auch um „the securing of greater, more enduring material or personal gains" geht (Carter, Rousseau and the Problem of War, p. 142), hat Kingsley (French Liberal Thought, p. 61) also mit Recht „perhaps the first systematic Utilitarian" und Vorläufer Benthams erkannt, wie Keohane (Philosophy and the State, p. 365) in ihm „one of the most thorough-going utilitarians who ever lived" sieht; vgl. auch Molinari, L'abbé de Saint-Pierre, p. 22; Goumy, Étude sur la vie, p. 124. Zur Bewertung von Wissenschaft und Kunst vgl. unten, S. 75 f., Anm. 18-20.
Politik zwischen Wissenschaft und Staat
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II.4 Politik zwischen Wissenschaft und Staat ,JM Politique est le sublime de la raison." „... 16 voilà le sublime de la
Politique."
(Saint-Pierre, 1733/1734)
Eine rationale science politique oder science du Gouvernement bildet für Saint-Pierre den Kulminationspunkt, auf den die gesamten wissenschaftlichen Errungenschaften seit der cartesischen Revolutionierung des wissenschaftlichen Denkens hinauslaufen und an dem sie ihren praktischen Probierstein finden. Er geht dabei von einem Begriff von Politik aus, der sich von der Tradition des antiken und mittelalterlichen Politikverständnisses auf spezifische Weise unterscheidet und Politik nicht mehr auf die Realisierung einer inhaltlich bestimmten, aus einer vorgegebenen transzendenten Ordnung der Natur, des Kosmos oder Gottes abgeleiteten Ontologie verpflichtet.1 Politik wird bei Saint-Pierre, so könnte man in einer ersten Annäherung festhalten, als das zentrale gesellschaftliche Verfahren der Bestimmung, Einrichtung, Regulierung und Aufrechterhaltung der Staatsmaschine verstanden, deren Funktionen auf die angemessene Bestimmung ihrer Zwecke und Mittel und ihres Verhältnisses zueinander zu organisieren sind. Ihren Zweck wiederum findet sie in einer solchen Organisation des gesellschaftlichen Lebens, die jedem Individuum die Möglichkeit der freien Interessenverfolgung sichert, woraus das größtmögliche Wohl der größtmöglichen Zahl der Gesellschaftsmitglieder resultieren soll. Die auf den Staat bezogene und in ihm zentrierte Politik wird bei Saint-Pierre somit als zentraler Mechanismus verstanden, durch den über das Glück oder das Unglück von Gesellschaft und Individuen entschieden wird. Aus der Perspektive der Gesellschaftsmitglieder zeichnet sich dieses Verhältnis durch eine fundamentale Ambivalenz von Freiheit und Unterwerfung aus. Einerseits bilden die politischen und rechtlichen Institutionen für die Bürger eine ihnen mit Zwangsgewalt gegenübertretende Macht, insofern sie dem potentiellen Kriegszustand zwischen ihnen als 'un frein étranger' (Saint-Pierre) entgegenwirkt. Andererseits jedoch sollen dieselben Einrichtungen nichts als das Resultat ihres eigenen vernünftigen Willens sein, insofern ihnen die Reflexion auf die allgemeinen Bedingungen ihres Handelns zeigt, daß erst die staatlich verfaßte Gesellschaft ihre Freiheit und Gleichheit erzeugen und garantieren kann: sie verschafft die Grundlage des bürgerlichen Friedens, der die fundamentale Voraussetzung für die Verwirklichung der allgemeinen und besonderen Interessen der Menschen ist.2 Politik und Wissenschaft gehen bei Saint-Pierre eine Beziehung ein, wie sie für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Mechanismus der politischen Integration der Gesellschaft insgesamt prägend ist. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht. Zunächst entwickelt er ein Verständnis von Politik als Wissenschaft im spezifisch neuzeitlichen, im vorangegangenen Abschnitt schon angesprochenen Sinne (4.1). Darüber hinaus wird bei SaintPierre aber auch das für die Neuzeit typische Phänomen der Verwissenschaftlichung der Politik selbst zum Leitbild erhoben, insofern die politischen Einrichtungen und Verfahren ihre Vgl. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Teil I und IL Auf die vertragstheoretisehen Grundlagen und Voraussetzungen dieses Verhältnisses wird weiter unten eingegangen; vgl. Kap. n.4.2, S. 77 ff.
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé de Saint-Pierre
Legitimation aus dem freien Willen und den Interessen der ihnen Unterworfenen beziehen und entsprechend (re-)organisiert werden müssen. Dies führt auf der einen Seite zu der Notwendigkeit, die Grundlagen politischer Strukturen und Verfahren rational zu demonstrieren, was Saint-Pierre im Rahmen der neuzeitlichen Tradition der natur- bzw. vernunftrechtlichen Staatsbegründung unternimmt (4.2). Auf der anderen Seite werden die konkreten Einrichtungen und das Funktionieren des Staates und der Gesellschaft selbst zum Gegenstand (politik-)wissenschaftlicher Reflexion und Gestaltung; politische Philosophie wird zur politischen Wissenschaft, und diese versteht sich zunehmend als ein Instrument der Beratung und Dienstleistung für konkrete staatliche und gesellschaftliche Institutionen (4.3).
n.4.1
Politische Wissenschaft als Schlüsselwissenschaft der Moderne
Die Art und Weise, in der Saint-Pierre die politische Wissenschaft einführt und bestimmt, verleiht ihr gleichsam die Form und Funktion einer Art von 'Superwissenschaft' der Moderne: „L'Art de bien gouverner, ou si l'on veut la Politique, est une Sience sans comparaison plus utile à l'augmentation des biens & à la diminuation des maux de la Société humaine qu'aucune autre Sience particulière & même que toutes ces Siences ensemble, parce qu'elle embrasse toutes ces Siences entant qu'elles sont utiles tant pour l'augmentation du bonheur des hommes dans cète premiere vie, que pour augmenter leur esperance d'une immortalité hureuze".3
Saint-Pierre ist vielleicht der erste, der in dieser Schärfe die politische Umsetzung des aufklärerischen und innovativen Potentials der neuen wissenschaftlichen Methoden nicht nur fordert, sondern zur ureigensten Bestimmung ihres Wertes erhebt. Dabei bedeutet diese Erklärung keine Rückkehr zu den Bestimmungen der traditionellen aristotelischen Konzeption von politischer Wissenschaft. Zwar gilt auch in dieser Lehre die Politik als wichtigste und oberste Wissenschaft, „die sich der übrigen Künste als Mittel bedient und dazu noch gesetzgeberisch bestimmt, was zu tun und was zu lassen sei", deren „Endziel die Ziele aller anderen [umfaßt] und dieses ihr Ziel ist daher für den Menschen das oberste Gut". 4 In seiner philosophischen Begründung, praktisch-politischen Zielsetzung und seinen politisch-institutionellen Vorschlägen unterscheidet sich Saint-Pierres Auffassung jedoch prinzipiell von dem, was in der aristotelischen Lehre unter Staat, Politik und 'gutem Leben' verstanden wird. Denn ungeachtet des antiplatonischen, gegen die Idee eines absolut Guten gerichteten Impetus der aristotelischen politischen Theorie ist es bei Aristoteles das Leben in der politischen Ordnung, auf das alle anderen Gemeinschaften als ihr Telos angelegt sind, auf das sie hinauslaufen und das sie umfaßt und durchformt, das die Menschen als Selbstzweck anerkennen und realisieren müssen, da nur im Staat der Mensch zum höchsten Lebewesen wird; nur hier ist ihm zufolge Gerechtigkeit möglich und wirklich.5 Genau diese teleologische Zweckbestimmung von Staat und bürgerlichem Leben hat schließlich die Voraussetzung dafür gebildet, daß die aristotelische Politiktheorie in den Grundlagen einer christlichen Konzeption
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Saint-Pierre, Projet pour perfectioner le Gouvernement, Ouvr., DI, p. 4. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I, 1094 a/b. Vgl. Aristoteles, Politik, Buch I, 1252 al ff. sowie 1253 a.
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politischer Gemeinschaft verankert werden konnte, in der das Leben der Individuen als Teil einer übergreifenden Seins- und Heilsordnung verstanden wurde, deren letzter Zweck jenseits ihres - durchaus irdisch verstandenen - Glücks liegt.6 Im Staat, so heißt es bei Aristoteles, sei man nicht einfach aus Gründen der Nützlichkeit oder der Subsistenz, sondern eben um des „vollkommenen Lebens willen", und es obliege ihm und den durch ihn gegebenen Gesetzen, sich um die Tugend zu kümmern und „die Bürger gut [oder: tugendhaft; O.A.] und gerecht zu machen".7 Sein letzter Zweck liegt demzufolge eben nicht primär in der Sicherung des Überlebens und der materiellen Wohlfahrt der Individuen, sondern er verfolgt ein darüber hinausweisendes Ziel, einen Zweck an sich.8 Damit aber findet sich bei Aristoteles gleichsam die Antithese zu Saint-Pierres Position, für den, wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, alle Tugend und öffentliche Ordnung letztlich zur Funktion der Steigerung des individuellen Nutzens wird und sich durch diesen legitimieren muß. Jeder Bezug zur Verwirklichung einer an sich guten, ihren Zweck jenseits der Individuen und der Realisierung ihrer Interessen findenden Ordnung wird bei SaintPierre abgeschnitten; rationale Begründung von Institutionen und Verfahren bedeutet ihre Rückführung auf die berechenbaren Maßverhältnisse gesellschaftlichen und individuellen Wohlstands. In Saint-Pierres Konzeption findet das neuzeitliche, aus den Naturwissenschaften stammende Ideal der klaren und einsichtigen Erkenntnis in der Politik ihren vornehmsten Gegenstand und Zweck. Das, was bereits Saint-Pierres Wissenschaftsverständnis geprägt hatte, gilt auch und vor allem im Hinblick auf die Politik: Alle Einrichtungen und Verfahren, alle Prinzipien und Regelungen, die für das Handeln der Menschen verbindlich sein sollen, dürfen nicht mehr einfach Traditionen, göttlichen Geboten oder ähnlichen, rational nicht zu erfassenden und zu überprüfenden Quellen entspringen und unhinterfragbar Anerkennung beanspruchen, sondern sie müssen durch die Prinzipien von Vernunft und Erfahrung begründet werden - „avec le secours de la raizon seule et sans le secours d'aucun autorizianisme, d'aucun fanatisme"9 - , so daß ihnen jeder Vernunftbegabte bei angemessener Prüfung bei-
So etwa in der für das politische Denken der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Welt so folgenreichen Verbindung der aristotelischen Lehre mit derjenigen des Christentums als einer universellen Heilsordnung, wie sie von Thomas von Aquin entwickelt worden ist; vgl. Aquin, Summa theologica, q. 90 ff. Aristoteles, Politik, Buch ffl, 1280a 31 u. 1280b 24. Vgl. ebd., Buch EI, 1280 b33 - 1281 b4: „[Der Staat] ist eine Vereinigung von Haushalten und Familienverbänden, die gemeinschaftlich das richtige Leben führen, also eine Gemeinschaft zum Zwecke des vollkommenen und autarken Lebens. [...] Das Ziel des Staates ist also das richtige Leben, die eben genannten Dinge dienen jedoch (als Mittel) jenem Ziel. Ein Staat ist also eine [...] Gemeinschaft, die Anteil am vollkommenen und autarken Leben hat - damit ist, wie wir behaupten, ein Leben in Glück und vollendeter menschlicher Qualität gemeint. Man muß also feststellen, daß die staatliche Gemeinschaft um der in sich vollendeten Handlungen willen existiert, jedoch nicht um des Zusammenlebens willen". Dies erklärt Saint-Pierre im Vorwort zu seinen Prédictions politiques, Ms. Rouen 950, p. 583. - Mit dieser Wendung gegen 'Autorität' und 'Fanatismus' bringt Saint-Pierre zentrale Elemente der aufklärerischen Kritik an allen gesellschaftlichen und kirchlichen Einrichtungen und Ansprüchen an die Individuen zur Geltung, die zurückgewiesen werden, sofern sie jenseits rationaler Kriterien Gehorsam und Gefolgschaft beanspruchen; vgl. Schleich, Fanatique, Fanatisme, v. a. S. 3 ff., oder Dieckmann, Reflexionen Uber den Begriff 'Raison', S. 314: Vernunft „ist das, was den Autoritätsanspruch der Tradition und der Institutionen ablehnt. In diesem Verneinen setzt die Vernunft ihre eigene Autorität der Geschichte entgegen. Doch erkennt sie die bestehende Autorität an, sofern diese vernünftigen Normen entspricht und auf freier Zustimmung beruht. Vernunft besagt
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé de Saint-Pierre
pflichten können muß. Methodisch wendet sich Saint-Pierre gegen jede Form von Überzeugungen, die auf Tradition, Autorität oder den schönen Schein rhetorischer Überredungskunst setzen10 und nicht auf wissenschaftliche Demonstration im Sinne der „metode geometrique, qui de toutes les metodes est la plus convaincante pour les esprits qui font uzage de leur raizon".11 Im Unterschied zur wissenschaftlichen Diskussion vor Descartes, aber auch zu Positionen zeitgenössischer Autoren, lasse sie sich nicht von historischer oder faktischer Autorität blenden, sondern verlange „des preuves tirées du sujet": „il faut savoir, si ce qui a été fait a été bien fait; si ce qui a été dit a été bien dit".12 Die Beschäftigung mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen muß diesen methodischen Ansprüchen genügen. Während sich „une politique assez superficiel" mit der Sammlung und Verarbeitung der mannigfachen „faits de Politique" zufrieden gibt, folgt „un politique [...] profond" zum einen in methodischer Hinsicht den Geboten der geometrischen Darstellung, die ihre Prinzipien und Gründe aufführt und entwickelt, die Vor- und Nachteile klar abwägt; und zum anderen befaßt sie sich in inhaltlicher Hinsicht mit „la matiere la plus inportante au bonheur publiq", gibt sich also nicht mit der vorgegebenen Ordnung der Dinge zufrieden.13 Mit geradezu 'antipositivistischer' Verve nämlich wendet sich Saint-Pierre gegen ein politisches Denken, das sich auf die Verarbeitung der gegebenen „faits" beschränkt und es versäumt, vernünftigen Prinzipien empirische Geltung zu verschaffen und die Wirklichkeit mit den in ihr bestehenden konkreten Möglichkeiten - denen des „bonheur publiq" zu konfrontieren.14 Indem die Wissenschaft von der Politik auf die Verwirklichung des größtmöglichen Nutzens für Individuen und Gesellschaft abzielt, wird mit ihr Saint-Pierre zufolge der höchste Punkt des modernen Denkens erreicht. Dies drückt sich in der Stellung aus, die er ihr im Verhältnis zu den anderen Wissenschaften zuerkennt, ist sie doch wesentlich Summe und Bündelung all dessen, was in ihnen an neuen Erkenntnissen erzeugt wird.15 Die Politik ist
hier soviel wie Zurückweisung des Zwanges und der blinden Hinnahme; die Anerkennung der Autorität setzt das Verstehen des Ursprungs, der Entstehung und der Berechtigung der Autorität voraus." 10
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Vgl. Saint-Pierre, Observations sur le Ministere Interieur, Ouvr., VII, p. 198: „Le stile oratoire est proportioné au peuple, aux ignorans, aux femmes, qui ne savent que sentir, & chez qui le sens du raisonement est trop faible faute d'exercise." - Saint-Pierre teilt also offenbar die für seine Zeit typische Erklärung, Frauen würden von den Emotionen geleitet und es mangele ihnen am Sinn für verstandesmäßige Erkenntnis, erklärt sie jedoch nicht zur anthropologischen Konstante, sondern zum Resultat einer - prinzipiell änderbaren - historischen Entwicklung; vgl. hierzu weiter unten, S. 205, Anm. 76. Saint-Pierre, Observations sur le Ministere Interieur, Ouvr., VII, pp. 194 f. Ebd., Ouvr., VI, p. 124, wo es zur Methode der Alten heißt: „On persuadoit, du tems de nos ayeux, avec des faits & avec des autoritez. Mais depuis environ cent ans, que Descartes nous a courajeuzement montré que ces preuves n'étoient propres que pour des ignorans & des paresseux qui ne font nul usage de leur raison, ces faits, ces autoritez ne prouvent plus rien aux esprits supérieurs." Saint-Pierre, Observations sur le Ministère Général, Ouvr., VI, pp. 124-125; zu den konkreten Formen der geometrischen Methode vgl. weiter oben, S. 67 ff., sowie Saint-Pierre, Observations sur le Ministere Interieur, Ouvr., VII, pp. 195 ff., wo er schließt, die politischen Philosophen müßten „préférer la metode des Geometres à la metode des Orateurs" (ebd., p. 199). Hierauf wird später ausführlicher zurückgekommen; vgl. Kap. IH.4.2, S. 168 ff. „Tous les arts & toutes les Sianses font partie de la Politique" (Saint-Pierre, Observasions sur le progrèz continuel, Ouvr., XI, p. 314). Exemplarisch hierfür sind seine Aussagen zum Verhältnis von „sience du Gouvernement" und „sience du Droit publiq", vgl. ders., Observations sur le Ministere Interieur, Ouvr., VII, pp. 276-278; hierzu unten, S. 82 f.
Politik zwischen Wissenschaft und Staat
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es, die die einzelnen Wissenschaften anleitet und reguliert, die ihre Resultate aufgreift, organisiert und darauf hinwirkt, daß die Allgemeinheit von ihnen profitieren kann. Saint-Pierre plädiert mithin für eine „idée de politique complette": „une siance, un art qui ambrasse toutes les autres siances et tous les autres arts et les met en euvre pour la plus grande utilité publique; ainsi c'est la siance et l'art le plus inportant pour augmanter et multiplier les biens et pour diminuer les maux non seulemant de la première vie, mais ancore de la segonde vie".16 Damit ist die Science politique mehr als eine Tätigkeit der Sammlung, Vermittlung und Anwendung der Resultate fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnisse, wodurch sie eine bloße Hilfswissenschaft und folglich den anderen nachgeordnet wäre. Die Wissenschaft von der Politik wird gleichsam in den Rang einer 'Königswissenschaft' erhoben, die den anderen das Urteil spricht und den Wert und die Bedeutung der einzelnen Wissenschaftsbereiche und -fortschritte zu bestimmen vermag: „C'est elle qui met le veritable prix aux autres Conoissances." 17 Zu diesem Zweck verweist Saint-Pierre auf die Nützlichkeit der arithmetischen Methode für das politische Denken, durch welche es möglich sei, den Preis - und das heißt für ihn: den objektiven Wert - all der verschiedenen wissenschaftlichen und kulturellen Kenntnisse und Güter bis hin zu den gesellschaftlichen Einrichtungen und Gesetzen, aber auch den Menschen und ihren Leistungen zu bemessen und zu berechnen. Die Grundlage dieser Bestimmung ist nichts anderes als die des größtmöglichen Nutzens: „Le calcul est fondé sur un fait constant, c'est qu'il y a des plaisirs, des maux plus grans, plus durables & qui regardent un plus grand nombre de familles les uns que les autres; or telle est la mezure de la plus grande, & de la moindre utilité des monumens humains."18 In expliziter Analogie zur Quantifizierung gesellschaftlicher Gebrauchswerte im Medium des Geldes als dem allgemeinen gesellschaftlichen Tauschwert 19 wird die politische Wissen16
Saint-Pierre, Idée de politique complette (Ms. Neuchâtel, R 188), p. 1. - Diese Rede von den Folgen des individuellen Handelns für das „segonde vie" verweist auf Saint-Pierres theologische Positionen, die durch die Ablehnung einer jeden Gestalt weitabgewandter Religion geprägt sind, da für ihn der wahre Gottesdienst einzig und allein in der beharrlichen Arbeit für die Verbesserung des Lebens im Diesseits besteht. Somit ist auch die Betonung des Wertes von Religion und der positiven Folgen irdischen Handelns für das jenseitige Leben funktional auf die Verbesserung des Lebens im Hier und Jetzt bezogen. Saint-Pierre, so faßt Keohane (Philosophy and the State, p. 367) seine Überzeugung prägnant zusammen, „said that what is important about God is not whether His existence can be demonstrated, but how extraordinarily handy it is that man should believe in Him". Entsprechend radikal sind die theologischen und kirchenreformerischen Forderungen Saint-Pierres: alle religiösen Streitfragen, die das äußere Handeln betreffen und den gesellschaftlichen Frieden stören könnten, müssen durch „la simple Police Civile A du Gouvernement Seculier" beendet, d. h. der Zensur unterworfen und im Wortsinne 'zum Schweigen' gebracht werden (Saint-Pierre, Projet pour faire cesser les disputes, Ouvr., V, p. 150; vgl. V, p. 158, 168); die Abhängigkeit nationaler kirchlicher Einrichtungen von äußeren Mächten (wie dem Papst) ist ebenso aufzuheben wie das Zölibat oder das Klosterwesen, das zahlreiche Menschen dauerhaft gesellschaftlich nützlicher Tätigkeiten entzieht (vgl. u. a. ders., Sur le célibat, Ouvr., H, pp. 150 ff.; Projet pour rendre l'établissement des réligieux plus utile, Ouvr., V, pp. 67 ff.; Observations sur l'essentiel de la réligion, Ouvr., XI, pp. 5 ff.).
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Saint-Pierre, Nouveau Plan de Gouvernement, Ouvr., VI, p. 332. Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., II, p. 244; vgl. ebd., H, pp. 236 f., Observations sur le Ministère Général, Ouvr., VI, p. 26; zu den Kriterien der Vergleichbarkeit Ouvr., n, p. 251. Man könne, so Saint-Pierre, „prendre [...] l'argent pour mesure commune de la valeur des biens & des maux, comme il est deja mesure comune des denrées des Marchandizes qui nous exemtent de certains maux & qui
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé de Saint-Pierre
schaft so zu jener Instanz erhoben, die den Wert und den Nutzen aller intellektuellen Tätigkeiten und Produkte festlegen kann.20 Wenn für Saint-Pierre also nur die politische, d. h. die für die Individuen und die Allgemeinheit verwertbare Nützlichkeit die wissenschaftlichen Anstrengungen rechtfertigen kann, führt dies zu den erwähnten Konsequenzen hinsichtlich der 'internen Hierarchie' der Wissenschaften insgesamt. Das Kriterium der Utilität macht es zwingend erforderlich, die Politik zur Leitwissenschaft zu erheben, da nur die politisch-institutionellen Verfahren geeignet sind, allgemein, verbindlich und auf Dauer die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verbessern.21 Damit ordnet Saint-Pierre die Politik auch der Moralwissenschaft über, der er zunächst noch den systematischen Primat eingeräumt hatte. Bereits 1697 schreibt er in einem gleichsam programmatischen Brief an die Marquise de Lambert: „Si je m'attache davantage à la Politique qu'à la Morale, c'est que je suis persuadé que les moindres découvertes que je pourois faire dans la Politique seroient d'une bien plus grande utilité pour le bonheur des hommes, que les plus belles spéculasions de Morale que je pourois faire."22
Deutlich überwiegt der kalkulierende Blick auf den berechenbaren Nutzeffekt, und dieser spricht nach Saint-Pierre eindeutig für die Politik, und zwar nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern vor allem im Hinblick auf die Qualität ihrer Umsetzung und Verbreitung. Bei moralischen Traktaten nämlich ist die Zahl der Adressaten und die Sicherheit, daß diese sie dann auch - richtig - verstehen, ebenso klein und so ungewiß wie die Hoffnung, durch sie zu dauerhaften Verhaltensänderungen zu kommen, die sich nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich bemerkbar machen. Demgegenüber ist es die Politik, die das gesellschaftliche Handeln durch allgemeine Gesetze, die „les fondemens de toute Société" und „les réglés de la conduite des membres de ce Corps" bilden,23 so reguliert, daß es in relativ
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nous procurent certains plaisirs, c'est une grande comodité pour se faire entendre précisément & facilement sur les diférentes valeurs que de pouvoir uzer d'un terme familier & d'une mesure comune conue de tout le monde" (Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., n, p. 245). Entsprechend bezeichnet Saint-Pierre seine Methode der 'objektiven Berechnung' des Wertes von geistigen oder menschlichen Werken, bei denen „le Filozofe réduit à un poinct fixe d'argent [...] chaque avantaje" (Observations sur le Ministère Interieur, Ouvr., VII, p. 197), auch als ,3ibliomètre" (Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., n, p. 255) oder „Antropomètre" (Projet pour perfectioner le Gouvernement, Ouvr., ni, p. 232). Saint-Pierre scheut sich nicht, die komplementäre Kritik fehlenden politisch-praktischen Denkens und Engagements moderner Philosophen und Wissenschaftler unmittelbar an den Adressaten zu bringen. Wie er Descartes oder Newton dafür kritisiert, daß sie sich nicht den wirklich wichtigen Wissenschaften - also der Politik - zuwandten, so schreibt er auch 1716 an Leibniz: .J'achève un mémoire politique où j'ai l'occasion de parler de M. Descartes et de regretter qu'il ne se soit pas appliqué uniquement à la politique plutôt qu'à la physique, à la Géometrie et à la métaphysique. Mais ce même regret me prend toutes les fois que je songe à M. le Baron de Leibnitz par la comparaison que je fais dans ce mémoire de l'utilité du progrès de la politique à l'utilité du progrès des autres sciences" (Saint-Pierre an Leibniz, 14. September 1716, in: Robinet, Correspondance Leibniz-Saint-Pierre, p. 69). Saint-Pierre, Lettre à Madame de Lambert, 14.1.1697, in: Ouvr., XVI, p. 172. - So schreibt Saint-Pierre 1736 in einer Skizze seines intellektuellen Bildungsgangs, nach mehijährigem Studium der Moral „[il] n'eu[t] pas de péne à comprandre que les progrèz dans la Politique étoient ancore plus inportans à l'augmentasion du bonheur des hommes que lez progrèz dans la Morale & dans la Fizique" (Préface, Ouvr., Xm, p. 4). Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., H, p. 247 und der s., Observations sur le Ministère Général, Ouvr., VI, p. 33.
Politik z w i s c h e n W i s s e n s c h a f t und Staat
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friedlichen Bahnen verläuft - insofern nämlich die bei Zuwiderhandeln angedrohten gesetzlichen Sanktionen als größeres Übel erscheinen im Vergleich mit dem möglicherweise durch es zu erzielenden Vorteil.24 Auf diesem Wege kann der Gesellschaft jene Gesamtstruktur und Entwicklungsrichtung verliehen werden, die der Realisierung des als vernünftig und möglich erkannten Fortschritts dient. „II y a une grande diference entre un projet, qui tend à former des R e g l e m e n s utiles pour augmanter la Justice et la bienfaizance [et] un discours de morale qui tend a la m ê m e c h o s e . [...] U n bon discours de morale ne peut toucher et inspirer de sentimens de crainte et d'Esperance qu'à celui qui le lit, c ' e s t à dire un contre m i l l e qui ne le lisent point, au lieu que le bon R e glement instruit, ébranlé, excite tout le m o n d e à la Justice et à la bienfaizance." 2 5
Indem die politische Wissenschaft daran mitwirkt, durch allgemeine Gesetze und durch ein an den Interessen der Gesellschaftsmitglieder orientiertes politisch-administratives System die gesellschaftliche Wirklichkeit vernünftig zu gestalten, erweist sie sich für Saint-Pierre als die „Sience la plus importante pour le bonheur des hommes",26 als jene Wissenschaft, durch die der gesellschaftliche Fortschritt und das Glück der Bürger am sichersten zu befördern sind.27 Dieser Bestimmung von Politik als einer Wissenschaft, die nicht bloß eine spezifische Form der Vernunft in der Moderne, sondern die ausgezeichnete Form ihrer Selbsterkenntnis und praktischen Verwirklichung ist, korreliert bei Saint-Pierre eine entschiedene Forderung nach der Verwissenschaftlichung der Politik: Politik bedarf der wissenschaftlichen Inhalte und Verfahren, und zwar zum einen im Hinblick auf ihre Begründung (II.4.2), zum anderen zur Realisierung ihrer im Staat zentrierten Praxis (II.4.3).
E.4.2
Zur naturrechtlichen Fundierung politischer Wissenschaft
Politik ist für Saint-Pierre „eine Wissenschaft", die die umfassende Erkenntnis der Prinzipien, Mechanismen und Bedingungen des politischen Handelns ebenso erfordert wie die Einsicht in die Bedingungen ihrer praktischen Umsetzung.28 Deshalb muß sich Politik wesentlich auf jene Formen und Institutionen gesellschaftlicher Praxis beziehen, in der die Fortschritte, die durch die historischen und wissenschaftlichen Entwicklungen und Lempro24
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Zu den anthropologischen Voraussetzungen dieser Annahme vgl. neben den Bemerkungen oben, S. 59 ff., noch Dietze, Charles Abbé de Saint-Pierre, S. 23 ff. So Saint-Pierre, Fragmens de morale, Ms. Neuchâtel, R 262, pp. 45-46, einem vermutlich aus dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts stammenden Text. Saint-Pierre, Annales de Castel, Ms. Rouen 950, p. 217. Es ist bezeichnend, daß sich diese Bemerkungen Saint-Pierres an zentraler Stelle der von Rousseau geplanten Einleitung zu seiner Saint-Pierre-Edition finden (Rousseau, Ecrits sur l'abbé de Saint-Pierre, p. 665). In dem Sinne nämlich, in dem nach Saint-Pierre „une seule loi sage pouvoit rendre incomparablement plus d'hommes hureux que cent bons traités de morale", so daß „la politique ou la Science du gouvernement" die wichtigste aller Wissenschaften sei (Saint-Pierre, Annales de Castel, Ms. Rouen 950, p. 217), wird Rousseau es später als Ausgangspunkt seiner eigenen Lehre von den Institutions politiques bezeichnen, „que tout tenoit radicalement à la politique, et que [...] aucun peuple ne seroit jamais que ce que la nature de son Gouvernement le feroit être" (Rousseau, Confessions, p. 404); vgl. hierzu unten, S. 201 und 208 f. Saint-Pierre, Polysynodie, p. 200; vgl. ders., 'Betrachtungen zum Antimachiavel von 1740', S. 302, wo er seine Hoffnung ausdrückt, „daß zum Zweck der Vermehrung des menschlichen Glücks eine Verwissenschaftlichung der Politik eintritt."
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim A b b é de Saint-Pierre
zesse in technischer, materieller und sozialer Hinsicht erreichbar sind, so umgesetzt werden, daß sie den Nutzen und das Glück aller Gesellschaftsmitglieder befördern. Bedeutet dies einerseits die Anbindung der Wissenschaften an gesellschaftliche Nützlich- und Instrumentalisierbarkeit, so hat dies andererseits die Rationalisierung der entsprechenden gesellschaftlichen Einrichtungen und Verhältnisse zur Voraussetzung. Dies gilt insbesondere für den Staat, durch den nach Saint-Pierre alle politischen, für die Allgemeinheit verbindlichen und das gesellschaftliche Leben strukturierenden Regelungen festgelegt werden. Die Betonung der Notwendigkeit der Bindung von Wissenschaft und Politik an den Staat, wie sie in der Konzeption Saint-Pierres zu finden ist, bedeutet jedoch ihre Unterwerfung unter die 'Staatsraison', die ihnen die Zwecke vorgibt und das Recht dem bloßen Machtkalkül unterordnet.29 Ganz im Gegensatz dazu folgt aus dieser Verbindung für Saint-Pierre, daß der Staat selbst erst zu rationalisieren ist. Wenn nämlich nur durch die Vermittlung des Staates die historisch möglich gewordenen Fortschritte verwirklicht und eine unvernünftig eingerichtete Gesellschaft radikal - und das heißt hier: rational - umgestaltet werden kann, setzt dies voraus, daß der Staat selbst rational begründet und organisiert sein muß. Er muß die Prinzipien der Vernunft bereits in sich aufgenommen haben, um ihnen entsprechend handeln und sie gesellschaftlich verwirklichen zu können. Deshalb fordert Saint-Pierre nicht nur einen „nouveau plan de Gouvernement des Etats", sondern ein gänzlich neues „sisteme de Politique",30 das die Grundlagen, Institutionen und Verfahren von Politik sowohl auf gesellschaftlicher wie auf internationaler Ebene neu bestimmt. Dies aber bedeutet nichts weniger als die Forderung einer vernunftrechtlichen Begründung und Legitimation von Staat, Politik und Gesellschaft. Saint-Pierre hat niemals eine umfassende Darstellung der systematischen Voraussetzungen und Grundlagen seiner Aussagen zu den seines Erachtens notwendigen politischen Reformen und Einrichtungen geliefert, so daß sein 'sistème de Politique' aus den zahlreichen Ausführungen in seinen Schriften rekonstruiert werden muß, in denen er - in der Tradition des neuzeitlichen naturrechtlichen Denkens stehend - die Notwendigkeit von Staat und Recht demonstriert, um aufgrund dieser Herleitung Zweck und Ziel staatlicher Herrschaft und somit die Bedingungen ihrer Legitimität zu bestimmen. Methodisch gilt für ihn die Forderung, durch das Studium von „la nature de l'homme & l'origine de la société" die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufzudecken, „de s'instruire à fonds des premiers principes de la Police": „l'unique moyen de faire faire [ . . . ] à la Police de chaque Etat un grand et solide progrés, c'est de suivre exactement les premiers principes qui l'ont fait naître, & de rapeler toujours tout à ces premiers principes fondés sur la nature elle-même". 3 1
Der Grund für die Existenz des Staates ist nach Saint-Pierre das Interesse der Individuen an ihrer Selbsterhaltung, an der Vermeidung von Übeln und der Sicherung ihres Wohlstands
Zu den Konzeptionen und der Entwicklung der Staatsraisonlehren zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert vgl. Münkler, Im Namen des Staates. Saint-Pierre, Nouveau Plan de Gouvernement, Ouvr., VI, pp. 312 u. 315 Saint-Pierre, Projet de paix, IE, pp. xxiv u. xxvii (Préface).
Politik zwischen Wissenschaft und Staat
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und Eigentums.32 Der Staat muß zwar, um seine Aufgaben erfüllen zu können, seiner faktischen Stärke nach den Individuen und der Gesellschaft gegenüber absolut sein, dies jedoch folgt aus seiner Eigenschaft als Mittel und Funktion ihrer Selbsterhaltung und freien Interessenverfolgung. Um diese Beziehung zwischen Staat und Staatsbürgern, die beiden Verpflichtungen und Bindungen auferlegt, als vernunftgemäß zu begründen, rekurriert SaintPierre auf die Idee eines ursprünglichen Zustands zwischen den Menschen, in dem sie außerhalb der Institutionen eines politisch verfaßten Gemeinwesens leben.33 Diesen Naturzustand bezeichnet er, seiner Funktion gemäß, negativ durch das Fehlen jener Attribute, die den staatlich konstituierten Rechtszustand prägen: als „état d'Impolice & de non Arbitrage" oder „de la non Société",34 Wechselseitige Rechtsansprüche, Streitfälle oder die Auslegung und Einhaltung einmal getroffener Übereinkünfte bleiben in diesem Zustand stets prekär und bilden den Anlaß permanenter Konflikte. Letztlich setzt sich, solange keine allgemeine Instanz objektiver Rechtsbestimmung existiert, derjenige durch, der strukturell oder aktuell die größere Macht in Anschlag bringen und dessen 'Recht' sich als das des Stärkeren behaupten und realisieren kann. Der außerstaatliche Zustand erweist sich so als Kriegszustand, als „état de Guerre",35 in dem sich alle Akteure mit allen anderen befinden.36 Die Gründe für den Eintritt, die Dauerhaftigkeit und die Unerbittlichkeit dieses Kriegszustands können nicht allein in den Leidenschaften der Menschen gesucht werden, in der Konkurrenz um knappe Güter oder in einem auf falscher Einsicht in die eigenen Interessen begründeten Handeln. Auch wenn hier die verschiedenen empirischen Gründe für Entstehen und Permanenz gesellschaftlicher Konflikte zu finden sind, ist bei Saint-Pierre der Kriegszustand in systematischer Hinsicht nicht darauf reduzierbar. Vielmehr ist er durch das Fehlen rechtlicher Sicherheit gekennzeichnet, insofern bis zu dem Augenblick, in dem die Individuen zu „membres de quelque société permanente" werden, eine prinzipiell defizitäre Situation besteht, die durch den guten Willen zu friedlichem Handeln allein nicht aufgehoben werden kann. „leurs differens ne peuvent être terminez par des Loix, ni consequemment par les Juges ou Interprettes des loix: c o m m e ils ont le malheur d'être privez des avantages d'un C o m m e r c e perpétuel, & d ' u n e Société permanente, ils ont aussi le malheur d'être privez de l'avantage des
„Intérêt de la conservation de leur vie, intérêt de la conservation, & de l'augmentation de toutes leurs sortes de biens, intérêt de la cessation ou de la diminuation de toutes leurs sortes de maux" (Saint-Pierre, Origine des devoirs, Ouvr., H, pp. 108 f.). Diese Idee einer Begründung der Notwendigkeit von Recht und Staat durch die Konstruktion eines „status Hominum extra Societatem civilem" (Hobbes, De cive, Kap. I) scheint bei Saint-Pierre zuweilen ein historisch real vollzogener Prozeß und nicht nur eine rechtsbegründende Fiktion zu sein; so etwa in der ausführlichen Begründung der Aufhebung des Naturzustandes zwischen Individuen und zwischen Staaten im HI. Band des Projet de paix (pp. 10-147 passim). Ebenso sieht er diesen Zustand als real existerenden an, und zwar als „la situation des petits Rois d'Affrique, des malheureux Caciques, ou des petits Souverains d'Amerique: telle est même jusqu'à present la situation de nos Souverains d'Europe" (ebd., 1.7). Dieser Hinweis auf die Situation 'bei den Wilden' Amerikas oder im Verhältnis der souveränen Staaten untereinander ist ein Topos, der sich bei Hobbes (Leviathan, X m . l l , p. 187) oder Locke (Two Treatises on Gouvernment, II. 14, p. 277) ebenso findet. Saint-Pierre, Saint-Pierre, Im Hinblick im Projet de
Projet de paix, HI, p. iv; IE, p. viii u. ö.; auch ders.. Origine des devoirs, Ouvr., H, p. 118. Projet de paix, III, p. 81. auf den internationalen Naturzustand beschreibt Saint-Pierre diesen „Guerre presque continuelle" paix, I, p. v; vgl. unten, S. 113 ff.
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Vernunft, W i s s e n s c h a f t und Politik b e i m A b b é de Saint-Pierre L o i x qui distribuent à chacun ce qui lui doit appartenir légitimement. Ainsi ils s e trouvent dans la malheureuse nécessité pour avoir c e qu'ils regardent chacun c o m m e le leur, de chercher à se surprendre par la ruse, & à se détruire par la force, c'est-à-dire, par la Guerre." 37
Aus diesem Grand ist der Kriegszustand Folge jenes Hobbesianischen status Hominum extra Societatem civilem selbst und kann nur mit ihm insgesamt aufgehoben werden: Der état de guerre des Naturzustands ist nicht durch moralische Appelle, sondern nur durch neue politisch-institutionelle Vergesellschaftungsformen dauerhaft zu beenden. Nur im staatlichen Zustand gibt es einklagbare Rechtsansprüche, deren Geltung nicht vom Zufall, von der eigenen Stärke oder vom Wohlwollen der anderen abhängig ist. „Les Juges décident entre deux Citoyens de quel c ô t é est le droit, & avec l'autorité de leur Etat, qui vient de la grande supériorité de force, ils font executer la loi, & la font executer pour toujoûrs". 3 8
Ohne eine allgemeine Instanz der Rechtsprechung und -durchsetzung sind Rechte und Pflichten, die es für Saint-Pierre auch im Naturzustand gibt, rein subjektiv, d. h. alle anderen nicht verpflichtend. Solange jeder einzelne selbst der einzige Richter darüber ist, was zu seiner Selbsterhaltung und zur Vermeidung gegenwärtigen oder künftigen Unglücks notwendig ist, ist jeder noch so begründete Rechtsanspruch „un droit inutile", da es keinen anderen zur Anerkennung verpflichtet.39 Schließlich kann der einzelne Akteur niemals gewiß sein, ob nicht irgendein beliebiger äußerer Gegenstand, wenn er von anderen angeeignet wird, negative Folgen für die eigene Selbsterhaltung haben kann. Solange also der Naturzustand andauert, besteht auch die „malheureuze nécessité", Macht und Mittel zu sichern und zu akkumulieren oder andere auch präventiv zu schwächen, um ihnen nicht irgendwann zu unterliegen.40 Es ist diese naturrechtliche Analyse der Situation, in der sich die Individuen unter Abstraktion von allgemeinen Institutionen befinden, aus der Saint-Pierre seine Folgerangen hinsichtlich der Grundlagen und Ziele politischer Einrichtungen und Verfahren zieht. Aus ihr folgt die Einsicht in die Realisierungsbedingungen des Rechts auf Selbsterhaltung, Freiheit und individuelles und gesellschaftliches Glück. Nur dann, wenn es alle Individuen übergreifende Institutionen der Setzung, Auslegung und Durchsetzung allgemeinen Rechts gibt, kann dem natürlichen Recht positive Geltung verschafft und die Herrschaft der Gewalt 37 38 39
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Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 6 f. Saint-Pierre, Origine des devoirs, Ouvr., H, p. 116. Ebd., Ouvr., H, p. 117. Plastisch verdeutlicht er diese bloße Subjektivität des Rechts im Naturzustand, die aufgrund der Universalität subjektiver Rechtsansprüche dazu führt, daß sich jeder subjektive Rechtsanspruch objektiv nur zufällig und eben nicht aufgrund seines spezifischen Rechtscharakters Geltung verschaffen kann: „le droit qui n'est point décidé par des arbitres, ni soutenu par la grande supériorité de forces de ces arbitres, peut bien être un droit réèl pour un des contestans, mais c'est un droit inutile pour lui s'il est le moins puissant, tant que les contestans ne seront point en arbitrage permanent" (ebd.). Im Hinblick auf die internationalen Beziehungen formuliert Saint-Pierre diesen Umstand in 'Projet de paix', DI, pp. 115 ff. Zitat aus: Saint-Pierre, Origine des devoirs, Ouvr., H, p. 117. - Im dritten Band seines Friedensprojekts führt Saint-Pierre (Projet de paix, HI, pp. 94-95) aus, daß die Handelnden im Naturzustand „[ont] tous les jours à se craindre comme ennemies mortels, qui [...] n'auroient nulle sûreté pour leurs biens, pour leurs femmes, pour leurs enfans, & même pour leur vie, qu'en tâchant de se prévenir & de se détruire, ou par surprise ou à force ouverte: or il est évident que sans Arbitrage [...] ils seraient tous dans cette malheureuse situation de défiance & de crainte réciproque".
Politik z w i s c h e n W i s s e n s c h a f t und Staat
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durch die des Gesetzes ersetzt werden. Wie bereits für Hobbes die Funktion des Staates in der Durchsetzung eines Systems objektiven Rechts besteht,41 kann auch für Saint-Pierre erst die Existenz einer allgemeinen Staatsgewalt dafür sorgen, daß Rechtsansprüche eines einzelnen auch realisiert werden können, denn dann erst gilt, „que son droit est non seulement réèl, mais que par le Jugement des Juges, & par la supériorité de leur force ce droit réèl se change en possession réèlle".42 Ist der Staat zur Erfüllung dieses Zwecks eingerichtet worden, so ist er ihm folglich auch in seinem Handeln verpflichtet: Er ist Resultat der Übereinkunft der Individuen, die ihn gründen und sich ihm unterwerfen, weil er ihrer vernünftigen Einsicht gemäß notwendige Voraussetzung und Mittel ihrer individuellen Freiheitsausübung, ihrer Interessenverfolgung und Glücksmaximierung ist.43 „La crainte d'etre pis, l'esperance d'etre mieux. T e l s sont les deux uniques ressorts qui ont p o u s s é les familles à former entre elles quelque sorte de S o c i é t é [...], & tels sont les principes & les f o n d e m e n s de toute Société." 4 4
Demzufolge bedarf es nach Saint-Pierre des Aktes der Begründung einer politisch verfaßten Gesellschaft, d. h. des Staates, der die allgemeinen Bedingungen des gewaltfreien gesellschaftlichen Zusammenhangs garantiert: „II a falu c o m m e dans une famille particulière, o u laisser, o u doner l'autorité & la force, o u à un h o m m e seul ou à un c o n s e i l seul, & à la pluralité des v o i x , pour faire obéir malgré eux c e u x qui ne seraient pas asses sages pour obéir aux R e g l e m e n s , & pour voir que sans reglemens, sans subordination, & sans obéissance, il n'i a point de S o c i é t é à esperer, & que sans société tout mal est à craindre, & presque aucun bien n'est à esperer." 4 5
Daß Saint-Pierre diese Konsequenz nicht nur für die Individuen, sondern auch für die 'internationale Gesellschaft' souveräner Staaten zieht, zeigt - worauf in Kap. III eingegangen wird - die bemerkenswerte Tiefenschärfe seines Begriffs von Politik. Als erster hat er die Logik der Beziehung zwischen den von Natur aus freien und gleichen Individuen auf die Verhältnisse zwischen den im Entstehen begriffenen modernen Staaten übertragen, was ihn zu einer scharfen Kritik zeitgenössischer, bis in die Gegenwart hinein tradierter politischer Konzepte geführt hat, die auf die pazifizierende Wirkung des Völkerrechts oder einer Politik des Gleichgewichts setzen.46 An ihre Stelle setzt er die Einrichtung einer internationalen Rechtsgemeinschaft, wie er sie in der Begründung einer Union Européenne nach dem Vorbild der föderalistischen Verfassungsstruktur des Alten Reichs - der Union Germanique -
41
Schon Hobbes, der vermeintliche 'Erz-Positivist', hatte die Existenz natürlicher Gesetze im vorstaatlichen Zustand festgestellt (vgl. Hobbes, De cive, Kap. 2 u. 3), aber darauf hingewiesen, daß „ihre Innehaltung nur möglich ist, wenn es schon staatliche Gesetze und Zwangsgewalt gibt" (ders., De homine, p. 56).
42
Saint-Pierre, Origine des devoirs, Ouvr., II, p. 105. Und daß er, um dieser 'Pflicht', die Hobbes umfassend behandelt (vgl. De cive, Kap. XIII; Leviathan, Kap. XXX) und ihn in gewisser Weise zu einem Vorläufer des Rechtsstaatsgedankens machen (vgl. Campagna, Leviathan und Rechtsstaat), zu genügen, die Individuen in ihrer Willkürfreiheit und unmittelbaren Interessenverfolgung zuweilen deutlich einschränken muß, ist Saint-Pierre so klar wie Hobbes.
43
44 45 46
Saint-Pierre, Observations sur le Ministère Général, Ouvr., VI, p. 12. Ebd., Ouvr., VI, pp. 12 f. Vgl. hierzu den ersten Discours in Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 1-59; ausführlich zum systematischen Gehalt der naturrechtlichen Interpretation der internationalen Beziehungen unten, S. 109 ff., sowie Le Cour Grandmaison, Idées d'Europe, pp. 12 ff.
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim A b b é de Saint-Pierre
exemplarisch entwickelt und einfordert.47 Somit hat der Staat im Rahmen seiner Aufgabe, die Existenz, den Rechtsfrieden und den individuellen und gesellschaftlichen Wohlstand und Fortschritt seiner Bürger zu gewährleisten, nach Saint-Pierre schließlich die Aufgabe, sich selbst wieder in einer übergeordneten Rechtsgemeinschaft aufzuheben. Nur dann wird er nicht aufgrund der sich auf neuer Ebene erweitert reproduzierenden Dynamik des nunmehr internationalen Naturzustands selbst zur Ursache der Vereitelung des Zwecks der Herstellung jener Verhältnisse gesellschaftlichen Wohlstands und Sicherheit, in deren Realisierung der Staat seine vornehmste Aufgabe zu sehen habe.
II.4.3
Politische Wissenschaft und die Rationalisierung staatlicher Herrschaft
Aus dieser naturrechtlichen Bestimmung der Grundlagen und Aufgaben politischer Gemeinwesen ergeben sich Forderungen, mit denen die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Frankreich und Europa des 18. Jahrhunderts in keiner Weise in Übereinstimmung zu bringen waren. Durch die Reflexion auf die rationalen Grundlagen des Staates einerseits, durch seinen Begründungsversuch einer spezifischen Wissenschaft von der Politik andererseits zielt Saint-Pierre demzufolge auf eine grundlegende Neubestimmung von Staat und Politik, um das Funktionieren der öffentlichen Gewalt an diejenigen Zwecke binden zu können, aus denen sich ihre Existenz seiner Ansicht nach zuallererst begründet. Die zentrale Rolle kommt nach Saint-Pierre in diesem Umgestaltungsprozeß der politischen Wissenschaft zu, der er einen systematischen Vorrang gegenüber dem (Natur-)Recht zugesteht, da sie auf die Erkenntnis und die Umsetzung der Mittel zur Verwirklichung des Glücks und zur Vermeidung von Übeln für die Bürger und den Staat abzielt. Während die »justice ne fait qu'une partie de ce qui est utile à la Société & au gouvernement des Etats", umfasse „la sience du gouvernement [...] toutes les siences, tous les arts, tous les comerces, toutes les Loix, & generalement tout ce qui peut etre utile à la Société".48 Die Aufgabe der
Saint-Pierre entfaltet das Alte Reich als Modell ausführlich in Projet de paix, I, pp. 60-121 (hierzu unten, Kap. EI). Daß es sich hierbei nicht nur um eine Mythologisierung des Alten Reichs handelt {Roche, La France des Lumières, p. 269; Bély, Espions et ambassadeurs, p. 699), sondera daß die Parallelisierung von Europäischer Union und Altem Reich auch gegenwärtig noch einige Evidenz hat, zeigen Evers, Supranationale Staatlichkeit, oder P.C. Hartmann, Bereits erprobt: Ein Mitteleuropa der Regionen, S. 21, nach dem das Alte Reich gar „für ein Europa der Regionen [...] eine Orientierung sein" soll. Czempiel (Friedensstrategien, S. 116) urteilt im Hinblick auf die institutionellen Vorschläge Saint-Pierres für eine internationale Rechtsgemeinschaft, daß selbst „die Gründung des Völkerbundes und die der Vereinten Nationen [...] nicht über die Konstruktion des Abbé hinausgegangen" sind. Und Bély (Espions et ambassadeurs, pp. 696 ff.) zeigt detailliert, in welchem Maße das Projet de paix eine konzeptionell weit angelegte Verbindung von historischen und politischen Prozessen des beginnenden 18. Jahrhunderts und systematischer politischer und philosophischer Reflexionen ist und folgert: „Saint-Pierre pensait les relations internationales avec les concepts, les maximes, les préjugés des diplomates de son temps, même s'il s'efforçait de leur trouver une cohérence nouvelle. L'idée d'une 'société des nations', qui instaurait la société civile comme modèle, était plus révolutionnaire qu'il n'y paraît" (Bély, ebd., p. 751). Zu diesem Aspekt der Vermittlung philosophischer, historischer und politischer Elemente in der Darstellung geschichtlicher Prozesse vgl. unten, Kap. in.4. Saint-Pierre, Observations sur le Ministère Général, Ouvr., VI, p. 4. Zum Vorrang der „Sience du Gouvernement" vor der „Sience du Droit Publiq" vgl. ders., Observations sur le Ministère Interieur, Ouvr., VE,
Politik zwischen Wissenschaft und Staat
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politischen Wissenschaft besteht darin, die bestehenden Einrichtungen kritisch auf ihre Eignung, diese Ziele zu erreichen, zu überprüfen und zu ihrer Verbesserung bzw. Überwindung beizutragen. Die „etude continuelle [...] pour perfexionner les anciens etablissemans & pour en former de tout nouveaux"49 hat dabei hinsichtlich der Kritik der bestehenden Verhältnisse eine doppelte Stoßrichtung: Sie betrifft zum einen den Staat und seine Einrichtungen (a), zum anderen zielt sie auf die Änderung der Verfaßtheit der Gesellschaft selbst ab, d. h. auf den Gegenstand und die sozialen Voraussetzungen des Handelns des Staates und seiner Verwaltung (b). (a) Die Reform von Politik, Staat und Verwaltung Was die Formen des Staates im Sinne des politisch-administrativen Systems betrifft, fordert Saint-Pierre die Verwissenschaftlichung der Politik auf zwei Ebenen. Erstens müssen die staatlichen Einrichtungen und Verfahren so strukturiert sein, daß sie den Zweck des politischen Gemeinwesens zum Maßstab politischen Handelns machen und den wissenschaftlich und technisch möglich gewordenen Fortschritt wahrnehmen und politisch umsetzen können. Darüber hinaus müssen sie zweitens die Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, Entdeckungen und Erfindungen selbst schon initiieren und organisieren, um in die gesellschaftlichen Entwicklungen steuernd eingreifen, sie prägen und in die als notwendig erachteten Bahnen lenken zu können.50 Zu diesem Zweck fordert Saint-Pierre eine grundsätzliche Neuorganisation des gesamten Staatsapparates und skizziert die seines Erachtens hierzu notwendigen Institutionen für die sachgemäße Beratung und Entscheidung politischer Fragen. Dies beginnt mit der Forderung nach der Einrichtung einer Academie politique sowie auf lokaler und regionaler Ebene gleichsam als deren Unterbau - von Conferences politiques, wie Saint-Pierre sie schon seit dem Beginn des Jahrhunderts vorgetragen hat.51 Zum
49 50
51
pp. 276 f., sowie ders., Observations sur le Ministère Général, Ouvr., VI, pp. Während „Grotius & [...] Puffendorf [...] ont enségné cete sience plutôt en jurisconsulte qu'en politique", will er sie um die besagte praktisch-politischen Dimensionen erweitern. Saint-Pierre, Reflexions sur l'Antimachiavel, Ouvr., XVI, p. 531. Ziel dieser auf institutionelle und verfahrenstechnische Neuerungen ausgehenden „Sience du Gouvernement" ist es also, ,,[d']avoir, dans les Conseils des Princes & dans le Ministere, des Politiques incomparablement plus habiles & plus prudens, que ceux d'aujourdui; & pour faire inventer, en beaucoup moins de tems, plus de reglemens & d'etablissemens particuliers très inportans à l'augmentation du bonheur de la Société" (SaintPierre, Nouveau Plan de Gouvernement, Ouvr., VI, p. 313). Vgl. ausführlich hierzu Saint-Pierre, Projet pour perfectioner le Gouvernement, Ouvr., El, pp. 4, 11 ff.; Avantages des Conférences politiques, Ouvr., IV, pp. 88-101; Nouveau Plan de Gouvernement, Ouvr., VI, pp. 333 ff. - Vgl. auch Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, pp. 162 ff., und im Zusammenhang Hömig, Der Abbé de Saint-Pierre, S. 1-30. - Der Name dieser Institution einer Académie politique stimmt mit dem einer Einrichtung überein, die am Beginn des 18. Jahrhunderts im Rahmen der Reformversuche des französischen Staatsapparates kurzfristig bestanden hat. 1712 gründete der damalige Außenminister Torcy - dem SaintPierre ein Exemplar einer frühen Fassung seines Friedensprojekts widmete - eine 'Académie politique' zur systematischen Ausbildung des diplomatischen Nachwuchses. Diese „initiative révolutionnaire" existierte freilich nur bis 1719: „c'était une institution en avance sur son temps, mais qui constituait un barrage pour les ambitions des grandes familles, et le ministre tenait à garder les mains libres pour le choix des postes" (Thuillier, Académie politique, pp. 19 ff.; vgl. Klaits, Men of Letters, pp. 577 ff.). Das Schicksal und die emphatische Bewertung dieser vergleichsweise bescheidenen Einrichtung durch heutige Historiker verdeutlicht, in welchem Maße Saint-Pierres Vorstellungen zu einer auf politischen Akademien samt damit verbundener Personalrekrutierung beruhenden Reorganisation des gesamten Staatsapparates seiner Zeit voraus waren.
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé de Saint-Pierre
einen sollen diese politischen Akademien und Konferenzen eine systematische Ausbildung des Nachwuchses für die politischen, diplomatischen und bürokratischen Aufgaben ermöglichen und dadurch den Professionalisierungsgrad der Staatsbeamten, Diplomaten und Minister erhöhen. Zum anderen fungieren diese Académies und Conférences bereits als wissenschaftliche Beratungs- und Gutachtergremien für politische Reformen und Projekte, denn in ihnen sollen alle, die im Staatsdienst tätig sind oder sich auf ihn vorbereiten, die Bedingungen, Möglichkeiten und neuen Ideen für eine erfolgreiche Bewältigung der gesellschaftlichen Aufgaben des Staates erlernen, diskutieren und in den Gang des Regierungshandelns einbringen können. In diesem Sinne funktioniert das System der politischen Akademien als Instrument der Selbstaufklärung des gesamten politisch-administrativen Apparats, da hierdurch alle politischen Akteure zur beständigen Reflexion ihres Tuns, ihrer Aufgaben, Maßnahmen und Möglichkeiten angehalten werden.52 In diesen Zusammenhang gehört auch Saint-Pierres Forderung nach der Institutionalisierung von Lehrstühlen für Politik - 'Professeurs de politique' oder 'Chaires de Politique'' - , durch welche die für die rationale Gestaltung der staatlichen Politik erforderlichen Kompetenzen entwickelt und vermittelt werden könnten. Professuren für Politik bilden somit gleichsam das Scharnier und die Vermittlungsinstanz zwischen Theorie und Praxis politischen Handelns.53 All diese Rationalisierungsmaßnahmen implizieren die Aufhebung der bisherigen Organisations-, Rekrutierungs- und Arbeitsweise der politischen Eliten. Insbesondere bedeuten sie die Abschaffung eines der größten Mißstände innerhalb der französischen Staatsverwaltung, des Systems des Ämterkaufs, das für Saint-Pierre wie für die Mehrzahl der Staatsreformer des 17. und 18. Jahrhunderts im Zentrum der Kritik stand. Dieses zur Finanzierung des sich herausbildenden Staatsapparates eingeführte System verursachte nicht nur die Aufblähung der Verwaltung zu einem Apparat von nur schwer zu kontrollierenden Beamten, sondern verhinderte zudem die Ausbildung und Etablierung einer qualifizierten und dem Staat gegenüber loyalen Beamtenschaft.54 Aus diesem Grund ging es den Kritikern dieses Systems in erster Linie darum, das Verfahren der Besetzung von Ämtern in Staat und Verwaltung vom herrschenden System der Patronage und des Ämterkaufs sowie vom Erblichkeitsprinzip zu befreien, um die Vergabe dieser Positionen unter rein fachlichen Gesichtspunkten der Qualifikation neu zu organisieren. Zu diesem Zweck propagiert Saint-Pierre das Verfahren des „scrutin perfectioné", durch das neu zu besetzende Positionen nach dem Prinzip kollegialer Wahlen vergeben und nur dem fachlich Geeignetsten der Aufstieg ermöglicht werden soll. In allen öffentlichen Bereichen und auf allen Ebenen der militärischen und zivilen Staatsmacht seien demzufolge 'classes' oder 'compagnies' zu bilden, die aus ihren Reihen
Saint-Pierre, Projet pour perfectioner le Gouvernement, Ouvr., m , pp. 83 f. Saint-Pierre, Nouveau Plan de Gouvernement, Ouvr., VI, p. 333; vgl. ders., Étude du Droit entre Nations, Ouvr., VU, pp. 17-28, und Observations sur le Ministère Général, VI, p. 24, wo er die Notwendigkeit betont, „de descendre d'un coté dans les details de la pratique, & de remonter de l'autre par les degrez de la Teorie jusqu'au premier principe de la sience du gouvernement, qui est la plus grande utilité du plus grand nombre de familles." An anderer Stelle rechnet Saint-Pierre - sozusagen als Beispiel seiner arithmetischen Berechnung des Wertes menschlicher Leistungen (s. o., S. 75 f., Anm. 19 u. 20) - vor, Professoren der Politik stünde das sechsfache des Einkommens von solchen der Physik zu, „puisque ce qu'ils enseigneroient serait six foix plus utile a l'Etat que la fizique" (Saint-Pierre, Projet de progrèz de la politique, AN Paris, R 4 825, p. 3). Historisch hierzu Göhring, Die Ämterkäuflichkeit; ders., Weg und Sieg der modernen Staatsidee, S. 3 ff.; Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa, S. 47 ff.
Politik zwischen Wissenschaft und Staat
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die jeweils Fähigsten bestimmen, die in die nächsthöhere Klasse oder in jeweils vakante Positionen aufrücken. Für diesen Aufstieg sollen soziale Herkunft und Einfluß keinerlei Rolle mehr spielen, sondern es zähle einzig und allein noch der „degré des talens & des qualitez les plus inportantes au service de la Nation". 55 Schließlich regt Saint-Pierre ein System von Preisen, Wettbewerben und Belohnungen an, durch welches innovative Geister dazu motiviert werden sollen, Vorschläge für die Verbesserung der politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen zu entwickeln. 56 Auf diese Weise wird den Bürgern zumindest prinzipiell die Möglichkeit eröffnet, nicht mehr nur Objekte staatlicher Verwaltung und Fürsorge zu sein, sondern selbst am Prozeß der Bestimmung dieser Einrichtungen mitzuwirken. 57 Solche Lern- und Rationalisierungsprozesse des politischen Systems sind freilich nur denkbar und institutionell verbindlich umzusetzen, wenn die zentralen Instanzen und Verfahren staatlichen Handelns entsprechend eingerichtet werden. Wenn „la sience du Gouvernement [...] le flambeau du Gouvernement" sein soll, 58 dann müssen die die neuzeitliche Wissenschaft kennzeichnenden Prinzipien in die Verfahren der politischen Entscheidungsfindung im Staatsapparat und in der Verwaltung Eingang finden. Dies aber bedeutet nicht weniger, als daß der Zwang zur permanenten (Selbst-)Aufklärung über das eigene Tun, zur Begründungspflichtigkeit ihrer Aussagen durch Rückgang auf Vernunft und Erfahrung, zur Kritik unhinterfragbarer Traditionen, Autoritäten oder Ansprüche und zur Öffnung sowohl für Einwände als auch für neue Ideen zu einem Moment und zum Movens des politisch-administrativen Systems selbst werden soll. Nur in diesem Fall kann sichergestellt werden, daß Inhalte und Ziel des Regierungshandelns nicht mehr durch das willkürliche Ermessen und die zufälligen Interessenlagen eines Monarchen bzw. seiner ersten Minister bestimmt werden, sondern durch einen internen Prozeß von Diskussion, Widerstreit und Aufklärung, der einzig an der Sache, das heißt am Zweck des Staates, ausgerichtet ist und diesen beständig zur Geltung bringt. Um die „unkontrollierte politische Macht, Despotismus, das ärgste von allen Übeln des öffentlichen Lebens", 59 sowie die Verselbständigung einzelner mächtiger
Saint-Pierre, Nouveau Plan de Gouvernement, Ouvr., VI, p. 340. Ausführlich zu diesem Verfahren der Rekrutierung politischen Nachwuchses durch das scrutin perfectionné vgl. u. a. Saint-Pierre, Projet pour perfectioner le Gouvernement, Ouvr., EI, pp. 26 ff., 128 ff., sowie ders., Nouveau Plan de Gouvernement, Ouvr., VI, pp. 338 ff. Vgl. zu diesem Anreiz der „émulation si nécessaire au progrez vif des Siences" (Saint-Pierre, Agrandissement de la Ville capitale, Ouvr., IV, p. 111) durch Preise, Belohnungen und Renten Saint-Pierre, Polysynodie, S. 74; ders.. Projet de paix, I, p. 224; ders.. Nouveau Plan de Gouvernement, Ouvr., VI, pp. 333 f., Ms. AN R 4 825 (Projet pour procurer [...] un grand progrez de la politique), pp. 10-18. Daß er zuweilen nicht zufällig auf seine eigenen Reformvorschläge - „utiles non seulement à ma Patrie, mais encore à d'autres Etats" (Ouvr., VI, p. 335) - hinweist, dokumentiert ein Brief an den Regenten aus dem Jahr 1716, wo es heißt: „J'aprens que l'abbaye de St. Bertin vient de vaquer. Vous savez Monseigneur que je travaille assiduement pour le Service de l'Etat. J'ai besoin meme pour le mieux servir de 4000* de pension et Je croi que vos bienfaits exciteront les bons Esprits à travailler comme moi sur des Sujets importans" (Saint-Pierre, Lettre au Régent, 1716, AAE, Aquisitions extraordinaires, Vol. 55, fol. 9r°-9v°). Zum Zusammenhang, den Saint-Pierre zwischen der republikanischen Form der Gemeinwesen, seiner Friedensorientierung und des ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritts erkennt (vgl. u. a. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 261 ff.), vgl. auch unten, S. 107 ff., sowie Le Cour Grandmaison, Idées d'Europe, pp. 16 ff. Saint-Pierre, Observations sur le Ministere Interieur, Ouvr., VII, p. 28. Hömig, Der Abbé de Saint-Pierre, S. 26.
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Individuen und die Vorherrschaft partikularer Interessen im Staat zu verhindern, muß nach Saint-Pierre das bestehende Regierungssystem strukturell verändert werden. Bereits seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts fordert er deshalb die Einführung eines Systems von Conseils, bei dem das Regierungssystem auf der skizzierten Basis rekrutierter kollegialer Gremien der Beratung durch nachweislich qualifizierte, professionell geschulte Räte und Beamte neu organisiert werden soll. 60 Diese Strukturen bedeuten für Saint-Pierre die Institutionalisierung von Verfahren der offenen, streng an der Sache orientierten und sich von allen partikularen Interessen freimachenden Diskussion und Beratung darüber, welches für den vernunftgemäß eingerichteten Staat die konkreten Ziele sind und die jeweils angemessenen Mittel, sie zu erreichen, damit das Gesamtziel des gesellschaftlichen Lebens und der Zweck des staatlichen Handelns erreicht werden können: die Verwirklichung „[de] la plus grande utilité du plus grand nombre de familles" bzw. „le bonheur publiq".61 Dies soll dadurch sichergestellt werden, daß in diesen Conseils die Verselbständigung besonderer Interessen verhindert wird, indem Verfahrensregeln wie Mehrheitsentscheidungen oder die Rotation der Räte zwischen den verschiedenen Conseils institutionalisiert werden und die Präsidentschaft bzw. der Vorsitz innerhalb der einzelnen Räte zeitlich befristet wird. Politik wird auf diese Weise nicht nur der Sache nach, sondern durch das Rotationsprinzip zunehmend auch faktisch entpersonalisiert, weil weniger konkrete Personen als „die unsterblichen und niemals altersschwachen Conseils die Amtsgeschäfte tätigen".62 In diesen aber zählen nach Saint-Pierres Überzeugung nur mehr die jeweils besten Problemlösungen, die durch die auf den Grundprinzipien von Freiheit der Rede und rechtlicher Gleichheit der Räte basierende Unabhängigkeit des Diskussions- und Entscheidungsprozesses in den Conseils gefunden werden:
60
Saint-Pierre hat diese Vorstellungen bereits im Laufe des ersten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts entwickelt. Schon in seiner ersten publizierten Schrift werden wesentliche Teile seiner späteren Reformpläne angesprochen (vgl. Saint-Pierre, Memoire sur la réparation des chemins, pp. 34, 37, 72, 74). Entfaltet und publiziert aber hat Saint-Pierre sie erstmals 1718, d. h. nach dem Tod Ludwigs XVI., in seinem Werk Uber die Polysynodie, die ihm aufgrund ihrer scharfen Kritik an dessen despotischer Regierungsweise den Ausschluß aus der Académie française einbrachte. Zwar beruft sich Saint-Pierre hier terminologisch auf die 'Polysynodie', wie sie unter der Regentschaft des Duc d'Orlâns nach 1715 vor allem auf Anregung Saint-Simons eingeführt wurde, die aber „nichts anderes darstellte als eine aristokratische Monarchie, von der die Ehrgeizigsten unter dem alten Hochadel schon seit langem geträumt hatten" (Mandrou, Staatsraison und Vernunft, S. 144; vgl. hierzu auch Sée, Les idées politiques au XVII e siècle, pp. 245 ff., 251 ff.; Le Roy Ladurie, Saint-Simon, pp. 385 ff., v. a. 405 ff.). Auch wenn Saint-Pierre Aspekte seines Plans hier verwirklicht gesehen haben und seine Schrift als Unterstützung gegen das absehbaren Scheitern dieser 'neuen' Regierungsform gedacht gewesen sein mag, so ist sie doch weder darauf zurückzuführen noch darauf zu reduzieren (so fälschlich Barbiche, Polysynodie, pp. 996 f.). Auch hier ist wieder Saint-Pierres Verfahren am Werk, seine weit Uber die realen Reformversuche des bestehenden Systems hinausgreifenden Vorschläge als Ausbuchstabierung dessen auszugeben, was auch von Seiten regierender Fürsten schon vorgeschlagen worden sei.
61
Zitate aus Saint-Pierre, Réflexions sur FAntimachiavel, Ouvr., XVI, p. 531, und der s.. Nouveau Plan de Gouvernement, Ouvr., VI, p. 315. Im Projet pour peifectioner le Gouvernement des Etats (1733) entwirft er ein Modell von drei Ministerien mit jeweils drei bis vier „bureaux d'Examen ou Conseils consultatifs en plus ou moindre nombre selon le nombre & la nature des afaires [...] composéz de Conseillers d'Etat & de Maîtres des Requêtes ou Raporteurs" (Ouvr., m , p. 20; ausführlich ebd., pp. 40 ff.). - Zusammenfassend zu Saint-Pierres reformiertem Regierungssystem vgl. Gembruch, Reformforderungen in Frankreich, S. 300-303; Dietze, Charles Abbé de Saint-Pierre, S. 57 ff.; Hömig, Der Abbé de Saint-Pierre, S. 14 ff. Saint-Pierre, Polysynodie, S. 252.
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„Der Gegensatz der M e i n u n g e n ist eine der fruchtbarsten Quellen der Erkenntnis. Jene, denen man widerspricht und die man reizt, suchen neue B e w e i s e und n e h m e n hierbei Anstrengungen w i e niemals sonst auf sich. O h n e d i e s e unterbliebe zu oft der B e w e i s der Wahrheit. Widerspruch aber existiert in ausreichendem M a ß e allein unter Gleichgestellten." 6 3 D i e V o r s c h l ä g e , d i e S a i n t - P i e r r e z u r R e f o r m d e s p o l i t i s c h e n S y s t e m s v o r b r i n g t , z i e l e n in ihrer G e s a m t h e i t darauf ab, d i e Inhalte, d i e s a c h l i c h e n u n d p e r s o n e l l e n E n t s c h e i d u n g e n der R e g i e r u n g rationaler, effektiver, durchschaubarer z u gestalten u n d v o n Günstlingswirtschaft und Korruption zu befreien, insgesamt also streng a m G e m e i n w o h l und an d e n Interessen der I n d i v i d u e n w i e der G e s e l l s c h a f t auszurichten. Z w a r ist e s Saint-Pierre u m e i n e R e f o r m u n d nicht u m d i e A b s c h a f f u n g der f r a n z ö s i s c h e n M o n a r c h i e g e g a n g e n . 6 4 D a s führt s a c h l i c h j e d o c h zur systematischen Unterordnung d e s souveränen M o n a r c h e n unter die Erfordernisse und Interessen des G a n z e n der politischen Gesellschaft und damit letztlich zu seiner Entsubstantialisierung: „Vernünftigkeit und Durchsichtigkeit der Regierungsmaßnahmen seien m ö g l i c h durch eine vernünftige Organisation des Staatsapparates, über den der K ö n i g verfugt, d e m er aber auch letztlich selbst unterworfen sein soll, weil er v o n ihm abhängig ist. D e n n die politische Beratung des K ö n i g s zu v e r v o l l k o m m n e n , setzt voraus, daß der K ö n i g am E n d e ebenfalls immer vernünftig entscheidet und handelt." 6 5 M e h r n o c h : D i e F r a g e , w e r l e t z t l i c h d i e d e r a r t z u s t a n d e g e k o m m e n e n E n t s c h e i d u n g e n rat i f i z i e r t - u n d d a m i t d i e F r a g e v o n S t a a t s - u n d R e g i e r u n g s f o r m - , tritt s y s t e m a t i s c h i n d e n Hintergrund und verliert j e g l i c h e B e d e u t u n g . D a s Funktionieren d e s Staates ähnelt SaintPierre z u f o l g e - w i e er in A n l e h n u n g an die g ä n g i g e n M e t a p h e r n d e s m e c h a n i s t i s c h e n D e n k e n s d e s 17. u n d 18. J a h r h u n d e r t s s c h r e i b t - z u n e h m e n d d e m e i n e s U h r w e r k s o d e r e i n e r p o litischen M a s c h i n e , die, e i n m a l rational erdacht, eingerichtet u n d in G a n g gebracht, i m allg e m e i n e n Interesse der Bürger agiert.66 U n d dabei g e w i n n t sie eine E i g e n d y n a m i k , die die
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Ebd., S. 129. Eine Haltung, die, was in der Retrospektive oft vergessen wird, von der überwiegenden Mehrheit der philosophes und der französischen Aufklärungsbewegung das gesamte 18. Jahrhundert hindurch geteilt worden ist; bis weit in die Zeit der Französischen Revolution hinein schienen das Streben nach der Herrschaft des Gesetzes, die Aufhebung der Despotie und die Rationalisierung von Staat und Gesellschaft mit der Institution des Königtums als Regierungsform fraglos miteinander vereinbar zu sein.
65
Hömig, Der Abbé de Saint-Pierre, S. 16. Für Drouet (L'abbé de Saint-Pierre, p. 154) führt Saint-Pierres System zum „bouleversement total de l'organisation politique du royaume". Rousseau erklärt im Contrat social (p. 443 [IV.3]), Saint-Pierre habe die wahren Konsequenzen seiner Vorschläge übersehen, insofern sie nichts weniger als eine Umwälzung des bestehenden Regierungssystems bedeutet hätten. Auch wenn Rousseau somit Saint-Pierre der Naivität hinsichtlich seiner Überzeugung zeiht, solche Reformen seien innerhalb des Kontinuums der bestehenden Ordnung durchfuhrbar, so bestätigt er damit doch immerhin die Stoßrichtung und Radikalität dieses Programms.
66
Vgl. zu Begriff und Erkenntnis gesellschaftlicher und institutioneller Gesetzmäßigkeiten bei Saint-Pierre unten, S. 172 f. - In 'Moïens de procurer dans un Etat le progrez de la politique', Ms. Neuchâtel, R 168, p. 13, vergleicht er politische Einrichtungen mit „des horloges qu'il faut nétoyer et remonter de tems en tems si l'on veut etre toujours contant de leurs operasions." Ausführlich zur Uhrenmetapher im politischen und sozialen Denken der Neuzeit und zu den damit verbundenen autoritären und liberalen Konzeptionen der gesellschaftlichen Institutionen und ihres Funktionierens Mayr, Uhrwerk und Waage; knapp Freudenthal, Atom und Individuum, S. 99 ff. Zur Verwendung der Metapher der Maschine für den absolutistischen Staat in der frühen Neuzeit - vor allem mit Blick auf die deutsche Staatslehre - vgl. Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine,
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Partikularität und möglichen Fehler der Personen, die sich an den Schaltstellen des Staates befinden, auszugleichen vermag. Die Staatsmaschine gleicht nach Saint-Pierre im Idealfall einer Drehorgel, auf der auch ein Kind, das nichts von Musik versteht, schöne Melodien hervorbringen kann, da in ihrer Verfassung das wohlgeordnete Funktionieren vorprogrammiert ist: „la machine Politique bien construite ayant une fois son mouvement elle agit d'elle-même, elle se fortifie elle-même, elle se dirige elle-même vers la plus grande utilité publique, l'Etat devient florissant par sa seule bone constitution, & voila le sublime de la Politique". 67
Für die Funktion des Monarchen bedeutet dies alles freilich nichts anderes, als daß er all seiner souveränen Kompetenzen entledigt und zu „un rôle purement représentatif ou décorat i f verurteilt wird.68 Tatsächlich nämlich liegt die Souveränität bei jenen legislativen und exekutiven Instanzen, in denen das allgemeine Interesse der Gesellschaft seinen adäquaten Ausdruck findet und seine politische und rechtliche Umsetzung erfährt.69 Prägnant hat Thomas E. Kaiser die generelle Stoßrichtung und das historisch Neue dieser Ideen Saint-Pierres zu einer Reorganisation des Systems gesellschaftlicher und politischer Herrschaft mit den Begriffen von „depersonalization, enlightenment, and transparency" zusammengefaßt.70 Unabhängig von der Person der Inhaber der staatlichen Positionen, aufge-
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wobei die dort (in den Kap. 4 und 5) behandelte Dialektik von Steigerung und Beschränkung der Herrschaft von besonderem Interesse ist, die im rationalistischen Ideal eines sich vervollkommnenden Staates aufzufinden ist. Saint-Pierre, Projet pour perfectioner le Gouvernement, Ouvr., HI, p. 200. 1732 spricht er vom Staat als „la Machine Politique" (ebd., Ouvr., DI, p. 82; vgl. auch ebd., Ouvr., HI, p. 215, ders., Observations sur le Ministère Général, Ouvr., VI, p. 12 und vor allem pp. 32-34), in der das System der politischen Akademien zur Selbstaufklärung der Regierenden führt, da es die beständige Reflexion ihres Tuns bewirkt (IH, pp. 83 f.), wobei dem System das Telos innewohne, das Funktionieren des Staates von persönlichen Qualitäten des Königs unabhängig zu machen; die Einrichtung dieses Systems bedeute „d'établir une forme de Gouvernement perpetuelle" (HI, p. 85). Vgl. auch Keohane, Philosophy and the State, pp. 369 ff. - Den 'revolutionären' Charakter einer solchen Konstruktion illustriert die empörte Bemerkung Clarkes, der in seiner Auseinandersetzung mit Leibniz Auffassungen, man könne die Möglichkeit eines Eingriffs Gottes in das weltliche Geschehen leugnen, mit folgender Parallelisierung zurückweist: „Gegen all die, die behaupten, daß in einer irdischen Regierung die Dinge sehr wohl ihren Gang gehen können, ohne daß der König etwas anordnet oder befiehlt, ist der Verdacht gerechtfertigt, daß sie den König am liebsten ganz beiseite schieben würden" (zit. n. Freudenthal, Atom und Individuum, S. 279). Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 160, der Saint-Pierre deshalb als „un républicain de la première heure" bezeichnet (ebd., p. 151).- Mit Hegel läßt sich auch die hier kulminierende Stoßrichtung von Saint-Pierres politischer Theorie prägnant zusammenfassen, insofern dieser bereits erkannt hat, daß Vernunft und Politik von der Idee eines 'guten, gerechten Herrschers' abgekoppelt und institutionell gefaßt werden müssen: „In Despotien ist das Gute und das Schlechte ein [...] Subjektives. Im vernünftigen Staate hingegen sind es wesentlich die Institutionen, von denen das Glück des Staats abhängt. [...] In der vernünftigen Verfassung ist die Subjektivität mehr oder weniger etwas Gleichgültiges" (Hegel, Philosophie des Rechts, S. 250). Obgleich also im Hinblick auf Saint-Pierres Selbstverständnis richtig sein mag, daß er „n'avait assurément aucune pensée subversive" und daß „il aurait été fort scandalisé si on l'avait accusé de préparer des bouleversements" (Mornet, Saint-Pierre, p. 514), scheint doch eben dies in der Konsequenz seines Denkens zu liegen. Jedenfalls lag George Sand mit ihrer Auffassung, Saint-Pierre sei mit seinen politischen Ideen sehr viel radikaler und den Ideen der französischen Revolution verwandter als Autoren wie Montesquieu, Voltaire und Diderot (Sand, Histoire de ma vie, p. 68), näher an der Wahrheit als beispielsweise v. Raumer (Ewiger Friede, S. 128), der in ihm nur den „letzten Repräsentanten des ancien régime" zu sehen vermochte. Hierzu im Zusammenhang Kaiser, The Abbé de Saint-Pierre, pp. 629-635.
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klärt und nach transparenten und einsehbaren Prinzipien soll die staatliche Herrschaft nunmehr organisiert werden, an diesen Prinzipien und an ihrem Bezug auf das bien publiq allerdings muß sie sich auch messen lassen. Nimmt man nämlich Saint-Pierres Vorschläge zur Reform des politischen Systems insgesamt in den Blick, so beschränkt sich „die Schaffung eines öffentlichen Raumes" nicht auf die Etablierung „einer Vielzahl von Räten" und die Einführung spezifischer Verfahren ihrer Ausbildung und Rekrutierung und der Diskussionsprozesse zwischen ihnen, als handle es sich um eine bloß verwaltungs- und regierungstechnische Reorganisation. 71 Darüber hinaus nämlich bedeutet es die Politisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und Probleme, die zum Gegenstand der kritischen Diskussion und des rationalen politischen Eingriffs werden können. Dies aber führt wiederum dazu, daß die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse, Entwicklungen und Mißstände nach Saint-Pierre auch zum Legitimationsverlust der Herrschenden führen können, sofern sie den rationalen Maßstäben des größtmöglichen Nutzens nicht mehr genügen. Obwohl Saint-Pierre den Begriff einer das Regierungshandeln kritisch begleitenden Öffentlichkeit nicht systematisch entwickelt hat, setzt er doch de facto eine solche - mit positiven Vorschlägen und Entwürfen verbundene - Instanz der Kritik voraus. 72 Eine auf die Einrichtung vernünftiger Verhältnisse drängende und - durch ihre vor allem wissenschaftlich und (verwaltungs-)technisch verstandenen Ideen und Vorschläge - zum 'progrès de politique' beitragende Öffentlichkeit ist immer schon potentiell eine Instanz, die den jeweils Herrschenden politische Legitimität zuerkennen oder entziehen kann. Über diese Rolle einer 'räsonierenden', durchaus schon kritisch zu nennenden Öffentlichkeit ist sich Saint-Pierre schon früh im klaren gewesen, versucht er sie doch schon zu Lebzeiten Ludwigs XIV. strategisch in Anschlag zu bringen. Denn bereits 1712/13 richtet er die in seinem Projet de paix vorgetragenen Kritiken an den innerhalb und zwischen den europäischen Staaten herrschenden Zuständen wie auch seine Reformvorschläge nicht nur an die Könige und Minister, sondern explizit bereits an eine breitere Öffentlichkeit, an „la foule des Lecteurs", weil dieser Öffentlichkeit in dem Fall, daß die politisch Verantwortlichen versagen sollten, die Aufgabe zukomme „[de] presser ceux qui sont dans le ministère" und „les déterminer à agir". 73
So klingt es bei Pekarek, Absolutismus als Kriegsursache, S. 72. Was den Begriff der Öffentlichkeit betrifft, unterscheidet Saint-Pierre einen solchen, der alle Individuen und Familien umfaßt, von einem, der nur spezielle 'Öffentlichkeiten' spezifischer Interessengruppen bezeichnet: „Le terme de publiq [...] ne signifie comunement qu'un nombre de familles ou plutôt un certain nombre d'hommes ou de familles: ainsi on peut dire qu'il y a publiq plus & moins nombreux & pour ainsi dire plus & moins publiq" (Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., Ü, p. 242). An anderer Stelle hingegen spricht er explizit von einer „publiq", die staatliches Handeln auch dann kritisch beurteilt, wenn die eigenen partikularen Interessen nicht betroffen sind; vgl. ders., Sur l'éducation des enfants, Ouvr., XIV, p. 42. Schließlich führe eine irrationale Regierungs- und Berufungspolitik nicht nur zu einer negativen Reaktion bei den unmittelbar Betroffenen, sondern „le publiq même prend part à leurs murmures & à leurs plaintes" (ders., Projet pour perfectioner le Gouvernement, Ouvr., ni, p. 34), während die Regierung bei Anwendung der rationalen Prinzipien „gouvernera avec beaucoup plus d'autorité, & moins de murmures" (ebd., DI, p. 83). Saint-Pierre, Projet de paix, H, p. 353.
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Vernunft, Wissenschaft und Politik beim Abbé de Saint-Pierre (b) Politische Reform und die Änderung der gesellschaftlichen
Verhältnisse
Die durch den Fortschritt der wissenschaftlichen und technischen Vernunft ermöglichten und gebotenen Veränderungen beschränken sich für Saint-Pierre jedoch nicht allein auf die politischen und staatlichen Einrichtungen. Vielmehr beziehen seine Reformvorschläge notwendig die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse mit ein. Dabei geht Saint-Pierre, wie schon eingangs bemerkt worden ist, weit über die Forderungen des Kreises der feudalen Opposition der Jahrzehnte um die Wende zum 18. Jahrhundert hinaus. Als Vorreiter und emphatischer Verfechter eines „an die Absicht praktischer Wirksamkeit" geknüpften Verständnisses von Aufklärung 74 vertritt er vielmehr das Element des Neuen und des Bruchs mit den überkommenen Verhältnissen. Denn er ist sich bewußt, daß die von ihm kritisierten politischen Verhältnisse auf einer Gesellschaftsstruktur beruhen, die er, wenn er das Ziel eines in seinem Sinne vernünftig eingerichteten Gemeinwesens nicht aus den Augen verlieren will, einer nicht weniger scharfen Kritik unterziehen muß. Saint-Pierres Kritik des herrschenden absolutistischen Systems mündet nicht in die Forderung nach einer Rückkehr zu vorabsolutistischen ständischen Einrichtungen. Anders als Saint-Simon, Boulainvilliers oder Fénelon feiert er nicht „nos anciens Etats Généraux du Royaume", sondern erklärt, diese seien „hureuzemant abolis", da sie nicht den Anforderungen der rationalen Bearbeitung der politisch-sozialen Probleme entsprächen, sondern dem ständischen Prinzip gemäß aus Repräsentanten von „Clergé, Noblesse & Tiers Etat" zusammengesetzt und ausgerichtet gewesen seien. 75 Sie beruhen somit also auf den Prinzipien einer Gesellschaft, die es nach Saint-Pierre gerade aufzuheben gilt. Zielscheibe seiner Kritik ist folglich eine feudal strukturierte Gesellschaft, die auf Privilegien und einer Vielzahl partikularer Sonderrechte beruht, in der die soziale Stellung der Individuen von ihrer Geburt und nicht von Leistung und persönlichem Verdienst abhängig ist, in der die produktiv Tätigen und die Armen die gesamten Lasten der Gesellschaft tragen, während die privilegierten
Seiderer, Formen der Aufklärung, S. 233. Saint-Pierre, Sur le Testament politique de Richelieu, Ouvr., XVI, p. 6. - Man greift offenkundig zu kurz, wenn man Saint-Pierres Versicherungen, es gehe ihm in seinen Schriften vor allem um die Sicherung der tranquilité und der repos des Staates, vorschnell wörtlich nimmt, wie es etwa bei Drouet (L'abbé de SaintPierre, p. 125 f.) der Fall ist, auch wenn man dafür etwa in Saint-Pierres Aufforderung zur Unterdrückung vor allem religiöser Parteibildungen eine gewisse Bestätigung findet. Dies hindert jedoch nicht daran, daß sich, wie Gembruch (Reformforderungen in Frankreich, S. 274 ff.) hervorhebt, Saint-Pierres Arbeiten anders als die zahlreicher Zeitgenossen, die in Opposition zu Ludwig XIV. standen, gerade durch eine gewisse 'Furchtlosigkeit' gegenüber Veränderungen auszeichnen und durch ihre Zahl und Reichweite selbst schon eindrucksvoll belegen. Während für die alten, eher feudal ausgerichteten Oppositionellen noch die Bewahrung von Ruhe und Ordnung im Vordergrund gestanden habe, setze Saint-Pierre den Wandel auf die Tagesordnung und scheine weniger von der Angst besetzt, daß dies zu Unruhe und Chaos in der bestehenden Ordnung führen könnte. Gembruch führt dies psychologisch auf unterschiedliche Lebenserfahrungen zurück. Im Gegensatz zur Mehrheit der anti-ludovizianischen Oppositionellen sei Saint-Pierre weniger durch das Denken des absolutistischen Etatismus und durch den Glanz seiner Allmacht geprägt, in dem sie aufgewachsen seien, und er sei auch nicht, wie die älteren Opponenten, durch die Erfahrung und Furcht vor einer Wiederholung der Wirren der Fronde der Mitte des 17. Jahrhunderts beeinflußt, um law and order vorzuziehen. Saint-Pierre selbst sei demgegenüber von einer Zeit geprägt, in der der Glanz Ludwigs XIV. zu verblassen begann und die Leistungen des absoluten Staates - die Durchsetzung der zentralen Regulierung und die Beendigung der inneren Unruhen und Bürgerkriegstendenzen - schon zur Selbstverständlichkeit geworden waren und zur Herrschaftslegitimierung nicht mehr ausreichten.
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Stände nicht zuletzt durch ein extrem ungerechtes Steuersystem von Belastungen befreit sind. 76 Seine Vorschläge zur Änderung von Ausbildung und Rekrutierung des Personals in Politik und Verwaltung stellen keine nebensächlichen Ideen zu einer neu gegliederten staatlichen 'Personalpolitik' dar, sondern sie rühren an die Grundlagen der bestehenden Gesellschaft, in der die Titel erblich und staatliche Ämter käuflich waren und nicht nach Kriterien persönlicher Qualifikation vergeben wurden. Indem Saint-Pierre demgegenüber die Vergabe von Titeln und die Besetzung von Ämtern an das Vorliegen nachgewiesener persönlicher Fähigkeiten und Verdienste knüpft, werden soziale Stellung und Einfluß der Individuen nur mehr von den individuellen Faktoren abhängig gemacht, so daß der soziale und politische Rang nicht länger einfach von den Vorfahren ererbt werden kann, sondern vom konkreten Tun abhängt und seinen Höhepunkt erst am Ende eines lebenslangen individuellen Strebens erreichen kann: „l'homme distingué par son mérité & par ses longs services ne poura ariver qu'avec l'âge à la classe supreme". 77 Dabei tritt Saint-Pierre keineswegs für eine Überwindung der gesellschaftlichen Klassen und der Ungleichheit zwischen den Menschen ein. Was er anmahnt, ist vielmehr ihre Transformation in Richtung auf einen Zustand, in dem sie dynamisiert und vom individuellen Handeln und seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit abhängig werden. 78 Es geht in seiner Konzeption um die Überwindung der überkommenen ständischen Ordnung und der in ihr geltenden Wertvorstellungen. Ihr Ziel besteht in einer neuen Gesamtverfassung der Gesellschaft, in der die Ermöglichung des freien sozialen und ökonomischen Strebens der Individuen, das Wohl und der Wohlstand der Bürger und des Ganzen im Zentrum stehen. Der durch Leistung erreichte 'Adel' soll jenen der ständischen Klassengesellschaft ersetzen, in der Privilegien mit dem Verharren „dans la faineantize & dans une vie lâche, mole & paresseuze" vereinbar sind.79 Die zahlreichen Maßnahmen von Saint-Pierres rationalistischer Politikkonzeption laufen mithin in der Tendenz auf die Verwirklichung der Strukturen der sich ausbildenden bürgerlichen Ordnung hinaus, in der es für alle Bürger ein System prinzipiell gleicher Rechte und Pflichten gibt, in der keine sozialen, politischen oder religiösen Privilegien oder Diskriminierungen mehr bestehen, in der die Lasten jeweils im Verhältnis zu ihren Möglichkeiten auf alle Bürger gleichmäßig verteilt werden, in der schließlich dem Staat die Aufgabe zukommt, die rechtlichen, materiellen und sozialen Bedingungen zu schaffen, unter
Zu seinen Ideen zu einer grundlegenden Reform des Steuersystems, d. h. an einem der grundlegendsten Mißstände des Ancien Régime, vgl. Saint-Pierre, Projet de taille tariffée; zur Einordnung Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, pp. 184 ff. Saint-Pierre, Projet pour rendre les titres plus honorables, Ouvr., n, p. 146; vgl. insgesamt hierzu ebd., pp. 121-149. Dies führt ihn zu feinsinnigen Unterscheidungen wie denen, daß er zwar „aprouve fort la division des habitans [...] d'un Royaume en deux classes", daß man aber nicht mehr vom Klassengegensatz als einem zwischen „nobles" und „serviteurs" sprechen sollte - d. h. substantialistisch - , sondern nur mehr - funktionsbezogen von „Citoyens Servans" und „Citoyens Serves" (observations sur Doria, 'De la Société civile', [1728], Ms. Caen, Dossier VE, p. 6). - Vgl. hierzu auch Lichtenberger, Le socialisme au XVIIIe siècle, pp. 70 ff., der Saint-Pierre zwar insofern einen Platz in der Geschichte sozialistischen Denkens einräumen will, als er zahlreichen Ideen einer modernen Gesellschaft Ausdruck verliehen habe, doch weiter möchte er doch nicht gehen: „H est certainement, sous bien des rapports, un précurseur; mais au point de vue vraiment socialiste, il n'a y que bien peu de choses dans son œuvre." (Ebd., p. 70) Saint-Pierre, Projet pour rendre les titres plus honorables, Ouvr., n, p. 127.
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denen die Freiheit des Strebens der Bürger nach der Verwirklichung ihres Glücks gesichert werden kann.80 Saint-Pierres Vorstellungen eines neuen sistème de politique umfassen somit alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens des Ancien Régime. Ihren Fluchtpunkt bildet ein neues Verständnis von Politik und Staat innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, der sich von den bestehenden Strukturen politisch-sozialer Ungleichheit radikal unterscheidet und nach völlig neuen Mechanismen der gesellschaftlichen Integration und Rechtfertigung verlangt. Vom historischen Fortschritt der Vernunft ermöglicht und geboten, sind Glück und Nutzen für das konkrete Leben der Individuen und der Gesellschaft ins Zentrum rationalen Erkennens und Handelns zu stellen, und alle staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen und Verfahren müssen sich an diesen Zwecken kritisch messen lassen, um bestätigt, reformiert oder umgewälzt und durch neue ersetzt zu werden. Saint-Pierre gehört zu den ersten, die versucht haben, diesen Anforderungen an Staat und Gesellschaft der Moderne durch ein neues Verständnis einer Wissenschaft von der Politik gerecht zu werden.81
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Saint-Pierres Schriften sind voll mit Projekten, die auf eine grundlegende Veränderung der bestehenden Ordnung von Gesellschaft und Staat abzielen. Exemplarisch sei hier neben den bereits genannten Vorschlägen zur Aufhebung der Erb- und Käuflichkeit von Ämtern und öffentlichen Funktionen oder eines neuen, alle Bürger einbeziehenden Steuersystems nur auf das Mémoire pour diminuer le nombre des procès ( 1725) zur Rechtsreform hingewiesen, auf die Maßnahmen des Staates in Fragen der Infrastruktur- oder der 'Sozial'-Politik (vgl. Dietze, Charles Abbé de Saint-Pierre, S. 71 ff.), auf seine Reform des Erziehungswesens oder der Trennung von Staat und Politik, zu der Gembruch (Reformforderungen in Frankreich, S. 285) richtig bemerkt: „Sein Ideal war bereits der religiös weithin indifferente [...] Vernunftstaat". Näher wird auf die politische Theorie des Abbé de Saint-Pierre und ihre Bedeutung im Rahmen der Entwicklung der politischen Theorie der Neuzeit in einer in Vorbereitung befindlichen Untersuchung des Vf. eingegangen.
III. Das Projet de paix perpétuelle des Abbé de Saint-Pierre als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
„le Lecteur pour bien juger du prix prix de l'Ouvrage, a-t-il besoin d'autre chose que de l'Ouvrage même?" (Saint-Pierre, 1712)
Wie die Ausführungen des vorangegangenen Kapitels gezeigt haben, muß im Hinblick auf die Bedeutung und den Einfluß des Werks des Abbé de Saint-Pierre eine eigentümliche Diskrepanz konstatiert werden. Zwar erweist er sich als ein wesentlicher Protagonist im Rahmen der Bestrebungen der Aufklärung, die Wissenschaft von der Politik auf der Grundlage des neuzeitlichen Ideals klarer und deutlicher Erkenntnis neu zu begründen, um sie für das Verständnis und die Kritik der bestehenden Verhältnisse wie auch schließlich für ihre praktisch-politische Veränderung und Verbesserung fruchtbar zu machen. Insofern steht er mit seinem Willen zu einer in praktische Reformen mündenden, umfassenden Kritik der bestehenden Verhältnisse für den wesentlichen Impuls des Zeitalters der Aufklärung überhaupt. Zugleich aber ist die Bedeutung seiner Schriften wie auch seines persönlichen Wirkens schon bald weitgehend in Vergessenheit geraten und der Einfluß, den er auf seine Zeitgenossen oder, auf direkte oder indirekte Weise, auf die weitere Entwicklung des politischen Denkens des Jahrhunderts der Aufklärung gehabt hat, ein weitgehend unbekannter, untergründig wirkender geblieben. Dies gilt nicht in gleichem Maße von demjenigen seiner Projekte, das zeitlebens im Zentrum seines Denkens gestanden hat. Sein Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe, das er im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts ersonnen und bis zu seinem Lebensende 1743 unermüdlich propagiert hat, ist in der politischen Welt und in der République des lettres schon bekannt und Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen, bevor es überhaupt gedruckt worden war, und an dieser Bekanntheit hat sich, wie die Wirkungsgeschichte bis hin zu Kant zeigt, auch im weiteren Verlauf des Jahrhunderts nichts geändert.1 Und dennoch gilt doch auch für dieses Werk, daß ihm nur selten jene Beachtung geschenkt worden ist, die es an sich verdienen würde und wie es zumindest angesichts der an es anschließenden Diskussion zu erwarten wäre. Einer der Gründe dafür ist auch hier wiederum in der ausgesprochen unglücklichen Form zu sehen, in der er sein Vorhaben der Öffentlichkeit vorgelegt
Kant hat Saint-Pierres Werk nicht erst durch Rousseaus Bearbeitung wahrgenommen (vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 313), sondern schon zuvor, wie entsprechende Erwähnungen Saint-Pierres in Kants Reflexionen aus dem Nachlaß zeigen; vgl. ders.. Handschriftlicher Nachlaß: Anthropologie, AA XV, Refl. 1524 (S. 898), ders.. Handschriftlicher Nachlaß: Logik, AA XVI, Refl. 2116 (S. 241), 3157 (S. 686).
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hat. 2 Vor allem aber liegt es an der Neuartigkeit der philosophischen Begründung der interbzw. transnationalen Friedensordnung, wie sie sich in Saint-Pierres Werk findet. Wird diese nicht als solche erkannt, sondern wird das Projet einfach noch als ganz in der überkommenen Tradition einer unspezifischen, philanthropisch oder christlich motivierten Friedenssehnsucht stehend wahrgenommen, für die etwa die Querela pacis des Erasmus von Rotterdam (1517) oder auch noch Emeric Crucés Le Nouveau Cynée (1623) typische Beispiele sind, 3 so muß Saint-Pierres Projekt angesichts der Verhältnisse innerhalb des entstehenden europäischen Systems souveräner Staaten hoffnungslos anachronistisch erscheinen. Auf eine solche Sichtweise deuten bereits die ersten Reaktionen hin, die überliefert sind. So heißt es etwa in einem am 28. Juni 1711 verfaßten, also aus der Zeit vor der ersten Publikation des Projekts stammenden Brief der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, der Schwägerin Ludwigs XIV., deren Almosenier Saint-Pierre seit 1692 gewesen war: „E.L. [Euer Liebden; O.A.] und ich seindt von den friedfârtigen sowoll alss l'abbé de St. Pierre, so vor diesem mein premier aumônier gewesen, der macht gantze project, umb ewige frieden machen zu können, will ein gantz buch davon schreiben. Ich schicke E.L. hirbey sein erstes cayé, ich zweifle aber, dass er das buch gantz ausschreibt, denn man hatt ihn schon mitt ausgelacht."4
Diese Äußerung ist nicht nur ein Beleg dafür, daß Saint-Pierres Friedensprojekt schon lange vor seiner Drucklegung Gegenstand des Meinungsstreits, der Zustimmung und des Spotts war, wie er seine ganze weitere Geschichte begleiten sollte, sondern daß es auch von unmittelbar mit ihm in Verbindung stehenden Personen so verstanden wurde, daß es um die Verwirklichung von Träumen geht, die gewissermaßen nicht von dieser Welt sind und deshalb auch kaum für sie geeignet zu sein scheinen. Die durch und durch prosaische Zielsetzung des Projekts von Saint-Pierre geht bei dieser Lesart verloren: der zu erreichende Zustand einer paix perpétuelle wird von ihm schließlich vollständig säkular verstanden und synonym mit Begriffen wie paix permanente oder paix durable verwendet, mit denen Saint-Pierre auf gängige Formeln zeitgenössischer Friedensverträge Bezug nimmt. 5 Es geht ihm, anders als 2
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Auf einige der Gründe hierfür ist oben ('S. 47 ff.; S. 68 f.) hingewiesen worden, auf andere wird im folgenden eingegangen. Ironischerweise hat sein schriftstellerisches Unvermögen auch einen positiven Effekt gehabt, wäre doch sonst Rousseau kaum dazu aufgefordert worden, sie lesbar zu gestalten und neu zu publizieren, was zu seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Problematik führte; dazu unten, S. 204 ff. Dies ist sogar noch bei Drouet der Fall (L'abbé de Saint-Pierre, pp. 117 ff., 122, 345), für den Saint-Pierres Projet letztlich nur eine Reprise des Nouveau Cynée ist. Zu Crucé vgl. v. Raumer, Ewiger Friede, S. 78 ff., sowie Hartmann, Rêveurs de paix?. Elisabeth Charlotte an Kurfürstin Sophie von Hannover, 28. Juni 1711, in: Bodemann, Aus den Briefen der Herzogin Elisabeth von Orléans, Bd. n, S. 279. Dies zeigt bereits ein Blick auf jene Formeln, mit denen die Verträge zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges eröffnet wurden: „II y aura une Paix universelle & perpetuelle" / , 3 s soll ein allgemeiner und beständiger Friede [...] seyn" (Englisch-französischer Vertrag vom 11.4.1713); „Pax fit Christiana, Universalis, & perpetua veraque Amicitia" / Soll ein Christlicher, allgemeiner Friede und ewig währende wahre Freundschaft seyn" (Englisch-spanischer Vertrag vom 13.7.1713); „H y aura une Paix Chrétienne, universelle, & une Amitié perpetuelle, vraye & sincère" / „Es soll ein Christlich=allgemeiner Friede, und ein immerwehrend=wahr= und aufrichtige Freundschafft [...] seyn" (Vertrag zwischen Frankreich und dem Kaiser vom 6.3.1714); sämtlich zitiert nach Greve, Fontes Historiae Iuris Gentium, S. 219, 231 u. 240. Was Saint-Pierre somit zeigen will, sind jene allgemeinen Prinzipien und institutionellen Voraussetzungen, derer es bedarf, um diesen im bestehenden System nur leere Formeln darstellenden Erklärungen Wirklichkeit zu verleihen.
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in der Tradition des christlichen Friedensgedankens, nicht um die Realisierung eines transzendent begründeten Friedens auf Erden. 6 Gegenstand des Interesses ist vielmehr - versteht und übersetzt man den Titel des Projekts wörtlich - ein Vorhaben, den in allen Verträgen immer wieder beschworenen Frieden zwischen den Staaten als dauerhaft gestaltbaren zu begreifen (rendre la paix perpétuelle) und die dafür notwendigen Realisierungsbedingungen aufzuzeigen. Wie in Saint-Pierres politischer Wissenschaft insgesamt, so basiert auch seine Friedenstheorie auf einer „völlig säkulare[n] Weltsicht", 7 da er „nicht wie Fénelon von dem Gedanken der christlichen Brüderlichkeit" ausging, sondern „die bestehenden politischen Machtverhältnisse zugrunde legte" und die Strukturprobleme der bestehenden Staatenwelt analysierte. 8 Sowenig transzendent-religiöse, so wenig können irgendwelche „arguments sentimentaux" und Klagen über „l'existence de conflits sanglants entre les hommes et les nations" als hinreichende Begründung des Abbéschen Friedensprojektes betrachtet werden: „ces convictions affectives et morales, si nobles fussent-elles, ne servent en rien à l'institution et à l'organisation de la paix." 9 Saint-Pierre gründet seine friedenstheoretischen Überlegungen auf eine rechtsphilosophische Argumentationsstruktur, durch welche nicht nur die empirische Wünschbarkeit und die historische Möglichkeit, sondern die unbedingte Notwendigkeit gezeigt werden soll, aufgrund derer die in einem rechtlosen Zustand befindlichen Staaten dazu gezwungen seien, Rechtsverhältnisse und diese garantierende Institutionen zu begründen. Die Art und Weise der Gründung und Gestaltung eines solchen Bundes hängt danach nicht von dem Belieben der einzelnen Souveräne ab, sondern ist ein unabweisbares Gebot der Vernunft, wenn nach den Bedingungen ihrer Selbsterhaltung im System einer Vielzahl von Einzelstaaten gefragt wird. Der tatsächliche Anachronismus dieser Konzeption liegt also nicht in einer vermeintlichen Anhänglichkeit an überkommene Vorstellungen einer universalen, stoisch oder christlich inspirierten Gemeinschaft aller Menschen und Völker. Der wahre Anachronismus von Saint-Pierres Friedensprojekt liegt vielmehr darin, daß er zu einem Zeitpunkt, an dem sich die neuzeitliche Welt souveräner Staaten zuallererst herausbildete, bereits ihre immanenten Widersprüche aufgewiesen und Mittel zu ihrer Auflösung gesucht und vorgeschlagen hat. Bevor jedoch näher auf die damit angesprochene systematische Ebene von Saint-Pierres Begründung einer zwischenstaatlichen Friedensordnung (III.2) und auf das in diesem Zusammenhang von ihm vorgebrachte Modell der föderativen Verfassungsstruktur des Alten 6
Diese völlig verfehlte Einschätzung wird auch in jüngsten Publikationen noch kolportiert, so von Merle, Zur Geschichte des Friedensbegriffs, S. 38-39, nach dem das Projekt Saint-Pierres „religiös motiviert" sei, und zwar „durch seine katholische Nächstenliebe". Solche 'Beobachtungen' zeugen nicht nur von einer Fehleinschätzung der Argumentation des Projet de paix, die nur durch ein auf dem Verzicht der Lektüre des Textes beruhenden Urteil erklärbar ist, sondern auch von der Unkenntnis von Saint-Pierres durchdringender Kritik des Katholizismus sowohl als Institution wie auch als einer zum 'fanatisme' neigenden Glaubenslehre; nicht umsonst hat sein Biograph Drouet bedauernd festgestellt, daß Saint-Pierre „se posa toute sa vie en déiste, en adversaire même du catholicisme" (Drouet, l'abbé de Saint-Pierre, p. 14). Saint-Pierre selbst hat seine kurzfristige Neigung zu einer kirchlichen Laufbahn jenseits des Status eines 'Weltgeistlichen' als eine „maladie" bezeichnet, von der er ,,fu[t] ataqué à dixsept ans", von der er aber schnell wieder geheilt worden sei: „J'ai donq eu cète maladie, mais ce n'a été qu'une petite verole volante dont je n'ai point été marqué" (Saint-Pierre, Sur les Voeux Monastiques, Ouvr., XDL, pp. 168-169).
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Bahner, Die Friedensideen, S. 99. Bahner, Der Friedensgedanke, S. 152. Goyard-Fabre, Introduction, Présentation, p. 73.
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Reichs eingegangen wird (III.3), welches er in diesem Zusammenhang in einer Weise anführt, deren Analyse zum Verständnis und zur Klärung zentraler historischer, methodischer und systematischer Dimensionen von Saint-Pierres Projekt beitragen kann (III.4), soll zunächst ein Blick auf die Wirkungsgeschichte seines Friedensprojekts geworfen werden, das von Anfang an ganz unterschiedlichen Mißverständnissen und Fehldeutungen ausgesetzt war, die dazu geführt haben, daß das Projekt trotz des Bekanntheitsgrades seines Titels kaum jemals angemessen eingeschätzt worden ist.
III.l
Strategien des Vergessens: Beobachtungen zu einer verfehlten Rezeption ,J) 'ailleurs, qui lit aujourd'hui, qui a jamais lu l'abbé de Saint-Pierre?" (Joseph Drouet, 1912)
Anonym und unter Angabe des fiktiven Erscheinungsortes „à Cologne, chez Jacques le Pacifique" hatte Saint-Pierre 1712 unter dem Titel Mémoire pour rendre la paix perpétuelle à l'Europe eine erste, vorläufige Fassung seines Friedensprojekts publiziert.1 Dank der sich daran anschließenden Diskussionen konnte er bereits in der ersten Ausgabe seines Projet Anfang 1713 den Brief eines niederländischen Ministers als Zeugnis dafür abdrucken, welch widersprüchliche Reaktionen das erste Bekanntwerden seines Vorhabens hervorgerufen hatte: „ce Livre a déjà formé deux partis, ceux qui croyent le projet de l'Auteur praticable s'apellent Irenistes, les autres Anti-Irenistes"? Von Anfang an hat der friedenssuchende Saint-Pierre also die Gemüter erregt und die Leser in höchst gegensätzliche Lager gespalten.3 Und zuweilen waren die konträren Stellungnahmen gegenüber seiner literarischen Produktion sogar in einer einzigen Person gleichzeitig aufzufinden. Als prominentestes Beispiel hierfür kann wohl Jean-Jacques Rousseau gelten, mit dessen Namen die Erinnerung an das Friedensprojekt des Abbé bis heute untrennbar verknüpft ist, insofern „Rousseaus Deutung [...] die Wirkungsgeschichte der Ideen Saint-Pierres entscheidend bestimmt" und „mit seinem Rückgriff auf Saint-Pierres Schrift über den Ewigen Frieden den Namen des Abbé unsterblich gemacht" hat; und doch gilt zugleich, daß dieser trotz seines unsterblich gewordenen Namens „ein Unbekannter der philosophischen und politischen Literatur geblieben"4 ist. Diese auf den ersten Blick etwas paradox anmutende Feststellung über die Parallelität
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Ausführlich zum komplizierten Prozeß der Entstehung und Publikation des Friedensprojekts zwischen 1708 und 1712/1716 vgl. unten, S. 125 ff. Extrait d'une Lettre de M. B. Ministre à la Haye, à M. D. Ministre à Berne, du 15. Novembre 1712, in: SaintPierre, Projet de paix, H. 422. - Saint-Pierre identifiziert sich so sehr mit seinem Projekt, daß er den Frieden zum Bestandteil seines Vornamens macht: aus Charles-François wird Charles-Irenée (von griech.: „eirene" = „Frieden"). Für einen ersten Überblick Uber die Urteile von Zeitgenossen über das Friedensprojekt vgl. ter Meulen, Der Gedanke der Internationalen Organisation, S. 201-221. Hömig, Der Abbé de Saint-Pierre, S. 6 u. 43. Dies hat Lecercle kürzlich noch einmal bestätigt: „Le nom de l'abbé de Saint-Pierre est plus connu que son oeuvre" (L'abbé de Saint-Pierre et Rousseau, p. 23).
Strategien des Vergessens: Beobachtungen einer verfehlten Rezeption
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von 'Unsterblichkeit' des Namens und des 'Vergessenseins' des Werks läßt sich besser verstehen, wenn man einen Blick auf den widersprüchlichen Charakter wirft, den Saint-Pierres Werk unter anderem in seiner Darstellung und Bearbeitung durch Rousseau erfahren hat und den bereits Georges Sand, Enkelin von Mme. Dupin, der Anhängerin und Förderin des Abbé de Saint-Pierre während der letzten Jahre seines Lebens, beklagt hat. 5 Rousseau hatte sich in den Jahren nach 1754 auf die Bitte des Abbé de Mably sowie Mme. Dupins hin in der Einsamkeit der Eremitage in Montmorency intensiv mit dem Werk und dem Nachlaß Saint-Pierres befaßt und Auszüge und Beurteilungen über dessen Schriften über die Polysynodie sowie über das Friedensprojekt verfaßt. 6 Diese Arbeit fällt genau in jenen Zeitraum, in dem Rousseau selbst sein geplantes Werk über die Institutions politiques vorbereitete, aus dem dann später der Contrat social hervorging. Allein diese zeitliche Koinzidenz legt schon die Vermutung nahe, daß Rousseau wesentliche Positionen seiner eigenen politischen Philosophie in der Auseinandersetzung mit den Schriften Saint-Pierres entwickelt hat, was Rousseau in den Confessions auch insofern bestätigte, als er schrieb, bei aller Kritik habe ihn diese Beschäftigung doch auch inspiriert. 7 Dies gilt vor allem, wenn man bedenkt, daß sich in seinen Schriften über Saint-Pierre die einzigen systematischen Reflexionen zu einer Theorie einer rechtlich garantierten Friedensordnung zwischen Staaten finden, von der Rousseau im Contrat social doch ausdrücklich erklärt hatte, daß es einer solchen bedürfe, damit die nach seinen Grundsätzen gebildeten demokratischen Kleinstaaten überhaupt erst möglich und überlebensfähig sind. 8 Auf diese Weise ist das Werk SaintPierres von großer systematischer, wenngleich bis heute kaum jemals angemessen untersuchter Bedeutung für Rousseaus eigene politische Philosophie und allein schon aus diesem Grunde mit ihm und durch ihn 'unsterblich' geworden. Zugleich hat Rousseau jedoch wesentlich dazu beigetragen, daß das Werk des Abbé de Saint-Pierre in der Geschichte des politischen und philosophischen Denkens kaum mehr eigenständige Beachtung gefunden hat. Rousseau, der als junger Mann bald nach seiner Ankunft in der französischen Hauptstadt den greisen Saint-Pierre zuerst als „enfant gâté" der die Pariser Salons der Jahrhundertmitte dominierenden Pariser Damenwelt kennen gelernt hatte, 9 tradierte und verstärkte das bestehende Bild Saint-Pierres als eines naiven rationalistischen Eiferers und Projektemachers, der zu allen nur denkbaren politischen, kulturellen und religiösen Fragen eine Flut von Denkschriften und Projekten produzierte, schon von seinen Zeitgenossen und den Adressaten seiner Vorschläge und Kritiken kaum ernst genommen worden sei, kurzum das Bild eines Mannes, „dont les livres sont pleins de grands pro-
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Georges Sand schreibt in diesem Zusammenhang in ihrer 'Histoire de ma vie', p. 68, ,,[qu'i]l n'y a pas d'unité, il n y a pas de fixité dans les jugements de Rousseau sur le philosophe de Chenonceaux; selon les époques de sa vie [...], il le traite de grand homme ou de pauvre homme." Als 'philosophe de Chenonceaux" bezeichnet sie Saint-Pierre, weil er sich oft auf dem dortigen Gut der Dupins aufhielt; vgl. unten, S. 204 ff.
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Vgl. Rousseau, Écrits sur l'abbé de Saint-Pierre. Vgl. Rousseau, Confessions, livre IX, pp. 407 f., 422 ff. Vgl. Rousseau, Du contrat social, p. 470 [IV. 9] sowie p. 431 [JH. 15]; ausführlich hierzu unten, Kap. IV. 1.1 und IV.2. Vgl. die Darstellung in Rousseau, Confessions, 1. IX, p. 407, sowie 1. VII, p. 292. - Daß Saint-Pierres Bild hierdurch nachhaltig geprägt wurde, liegt nahe, bedenkt man, wie problematisch Rousseaus Verhältnis zu der 'Pariser Gesellschaft' gewesen ist und welche Konsequenzen dies für seine Kultur- und Gesellschaftskritik hatte; vgl. Cassirer, Das Problem Jean-Iacques Rousseau, S. 11 ff.; vgl. auch unten, S. 187 f.
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jets et de petites vües".10 Dies geht hin bis zur mehr oder weniger offenen Denunziation, wenn Rousseau Saint-Pierre mal lobend, aber ein wenig herablassend als „homme simple, honnête et vrai", mal als jemanden bezeichnet, der vom 'Wahn' der Vernunft („la folie de la raison") befallen sei." Und spätestens seit Rousseaus Darstellung der Mühen, die ein näheres Sicheinlassen auf die Schriften des Abbé nach sich zieht, begnügten sich Generationen von Philosophen und Wissenschaftlern damit, Rousseaus Auszüge aus den Schriften jenes Autors zu lesen.12 Dort glaubte man die wesentlichen Elemente seines Vorläufers einschließlich ihres rationellen und weiterweisenden Kerngehalts finden zu können, und obendrein bekam man gleich noch eine aus berufenem Munde stammende Einschätzung und Kritik mitgeliefert. Auf diese Weise gilt für Saint-Pierres politische Theorie im allgemeinen, aber auch für sein Projet de paix im besonderen immer noch weitgehend Goumys Festellung aus dem Jahre 1859: „On sait, [...] ce que les autres on dit de lui; mais ce qu'il a dit luimême, on l'ignore et on ne s'en soucie point."13 Beharrlich hält sich der Eindruck, die politischen Programme Saint-Pierres seien zwar zum Teil originelle, aber doch letztlich eher gutem Willen und Menschenliebe entsprungene Ideen, die an sich selbst keinen weitergehenden begründungstheoretischen Anspruch erheben können; von einem solchen scheint man erst seit ihrer Aufnahme und Transformation durch Rousseau sprechen zu können. Es ist eben jenes Bild, das auch Rousseau selbst nahelegt, wenn er am Beginn seines Auszugs aus dem Friedensprojekt noch einmal den Eindruck erweckt, es sei bei Saint-Pierre im Grunde das reine Gefühl der Menschenliebe gewesen, das ihn ein so erhabenes Projekt wie das einer paix perpétuelle habe entwerfen lassen: „Je vais voir, du moins en idée, les hommes s'unir et s'aimer; je vais penser à une douce et paisible société de freres, vivans dans une concorde éternelle, tous conduits par les mêmes maximes, tous heureux du bonheur commun; et, réalisant en moi-même un tableau si touchant, l'image d'une félicité qui n'est point m'en fera goûter quelques instans une véritable."14
Die Wirksamkeit eben dieser interpretatorisch folgenreichen Vorgabe hat jüngst noch einmal Lecercle exemplarisch bestätigt, als er glaubte, das Verhältnis der beiden Philosophen folgendermaßen bestimmen zu können: „II faut dire que la situation de Rousseau était délicate. Il lui fallait exposer objectivement des idées qu'il désapprouvait, mais dont il ne pouvait se démarquer que discrètement, par égard
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Rousseau, Émile, p. 473; vgl. ders., Confessions, pp. 423 f. Vgl. Rousseau, Écrits sur l'abbé de Saint-Pierre, p. 657. - Ironischerweise wird Rousseau selbst später durch Kant gemeinsam mit Saint-Pierre in die Kategorie der „phantasten [...] der Vernunft" bzw. 'schwärmerischen Denker' eingeordnet; Kant, Handschriftlicher Nachlaß: Anthropologie, AA XV, Refl. 488 (S. 210), 921 (S. 406). Vgl. Rousseau, Confessions, 1. IX, p. 407 f., 4 0 8 , 4 2 3 ; s. o., S. 48-50. Goumy, Étude sur la vie, p. 1. - So kann man wie Windenberger, der Verfasser der ersten großen Untersuchung zu Rousseaus völkerrechtlichem Denken, die Avanciertheit von Rousseaus Positionen im Vergleich zu derjenigen Saint-Pierres zu zeigen beanspruchen, ohne dessen Schriften auch nur an einer einzigen Stelle selbst zur Kenntnis zu nehmen (La république confédérative, pp. 177 ff., v. a. pp. 181 ff.). Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 563. - Ausführlich zu Saint-Pierres tatsächlichem Ausgangspunkt weiter unten in Kap. HI. 2.
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pour un h o m m e respecté, dont il était chargé de rendre la pensée accessible au public. Et il était d'autant plus embarrassé qu'il admirait sincèrement l'abbé." 1 5
Damit wird nun die Beziehung Rousseaus zu Saint-Pierre endgültig auf das Problem von höflicher Rücksichtnahme und affektiver Bindung reduziert, womit sich die Frage nach substantiellen Einflüssen und Differenzen zu erübrigen scheint. Mit solchen, einer genauen Textanalyse kaum standhaltenden Annahmen wird aber nicht nur der Blick darauf verstellt, wie sich Saint-Pierres Denken im Zusammenhang der Entwicklung der neuzeitlichen politischen Philosophie darstellt, sondern es wird auch eine ernsthafte Befassung mit der mehr als rhetorisch gemeinten Frage verhindert, wieviel Rousseau im Hinblick auf seinen Contrat social,16 aber auch hinsichtlich der Gesamtentwicklung seiner politischen Philosophie und Gesellschaftstheorie tatsächlich jener Auseinandersetzung mit Saint-Pierre verdankt. Das widersprüchliche Bild, das Rousseau von Saint-Pierre vermittelte, hat mit dazu beigetragen, daß sein Urteil über ihn bei aller prinzipiellen Wertschätzung im Endeffekt die gleichen Folgen zeitigte wie dasjenige, welches weniger verständige und zumeist auch weniger wohlmeinende Zeitgenossen fällten: Das Projekt einer Paix perpétuelle unter Staaten ereilte das Schicksal, das viele seiner Vorläufer und Nachfolger bis hin zur Kantischen Friedensschrift traf - es wurde mehr oder weniger offen und meist ohne nähere Prüfung als unrealistische oder gar gefährliche Chimäre abgetan und zusammen mit der Person des Autors der Lächerlichkeit anheim gegeben. Leibniz hatte den Plan des Abbé de Saint-Pierre immerhin noch trotz prinzipieller Skepsis hinsichtlich seiner Begründungsstruktur und praktischen Umsetzbarkeit zumindest als eine große Idee bezeichnet und 1715 eine kleine Abhandlung über sie verfaßt 17 und in einem Brief an Varignon, seinen langjährigen Korrespondenzpartner und Freund Saint-Pierres, erklärt, seine „raisons sont solides". 18 Wenn er jedoch SaintPierres Begründung des Staatenbundes unter anderem mit dem Hinweis darauf ins Reich der Phantasie zu verweisen sucht, daß „les plus puissans ne respectent guères les tribunaux", so hat auch er schon übersehen, daß eben dies keineswegs als Argument gegen das Projekt gelten kann. 19 Denn gerade in der Konstatierung dieses Umstandes, daß es keine zwangsbewehrte Schiedsgerichtsbarkeit zwischen und oberhalb der souveränen Staaten gibt, deren Urteile auch die mächtigsten unter ihnen, ob es ihnen nun gefällt oder nicht, respektieren müssen, ist schließlich jene Problemstellung zu sehen, von der das Projet seinen Ausgang nimmt und auf das es eine Antwort zu geben sucht: Es geht um die Einrichtung einer Struk-
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Lecercle, L'abbé de Saint-Pierre et Rousseau, p. 28. Vgl. hierzu die Hinweise von Perkins, The Moral and Political Philosophy, pp. 9 ff. (einschl. Anm. 3), 107, 107 f. (Anm. 36), 133, sowie generell chap. VIH. Leibniz, Observations sur le projet d'une paix perpétuelle de M. l'abbé de Saint-Pierre, in: Robinet, Correspondance Leibniz-Saint-Pierre, pp. 34-44. Leibniz an Varignon, 7. Februar 1715, in: Robinet, Correspondance Leibniz-Saint-Pierre, p. 45. Varignon war es auch, der die direkte Verbindung zwischen Saint-Pierre und Leibniz vermittelt hatte; vgl. das oben angegebene Schreiben sowie den Brief von Saint-Pierre an Leibniz, 20. Januar 1714, in: ebd., S. 26. Leibniz an Grimarest, Brief vom 4. Juni 1712, in: Robinet, Correspondance Leibniz-Saint-Pierre, p. 24. Auch wenn Fontenelle 1716 in seiner 'Eloge de Leibniz' dieses bedauernde Statement wiederholt, so gilt doch für beide, daß sie damit der Sache nach noch gar kein Argument „gegen St. Pierre" vorgebracht haben, wie Klemme anzunehmen scheint (Klemme, Einleitung/Anmerkungen, S. 111; dort auch S. 111/112 die Zitate von Leibniz und Fontenelle).
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tur, durch die die Einhaltung oder Nichteinhaltung internationaler Übereinkünfte von der Willkür und dem Belieben einzelner Mächtiger abgekoppelt wird. Es dürfte nicht zuletzt gerade diese Zumutung sein, die dafür verantwortlich gewesen ist, daß das Friedensprojekt bei Friedrich II., seit 1740 preußischer König, und Voltaire, dessen langjährigem Freund, gleichermaßen auf Unverständnis und entschiedene Ablehnung gestoßen ist. Friedrich, auf dessen anfängliche Begeisterung für die Ideen der Aufklärung auch Saint-Pierre kurzzeitig Hoffnungen gesetzt hatte, hatte von Saint-Pierre ein Exemplar des Friedensprojektes erhalten, das dieser ihm vermutlich in der Annahme zugesandt hatte, bei ihm auf den richtigen Adressaten zu stoßen, da dieser aufklärerischen Geist, Einsicht, politische Macht und Durchsetzungsvermögen in sich vereine. 20 Der preußische König jedoch, der seiner Thronbesteigung gerade die Entfesselung des ersten schlesischen Krieges, d. h. den Auftakt zu einer langen Reihe von Konflikten zur Stärkung der Macht Preußens innerhalb des Alten Reichs und Europas, hatte folgen lassen, begnügte sich damit, von einem gleichsam realpolitischen Standpunkt aus eine mögliche Realisierung einer internationalen Friedensordnung auszuschließen: „L'abbé de Saint-Pierre, qui me distingue assez pour m'honorer de sa correspondance, m'a envoyé un bel ouvrage sur la façon de rétablir la paix en Europe, et de la constater à jamais. La chose est très praticable; il ne manque pour la faire réussir, que le consentement de l'Europe, et quelque autre bagatelle semblable." 21
Ebenso hat auch Voltaire für das Friedensprojekt und seinen Verfasser, den er 1768 noch, ein Vierteljahrhundert nach dessen Tod, als „Saint-Pierre d'Utopie" bezeichnet, 22 nur Spott übrig, den er auch in einer satirischen Schrift über Rousseau ergießt, als dieser 1761 seinen Auszug aus Saint-Pierres Projekt veröffentlicht. 23 Wie Friedrich betont auch er die Unmöglichkeit, die Souveränität der Einzelstaaten durch eine übergeordnete Instanz einzuschränken oder gar aufzuheben, doch verschärft Voltaire das Argument zusätzlich, indem er den Konflikt zwischen den souveränen Staaten nachgerade zu einer naturgeschichtlichen Kategorie hypostasiert und naturalistisch verewigt:
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Saint-Pierre hat wie viele Aufklärer Friedrichs Thronbesteigung - zu der der 83-jährige einer ansonsten nicht weiter belegten Äußerung von Droysen (Über die Schrift Anti-Saint-Pierre, S. 712 u. 722) zufolge im Juli 1740 sogar nach Berlin gereist sein soll - ebenso begrüßt wie dessen 'Ànti-Machiavel', über den er selbst wieder eine kommentierende Abhandlung verfaßt hat. Daß Friedrich freilich gleich nach seiner Thronbesteigung zum Mittel des Krieges griff, veranlaßte Saint-Pierre zur Abfassung des „Enigme politique", in dem er Friedrich vorwarf, irrtümlich anzunehmen, „qu'un Roi peut avec justice envahir par force ce qu'il croit avec evidance lui apartenir et qu'un Souverain est seul juge dans sa propre cauze" (Saint-Pierre, Enigme politique, Ms. Neuchâtel, R 150, p. 2; das Ms. ist auf den 10.3.1741 datiert; Droysen (ebd., S. 732-736) druckt eine auf den 10.4. datierte Fassung ab, in der sich diese Passage leicht abgewandelt auf Seite 733 findet). Daß Saint-Pierre dennoch nicht gänzlich desillusioniert war, zeigt die Abschrift eines wenige Wochen vor seinem Tod an den Preußenkönig („au premier de tous mes bienfaizans") gerichteten Briefes, in dem er diesen noch einmal an die Bedeutung der „siance du gouvernemant ou la politique" und die daraus folgenden Pflichten und Aufgaben eines Staatsoberhauptes erinnert (Saint-Pierre, Lettre au Roy de Prusse, 3. April 1743, Ms. Caen, Dossier IV).
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Friedrich n. an Voltaire, 12. April 1742, in: Voltaire, Oeuvres complètes, t. 92, [No. 2602], p. 184. Voltaire an Thiériot, 20. Dezember 1738, in: Voltaire, Oeuvres complètes, éd. Moland, t. XXXV, p. 74. Vgl. Voltaire, Rescrit de l'Empereur de la Chine à l'occasion du projet de paix perpétuelle, abgedruckt in Saint-Pierre, Projet de paix, éd. Goyard-Fabre, p. 579-582.
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„la paix imaginée par un François, nommé l'Abbé de Saint-Pierre, est une chimère qui ne subsistera pas plus entre les princes qu'entre les éléphants et les rhinocéros, entre les loups et les chiens. Les animaux carnassiers se déchirant toujours à la première occasion." 24
Mit diesen Reaktionsweisen - von grundsätzlicher Zustimmung zu einer schönen, wenngleich nicht zu verwirklichenden Idee über die Ablehnung aus Gründen einer verselbständigten Staatsraison bis hin zur Verspottung als eines bloßen Hirngespinsts - ist gewissermaßen der Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen sich auch im 19. und 20. Jahrhundert über weite Strecken die Rezeption der Schriften des Abbé de Saint-Pierre bewegt hat. Das hier durchgehend zum Ausdruck kommende Unverständnis prägte auch die Kommentierung der bisher einzigen deutschsprachigen (Auswahl-)Edition von Saint-Pierres Friedensschrift, die 1922 unter dem Titel Der Traktat vom ewigen Frieden erschien und als exemplarischer Beleg für eine verfehlte Rezeption wie auch als einer der Gründe für ihr Andauern gelten kann. 25 Das Friedensprojekt wird nur mehr einseitig als ein unmittelbar praxisbezogener Plan präsentiert, 26 der seine Begründung aus nichts anderem als aus historischen und empirischen Erfahrungen, Hoffnungen und Machtkonstellationen zieht; mit Leichtigkeit ist unter diesen Voraussetzungen sein vermeintlich utopischer und wirklichkeitsblinder Charakter nachzuweisen. In seiner Einleitung stellt sich Wolfgang Michael ganz auf den historischen, nationalstaatlich und realpolitisch orientierten Standpunkt und stellt fest, daß den zeitgenössischen „praktischen Politikern gegenüber der Abbé Saint-Pierre doch nur der weltfremde Schwärmer ist, der von den Anschauungen im Kreise der Staatsmänner und auch der Völker nichts ahnt", weil ihm einfach der Sinn „für die Wirklichkeit des Lebens, für die Tatsachen der Geschichte" vollkommen fremd sei.27 Die präskriptive Ebene der Argumentation und die Stringenz der Gründe und Beweise Saint-Pierres werden von ihm entweder übersehen oder aber methodisch völlig ungenügend durch historische Beispiele zu 'widerlegen' gesucht; eher von unfreiwilliger Komik ist dabei der triumphierende Gestus, mit dem Michael im Anschluß an den Versuch, aus dem Hinweis auf die faktische Bedeutungs- und Wir-
Voltaire, De la paix perpétuelle, p. 103. - Zum Vorwurf des „Schimärischen" s. u., S. 121 f. u. 124 einschl. Anm. 82 bzw. 6. - Zu Voltaires zahlreichen, oft spöttischen Kommentaren über Saint-Pierres Schriften, die jedoch neben vielen anderen, eine überraschende sachliche Nähe zu Saint-Pierres Positionen dokumentierenden Äußerungen zu sehen sind, vgl. Bottaro Palumbo, 'De justice paix, de paix abondance', pp. 51 ff.; zu Voltaires eigener Position Perkins, Voltaire's concept of international order. Zugleich dürfte diese Ausgabe mit dafür verantwortlich sein, daß die Rezeption von Saint-Pierres Projekt im deutschsprachigen Sprachraum wesentlich erschwert wurde, denn nicht nur Kommentierung und Einleitung, sondern auch die Edition selbst ist äußerst problematisch und genügt nicht einmal Minimalansprüchen editorischer Sorgfalt. Sie besteht aus einer Zusammenfassung des Projekts, in der Teile und ganze Kapitel fortgelassen oder paraphrasiert werden, ohne daß dies für den Leser erkennbar würde. Die philosophische Terminologie und Begründungsstruktur geht in der sichtlich an systematischen Problemen nicht interessierten Ausgabe gänzlich verloren. Insbesondere sind wesentliche Teile des Projekts, die zu einem angemessenen Verständnis seiner naturrechtlichen Grundlagen erforderlich sind, schlicht nicht enthalten. Dies belegt schon die dramatische, doch mit den historischen Ereignissen nicht zu vereinbarende Schilderung Michaels (Einleitung, S. 9*), wonach Saint-Pierre es „wagt [...], als zufälliger Teilnehmer an den Utrechter Verhandlungen den dilettantischen Vorschlag zu machen, nicht nur für dieses Mal Frieden zu schließen, sondern das Kriegführen gleich für alle Zeiten aus der Welt zu schaffen." Zum Umstand, daß Saint-Pierre wohl gar nicht in Utrecht war, vgl. unten, S. 125 ff. Michael, Einleitung, S. 14* u. 19*.
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kungslosigkeit der Friedensschrift auf die französische und europäische Politik nach 1713 ein Argument gegen sie zu drechseln, ausruft: „Da lernen wir an der historischen Wirklichkeit so recht den Unterschied ermessen zwischen einer undurchführbaren Idee und dem Walten praktischer Staatskunst."28 Gegen solche und ähnliche Strategien der Kritik und Auseinandersetzung hat Rousseau jedoch schon in seinem Jugement über den Friedensplan hellsichtig eingewandt, daß sie „ne jugent pas des raisons par la raison mais seulement par l'événement, et [...] n'ont rien à objecter contre ce projet sinon qu'il n'a pas été éxécuté." 29 Von der argumentativen Struktur des Projekts erfährt der Leser bei Michael nichts. Wo Saint-Pierre mit Gründen souveräne Kompetenzen des Staatenbundes gegenüber den Einzelstaaten als Bedingung für die Möglichkeit ihrer rechtlichen Gleichheit darlegt, interessiert Michael nicht das Argument, sondern er erblickt hierin einfach nur einen neuen Beweis für die vermeintliche Weltfremdheit des Friedensplans. Denn eine solche Begründung ernstnehmen, würde schließlich bedeuten, in Betracht zu ziehen, daß möglicherweise die Souveränität der Einzelstaaten angetastet werden muß - und kann. Dies jedoch widerstrebt nach Ansicht Michaels „der Natur der Staaten, der Völker, der Menschen" 30 - eine für ihn offenbar keiner weiteren Begründung bedürftige Behauptung. Auf diese Weise jedoch sind das Argumentationsniveau des Abbé de Saint-Pierre und seine Stellung innerhalb der neuzeitlichen politischen Philosophie nicht einmal zu erkennen, geschweige denn angemessen zu würdigen.
Michael, Einleitung, S. 36*. - Dieser falsche Triumphalismus Ubersieht zudem, in welchem Maße auch den 'wahren Staatsmännern' während der Utrechter Verhandlungen die Termini und Perspektiven, die für Theoretiker von Saint-Pierre bis Kant das Ende des Kriegszustands versprachen, präsent waren. So verwies im August und Dezember 1712 der englische Außenminister Bolingbroke in Briefen an seinen französischen Kollegen, den Marquis de Torcy, auf das „intérêt général de l'Europe", das sie zum Friedensschluß verpflichte, wobei, wie Bély (Espions et Ambassadeurs, p. 545) bemerkt, seine „termes [...] évoquaient une communauté politique à laquelle un souverain - vu ici comme un 'particulier' - devait obéir. A la fin de l'année, le ministre anglais introduisait la notion de bonheur, en lui donnant une dimension temporelle: 'Enfin, Monsieur, nous voici à la veille de la paix; ne faisons point naufrage dans le port; mais concluons au plus tôt un ouvrage du succès duquel dépend le bonheur de tant de peuples, du siècle présent, et de ceux qui sont à venir'." Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 592. Michael, Einleitung, S. 35'; vgl. ebd., S. 30' f.
Politik, Frieden und Recht: D i e Begründung internationaler Rechtsverhältnisse.
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Politik, Frieden und Recht: Die Begründung internationaler Rechtsverhältnisse im Projet de paix perpétuelle „loin de verser dans un idéalisme naïf et d'affirmer péremptoirement qu'un avenir radieux va naître de l'Union Européenne, il a voulu construire, avec un réalisme prudent, un dispositif juridique qui devrait permettre l'avènement de la sûreté et de la paix." (Simone Goyard-Fabre, 1994)
Obwohl also Saint-Pierres politische Ideen zu einer Neuordnung der europäischen Staatenwelt von ganz unterschiedlichen Positionen aus einer scharfen Kritik unterzogen worden sind, bedeutet dies doch keineswegs die theoretische oder praktische Irrelevanz oder Abseitigkeit dieser Konzeption. Wäre das Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre wirklich so weltfremd, so abseits aller wirklichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten, wäre es tatsächlich nichts als das Werk eines von übersteigertem Rationalismus besessenen Träumers, nichts als ein Hirngespinst und eine Chimäre ohne jeden theoretischen Gehalt - weder der Name Rousseaus noch der Kants hätten es vermocht, es vor dem Vergessen zu bewahren. Deshalb steht umgekehrt zu vermuten, daß, wie im folgenden zu zeigen sein wird, die (kritische) Aufmerksamkeit, die Fortführung wie auch die Polemik nur deshalb möglich gewesen sind, weil Saint-Pierre fundamentale Strukturprobleme des entstehenden neuzeitlichen Staatensystems frühzeitig erkannt und nach Mitteln und Wegen gesucht hat, sie konzeptionell zu erfassen und Bedingungen ihrer Aufhebung zu entwerfen. Eine genaue Analyse des Projet de paix zeigt, daß sich Saint-Pierre insofern auf der Höhe der Probleme seiner Zeit befindet, als er auf den Zusammenhang aufmerksam macht, der zwischen der Überwindung des feudal-absolutistischen Regimes, der Einführung einer neuen, an den Interessen der Wohlfahrt der Bürger ausgerichteten Ordnung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sowie der rechtlichen Regulierung und Pazifizierung der zwischenstaatlichen Beziehungen besteht (III.2.1). Dies aber entwickelt er, indem er als erster die Prinzipien des neuzeitlichen Natur- und Vernunftrechts auf die Sphäre der internationalen Beziehungen anwendet und so einerseits die grundlegenden Widersprüche dieses Handlungssystems zu erkennen vermag, dadurch aber andererseits die politisch-institutionellen Voraussetzungen einer internationalen Rechtsfriedensordnung aufweisen kann (III.2.2).
ni.2.1
Die Reform von Gesellschaft, Staat und internationalen Beziehungen
Bis heute ist das Bild des Abbé de Saint-Pierre vor allem durch sein Projet de paix geprägt. Der Eifer und die Energie, mit der er es propagiert hat, und die Aufmerksamkeit, die es auf sich gezogen hat, hat jedoch wiederum zu einer Einseitigkeit in der Beurteilung der Stoß-
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Das Projet de paix perpétuelle als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
richtung seines politischen Denkens geführt. Der antiabsolutistische, auf die radikale Veränderung der politischen und sozialen Strukturen abzielende Charakter seiner politischen Philosophie wird von jenen Interpreten in den Hintergrund gedrängt, die sein Interesse darauf reduzieren, die internationale Ordnung so zu strukturieren, daß Konflikte und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Staaten ausgeschlossen werden. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, es habe sich bei Saint-Pierre das Ziel der Herstellung des zwischenstaatlichen Friedens in einem solchen Maße verselbständigt, daß er ihn auch um den Preis der Zementierung des sozialen und politischen Status quo innerhalb der zum größten Teil absolutistischen Staaten seiner Zeit zu sichern strebte. Eine solche Position zu konstatieren und kritisch gegen Saint-Pierre zu wenden, wäre dabei durchaus legitim und keine unzulässige Übertragung heutiger Maßstäbe auf seine Theorie, so daß man von ihm eine Reflexionsebene einfordern würde, die für sein Projekt und seine historische Situation etwa noch gar nicht von Bedeutung wäre. Denn träfe diese Annahme zu, würde Saint-Pierre ein auch für ihn konstatierbares und - so er eine konsistente Theorie der Bedingungen zwischenstaatlichen Friedens anstrebt - auch zu konstatierendes Element der Dynamik frühneuzeitlicher Kriegsdynamik entgehen, so daß die Tragfähigkeit seines gesamten Projekts in Frage stünde. In diesem Falle wäre es richtig, daß es erst Rousseau und Kant gewesen sind, die den fundamentalen Zusammenhang erkannt haben, wonach die Institutionalisierung eines internationalen Friedenssystems die vorhergehende Überwindung der despotischen und feudal-absolutistischen Staatsform im Inneren zur unabdingbaren Voraussetzung hat. 1 In diesem Sinne hat beispielsweise Lecercle jüngst erst erklärt, daß Saint-Pierre darauf abzielt, „de figer l'histoire", „l'Europe teile qu'elle est" zu konservieren, um auf dieser Grundlage einen europäischen Staatenbund zu gründen, der nichts als „un agglomérat de puissances gouvernées par des despotes" ist. 2 Und in der Tat liefert bereits ein oberflächlicher Blick in das Projet de paix genügend Material, um diese Annahme zu belegen. Bereits das ursprüngliche Friedensprojekt nämlich besteht in weiten Partien aus detaillierten Versuchen Saint-Pierres, Gründe beizubringen, die seinen Friedensplan den kleinen und großen Despoten Europas schmackhaft machen sollen. So legt etwa der zweite der grundlegenden Artikel des von Saint-Pierre vorgeschlagenen Bündnisvertrags fest, daß ,,[l]e principal effet de l'Union est de conserver toutes choses en repos en l'état qu'elle les trouve", indem es in der Macht des Bundes liege, allen bestehenden Souveränen „contre les Séditieux et les Rébelles" Schutz zu verschaffen und den unbegrenzten Fortbestand ihrer Herrschaft zu garantieren. 3 Solche und ähnliche Äußerungen sind in der Tat geeignet, die Vermutung aufkommen zu lassen, Saint-Pierres Projekt sei tatsächlich ein unzureichender Ansatz, um die Gründe für internationale Konflikte zu verstehen und Abhilfe zu schaffen. Dies gilt auch, wenn man berücksichtigt, daß die Äußerungen in ihrem spezifischen Kontext gesehen werden müssen: Einerseits kommt diesen Argumenten eine primär instrumentelle Funktion zu, insofern sie die unmittelbare Praktizierbar- und Nützlichkeit des Staatenbundes erweisen sollen, andererseits schließen sie eine (auf nicht-revolutionärem Wege erfolgende) Änderung und Ratio-
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So etwa Brandt, Historisch-kritische Beobachtungen, S. 81, 91; Czempiel, Europas Wegweiser; detailliert zu den Implikationen der Kantischen These notwendiger Reformation des politischen Systems Czempiel, Kants Theorem, S. 300 ff., v. a. S. 309 ff.; zu den entsprechenden Positionen Rousseaus vgl. unten, S. 270 ff. Lecercle, L'abbé de Saint-Pierre et Rousseau, pp. 26 u. 38. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 291.
Politik, Frieden und Recht: D i e Begründung internationaler Rechtsverhältnisse.
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nalisierung von bestehenden, auch in Saint-Pierres Augen offenbar unvernünftigen Regierungsweise keineswegs aus, sondern, wie zu zeigen sein wird, sie unterstellen und bezwecken sie auch stillschweigend. Und schließlich bedeutet die Betonung der äußeren Sicherung eines jeden Souveräns der Sache nach nichts anderes als das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, wie es auch in Institutionen wie dem Völkerbund oder der UNO selbstverständlich ist4 und wie es erst in allerjüngster Zeit mit Hinweis auf eine vermeintlich jede staatliche Rechtsordnung übergreifende Sphäre unveräußerlicher Menschenrechte zunehmend in die Kritik gerät.5 Trotz alledem nämlich bleibt die Frage, wie Saint-Pierre unter diesen Umständen seine unterschiedlichen Positionen miteinander vereinbaren kann. Auf der einen Seite wäre es innerhalb seines eigenen politischen Denkens zumindest inkonsequent, wenn er einerseits eine jede Form despotischer Willkür ausschließende Reform des politischen Systems fordert, andererseits aber - und sei es auch nur aus strategischen Gründen - eben diesen Systemen ewige Dauer verspricht, als ob ein despotisches System im Inneren einfach zur quantité négigable erklärt werden könnte, solange nur der Frieden zwischen den Staaten garantiert ist. Vor allem aber würde auf der anderen Seite ein solches Argument das gesamte Projekt einer internationalen Rechtsfriedensordnung von innen heraus sprengen, da es dem internen Zusammenhang widerstreitet, der für Saint-Pierre zwischen der inneren Organisation der Staaten und ihrem Verhalten zueinander besteht. Es ist naheliegend und oft bemerkt worden, daß es die unmittelbare Erfahrung des Spanischen Erbfolgekrieges gewesen ist, die den Ausgangspunkt und das konkrete Motiv für die Arbeit an dem seit 1708 von Saint-Pierre entwickelten Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe gebildet hat. Seit dieser Krieg 1701 ausgebrochen war, hatte er sich zu einem Konflikt ausgeweitet, in den die meisten europäischen Staaten hineingezogen wurden. Frankreich, das die Übernahme des spanischen Throns durch Philippe d'Anjou, eines Enkels von Ludwig XIV., durchsetzen wollte, stürzte sich nur drei Jahre nach dem sich über ein Jahrzehnt hinziehenden, 1698 durch den Frieden von Rijswijk beendeten Krieges gegen die Augsburger Liga in einen neuen, bis 1713 dauernden Krieg, der das Land an den Rand des wirtschaftlichen und finanziellen Ruins trieb. Schließlich war dieser Krieg nur der letzte und der Höhepunkt der langen Reihe von Kriegen, in die Ludwig XIV. Frankreich und Europa gestürzt hatte, und deren ökonomische, soziale und finanzielle Konsequenzen so verheerend waren, daß sich die Opposition gegen seine absolutistische Politik bis in die Spitzen seiner eigenen Gefolgschaft hinein ausbreitete.6 Diesen beklagenswerten Zustand des Landes Vgl. Goyard-Fabre, Introduction, Presentation, p. 81; Perkins, The Moral and Political Philosophy, pp. 137— 139. An dieser Stelle kann auf die theoretische Schwierigkeit und die praktisch-politisch problematischen Konsequenzen, die aus der Unterstellung einer solchen, vor- und überstaatlich konzipierten universalen Rechtsordnung folgen, nicht eingegangen werden. Zum konkreten Fall des Einsatzes der NATO im Jugoslawienkrieg zur 'Befreiung' des Kosovo vgl. Asbach, Recht, Politik und Frieden; allgemein zur Diskussion dieser Frage am konkreten Fall des Krieges gegen Jugoslawien vgl. die aus unterschiedlichen Perspektiven argumentierenden Beiträge in Lutz, Der Kosovo-Krieg. Selbst ein Mann wie Vauban, 'Festungsbauminister' unter Ludwig XIV. und einer der exponiertesten Vertreter von dessen Militärpolitik, hatte seit dem letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts zahlreiche Untersuchungen angeregt und durchgeführt, in denen er die wirtschaftliche und soziale Lage Frankreichs schilderte und Reformvorschläge u.a. zu einer Steuerreform (Dixme Royale, 1698/1707) machte. Dadurch in Ungnade gefallen, war Vauban einer der prominentesten Köpfe des 'reaktionären Opposition' gegen Ludwig XIV., auf die sich auch Saint-Pierre bisweilen beruft. Zu einem kurzen Überblick über Vaubans politisches Denken vgl.
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brachte der französische Finanzminister Desmarets im August 1709 in einem Bericht an den König deutlich zum Ausdruck: „le ministre évoquait l'interruption de la circulation de l'argent, les mauvaises rentrées de l'impôt, la faillite du système fïsco-financier, la cherté des blés, le défaut de consommation des produits alimentaires et manufacturés, ensemble de maux dus à la conjonction d'une mauvaise récolte, d'une disette et de l'excès de la fiscalité ordinaire et extraordinaire sous forme d'offices, d'aliénation des domaines, de constitutions de rentes, de taxes multiples qui produisaient, selon lui, la cessation du travail, paralysant ainsi toute l'économie. 'A tout ces maux, concluait-il, il n'est pas possible de trouver des remèdes que par une prompte paix.'"7
Es ist also durchaus zutreffend, die Entstehung des Projet de paix auf die Erfahrung des Krieges zu beziehen, da Saint-Pierre zu der Generation der des permanenten Krieges Überdrüssigen zählt. 1658 geboren, hat er inmitten der zahlreichen größeren und kleineren Kriege Frankreichs gegen die übrigen europäischen Mächte gelebt,8 - eine historische Phase, die ironischerweise mit dem Vertrag zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges von 1713 genau in jenem Jahr und in jener Stadt zu Ende geht, die auf dem Titel der ersten Ausgabe von Saint-Pierres Projet de paix erscheinen werden: „A UTRECHT ... M.DCC.XIII."9 Mit Recht hat folglich Goyard-Fabre festgehalten, daß Ludwig XIV., dessen Tod zwei Jahre später die ein halbes Jahrhundert währende Zeit europäischer Kriege endgültig beendete, in den Augen Saint-Pierres als „un fauteur de guerre et de malheur" erscheinen mußte, so daß man zu dem Urteil kommen kann: „Le Projet de Paix Perpétuelle est d'abord le cri d'une conscience révoltée par tant de souffrances et de meurtres".10 Zugleich aber ist das Friedensprojekt keineswegs als der bloße Ausdruck eines Aufschreis des Gewissens angesichts der Erfahrung einer als mörderisch empfundenen Politik des Krieges und der Gewalt zu sehen. Die empirische Motivation Saint-Pierres, das Projekt in Angriff zu nehmen, darf nicht mit der Begründungsstruktur der Notwendigkeit und institutionellen Bedingungen einer internationalen Rechtsordnung identifiziert werden. Denn für Saint-Pierre ist dieses System des Krieges, das die Außenpolitik Ludwigs XIV. und des Europa der Jahrzehnte vor und nach der Wende zum 18. Jahrhundert kennzeichnet, nicht von dem Charakter der politischen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zu trennen, wie sie im Inneren der europäischen Staaten, in besonderer Weise aber in Frankreich, bestehen. Insofern ist es nur konsequent, wenn Saint-Pierre am Beginn seines Projet de paix an jener Stelle, an der er von der Motivation spricht, die ihn zur Abfassung seiner Abhandlung bewegte, auf den Gesamtzusammenhang der gesellschaftlichen Probleme hinweist, seien es
Sée, Les idées politiques au XVIP siècle, pp. 300 ff.; Fetscher, Politisches Denken, S. 432 f.; Keohane, Philosophy and the State, pp. 327 ff. Cornette, Absolutisme et Lumières, pp. 96 f. Er selbst rechnet 1733 rückblickend vor, daß „les guerres dèz trois derniers Régnés ont duré plus de 70 ans", und sie hätten für Frankreich immense Verluste an Menschenleben, materiellem Wohlstand und Entwicklungschancen nach sich gezogen; vgl. Saint-Pierre, Suplément à l'Abrejé du Projet de Paix, p. 5. Vgl. hierzu mit Hinweisen auf entsprechende Formulierungen Saint-Pierres die Rekonstruktion der Entstehung des Projet de paix seit 1707/1708 unten, S. 126 ff. Goyard-Fabre, Introduction, Présentation, p. 41 ; dies ist eben jene humanitäre Perspektive auf das Friedensprojekt, die auch Rousseau in der oben, S. 98, zitierten Eingangspassage aus seinem 'Extrait du projet de paix' (p. 563) einnimmt.
Politik, Frieden und Recht: D i e Begründung internationaler Rechtsverhältnisse.
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solche im sozialen, politischen, ökonomischen oder finanzpolitischen Bereich, seien es solche innerhalb der Staaten oder im Verhältnis zwischen ihnen. Er sei, so schreibt er hier, „instruit par mes yeux de l'extrême misère où les Peuples sont réduits par les grandes Impositions, informé par diverses Rélations particulières des Contributions excessives, des Fouragemens, des Incendies, des violences, des cruautez, & des meurtres que souffrent tous les jours les malheureux Habitants des Frontières des Etats Chrétiens; enfin touché sensiblement de tous les maux que la Guerre cause aux Souverains d'Europe & à leurs Sujets". 11
Dem Projet de paix liegt mithin wie der politischen Theorie des Abbé de Saint-Pierre insgesamt die Annahme einer fundamentalen Dialektik von Frieden, Recht und vernünftiger Organisation der Beziehungen sowohl innerhalb als auch zwischen den Staaten zugrunde. Frieden, Recht und eine vernünftige Gesellschaftsverfassung bedingen und verstärken einander wechselseitig, jedes dieser drei Elemente verweist auf die anderen, derer es bedarf, um die Möglichkeiten zu realisieren, die in ihm liegen. 12 Erst wenn durch die Institutionalisierung von Rechtsverhältnissen die Bedingungen einer friedlichen Form von inner- und zwischenstaatlichem Verkehr und Konfliktaustragung garantiert sind, kann die Vorherrschaft des Rechts des Stärkeren mitsamt den daraus resultierenden negativen Folgen für den gesellschaftlichen Fortschritt und Wohlstand überwunden werden. Die Vollendung der rationalen Organisation des Staates setzt somit die rechtlich garantierte Friedensordnung sowohl zwischen den Staatsbürgern als auch zwischen Staaten voraus. Die Herstellung internationaler Rechtsverhältnisse ist dabei in doppelter Hinsicht konstitutiv für die Ermöglichung innergesellschaftlicher Rationalisierung. Zum einen nämlich wird erst unter diesen Bedingungen eine Einschränkung der Macht der herrschenden Kreise und ihre Verpflichtung auf die Beförderung gesellschaftlichen Fortschritts und Wohlstands möglich. Nur wenn das Problem der Erhaltung und Sicherung des äußeren Friedens gänzlich in den Hintergrund tritt, kann verhindert werden, daß eine „Einzelperson die Machtfülle eines [...] Diktators" auf sich vereinigt, 13 denn eine solche Konzentration politischer Macht wird vor allem durch die Behauptung gerechtfertigt, nur durch solche Herrschaftsstrukturen sei die für den Fall der Kriegsführung gegen äußere Feinde erforderliche Flexibilität und Konzentration der Kräfte zu gewährleisten. Erst innerhalb des „Système de la Société & de la Paix" hingegen können alle, Bürger wie Souverän, auf „la voye de l'équité & du droit" verpflichtet werden, 14 eine Form der Rechtssicherheit, die grundlegend ist für die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft. Denn auf der anderen Seite - und in erster Linie - ist für Saint-Pierre der durch rechtliche Institutionen und Regeln gesicherte Frieden eine Notwendigkeit für die ökonomische Entwicklung und den Reichtum von Nationen und Individuen. Erst die völlige Gewißheit hinsichtlich der Unverbrüchlichkeit des zwischenstaatlichen Friedens kann die Verschwendung materieller und menschlicher Ressourcen für Sicherheits-,
Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. ii f. In diesem Sinne macht Bottaro Palumbo den Zusammenhang zwischen Frieden, politisch-gesellschaftlichen Institutionen und einer diese befördernden politischen Wissenschaft bei Saint-Pierre deutlich: „la paix est la base de la prospérité, du bonheur, du développement d'un Etat; elle en est la condition indispensable, mais elle ne peut pas être obtenue sans une connaissance scientifique de la politique des Etats, voire sans une science de la politique" ('De justice paix, de paix abondance', p. 27). Saint-Pierre, Polysynodie, S. 194. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 209.
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Das Projet de paix perpétuelle als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
Rüstungs-, Kriegs- und Kriegsfolgekosten beenden und die Konzentration der staatlichen Tätigkeit auf ihre Aufgabe ermöglichen, die für den wirtschaftlichen Fortschritt erforderlichen politischen, rechtlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen zu schaffen, wozu Saint-Pierre unter anderem zählt: „die großen Straßen pflastern zu lassen und noch sicherer zu machen; und die Flüsse schiffbar; unsere Gesetze so zu gestalten, daß die Zahl der Prozesse abnimmt, das Steuerwesen vervollkommnen, so daß den öffentlichen Kassen mehr zufließt, obwohl die Völker weniger Steuer zahlen; die Armenhäuser zu vervollkommnen ebenso wie die Erziehung der Kinder; den Künsten und Wissenschaften nach dem Maße ihrer Nützlichkeit dienen; Mittel zur gerechten Vergabe von Belohnungen und Ämtern finden". 15
Alle diese Maßnahmen dienen dazu, den in Saint-Pierres Augen zentralen Motor des gesellschaftlichen Fortschritts in Gang zu bringen und aufrechtzuerhalten, nämlich „den Handel erblühen zu lassen und die Hindernisse, welche ihn hemmen, abzubauen bzw. Bedingungen, welche ihn fördern, zu vermehren." 16 Dieser Bezug auf den Handel verweist auf eine ganz grundsätzliche Bedeutung und Funktion, die Saint-Pierre zufolge der Sicherung des inner- wie des zwischenstaatlichen Rechtsfriedens zukommt. Für ihn sind nämlich der innere und äußere Handel die hauptsächliche Quelle allen Reichtums, und wenn die Menschen und Staaten dem herrschenden oder stets drohenden Elend entkommen sollen, muß sich der Handel universell und ohne Unterbrechung entfalten können. 17 Entsprechend der Struktur der innerstaatlich gesicherten Gleichheit und Sicherheit des Rechts setzt dieser Handel auf internationaler Ebene eine analoge Struktur rechtlicher Sicherheit voraus, die Schaffung von „Loix du Commerce [...] égales & réciproques entre les Nations". 18 Bereits bei der ersten Erwähnung des Friedensprojekts überhaupt, die sich in einem auf Anfang Januar 1708 datierten Nachwort zu einem Buch Saint-Pierres findet, erscheint diese kausale Verknüpfung, die für ihn zwischen dem internationalen Rechtssystem und dem Handel besteht. An dieser Stelle nämlich heißt es, es gehe um „l'établissement d'un arbitrage permanent entre eux pour terminer sans Guerre leurs diferens futurs & pour entretenir ainsi un Commerce perpetuel entre toutes les Nattions [sic!]." 19 Offensichtlich ist für Saint-Pierre damit aber die Institutionalisierung einer 15
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Saint-Pierre, Polysynodie, S. 170. - Vgl. hierzu schon seine Ausführungen im Projet de paix, I, pp. 214 ff. und 226 ff., die zeigen, daß er einen großen Teil seiner erst in den zwanziger und dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts ausgeführten und publizierten politischen Projekte und Reformvorschläge schon zu Beginn des Jahrhunderts vertrat. Saint-Pierre, Polysynodie, S. 170; dementsprechend bezeichnet er es durchgängig als Ziel des Projekts, daß „le Commerce, soit intérieur, soit étranger, ne sçauroit être presque jamais interrompu" (Projet de paix, I, p. 50). Vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 49 f., IE, pp. 92 ff., UI, pp. 110 ff. u. ö.; zur Bedeutung Saint-Pierres als politischer Ökonom vgl. Perkins, The Moral and Political Philosophy, pp. 73 ff.; Drouet, L'abbé de SaintPierre, pp. 176 ff., sowie ebd., Kap. IX und X. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 203. Ebd., I, p. 320 erklärt er es zu einem der wichtigsten Ziele der Gründung eines Friedensbundes, „de faire de bonnes Loix pour le Commerce des Nations d'Europe, & de trouver les moyens de les faire bien exécuter". - Vgl. hierzu die systematischen und theoriegeschichtlichen Bemerkungen von Goyard-Fabre, Introduction, Présentation, pp. 513 f., Anm. 26, sowie Bottaro Palumho, 'De justice paix, de paix abondance', pp. 38 ff. Saint-Pierre, Reparation des chemins, p. 74 (Hervorh. O.A.). Im Zusammenhang wird dieser erste Hinweis weiter unten diskutiert, vgl. S. 126 f.
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Politik, Frieden und Recht: D i e Begründung internationaler Rechtsverhältnisse.
Friedensordnung zwischen Staaten nicht nur die Voraussetzung, sondern andererseits auch die logische Fortführung und das Resultat der am Allgemeinwohl orientierten Organisation der Staaten. Dort, wo die gesamte Staatstätigkeit darauf ausgerichtet ist, dem Zweck der Wohlfahrt und dem Glück der Menschen zu dienen, ist zwischen Staaten ausschließlich der friedlich geregelte Verkehr, keinesfalls aber der Krieg ein legitimes Mittel der Politik, so daß die Bereitschaft, einem friedensgarantierenden Bund beizutreten, nach Saint-Pierre erheblich zunehmen wird. Denn in diesem Falle werden die „friedfertigen Nachbarn sich gerne mit einer Regierung in Verteidigungsbündnissen zusammenschließen, in der die Berater der Politik ein Privatinteresse daran haben, den Krieg fernzuhalten und den Frieden zu bewahren sowie nichts anderes beabsichtigen als die Verteidigung nach außen und die Vervollkommnung der Gesetze und des geordneten Zusammenlebens (police) im Inneren." 20 Der internationale Bund erfüllt somit - und damit weist Saint-Pierre unmittelbar auf zentrale Bestimmungen des Denkens Rousseaus voraus - eine wesentliche Funktion bei der Erzeugung und Sicherung einer wohlgeordneten Einrichtung des gesellschaftlichen Lebens, der Herrschaft des Gesetzes statt der des Stärkeren, der Verhinderung von Tendenzen, die sich aus der bellizistischen Struktur der internationalen Beziehungen für die internen Machtverhältnisse ergeben. Wie sich für Rousseau die Gefährdungen eines politischen Gemeinwesens oft weniger aus der Verfassung selbst als aus den „relations externes" ergeben, 21 muß für Saint-Pierre schon der „Europäische Polizierungsvertrag" auch zu dem Zweck gegründet werden, um in den einzelnen Staaten die grundlegenden Gesetze aufrecht zu erhalten und „die Könige daran [zu] hindern, zu Tyrannen vom Schlage eines Nero zu verkommen." 22 Der Zweck und das Ziel des Bundes besteht mithin nicht in der Aufrechterhaltung der Herrschaft um ihrer selbst willen, sondern in der Sicherung und Erhaltung des gesellschaftlichen Zusammenhangs und seiner Entwicklung. „Les Alliés auront alors pour baze de leurs règlemens la maxime, Salus populi
suprema
lex es-
ta, la conservation du Peuple & de l'Etat est la Loi suprême". 2 3
m.2.2
Die naturrechtliche Begründung internationaler Rechtsverhältnisse
Die generelle Stoßrichtung und der Kern des Projet de paix perpétuelle des Abbé de SaintPierre dürfte nach den vorausgegangenen Ausführungen schon deutlich geworden sein. Die Frage des Friedens zwischen Staaten ist nichts, was auf das Gefühl zu gründen wäre, sei es das Gefühl eines allgemeinen humanitären Ideals, sei es auf die christliche Menschenliebe. Die Frage der Begründung internationalen Rechtsfriedens verweist ihn direkt auf die Grundlage der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, die auf der Idee des Rechts basiert, d. h. auf den Prinzipien einer durch ein System objektiver Rechte und Pflichten konstituierten 20
21 22 23
Saint-Pierre, Polysynodie, S. 253. Hier drängt sich der Hinweis auf den ersten Definitivartikel in Kants Zum ewigen Frieden (S. 348 ff.) auf, der die friedenspolitische Bedeutung eines auf die Verfolgung des Handels und des individuellen Nutzens ausgerichteten republikanischen Gemeinwesens hervorhebt: „Der privat wirtschaftende Besitzbürger ist an Krieg und außenpolitischer Gewaltanwendung nicht interessiert, muß daran über den Bezug zu seiner Sicherheit künstlich motiviert werden" (Czempiel, Kants Theorem, S. 310). Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 564. Saint-Pierre, Polysynodie, S. 222. Saint-Pierre, Abrégé du paix perpétuelle (1729), pp. 29 f.
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Das Projet de paix perpétuelle
als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
Sphäre subjektiver Handlungsfreiheit. Wie schon bei Hobbes und später bei Kant ist in der politischen Theorie Saint-Pierres der Frieden, die Aufhebung des Naturzustandes, die fundamentale Voraussetzung für allen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Fortschritt; Frieden aber ist nur durch Recht zu gründen und zu sichern. Auf inner- wie auf zwischenstaatlicher Ebene sollen nicht Willkür und Leidenschaften herrschen, sondern für die Staaten muß wie für die Bürger gelten, ,,[qu']ils ont une autre Regle que leur volonté, c'est la Loy." 24 In diesem Versuch, die Sphäre subjektiver Willkür durch ein System objektiven Rechts zu überformen und zu strukturieren, sind der Kern und die grundlegende Struktur des Projektes des Abbé de Saint-Pierre, die Voraussetzungen und Bedingungen des Rechtsfriedens zwischen Staaten zu demonstrieren, zu sehen, ein begründungstheoretischer Zusammenhang, dem in der bisherigen Literatur nur selten Beachtung geschenkt worden ist und der im folgenden näher betrachtet werden soll. Seitdem sich Saint-Pierre in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts zunehmend von der Moralwissenschaft ab- und der Wissenschaft von der Politik zugewandt hat, hat er sich mit den führenden Vertretern der antiken und modernen politischen Theorie vertraut gemacht; hierzu zählten die Schriften Piatons, Bodins, Grotius' und Pufendorfs ebenso wie die von Machiavelli, Hobbes, Richelieu, Doria und Fénelon. Das Bewußtsein methodischer, historischer und systematischer Kontinuität des politischen Denkens bildet den Hintergrund, vor dem er in seinem Friedensprojekt daran geht, die rationalistische Methode, zu sicherer und deutlicher Erkenntnis zu kommen, auf die Problematik der internationalen Beziehungen anzuwenden. Dabei ist für Saint-Pierre das Ideal einer more geometrico verfahrenden Erkenntnis leitend gewesen, und zwar insbesondere jenes resolutiv-kompositorische bzw. analytisch-synthetische Verfahren, wie es Descartes zuerst in der theoretischen Philosophie entwickelt und wie es Hobbes dann in das Gebiet der praktischen Philosophie übertragen hatte. 25 Die allgemeinen und notwendigen Prinzipien und Bedingungen der Möglichkeit einer friedlichen Regelung des Zusammenlebens der europäischen Staaten müssen demnach „avec évidence" demonstriert werden, indem auf die ersten Ursachen der Erscheinungen zurückgegangen und das Ganze der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit in seinem Funktionieren - bzw. in seinem notwendigen Nichtfunktionieren - einsichtig gemacht wird: „Je demande au Lecteur, c o m m e on fait en Geométrie, de ne point passer d'une Proposition à une autre, si les preuves de celle qu'il vient de lire ne lui paraissent pas suffisantes". 2 6
Saint-Piérre, Projet de paix, I, p. 13. Hobbes hat Philosophie als „die rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gründen und umgekehrt der möglichen erzeugenden Gründe aus den bekannten Wirkungen" bestimmt und führt aus der Geometrie das Beispiel des Kreises an: „Gesetzt, man sehe eine ebene Figur, die der Figur des Kreises so nahe wie möglich kommt, dann läßt sich durch bloße Wahrnehmung nicht erkennen, ob sie in Wahrheit ein Kreis ist oder nicht; wohl aber, wenn man die Entstehung der in Frage stehenden Figur kennt." (Hobbes, De corpore, 1.2, S. 6, und 1.5, S. 8). Der Frage, ob Saint-Pierre mit dem Werk von Spinoza, der in seiner Erstlingsschrift Descartes' Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet und seine Ethik auf geometrische Methode dargestellt hat, vertraut gewesen ist, ist m.W. bisher noch nirgends nachgegangen worden. Saint-Pierre, Abrégé du paix perpétuelle (1729), p. 6. Vgl. hierzu insgesamt nochmals oben, Kap. D.3, S. 66 ff. - Zum 'Pseudo-Cartesianismus' in Saint-Pierres politischer Theorie vgl. Perkins, The Moral and Politicai Philosophy, pp. 83 ff.; zu seinem methodischen Verfahren im Projet de paix vgl. unten, S. 168 ff.
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Nimmt man diesen Begründungsanspruch ernst, und zieht man den skizzierten Hintergrund seiner politischen Konzeptionen und Interventionen in Betracht, so zeigt sich, daß auch Saint-Pierres Projekt alles andere als das Produkt einer philantropischen Schwärmerei ist, sondern eine „application of scientific, political, legal, and economic doctrine", die einen eigenständigen Rang in der Geschichte des modernen politischen Denkens beanspruchen kann. 27 Dabei erweist sich insbesondere, daß es das Werk von Thomas Hobbes ist, das in methodischer Hinsicht wie auch im Hinblick auf seine zentralen inhaltlichen Bestimmungen von eminenter Bedeutung für Saint-Pierre ist. Zwar wagt es Saint-Pierre kaum einmal, sich namentlich auf Hobbes zu beziehen, was schließlich auch wenig opportun war, insofern dieser ungeachtet seines tatsächlichen Einflusses das ganze 18. Jahrhundert hindurch noch weithin als Unperson galt, sei es nun aufgrund seiner scharfen Kritik am Einfluß der (katholischen) Kirche auf Staat und Politik, sei es als einer jener vermeintlichen, wie es bei Rousseau heißt, „fauteurs du despotisme", welche die Freiheit der Bürger der Allmacht des souveränen und absoluten Souveräns geopfert hätten. 28 Dennoch knüpft Saint-Pierre an den systematischen Gehalt des Denkens von Hobbes, dessen methodisches Vorgehen er ausdrücklich lobt, 29 an und führt es weiter. Der Dissens zwischen Hobbes und Saint-Pierre bezieht sich der Sache nach vornehmlich darauf, daß Hobbes die Deduktion einer allgemeinen Rechts- und Friedensordnung, wie er sie im Leviathan und in De cive vorführt, nicht weit genug getrieben, nämlich nicht auf die Sphäre der internationalen Beziehungen ausgedehnt hat. Indem sich Saint-Pierre eben dieser Aufgabe stellt, zieht er gleichsam jene „interne Konsequenz", die zuweilen bereits als eine schon im Hobbesschen Ansatzes selbst liegende bezeichnet worden ist, insofern die von Hobbes im Naturzustand beschriebene „Ausgangssituation [...] eigentlich einen Weltstaat [erzwungen habe], denn das Schutzbedürfnis vor dem gewaltsamen Tod bezog sich auf jeden potentiellen menschlichen Angreifer überhaupt." 30 Wie bereits einleitend dargestellt, hatte Hobbes selbst die internationalen Beziehungen zwischen den Staaten zwar explizit als Beispielfall für den Realitätsgehalt der Naturzustandshypothese benannt, dennoch aber keinen Grund gesehen, sich auf diese Konsequenz einzulassen. 31 Die entscheidende Leistung
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Perkins, The Moral and Political Philosophy, p. 139. Ebenso bemerkt Goyard-Fabre (Introduction, Présentation, pp. 72-73), daß „l'abbé de Saint-Pierre ne se borne pas à mêler ses plaintes à celles de ses contemporains. D n'est pas non plus, comme on l'a dit, un 'rêveur' ou un 'romantique' avant l'heure et avant la lettre. [...] il ne suffit pas de déplorer l'existence de conflits sanglants entre les hommes et les nations. Les arguments sentimentaux sont de piètre portée, lors même ils sont justes, en matière de bellicisme ou de pacifisme [...], ces convictions affectives et morales, si nobles fussent-elles, ne servent en rien à l'institution et à l'organisation de la paix." Rousseau, Du contrat social, p. 359 (1.5). Zu Rousseaus Verhältnis zu Hobbes vgl. unten, S. 218 ff. Zur Rezeption des Hobbesschen Denkens im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Derathé, Rousseau et la science politique, pp. 100-113. Vgl. etwa Saint-Pierre, Progrez de la politique, Ms. Caen VIH, pp. 16-17, wo es heißt: „Thomas hobbes anglois a plus aproché de la bonne métode de démontrer, parce qu'il avoit étudié long tems la geométrie; mais faute d'embrasser tous les principes de la décizion d'une question, au lieu de véritables démonstrasions, il nous a donné, comme machiavel italien, beaucoup de paralogismes en matières trez inportantes." Diese Passage findet sich ähnlich in ders., Sur le Ministère Général, Ouvr., VI, p. 128. Brandt, Historisch-kritische Beobachtungen, S. 79. Vgl. Hobbes, Leviathan, p. 187 (Xffl.12), und oben, S. 33 ff., S. 41, Anm. 8.
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Das Projet
de paix perpétuelle
als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
des Friedensprojektes des Abbé de Saint-Pierre besteht darin, eben das erkannt und die Konsequenz gezogen zu haben. Das Projet de paix perpétuelle beruht auf der philosophiegeschichtlich erstmaligen und konsequenten Übertragung des kontraktualistischen Gedankens der neuzeitlichen Naturrechtstheorie auf die Sphäre des Verhältnisses zwischen den als Individuen gedachten Staaten.32 Wie bei Hobbes werden bei Saint-Pierre zu diesem Zweck die ursprünglichen Elemente des Handlungssystems - die freien Individuen bzw. Staaten - 'analytisch' herauspräpariert, um auf dem Wege der Rekonstruktion der komplexen 'synthetischen' Beziehungen zwischen ihnen die hierin wirkenden und für die systemadäquat funktionierende Organisation des Ganzen notwendigen Gesetze aufspüren zu können. Dann kann er zeigen, welches die „premiers principes de la Police" sind, „quel est la base de cette même Société, quel en est le principal lien".33 Diese Basis des gesellschaftlichen Zusammenhangs und die Legitimität des in ihm bestehenden - staatsrechtlichen - Bandes kann jedoch nicht einfach in seiner empirischen, faktischen Existenz und Macht begründet sein, da sonst Macht und Recht in eins fallen würden. Die Frage nach einer von der faktischen Gewalt unterscheidbaren Rechtsgrundlage politischer Herrschaft wäre sinnlos. Die fundamentale Rolle des Vertrags besteht demgegenüber bei Hobbes wie bei Saint-Pierre darin, die nicht-empirischen, d. h. die nicht auf äußerem Zwang beruhenden Geltungsgründe der Strukturen von Recht- und Staatlichkeit zu rekonstruieren und aufzuweisen, wie sie durch Rückgang auf den Willen der Gesellschaftsmitglieder selbst als vernünftig begründet gedacht werden können. Im einzelnen muß demzufolge als vernünftig nachgewiesen werden: (a)
der Zusammenschluß zu einer übergreifenden politischen Körperschaft,
(b)
der Verzicht auf die bis dahin bestehenden 'natürlichen', weil durch keinerlei allgemeine gesellschaftliche Institutionen beschränkten Freiheiten und Rechte sowie
(c)
die Unterwerfung unter die höchste Instanz jener neugeschaffenen Körperschaft, welcher es zukommt, das allgemein geltende Recht zu setzen und durchzusetzen.
Dabei dient die Idee des Vertrages dazu, die Legitimität einer die einzelnen Gesellschaftsmitglieder übergreifenden (Staats-)Macht dadurch zu zeigen, daß sie vernunftnotwendig ist, d. h.
Saint-Pierre war, wie viele Stellen in seinen Schriften zeigen, die Naturrechtslehre vor allem Grotius' und Pufendorfs bekannt (zu Pufendorf vgl. unten, S. 161 ff.). Ihre Kenntnisnahme wurde in Frankreich insbesondere durch die Übersetzungen durch Jean Barbeyrac gefördert, der in seinem Anmerkungsapparat die ganze neuzeitliche politische und naturrechtliche Lehre präsentierte. Barbeyracs Übersetzung von Pufendorfs naturrechtlichem Hauptwerk erschien erstmals 1706, sorgte europaweit für Aufsehen und wurde zu einem regelrechten „Verkaufsschlager" (Othmer, Berlin und die Verbreitung des Naturrechts, S. 124 ff.). Zudem zählten zu Barbeyracs Pariser Förderern und Korrespondenten Männer wie der Abbé Bignon, d'Aguesseau oder Torcy (vgl. ebd., S. 148 f.), mit denen auch Saint-Pierre in Verbindung stand. In Saint-Pierres Nachlaß findet sich ein Préface du traducteur M. de Castera iiberschriebenes, auf den Dezember 1734 datiertes Manuskript, in dem hervorgehoben wird, daß „L'illustre M', de Barbeyrac nous a fait conoître par les belles traductions de Grotius & de Pufendorf, & par ses savantes notes, le degré ou cete siance etoit montée en holande & en alemagne" (Ms. Caen, Doss. VII). Saint-Pierre, Projet de paix, ni, pp. xxvi f.
Politik, Frieden und Recht: D i e Begründung internationaler Rechtsverhältnisse.
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(1.) daß eine solche Struktur politisch-rechtlicher Vergesellschaftung notwendig ist aufgrund der Defizite der Struktur der Beziehungen zwischen ihnen ohne diese allgemeine Macht; (2.) daß jene allgemeine Zwangsgewalt das Produkt des freien Willens der auf die gesellschaftlichen Bedingungen ihres Wollens und Tuns reflektierenden Einzelnen ist; (3.) daß die Normativität, die Pflicht zur Begründung einer solchen allgemeinen Macht in letzter Instanz Resultat einer Selbstverpflichtung ist. 34 Diese natur- und vernunftrechtliche Begründung der Staatsgewalt wird seit Hobbes durch folgende drei grundlegende Elemente gekennzeichnet: (1.) die Konstruktion eines Naturzustands, durch die die Notwendigkeit und Vernünftigkeit einer allgemeinen Zwangsinstanz ex negativo einsichtig und rational zwingend gemacht werden soll; (2.) die Idee eines Vertrages, durch den jene Instanz aus dem freien Willen der Vertragsparteien heraus erzeugt wird; (3.) die Demonstration der Macht, Konsequenzen und Reichweite der neugeschaffenen souveränen Gewalt, um den erreichten Vergesellschaftungszustand zu sichern und den Rückfall in den Naturzustand zu verhindern. 35 Es ist eben diese allgemeine Struktur der neuzeitlichen Tradition der Vertragstheorie, die man in Anschlag bringen muß, um die systematische Grundstruktur der Friedensschrift des Abbé de Saint-Pierre in ihrer rechtslogischen Stringenz identifizieren und angemessen bewerten zu können. Saint-Pierre entwickelt nämlich den Beweisgang zur Einrichtung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit in ausdrücklicher Parallelität zu der Situation, in der sich Individuen in einem hypothetischen Naturzustand befinden, welcher sie zum Abschluß eines Gesellschaftsvertrags und zur Unterordnung unter den Willen der so konstituierten staatlichen Souveränität bringt: „l'unique moyen de faire faire à la Police de chaque Etat un grand & solide progrés, c'est de suivre exactement les premiers principes qui l'ont fait naître, & de rapeler toûjours tout à ces premiers principes fondés sur la nature elle-même". 3 6
Zwischen den europäischen Staaten herrscht Saint-Pierre zufolge ein Zustand, der - wie bei Hobbes - von Ungleichheit, Elend, Furcht und Mißtrauen geprägt ist.37 Dieser Naturzustand ist ein „état de Guerre", 38 ein Kriegszustand, in dem sich alle Akteure mit allen anderen befinden,
Zum Kontraktualismus vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 11 ff. Vgl. zu einer detaillierten Rekonstruktion der rechtsphilosophischen Problemstellung von Hobbes' politischer Philosophie Hüning, Freiheit und Herrschaft. Saint-Pierre, Projet de paix, HI, p. xxvii. Vgl. die entsprechende Darstellung bei Hobbes, Leviathan, p. 186 (XHL9). Saint-Pierre, Projet de paix, HI, p. 81. Vgl. auch die plastische Schilderung des elenden Lebens im Naturzustand ebd., ü, pp. 360 f.
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D a s Projet
de paix perpétuelle
als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
„une Guerre presque continuelle, qui ne sçauroit être interrompuë q u e par q u e l q u e Traitez de Paix, o u plûtôt par d e véritables Trêves qu'opèrent nécessairement la presque égalité de forces, la lassitude & l'épuisement des Combattans, & qui ne peut j a m a i s être terminée que par la ruine totale du Vaincu." 3 9
Alle Versuche, diesem Kriegszustand auf herkömmlichem Wege ein Ende zu bereiten, müssen vergeblich bleiben. Ausführlich setzt sich Saint-Pierre dabei mit den Formen auseinander, in denen auf theoretischer wie auf praktischer Ebene versucht wird, den durch das Fehlen positiv-rechtlicher Verhältnisse ausgezeichneten Naturzustand zu regulieren. Einerseits verweist er hier auf die lange Reihe völkerrechtlicher Übereinkommen und Verträge, andererseits auf die insbesondere seit dem Westfälischen Frieden 1648 dominierenden Vorstellungen, den Frieden durch ein Gleichgewicht der Mächte zu sichern.40 Beide Wege müssen sich jedoch für ihn als Illusionen erweisen, denn schon die historische Erfahrung zeige, daß „ni les Traitez, ni l'Equilibre n'étoient point des préservatifs suffisans pour garantir l'Europe des malheurs de la Guerre".41 Doch Saint-Pierre bleibt bei dieser historischen Beurteilungsperspektive nicht stehen. Es ist bemerkenswert, daß er in eben jener Phase der Entwicklung der frühneuzeitlichen Staatenwelt, in der sich die Ideologie des europäischen Gleichgewichts, der Balance of Powers, erstmals durchsetzt, 42 bereits zu einer grundsätzlichen Kritik dieser Konzeption ansetzt.43 Den Vorwurf, mit seinem Projekt einem Hirngespinst nachzujagen, gibt er den Verfechtern einer gleichgewichtsorientierten Realpolitik zurück. Tatsächlich nämlich seien sie es, „[qui] séduits par de vaines apparences pren[nent] pour une réalité spécieuse une chimère qui leur coûte déjà tant d'hommes & tant de richesses, & qui leur en doit encore tant coûter"; dem hält Saint-Pierre die Ansicht entgegen, „que l'on peut attendre du Système de l'Equilibre toutes les choses incertaines, sur lesquelles son effet est fondé".44 Sowenig wie völkerrechtliche Abmachungen kann das Austarieren eines fragilen Mächtegleichgewichts zwischen den europäischen Staaten den Frieden sichern. Zwar haben diese Instrumentarien internationaler Politik durchaus Waffenstillstände und temporäre Friedensperiode zustande gebracht, doch da durch sie weder die Kriegsursachen zu beseitigen sind noch die friedliche Konfliktaustragung erzwingbar werden kann, ist mit ihnen ein dauerhafter Frieden auch nicht zu erreichen: „ c o m m e les m ê m e s causes des Guerres passées subsistent pour l'avenir sans aucuns préservatifs n o u v e a u x qui soient suffisans, c e seroit une grande imprudence de penser q u ' e l l e s ne pro-
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43 44
Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. v. Vgl. ebd., I, pp. 35 ff. Ebd., I, pp. 152 f.; vgl. auch E, pp. 354 f., E, pp. 358 f., E, pp. 362 f. Hierzu Reibstein, Völkerrecht, Bd. I, S. 453 ff., v. a. S. 472 ff. - Zur Gleichgewichtsidee und ihren Anfängen vgl. Friedrich, Gleichgewichtsdenken und Gleichgewichtspolitik, Gruner, Deutschland und das Europäische Gleichgewicht. Diesen Umstand hebt Seroux d'Agincourt, Exposé des projets de paix, pp. 68 ff., mit Recht besonders hervor. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 48. - Da also für Saint-Pierre das Gleichgewichtssystem „ne garantit point du tout des Guerres", so daß sich die Souveräne nicht länger mit „cet Equilibre" begnügen dürften (Projet de paix, I, p. 48, 57), ist sein Projekt höchstens als ein negativer „Reflex" auf das damals verbreitete Gleichgewichtsdenken zu verstehen; die Annahme, daß es „auf der Gleichgewichtsidee [beruhte], die den Utrechter Frieden bestimmt hatte" (Hömig, Der Abbé de Saint-Pierre, S. 40), ist also der Sache nach nicht zu halten, ebensowenig wie die historische Legende, nach der Saint-Pierres Projekt im Zusammenhang mit den Utrechter Friedensverhandlungen entstanden ist; vgl. hierzu unten, S. 129, Anm. 24.
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duiront pas des effets semblables. Le bois est sec, le feu en est proche, le vent soufle la flame sur le bois, pourquoi le bois ne s'allumeroit-il pas?"45 Der Grund für das Versagen der traditionellen politisch-diplomatischen Instrumente internationaler Konfliktlösung und -prävention ist für Saint-Pierre nicht in kontingenten empirischen Umständen wie etwa dem bösen Willen oder schlicht der Unfähigkeit der politischen Akteure zu sehen. Das Versagen dieser Politik trägt vielmehr den Charakter der Notwendigkeit, die sich aus den grundlegenden Strukturelementen des Naturzustandes ergibt. Denn die Sicherheit, daß eingegangene Verträge auch eingehalten werden, setzt die Existenz einer allgemeinen Rechtsordnung voraus, die wiederum nicht ohne eine allgemeine, sie zu setzen und durchzusetzen vermögende Zwangsinstanz bestehen kann. Im real existierenden Naturzustand zwischen den souveränen Oberhäuptern der Einzelstaaten gibt es hingegen nur prinzipiell unbeschränkte wechselseitige Rechtsansprüche, weil jeder Souverän erklärt, er sei „seul Juge dans [s] a propre Cause". 46 Da es keine übergreifende Instanz gibt, die die widerstreitenden (subjektiven) Rechtsansprüche ihrem souveränen Urteil unterwerfen könnte, bedeutet dies für die Verhältnisse zwischen Staaten, daß es letzten Endes überhaupt kein (objektives) Recht geben kann: „il n'y a aucun Droit dans la signification précise du terme, Droit, du terme, Jus."41 Die Rede von einem 'Völkerrecht' wird damit strenggenommen gänzlich unmöglich, da die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht zu einer Differenzierung wird, die der willkürlichen Entscheidung eines jeden Subjekts überlassen ist und keinerlei objektive Gültigkeit beanspruchen kann. Verträge sind unter den gegebenen Verhältnissen bloße „Recueils de promesses respectives", 48 ihnen kommt wie allen anderen wechselseitigen Verpflichtungen und Abmachungen „rien de solide" zu, denn solange es keine allgemeine Gewalt gibt, die die Kompetenz besitzt, die wechselseitigen Verträge und Abmachungen im Streitfalle verbindlich auszulegen und über ihre Einhaltung zu wachen, entscheidet nicht das Recht, sondern die bloße Gewalt: „pour tout moyen d'obtenir leurs prétentions, les Souverains se trouvent réduits au sort de la Guerre" 49 45 46
47 48 49
Saint-Pierre, Abrégé du projet de paix (1729), p. 19. Saint-Pierre, Projet de paix, ni, p. 7. Denn - und hier zeigt Saint-Pierre die Widersinnigkeit der gängigen Versuche, Kriege durch Rechtsansprüche als 'gerechte' legitimieren zu wollen - ein jeder Fürst, der solche Rechte geltend machen wollte, müßte „s'attendre à un cahos de droits nouveaux opposez entr'eux, opposez à des droits plus anciens, & ceux-ci à des droits encore plus anciens, qu'il serait d'autant moins possible de débrouiller & de décider, qu'il n'y aurait presque aucun principe certain de décision" (I, p. 312). Nichts nämlich sei einfacher, „en rémontant de siècle en siècle, que d'établir une espèce de Pyrrhonisme en fait de droits de Souverain à Souverain, d'Etat à Etat, & de rendre de pareils droits douteux, quand on a intérêt d'en faire douter" (I, p. 311). Saint-Pierre, Memoire pour diminuer le nombre des procès, pp. 393 f. Saint-Pierre, Abrégé du projet de paix (1729), p. 17. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 8; vgl. ebd., I, pp. 17 ff. - Saint-Pierre liefert damit eine deutliche Kritik der Geltung jenes völkerrechtlichen „soft law", an das bis heute noch gerne geglaubt wird. Nach Saint-Pierre hingegen fehlt dem 'soft law' im Gegensatz zum 'hard law', d. h. dem durch einen obersten machthabenden Willen bestimmten Recht, der Rechtscharakter: 'soft law' ist materiell nichts als die Summe der subjektiven Willensäußerungen, deren Geltung nur so weit trägt, wie die ihre Einhaltung motivierenden Gründe überwiegen; die Befolgung ist keine Frage des Rechts, sondern eine des Kalküls. Zur Terminologie von 'soft' bzw. 'hard law' im Hinblick auf die internationalen Rechtsbeziehungen vgl. Steiger, Frieden durch Institution, S. 159, der freilich im Unterschied zu Saint-Pierre nicht juridisch, sondern empirisch argumentiert und keine qualitative, sondern nur eine graduelle Differenz erkennen und „soft law als Vorstufe zu hard law" konzipieren will; vgl. hierzu auch unten, S. 118, Anm. 63.
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In einem solchen Zustand verbleiben zu wollen, widerspräche aber nicht nur den Interessen, sondern auch der Vernunft der im Naturzustand souveränen Akteure. Schon Hobbes hatte es nicht nur als einen bloßen Mangel an Klugheit, sondern als einen Widerspruch der Vernunft mit sich selbst bezeichnet, im Naturzustand bleiben zu wollen, weil das vermeintliche Recht auf alles sich notwendigerweise als ein Recht auf nichts herausstellt, so daß „die Wirkung eines solchen Rechts [...] so ziemlich dieselbe [ist], als wenn überhaupt kein Recht bestände". 50 Ebenso erweist sich auch für Saint-Pierre die vermeintlich absolute Freiheit und Unabhängigkeit der Souveräne de facto wie auch systematisch als absolute Unfreiheit, Unsicherheit und Abhängigkeit. 51 Dabei besteht der gravierendste dieser „inconvéniens" darin, daß, im Unterschied zum Gesellschaftszustand, niemand das Eigentum an irgend etwas Bestimmtem rechtmäßig beanspruchen und sich jeweils nur seines faktischen Besitzes sicher sein kann. „C'est un grand avantage pour chacun des membres, qu'il y ait des Loix, c'est-à-dire des regles pour pouvoir discerner ce qui appartient à l'un, & ce qui appartient à l'autre, & dans les choses douteuses, qu'il y ait un Arbitrage qui se regle dans ses jugemens par l'intérêt commun, ou par le plus grand intérêt des membres, au lieu que dans le non Arbitrage nul ne peut compter sur la propriété d'aucun bien, parce que le voisin offensé peut s'en emparer [...] pour se dédommager du tort qu'il croit avoir souffert, ou pour se vanger de l'offense qu'il a reçûë". 52
In einem Zustand also, in dem das Recht auf alles gilt, kann nach Saint-Pierre wie nach Hobbes ein jeder auf alles, worüber ein anderer verfügt, ebenfalls und mit gleichem Recht Anspruch erheben, so daß man jeweils nur dasjenige sein eigen nennen darf, was man notfalls auf gewaltsamem Wege behaupten kann. Deshalb ist für Saint-Pierre im Naturzustand „la malheureuse nécessité d'être méchan[t]" 53 auch keine anthropologische Kategorie, sondern Resultat des aus dieser Konstellation einer Handlungssphäre absolut freier, rechtlich nicht gebundener Subjekte sich ergebenden Zwangs, die präventiven Maßnahmen zu ergreifen, die zur Erhaltung ihrer selbst und der dazu erforderlichen Gegenstände notwendig sind. Damit die Akteure einander nicht mehr länger als „bêtes féroces les uns à l'égard des autres" gegenübertreten müssen, 54 bedarf es keiner moralischen Traktate oder sonstiger pädagogischer Maßnahmen, sondern der Einrichtung einer allgemeinen Rechtsordnung, in der sie zu Rechtssubjekten werden, die bestimmte Rechte und Pflichten gegeneinander haben. Wirkliche Sicherheit für „Life, Liberty and Estate" 55 ist für Saint-Pierre also untrennbar verbunden mit der Existenz positiver Rechte und Gesetze, denn das vorstaatliche „vie des Sauvages, avec leur indépendance de toutes Loix, [est] jointe à la dure et perpétuelle dépendance les uns des autres". 56 Demgegenüber sind die Individuen in einer staatlich verfaßten Gesellschaft unter einem souveränen Oberhaupt nur noch, wie Rousseau in einer argumentativ
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56
Hobbes, De cive, S. 83 (1.11); im Zusammenhang ebd., S. 81-84 (1.7 - 13). Vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, HI, pp. 71 ff. Ebd., m, pp. 78 f. Ebd., m, p. 131; vgl. ebenso ebd., I, p. 6. Ebd., n, p. 361. So die klassische Trias des durch die kontraktualistische Begründung von Recht und Staat zu Sichernden bei Locke, Two Treatises on Government, p. 341 (E, § 87). Saint-Pierre, Projet de paix, H, p. 362.
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analogen Konstruktion schreibt, dem , j o u g salutaire et doux" der öffentlichen Gesetze unterworfen 57 und trotzdem bzw. gerade deshalb frei: „Nous dépendons à la vérité des Loix & d'une Société protectrice de ces Loix; mais nous ne dépendons plus les uns des autres".58 U m eine solche Ordnung zu begründen, bedient Saint-Pierre sich der Figur des Vertrages. Durch einen Vertrag miteinander verzichten die innerhalb des Naturzustands souveränen Akteure wechselseitig auf ihr Recht auf alles, d. h. auf alle gegenwärtigen und künftigen Ansprüche, die sie gegeneinander erheben könnten. Sie werden zu Gliedern einer Rechtsgemeinschaft und beschränken sich auf die Sicherung dessen, was sie zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses besitzen. 59 Wie der Gesellschaftsvertrag aus den Individuen freie und gleiche Rechtssubjekte macht, so bedeutet in der Sphäre der internationalen Beziehungen dieser ursprüngliche Akt der wechselseitigen und verbindlichen Anerkennung des territorialen 'Status quo', daß von diesem Augenblick an eine objektive Unterscheidung zwischen „le mien & le tien" und somit rechtmäßiges Eigentum möglich wird. 60 Dabei erfüllt der Vertrag im Vergleich zum Gesellschaftsvertrag zwischen Individuen eine zusätzliche Funktion. Durch ihn nämlich wird erst die Einheit und die personale Identität der Handlungs- und Rechtssubjekte, die im Gesellschaftsvertrag der Individuen von Natur aus gegeben ist, geschaffen und garantiert. 61 Indem die Vertragschließenden somit auf ihr Recht auf alles sowie darauf verzichten, Richter in eigener Sache zu sein, 62 unterwerfen sie sich künftig bei Ansprüchen und Streitigkeiten dem Urteil einer dritten, durch den Vertrag begründeten Partei. Wie sich die Individuen, um dem Naturzustand zu entkommen, einer die Rechtsbeziehungen konstituierenden und durchsetzenden souveränen Macht unterstellen müssen, wenn zwischen ihnen allgemeine Beziehungen des Rechts die Handlungssphären und -bedingungen auf ihre wechselseitige Verträglichkeit hin sichern sollen, so haben sich auch die souveränen 57 58
59 60 61
62
Rousseau, Discours sur l'origine de l'inégalité, p. 112. Saint-Pierre, Projet de paix, H p. 361. - Vgl. Rousseaus Formulierung, deren Ähnlichkeit mit derjenigen Saint-Pierres verblüffend ist: „On est libre quoique soumis aux loix, et non quand on obéit à un homme, parce qu'en ce dernier cas j'obéis à la volonté d'autrui mais en obéissant à la Loy je n'obéis qu'à la volonté publique qui est autant la mienne que celle de qui que ce soit" (Rousseau, Fragments politique, p. 492). Vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 297,1, pp. 312 f. Ebd., I, p. 299. Diese Funktion des Status-quo-Arguments Ubersehen die Autoren, die feststellen, daß Saint-Pierre „base le maintien de la paix sur le status quo", um dann zu kritisieren, dadurch werde der faktische Besitz (possession) in rechtmäßiges Eigentum (propriété) verwandelt, so daß auch auf Gewalt oder Betrug beruhende Besitztümer in den unverrückbaren territorialen Status quo überführt würden (vgl. Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, pp. 125 f.). Für Saint-Pierre gibt es jedoch von Natur aus keine allgemein-gültigen Gesetze und Festlegungen über ein sicheres Eigentum, da bei ihm wie für Hobbes im Naturzustand „onely that to be every mans, that he can get; and for so long, as he can keep it" (Hobbes, Leviathan, p. 188 [XIII. 13]). Erst der Gesellschaftsvertrag und die aus ihm hervorgehenden Institutionen ermöglichen es, daß von rechtmäßigem Eigentum oder von unrechtmäßiger Aneignung gesprochen werden kann. Jeder Vorbehalt beim Vertragsabschluß, der darauf abzielt, durch ihn etwa die gesamte Macht des neuen Bundes dazu nutzen zu können, um irgendwelche vorgängigen 'natürlichen Ansprüche' geltend zu machen, würde den Naturzustand fortführen (vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 309 ff.). Völkerrechtlich handelt es sich hierbei also um nichts anderes als um das Prinzip der ,,rechtliche[n] Anerkennung der faktischen Innehabung im Zeitpunkt der Streitbeendigung oder des Friedensschlusses", wie sie z. B. Art. 2 (4) der UN-Satzung „als Beistandsgarantie im Sinne einer Garantie der territorialen Integrität der Mitgliedsstaaten" vorsieht; vgl. Schaumann, Uti possidetis-Doktrin, S. 483. Vgl. Saint-Pierre,
Projet de paix, HI, p. 51.
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Staaten einer zentralen Institution und deren Entscheidungen über Recht und Unrecht ihrer jeweiligen Handlungen zu unterwerfen. Erst auf dieser Grundlage ist es möglich, daß aus dem sogenannten 'soft law' des Völkerrechts 'hard law' wird, das heißt „[de] donner force de Loi à tous les Articles qui derivent du droit des Gens".63 Auf diese Weise wird der moderne, säkulare Charakter des Friedensprojekts noch einmal deutlich. Es soll erklärtermaßen kein Weg aufzeigt werden, um „le cœur humain" zu ändern und auf alle Zeiten „les differens, les contestations" zu bannen,64 sondern es wird wie zwischen den Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft in der Sphäre des äußeren Handelns ein System gültiger Regeln begründet, durch das die Handlungen, Ansprüche und Streitigkeiten in Bahnen gelenkt werden, die den Rekurs auf physische Gewalt ausschließen. „Je ne viens pas proposer une exemption perpetuelle de discorde & de contestation, mais seulement une exemption perpetuelle de violences, pour finir les discordes & terminer les contestations, & c'est cette exemption perpetuelle de violences entre les Souverains d'Europe, que j'appelle Paix perpetuelle en Europe".65
Freilich vertraut Saint-Pierre weder bei den Individuen noch bei den Staaten darauf, daß sie sich der allgemeinen, durch ihren Vertrag gestifteten Rechtsordnung und den auf ihrer Grundlage ergangenen Urteilssprüchen auch stets freiwillig unterwerfen. Hierfür gibt er zwei Gründe an. Auf der einen Seite gilt für Staaten ebenso, was er bereits für die Individuen hervorgehoben hatte, daß sie nämlich zumeist durch ihr Verlangen und durch ihre Leidenschaften derart geleitet werden, daß sie alles andere als rational handeln und die Begriffe von Recht und Unrecht ausschließlich nach ihren jeweiligen kurzfristigen, irrationalen Interessen zu interpretieren geneigt sind: „au milieu du trouble que la passion cause dans leur ame, on a beau leur représenter ce qui leur serait de plus avantageux, ce qui serait en soy de plus équitable, le profit alors leur paraît perte, & l'équité elle-même leur paraît injuste".66
Auf der anderen Seite geht Saint-Pierre über diese gleichsam 'anthropologische' Begründungsebene hinaus, denn der Naturzustand ist ein Zustand, der aufgrund der in ihm unaufhebbaren Widersprüchlichkeit der konfligierenden Rechtsansprüche nie etwas anderes als ein Kriegszustand sein kann. Dadurch aber wird die Geltung des eingegangenen (Gesellschafts-)Vertrags unmittelbar negiert. Um dies zu verhindern, muß der neu geschaffene Bund neben seiner allgemeinen Rechtssetzungs- und Entscheidungskompetenz zugleich mit dem 'Monopol legitimer Gewaltsamkeit' (Max Weber) ausgestattet werden, um für Vertragssicherheit, für die pureté suffisante de l'éxécution des promesses mutuelles en établis-
Saint-Pierre, Projet de paix, IE, p. 58. Es ist folglich keine Frage eines 'sukzessiv' verlaufenden, historischempirischen Prozesses, wann das 'soft law' zum 'hard law' wird, sondern es bedarf dieses Akts der Schaffung allgemeiner Rechtsverhältnisse. Demnach macht nicht die faktische Durchsetzungsgewalt einer internationalen Organisation oder hegemonialer Mächte das jeweils proklamierte 'Recht' zum 'hard law', sondern die freiwillige Unterwerfung unter eine allgemeine Rechtsgemeinschaft, deren Verwirklichung mit legitimer Gewaltanwendung durchsetzbar sein muß. Saint-Pierre, Projet de paix, HI, p. 149. Ebd., HI, p. 152. - Vgl. auch ebd., DI, pp. 150 f., wo Saint-Pierre parallel hierzu innerhalb der Staaten die moralischen oder religiösen Meinungen in die Privatsphäre verweist, wo sie den Rechtsfrieden nicht stören. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 4.
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sant entre eux un Arbitrage perpétuel" sorgen zu können. 67 Dann und nur dann kann davon gesprochen werden, daß der als 'état de guerre' bestimmte Naturzustand wirklich und dauerhaft aufgehoben und durch einen rechtlichen Zustand ersetzt worden ist. „[La] Société permanente qui s'établirait entre les Princes d'Europe [...] feroit exécuter ponctuellement les promesses, c'est-à-dire, les Loix que s'imposeraient eux-mêmes les Souverains par leurs Traitez, qu'aucun ne pourrait s'en dispenser impunément qu'à l'égard des differens qui pourraient naître, [...] & que personne ne pourrait se dispenser impunément d'éxécuter ces Jugemens, qu'aucune pourrait impunément prendre les armes pour résister à la Société, qu'ainsi il n'y aurait plus de Guerre à craindre, [...] qu'il n'y aurait plus d'interruption de Commerce."68 Der Zwang, den die Zentralgewalt in Gestalt ihrer Gesetze und gegebenenfalls der zu ihrer Durchsetzung durchgeführten Strafmaßnahmen gegenüber den ihr Unterworfenen ausübt, ist aufgrund dieser Konstruktion von ihren Mitgliedern gewollt, geschaffen und dadurch legitimiert: Obwohl er ihnen äußerlich auferlegt wird, dient der gesetzliche Zwang ihrem vernünftigen Eigeninteresse, insofern er die Bedingung ihrer Freiheit, ihrer Sicherheit und ihres gesellschaftlichen Wohlstandes darstellt. Deshalb ist die Begründung des Staatenbundes auch nicht einfach auf das Utilitätsdenken zu reduzieren, so daß Saint-Pierre als „un des chefs, un des fondateurs de l'école utilitaire" betrachtet werden könnte. 69 Der Appell, den Naturzustand aufzugeben, ist eben nicht nur einer an das Interesse, insofern es nützlich sei und zahlreiche Vorteile mit sich bringe, die unbeschränkte, aber nutzlose Freiheit des natürlichen gegen die beschränkte, aber gesicherte Freiheit des gesellschaftlichen Zustands einzutauschen. Saint-Pierres Argumentation bewegt sich darüber hinaus auf prinzipieller Ebene: Weil der natürliche Zustand das Leben und die Existenz der Einzelnen gefährdet, die Vernunft aber diese Selbsterhaltung zum obersten Ziel hat, ist die Gründung eines rechtlichen Zustands für Saint-Pierre eine Vernunftpflicht, die sich aus den „véritables raisons prises du fond même du sujet [ergibt], & tirées par des conséquences nécessaires des premiers principes". 70 Aufgrund seiner Begründung in einem Vertrag ist es für Saint-Pierre nicht möglich, daß der Staatenbund als ein System verstanden wird, in dem alle einzelnen Staaten etwa durch die bloße Übermacht einer einzelnen Hegemonialmacht faktisch dominiert werden. 71 Denn 67 68 69 70
71
Ebd., I, p. vii. Ebd., ü, p. 359. Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 131. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. x f.; vgl. hierzu Goyard-Fabre, Introduction, Présentation, pp. 76, 79, 89 Anm. 35. - Hier wird besonders klar, wie unangemessen die Auffassung ist, Saint-Pierre habe den 'ewigen Frieden' lediglich auf empirische Prinzipien gegründet und sich auf die Suche nach den Mitteln seiner praktischen Sicherung beschränkt, während erst Rousseau und Kant eingesehen hätten, daß es der Begründung in allgemeinen Rechtsprinzipien und daraus ableitbarer politisch-institutioneller Strukturen bedarf (Reitemeyer, Perfektibilität gegen Perfektion, S. 199 ff.). Dies war nicht nur Napoleons Vision eines ewigen Friedens in Europa (vgl. Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, pp. 145 f.), sondern auch das wahre Ziel des von Saint-Pierre so idealisierten Projekts Heinrichs IV. und seines Kanzlers Sully, wie Rousseau kritisch bemerkt hat (Rousseau, Jugement sur le Projet de paix, pp. 596 ff.; vgl. hierzu unten, S. 274 ff.). - Saint-Pierre jedoch wendet sich explizit gegen ein solches Verständnis des Bundes. Gegen den Plan seines Schülers, des späteren Außenministers d'Argenson, Frankreich als Exekutor und Schiedsrichter einer europäischen Rechtsordnung einzusetzen (d'Argenson, Essay über die Einsetzung eines allgemeinen Gerichtshofes, S. 67 ff., 76), erklärt Saint-Pierre, diese würde dann weniger als Frie-
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seiner Auffassung nach darf die Notwendigkeit, daß der Staatenbund mit unwiderstehlicher Macht den allgemeinen Gesetzen Geltung verschaffen können muß, auf keinen Fall mit dem bloßen Recht des Stärkeren in eins gesetzt werden, so daß man meinen könnte, daß „malheureusement, il faut [d'abord] une force qui se justifiera ensuite; il faut que quelqu'un devienne le roi de l'Europe par la victoire et ensuite qu'il la juge et c'est-à-dire la 'gouverne'."72 Zwar sieht Saint-Pierre, daß durch Gewalt, auf dem Wege innerer oder äußerer Usurpation faktisch Herrschaftsrechte und Gehorsam erzwungen werden können, doch dies verschafft dem Usurpator keine rechtmäßige Herrschaft. Für diese erkennt Saint-Pierre nur einen einzigen Geltungsgrund an: „c'est toûjours une première Convention de pareils, & non une obeïssance d'inférieurs à un Supérieur"; folglich ist der freie, auf die Bedingungen ihrer Selbsterhaltung reflektierende Wille der Vertragsparteien der wahre Beweggrund, „l'unique motif de leur convention, [...] l'unique fondement de l'autorité qu'ils donnent à leur Arbitre."73 Die Einsicht in diese vertragstheoretische Argumentation, mit der Saint-Pierre den Staatenbund herleitet, vermag nun auch das Problem zu erhellen, daß dieser Bund ganz unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Reaktionen ausgelöst hat, indem die einen in ihm nur mehr einen bloßen Interessenverband souveräner Fürsten sahen, während andere ihn als den Versuch geißelten, die einzelstaatliche Souveränität zu gefährden oder gar aufzulösen.74 Zu diesem Zweck muß man zwischen der Ebene der Konstruktion des Bundes und derjenigen seines Funktionierens unterscheiden. Auf der ersten, begründungstheoretischen Ebene bedarf es nach Saint-Pierre der Freiwilligkeit und Einstimmigkeit, wenn auf die natürlichen Rechte verzichtet wird: „cet Arbitrage n'a point été forcé, il a été concerté, convenu entre pareils qui ont été persuadez l'un après l'autre de sa grande utilité".75
densbund denn als tyrannisches System erscheinen (vgl. Saint-Pierres handschriftliche Anmerkungen zu d'Argensons Manuskript, zit. bei Drouet, a. a. O., p. 328). Diese Möglichkeit unterstellt Faguet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 566. Saint-Pierre, Projet de paix, DI, pp. 63 u. 64; insofern hat Rousseau den für den 'Contrat social' (p. 354 [1.3]) zentralen Gedanken, daß das Recht nicht der Stärke und physischen Gewalt entspringen kann, bereits beim Abbé finden können. Vgl. exemplarisch zum ersteren Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 124, zu letzterem Michael, Einleitung, S. 3 0 % 35*. Saint-Pierre, Projet de paix, IH, p. 65. - Dem widerspricht nur scheinbar Saint-Pierres Erklärung im achten seiner articles fondamentals, in dem er die Möglichkeit erläutert, den Beitritt zum Bund durch Waffengewalt zu erzwingen; vgl. ebd., I, pp. 327 f. u. 330 f. An dieser Stelle nämlich handelt es sich nicht um die Gründung des Bundes, sondern um die Frage, wie sich der Bund, nachdem er einmal gegründet ist und die Mehrzahl der europäischen Staaten umfaßt - Saint-Pierre gibt die Zahl von 14 Mitgliedern an - , gegenüber jenen Mächten verhält, die ihm nicht beitreten wollen, somit in ihrem Handeln unberechenbar sind und eine beständige Gefahr für die Existenz und den Frieden bilden. Wenn Saint-Pierre diesen Staaten gegenüber die (auch präventive) Gewaltanwendung rechtfertigt - sei es zu ihrer Zerstörung, sei es, um sie zum Eintritt mit gleichen Rechten und Pflichten zu nötigen - , so negiert dies nicht die kontraktualistische Theorie, sondern bestätigt sie: der Vertrag schafft und sichert den Rechtszustand innerhalb des Bundes; zwischen ihm und anderen Staaten hingegen besteht der Naturzustand mit all seinen Unwägbarkeiten, seiner Dynamik und seinen Gesetzen fort. Außenstehende Staaten können und müssen demzufolge einzig und allein nach der Logik des Naturzustands behandelt werden, - welche sie durch ihre Weigerung, dem Bund beizutreten, als einzig herrschende Logik anerkennen.
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Der Vertrag ist somit kein Unterwerfungs-, sondern ein Gesellschaftsvertrag. Durch den „Traité d'Union" entsteht ein Bund, in dessen Zentrum ein aus den Vertragsparteien (bzw. ihren Abgesandten) gebildeter „Congrez ou Sénat perpétuel" die Instanz bildet,76 in der sie gemeinsam ihre allgemeinen Angelegenheiten regeln und ihre Streitfälle schlichten. Auf der zweiten Ebene des alltäglichen Operierens bedarf der Bund, um sein Funktionieren zu sichern, des Moments des Zwangs. Hierzu muß auf der ersten Ebene - einstimmig - das Mehrheitsprinzip beschlossen worden sein: die Vertragsparteien „conviennent que ce qui sera réglé & décidé par le plus grand nombre d'entre eux, pour la sûreté & la conservation des biens & de la vie de chacun des membres, & pour leur avantage commun, sera observé de tous",77 Hierdurch erhält der Bund also die Befugnisse und die Instanzen, Zwang zur Einhaltung der selbstgegebenen Gesetze einzusetzen, ohne daß dieser Zwang einen anderen Ursprung hätte als den Willen der ihm Unterworfenen selbst. Somit ist der Staatenbund für Saint-Pierre zwar „un syndicat d'assurance mutuelle contre la guerre",78 darüber hinaus aber bedeutet er die Gründung einer neuen Gesellschaft als einer Körperschaft, in der die souveränen Staaten durch den Vertrag zu Untertanen eines „corps Politique tout puissant" werden, in dem sie zugleich aber auch Teil der souveränen Gewalt bleiben. 79 Großen Raum nehmen in Saint-Pierres Friedensprojekt die Versuche ein, die grundlegenden Artikel und Gesetze, die institutionellen Bedingungen, Mechanismen und Verfahrensregeln differenziert zu entwickeln, durch die die neugeschaffene „Union européenne"80 seines Erachtens in die Lage versetzt wird, das Leben, die Freiheit und das Eigentum ihrer Mitglieder zu sichern und die gewaltsame Austragung ihrer Konflikte zu vermeiden. Durch eine Vielzahl konkreter Vorschlägen versucht er, die praktischen Konsequenzen aus dem theoretischen Beweisgang zu ziehen, um ihn als praktikabel einsichtig zu machen; sie sollen den Nachweis erbringen, daß „cette Société Européenne qu'on propose", nicht lediglich „une idée impraticable" ist, „une de ces belles visions qui à cause des défauts de la nature humaine, & du caractère ineffaçable des Souverains ne peut jamais avoir d'éxécution".81 Zugleich sind es jedoch gerade diese stark auf die Probleme der politischen Praxis seiner Zeit bezogenen und somit auch deutlich an sie gebunden bleibenden Bemühungen, die mit dazu beigetragen haben, daß Saint-Pierres Friedensprojekt nur selten als wichtiger Beitrag zur Herausbildung der politischen Theorie internationaler Rechtsverhältnisse Beachtung gefunden hat. Dabei ist es genau dieser theoretische Gehalt, der erst verständlich macht, warum das Projet de paix zum Ausgangspunkt der Überlegungen Rousseaus oder Kants dienen konnte. Daß das oft unerkannt geblieben ist, geht nicht zuletzt auf Saint-Pierres Vorgehen selbst zurück. In ironischer Umkehrung hat sein unerbittlicher Wille, die 'utopischen', der bestehenden Welt nicht angemessenen Züge des Friedensprojekts durch die Hinweise auf 76 77 78 79
80 81
Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 312 u. I, p. 285. Ebd., m, p. 57. Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, p. 124. Saint-Pierre, Projet de paix, HI, p. 117. - Auf die systematischen Probleme einer solchen Föderation von Staaten, die die Souveränität der Mitgliedsstaaten einerseits sichern und stärken soll, sie andererseits aber gerade zu diesem Zweck derjenigen der Union Européenne unterordnen muß, vgl. unten, S. 176 ff. Ebd., I, p. 41. Ebd., II, p. 363. - Saint-Pierre hat also die oben, S. 101 f., diskutierte Kritik recht genau vorweggenommen. Genauer zu den Institutionen, Mechanismen und Verfahren des europäischen Bundes vgl. Fischbach, Krieg und Frieden, S. 28-32; terMeulen, Der Gedanke der internationalen Organisation, S. 189-201.
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ihre 'realpolitische' Tauglichkeit zu entschärfen, dazu geführt, daß der praktisch-kritische und der normative Gehalt der zu seiner Zeit utopischen, d. h. realgeschichtlich (noch) nicht vermittelbaren, Konzeption verschüttet und erst seinen Nachfolgern zugeschrieben wurde. 82 Demgegenüber hat sich der Abbé de Saint-Pierre hinsichtlich der Begründung von Notwendigkeit und systematischen Grundlagen einer durch das Recht gesicherten Friedensordnung zwischen Staaten bereits auf einem Niveau bewegt, auf dem sein Projet de paix perpétuelle in eine Reihe mit den entsprechenden Versuchen seiner sehr viel prominenteren Nachfolger gestellt werden kann. Und die Behauptung, daß es diesen - ganz zu schweigen von der praktischen Politik - gelungen ist, auf die zentralen Probleme von Begründung wie Realisierung eines 'ewigen Friedens' zwischen Staaten eine stringentere Antwort zu entwickeln, kann noch keineswegs als ausgemacht gelten. 83
82
83
Mit Recht hat Belissa, Fraternité universelle et intérêt national, p. 13, daraufhingewiesen, daß die argumentative Funktion der „Utopie" keineswegs konträr zur „praktischen Politik" steht, sondern gleichsam ihr Komplement darstellt: Sie ist auch als utopische ein Bestandteil der Kritik der bestehenden Ordnung, ihrer praktisch intendierten Analyse und Veränderung, d. h. der realen Politik einer möglichen Zukunft; vgl. hierzu auch unten, S. 123 f. in Verb. m. Anm. 6. Vgl. hierzu unten, Kap. V; speziell zu Rousseau unten, Kap. IV.5, S. 277 ff.; zu Kant vgl. Asbach, Internationaler Naturzustand und Ewiger Friede, S. 227 ff.
Das Alte Reich als Modell der Union
III.3
123
Européenne
Reichsverfassung und föderativer Staatenbund: Das Alte Reich als Modell der Union Européenne ,JM Société Germanique s 'est formée malgré les prédictions des anciens Frondeurs, la Société Européenne pourra se former [...] malgré les prédictions des Frondeurs modernes". (Saint-Pierre, 1712)'
ÏÏI.3.1
Das Alte Reich und die europäische Ordnung
Die bisherigen Ausführungen dieses Kapitels haben gezeigt, daß die Form, in der der Abbé de Saint-Pierre sein Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe den Lesern nahezubringen versucht, zwar, wie Rousseau beklagt hat, voller Längen, Umschweife und Wiederholungen sein mag,2 daß dies aber nicht bedeutet, daß er in ihm nicht einem klaren, systematischen Aufbau folgt. Vielmehr versucht er auf unterschiedlichen methodischen Ebenen, die Notwendigkeit, die Bedingungen und die Realisierbarkeit einer internationalen Ordnung zu demonstrieren, welche allgemein verbindliche Rechtsverhältnisse und gewaltfreie Formen der Konfliktregelung garantieren kann. Ziel ist die Errichtung einer Union Européenne, die auf der einen Seite die Freiheit und die Sicherheit der Einzelstaaten als der Mitglieder des Bundes aufrechterhalten, auf der anderen Seite aber befähigt werden soll, die Regelung von Rechtsansprüchen und Streitfällen ihnen gegenüber durchzusetzen. Zu diesem Zweck muß die anvisierte République oder Union Européenne staatsrechtlichen Charakter besitzen, d. h. sie muß über das Recht und die Befugnis verfügen, die weiterhin 'souveränen' Mitgliedsstaaten im äußersten Fall auch durch Anwendung legitimer und unwiderstehlicher Gewaltmittel dazu zu bewegen, die objektiv geltenden Regeln und die Entscheidungen der zentralen Bündnisinstitutionen zu befolgen. Diesen gemeinsamen Institutionen sind die Mitgliedsstaaten ebenso absolut unterworfen, wie es die Individuen den Gesetzen und den aus ihnen folgenden Urteilen der gemeinsamen Staatsgewalt sind.3 Die anvisierte Union Européenne muß deshalb, wie Rousseau es in seiner Darstellung von Saint-Pierres Friedensprojekt prägnant zusammengefaßt hat, „une forme de gouvernement confédérative [sein], qui, unissant les Peuples par des liens semblables à ceux qui unissent les individus, soumette également les uns et les autres à l'autorité des Loix".4 In diesem Zusammenhang weist Saint-Pierre auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation - das sog. 'Alte Reich' - hin, wie es jenseits der Grenzen Frankreichs seit vielen Jahrhunderten bestehe und sich in seiner Entwicklung, seiner Verfassungsstruktur und seinem Staatsaufbau deutlich von den Verhältnissen in den übrigen europäischen Staaten unterscheide. Dieses Reich, so Saint-Pierre, könne nämlich als Vorbild und Modell eben jener 1 2 3 4
Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 122. Vgl. Rousseau, Confessions, livre IX, p. 408. Zu dieser Konzeption und der aus ihr folgenden Problematik vgl. unten, S. 180 ff. Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 564. Die entscheidende, die Konzepte Saint-Pierres, Rousseaus und Kants durchziehende, die Souveränitätsproblematik aufwerfende Frage ist dabei, was genau unter diesen „liens semblables" zu verstehen ist.
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Das Projet de paix perpétuelle
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Union dienen, wie er sie für die künftige Organisation der europäischen Staatenwelt insgesamt vorschlage. Hier sei dasjenige, was er theoretisch und mit logischer Notwendigkeit als Bedingung dauerhaft friedlichen Zusammenlebens auf internationaler Ebene demonstriert habe, historisch bereits vorgelebt und verfassungsrechtlich institutionalisiert worden. 5 Aus eben diesem Grunde könne man seinen Plan auch nicht einfach als Hirngespinst oder als Schimäre abtun, - ein Vorwurf, gegen den Saint-Pierre sich von Anfang an entschieden zur Wehr gesetzt hat. 6 Die Art und Weise, in der im Alten Reich eine Vielzahl von kleineren oder größeren, teils schwachen, teil sehr mächtigen politischen Körperschaften unterschiedlichster politischer und staatsrechtlicher Konstruktion verfassungsrechtlich vereinigt worden sind, gilt ihm also als Modellfall, im Idealfall sogar als Keimzelle eines künftigen europäischen Bundes und eines noch zu schaffenden gemeinsamen Droit public Européenne. Diese wenigen Bemerkungen deuten schon an, daß die Bedeutung des Verweises auf das Alte Reich, das bei ihm bezeichnenderweise meist Union Germanique oder Société Germanique genannt wird, im Rahmen der Argumentation des Projet de paix keine rein illustrative ist. Vielmehr ist sie in mehrfacher Hinsicht aufschluß- und folgenreich und erfordert deshalb eine eingehende Betrachtung. Dies betrifft zum einen das Verständnis der fundamentalen Beziehung, die für Saint-Pierre zwischen der Dynamik des historischen Prozesses, ihres theoretischen Erfassens und Begreifens und schließlich des Versuchs besteht, daraus Konsequenzen im Sinne historischer Lernprozesse zu ziehen. In dieser Hinsicht ist SaintPierres Versuch, Geschichte und Struktur des Alten Reichs als Modell einer gesamteuropäischen Föderation zu sehen, selbst ein Modellfall für das von ihm verfolgte rationalistische Verständnis historischer Erkenntnis und politischer Praxis. 7 Darüber hinaus eröffnet Saint-Pierre eine spezifische Perspektive auf das Heilige Römische Reich, die vor allem von jenen, die sich - sei es in historischer, sei es in verfassungsgeschichtlicher Perspektive - qua Profession mit dem Alten Reich befassen, oft bemerkt worden ist. Diese Perspektive zeichnet sich dadurch aus, daß es weniger jenem „monstrum simile" ähnelt, als das Samuel Pufendorf es bezeichnet hatte, da im Reich der sich im übrigen Europa vollziehende staatsrechtliche Modernisierungsprozeß gescheitert sei.8 Das Reich tritt vielmehr als ein zumindest partiell und temporär gelingendes Modell einer alternativen Form rechtlicher Organisation politischer Gemeinwesen in den Blick. Diesem - von Jean-
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Zum systematischen Status dieses Hinweises auf das Alte Reich im Rahmen der Argumentationsstruktur des 'Projet de paix' vgl. unten, Abschn. ffl.3.1.(fc), S. 132 ff. Gegen dieses seit der Kritik an Piatons Republik stereotype Muster der Kritik an politischen oder gesellschaftlichen Gegenentwürfen wendet sich Saint-Pierre u. a. schon in der Vorrede zu seinem 'Projet de paix', I, p. ix. Explizit behandelt er den Unterschied zwischen Utopien und realistischen Altemativkonzepten mit Blick auf Piaton im 'Projet pour perfectioner le Gouvernement des Etats', Ouvr., IE, pp. 171 ff. (vgl. zu dieser Frage auch Rihs, Les philosophes utopistes, pp. 31-35). - Daß dieser 'Vorwurf auf diese Weise nicht widerlegbar ist, sondern einer jeden Konzeption begegnet, die sich in praktischer Perspektive eine prinzipielle Veränderung der bestehenden Verhältnisse zum Ziel setzt, ist oben schon bemerkt worden. Und diesem Verdacht konnte sich auch Kant, der doch Saint-Pierre gemeinsam mit Piaton und Rousseau als Exempel für ein schwärmerisches, utopisches Denken genommen hat (Kant, Handschriftlicher Nachlaß: Anthropologie, AA XV, Refl. 488 [S. 210], 921 [S. 406]; Logik, AA XVI, Refl. 3157 [S. 686]), nicht entziehen, als er sich selbst zum kritischen Verfechter der Idee zu einer internationalen Rechtsgemeinschaft machte. Vgl. ausführlich hierzu unten, Kap. m.4.2, S. 171 ff., v. a. S. 173 ff. Vgl. zu Pufendorfs Verständnis der Reichsverfassung unten, S. 161 ff.
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Jacques Rousseau dann in spezifisch veränderter Weise fortgeführte 9 - Verständnis der Verfassungsstruktur des Alten Reiches wird interessanterweise gerade heute, angesichts des vielbeschworenen 'Endes der souveränen Nationalstaaten', von einigen politischen Theoretikern und Praktikern eine neue Bedeutung zuerkannt. Von verschiedener Seite nämlich ist bereits versucht worden, dieses Verfassungssystem im Hinblick auf gegenwärtig sich herausbildende oder auf unmittelbar anstehende Entwicklungen von Strukturen und Organisationsformen internationaler Institutionen und Verfahren neu zu interpretieren und in ihm - sei es in eher deskriptivem, sei es in eher normativem Sinne - einen Vorläufer oder ein Modell etwa der sich herausbildenden Europäischen Gemeinschaft zu sehen. 10 Möglich ist eine solche Aktualisierung des Interesses an der Verfassungsstruktur des Alten Reiches aus eben jenem Grund, aus dem sie auch für den Abbé de Saint-Pierre schon von Interesse war: Die Verfassung des Alten Reichs exemplifiziert und konkretisiert einerseits gleichsam die Idee einer Föderation von Staaten als Antwort auf Folgeprobleme, die das System der mit rechtsund wohlfahrtsstaatlichen Schutz- und Garantiefunktionen im Inneren verbundenen souveränen Nationalstaaten nach sich zieht; andererseits aber dient sie offenbar dazu, Strukturprobleme, die die Konzeption eines Bundes souveräner Staaten mit sich führt, selbst als praktisch überwindbar aufzuzeigen. 11 Um diese systematischen Dimensionen und Perspektiven des Projet de paix jedoch erfassen zu können, muß zunächst gezeigt werden, wie die Struktur der Reichsverfassung in ihm erscheint und welche argumentative Bedeutung Saint-Pierre ihr innerhalb seines Friedensprojekts zuspricht. (.a) Der Weg des Alten Reichs ins Friedensprojekt: Zur Textgenese des Projet de paix Bereits im Rahmen des Begründungszusammenhangs der ersten großen Darstellung des Friedensprojekts kam dem Hinweis auf die Verfassungsstruktur des Alten Reiches eine wichtige, eigenständige Funktion zu. 12 Innerhalb des mit der Jahresangabe 1713, tatsächlich jedoch bereits Ende 1712 in zwei Bänden unter Angabe von Utrecht als Ort der Publikation erschienenen Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe nimmt die Diskussion des Alten Reichs die erste Hälfte der zweiten Abhandlung ein, 13 die zudem noch durch Ausführungen ergänzt wird, die sich im zweiten, der Diskussion und Widerlegung möglicher oder
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Vgl. hierzu unten, S. 233 ff. So warnt Evers zwar davor, prämoderne Konzeptionen vorschnell und unkritisch auf gegenwärtige Problemlagen anzuwenden zu versuchen, hält aber dennoch den Blick auf die Strukturen des Alten Reichs auch heute noch für lehrreich: „Nur ein Europa, das [die] vielfältigen Bedingungen zum Austausch bringt, ohne ihre Unterschiede zu übergehen, kann ein stabiles Fundament der europäischen Architektur abgeben. Das Ziel wäre eine föderative civitas Civitatum\ daß sie ein corpus aliquos irreguläre wäre und sein müßte, zeigt der Blick in die Vergangenheit" {Evers, Supranationale Staatlichkeit, S. 134). Emphatischer noch ist die Berufung auf das Modell des Alten Reichs bei Hartmann, für den der föderative Aufbau, insbesondere die Regional- und Kreisgliederungen als beispielhaft gelten können für ein künftiges, föderal strukturiertes Europa; vgl. Hartmann, Bereits erprobt: Ein Mitteleuropa der Regionen; ders., Regionen in der Frühen Neuzeit, S. 13 f., 16 u. 20. Hierzu unten, Kap. ffl.4.3, v. a. S. 180 ff. Zu dieser argumentationslogischen Funktion vgl. unten, S. 132 ff. Vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 60-122.
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de paix perpétuelle
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tatsächlich erhobener Einwände gegen das Projekt gewidmeten Band finden. Dies ist jedoch, wie eine Untersuchung aller zugänglichen, der veröffentlichten wie der unveröffentlichten Materialien Saint-Pierres zur Vor- und Entstehungsgeschichte des Friedensprojekts zeigt, nicht von Anfang an so gewesen. Die in der Endfassung des Projet de paix zu konstatierende hervorgehobene Stellung des Alten Reichs ist vielmehr offenbar erst Resultat eines mehrjährigen Entwicklungsprozesses, innerhalb dessen sowohl die Form als auch die systematische Stellung der Berufung auf die Verfassungsstruktur des Alten Reichs - wie übrigens der Aufbau der endgültigen Fassung des Projekts 1713 insgesamt14 - sukzessive entwickelt worden ist. Daß sich diese Entwicklung anhand zahlreicher überlieferter Dokumente zumindest teilweise rekonstruieren läßt, ist, wie sich zeigen wird, nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, daß das Projekt von Anfang an als ein Stück praktisch gerichteter Aufklärung über politische und gesellschaftliche Prozesse, über die hier auftretenden Probleme und über Alternativen zu den bisherigen Entwicklungspfaden verstanden worden ist. Saint-Pierre geht es - und hierin nimmt er einen dem Zeitalter der Aufklärung insgesamt zentralen Impuls vorweg - primär um die angemessene Erkenntnis, um die Kritik und, vor allem, um die Verbesserung der als ungenügend wahrgenommenen „wirklichen Verhältnisse auf der Welt" und nicht um kontemplatives, selbstgenügsames Streben nach universellen Wahrheiten.15 Es handelt sich, wie er in der Vorrede zum Projet de paix schreibt, bei seinem Vorhaben nicht um „des choses de pure spéculation", sondern um einen jener Gegenstände „où il est question de déterminer les hommes à l'action".16 Diese Orientierung an dem Versuch einer praktischen Einflußnahme auf die sich vollziehenden Entwicklungen prägt auch den Entstehungsprozeß und die Struktur des Friedensprojekts selbst. Saint-Pierre verfolgt die Idee zu seinem Friedensprojekt konkret seit der Jahreswende 1707/1708. Zu diesem Zeitpunkt gibt er sie und das daraus resultierende Vorhaben in der Nachbemerkung zu einer Schrift bekannt, in der es um die Verbesserung des Straßenbaus und der Infrastruktur als Mittel zur Förderung der ökonomische Entwicklung Frankreichs geht: „Je finissois de mettre la première main à ce M e m o i r e lors qu'il m ' e s t v e n u dans l'esprit un projet d'établissement, qui par sa grande beauté m ' a frappé d'étonnement. Il a atiré depuis quinze jours toute m o n atention, & j e m e sens d'autant plus d'inclination à l'aprofondir, que plus j e le considère & par diferens côtez; plus j e le trouve avantageux aux Souverains. C ' e s t l'établissement d'un arbitrage futurs
& pour entretenir
permanent
ainsi un Commerce
entre eux pour
terminer
sans Guerre leurs
diferens
perpetuel entre toutes les Nattions [!]." 1 7
14
Auf die Gesamtheit der Veränderungen innerhalb des Aufbaus der endgültigen Fassung des Projekts bis 1713 kann an dieser Stelle, wo es nur um die Rolle des Alten Reiches gehen soll, nicht näher eingegangen werden.
"
Horkheimer, Geschichte der neueren Philosophie, S. 352; im Zusammenhang zur französischen Aufklärung ebd., S. 346 ff. - Auf diese - zentrale Motive der Aufklärung enthaltenden - Elemente in Saint-Pierres Denken ist oben schon eingegangen worden (Kap. n.3 und n.4); hierzu auch weiter unten, S. 169 ff. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. xxiii. Vgl. Saint-Pierre, Réparation des chemins, p. 74. - Diese Datierung der Anfänge seines Friedensplans wird durch - im weiteren Verlauf dieses Abschnitts noch zu behandelnde - Varianten der Vorreden des Friedensprojekts bestätigt; vgl. AAE, M.D. France 308, fol. 266r°: „D y a trois ans qu'étant dans une solitude que j'ai sur le bord de la mer ocupé a mettre en euvre ce que j'avois amassé de reflexions utiles dans le Commerce des plus habiles gens.f...] Je résolus [...] de passer quelques mois de Suite a mediter sérieusement sur les moyens qui pourroient rendre la Paix plus facile et surtout durable et s'il se pouvoit inaltérable". Zudem finden sich
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Das Alte Reich als Modell der Union
Européenne
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In der Folgezeit arbeitet er mehrere Fassungen des Friedensplans aus, die er jeweils der Kritik zuerst durch Freunde und Bekannte, dann zunehmend auch durch einen weiteren Kreis von Gelehrten und politisch aktiven und einflußreichen Personen aussetzt, um seinen Entwurf daraufhin jeweils wieder zu korrigieren bzw. zu revidieren und zu ergänzen und in einer neuen Fassung vorzulegen. Das Projet de paix wird somit von Anfang an selbst schon zu einem Dokument des (früh-)aufklärerischen Prozesses des (mehr oder weniger) öffentlichen Raisonnierens, der Kritik und der gemeinsamen Anstrengung, zur Lösung der allgemeinen Angelegenheiten beizutragen. Aus dem Zeitraum zwischen 1708 und 1710, in dem die ersten beiden Fassungen entstanden sind,18 sind jedoch in jenen Archiven und Bibliotheken, die nach dem bisherigen Kenntnisstand Manuskripte des Abbé de Saint-Pierre besitzen und konsultiert werden konnten,19 keine Dokumente aufzufinden, so daß diese ersten Fassungen als verschollen gelten müssen. Demgegenüber setzen die überlieferten Dokumente mit der Zeit um die Jahreswende 1710/1711 ein, als Saint-Pierre die dritte Fassung seines Friedensprojekts abgeschlossen hatte. In diesen Manuskripten, die von ihm explizit als Vorreden zur dritten Fassung des Projekts gekennzeichnet worden sind,20 faßt er auch sein bisheriges Vorgehen zusammen: „Ce fut sur ce plan que je me mis à examiner les diverses idées qui y avoient quelque raport, je trouvay presque tous les jours pendant six mois des difficultez nouvelles [...]. Enfin après que j'eus amassé divers matériaux j'en formai une premiere ébauché, je la montrai à plusieurs personnes d'esprit de la province, je mis à profit et leurs lumières et leurs obscuritez. Je laissai reposer mes reflexions cinq ou six mois, Je recommençai ensuite à en examiner de sang froid les parties différentes en leur arrangement, j'y trouvai beaucoup à corriger, ainsi je refondis l'ouvrage entier, et avec les mêmes matériaux j'en fis une seconde ébauché augmentée de nouvelles reflexions, et cependant plus courte que la premiere. Cette seconde ébauché examinée par de plus habiles gens en a produit une troisième fort différente qui est celle cy, où j'ay encore ajouté, mais où j'ay beaucoup plus retranché qu'ajouté, et où tout se trouve dans un nouvel arangement; ainsi voila le fruit de plus de 18 mois de méditation opiniâtre, et de plus de trois ans de travail assez assidu." 21
spätere, von Saint-Pierre rückblickend gegebene und diese Darstellung stützende Hinweise (vgl. hierzu die folgende Anmerkung); vgl. hierzu insgesamt auch Bottaro Palumbo, 'De justice paix, de paix abondance', pp. 36 ff. Diese Darstellung belegt eine biographische Notiz von Saint-Pierre (Annales de Castel, Ms. Rouen 950), in der es heißt, er habe „en 1708 et 1709 la premiere Ebauche de son projet pour rendre la paix perpétuelle" entworfen (p. 221). Eine leicht abweichende, sachlich aber den Ablauf nur bestätigende Angabe findet sich in einem Manuskript, in dem er erwähnt, er habe „en" bzw. „vers" 1709 damit begonnen, das Projekt zu einer europäischen Föderation zu verfassen; vgl. ders., Effets prodigieux que l'on peut attandre d'une très petite cause, Ms. Caen, Dossier VII, pp. 1 u. 2. Vgl. die unten, S. 317 f., aufgeführten Archive und Bibliotheken. Auf dem Exemplar AAE, M.D. France 309, fol. 1°, hat Saint-Pierre eigenhändig den Verwendungszweck notiert: „Ceci est destiné pour mettre à la tête de la troisième Ebauche que l'on pr[??epare??]" (das letzte Wort ist wegen verschmierter Tinte unlesbar). Diese Zählung findet sich in allen der nachfolgend aufgeführten Varianten des Préface: MD France 308, 267r°, MD France 309, fol. 2r°, MD France 308, fol. 271r°, Mémoire (prétirage) 1711,3. Insofern die Ausgabe des Projet de paix 1713 einen wiederum deutlich von den Ausgaben des Mémoire abweichenden und ergänzten Aufbau aufweist, muß sie zumindest als vierter Entwurf gelten. AAE, M.D. France 309, fol. lv°-2r°; mit leichten Varianten findet sich diese Darstellung auch AAE, M.D. France 308, fol. 266v°f., AAE, M.D. France 308, fol. 271r°, Mémoire (prétirage) 1711, p. 3.
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Das Projet de paix perpétuelle als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
Die ältesten erhalten gebliebenen bzw. der bisher bekannten Manuskripte zum Projet de paix finden sich heute im Archiv des französischen Außenministeriums. Sie dokumentieren drei aufeinanderfolgende Etappen eines einleitenden Préface zum dritten Entwurf des Friedensprojekts, von dem aus diesem Zeitraum freilich selbst kein Exemplar überliefert ist. Diese Fassungen münden ein in die erste gedruckte, vollständige Version des Friedensprojekts, von der sich - ebenso wie von den folgenden Fassungen - eine Ausgabe in der Bibliothèque nationale (Paris) findet. Es handelt sich hierbei um eine spätestens im September 1711 abgeschlossene vorläufige Druckfassung - eine sog. prétirage - , die noch einmal zur Stellungnahme an ein ausgewähltes Publikum verteilt wurde, bevor Anfang 1712 unter dem Titel Mémoires pour rendre la paix perpétuelle en Europe der endgültige Druck erfolgte. Das gleiche Procedere von „prétirage" und anschließender Druckfassung wiederholt sich dann noch einmal bei der abschließenden, (vorläufig) endgültigen Gestalt des Projet de paix: Zunächst erscheint im Sommer 1712 eine zur Kritik bestimmte Erstfassung, dann, wohl gegen Ende des Jahres 1712, unter der Angabe „Utrecht 1713" die für die breite Öffentlichkeit bestimmte Version. 22 Es ist diese - 1716 (offiziell: 1717) durch einen ergänzenden dritten Band vervollständigte - Ausgabe, mit der Saint-Pierre einen vorläufigen Schlußpunkt unter die Entwicklung des Friedensprojekts setzt, und es ist diese Fassung, auf die man sich seit dem 18. Jahrhundert gemeinhin bezieht, wenn von Saint-Pierres Projet de paix die Rede ist. Im einzelnen sind mithin zum gegenwärtigen Zeitpunkt die folgenden Fassungen des Friedensprojekts bzw. wichtiger Teile desselben und Vorarbeiten zu ihm bekannt: 23 (PI)
Projet De Paix Inaltérable pour L'Europe. Préfacé. Vüe generale Du Projet (1710/11). Ms., Reinschrift der Vorrede, 7 Seiten. Achives des Affaires étrangères (AAE), Paris, M.D. France 308, fol. 266r°-269r°.
(P2)
Projet de Paix Inaltérable Pour L'Europe. Préfacé. Vüe generale du Projet (1711). Ms., Reinschrift der Vorrede mit hs. Ergänzungen durch Saint-Pierre, 8 S. AAE, M.D. France 309, fol. lr°-4v°.
(P3)
Memoire Pour rendre la paix perpetuelle en Europe. Préfacé. Vue generale du Projet (1711). Separatdruck der Vorrede mit Partien in Reinschrift, paginiert Seite 1-14. AAE, M.D. France 308, fol. 270r°-276v°.
(P4)
Memoire pour rendre la paix perpetuelle en Europe („Prétirage") (Sept./Nov. 1711). Druckfassung mit Partien in Reinschrift zu Beginn der Kapitel. Separate Paginierung der ersten Hälfte (1. bis 4. Diskurs) S. 1-153, zweite Hälfte mit Receuil De diverses objections pag. S. 1-60. Am Schluß ein 2-seitiger Lettre a M.*** Pour examiner l'ouvrage. Bibliothèque Nationale, Signatur E* 319.
Zu diesem Vorgehen Saint-Pierres und zu den verschiedenen Ausgaben vgl. auch die Angaben bei Robinet, Correspondance Leibniz-Saint-Pierre, pp. 13-18. Die unterschiedlichen Fassungen werden mit (PI) bis (P7) ausgezeichnet, um im weiteren Verlauf dieses Abschnitts eine leichtere Orientierung über die jeweils behandelte Fassung zu ermöglichen.
D a s Alte Reich als M o d e l l der Union
Européenne
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(P5)
Mémoires Pour rendre la paix perpetuelle en Europe (Feb./März 1712). Druckfassung: „A Cologne, Chez Jaques le Pacifique. MDCCXII.", 448 S., Bibliothèque Nationale: Signatur pF 47.
(P6)
Projet pour rendre la paix perpétuelle („Prétirage") (Juli/Sept. 1712). Druckfassung mit Partien in Reinschrift zu Beginn der Kapitel. 2 Bde., 373 u. 358 S., Bibliothèque Nationale, Signaturen E* 534 und E* 535.
(P7)
Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe (1712/13). Druckfassung: „A Utrecht. Chez Antoine Schouten; Marchand Libraire. M.DCC. XIII.", 2 Bde., xxiv+400 S. sowie 423 S. (und jeweils Tables de matières und Errata) (Photomechanischer Reprint, éd. par Simone Goyard-Fabre, Paris 1981).
Die auf diese Weise rekonstruierbaren Entwicklungsetappen des Friedensprojekts zwischen 1708 und 1712/1713 lassen eine Reihe von Schlußfolgerungen zu, die zum besseren Verständnis und zur historischen Einordnung des Projekts beitragen können. Erstens widerlegen sie den Mythos, das Friedensprojekt sei im unmittelbaren Zusammenhang mit den Friedensverhandlungen in Utrecht 1712/1713 entstanden, an denen Saint-Pierre als Sekretär des französischen Gesandten, des Abbé de Polignac, teilgenommen haben soll. Sowenig die verbreitete Annahme einer solchen Teilnahme beweisbar oder auch nur wahrscheinlich ist,24 sowenig ist das Projekt auf diese Verhandlungen zurückzuführen. Das bedeutet freilich nicht und dies stimmt mit der erwähnten praktischen Ausrichtung von Saint-Pierres Denken zusammen - , daß der Blick auf die aktuelle Lage des von langjährigen Kriegen geplagten Europas und die Möglichkeit der dauerhaften Aufhebung dieses Kriegszustandes durch einen umfassenden Friedensvertrag zwischen den europäischen Mächten Saint-Pierre nicht zur schnellen Fertigstellung und Publikation seines Projekts motiviert hätte. Diese Absicht hebt er auch in den frühen Varianten seiner Vorrede hervor, wenn er den vorläufigen Abschluß und die Publikation seines Plans ausdrücklich mit dem Hinweis auf die kommenden Friedensverhandlungen, wie sie dann eben in Utrecht stattfinden sollten, rechtfertigt. „Je voi sans peine c o m b i e n j e pourrois encore perfectionner c e projet, [...] mais plusieurs pers o n n e s qui ont c o n n o i s s a n c e des affaires publiques ayant lu l'ouvrage avec attention m ' o n t assuré q u e tel qu'il est, s'il etoit imprimé en diverses langues et répandu dans les principales villes de l'Europe; il pourrait donner des v ü e s tres utiles aux ministres principaux et a ceux qui seront e m p l o y e z dans les négociations de la paix prochaine pour la rendre et plus facile et plus
Vgl. exemplarisch Drouet, L'abbé de Saint-Pierre, pp. 60 f.; selbst bei Goyard-Fabre (Introduction, Présentation, p. 16) oder Spoltore (Federalism in the History of Thought, p. 221) wird diese Behauptung noch tradiert. Houwens-Post (La Société des Nations, pp. 14 f.) hat gezeigt, daß nicht nur in den einschlägigen Memoiren oder der diplomatischen Korrespondenz, sondern auch in den offiziellen Dokumenten der Zeit (Liste der ausgegebenen Pässe etc.) jeder Beleg für Saint-Pierres Anwesenheit in Utrecht fehlt. Vgl. hierzu auch Folkes, L'Abbé de Saint-Pierre, pp. 483-487, der diese Legende auf einen 1759 erstmals erschienenen Lexikonartikel Moreris zurückverfolgt (pp. 483 f.), auf den sich offenbar alle weiteren Interpreten beziehen. Schlagend ist insbesondere sein Hinweis p. 486, daß am Tag von Polignacs Abreise zu den Friedensverhandlungen nach Utrecht Saint-Pierre eigenhändig seine Anwesenheit bei der Sitzung der Académie Française bestätigt hat und mit äußerster Regelmäßigkeit das ganze Jahr 1712 hindurch bis auf einen einzigen Termin bei allen 157 [!] Sitzungen in Paris anwesend war; Folkes vermutet, daß das Gerücht durch eine spätere Privatreise Saint-Pierres nach Utrecht aufgekommen sein mag. Vgl. auch Coirault, L'Abbé de Saint-Pierre, pp. 655 f., sowie die überzeugende Darstellung von Perkins, The Moral and Political Philosophy, p. 51.
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durable, que de les Conjonctures ne peuvent jamais etre plus favorables, puisque les deux partis oposez sont également las d'une longue guerre".25
Damit ist der zweite Aspekt angesprochen, der aufgrund der Untersuchung der Entstehungsetappen des Friedensprojekts deutlich hervortritt, nämlich seine praktisch-politische Ausrichtung. Es handelt sich bei diesem Vorhaben nach Saint-Pierres Verständnis notwendigerweise um ein 'work in progress', sofern es einerseits in permanenter Auseinandersetzung mit den realen Gegebenheiten und Entwicklungen der politischen Situation in Europa, andererseits im dauernden Prozeß der Diskussion mit den intellektuellen und politisch führenden Kreisen Frankreichs und Europas fortgeschrieben werden muß. 26 Es ist signifikant, daß die frühesten Präsentationen des Projekts gerade im Archiv des Außenministeriums aufzufinden sind (PI, P2, P3), wodurch eine Verbindung unterstrichen wird, die bereits seit langem bekannt ist, insofern der damalige französische Außenminister, der Marquis de Torcy, zu den Empfängern einer der prétirages des Projet de paix (P6) gezählt hat. 27 Und aus Paris weiß am 19. März 1712 Grimarest an Leibniz zu berichten, Saint-Pierre habe ein Exemplar seiner (gerade erschienenen) Mémoires pour rendre la paix perpétuelle (P5) an die in Utrecht versammelten Unterhändler des Friedensvertrages zwischen Frankreich, Großbritannien und Holland gesandt. 28 Drittens schließlich erlaubt die Zusammenschau der vorliegenden Texte den Aufweis des Weges, den der Hinweis auf das Alte Reich und seine Verfassung in das Friedensprojekt hinein genommen hat. Denn ein Vergleich zwischen diesen verschiedenen Fassungen macht deutlich, daß die Ausführungen über das Modell der Reichsverfassung erst relativ spät Eingang in die Konzeption des Projet de paix gefunden haben. Vergleicht man nämlich die vorliegenden Vorreden, in denen Saint-Pierre jeweils die Motivation, die Grundlagen, den Argumentationsgang und den Aufbau des Projekts darstellt, so zeigt sich, daß das Alte Reich bis einschließlich der 1711 und 1712 publizierten Fassungen des Mémoire - also von (PI) bis (P5) - noch gar keinen systematischen Ort innerhalb des Aufbaus des Friedensprojekts besessen hat. In den drei ältesten Fassungen (P1-P3) heißt es, das anschließende Projekt sei in fünf Diskurse oder Abhandlungen untergliedert, in denen jeweils unterschiedliche Behauptungen (propositions) bewiesen werden sollten, 29 während es in den beiden folgenden Fassungen des Mémoire (P4/P5) nur mehr vier Diskurse sind, die die Notwendigkeit, VorSaint-Pierre, Préface, AAE, M.D. France 309, fol. 2r° f. - Gemeint sind die 1711 laufenden Vorverhandlungen zu dem am 10. Januar 1712 beginnenden Friedenskongreß in Utrecht; vgl. Bély, Espions et ambassadeurs, p. 41. Saint-Pierre (Projet de paix, HI, p. 173) weist darauf hin, daß „les Guerres Etrangères & les Guerres Civiles causent souvent des révolutions generales, ou du moins de grands changemens, dans les affaires des Princes", so daß man, um die Möglichkeit des Friedensprojekts jeweils entsprechend den veränderten Verhältnissen und Interessen der Fürsten aufweisen zu können, „tous les dix ans un nouveau plan" brauche. Das in der Bibliothèque nationale (Paris) aufbewahrte Exemplar der prétirage (P6) trägt eine auf den 1. September 1712 datierte Widmung Saint-Pierres. Grimarest an Leibniz, 19.3.1712, in: Robinet, Correspondance Leibniz-Saint-Pierre, p. 23. Dieser Brief stärkt die These, daß Saint-Pierre wohl nicht in Utrecht gewesen ist, daß er aber dennoch auf die dort stattfindenden Verhandlungen Einfluß nehmen wollte: explizit spricht er in seinen verschiedenen Vorreden zum Friedensprojekt England und Holland als Nutznießer eines mit Frankreich geschlossenen „Traité de l'Union" an (vgl. AAE, M.D. 308, fol. 268r°). Vgl. in der ersten Version der Préface (PI): „pour faciliter cet examen aux Lecteurs J'ay réduit tout l'ouvrage a cinq propositions que Je pretens démontrer en Cinq Discours Diferens" (AAE, M.D. 308, fol. 267v°).
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teilhaftigkeit und Machbarkeit des Traité d'Union aufzeigen sollen. Ein eigenes Kapitel, in dem das Reich als historisches Modell, Beispiel und Vorbild einer künftigen Ordnung Europas vorgestellt wird, gibt es demgegenüber bis dahin nicht. 30 In den ersten beiden Fassungen des Préface deutet noch gar nichts darauf hin, daß der Hinweis auf das Alte Reich eine herausragende Bedeutung haben könnte. Ebenso wie das historische Beispiel der griechischen Amphyktionen oder die aktuellen Beispiele der Schweiz oder der holländischen Generalstaaten ist die Erwähnung des Alten Reichs kaum mehr als die Vervollständigung der traditionellen Aufzählung von Staatenbünden, deren Benennung nur illustrieren soll, daß solche Unions, wie er sie für Europa vorschlage, auf regionaler Ebene bereits gegründet worden seien, daß sie - zumindest im Prinzip - auch funktionieren und die Existenz der Mitgliedsstaaten dauerhaft sichern. „Le fonds de Cette Idée D'Union entre Souverains n'est rien de nouveau. Il y a plus de deux mille ans que les Princes et les Republiques de Grece formèrent une assemblée perpetuelle composée des Deputez de ces Etats sous le nom D'amphictyons pour se maintenir tous en Paix et pour se soutenir mutuellement contre les Puissances Etrangères. C'est sur une pareille Idée que S'unirent les allemans il y a plusieurs Siecles sous le nom d'Empire que s'unirent Ensuite les Cantons Suisses, que se font unies depuis les Sept Provinces souveraines des Peys bas".31
Während Saint-Pierre es in den Fassungen (PI) und (P2) bei diesem Hinweis beläßt, ergänzt er die Vorrede in der nächsten, der ersten gedruckten Version (P3) um eine ausführliche Diskussion von Geschichte, Struktur und Fehlern des Corps bzw. der Union Germanique, die den Umfang des bisherigen Textes auf mehr als das Doppelte anwachsen läßt. Die hier gemachten Ausführungen enthalten nun bereits alle zentralen Formulierungen und Elemente, die zum Alten Reich in der endgültigen Fassung des Projet de paix zu finden sein werden; der Gehalt des Verweises auf Geschichte, Struktur und Potential der Reichsverfassung ist somit bei ihrer ersten Behandlung im Projekt vollständig entwickelt. Dennoch bleibt es bei diesem Platz am Ende - bzw. als zweite Hälfte - der Vorrede auch in den beiden nächsten, vollständigen Fassungen des Friedensprojekts in den beiden Mémoires (P4) und (P5). Erst nach deren Publikation hat Saint-Pierre für die Diskussion des Alten Reichs einen systematisch angemessenen Ort im Gesamtaufbau des Friedensprojekts gefunden. Mit der prétirage zum Projet de paix von 1712 (P6) gestaltet er die Gesamtkonzeption des Buches noch einmal vollkommen um. Ganz neu eingefügt wird hier nun eine separate Abhandlung mit einem eigenständigen Beweisziel, ein Discours, der sich ausführlich mit dem Alten Reich einerseits, dem Plan Heinrichs IV. und Sullys für eine europäische Friedensordnung andererseits beschäftigt. In dieses Kapitel wird das, was bisher am Schluß des Préface zum Reich stand, vollständig übernommen und nur mehr ergänzt. Somit ist SaintPierres Beschäftigung mit Geschichte und Struktur des Alten Reichs offenbar erst zu einem relativ späten Zeitpunkt der Entwicklung des Projet de paix erfolgt, doch stehen von dem Moment an, in dem eine solche Beschäftigung festzustellen ist, alle wesentlichen Elemente
,0
Daß Saint-Pierres Konzeption hier noch von der endgültigen abweicht, zeigt auch der Umstand, daß der Hinweis auf das Projet d'Henri le Grand, der zusammen mit dem auf das Alte Reich im Projet de paix den zweiten Diskurs bildet, im Mémoire nur am Ende des dritten Diskurses als kurze Reflexion auftaucht (P4, pp. 143 ff.).
31
So in (PI): Saint-Pierre,
Préface, AAE, M.D. 308, fol. 268v°.
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wie auch die Funktion fest, die der Hinweis auf das Alte Reich in allen weiteren Varianten des Friedensprojekts einnehmen wird.32 (b) Der Ort des Alten Reichs im Projet de paix von 1713 In der definitiven Fassung des Friedensprojekts von 1713 wird der Hinweis auf das Alte Reich im Anschluß an die Demonstration der Notwendigkeit eingeführt, das bestehende System der europäischen Staaten auf eine völlig neue Grundlage zu stellen. Dabei geht SaintPierre in folgenden, oben bereits ausführlicher dargestellten Schritten vor, die noch einmal zusammenfassend ins Bewußtsein gerufen werden müssen. Denn einerseits wird erst auf ihrer Grundlage der systematische Ort von Saint-Pierres Behandlung des Reichs im Projet de paix deutlich, und andererseits bilden sie den konzeptionellen Rahmen, der seine Analyse der Verfassung und der Geschichte des Alten Reichs strukturiert. Den Ausgangspunkt und die Basis des gesamten Projekts bildet die Erkenntnis, daß sich die Staaten, solange sie ohne eine übergreifende Instanz als absolut freie Subjekte existieren, in einem Zustand befinden, in dem Auseinandersetzungen und kriegerische Konflikte mit Notwendigkeit eintreten. Wie für die Individuen vor dem Übergang in den staatlich verfaßten Zustand,33 so gibt es hier für die Staaten weder eine hinreichende Sicherheit für die jeweiligen Rechtsansprüche und Besitzverhältnisse, noch ist die Verbindlichkeit von eingegangenen Verträgen und Verpflichtungen gewährleistet. Sie sehen sich deshalb „dans la malheureuse nécessité" versetzt, stets bereit zu sein, Gewalt gegeneinander anzuwenden und zur Verteidigung der eigenen Ansprüche und Existenz gegebenenfalls selbst dazu, „à se détruire par la force, c'est-à-dire, par la Guerre".34 In einem zweiten Schritt fragt Saint-Pierre nach den Mitteln, die bisher zur Überwindung dieses Zustands gefunden und angewandt worden sind, sowie nach ihrer faktischen wie potentiellen Effektivität. Zum einen behandelt er Versuche, die destruktive Logik des internationalen Naturzustands über die Ebene zwischenstaatlicher Verträge hinaus durch Bündnissysteme zwischen den Staaten - „Traitez de Ligues" oder „Traitez de confédération" - zu bändigen.35 Zum anderen führt er die Idee eines Systems des Gleichgewichts zwischen den Staaten an,36 eine Idee, die seit dem 17. JahrAuf Saint-Pierres Behandlung des Alten Reichs im Anschluß an die Veröffentlichung des Projet de paix von 1713 kann in diesem Zusammenhang nicht mehr eingegangen werden; sie hat sich jedoch seitdem nicht mehr nennenswert verändert; vgl. etwa Abrégé 1729, pp. 235 ff. Vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 7 f. - Daß Saint-Pierre in seinem Projekt die Begründungsleistungen des neuzeitlichen Naturrechts seit Hohbes auf die Sphäre der internationalen Beziehungen anwendet, wurde bereits weiter oben, S. 111 ff., gezeigt. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 6 - 7 . Es ist für Saint-Pieires Argumentation also entscheidend, daß der Kriegszustand kein kontingentes, mit hinreichend gutem Willen dauerhaft zu beseitigendes Übel ist, sondern es besteht tatsächlich „la nécessité où ils se trouvent d'avoir des Guerres entre eux" (ebd., I, p. iv). Die Einzelheiten und Konsequenzen dieses Zustands bilden den Gegenstand des ersten Teils der ersten Abhandlung, ebd., I, pp. 3-31. So die - voneinander abweichenden - Bezeichnungen des Titels entsprechenden Abschnitts im Projet de paix, I, p. 31, sowie im Inhaltsverzeichnis (nicht paginiert) am Ende des Bandes; im Zusammenhang hierzu ebd., I, pp. 31-34. Vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 35, der sich in hier vor allem auf das Gleichgewicht zwischen Frankreich und Habsburg bezieht, dabei aber sachlich die Gleichgewichtsidee als solche kritisiert. Zur Gleichgewichtsidee vgl. neben der oben, S. 114, Anm. 42, angegebenen Literatur Malettke, Imaginer l'Europe, pp. 117 ff.
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Européenne
133
hundert sowohl in der Theorie als auch in der politisch-diplomatischen Praxis zunehmend als Prinzip der europäischen Staatenwelt angesehen und gefeiert wurde. 37 In beiden Fällen kommt Saint-Pierre zu dem Resultat, daß diese Mittel ihr Ziel, den internationalen Naturzustand aufzuheben oder auch nur zu pazifizieren, nicht nur zufälligerweise, sondern mit Notwendigkeit verfehlen müssen. Denn einerseits sind internationale Bündnisse und Verträge „par la nature de ceux qui les font, tres-sujettes à n'avoir aucun effet". 38 Schließlich bleiben die souveränen Staaten auch weiterhin einziger Richter darüber, ob sie die Einhaltung der eingegangenen Übereinkünfte jeweils noch als verpflichtend ansehen oder ob nicht mittlerweile Umstände eingetreten sind, die die Bedingungen ihrer Erfüllung aufgehoben haben, so daß sie den Rechtsansprüchen und Interessen eines der Vertragspartner nunmehr widerstreiten und der Vertragsbruch gleichsam zum 'Gebot' naturrechtlichen Selbsterhaltungsstrebens geworden ist. Ebenso ist andererseits das System des Gleichgewichts nicht in der Lage, Existenz und Entwicklung der Staaten zu garantieren, denn aufgrund der fortbestehenden Ungleichheit der Kräfteverhältnisse und der Ungewißheit der reziproken Vertragserfüllung kann es nicht zur Verwirklichung eines dauerhaften Friedenszustands, sondern höchstens zu zeitweiligen Waffenstillständen kommen, denn: „Je ne sçaurois appeller d'un autre nom une Paix qui ne peut pas durer." 39 Aus dieser Analyse der Defizite des bisherigen Systems der internationalen Beziehungen und ihrer Ursachen ergeben sich für Saint-Pierre die Hinweise auf die institutionellen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um eine dauerhafte Rechts- und Friedensordnung zwischen Staaten zu etablieren. Ist nämlich der Grund für die dauernde Unsicherheit und den Zwang, sich präventiv gegen andere zu rüsten, Kriege zu führen oder gar selbst zu beginnen, im Fehlen eines gemeinsamen, alle Akteure übergreifenden und sie verpflichtenden Bandes zu sehen, dann ist der Weg, den sie nehmen müssen, vorgezeichnet: Ebenso wie die Individuen im vorstaatlichen Zustand, so müssen die Staaten aus dem internationalen Naturzustand herausgehen, indem durch einen Gesellschaftsvertrag - durch einen „Traité de Société" bzw. „Traitez d'Union" 40 - eine dauerhafte Gesellschaft gegründet wird, der sich alle Vertragsparteien gleichermaßen unterwerfen. Durch diesen Akt wird eine neue politische Körperschaft geschaffen, die hinreichend stark und legitimiert ist, allgemeine Regeln zur Gewährleistung eines gewaltfreien Umgangs zwischen den Mitgliedern des Bundes nicht nur erlassen, sondern in konkreten Konfliktfällen auch anwenden und gegen widerstrebende Parteien durchsetzen zu können. „je trouvai que si les [...] Souverainetez d'Europe pour se conserver dans le Gouvernement présent, pour éviter la Guerre entre elles, & pour se procurer tous les avantages d'un Commerce perpétuel de Nation à Nation, vouloient faire un Traitez d'Union & un Congrez perpétuel [...] & former l'Union Européenne [...], je trouvai, dis-je, que les plus foibles auraient sû37
38 39
40
Erstmals wurde die Gleichgewichtsidee 1713 im Vertrag von Utrecht auch offiziell genannt (Seroux d'Agincourt, Exposé des projets de paix, p. 68). Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 32. Ebd., I, p. 38, wo er schreibt, alle bisherigen Friedensverträge hätten nur zu Waffenstillständen {„Trêves") geführt. Zur Diskussion dieser zentralen Probleme internationaler Staatenbeziehungen bei Rousseau vgl. unten, Kap. IV.3.1 u. 3. - Prägnant zu den Grundlagen von Saint-Pierres Kritik an den traditionellen, bis heute fortdauernden Ideen einer politischen und/oder völkerrechtlichen 'Hegung' des internationalen Naturzustandes Goyard-Fabre, La construction de la paix, pp. 123-128; Le Cour Grandmaison, Idées d'Europe, pp. 12 ff. Vgl. Saint-Pierre,
Projet de paix, I, p. vii u. I, p. xix.
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D a s Projet
reté suffisante,
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que la grande p u i s s a n c e des plus forts ne pourroit leur nuire, que chacun garde-
rait exactement les promesses réciproques, que le C o m m e r c e ne séroit jamais interrompu, & que tous les différens futurs se termineraient sans Guerre
par la v o y e des Arbitres". 4 1
Dies ist der Ort innerhalb des Argumentationsgangs des Projet de paix, an dem Saint-Pierre den Hinweis auf das Modell des Alten Reichs einführt. Zugleich wechselt er dabei methodisch die Ebene seiner Argumentation. Denn obwohl er auch in diesem premier discours schon durchgängig auf die real bestehenden Verhältnisse zwischen den europäischen Staaten verwiesen hat, verfolgte er mit ihm doch vor allen Dingen stets das Ziel des strengen Nachweises, daß die Logik des Zustands, in dem sich die souveränen Staaten untereinander befinden, derart gestaltet ist, daß sie 1.) destruktiv ist und mit Notwendigkeit zu kriegerischen Konflikten führt, daß sie 2.) auf dem Wege völkerrechtlicher Verträge, Bündnis- und Gleichgewichtssysteme prinzipiell nicht aufgehoben werden kann, so daß 3.) ihre Aufhebung vielmehr eine strukturelle Änderung des Status quo und eine Institutionalisierung allgemeiner Strukturen zur Regelung der Beziehungen der Staaten untereinander bedarf. Somit handelt es sich hierbei um Einsichten, die mit dem Anspruch auftreten, im strengen Sinne vernunftrechtlich demonstriert worden zu sein. Denn die bis hierher aufgestellten ,Propositionfs] à démontrerii42 bilden einen notwendigen Begründungszusammenhang: ihn muß nach Saint-Pierre jeder vernunftbegabte Mensch bei reiflicher Überlegung nachvollziehen können, und ihm muß er deshalb aus freiem Willen heraus beipflichten können.43 Wenn Saint-Pierre im second discours auf Entstehung und Struktur des Alten Reichs zu sprechen kommt, besitzt dies eine davon deutlich unterschiedene argumentative Funktion. Er bezeichnet nämlich das Reich - neben dem von Sully überlieferten Friedensplan Heinrichs IV. - als einen von zwei „préjugéz en faveur de la possibilité" des Projekts, d. h. als einen jener historisch-empirischen 'Vor-Urteile' oder Präzedenzfälle, die zugunsten seines Plans eines europäischen Bundes sprechen und ihm eine gewisse historisch begründete Dignität, Autorität und vor allem Evidenz verleihen. Solches Argumentieren mit préjugés nämlich sei, wie Saint-Pierre mit bemerkenswerter Offenheit erklärt, angesichts des intellektuellen Zustands der Mehrzahl jener Leser, die er erreichen will, notwendig, denn „souvent ils [d. i. die préjugés; O.A.] font plus d'impression sur le commun des esprits, que les véritables raisons prises du fond même du sujet, & tirées par des conséquences nécessaires des premiers principes".44 Der Vergleich der historisch entstandenen Union Germanique mit der 41 42 43
44
Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. vii f. So Uberschreibt Saint-Pierre die beiden Abschnitte der ersten Abhandlung des 'Projet de paix', I, pp. 3 u. 35. Deshalb fordert Saint-Pierre seine Leser beständig auf, die von ihm vorgebrachten Gründe und Folgerungen abzuwägen und zu prüfen, um ihre Richtigkeit entweder zu bestätigen und anzuerkennen oder aber - mit Gründen! - als fehlerhafte Demonstrationen zurückzuweisen und zu verbessern; vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. xxi f. Ebd., I, pp. x f. - Zu Saint-Pierres systematischem und historischem Beweisverfahren vgl. unten, S. 168 ff. Er scheint den Begriff des préjugé hier noch wesentlich in dem aus der Rechtssphäre übertragenen Sinn eines „Präjudizes" zu verwenden, wie es sie in Frankreich bis Ende des 17. Jahrhunderts in theologischen Diskussionen „über die sog. préjugés légitimes gegeben [hat], nämlich über die Fakten und Berichte (Bibelstellen), auf die man sich für seine jeweilige Sache mit Recht berufen zu können glaubte" (Schneiders, Vorurteil, S. 438). Davon unterscheidet sich die aufklärerische Kritik der „préjugés", wie sie auf Bacon (Novum Organum, Buch I, §§ 38 ff.) zurückgeht (hierzu Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik, v. a. Kap. I und II). Diese aufklärerische Kritik an den préjugés wird in anderen Zusammenhängen auch von Saint-Pierre vertreten, wenn er etwa jene „anciens prejugez [anprangert] faits sans examen dans l'Enfance ou dans la Jeunesse,
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von Saint-Pierre angestrebten Union Européenne dient dementsprechend nicht als Beweis im strengen Sinne, sondern eher als Appell an die auf die Empirie fixierten Skeptiker. Diese sollen durch den Hinweis auf die historisch bereits verwirklichte Form eines (wenngleich partikularen) Staatenbundes zu der Einsicht motiviert werden, die Realisierbarkeit eines universellen oder zumindest gesamteuropäischen Bundes souveräner Staaten45 prinzipiell anzuerkennen. „Je sçai que les argumens que l'on tire des comparaisons ne suffisent pas toujours pour convaincre, mais on m'avouera aussi qu'ils servent du moins à disposer l'esprit à se laisser toucher aux preuves directes, & c'est cette disposition d'esprit du Lecteur où je me borne dans ce Discours, afin que les preuves du Discours suivant puissent faire sur lui l'effet naturel que font de bonnes preuves sur de bons esprits."46 Die Darstellung der Bildung und der Struktur der Union Germanique als Vorbild für die Bildung und die Struktur der Union Européenne ist also nicht mit einer rationalen Demonstration zu verwechseln, sondern sie sorgt gleichsam dafür, daß eine solche auch bei denen auf fruchtbaren Boden fällt, die sich einzig auf die unmittelbare Erfahrung und die historische Anschauung verlassen und es nicht gewohnt sind, sich von der Kraft vernünftiger Argumente allein überzeugen zu lassen. Ist die historische Existenz analoger Strukturen aber einmal vorgeführt worden, erhöht sich nach Saint-Pierres Ansicht die Chance, daß die im weiteren Verlauf des Friedensprojekts folgende Demonstration der Gründung, der Strukturen und Verfahren eines europäischen Staatenbundes - auch wenn sie für ihn der Sache nach weiterhin auch ohne jeden historischen Rekurs auskommen würde47 - überhaupt ernstgenommen wird, so daß die historischen Modelle einer dauerhaften Gesellschaft zwischen den souveränen Staaten auf einer umfassenderen Ebene umgesetzt werden können.
45
46
47
sans que personne nous ait obligé à les révoquer en doute, & à les examiner de plus près, la longue habitude nous les a rendus certains; or malheureusement nous prenons facilement le certain pour l'évident" (SaintPierre, Agrandissement de la Ville capitale, Ouvr., IV, pp. 111 f.). Zum Problem des rechtlichen Status dieses 'Bundes' vgl. unten, S. 176 ff. Zu dem sich an dieser Stelle aufdrängenden Problem, daß sachlich nicht einsichtig ist, warum der Staatenbund nur auf die christlichen Staaten Europas begrenzt werden sollte, obwohl er doch aufgrund der Universalität des internationalen Naturzustands nur durch die Einbeziehung aller Staaten aufzuheben wäre, äußert sich Saint-Pierre bereits in seinem Projekt selbst. Demnach habe sein Friedensplan zunächst „tous les Etats de la Terre" umfaßt, doch sei er durch seine Freunde von diesem Gedanken abgebracht worden, und zwar durch deren pragmatisch orientierten Hinweis, ein solch umfassendes Unterfangen ,jettoit sur tout le Projet un air, une apparence d'impossibilité qui révoltoit tous les Lecteurs; ce qui en portoit quelques-uns à croire que restraint même à la seule Europe Chrétienne, l'exécution en seroit encore impossible" (Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. xix-xx). Saint-Pierre sieht den Verzicht auf die systematische Konsequenz freilich ausgeglichen durch die Aussicht, daß sich die anderen Staaten im Laufe der Jahrhunderte ebenfalls dem europäischen Bund anschließen oder komplementäre Einrichtungen schaffen werden, die zur Universalisierung der institutionell gesicherten Rechtsfriedensordnung führe; vgl. zu dieser Problematik auch Guellouz, Evolution. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 63. - Zum Hintergrund dieser Verbindung von systematischer und historischer Argumentation unten, in.4.2, v. a. S. 169 ff. Vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 150 f.: ,j'espère que quand même il n'y aurait jamais eu de modèle d'Union permanente entre Souverains, ni chez les Grecs, ni chez les Allemans, ni chez les Suisses, ni chez les Hollandois; que quand même le Projet de l'Union d'Europe n'aurait encore jamais été, ni inventé, ni proposé, ni agréé, les motifs de former cette même Union paraîtront [...] si puissans, & les moyens si faciles, qu'ils suffiroient pour déterminer nos Souverains à former cette Union".
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m.3.2
Geschichte und Struktur des Alten Reichs in der Perspektive des „Projet de paix" (1712/13)
Der Rekurs auf die historische Gestalt des Alten Reichs, seine Bildung, seine Verfassung, die institutionellen Strukturen und Verfahrensweisen wie auch auf seine Widersprüche und Tendenzen dient im Rahmen des Projet de paix einem spezifischen Zweck. Wenn SaintPierre einerseits daran geht, die Motive und Mittel herauszuarbeiten, die zur Bildung des Alten Reichs geführt haben, andererseits daran, seine verschiedenen Einrichtungen und Verfahren darzustellen, so soll das Reich dadurch als Vorbild und Modell der Verwirklichung des europäischen Bundes profiliert werden. Im folgenden geht es somit zunächst um den Aufweis der Art und Weise, in der Saint-Pierre angesichts dieses spezifischen Erkenntnisinteresses in seinem Projekt von 1713 Geschichte, Struktur und Defizite des Alten Reichs rekonstruiert, ohne daß dabei an dieser Stelle bereits auf die historischen, politischen und systematischen Hintergründe eingegangen werden soll, vor denen diese Darstellung zu betrachten ist, um sie angemessen einschätzen zu können. 48 (a) Zur Vorgeschichte der Union
Germanique:
Der Zerfall des Karolingerreichs Saint-Pierres Darstellung der Geschichte und der Verfassungsentwicklung des Alten Reichs nimmt ihren Ausgang beim Prozeß des Zerfalls des karolingischen Reiches - des „Empire d'Allemagne" - und des Niedergangs der kaiserlichen Zentralgewalt im 9. Jahrhundert seit dem Ende der Regierungszeit Ludwigs des Frommen (814-840), des Sohns Karls des Großen, und seiner Nachfolger aus der Dynastie der Karolinger. Ohne näher auf die Ursachen und die Hintergründe dieses Zerfalls einzugehen, konstatiert Saint-Pierre einen doppelten Prozeß der Veränderung der Macht- und Herrschaftsverhältnisse innerhalb des Reichs. Auf der einen Seite gilt für die späten Karolinger des 9. Jahrhunderts „qui gouvernent l'Empire d'Allemagne [...] qu'ils perdoient de leur autorité", wobei die Schwächung des Kaisertums für Saint-Pierre vor allem das Ergebnis der persönlichen Schwäche der einzelnen Kaiser zu sein scheint, denn erst „des Régnés si foibles" hätten auf der anderen Seite ein Machtvakuum entstehen lassen, welches die Möglichkeit bot, daß sich die partikularen politischen Machthaber im Reich die „autorité" des kaiserlichen Regiments hätten aneignen können. 49 Dabei besteht nach Saint-Pierre das Kriterium für die Macht ('puissance' oder 'autorité') und die Souveränität der Herrschaft in der Verfügung über „tout droit & tout pouvoir sur les armes & sur la Justice". 50 Die Schwäche der Kaiser führt dazu, daß die zuvor in der personal ausgerichteten Herrschaftsordnung des Feudalismus untergeordneten, die
48
In der folgenden Darstellung soll und muß auf Fragen und Hinweise zu dem realhistorischen Gehalt der Ausführungen Saint-Pierres nicht mehr eigens eingegangen werden. Ebensowenig kann es hier darum gehen, die Frage nach der historischen Angemessenheit seiner Beschreibungen und Bewertungen aufzuwerfen; vgl. näher hierzu die Ausführungen weiter unten, S. 158 ff., sowie ergänzend den Exkurs zum Bild des Alten Reichs in Europa, unten, S. 240 ff. Im folgenden geht es ausschließlich um eine Klärung des Deutschlandbildes des Abbé de Saint-Pierre, wie es sich im Hinblick auf die Struktur einer 'Europäischen Union' für ihn als in weiten Zügen modellhaft und noch in seinen Konstruktionsmängeln als lehrreich erweist.
49
Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 64. Ebd., I, p. 64.
50
Das Alte Reich als Modell der Union Européenne
137
Herrschaft über ein bestimmtes Territorium stellvertretend für den Kaiser ausübenden Instanzen sich verselbständigen und die ihnen übertragenen Herrschaftsrechte usurpieren. Aus bloßen 'Verwaltern' werden auf diese Weise souveräne Herren: „comme ces Gouverneurs avoient tout droit & tout pouvoir sur les armes & sur la Justice, leurs Gouvernemens devinrent autant de Souverainetez, les unes plus grandes, les autres plus petites".51 Der Zerfall der Souveränität des Kaisertums führt nach Saint-Pierre zur Bildung von drei voneinander unterscheidbaren Gruppen neuer Souveräne. Bei einer ersten Gruppe „on voyoit les Duchez, les Comtez & les autres Gouvernemens immédiats se donner aux Ducs, aux Comtes pour toute leur vie; quelques-uns obtenoient des survivances pour leurs enfans"; 52 aus Vasallen, deren Herrschaftsrecht sich aus der temporären Übertragung von königlichen Funktionen oder Lehen ergab, werden Herren, die ihr Lehen als etwas betrachten, das ihnen und ihren Nachkommen rechtmäßig zukommt, auf das der Kaiser kein Zugriffsrecht mehr hat, und das nun - ebenso wie zuvor nur die Königswürde - erblich wird. Eine zweite Gruppe souveräner Fürsten setzt sich aus den kirchlichen Territorialherren zusammen, indem ,,[u]n grand nombre d'Archevêques, d'Evêques et d'autres Ecclésiastiques, qui avoient des grands Fiefs, conservèrent de même à leurs Successeurs le droit de la Justice & des Armes". 53 Die dritte Gruppe schließlich besteht aus einer Reihe großer Städte, die freilich, wie Saint-Pierre mit Recht bemerkt, erst sehr viel später ihre Selbständigkeit gewonnen hatten und sich wiederum mit Unterstützung und unter dem Schutz des Kaisers von den Territorialfürsten loslösten und als Republiken selbst verwalten konnten. 54 Im Ergebnis korrespondiert die Schwäche des Kaisers und des Reiches mit der Stärke der territorialen Herren in einem solchen Maße, daß der Einheitscharakter des Reiches insgesamt fraglich wird. Denn der krasse Machtverfall der kaiserlichen Zentralgewalt führt dazu, daß die Vielzahl der größeren und kleineren politischen Körperschaften oder
Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 64. Vgl. auch ebd., I, pp. 65 u. 67: „du débris de la puissance & de la Souveraineté Imperiale, se forma une multitude prodigieuse de petites Puissances particulières & de petites Souverainetez subalternes; [...] l'époque de la plus grande foiblesse des Empereurs, c'est aussi l'époque de la plus grande indépendance des Souverains feudataires". - Es erscheint überraschend und inkonsequent, daß SaintPierre in diesem Zusammenhang weiterhin von „Puissances particulières" und „Souverainetez subalternes" spricht, da diese doch seinen Worten nach souveräne, im Verhältnis nach innen und außen nicht partikulare, sondern allgemeine Mächte sind, die befugt und in der Lage sind, souverän über ihr Handeln zu entscheiden. Wenn er weiterhin vom Fortbestehen bestimmter Verpflichtungen der verselbständigten Fürstentümer und 'Republiken' und somit auch bestimmter Rechte des Kaisers ausgeht, zollt Saint-Pierre offenbar der historischen Wirklichkeit Tribut. Sachlich freilich hält er die feudalen Herrschaftsverhältnisse, wie sich im weiteren zeigen wird, bereits für überwunden, da den Ständen das wesentliche Element souveräner Herrschaft - eben jenes genannte „tout droit & tout pouvoir sur les armes & sur la Justice" - zukommt, ohne daß der Kaiser hierauf noch ein Zugriffsrecht hätte. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 64. Ebd., I, p. 65. Vgl. ebd., I, p. 65: „long-tems après plusieurs Villes considérables se détachèrent des Gouvernemens particuliers, & obtinrent de se gouverner elles-mêmes en Républiques sous la protection de l'Empereur & de l'Empire." - Diese Dreiteilung der kleinen Souverainetez, die Saint-Pierre sich ins 9. Jahrhundert datiert, orientiert sich offenkundig an der Unterscheidung der drei Stände oder Kurien, wie seit dem späten 15. Jahrhundert auf den Reichstagen institutionalisiert worden sind.
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„Souverainetez [...] ne tenoient à l'Empereur que par de tres-legers Tributs, par les Actes de foi & hommages, & par les Cérémonies des investitures que l'heretier du Souverain Feudataire défunt prenoit de l'Empereur, & que l'Empereur ne pouvoit pas ordinairement lui réfuser. Ils étoient seulement obligez, à cause de ces Fiefs Impériaux, d'entretenir & de mener des Troupes à l'Empereur à proportion de la grandeur de ces Fiefs, & seulement lorsque l'Empire étoit en guerre."55
Der fortdauernde Zusammenhang des die einzelnen Fürsten und Städte übergreifenden Reichsganzen bezieht sich also auf zwei unterschiedliche Bereiche mit je eigener Bedeutung und Begründung. Zunächst handelt es sich um die Überreste überkommener feudaler Strukturen, aus denen sich rudimentäre Formen wechselseitiger Rechte und Pflichten erhalten haben.56 Dieses Band jedoch, das die einstigen Vasallen an den Kaiser als ihren obersten Lehnsherren bindet, verpflichtet nur noch zu gewissen formalen Akten und Bekenntnissen, an deren realen gesellschaftlichen Inhalt und Verpflichtungscharakter Saint-Pierre offenbar schon nicht mehr glauben kann. Den geringen Abgaben und den Ehrenbezeigungen, die die einzelnen Machthaber dem Kaiser schulden, steht dessen Pflicht gegenüber, die Kontinuität ihrer Herrschaftsrechte zu gewährleisten, indem der Akt der Belehnung jeweils bestätigt wird. Der zweite Bereich, der die vielen kleinen Mächte und den Kaiser in Saint-Pierres Augen noch verbindet, betrifft die gemeinsame Verteidigung gegen äußere Feinde und somit die Frage, die Saint-Pierres Friedensprojekt im allgemeinen und seiner Beschäftigung mit Geschichte und Institutionen des Reiches im besonderen zugrundeliegt. Historisch bezieht sich diese Funktion der kaiserlichen Zentralgewalt auf die zahlreichen äußeren Bedrohungen des Reichs durch die sich zum Teil über Jahrzehnte hinziehenden periodischen Invasionen der Normannen, der Dänen oder der Ungarn. Das durch die internen Spaltungen geschwächte Reich mußte angesichts dieser Bedrohungen seine Kräfte immer wieder bündeln, was jeweils zu einer temporären Stärkung der Machtposition der Kaiser gegenüber den Stammesherzögen und feudalen Ständen führte. Saint-Pierre, der stets den Blick auf sein eigenes Projekt einer europäischen Friedensordnung gerichtet hat, interessiert hierbei vor allem die allgemeine Funktion und Struktur der gemeinsamen Organisation der 'souveränen' politischen Körperschaften. Die kaiserliche Zentralgewalt erhält demzufolge von den 'Vasallen' Truppen, wobei sich die Zahl der im Fall äußerer Kriege zu stellenden Einheiten an der Größe ihrer 'Fief Impériaux' zu bemessen habe, folglich an ihrer Größe und Leistungsfähigkeit.57 Obwohl auf den ersten Blick die Verpflichtung auf Seiten der Mächte zu liegen scheint, die die Truppen stellen müssen, ist das Verhältnis der Sache nach gerade umgekehrt. Denn diese Leistung der geistlichen und weltlichen Fürsten und (Stadt-)Republiken ist an einen ganz bestimmten Zweck gebunden, so daß sich das Recht auf das Führen von Kriegen weniger als ein solches darstellt, das der kaiserlichen Macht sui generis entspringt, sondern vielmehr als ein abgeleitetes Recht, eine Funktion der Selbsterhaltung der territorial Ebd., I, pp. 64 f. In diesem Sinne ist das Reich, das Saint-Pierre hier vor Augen hat, in der Tat noch ein vom modernen Territorialstaat unterschiedener „Personenverbandsstaat", ein „Herrschaftsverband, der sich wesentlich durch personale Beziehungen konstituierte, vor allem durch Lehnsbeziehungen", und noch nicht auf ein abgeschlossenes Herrschaftsgebiet ausgerichtet war (W. Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, S. 55); zur Begrifflichkeit vgl. Mayer, Die Entstehung des 'modernen' Staates, S. 214. Vgl. hierzu nochmals das obige Zitat aus Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 64 f.
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und dynastisch auf souveräne Eigenständigkeit bedachten, hinsichtlich ihrer militärischen Macht aber relativ schwachen Zerfallsprodukte des Reiches, die ohne den Beistand aller anderen den Angriffen äußerer Feinden zweifellos unterlegen wären. Saint-Pierres Darstellung des Zerfallsprozesses des karolingischen Reiches vom 9. Jahrhundert an kommt also zusammenfassend zu folgendem Resultat: Das vormals zentral regierte Empire de l'Allemagne ist in eine Vielzahl kleiner und kleinster Einheiten zerfallen, die jeweils im Inneren die unbeschränkte Regierungsgewalt beanspruchen. Mit dem weiterhin bestehenden, doch insgesamt machtlosen Reich und Kaisertum sind sie schließlich nur mehr durch lose, eher formalen Charakter tragende Rituale verbunden. Die einzig verbliebene sachliche Funktion des Kaisertums ist gleichsam subsidiärer Art, insofern ihm zum Zweck der Verteidigung gegenüber Dritten die Bündelung und Koordination der militärischen Kräfte der kleinen Mächte übertragen wird, ohne daß dadurch die innere Souveränität der einzelnen Territorialgewalten tangiert würde. (,b) Die Bildung einer föderalen Union Germanique Der progressive Zerfall des Reichs der Karolinger führt nach Saint-Pierre zu einem zwiespältigen Resultat. Zwar verschafft er den neu gebildeten politischen Einheiten einen ungekannten Grad an Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung, doch zugleich wird durch ihn die Verwirklichung der darin liegenden Chancen notwendig negiert und zerstört. Die große Zahl von nebeneinander existierenden, aber nicht eigentlich &o-existierenden politischen Körperschaften führt nämlich zu einer Vielzahl von regelungs- und entscheidungsbedürftigen Problemen und beständig zu Konflikten, „soit pour des successions, soit pour l'execution de quelque promesse, soit pour leur limites, soit enfin pour le Commerce de leurs Sujets".58 In dieser durch das Fehlen einer allgemeinen, übergreifenden Macht geprägten Situation bleibt zur Entscheidung von Streitfällen als letztes Mittel nur der Weg unmittelbarer Gewaltausübung, denn die Akteure „n'avoient encore que la voye des Armes pour obtenir leurs prétentions".59 Entsprechend war das Ergebnis des Zerfalls des Reiches keineswegs das friedliche Nebeneinander einer Vielzahl kleiner Gemeinwesen, sondern ein Zustand permanenter Unsicherheit und des Krieges, der ebenso verheerend wie unvermeidlich scheint. Konsequenterweise, so Saint-Pierre, „vit-on alors en Allemagne, tantôt une Contrée, tantôt une autre, tantôt toutes les Contrées ensemble desolées, & par les Guerres du dehors, & par les Guerres du dedans qui sont les plus cruelles, & qu'on ne pouvoit alors empêcher de renaître incessament l'une de l'autre".60
Das Erreichen des Zustands allgemeiner Freiheit und der „plus grande indépendance" führt also nach Saint-Pierre auf seiten der Zerfallsprodukte des karolingischen Kaiserreichs in einen Zustand des Elends und der Unsicherheit bezüglich ihrer weiteren Existenz, und die vermeintlich erreichte Unabhängigkeit entpuppt sich als eine Form von „indépendance qui entretenoit leurs divisions, & qui fût toûjours tres-malheureuse pour la Nation, tant qu'ils ne
58 59 60
Ebd., I, p. 66. Ebd., I, p. 66. Ebd., I, pp. 66 f.
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s'avisèrent point du seul moyen qui pouvoit la garantir des malheurs de la Guerre". 61 Mit dem Zerfall des Reichs in das Extrem der unabhängigen Einzelheit von verselbständigten politischen Entitäten ist für Saint-Pierre die Ausgangslage gegeben, von der aus das Reich als Ganzes neu gedacht, konzipiert und hergestellt werden mußte, und zwar auf neuen Grundlagen, mit neuen Einrichtungen und Zwecken, mit neuen Kompetenzen und Schranken. Die Voraussetzung für die Bildung dieses neu strukturierten Reichs ist demnach die Erfahrung der Nachteile und der Übel eines in selbständige Einheiten zersplitterten, substantiell und formell nicht mehr existierenden Gemeinwesens, die bewußte Reflexion dieser „calamitez publiques" sowie ihrer Ursachen und möglichen Gegenmittel; gesucht wird „quelque préservatif propre à les faire éviter, ou du moins quelque remede propre à les faire finir." 62 Diese Überlegungen sind es, die Saint-Pierre zufolge zur Idee eines Zusammenschlusses der zahlreichen Kleinstaaten führten: „Ce fut alors que l'on vit naître le plan de l'Union Germanique, pour ne faire de tous les membres de l'Empire qu'un même corps ...",
nämlich, wie Saint-Pierre sogleich mit Blick auf die Zweckbestimmung dieser neu geschaffenen Union hinzufügt, „... afin d'y conserver la Paix, le Commerce, & l'Abondance, & de donner à chaque Souverain sûreté pour la conservation de ses Etats & pour l'execution des Traitez". 63
Die einzelnen Elemente und Schritte dieser Idee eines das Reich begründenden 'Plans' bilden nun eine entscheidende Scharnierstelle, und zwar sowohl im Hinblick auf Saint-Pierres Bild der historischen und verfassungsrechtlichen Entwicklung des Alten Reichs als auch für die systematische Beweisabsicht hinsichtlich seiner Konstruktion einer Einzelstaaten übergreifenden Rechts- und Friedensordnung. Der Zustand, der zur Aufhebung drängt und durch den Bund verlassen und aufgehoben werden soll, wird von Saint-Pierre als der einer „non-Societé" bezeichnet. 64 Hiermit ist nicht gemeint, daß die einzelnen Mächte und ihre Untertanen keinerlei 'gesellschaftlichen' Umgang und Verkehr miteinander pflegten, denn es ist schließlich eben die faktisch bestehende Gesellschaftlichkeit, die permanent zu Konflikten und Kriegen führt. Daß sie eine 'nonsocieté' ist, weist demgegenüber auf das Fehlen eben jener allgemeinen Institutionen und Verfahren hin, derer es bedarf, um den bestehenden Verkehr zwischen den Handelnden auf eine Grundlage zu stellen, die ihre wechselseitige Anerkennung als gleiche Rechtssubjekte garantiert und die Kompatibilität ihrer Handlungsfolgen und den Verzicht auf physische Gewaltanwendung sicherstellt. Die „Société permanente"65, die nach Saint-Pierre das exakte Gegenbild jenes defizitären („Natur"-)Zustandes ist, muß demnach als eine solche verstanden werden, die durch spezifische allgemeine Institutionen und Verfahren strukturiert und geregelt wird; sie zeichnet sich mithin durch eine besondere, nämlich staatsrechtliche Ver-
Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 67. - Damit ist das Stadium des Naturzustands erreicht, wie er sich nach Saint-Pierre in der Sphäre der internationalen Beziehungen souveräner Staaten entwickeln und in den permanenten „état de guerre" münden muß. Ebd., I, p. 67. Ebd., I, pp. 67 f. u. 68. Ebd., I, p. 70. Ebd., I, p. 70.
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faßtheit aus. 66 Diese Differenz und die jeweiligen Vor- und Nachteile dieser Zustände von non-société und société sind es, auf die die unabhängigen, im Zustand der non-societé befindlichen „Souverains Allemans" oder „Souverains d'Allemagne" 67 reflektieren mußten, und diese „avec évidence" vollzogene Einsicht mußte sie nach Saint-Pierre dazu führen, das „Projet de l'Union Germanique" zu entwerfen und zu befürworten. 68 Sie erkannten demnach die Vorteilhaftigkeit und die Notwendigkeit, den Zustand einer nicht institutionell verfaßten Gesellschaftlichkeit zu verlassen und „la Société Allemande" anzustreben, d. h. sie sahen ein, „qu'ils on besoin de former la Société Germanique, pour augmenter considérablement leur propre bonheur". 69 Diesen Schritt zu einer neuen Form der 'Gesellschaft' untereinander haben die Souveräne der deutschen Teilstaaten vollzogen, indem sie ,,conclure[nt] un [...] Traité". 70 Dieser Vertrag war nichts anderes als ein Gesellschaftsvertrag, ein „Traitez de Société, où celui qui signe entre dans toutes les loix ou obligations de la Société pour entrer dans le droit d'en partager tous les avantages". 71
Durch diesen Vertrag wurde ein dauerhafter Zusammenhang zwischen ihnen gestiftet, eben jene 'Union' oder 'Société', in der die bisherigen Konflikte und ihre Ursachen verhindert oder in solche Bahnen gelenkt werden, die für die Erhaltung und den Wohlstand des Bundes und jedes seiner Mitglieder nicht länger bedrohlich waren. Notwendig und im Wortsinne konstitutiv für die Entstehung des deutschen Reichs, wie Saint-Pierre es vor Augen hat, war folglich, daß die einzelnen Fürsten „signèrent [...] le Traité de l'Union Germanique", - denn es sei dieser Vertrag, „qui fut le fondement de ce grand établissement", als die das Reich existiere. 72 Saint-Pierres Darstellung der Geschichte des Reichs hat auf diese Weise bereits eine dritte Phase seiner Entwicklung erreicht. Statt einer zunächst monarchisch ausgerichteten, einheitlichen Reichsstruktur und anschließend eines in partikulare souveräne Einheiten zerfallenen Systems permanenter Konflikte und Kriege tritt nunmehr eine neugeartete „Union générale de l'Allemagne" 73 auf den Plan der Geschichte, ein Bund, der Strukturen und Verfahren entwickelt hat, die für Saint-Pierre von einer weit über das Reich selbst hinausweisenden Bedeutung sind, insofern er rein säkular begründet ist und als Resultat rationaler Kalkulation der (Un-)Kosten des Status quo und der Möglichkeiten seiner Überwindung begründet und eingegangen wird. Diesen Prozeß des Entwerfens des Plans zur Bildung eines Bundes der deutschen Einzelstaaten und seiner Verwirklichung vermittels eines Vertrages, der den Mitgliedsstaaten eine gemeinsame staatsrechtliche Form und Verfassung verleiht, faßt Saint-Pierre als ein historisches Geschehen auf. Dementsprechend geht er von der Existenz eines „Auteur du Système de la Société Allemande" aus, eines historisch - zumindest prinzipiell - identifizierbaren „sage Inventeur" bzw. „sage Auteur de l'Union Germanique", der, „en réfléchissant sur les
Das heißt, daß die Begriffe société und non-société keine sozialen, sondern staatsrechtliche Begriffe sind. So die Bezeichnungen in Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 69, 63 u. 76. Ebd., I, p. 73. Ebd., I, pp. 75 u. 72 f. Ebd., I, p. 68. Ebd., I, p. 104. Ebd., I, pp. 76 u. 77. Ebd., I, p. 70.
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sources des malheurs de la Nation", 74 den Plan einer neuen Union der weltlichen und geistlichen Fürstentümer und der städtischen Republiken als Lösung für die Probleme und Konflikte der Beziehungen zwischen ihnen ersonnen haben soll. Zugleich aber ist sich SaintPierre der Schwierigkeiten, denen er sich durch seine Behauptungen hinsichtlich der historischen Faktizität eines Planes, eines Urhebers und des schließlichen Vertragsabschlusses einer Union Germanique aussetzt, nur allzu bewußt. Wer ist dieser 'Erfinder' des Plans eines Bundes der miteinander zerfallenen, selbständig gewordenen deutschen Staaten, wann und von wem wurde sein Vorschlag verwirklicht? Saint-Pierre behandelt dieses Thema nicht nur im zweiten Discours seines Projet von 1713, sondern er reagiert im gleichzeitig erschienenen zweiten Band gegen sein Friedensprojekt ausdrücklich auf Stimmen, die eben diese historische Faktizität anzweifeln. Offensiv gesteht er seinen Kritikern zu, sich über die Verfasserschaft und den Grad der Ausarbeitung, den der Plan bei seiner ersten Vorlage schon aufgewiesen habe, im ungewissen zu sein: „Je ne sçai pas si ce Projet tomba d'abord dans l'esprit d'un Prince ou d'un Particulier. Je ne sçai pas non plus jusqu'où l'Auteur le porta d'abord". 75 Und ebenso läßt er es als offene Frage stehen, wie es genau um den Bündnisvertrag gestanden habe, ob er „ait été fort court" oder ob „il ait été fort étendu". 76 Was aber ist für ihn dann als historisches Faktum anzunehmen? Was den Urheber der Idee des deutschen Bundes anbetrifft, so kann es sich nach SaintPierre um eine unbekannte Privatperson gehandelt haben, um „un Particulier" und „un bon Citoyen", der das „salut de sa Patrie" im Auge gehabt habe. 77 In diesem Falle muß der Plan von den Souveränen zur Kenntnis genommen und für gut befunden worden sein, denn nach Saint-Pierre sind sie es, die einen solchen Plan in konkrete Politik verwandeln, d. h. den anderen Souveränen zur Prüfung und mit der Aufforderung verbunden vorlegen können, gemeinsam einen solchen Bund zu begründen bzw., sofern er bereits bestehen sollte, ihm beizutreten. Die Geschichte der Reichsgründung stellt sich für ihn unter diesen Umständen wie folgt dar: „Apparemment que le Projet de Traité de l'Union Germanique eut le bonheur de commencer à plaire à quelqu'un des Souverains de cette Nation: celui-ci le proposa, & en fit agréer le plan en gros à un autre: ceux-ci le proposèrent bien-tôt à quelques-uns des plus habiles & des plus sages, & n'eurent pas de peine à le leur faire approuver: enfin ce plan rendu public, un grand nombre de Souverains après l'avoir examiné chacun dans leur Conseil, convinrent de faire assembler leurs Députez pour le rectifier & pour convenir des principaux articles: il fut rectifié,
Ebd., I, pp. 75, 68 u. 56. Ebd., I, p. 68. Ebd., n, p. 274. Ebd., I, p. 68; s. a. II, p. 274. - Der Begriff der Patrie bezieht sich hier ebenso wie der von Saint-Pierre verwandte Begriff der Nation (Projet de paix, I, pp. 56, 67 u. ö.) auf die Gesamtheit der souveränen Territorialstaaten Deutschlands, so daß zwischen ihnen eine Zusammengehörigkeit besteht, die aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit innerhalb des zerfallenen karolingischen 'Empire' als zumindest 'empfundene' bereits vor ihrer verfassungsrechtlichen Begründung in einem corps politique existieren und die Akteure motivieren soll. Dies ändert freilich nichts an der für die Sphäre äußeren Handelns entscheidenden prinzipiellen Rechtlosigkeit und Konflikthaftigkeit des latenten 'Kriegszustandes' zwischen ihnen, da diese 'empfundene', gleichsam 'moralische Einheit' allein keinerlei verbindliche Regelungen und Lösungen von Rechtskonflikten und Streitigkeiten hervorzubringen vermag.
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les articles furent rédigez & arrêtez, & à la fin tous lui donnèrent en divers tems leur consentement."78
Es ist für Saint-Pierre allerdings auch möglich, daß die Idee zu dem Bund, jenem „chefd'œuvre de politique [...] si nécessaire au salut de sa Patrie", unmittelbar das Resultat des Nachdenkens „d'un bon Prince" gewesen ist. 79 In diesem Fall, in dem ein mehr oder weniger mächtiger Fürst selbst schon der Urheber und Initiator der Bündnisidee war, entfiel folglich auch die Notwendigkeit, erst noch einen politischen Machthaber finden zu müssen, der es wahrnimmt und sich zu eigen macht. 80 Dieser Ungewißheit über Person und Stellung des „sage Alleman qui proposa le Projet de l'Union Germanique",81 korrespondiert die Unklarheit hinsichtlich des Zeitpunkts, an dem nach Saint-Pierres Auffassung das Empire Germanique gegründet und der konstitutive Traité de l'Union geschlossen worden sein soll. Heißt es zunächst noch recht bestimmt: „Cette union se fit il y a plus de cinq cens ans", so wird ihr Alter an anderer Stelle auf mindestens 600 Jahre geschätzt, und schließlich heißt es gar, „ce Projet" und „ce Corps [...] a conservé près de deux cens Souverainetez depuis sept ou huit cens ans, en se conservant lui-même". 82 Demzufolge muß sich die Gründung des Bundes irgendwann innerhalb eines Zeitraums von 300 Jahren abgespielt haben, d. h. etwa zwischen dem Beginn des 10. Jahrhunderts und dem frühen 13. Jahrhundert - eine wahrlich großzügig bemessene Zeitspanne. Das 'Datierungsproblem', vor dem Saint-Pierre somit offensichtlich steht, wird auch dadurch nicht wesentlich abgemildert, daß er den Prozeß der Gründung und Bildung des Bundes dynamisiert und als einen sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Vorgang beschreibt, der sich „dans la suite des siècles" vollzogen habe, insofern sich zunächst nur eine „Union à quatre ou cinq Souverains" zusammengeschlossen und schrittweise erweitert habe: „le Traité étant
Ebd., I, pp. 105 f. - Damit ist die Variante beschrieben, die in ihrer Struktur in etwa dem Entwurf des europäischen Friedensprojekts durch Saint-Pierre entspricht. Diese Perspektive bestimmt den Aufbau und die Argumentation des Projet de paix, in dem in extenso die Vorteilhaftigkeit des gesamten Unternehmens für die Interessen der herrschenden Fürsten dargelegt werden soll. - Das auf den ersten Blick nachrangig erscheinende Problem, die Fürsten allererst auf das Projekt aufmerksam zu machen, beschäftigte auch andere Zeitgenossen wie Leibniz gleich zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Projet de paix\ vgl. Lettre à l'abbé de SaintPierre, 7 février 1715, in: Robinet, Correspondance Leibniz-Saint-Pierre, p. 31. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 68. Auch diese zweite Variante Saint-Pierres hinsichtlich des Ursprungs der Union findet ihr Gegenstück in seinem eigenen Plan eines Bundes der europäischen Staaten, schreibt er diesen doch Heinrich IV. zu, der ihn zuerst entworfen und verwirklicht hätte, wenn dies nicht durch die Ermordung Heinrichs 1610 verhindert worden wäre (vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 123 ff.). So ist der Hinweis auf Heinrich IV. bzw. dessen Grand Dessin, von dem Sully, Kanzler Heinrichs, berichtet, neben demjenigen auf das Alte Reich im Projet de paix von 1713 die zweite gewichtige Berufungsinstanz, an der er den realistischen Gehalt seines Vorschlags demonstrieren will. In direkter Parallele zu seiner Darstellung der Reichsgründung kann Saint-Pierre dort schreiben: , j e n'en suis pas l'Auteur [sc. des Friedensprojekts]; c'est Henry le Grand qui en est le premier Inventeur" (ebd., I, p. 123). Den dritten Band des Projet von 1717 gibt er gleich als „Projet de Henri le Grand" aus, das er selbst nur präsentiere und erhelle (ebd., III, p. 1). - Zu Heinrich IV. und Sully vgl. v. Raumer, Ewiger Friede, S. 62 ff.; Hartmann, Rêveurs de paix?. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 84. So lauten bei unterschiedlichen Gelegenheiten die Auskünfte von Saint-Pierre, p. 112; ebenso I, p. 114 u. H, p. 280.
Projet de paix, I, p. 100, I,
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proposé de proche en proche, tantôt à l'un, tantôt à l'autre, le nombre des Conféderez pourrait s'augmenter peu à peu". 83 Wie aber geht Saint-Pierre mit dem Problem um, daß er einerseits behauptet, es habe einen Plan und einen Erfinder des Empire Germanique gegeben, und die Verwirklichung des Vorhabens in einem ursprünglichen Vertrag sei notwendig und historisch prinzipiell aufweisbar, daß er andererseits aber lediglich mit vagen Auskünften über ihre Historizität aufwarten kann? Saint-Pierre kann hierin weiter kein Problem erkennen: Wenngleich man vielleicht niemals wissen werde, wer als erster die Idee zu dem Vertrag gehabt und wie dieser Plan genau ausgesehen habe, so sei dies doch kein Beweis dafür, daß es weder einen Autoren noch einen Plan noch einen Vertrag gegeben habe: „qu'importe, cela ne fait rien à la chose, il sera toûjours certain que quelqu'un [...] a commencé à imaginer un semblable plan de l'Union Germanique". 84
Bedenkt man, daß der Rekurs auf die Geschichte der Reichsverfassung eingeführt worden war, um als Beleg und Modell seiner (theoretischen) „Demonstration" dienen zu können, dann ist Saint-Pierres wiederum theoretischer Beweis der (empirisch nicht belegbaren) Historizität von Projekt und Gesellschaftsvertrag des Alten Reichs ein einigermaßen wagemutiger Versuch, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. Denn daß Urheber, Plan und ursprünglicher Vertrag historische Ereignisse sind, ist nach Saint-Pierre logisch zu erschließen - „nous concluons sans peine, & sans le sécours de l'histoire". 85 Seine Behauptung gilt somit also auch dann als historisch wahr, wenn es niemals auch nur einen einzigen historischen Beleg dafür geben sollte. Denn da die Existenz des Bundes ein unbezweifelbares Faktum sei, könne man auf genau jene Bedingungen rückschließen, derer es notwendig bedurft habe, um ihn zustandezubringen. Ausgeschlossen ist demnach für Saint-Pierre, daß ein solcher Bund „se forma [...] sans projet", 86 da sich eine jede Union auf eine bestimmte Übereinkunft berufen muß, die ihre fundamentalen Prinzipien und Einrichtungen festschreibt, denn: „Prétendre qu'il y ait eu une Union sans Traité, un Traité sans articles proposés dont on pût convenir, c'est prétendre une chose impossible" 87 . Weder ein solcher Bund noch ein solcher Vertrag können nach Saint-Pierre entstanden sein, ohne daß irgend jemand die Idee gehabt hat, die dann schließlich zu ihnen führte. Auf diese Weise deduziert Saint-Pierre gleichsam aus der Existenz der Union Germanique ihre historische Grundlegung und die Existenz ihres Gründers: „Voilà donc une convention formée, une Société permanente établie: elle a donc commencé: or elle n'a pû commencer sans que quelque Souverain, ou quelque Sujet en ait eu la première idée, sans que quelqu'un en ait fait quelque espèce de Projet petit ou grand. Or quiconque a proposé cette idée, quiconque a dressé le premier ce Projet, ne peut-on pas l'appeller le sage Alleman, le Solon Germanique?"88
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Ebd., I, pp. 70 f.; ebenso I, pp. 105 f., n, pp. 270 f. u. ö.
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Ebd., H, p. 274. Ebd., n, p. 273. Ebd., I, p. 68. Ebd., n, p. 273. Ebd., n, pp. 280-281.
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Doch damit nicht genug. In aller Deutlichkeit führt Saint-Pierre aus, daß er mit seiner Darlegung einen bestimmten philosophisch-politischen Beweisanspruch erhebt, hinter dem der Rückgang auf die historische Forschung und Darstellung zurückzustehen hat: „pour le but que je me propose, il n'importe de marquer précisément l'année où a commencé la convention, ni entre combien, ni entre quels Souverains elle a commencé, ni qui d'entre eux, ou qui de leurs Sujets a eu le prémier cette idée de prendre une autre voye que celle des armes pour terminer leurs différents futurs, c'est un fait historique qui peut être enséveli dans l'oubli; il nous suffit que la chose soit pour prouver qu'elle a commencé d'être, & qu'une convention, qu'une Société semblable est possible."89
(c) Struktur, Funktion und Defizite der Union Germanique Die politische und institutionelle Verfaßtheit des Alten Reichs ist für Saint-Pierre, wie die vorangegangenen Abschnitte gezeigt haben, auf eine doppelte Weise zu bestimmen: auf der einen Seite ist sie ein in einer bestimmten historischen Situation aufgrund rationaler Analyse der Ursachen permanenter Konflikte zwischen souveränen Fürsten ersonnenes 'projet', auf der anderen Seite aber ist sie zugleich auch ein gleichsam geschichtlich gewachsenes 'système'. Beide - Projekt und System - gehen jedoch für ihn nicht ineinander auf. Zwar entspringt der Bund der deutschen Teilstaaten Saint-Pierre zufolge einem Projekt, einem Vorhaben, und dem Prozeß der Umsetzung und Institutionalisierung jenes zu Beginn entworfenen und akzeptierten Plans. Das Resultat besteht in einem System gemeinschaftlicher Institutionen und Verfahren, das jedoch von gegenläufigen Institutionen und Einflüssen überlagert wird, die aus der fortbestehenden, traditional und nicht rational begründeten Einrichtung des Kaisertums herrühren und die Tendenz zur Zerstörung der Union Germanique in sich bergen. Die 'Union Germanique' als Projekt Die Grundlage und die weiterhin tragenden Akteure dieses Bundes sind die zahlreichen kleinen oder größeren Staaten bzw. „Souverains d'Allemagne", und sie sind letztlich auch der Zweck des Bundes, der einzig und allein zu ihrer Erhaltung und zu ihrem Nutzen begründet worden sei. Mit dem „Traité de l'Union Germanique", den sie miteinander schließen, wird die Grundlage und die Verfassung dieser neuen Körperschaft bezeichnet: der Vertrag ist „le fondement de ce grand établissement" und begründet die „constitution de la Republique".90 Dabei umfaßt der Begriff der 'constitution' bei Saint-Pierre zwei Aspekte: einerseits den der förmlichen Verfassung, welche der neuen Körperschaft ihre politisch-rechtlichen Strukturen verleiht und die Verfahren ihrer Willensbildung und ihres Handelns festlegt. In diesem Sinne bilden jene „dix ou douze articles fondamentaux", die dem 'Gesellschaftsvertrag' der Union zugrundeliegen,91 das unveränderliche Grundgesetz - das 'Droit public' - des Bundes, das auch durch Mehrheitsbeschluß der Mitglieder nicht geändert werden kann. Die Verfassung nämlich konstituiert erst den Rahmen, die unhintergehbare Bedingung der Möglich-
Ebd., H, pp. 278-279. - Zu den systematischen und geschichtsphilosophischen Voraussetzungen dieser Position vgl. unten, Kap. m.4.2. Ebd., I, p. 76,1, p. 77 sowie I, p. 85. Ebd., ü, p. 273; vgl. auch Saint-Pierre, Abrégé 1738, p. 344.
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keit des gemeinschaftlichen Handelns, die selber nicht zur Disposition stehen kann. Zugleich bezeichnet der Begriff der constitution bei Saint-Pierre auch den Aspekt der politischen und staatsrechtlichen Verfaßtheit des Bundes selbst, wie er aus jenem Gründungsvertrag hervorgegangen ist und sich institutionell materialisiert hat. Es sind dabei mehrere Institutionen, durch die Saint-Pierre das Grundgerüst des Alten Reichs als Bund gekennzeichnet sieht.92 Zunächst verweist er auf den Reichstag, „la Diette", in dem alle Mitgliedsstaaten durch ihre Abgesandten vertreten sind und der der ursprünglichen Konzeption nach „tous les ans dans quelque Ville libre" stattfinden sollte.93 Eine besondere Bedeutung schreibt Saint-Pierre einer zweiten Einrichtung des Bundes zu, der „Chambre Impériale", d. h. dem Reichskammergericht, das lange Zeit in Speyer angesiedelt gewesen und seit 1692 nach Wetzlar verlegt worden war.94 Dieses gleichfalls durch die Entsendung von Deputierten der Mitgliedsstaaten zusammengesetzte Gericht bilde gewissermaßen „le centre de l'Union", denn es sei vor allem hier, wo eine der wesentlichen Aufgaben des Bundes erfüllt werde, insofern hier Entscheidungen über die auftretenden Konflikte und wechselseitigen Ansprüche zwischen den Mitgliedsstaaten wie auch zwischen ihren Bürgern gefällt werden: „les démêlez entre Souverains, les démélez pour le Commerce entre les Sujets de divers Souverains, y étaient, ou conciliez par des Mediateurs, ou jugez à la pluralité des voix par ces Députez, comme Arbitres éclairez, équitables & parfaitement autorisez." 95
Zwar macht Saint-Pierre über den Umstand hinaus, daß Reichstag und Reichskammergericht ihrer ursprünglichen Idee nach gemeinsam tagen sollten, nur wenige konkrete Angaben zu deren Arbeits- und Funktionsweise sowie zu ihrem Zusammenhang untereinander. Dennoch bildet die enge Verbindung und Verzahnung der Autorität dieser beiden Institutionen für ihn ganz offenbar das Zentrum legitimer Regulierung der allgemeinen Angelegenheiten und der Konflikte der Mitglieder: ,,L'autorité de cette Chambre jointe avec l'autorité de la Diette [...] faisoient toute la force de l'Union". 96
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Die Betonung des Charakters „als Bundes" erklärt sich aus dem Problem, daß dieser bundesstaatliche Charakter durch das Fortleben der monarchischen Einrichtungen überlagert und bedroht wird; vgl. hierzu weiter unten, S. 151 ff. Vgl. zur Veranschaulichung der föderalen Verfassungsstruktur der Union Germanique, wie Saint-Pierre sie in ihren idealtypischen Grundzügen skizziert hat, das anhand der Angaben im Projet de paix hergestellte Schaubild auf der folgenden Seite (Abb. 1). Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 81. Ebd., I, p. 80, n, p. 216. Ebd., I, pp. 80 f. Ebd., I, p. 81. - Die Einrichtung des Reichskammergerichts, „une espèce de Diète perpétuelle pour juger les Procez qui naissent, ou entre les Sujets de divers Souverains, ou entre les Souverains eux-mêmes", ist nach Saint-Pierre nicht nur „une excellente idée" gewesen (ebd., H, pp. 216 f.), sondern „c'est encore un des plus beaux modèles que l'esprit le plus sublime puisse se proposer pour le bonheur du genre humain" (ebd., H, p. 219). Neben den später zu behandelnden, auf das Agieren des Kaisers zurückzuführenden Fehlern dieser Einrichtung weist Saint-Pierre auf zwei Mißstände hin, die von seiner Kenntnis der Einrichtungen des Reichs zeugen. Zum einen sei diese „Chambre [...] composée de cinquante-cinq Juges, & ce grand nombre fait un grand embarras", zum anderen hätte man die Aufgaben des Reichskammergerichts auf die Behandlung von Konflikten zwischen den Souveränen beschränken und zur Schlichtung von Konflikten zwischen Untertanen verschiedener Mitgliedsstaaten eigene Gerichtsbarkeiten schaffen sollen: ,J1 devrait y avoir plusieurs Chambres Frontières, sur tout dans les Cercles où il y a un plus grand nombre de Souverainetés, comme en Suabe &
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Direkte Einflußnahme oder Delegation von Vertretern Abb 1 : Das Ideal der föderativen Verfassung der Union Germanique nach der Darstellung des Abbé de Saint-Pierre im 2. Diseurs seines Projet de paix (eigene Zusammenstellung).
en Franconie, pour juger des Sujets de différentes Souverainetés, & réserver la Chambre Impériale pour les differens de Souveraineté à Souveraineté" (ebd., H, p. 217).
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Zumindest zeitweise sieht Saint-Pierre diese beiden Einrichtungen noch durch eine dritte ergänzt, nämlich durch einen „Conseil de la Regence entre les intervalles des Diètes".97 Hierunter versteht er das sog. Reichsregiment, eine Art von geschäftsführendem Ausschuß zur ständischen Selbstregierung, wie es in der Reichsreformbewegung des ausgehenden 15. Jahrhunderts konzipiert und zu Beginn des 16. Jahrhunderts zeitweise auch realisiert worden war.98 Obwohl auch Saint-Pierre sich darüber im klaren ist, daß diese Institution nur „quelque tems du Regne de Maximilien & de Charles-Quint" bestanden hat, bezeichnet er sie emphatisch als den „Conseil représentatif de la Nation".99 Diese Bezeichnung ist vor allem deshalb aufschlußreich, weil sie den republikanischen Charakter, der in Saint-Pierres Augen die Verfassungsstruktur der Union Germanique auszeichnet, besonders deutlich hervorhebt. Denn das Reichsregiment, das sich ebenso wie der Reichstag und das Reichskammergericht aus Abgeordneten der Bundesmitglieder zusammensetzt, gilt ihm ebenso wie diese Einrichtungen als Organ der Repräsentation der Mitglieder als eines neuen politischen Körpers: die 'Nation' ist die Gesamtheit der Souveräne der einzelnen Teilstaaten,100 und diese 'Nation' konstituiert sich politisch und staatsrechtlich in den allgemeinen Institutionen des Bundes, in denen der Wille und die Rechte der Allgemeinheit und der Einzelmitglieder verbindlich bestimmt und verwirklicht werden. In Saint-Pierres Darstellung gehen die drei genannten Institutionen des Reichs in einem solchen Maße in dieser Funktion auf, daß sie in ihren politischen und rechtlichen Aufgaben letztlich miteinander identisch und gleichermaßen mit der Schlichtung von Konflikten und der Gewährleistung der Sicherheit der Mitgliedsstaaten und ihrer subjektiven Rechtsansprüche befaßt sind. Von Bedeutung ist einzig ihre Funktion, für eine friedliche Konfliktregelung zu sorgen; gleichgültig dagegen scheint, wer dies in welchen Fällen konkret leistet, solange sich das Urteil nur aus dem Willen der Mitgliedsstaaten selbst herleiten läßt, insofern die Entscheidung „par Jugement des députez des Souverains" erfolgt, „soit dans la Chambre Impériale, soit dans les Diètes, soit dans le Conseil de la Regence".101 Eine ganz zentrale Rolle innerhalb des Verfassungssystems der Union Germanique spricht Saint-Pierre darüber hinaus den Reichskreisen zu, den „Cercles". In diesen Kreisen seien die zahlreichen Einzelstaaten Deutschlands gleichsam zu regionalen Vertretungskör-
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Ebd., H, p. 277. Zu einer neueren historischen Einschätzung des Reichsregiments und seiner Bedeutung vgl. Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495-1806, S. 47 u. 83 ff. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 78. Die jeweiligen Untertanen werden hierbei stillschweigend subsumiert, sie gelten nicht als eigenständige Akteure und Subjekte des Bundes, womit Saint-Pierre den Charakter der Reichsverfassung angemessen (zugleich aber auch unkritisch) reproduziert, denn die Verfassung und die durch sie gesicherte „liberté germanique" dienen lediglich den Fürsten (Mably, De l'étude de l'histoire, p. 135); vgl. hierzu den Exkurs unten, S. 240 f., sowie Hüning, Klassischer Republikanismus und Reichsverfassung, S. 270 ff. Saint-Pierre, Projet de paix. H, p. 277. - Auf die sich aufdrängende Frage nach der Form und näheren Bestimmung der jeweiligen Aufgaben der drei Institutionen und ihrer Abgrenzungen gegeneinander - etwa in Form einer gewaltenteiligen Aufgabenverteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative - läßt sich bei Saint-Pierre keine befriedigende Antwort finden. Die Frage, wie Fälle konkurrierender Rechtsauslegung und Rechtsprechung vermieden werden können, wird in dieser Hinsicht nicht nur nicht gestellt, sondern eine solche Konkurrenz wird von Saint-Pierre offenbar als Problem gar nicht für möglich gehalten - ganz im Gegensatz zur Konkurrenz zwischen den Organen des Bundes und denen des Kaisers, für die Saint-Pierre, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird, ein deutliches Bewußtsein hat.
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perschaften zusammengefaßt, denen im föderalen Gefüge des Bundes eine entscheidende Scharnierfunktion hinsichtlich der Repräsentation und Einflußnahme der Mitglieder des Bundes und der Kontrolle seines Handelns zukomme. Den Kreisen obliege im Rahmen des Verfassungssystems nämlich die Besetzung der Vorsitze innerhalb der Bundesinstitutionen, derjenigen Positionen also, denen Saint-Pierre eine entscheidende Bedeutung für ihr Funktionieren zuerkennt, denn „on sçait qu'on ne délibéré dans les Assemblées, que sur ce que propose le Président".102 Vermittels dieses Vorschlagsrechts und des Rechts, die Tagesordnungen und den Ablauf der Arbeiten der Bundeseinrichtungen zu lenken, besteht somit ein zusätzliches Instrument, um die Verselbständigung des Bundes von den Interessen seiner Mitglieder zu verhindern. Ein wesentliches Element der Freiheit der Union Germanique und des am Interesse ihrer Mitglieder orientierten Funktionierens der allgemeinen Institutionen bildet mithin eine Form von Rotationsprinzip hinsichtlich der Besetzung der Führungspositionen in den gemeinsamen Einrichtungen,103 insofern man die Übereinkunft getroffen habe, „que le Député de chaque Cercle seroit tour à tour Président de la Chambre Imperiale [,] de la Diette ou de ce Conseil représentatif de la Nation".104 In diesem Zusammenhang kommt den Reichskreisen wohl auch noch - und hier ist SaintPierre nicht ganz eindeutig - eine weitere wichtige Funktion innerhalb des Institutionengefüges des Bundes zu. Diese ergibt sich aus ihrer Rolle für das Funktionieren einer vierten zentralen Einrichtung der Union Germanique, und zwar der gemeinsamen Streitmacht. Diese Streitmacht dient einerseits dazu, den Bund als ganzen gegen äußere Bedrohungen zu sichern. Darüber hinaus aber ist sie andererseits auch für die Beziehungen zwischen den Bundesstaaten selbst von zentraler Bedeutung, denn das Funktionieren des Bundes als einer politischen Körperschaft setzt voraus, daß die allgemeinen Regeln und die Entscheidungen, die er hinsichtlich wechselseitiger Rechtsansprüche, Streitigkeiten etc. verbindlich trifft und erläßt, auch wirksam um- und durchgesetzt werden können.105 Die Union Germanique hat nach Saint-Pierre deshalb Mittel allgemeiner Zwangsgewalt vereinbart, um in der Lage zu sein zu einer „punition tres-grande & s'il se pouvoit, inévitable contre celui qui, en refusant d'exécuter les Traitez & les Jugements des Arbitres, voudrait rompre l'Union". 106 Hierzu zählt zum einen der „Ban de l'Empire", d. i. die sog. Reichsacht, gemäß welcher jeder, der sich den Regeln und Urteilen der gemeinschaftlichen Institutionen zu entziehen sucht, als Feind des Bundes angesehen wird. Ihm können dann im äußersten Fall seine Herrschafts102 103
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Ebd., I, p. 78. Saint-Pierre vertritt also auf internationaler Ebene jenes Rotationsprinzip, das er auch in den Einrichtungen des Regierungssystems wohlgeordneter Staaten verwirklicht sehen möchte; vgl. oben, Kap. H., S. 86. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 78. - Das Komma wurde an dieser Stelle eingefugt, da es sich offenbar um eine Aufzählung handelt: Es geht Saint-Pierre an dieser Stelle schließlich um ein Rotationsverfahren der Präsidentschaft in den drei voneinander unterschiedenen Institutionen des Reiches. Das Fortlassen des Kommas und das daraus resultierende Ignorieren des Aufzählungscharakters würde keinen Sinn machen: weder bei Saint-Pierre noch in der Realität des Alten Reichs gibt es eine „Chambre Impériale de la Diette", sondern nur mehr eine 'Chambre Impériale' und eine 'Diette', die gemeinsam das Zentrum des Reiches bildeten. - In der gekürzten deutschsprachigen Fassung des Projet wird der Zusammenhang gänzlich verdreht. Dort ist nur noch davon die Rede, als wechselten sich die Vertreter der Reichskreise lediglich beim „Vorsitz im obersten Reichskollegium" ab, womit jene „Körperschaft [gemeint sei], die unter dem Namen Reichsregiment [...] eine Weile bestand und das Bindeglied zwischen den einzelnen Reichstagen bildete" (Saint-Pierre, Traktat, p. 34). Vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 117 f. Ebd., I, p. 118.
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rechte legitimerweise entzogen werden.107 Zudem verfügt die Union Germanique über eben jene gemeinsame Streitmacht, die notwendiges Instrument der Realisierung des gemeinsamen Willens ist. Soll sie in diesem Sinne funktionieren, muß auch hier nicht nur die Zusammensetzung und der Unterhalt der Truppen, sondern auch die Auswahl des Personals für die in ihnen zu vergebenden Führungspositionen einschließlich der des Oberbefehlshabers an den Willen und das Handeln des Bundes und seiner Mitgliedsstaaten gebunden bleiben: „ils d e v o i e n t se garder le droit de se choisir leur General brave, habile, expérimenté, de M a i s o n non-souveraine, revocable toutes f o i s & quantes; ils devoient se reserver le droit de nommer des Commissaires pour lever les contingens; ils d e v o i e n t se reserver la nomination des principaux Officiers." 1 0 8
Wie bei den Institutionen des Reichstags, des Reichskammergerichts und des Reichsregiments wird nach Saint-Pierre also auch im Falle der Reichs- oder Bundesarmee die Körperschaft selbst durch die Gesamtheit der Mitgliedsstaaten - bzw. durch seine Abgeordneten gebildet, während die Spitzen und Leitungsorgane dieser Einrichtungen des Bundes durch die Vermittlung einer spezifischen Institution der politischen Willensbildung der Einzelstaaten - die Reichskreise - besetzt werden.109 Wie in personeller, so werden die gemeinsamen Einrichtungen auch in finanzieller Hinsicht von den Mitgliedern gestellt und getragen, und zwar im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit: „L'Union Germanique ne manqua pas [...] d'établir sur ses membres des contingens proportionnez à leurs richesses".110 Und schließlich werden im alten deutschen Reich nach Saint-Pierre die Entscheidungen, die in den jeweiligen Instanzen des Bundes getroffen werden, und die gesetzlichen Regelungen hinsichtlich des Verhaltens und des Umgangs der Mitgliedsstaaten (und ihrer Untertanen) miteinander vor allem zur Absicherung des Handels und des friedlichen Verkehrs zwischen ihnen durch die Mitglieder bzw. ihre Abgeordneten durchgeführt. Zu diesem Zweck sieht Saint-Pierre in diesen Einrichtungen die Prinzipien des Mehrheitswahlrechts oder von qualifizierten Mehrheiten von „trois quarts des voix" eingeführt.111 All diese Institutionen, die Mechanismen der Besetzung von Bundesfunktionen und der Entscheidungsbildung bis hin zu ihrer Finanzierung sind nach Saint-Pierre in der Verfassungsstruktur der Union Germanique verankert und untrennbar mit ihr verbunden. Sie ermöglichen die sichere und dauerhafte Koexistenz einer Mannigfaltigkeit von Staaten, die sich im Hinblick auf ihre Größe und ihre Macht deutlich voneinander unterscheiden und un107
108 109
1,0 111
Vgl. ebd., L p . 118. - Im Hinblick auf den internationalen Friedensbund formuliert Saint-Pierre diese Sanktionskompetenz gegen jene, die den Gesellschaftsvertrag brechen und den Frieden gefährden, zum Beispiel im achten der articles fondamenteaux, ebd., I, pp. 326 ff., wo er explizit auf die Parallelität zwischen dem , 3 a n de l'Empire" und dem „Ban de l'Europe" eingeht (vgl. ebd., I, p. 330). Ebd., I, p. 79. Daß dies Saint-Pierre zufolge offensichtlich auch für den Oberbefehl der Streitkräfte - über den er keine expliziten Ausführungen macht - gilt, legt die Parallelität dieser Strukturen nahe, wie er sie sukzessive im gesamten argumentativen Kontext entwickelt (vgl. ebd., I, PP- 78-79). Zudem ergibt sie sich negativ aus SaintPierres anschließender Darstellung der Verfassungswirklichkeit der Union Germanique, wonach die reale Schwäche des Bundes u. a. gerade daraus resultiere, daß diese vier zentralen Leitungspositionen durch den Kaiser okkupiert und der Kontrolle der Mitgliedsstaaten entzogen worden sind; vgl. hierzu den folgenden Abschnitt. Ebd., I,PP- 119 f. Ebd., I,p. 117.
Das Alte Reich als Modell der Union Européenne
151
terschiedlichen konfessionellen Prinzipien folgen.112 Es ist diese Leistung, die die Union Germanique in Saint-Pierres Augen dazu prädestiniert, als Modell für einen säkularen, föderal strukturierten Staatenbund zu dienen, in dem die Mitgliedsstaaten zwar den Entscheidungen, Verpflichtungen und gegebenenfalls auch den Zwangsmaßnahmen übergeordneter Institutionen unterworfen sind, dadurch jedoch in ihrer Existenz und Freiheit nicht eingeschränkt sein sollen. Denn die allgemeinen Institutionen, ihr Wille und ihr Handeln bleiben in jedem Augenblick an den Willen der Mitglieder und an die Zwecke, die sie zur Einrichtung des Bundes veranlaßt haben, zurückgebunden. Die 'Union Germanique' als historisches System Mit dieser Struktur ist nach Saint-Pierre die Verfassungswirklichkeit des Alten Reichs freilich weder vollständig noch gar bereits angemessen beschrieben. Denn die Realität der Union Germanique entspricht, so seine Überzeugung, nur sehr ungenügend dem ihr zugrundeliegenden Modell und ursprünglichen Plan eines föderativen Bundes souveräner Staaten. Der Grund für dieses Mißverhältnis zwischen Idee und Wirklichkeit der Reichsverfassung ist darin zu sehen, daß die real existierende Union Germanique eben nicht allein als das Resultat des Projekts eines von einer Anzahl von Souverains d'Allemagne eingegangenen Traité d'Union angesehen und bewertet werden kann. Das Alte Reich ist nämlich trotz seiner konstruktivistischen Überhöhung, die es hier durch die Idee eines konstitutiven Gesellschaftsvertrages zweifellos erfährt, bei Saint-Pierre zugleich im Kontinuum des historischen Geschehens verortet und deshalb nur ein Element der geschichtlich entstandenen und fortbestehenden Existenzform des alten deutschen Reichs. Letzteres nämlich sei weiterhin geprägt durch das Weiterleben jenes „vieux édifice Monarchique",113 welches vordem einmal die politische Ordnung des Reichs dominiert habe. Saint-Pierre erblickt in der Überlagerung der Unionsstruktur durch tradierte monarchische Elemente gleichsam einen Geburtsfehler der Union Germanique. Erklärbar sei er aus der besonderen Ausgangslage, in der sich der 'deutsche Solon' befunden habe, als er daran gegangen sei, den Plan der Vereinigung der miteinander zerstrittenen und gegeneinander verselbständigten deutschen Teilstaaten zu entwerfen und in die Wirklichkeit umzusetzen. Er sei eben nicht in der glücklichen Lage gewesen, das Reich völlig neu und historisch voraussetzungslos errichten zu können, sondern er habe von den Bedingungen ausgehen müssen, die er historisch vorfand und die nicht notwendig mit den 'republikanischen' Intentionen des ersten Gesetzgebers übereinstimmten.114 Dazu aber gehörten neben der Vielzahl souveräner Staaten offenbar auch die zwar de facto weitgehend machtlosen, doch formell fortbestehenden Einrichtungen des vormaligen Kaiserreichs (Empire). Somit bestand seine diffizile Aufgabe nach Saint-Pierre gerade darin, „[de] bâtir une espèce de Republique sur quelques-uns des fondemens d'une ancienne Monarchie".115
1,2 113 114
115
Vgl. hierzu ebd., I, p. 86,1, pp. 126-128, n, p. 280. Ebd.,I,p. 85. Man könnte versucht sein anzumerken, daß Saint-Pierre hier gleichsam die Marxsche Einsicht vorwegnimmt, daß die Menschen zwar ihre Geschichte machen, doch unter Bedingungen, die sie vorfinden und die ihr Handeln prägen. Ebd.,I,p. 84.
152
Das Projet de paix perpétuelle als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
Dies bedeutet, daß Saint-Pierre gleichsam von einem 'Überwintern' der Institution des Kaisertums auch in dem Zeitraum ausgeht, in dem das Reich vollständig in eine Vielzahl autonomer politischer Körperschaften zerfallen war. Obwohl das Kaisertum in dieser Periode seine Funktion, die Einheit des Reichs zu stiften und für Frieden und rechtlich gesicherte Verhältnisse zu sorgen, nicht erfüllen konnte, erwacht es in dem Moment zu neuem politischen Leben, in dem das Reich - als Union - auf neuer Grundlage wieder errichtet wird. Das Kaisertum führt insofern eine primär parasitäre Existenz, und entsprechend negativ wird es in Saint-Pierres Projet de paix bewertet. Von Anfang an wird demzufolge nämlich die real existierende Verfassungsstruktur des Reichs von einem Systemwiderspruch durchzogen. Insofern die Institutionen in der oben dargestellten Weise als Vertretungskörperschaften der ,JVation" - d. h. der im Bund zusammengeschlossenen Staaten in Gestalt ihrer Souveräne116 - bestehen, macht Saint-Pierre einen fundamentalen Gegensatz zwischen Union und Empereur auf, zwischen dem Reich und dem Kaiser, zwischen dem Reich als Republik und dem Reich als Monarchie. Weil die Neukonstituierung des Reichs als föderativer Bund auf ganz anderen Voraussetzungen und auf völlig neuen, eigenen institutionellen Strukturen und Verfahren beruht, kann der Kaiser seine Position nur sichern, wenn er diese 'republikanischen' Verfassungsstrukturen entweder in seinem Sinne nutzt und umfunktioniert oder aber sie durch eigene Gegeninstitutionen erweitert und konterkariert.117 Die Möglichkeit dazu aber haben ihm die Gründungsmitglieder des Traité d'Union selbst gegeben: „Iis firent la faute de se choisir un Chef perpétuel",118 indem sie eben jene überkommene Institution des Kaisertums weitertrugen und in die neue Verfassungsstruktur zu integrieren suchten. Zum Zweck der Schwächung der République Germanique haben die deutschen Kaiser d. h. das „Maison d'Autriche" 119 - nach Saint-Pierre im Laufe der Jahrhunderte auf verschiedenen Ebenen in die 'ideale' Bundesstruktur eingegriffen und sie in ihrem Sinne verändert oder 'ergänzt'. Auf einer ersten, doch bereits sehr wirkungsvollen Ebene wurde demnach von kaiserlicher Seite einerseits dafür Sorge getragen, daß die Reichstage immer seltener zusammentraten, andererseits dafür, daß Reichstag und Reichskammergericht nur mehr in verschiedenen Städten tagten.120 Da die Stärke der Reichsinstitutionen aber nach Saint-Pierre sowohl in der Regelmäßigkeit des Zusammentretens als auch darin bestanden hatte, daß die Autorität beider Institutionen miteinander verknüpft war, bedeuteten diese Maßnahmen bereits einen wesentlichen Machtgewinn des Kaisers auf Kosten des Reichs. Verschärfend kam die Schaffung einer neuen, im ursprünglichen Traité de l'Union nicht vorgesehenen und diesen tendenziell sprengenden Institution hinzu. Auf Betreiben des Kaisers sei nämlich mit der „Chambre Aulique" - dem Hofrat - eine direkte Konkurrenzeinrichtung zur Chambre Impériale, dem Reichskammergericht, ins Leben gerufen worden. Das Recht auf die Bestellung der Mitglieder dieses am kaiserlichen Hof angesiedelten ober116
117
118 119 120
Explizit hatte sie Saint-Pierre schließlich im Hinblick auf das Reichsregiment als nation bezeichnet (vgl. ebd., I, p. 78). Vgl. Abb. 2 (unten, S. 156) zu der im folgenden zu explizierenden realgeschichtlichen Ausprägung der Verfassung der Union Germanique einschließlich ihrer monarchischen Deformierungen gemäß den Angaben im Projet de paix des Abbé de Saint-Pierre. Ebd., II, p. 372. Ebd., I,p. 88. Ebd.,I,p. 81.
Das Alte Reich als Modell der Union
Européenne
153
sten Gerichtshofs steht allein dem Kaiser zu und bleibt somit, anders als beim Reichskammergericht, frei von jedem Einfluß der Mitgliedsstaaten. Hinsichtlich ihrer Funktionen und Kompetenzen stimmt die Chambre Aulique mit denen der Chambre Impériale überein, denn die Kaiser verliehen ihr „le même pouvoir qu'à la Chambre Imperiale": „elle a même droit, & même autorité qu'elle". 121 Dieser Prozeß führt nach Saint-Pierre gleich zur doppelten Entmachtung und Disziplinierung des Reichsgerichts durch den Kaiser. Zum einen werden dem Reichskammergericht und damit dem Willen der verbündeten Staaten - durch das Hofgericht Fälle entzogen, da die Entscheidung wichtiger Streitfälle ebenso dem Kaiser vorbehalten bleibt wie die Entscheidung darüber, welche Fälle wichtig sind:122 „ainsi c'est poprement l'Empereur qui est Juge entre les Souverains, ce qui est fort oposé à la liberté".123 Zum anderen geraten nun auch die Entscheidungen über diejenigen Fälle, die dem Reichsgericht verbleiben, unter den beherrschenden Einfluß des kaiserlichen Willens. Ermöglicht und vollendet wird diese Aushöhlung der Institutionen des Bundes gleichberechtigter Staaten nämlich durch ein drittes Element. Demnach beansprucht der Kaiser den Vorsitz in den zentralen Institutionen auf Dauer für sich, obgleich doch gemäß der Idee der Traité de l'Union die Besetzung nach dem Rotationsprinzip durch die Reichskreise, d. h. durch die Bündnismitglieder selbst, erfolgen sollte. Tatsächlich aber gelte: „c'est toûjours le Député de l'Empereur qui y préside".124 Aufgrund der Bedeutung, die dem Vorsitz nach Saint-Pierre in Einrichtungen wie dem Reichstag oder dem Reichskammergericht zukommt, führt dies faktisch zur Entmachtung zentraler Organisationen und Verfahren der 'Selbstregierung' der Mitgliedsstaaten. Denn war ihnen ursprünglich die Funktion zugekommen, Organe der Willensbildung der im Bund zusammengeschlossenen Staaten und der Verwirklichung der durch ihn erstrebten Ziele zu sein, so geraten sie nunmehr in die Gefahr, umgekehrt zu Organen und Transmissionsriemen der imperialen Politik und der Interessen des Kaisers zu werden.125 Verstärkt wird diese kaiserliche Präponderanz noch dadurch, daß er es darüber hinaus verstanden hat, auch den Oberbefehl über die Streitkräfte des Reichs sowie über ihre finanziellen, personellen und organisatorischen Angelegenheiten an sich zu ziehen: „ils [d. i. die Mitglieder des Bundes] ne devraient jamais, en élisant l'Empereur, lui donner, ni le pouvoir de commander les Armées de l'Empire par lui-même ou par son Lieutenant, ni le 121 122
123
124 125
Ebd., I, p. 81 u. n, p. 217. Das heißt die 'Kompetenzkompetenz', die letzte Entscheidung darüber, wer worüber zu befinden und in letzter Instanz zu entscheiden hat - und damit die Souveränität in der politischen Körperschaft selbst - , liegt somit wieder einzig und allein beim Kaiser. Ebd., H, p. 218; ebenso ebd., I, p. 81. Daruber hinaus führt Saint-Pierre das Recht an, in wichtigen Fällen direkt an den Kaiser zu appellieren (ebd., n, p. 218), wodurch die Bundesinstitutionen umgangen werden können. Ebd., I, p. 78. In seinem Mémoires von 1711 und 1712 hat Saint-Pierre den Grund für die Vorbildlichkeit der Verfassung des Alten Reichs wie ihren in der Stellung des Kaisers begründeten Geburtsfehler klar benannt: „l'Exemple sur lequel je me suis le plus appuyé a esté l'Union Germanique, qui est encore plus ancienne, & qui est composée non-seulement de Republiques particulières, mais encore de diverses Monarchies, qui ont conspiré à former cette Union, j'y ay remarqué un défaut essentiel, qui est d'avoir un Chef reel & non représenté, un Chef perpetuel & non revocable, un chef qui a trop d'autorité, enfin un Chef dont les interests sont opposez aux interests des Membres" (Saint-Pierre, Mémoire [prétirage 1711], p. *57; ebenso ders., Mémoires [1712], p. 442).
154
Das Projet de paix perpétuelle als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
pouvoir de nommer à tous les emplois de l'Armée, ni le pouvoir de lever sur les membres les contingens pour les nécessitez du Corps".126
Hierin erblickt Saint-Pierre einen der größten Fehler im Prozeß der Verwirklichung des Corps Germanique. Dadurch sei der Kaiser nicht nur in eine Position gekommen, die ihm innerhalb des Reichs die Mittel zur Erlangung der Vorherrschaft und zur Durchsetzung der eigenen Interessen verschafft habe, sondern auf diese Weise wurde auch die schrittweise Ausdehnung der föderativen Friedens- und Rechtsgemeinschaft über die Souverains de l'Allemagne hinaus zu einer Union Européenne verhindert, da keine der übrigen Mächte Europas bereit gewesen sei, sich freiwillig der Oberhoheit des Kaisers zu unterwerfen. Wenn jedoch der Oberbefehl über die Streitkräfte auch weiterhin zwischen den Vertretern der regionalen Kreise rotiert wäre, so hätten sich nach Saint-Pierres Einschätzung zahlreiche Staaten Europas bei verschiedenen Gelegenheiten in den vorangegangenen Jahrhunderten dazu entschlossen, dem Bündnis ebenfalls beizutreten, sie hätten eigene Reichskreise gebildet, so daß auf diese Weise aus der Union Germanique nach und nach eine Union Européene geworden wäre. Da aber diese Gewißheit, gleichberechtigt innerhalb der Institutionen des Reichs an der Gestaltung der allgemeinen Angelegenheiten partizipieren zu können, aufgrund der Stellung des Hauses Habsburg nicht bestanden habe, hätten sie diese Assoziierung nicht vollzogen, da dies angesichts der real existierenden Struktur des Reichs auf ihre Unterwerfung unter den Kaiser als ihren „Maître" und „Supérieur perpétuel" hinausgelaufen wäre. 127 In der Verfassungswirklichkeit des Alten Reichs ist somit offenbar der Versuch, die Struktur der Union Germanique mit den Resten der überkommenen Monarchie zu verschmelzen, nach Saint-Pierres Auffassung auf der ganzen Linie gescheitert. Die Hoffnung, die usurpatorischen Tendenzen des Kaisertums dadurch aufheben zu können, daß man den Zugang zu ihm von einer Wahl abhängig macht und ihm einige Hindernisse in den Weg legt - worunter Saint-Pierre wohl Einrichtungen wie die der Wahlkapitulationen im Auge hat 128 - , hat sich als Irrglaube herausgestellt. 129 Unter der Voraussetzung einer hierarchischen, nicht mehr föderal geprägten Verfassungsrealität hat man sich der Mittel begeben, die Schranken der kaiserlichen Regierungsgewalt effektiv zur Geltung bringen zu können. Indem man dem Kaiser eine dauerhafte Stellung innerhalb - und sogar oberhalb - der Institutionen des Bundes zugestanden hat, ermöglichte man ihm, im Laufe der Zeit durch „un 126 127
128
129
Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 79. Ebd., I. p. 84. - Dies unterstreicht, daß für Saint-Pierre ein föderativer Bund gemäß Prinzipien der Gleichberechtigung errichtet sein muß und sich mit keiner Form hegemonialer Übermacht oder gar mit militärischem Zwang verträgt. Saint-Pierre verweist im 'Suplemant ä l'Abreje du Projet de paix' von 1738, p. 250, im Hinblick auf die Gefahr des Umkippens des Alten Reichs in eine Monarchie explizit auf die Notwendigkeit zu „observer les articles de la paix de Westphalie, & les capitulasions imperiales de l'Empereur Leopold", mit denen 1648 bzw. 1658 die Stände ihre Macht gegen das Expansionsstreben Habsburgs kodifizieren wollten. Es bedürfte nämlich einer übergreifenden Rechtsgemeinschaft, die „die Ausführung der Wahlkapitulation des Kaisers für Deutschland" sichert (Saint-Pierre, Polysynodie, S. 222). Dies ist aufgrund Saint-Pierres Einsicht in die institutionellen Voraussetzungen von Rechtsverhältnissen konsequent: Bestehen konkurrierende Institutionen, sind Wahlkapitulationen keine rechtlichen Sicherungen, sondern Übereinkünfte zwischen Akteuren, deren Einhaltung von der Einschätzung ihrer Interessen und Kräfteverhältnisse abhängt. Ohne übergeordnete Rechtsinstanz sind Wahlkapitulationen keine rechtlichen Verträge, sondern rein subjektive Willens- bzw. Absichtserklärungen.
Das Alte Reich als Modell der Union Européenne
155
grand nombre de petites usurpations"130 seine Position in ihnen auszubauen und ihren ursprünglichen Charakter, die Freiheit und die Sicherheit der Mitgliedsstaaten zu sichern, zu zerstören, denn „la liberté des membres est diminuée à proportion que l'autorité de l'Empereur est augmentée".131 Nicht mehr die Mitglieder des Bundes geben sich die allgemeinen Regeln und beurteilen und sanktionieren die Handlungen der einzelnen und ihre Rechtlichkeit. Auf direktem - durch den Hofrat - oder auf indirektem Wege - durch die Dominanz in den anderen Reichsinstitutionen - hebelt der Kaiser die Selbstbestimmung der Mitgliedsstaaten aus und schwingt sich wieder zum „unique Juge des differens des autres Souverains" auf.132 Das Fortbestehen der monarchischen Strukturen hat nicht nur zur Konsequenz, daß dadurch verhindert wird, daß das Reich wahrhaft zur Republik werden kann, indem die ursprünglich vom 'deutschen Solon' intendierte Verfassungsstruktur realisiert wird - „de faire de tous ces Etats un Etat plus Républicain".133 Die dadurch eingeleitete Entwicklung führt vielmehr naturwüchsig dazu, daß sich „la Republique Germanique sur le penchant de sa ruine" befindet.134 Denn in den Institutionen des Bundes werden unter der Vorherrschaft des Kaisers nicht mehr die „intérêts de l'Empire" und „l'intérêt du Corps" verfolgt und schon gar nicht „la liberté & l'utilité des membres", sondern sie dienen nur mehr den „intérêts de l'Empereur", und dessen Interesse ist nichts Allgemeines, sondern sein jeweiliges „intérêt particulier".135 Daß das Reich überhaupt noch ein politischer Körper ist, der nach Saint-Pierre auch weiterhin noch eine Verfassungsstruktur aufweist, die ihn weder als eine Monarchie noch als eine Republik, sondern als eine Mischform zwischen beiden Organisationsformen erscheinen läßt, ist denn auch nicht seiner eigenen Entwicklungslogik geschuldet. Diese treibt vielmehr zur Aufhebung der republikanischen und - freilich nur aus Sicht der einzelnen Souveräne und nicht aus der der einzelnen Bürger - 'freiheitlichen' Elemente zugunsten einer monarchischen Reorganisation der Verfassungsstruktur der République bzw. des Corps Germanique: die dauerhaften Einmischungen der Kaiser „feraient un si grand changement dans la constitution de la Republique, que les fondemens de sa liberté en demeureraient presqu'entiérement sapez".136 Die föderale Verfassungsstruktur des Alten Reichs habe bisher nur deswegen überlebt, weil die französischen Könige den zum Bund zusammengeschlossenen deutschen Einzelstaaten in Zeiten der größten Not stets zuverlässig zur Seite gestanden hätten. Sie seien es gewesen, die aktiv geworden seien, wenn es darum ging, die 'liberté germanique' gegenüber dem überhandnehmenden Usurpationsstreben der Habsburger Kaiser zu verteidigen oder wiederherzustellen.137
130 131 132 133 134 135 136 137
Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 84 f. Ebd., I, p. 79. Ebd.,I,p. 81. Ebd., I, p. 85. Ebd., I, p. 82. Ebd., I, p. 78. Ebd., I, p. 85. Zuerst war es nach Saint-Pierre im 16. Jahrhundert Franz I., der der „liberté expirante" der deutschen Staaten unter dem Druck Karls V. hilfreich zur Seite gesprungen sei, dann sei es nach dem Dreißigjährigen Krieg wiederum Frankreich in Gestalt Ludwigs XIII. gewesen, das im „Traité de Munster" erneut „cette même liberté forte affoiblie" gerettet habe und fortan als Garantiemacht eben diese Freiheit der Republique Germanique absichere (ebd., I, p. 80).
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Das Projet de paix perpétuelle als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
Direkte Einflußnahme oder Delegation von Vertretern & Aufgelöste Instanzen und Einflußmöglichkeiten Widerspruch/Konkurrierende Institutionen Abb. 2: Die Verfassungswirklichkeit des Alten Reichs nach der Darstellung des Abbé de Saint-Pierre im 2. Discours seines Projet de paix (eigene Zusammenstellung).
Union Germanique und Union Européenne - Die Idee einer Föderation souveräner Staaten
III.4
157
Union Germanique und Union Européenne Die Idee einer Föderation souveräner Staaten bei Saint-Pierre Jl n'en est pas des choses où il est question de déterminer les hommes à l'action, comme des choses de pure spéculation".1
Um zu erkennen, daß der Abbé de Saint-Pierre in seiner im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Darstellung des Ursprungs und der Entwicklungsdynamik des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation eine eigenwillige Perspektive einnimmt, genügt schon ein kurzer Blick auf den realgeschichtlichen Verlauf. Sein Beharren auf Vorstellungen wie denen eines ursprünglichen Gesetzgebers, eines die Union Germanique konstituierenden ursprünglichen Vertrages, schließlich der Idee einer Föderation souveräner deutscher Staaten insgesamt, - all dies hat schnell zu dem verbreiteten Urteil geführt, Saint-Pierre habe, wie es vor allem von deutschen Interpreten zuweilen mit nachsichtigem Gestus, zuweilen aber auch mit deutlicher Empörung zurückgewiesen wird, ,,[v]on der historischen Grundlage des deutschen Staatenbundes [...] natürlich keine Kenntnis" gehabt,2 oder deutlicher: „Hier ist so ziemlich alles Phantasie. Ein deutsches Reich, wie es hier erscheint, hat nie existiert. Saint-Pierre weiß von der Gegenwart, von dem Deutschland seiner Zeit, so wenig wie von deutscher Vergangenheit."3
Dieses Urteil ist jedoch, wie zu zeigen sein wird, nicht nur allzu oberflächlich, es wird den Ausführungen Saint-Pierres zudem nicht gerecht. Darüber hinaus wird bei dieser Kritik auch eine historische Eindeutigkeit von der Geschichte und den Strukturen des Alten Reichs unterstellt, die mit dem tatsächlichen Prozeß seiner Herausbildung sowie dem Verständnisund Interpretationshorizont und -rahmen der zeitgenössischen Beobachter und Akteure nicht übereinstimmt; auf diese Weise werden wichtige Elemente, die die komplexe historische Entwicklung des Alten Reichs und des deutschen Nationalstaats mit geprägt haben, aus dem Blick verloren. Angemessener wäre deshalb die Fragestellung, wie es zu erklären ist, daß Saint-Pierre einerseits mit zahlreichen Strukturen, Institutionen, Prozessen und Problemen der Reichsverfassung und der sie tragenden Kräfte vertraut gewesen ist, daß er andererseits jedoch Faktoren und Ereignisse wie den 'ersten Gesetzgeber' oder den Gründungsvertrag als realgeschichtlich unterstellt, obwohl sie historisch mehr als zweifelhaft sind und schon bei seinen Zeitgenossen, erst recht aber in der modernen historischen Forschung den Eindruck Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. xxiii. So formuliert lapidar Dietze, Charles Abbé de Saint-Pierre, S. 76. Michael, Einleitung, S. 19*. Bemerkenswert ist hier die Betonung des nationalen Charakters des Reichs, der bei Saint-Pierre nicht nur aus systematischen Gründen kaum eine Rolle spielt - wie die Unbefangenheit zeigt, mit der er die Möglichkeit eines Beitritts anderer europäischer Mächte zur Union Germanique auf dem Weg ihrer denkbaren Ausweitung zur Union Européenne in Erwägung zieht - , sondern der Situation im Übergang zum 18. Jahrhundert auch völlig unangemessen ist, da es kein Reich gab, das derart mit den Begriffen 'deutsch' oder 'Deutschland' belegt werden könnte, wie Michael es macht; vgl. hierzu Schulze, Staat und Nation, v. a. Kap. 2, S. 108 ff.
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Das Projet
de paix perpétuelle
als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
nahegelegt haben, Saint-Pierre habe hier lediglich „une vision mythique du Saint-Empire" konstruiert,4 die einzig dem Zweck dienen solle, seinem Friedensprojekt ein vermeintlich historisches Exempel zu verschaffen. Um dieser Frage nachzugehen und zu einer angemessenen Einschätzung des Bildes zu gelangen, das Saint-Pierre von Struktur, Entstehungsgeschichte und Dynamik des Alten Reichs entwirft, soll im folgenden zunächst ein Blick auf den historischen Kontext geworfen werden, innerhalb dessen er schreibt, um seine Aussagen im Rahmen der Debatten und Erfahrungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts einordnen zu können (III.4.1).5 Im Anschluß daran soll Saint-Pierres Begriff historischer Erkenntnis nachgegangen werden, um zu klären, ob und wie es für ihn möglich und nötig ist, durch die Darstellung geschichtlicher Ereignisse, Handlungen und Entwicklungen Lernprozesse für gegenwärtiges und künftiges Handeln anzuregen, wobei sich seine Rekonstruktion von der Geschichte und der Verfassung des Alten Reichs gleichsam als Exempel für seine an praktischer Veränderung und Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse orientierten Konzeption von Wissenschaft und wissenschaftlicher Politik erweist (III.4.2).6 Schließlich soll auf die prinzipiellen (souveränitäts-)theoretischen Probleme der Idee einer föderativen Rechts- und Friedensordnung zwischen Staaten eingegangen werden (III.4.3), die Saint-Pierre durch den Hinweis auf das Alte Reich als praktisch lösbar ansieht. Dieser Versuch ist insbesondere auch deshalb von Interesse, weil er auf einen Problemkomplex hindeutet, der auch bei Saint-Pierres unmittelbarem Nachfolger in Sachen Projet de paix, Jean-Jacques Rousseau, von zentraler Bedeutung ist, darüber hinaus aber auch über Kant bis in die gegenwärtige Diskussion möglicher internationaler Rechtsverhältnisse hineinspielt.
in.4.1
Historische Entwicklungen und staatsrechtliche Bewertungen der Reichsverfassung im 17. und frühen 18. Jahrhundert
Wer sich mit der Geschichte und Struktur der Verfassung des Alten Reichs befaßt, stößt über kurz oder lang auf ein Spezifikum, das die gesamte Tradition der gelehrten Beschäftigung mit ihr prägt, und zwar die zeitgenössischen wie die retrospektiven Versuche, sich einen Begriff von ihr zu machen. Wie kaum ein anderer Gegenstand weisen die Urteile über sie - in wissenssoziologischer Terminologie gesprochen - auf die Standort- oder Interessensgebundenheit historischen Wissens hin. Das Alte Reich und seine so deutlich von anderen frühneuzeitlichen Staaten abweichende Verfassungsstruktur eignete sich offenbar von jeher als ideale Projektionsfläche für völlig unterschiedliche, sogar gegensätzliche Interpretationen und Einschätzungen. Dies ist nicht etwa, wie man es im Falle Saint-Pierres annehmen könnte, auf die französische 'Außenperspektive' zurückzuführen, sondern gilt ebenso 4 5
6
Roche, La France des Lumières, p. 269; Bély, Espions et ambassadeurs, pp. 699 f. Vgl. hierzu auch unten den Exkurs in Kap. IV, S. 240 ff., der komplementär zu den folgenden Ausführungen gelesen werden kann. Während im folgenden Geschichte und Interpretation des Reichs nur insoweit in den Blick genommen werden, wie es zur Klärung der bei Saint-Pierre gegebenen Hinweise erforderlich ist, geht es dort allgemeiner um die Verfassungsgeschichte des Alten Reichs und ihr Verständnis in der deutschen Reichspublizistik im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Bild Deutschlands bei den französischen Aufklärern, insofern die Interpretation des Reichs als Föderation eine deutlich antiabsolutistisch gerichtete Spitze erhält. Vgl. hierzu die Ausführungen weiter oben, v. a. Kap. n.2 und Ü.3.
Union Germanique und Union Européenne - Die Idee einer Föderation souveräner Staaten
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für die im 17. und 18. Jahrhundert florierende Reichspublizistik innerhalb des Reiches selbst. Patrick von zur Mühlen hat mit Blick auf die Diskussionen im frühen 18. Jahrhundert auf den Umstand hingewiesen, „daß die Interpretation der Reichsverfassung stets verbunden war mit einer spezifischen Geschichtsauffassung, wie umgekehrt die Geschichtsschreibung meistens eine mehr oder minder erkennbare Stellungnahme zur vermeintlichen gegenwärtigen politischen Gestalt des Reiches einschloß. Staatsauffassung und Reichshistorie bildeten also die verschieden gelagerten Aspekte einer einzigen verfassungsgeschichtlichen Fragestellung".7 Ein Bild des Alten Reichs und seiner Verfassung ist folglich im 17. und 18. Jahrhundert nicht ohne eine - direkt oder indirekt zugleich praktisch-politisch motivierte Stellungnahme zu dessen Substanz und Gründungszweck zu haben und vor allem nicht ohne eine Antwort auf die Frage, inwieweit seine jeweilige historische Gestalt diesem 'idealen Zustand' entspricht. Vor diesem Hintergrund fügt sich Saint-Pierres Darstellung der Reichsverfassung, ihrer Geschichte und Funktion wie auch ihrer Defizite in eine breite Strömung der einschlägigen zeitgenössischen Literatur ein. Diese Interpretationsrichtung nämlich versuchte der komplexen Verhältnisse im Reich dadurch gerechtzuwerden, daß sie es nicht als Monarchie sah,8 sondern als eine Staatsform, die gerade durch ihren föderalen Charakter ausgezeichnet ist, der auf dem freiwilligen Zusammenschluß ihrer Mitglieder basiert. Dies ist etwa bei Jean Bodin - auf dessen paradigmatische Bestimmungen zum Souveränitätsbegriff im allgemeinen wie auch zur Staats- und Regierungsform des Alten Reichs in seinen Les six livres de la République im besonderen sich die gesamte nachfolgende Reichspublizistik positiv oder negativ bezogen hat9 - oder Hippolithus a Lapide10 der Fall. Für sie stellte das Alte Reich eine reine Aristokratie dar, bei der die souveräne Gewalt bei den Ständen bzw. Territorialherren liegt, während die Rechte des Kaisers auf dem Willen der ihn einsetzenden Stände beruhten, so daß er von ihnen auch jederzeit wieder abberufen werden kann.11 So heißt es bei Bodin: „l'Empire d'Allemagne est vni par les estats généraux, qui mettent les villes & les Princes au ban Imperial, & despouillent les Empereurs de leur estât par puissance souueraine [...]. Dauantage les estats font ordinairement décrets, & ordonnances qui obligent tous les subiects de l'Empire [...] Testât d'Allemagne est vne droite Aristocratie, & nô pas Monarchie."12
Dennoch ist hier eine systematische Differenz zu erkennen, welche diese aristokratische Interpretation der Reichsstruktur durch Bodin von der föderativen Interpretation Saint-Pierres trennt. Denn während in Saint-Pierres föderativer Perspektive der Corps politique aus der Gesamtheit der als Individuen betrachteten Mitgliedsstaaten besteht und durch sie selbst re7 8
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11
12
von zur Mühlen, Die Reichstheorien in der deutschen Historiographie, S. 120. Dietrich (Theodorus) Reinkingk hat in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges das Reich sogar noch durch eine translatio imperii aus der Kontinuität des Römischen Reichs herzuleiten versucht; vgl. Link, Dietrich Reinkingk, S. 78-99. Schubert, Die deutschen Reichstage, S. 268 f.; Hoke, Bodins Einfluß, S. 315 ff. Unter diesem Pseudonym verfaßte Bogislaw Philipp von Chemnitz 1640 seine Streitschrift Dissertatio de ratione status in Imperio nostro Romano-Germanico. Vgl. Bodin, Six livres de la République, n. 6, pp. 320-328. - Zu Lapide, dessen antihabsburgische Stoßrichtung zu Forderungen nach einer Reform und Stärkung der Institutionen des Reichs führt, die tendenziell mit den von Saint-Pierre für notwendig erachteten Reichsreformen übereinstimmen, vgl. Hoke, Hippolithus a Lapide, S. 118 f. Bodin, Six livres de la République, H. 6, pp. 322 u. 328.
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Das Projet de paix perpétuelle
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giert wird, übt in der aristokratischen Sicht eine Minderheit die Herrschaft innerhalb einer umfassenderen, vorgängig bestehenden politischen Körperschaft aus.13 Deutlich näher noch als Bodin steht Saint-Pierres Bild des Alten Reichs auch in dieser besonderen Hinsicht den in Frankreich und in Deutschland außerordentlich einflußreichen Darstellungen de Thous und Pufendorfs. In der großen, zwischen 1604 und 1617 erschienenen Historiae sui temporis des humanistischen Geschichtsschreibers Jacques Auguste de Thou wird das Alte Reich explizit als eine „Republique d'Allemagne" eingeführt, deren Institutionen als Organe der Selbstverwaltung ihrer Mitglieder erscheinen: „bien que l'Empereur, les autres Princes, & les villes libres ayent chacun leurs Estats à part, & que leurs droits, leurs coustumes & leurs Suiets, sur lesquels ils ont pouuoir de vie & de mort, soient distinguez les vns des autres; neantmoins ils sont tous Suiets de l'Empire, & [...] l'Empereur mesmes qui est le Chef ne laisse pas d'estre soumis à ses Loix, ils représentent tous ensemble vne Republique." 14
Und ebenso findet sich schon bei de Thou die auch von Saint-Pierre vertretene Ansicht, das Alte Reich könne als zeitgenössische Variante föderaler Bündnissysteme wie derjenigen der griechischen Amphiktyonen oder Achaer verstanden werden, auch wenn es sich um ein sehr viel fortgeschritteneres und unvergleichlich komplexeres Gebilde handle.15 Einzigartig schließlich ist das Reich nach de Thou insbesondere durch einen weiteren, auch für SaintPierre wesentlichen Umstand, nämlich die Fähigkeit, eine Vielzahl unterschiedlichster politischer Einheiten zu einer starken politischen Körperschaft zusammenzuschließen und in ihrer Integrität zu erhalten: „ny le temps present ny le temps passé ne peuuent nous représenter aucun corps de Republique qui soit plus fort & plus ferme que celuy-cy, bien que la plus part de ses membres soient grandement foibles, si vous les considérez chacun à part. Mais ce qui est encore plus admirable, c'est estant composé de gouvernements & d'Administrations Politiques si diuerses & si différentes, neantmoins la concorde y est touiours demeurée inuiolable". 16
Weiter noch in dieser Richtung einer föderalistischen Interpretation des Alten Reichs gehen Interpretationen, wie sie bei Leibniz und Pufendorf zu finden sind. Auf der einen Seite nämlich wird in der Nachfolge von Althusius' Politica17 versucht, die souveränitätstheoretische Problematik der Statusbestimmung des Reichs als Einzelstaat oder als Staatenverein dadurch zu umgehen, daß man es als zusammengesetzten Staat versteht, der sich jener Alternative entziehe. Pointiert wird diese These von Ludolph Hugo in seiner 1661 erschienenen Dissertatio de statu regionum Germaniae vertreten, in der er auf der Grundlage einer historischen und strukturellen Analyse der Staatenbünde seit dem Achäischen Bund sowie einer Zu Bodins Negation der föderalen Elemente vgl. Schubert, Die deutschen Reichstage, S. 340-342. de Thou, Histoire de Monsievr de Thou, p. 71. Vgl. ebd., pp. 72 f. Ein entsprechender Hinweis auf das griechische Vorbild findet sich bereits in der ersten nachweisbaren Fassung von Saint-Pierres Vorwort zu seinem Projet de Paix Inalterable pour L'Europe, AAE, M.D. France 308, fol. 268v°(vgl. oben, S. 131), und an anderer Stelle betont er gleichfalls den systematischen Fortschritt, der auf institutioneller Ebene zwischen dem griechischen Bund und dem Reich erreicht worden sei; vgl. Saint-Pierre, Observations pour la lecture de Plutarque, Ouvr., XI, pp. 213 f.; hierzu weiter unten, S. 182. de Thou, Histoire de Monsievr de Thou, p. 73. Zu Althusius' Föderalismus vgl. Hüglin, Das 'Westfälische System', S. 153 ff.
Union Germanique und Union Européenne - Die Idee einer Föderation souveräner Staaten
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verfassungsgeschichtlichen Untersuchung des Reichs selbst zu dem Ergebnis kommt, daß es sich bei diesem „um einen zweifachen, um einen zusammengesetzten Staat handle, um einen Gesamtstaat, in dem die Einzelstaaten, ohne ihren staatlichen Charakter zu verlieren, aufgingen, und um Einzelstaaten". 18 Obwohl bei Hugo also die eigenständige 'superioritas territorialis' der Landesherren - die Leibniz dann explizit als dasjenige identifiziert, „was die Franzosen la Souveraineté nennen, wenn auch in einem etwas freieren Sinn" 19 - erhalten und gesichert bleibt, überwiegt bei ihm doch der Blick auf das Reich als eines unitarischen Bundesstaats: Es erscheint als ein Staat, in dem - gemäß dem sich bei ihm bereits abzeichnenden Subsidiaritätsprinzip - die dem Ganzen förderlichste Aufteilung der Kompetenzen und Aufgaben stattfindet und den jeweiligen Umständen und Erfordernissen entsprechend angepaßt wird. 20 Es ist diese Konzeption, die Leibniz später seinen Überlegungen zur Reichsreform zugrundelegt und sich damit explizit gegen Hobbes und die mit diesem argumentierende, jede Idee einer geteilten Souveränität und eines zusammengesetzten Staates zurückweisende Einschätzung von Pufendorf richtet. Leibniz nämlich vertritt die Position, daß das Reich exemplarisch zeige, daß mehrere „Territorien [...] in einem [politischen] Körper vereinigt sein [können], und die territoriale Oberhoheit [d. h. die Souveränität] der einzelnen bleibt dennoch gewahrt." 21 Es ist aufgrund der Quellenlage schwierig, den möglichen Einfluß dieser - wenngleich, anders als bei Saint-Pierre, noch explizit ständisch verstandenen - „bundesstaatlichen" Interpretation des Reichs durch Leibniz auf die Herausbildung von Saint-Pierres Bild des Alten Reichs einzuschätzen. 22 Anders verhält es sich hinsichtlich der Bedeutung Pufendorfs für Saint-Pierre. Dessen Einfluß auf Saint-Pierre ist kaum in Zweifel zu ziehen, und zwar sowohl im Hinblick auf das Verständnis der Reichsverfassung wie auch hinsichtlich seiner politischen Theorie insgesamt. 23 In seiner 1667 zuerst unter dem Pseudonym 'Severinus von
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Deuerlein, Föderalismus, S. 40. Leibniz, Caesarinus Fürstenerius (1677), übers, u. zit. n. Schröder, Reich versus Territorien, S. 134. Vgl. ausführlich Deuerlein, Föderalismus, S. 39 ff. Leibniz, Caesarinus Fürstenerius (1677), übers, u. zit. n. Schröder, Reich versus Territorien, S. 135. Zu Leibniz' Position und ihrem Verhältnis zur souveränitätstheoretischen Perspektive Pufendorfs vgl. auch Schneider, Leibniz, S. 200-209.
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Im Gegensatz zu der im folgenden behandelten Position Pufendorfs ist diejenige von Leibniz nur in Gelegenheitsschriften entwickelt worden und als solche wenig einflußreich gewesen. Ob Saint-Pierre ihn oder gar Hugos Bundesstaatslehre kannte, ist schwer zu sagen. Zwar war Saint-Pierre Leibniz' Name durch seinen spätestens seit 1693 bestehende Verbindung zu Elisabeth Charlotte, deren Briefwechsel mit ihrer Tante, der Kurfürstin Sophie von Hannover, der Förderin Leibniz', ebenso wie durch zahlreiche Pariser Korrespondenten Leibniz' - von Malebranche über seinen Freund Varignon bis zu Bignon - hinreichend geläufig, doch scheint er ihn vornehmlich als Metaphysiker, Mathematiker und „fameux inventeur de la merveilleuse méthode du calcul différentiel" wahrgenommen zu haben (Saint-Pierre an Leibniz, 3. März 1715, in: Robinet, Correspondance Leibniz-Saint-Pierre, p. 47). Denn wiederholt erhebt er gegen Leibniz den Vorwurf, zwar einer der „très grans Fiziciens" und „très grans Géomètres" zu sein, aber die wahrhaft wichtigen, die politischen Angelegenheiten vernachlässigt zu haben (Saint-Pierre, Projet pour rendre les Livres plus honorables, Ouvr., H, p. 238; so auch 1716 in dem bereits zitierten Brief an Leibniz selbst; s. o., S. 76, Anm. 21). - Daß Saint-Pierre für das Reich wie für das künftige Europa mit seinem Bild einer aus souveränen Staaten zusammengesetzten Union ein Modell eines jenseits der souveränitätstheoretischen Alternative angesiedelten Bundesstaats verfolgt, das somit den Positionen Hugos und Leibniz' nahekommt, wird unten, S. 176 ff., gezeigt.
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Über die sachlichen Indizien für Saint-Pierres Vertrautheit mit Pufendorf hinaus findet sich auch eine große Zahl direkter oder indirekter Hinweise auf die Kenntnisnahme Pufendorfs. Es ist schon weiter oben (S. 112,
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Monzambano' erschienenen, das französische Deutschlandbild nachhaltig prägenden Schrift De statu imperii Germanici24 vertritt Pufendorf die Ansicht, das Reich falle nach der Kodifizierung der ständischen Rechte im Westfälischen Frieden gänzlich aus der Systematik souveränitätstheoretischer Bestimmungen im Sinne Bodins heraus. Seiner Einschätzung nach ist es - obwohl (noch) lebensfähig - staatsrechtlich als ,,irreguläre[r] und einem Monstrum ähnliche[r] Körper" anzusehen, da es sich „zu einer so disharmonischen Staatsform entwickelt hat, daß es nicht mehr eine beschränkte Monarchie, [...] aber noch nicht eine Föderation mehrerer Staaten ist, vielmehr ein Mittelding zwischen beiden".25 Diese Einschätzung bekräftigt und verschärft Pufendorf 1682 in seiner Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten, so itziger in Europa sich befinden. Dort bestätigt er zunächst, daß es „seine eigene Beschaffenheit mit der Regierung in Teutschland [habe], dergleichen in keinem Reich in der Christenheit zu finden" sei, um sodann zu konstatieren: „in diesem grossen Cörper [finden sich] nicht geringe Kranckheiten, die den Gebrauch seiner Kräffte verhindern, und schwächen. Zu denen die irreguliere Regierungsform nicht den wenigsten Anlaß giebt, als welche eygentlich kein Königreich noch Systeme Sociorum ist, sondern von beyden etwas hat, in dem weder der Kaiser über das gesambte Reich, noch jeder Stand besonders über sein Land die vollkommene Souverainetät hat".26
Trotz dieser skeptischen Diagnose war es jedoch gerade Pufendorf, der vermittels des Aufweises einer föderalistischen Struktur und Tendenz der Reichsverfassung auf seine Zu-
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Anm. 32) darauf hingewiesen worden, daß Saint-Pierre Pufendorfs Naturrecht bekannt war. Dies liegt auch nahe aufgrund der lange währenden Anwesenheit Saint-Pierres im Umkreis der Elisabeth Charlotte von der Pfalz, die durch ihre lebhaften Verbindungen nach Deutschland Saint-Pierres Interesse und Informationsfluß in Sachen politischer und geistiger Entwicklungen in Deutschland befördert haben dürfte (vgl. etwa den Hinweis auf den kaiserlichen Gesandten Penterriedter, den er hier gesprochen habe, unten, S. 164, Anm. 34). Nicht zuletzt war sie Tochter jenes Kurfürsten Karl Ludwig, dem Pufendorf 1660 sein erstes Werk, die Elementae jurisprudentiae universalis, gewidmet hatte, und der diese Ehrung erwiderte, „indem er den ersten deutschen Lehrstuhl für Naturrecht und Völkerrecht an der Universität Heidelberg einrichtet, wo der große Jurist zehn Jahre lang" lehrte (Lebigre, Lieselotte von der Pfalz, S. 37). Ein weiteres Indiz für die frühe Bekanntschaft Saint-Pierres mit Pufendorfs Interpretation der Verfassung Deutschlands ist der Umstand, daß Saint-Pierre wesentlichen Anteil an der intellektuellen Entwicklung seines langjährigen Freundes, des Historikers Vertot, hat (vgl. hierzu die biographische Skizze, die Saint-Pierre anläßlich Vertots Tod 1735 verfaßt hat; Bibliothèque Neuchâtel, Ms. R 261). Vertot nämlich hat nicht nur bereits in seiner 1695 erstmals erschienenen Histoire des Révolutions de Suède Autoren wie Pufendorf oder de Thou als Quellen angeführt (vgl. Vertot, Œuvres choisis, t. IV, p. 3 f.), sondern 1708 dem französischen Außenministerium unter Torcy seinen „dessein de composer une histoire des révolutions d'allemagne, qui commence vers l'an 1630. jusqu'en 1648" vorgelegt (AAE, M.D. Allemagne 37 (1648-1742), fol. 318r°), bei der eine Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur ebenso unterstellt werden kann wie entsprechende Diskussionsprozesse im Umkreis Saint-Pierres Uber die Verhältnisse im Reich und seine Verfassungsstrukturen. Zur Bedeutung von Pufendorfs Verfassungsschrift für Frankreich vgl. Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa, S. 190. Pufendorf, Verfassung des deutschen Reiches, S. 106 f. [Kap. 6, § 9]. - Es ist in der jüngeren Forschung wiederholt darauf hingewiesen worden, daß diese Rede von dem monstrum simile anders, als es die deutsche Geschichtsschreibung lange Zeit gesehen hat, durchaus kein Verdammungsurteil ist, sondern nur mehr jenen Status bezeichnet, der dem Reich aus der Perspektive aristotelischer wie auch souveränitätstheoretischer Formenlehre zukommt: irregulär und monströs ist es als Mischform von mehreren, einander diesen Lehren zufolge ausschließenden Regierungsformen; vgl. Schräder, L'Allemagne avant l'État-nation, pp. 54 f., v. Aretin, Das Reich, S. 67. Pufendorf, Einleitung zu der Historie, S. 612 u. 614 f.
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kunfts- und Lebensfähigkeit hingewiesen und damit eine Perspektive eröffnet hat, die auch Saint-Pierres Bild des Reichs prägt. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Pufendorf in seiner Historie das Reich gleichsam auf einen ursprünglichen Bündnisvertrag der Fürsten untereinander zurückgeführt hat, mit dem sie aus dem ursprünglichen Zustand einer Vielzahl souveräner Staaten herausgegangen seien, 27 ohne dabei wesentlich an Macht und Ansehen verloren zu haben, denn als man es „für gut fand, einen der Großen zum König zu machen, damit Deutschland nicht in den alten Zustand der Auflösung in kleine Staaten zurückfalle, wollten die Großen keineswegs ihre Macht aufgeben oder der absoluten Herrschaft eines anderen unterwerfen". 28 Da die Territorialherren weiterhin souveräne Herrschaftsrechte ausübten und keineswegs zu Untertanen des Königs wurden, 29 lag für Pufendorf der Schluß nahe, daß „die gegenwärtige Verfassung am ehesten der Form einer Föderation von Staaten entspricht". 30 Diese Tradition des Verständnisses von Geschichte und Struktur der Reichsverfassung mündete unter anderem in eine Schule der Reichshistorie, die sich seit dem frühen 18. Jahrhundert an den Universitäten Halle und Jena entwickelte und neben den Theorien Bodins und Pufendorfs direkt oder indirekt eine der Quellen und Anregungen für Saint-Pierres föderalistisch ausgerichtetes Bild des Reichs gewesen sein wird. 31 Dafür sprechen nicht nur allgemein das Interesse und der rege Austausch über die Verhältnisse im Alten Reich, wie sie für die politisch führenden Kreise zu konstatieren sind und ihren Niederschlag in zahlreichen Texten zu den Verhältnissen im Reich gefunden haben, wie sie in gedruckter, aber auch in Manuskriptform in jenen Kreisen kursierten, in denen sich auch Saint-Pierre bewegte. 32 Konkret belegt dieses Wissen und dieses Interesse Saint-Pierres unter anderem ein Briefwechsel, den er in den frühen zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts mit einem Absolventen der Universität Halle, Ernst Ludwig Carl, über das Droit public germanique geführt hat. 33 Darüber hinaus ist die Abschrift eines zur gleichen Zeit verfaßten Briefs von Saint-
Vgl. Pufendorf, Einleitung zu der 'Historie', S. 565: „Teutschland war vor uhralten Zeiten nicht eine Republic, sondern es war in viele massige Staaten vertheilet, deren jeder vor sich selbst souverain war, und von keinem andern dependirte, unter welchen die meisten ein democratisch Regiment führeten". Andererseits hat Pufendorf jedoch die Souveränität der Stände selbst als Resultat eines sukzessiven Prozesses dargestellt; vgl. ebd., S. 614 (zit. unten, S. 166, Anm. 43). Pufendorf, Verfassung des deutschen Reiches, S. 47 [Kap. 3, § 4]. „Denn wären die Fürsten Untertanen des Kaisers, könnten sie nicht in ihrem Herrschaftsgebiet das Recht über Leben und Tod ihrer Bürger haben, nach Belieben Beamte einsetzen, Bündnisse schließen, Einkünfte aller Art nicht dem königlichen Fiskus abliefern [...] und schließlich dem Reich nur mit ihrer freiwilligen Zustimmung Dienste leisten." (ebd., S. 47 [Kap. 3, § 4]). Ebd., S. 128 [Kap. 8, § 4]. - Zu Pufendorf vgl. auch Schröder, The Constitution of the Holy Roman Empire. Obwohl Saint-Pierre kaum andere Autoren zitiert und nur selten und in großer Allgemeinheit nennt, kann seine Kenntnis der Werke eines Bodin, de Thou oder Pufendorf als sicher unterstellt werden, da er zeitlebens in die politischen, wissenschaftlichen und intellektuellen Debatten der frühaufklärerischen Zirkel Frankreichs involviert war und aktiv und maßgeblich zu ihnen beigetragen hat (vgl. hierzu oben, Kap. II). Zu nennen ist hier nur etwa die in zahlreichen Kopien kursierende Description sommaire de l'Empire von Théodore Godefroy; vgl. zu Godefroy und seiner Bedeutung Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa, S. 205 ff. Es handelt sich dabei um einen Briefwechsel mit Ernst Ludwig Carl, der sich in den Archives départementales du Calvados findet (Doss. I). Carl hielt sich zwischen 1719 und 1731 in Paris auf und veröffentlichte dort 1722/23 in 3 Bänden seinen Traité de la richesse des princes et de leurs états, et des moyens simples et naturels pour y parvenir. Zu Carl vgl. Kunze, Ernst Ludwig Carl. Saint-Pierres Nachlaß dokumentiert, daß er sich
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Pierre an Johann Peter Ludewig erhalten geblieben, der mit seiner 1706 erschienenen Einleitung in die Reichshistorie zu einem der Begründer der reichshistorischen Tradition avanciert war. 34 Auch in dieser, Saint-Pierre also offensichtlich bekannten Richtung verfassungsgeschichtlichen Denkens gilt das Alte Reich als „eine Föderation von Landesherrschaften", „welche in der Vergangenheit von sich aus freiwillig auf einige ihrer Rechte zugunsten der Gesamtheit verzichtet hätten. Diese Föderation habe sich ein Oberhaupt gewählt, das seinen Auftraggebern, den Reichsständen, rechenschaftspflichtig sei." 35 Bemerkenswert ist dabei, daß auch hier der föderative Reichsgedanke „gegen eine kaiserliche Hegemonie, aber nicht gegen die Institution des Reiches an sich gerichtet" war, denn da das Reich als Föderation „durch freiwilligen Zusammenschluß [...] gebildet" worden sei, seien die „wiederholten Bestrebungen des Kaisertums, eine Oberherrschaft über die Stände aufzurichten, [...] als Versuch zu werten, dem Reich eine ihm wesensfremde Staatsform aufzuzwingen und die 'Libertät' der Stände zu untergraben."36 Über diese Gemeinsamkeiten darf nun jedoch nicht die theoretische Stoßrichtung übersehen werden, die Saint-Pierres Hinweis auf die Reichsgeschichte eignet und die ganz im Gegensatz zur Intention der Reichshistorie steht. Denn während diese auf eine Betonung des Reichsherkommens als der traditionalen, gewohnheitsrechtlichen Begründung der Reichsverfassung hinausläuft, ist der Hinweis auf die Geschichte bei Saint-Pierre ein Mittel der voluntaristischen Begründung des Reichs als eines rationalen Systems, das dadurch lediglich eine historische Dimension erhält.37 Trotz dieser fundamentalen Differenzen kommen die
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unter unterschiedlichen Aspekten über das Geschehen im Reich auf dem laufenden gehalten hat. Es finden sich Abschriften von ausführlichen, in Briefform gehaltenen Berichten, die die in Deutschland stattfindenden Kriegsereignisse behandeln, Ausschnitte und Übersetzungen aus Reichstagsbeschlüssen, Reflexionen zur Politik des Kaisers, zur pragmatischen Sanktion oder zur Politik Friedrichs n. Hierbei handelt es sich um die Abschrift eines Briefs von Saint-Pierre an Johann Peter Ludewig vom September 1723 (Ms. Caen, Doss. I). Über Ludewig und die Universität Halle insgesamt vgl. Hammerstein, Jus und Historie, S. 148 ff., 169 ff., sowie Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, S. 104 ff. Diese Hinweise unterstreichen, daß Saint-Pierre - ganz so, wie er es in den unterschiedlichsten Wissensgebieten getan hat und wie es seinem Begriff einer umfassend informierten science politique entspricht - jede Gelegenheit, an Informationen über das Reich zu kommen, genutzt hat und bemüht war, Kontakte zu allen zu suchen, die ihm dabei behilflich sein konnten, sei es schriftlich - wozu etwa seine Korrespondenz mit Leibniz zu zählen ist - , sei es durch persönlichen Kontakt mit französischen oder deutschen, sich in Paris aufhaltenden Kennern der Verhältnisse im Reich. Dies dokumentiert ein auf den 13. Oktober 1712 datierter Brief eines deutschen Frankreich-Reisenden (d'Els), in dem sich dieser für seine Aufnahme bei Saint-Pierre bedankt und zu dessen Friedensprojekt Stellung nimmt, wobei er insbesondere auf das Bild des Alten Reichs eingeht (Ms., BN, naf 11232, fol. 291r°-292v° u. 299r°). Ebenso weist Saint-Pierre in einer auf den 15. Juli 1727 datierten Fassung seines Abrégé du projet de paix (Ms. Rouen 948, S. 100) daraufhin, daß ihm der , 3 a r o n de Penterieder à present plénipotentiaire de l'Empereur me dit il i a neuf ou dix ans dans Papartement de feu Madame à paris, qu'il avoit fait des observations sur le projet de paix perpetuelle" (derselbe Hinweis findet sich in einer anderen, 1726 datierten Fassung des Abrégé [Ms. AN, R 4 825, S. 120], nur daß es hier heißt „Baron de penterieder à present vice chancelier de l'Empereur"). Solche Kontakte währten bis an sein Lebensende. In einem Brief an Madame Dupin vom 1. Oktober 1740 berichtet Saint-Pierre, daß er ,,dinai[t] avant hier avec M. de fontenelle chez M. de Gamas anvoyé de prusse" (Ms., BN, naf 13629, fol. 23r°). v. zur Mühlen, Die Reichstheorien in der deutschen Historiographie, S. 133. Ebd., S. 137 u. 138. Namentlich führt von zur Mühlen als Vertreter dieser föderalen Schule der Reichshistorie neben Ludewig vor allem Burkhard Gotthelf Struve, Nicolaus Hieronimus Gundling und dessen Schüler Johann Jacob Schmauss an. Vgl. Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen, S. 110 ff.
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Vertreter der Reichshistorie freilich in ihrer politischen Einschätzung dort wieder zu demselben Resultat wie Saint-Pierre oder der Abbé de Vertot, wenn sie vor der drohenden Zerstörung der 'liberté germanique'' durch die imperialen Tendenzen der Habsburgischen Monarchie warnen. Denn das Bestreben der Habsburger Kaiser ging, wie Vertot 1708 schrieb, seit Jahrhunderten dahin, aus den souveränen deutschen Staaten „la patrimoine de la Maison d'autriche" zu machen und „une domination despotique et absolüe [...] dans tous les Etats libres de l'Empire" zu errichten.38 Zentrale Elemente von Saint-Pierres Darstellung der Geschichte und Verfassungsstruktur des Alten Reichs lassen sich also in eine gewichtige Traditionslinie staatsrechtlichen und reichsgeschichtlichen Denkens einordnen: Die Gründung des Reichs als Resultat des Willens der Stände als souveräner Akteure, der Dualismus bzw. der Antagonismus von Ständen und Reichsinstitutionen einerseits und dem Kaiser und den von ihm dominierten Einrichtungen andererseits,39 schließlich die Kritik an der beständigen Tendenz der Habsburger, ihre Machtposition und Stellung im Reich zu Lasten der ständischen Freiheit auszudehnen und das Reich sukzessive in eine reine Monarchie zu überführen, - all diese Positionen sind keineswegs willkürliche Erfindungen Saint-Pierres. Er greift damit vielmehr ein nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert im publizistischen Diskurs wie in der offiziellen Politik der französischen Krone zum Topos gewordenes Muster der représentations françaises de l'Allemagne auf.40 Saint-Pierres Darstellung der Verfassungsstruktur des Alten Reichs ist jedoch nicht nur mit der zeitgenössischen wissenschaftlichen und politischen Literatur in Beziehung zu setzen. Sie zeugt darüber hinaus auch nachdrücklich davon, daß er faktische Tendenzen der zeitgenössischen Entwicklung innerhalb des Reichs selbst aufmerksam verfolgt und zu bewerten versucht hat. In deutlichem Gegensatz zur bisher vorherrschenden Einschätzung des historischen Gehalts seines Deutschlandbildes kann demzufolge mit guten Gründen die These vertreten werden, daß Saint-Pierre ein prägnantes Bild wesentlicher Strukturelemente und Problemdimensionen des Alten Reichs in seiner Bedeutung für die gesamteuropäische Entwicklung entworfen hat, wobei es sich um ein Bild handelt, das in den verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens zentriert ist.41
Lettrede l'Abbé de Vertot au President du Parlement de Paris. 1708, AAE, M.D. Allemagne 37 (1648-1742), fol. 327r° und 325v°. Zu den entsprechenden Aussagen von Saint-Pierre vgl. Projet de paix, I, pp. 79 ff. In dieser Hinsicht ist an Saint-Pierres Hinweise auf die Reichskreise oder die Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Institutionen im Reich zu erinnern, auf die in der neuesten Forschung ebenfalls verstärkt eingegangen wird; vgl. Dotzauer, Die deutschen Reichskreise; Seibert, Reichshofrat und Reichskammergericht. Der mit großem publizistischem Aufwand begleitete und auf die Stärkung der Stellung der Stände im Reich gerichtete Kampf Frankreichs „gegen den Superioritätsanspruch des Römischen Kaisers durchzieht seit dem 13. Jahrhundert mehr oder weniger ausgeprägt das gesamte Spätmittelalter und die beginnende Frühneuzeit" und verfestigt sich seit der Zeit Karls V. „zu einem dynastisch-politischen Antagonismus von säkularer Bedeutung, der bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein konsistenter Faktor im europäischen Kräftespiel bleiben sollte" (Duchhardt, Das Heilige Römische Reich, S. 10 u. 12). Vgl. zur französischen Sicht auf die deutsche Libertät im 16. Jahrhundert Luttenberger, Libertät, S. 103-136; zur französischen Perzeption der Reichsverfassung im 17. Jahrhundert vgl. Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa, S. 169 ff. Der Westfälische Friede gilt auch der gegenwärtigen Forschung als historische Zäsur, die den „Abschluß einer politisch-rechtlichen Entwicklung" bedeutete und „mit der rationalen Neuordnung der territorial-politischen Landschaft Europas, des Staats-, Völker- und Kirchenrechts zugleich auch in die Zukunft [wies], deren Bild
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Den Ausgangspunkt und den normativen Bezugspunkt von Saint-Pierres Konstruktion des Modells des 'Corps Germanique' bildet ganz offenbar jene politisch-rechtliche Verfaßtheit des Reiches, wie sie 1648 mit der faktischen Anerkennung der inneren Souveränität und des Bündnisrechts der Stände festgeschrieben worden war. 42 Das in den Friedensverträgen von Münster und Osnabrück als Resultat eines langfristigen historischen Prozesses kodifizierte Verfassungssystem wird in Saint-Pierres konstruktivistisch-kontraktualistischer Perspektive einerseits zum systematischen Kern, andererseits aber auch schon zum historischen Ausgangspunkt des Alten Reichs stilisiert und somit gleichsam weit zurück in die Vergangenheit transponiert. Auf diese Weise werden also die zahlreichen, mit souveränem Anspruch auftretenden 'Teilstaaten' des Reichs, die de facto doch selbst erst das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses bzw. allererst in statu nascendi waren, bei Saint-Pierre bereits zu Subjekten des ursprünglichen Gründungsakts der Union Germanique mehrere Jahrhunderte zuvor. Dadurch wird das Jahr 1648 mit der im Westfälischen Frieden erreichten Sicherung der historisch errungenen Rechte der Stände bzw. der territorialen Superiorität 43 und der Zurückdrängung der Bedeutung des Hauses Habsburg und des Kaisertums insgesamt sozusagen als 'Normaljahr' ausgezeichnet, so daß der föderative, 'von unten' vollzogene Aufbau des Reichs zum Ausgangspunkt und substantiellen Kern seiner Verfassung erklärt werden kann. Damit vollzieht Saint-Pierre eine systematische Aufwertung und gleichzeitig eine historische Abwertung des Bedeutung des Westfälischen Friedens für die Entwicklung des Alten Reiches. Indem der Friedensschluß nämlich als Grundlage einer als Bund von weitgehend selbständigen Gliedstaaten konstituierten Verfassungsstrukur des deutschen Reiches gilt, kann er als Herzstück des Bildes angesehen werden, das Saint-Pierre von Deutschland und seinen verfassungsrechtlichen Verhältnissen vermittelt. Indem SaintPierre allerdings diese faktisch erst 1648 kodifizierten Strukturen bereits als Inhalt des Jahrhunderte zurückliegenden Gründungsvertrags unterstellt, wird in seiner Darstellung die tatsächliche Bedeutung des Geschehens von 1648 zu einem der vielen historischen Momente zurückgestuft, an denen es den Ständen gelungen ist, die monarchischen Ansprüche der Habsburger zurückzudrängen und die ursprüngliche Struktur föderativer Libertät wiederherzustellen. Wenn Saint-Pierre schließlich den in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wieder zunehmenden, die 1648 erreichte bzw. 'wiederhergestellte' Libertät der Stände erneut gefähr-
als eine Art europäisches Grundgesetz" prägte (Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert, S. 1); umfassend hierzu Schilling, Der Westfälische Friede. Vgl. Böckenförde, Der Westfälische Frieden, S. 449^178, wobei das Bündnisrecht insofern eingeschränkt war, als gemäß Art. VIH.2 IPO „solche Bündnisse nicht gegen den Kaiser, gegen das Reich und dessen Landfrieden" gerichtet sein durften (in: Grewe, Fontes Historiae Iuris Gentium, S. 197). Nach Pufendorfi'Einleitung zu der Historie', S. 614) war die Macht der Stände bis 1648 „mehr auff das Herkommen und alten gebrauch, als auff ausdrückliche Constitutiones [...] gegründet; biß durch den Westphälischen Frieden selbige Hoheit und Gerechtsame klar, außdrücklich und absonderlich confirmiret worden". Vgl. prägnant zum Begriff „territorialer Superiorität" Schilling, Aufbruch und Krise, S. 21: „Die über Jahrhunderte angesammelten Rechte, die die spätmittelalterliche Landesherrschaft ausmachten, wurden zusammengeschmolzen zur 'superioritas territorialis', der Landeshoheit der Neuzeit, und - wo dieser letzte Schritt möglich war - zur Souveränität im staatsrechtlichen Sinne."
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denden Machtzuwachs der Institution des Kaisertums konstatiert und kritisiert,44 so reflektiert er auch damit reale Prozesse, die die 1648 festgeschriebene 'föderale' Struktur immer stärker wieder untergruben. Während nach dem Westfälischen Frieden die Entwicklung hin zu einer ,,lockere[n] Föderation größerer Territorien bei weiterer Zurückdrängung der habsburgischen Kaisermacht" historisch auf der Tagesordnung zu stehen schien,45 setzte in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts der umgekehrte Prozeß einer sukzessiven Stärkung der habsburgischen Kaisermacht ein. Da nunmehr Frankreich aufgrund seiner aggressiven Hegemonialpolitik Ludwigs XIV. nicht mehr als Garant, sondern umgekehrt als Gefahr für die Libertät der Reichsstände wahrgenommen wurde, vollzogen diese eine Annäherung an den Habsburger Kaiser bis hin zur erstmaligen Bildung einer großen antiludovizianischen Koalition im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1678/79, so daß das Reich zunehmend geschlossen gegen Frankreich stand und es zum Teil auch an der Seite Habsburgs militärisch bekämpfte. Es entstand eine Art von ,,neue[r] Solidargemeinschaft", ein neues „Zusammengehörigkeitsgefühl" zwischen Kaiser und Ständen in der gemeinsamen Abwehr gegen Frankreich, ein Gefühl, das „vor dem Hintergrund der elementaren Verletzung der Reichsinteressen durch die Krone Frankreichs im Zuge der Reunionen sich in den frühen 1680er Jahren nur noch verstärkte". 46 Die auf Seiten der Stände gehegten Hoffnungen auf einen komplementär ansteigenden Bedeutungsgewinn innerhalb des Reichs erfüllten sich jedoch nicht; Resultat dieses Prozesses war vielmehr der Verzicht auf einen weiteren Ausbau der 1648 angelegten föderalistischen Strukturen des Reichs mit der Folge, daß deren Dynamik zugunsten einer hierarchischen Interpretation und Weiterentwicklung der Reichsverfassung im Sinne Habsburgs aufgegeben wurde.47 Damit aber wurde eben jene Entwicklung eingeleitet, die SaintPierre als verheerend für die Union Germanique beschrieben hat, da sie tendenziell die Freiheit und die Existenz der Mitgliedsstaaten negiere und mithin ihrem Gründungszweck zuwiderlaufe.
Vgl. nochmals Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 85, wo er beklagt, daß aufgrund der dauerhaften Einmischungen des Kaisers die „constitution de la Republique" und „les fondemens de sa liberté" so gut wie zerstört seien. Schindling, Reich und habsburgisch-bourbonischer Antagonismus, S. 119. Duchhardt, Altes Reich und Europäische Staatenwelt, S. 19; vgl. im Zusammenhang ebd., S. 12 ff., v. a. S. 16 ff. Einen knappen Überblick über diese Entwicklung bietet Schindling, Reich und habsburgisch-bourbonischer Antagonismus, S. 118-122. Zu den Hintergründen des Wechsels von einem föderalistischen zu einem hierarchischen Verständnis des Westfälischen Friedens als Grundgesetz des Alten Reichs vgl. v. Aretin, Das Reich. Friedensordnung und europäisches Gleichgewicht, S. 32 ff., ders., Das Alte Reich, Bd. 1, S. 273 ff., sowie Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa, S. 129-168. Das Bewußtsein für diese seit den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts sich abzeichnende „Entscheidung zugunsten der hierarchischen Struktur des Reiches und gegen die föderalistischen Tendenzen" - ein Bewußtsein, das bei Saint-Pierre deutlich entwickelt war - , ist, so Malettke (ebd., S. 32), in der weiteren Entwicklung offenbar wieder verlorengegangen und fehlte selbst in den entsprechenden Artikeln der Encyclopédie, obgleich deren Beiträge „ein für die damalige Zeit und insbesondere für ausländische Betrachter erstaunlich hohes Maß an Sachverstand und Sinn für die Realitäten im Reich" verraten (ebd.); ausführlich zum Bild des Reichs in der Encyclopédie ebd., S. 236 ff.
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Saint-Pierres Darstellung der Reichsverfassung zwischen historischer Erkenntnis und politischer Praxis
Diese wenigen Hinweise sind schon ein deutliches Indiz dafür, daß Saint-Pierre in seinem Friedensprojekt nicht einfach eine mythische Erzählung von Geschichte und Struktur der Reichsverfassung vorbringt, die völlig quer zu den historischen Entwicklungen und zu den einschlägigen Diskussionsprozessen steht. Vielmehr knüpft seine Darstellung an realgeschichtliche Prozesse und Strukturen einerseits, an verbreitete zeitgenössische wissenschaftliche und politische Diskurse andererseits an. Und dieser Grad historischer Plausibilität kann auch nicht verwundern, denn als historisches Modell und Beispiel für das mögliche Zustandekommen und Funktionieren einer Föderation freier, souveräner Staaten in Europa konnte die Darstellung des Reichs schließlich nur dann dienen, wenn sie die Bedingungen ihrer argumentativen Funktion nicht von vornherein untergrub und ihren Beweisanspruch selbst ad absurdum führte, indem sie ein so offensichtlich idealisiertes und erdichtetes Bild des Alten Reichs konstruierte, das mit der historischen Wirklichkeit nichts mehr zu tun hatte. Wenn Saint-Pierre in seiner Darstellung des Reichs jedoch gleichwohl wiederholt historisch mehr als fragwürdige Strukturen, Prozesse, Akte und Absichten behauptet, wenn diese zudem auch für ihn selbst eher den Charakter von Hypothesen und Hilfskonstruktionen tragen und erklärtermaßen nicht als historische Fakten aufweisbar sind, 48 so ist dies ein theoretisch bemerkenswerter und erklärungsbedürftiger Umstand. Offenbar gibt es für ihn hinreichende Gründe, sich mit der Wiedergabe des vorhandenen positiven - und sei es lückenhaften - Wissens nicht zufriedenzugeben, so daß es gerechtfertigt und geboten erscheint, die historischen Fakten, Prozesse und ihre Dynamik auf aktuelle Handlungs- und Beweiszwecke hin nicht nur zu rekonstruieren, sondern notfalls auch partiell zu konstruieren. Gefragt werden muß deshalb sowohl nach der spezifischen Bedeutung, die Saint-Pierre der historischen Erkenntnis im allgemeinen zuweist, als auch nach derjenigen, die er ihr im Rahmen der Beweisabsicht des Projet de paix im besonderen zuschreibt. Nicht nur in besonderen Zusammenhängen wie dem Friedensprojekt, sondern generell erschöpft sich für Saint-Pierre die Aufgabe historischer Erkenntnis nicht in der positivistischen Aufzählung und Aneinanderreihung von Daten und Ereignissen. Solche Formen der Geschichtsschreibung bezeichnet Saint-Pierre als 'Chroniken' und versteht diese als eine Die Annahme, die Reichsverfassung gehe auf einen Traité d'Union freier Fürsten zurück, hatte Leibniz schon in seinen für Saint-Pierre verfaßten 'Observations sur le projet de paix peipétuelle', pp. 40-41, zurückgewiesen. Dem scheint Saint-Pierre an einer Stelle des während seiner Korrespondenz mit Leibniz entstandenen dritten Bandes seines Friedensprojekts Rechnung zu tragen. Am Schluß dieses Bandes zählt er die Gründung des Alten Reichs durch die deutschen Fürsten wie die der ersten Gesellschaften und Staaten generell zu „ces sortes d'établissemens", die - im Gegensatz zum abzuschließenden Vertrag einer Union Européenne - nur zufällig, d. h. ohne Gesetzgeber, Projekt und Vertrag zustande gekommen seien: „[ils] n'ont été faits que par hazard & par degrés presqu'insensibles sans qu'aucun Sage leur ait jamais proposé par écrit aucun Projet de Convention, aucun Projet de Police" (Saint-Pierre, Projet de paix, HI, p. 453). Diese irritierende, mit seinen sonstigen Äußerungen (s. o., S. 144 f.) nur mit Mühe zu vereinbarende Bemerkung dokumentiert zweierlei: zum einen ist sich Saint-Pierre der historischen Neu- und Einzigartigkeit eines aus freiem Willen konstituierten und rational ersonnenen corps politique, wie er ihn vorschlägt, deutlich bewußt. Zum anderen zeigt es, daß sein Hinweis auf das Alte Reich, wie im folgenden noch zu sehen sein wird, eine primär argumentationsstrategische Funktion besitzt, die unabhängig von ihrem historischen Realitätsgehalt ihren Demonstrationszweck - die realgeschichtliche Möglichkeit eines Traité d'Union souveräner Staaten - erfüllen kann.
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Form von „récit un peu seq dans le quel le croniqueur raconte des faits dignes de curiozité". 49 Die Anforderungen an eine solche Geschichtsschreibung bestimmt er näher wie folgt: „II faut au chroniqueur, un Esprit de précision, une justesse d'Esprit[,] une force de raisonnement, une crainte d'affirmer mal a propos, une attention a ne pas donner comme certain ce qui n'est que douteux, une Exactitude dans les citations". 50
Obgleich für Saint-Pierre diese Form von exakter historischer Forschung notwendig und unverzichtbar ist, reicht sie doch für ihn nicht hin, um bereits von wahrhafter geschichtlicher Erkenntnis sprechen zu können. Das zeigt sich, wenn er breite Strömungen der zeitgenössischen Geschichtsschreibung in außergewöhnlich scharfer Form geißelt und davon spricht, daß „les historiens ordinaires ne font que peu de reflexions et les font mal. Ils plaizent davantage aux jeunes gens par la multitude des faits, mais ils n'instruizent personne par leurs reflexions". 51 Und diese Kritik verschärft er noch, wenn er schreibt, daß ,,[l]es Savantasses, les Pedans" sich dadurch auszeichneten, sich mit „des minuties, des dates de Généalogie, de Geografie, de Modes" aufzuhalten, 52 während er selbst dem allen, wie er im Jahre 1735 schreibt, nur mehr eine vergleichsweise geringe Bedeutung zusprechen kann: „à la vérité, il me paraît que de[s] [...] erreurs sur de petites circonstances ne méritent pas la moindre attention; et quand, parmi nous, quelques savants disputent entre eux sur les contradictions de peu d'importance qui sont entre les historiens contemporains, les gens sensés ne daignent pas examiner de quel côté est la vérité. Et que nous importe, par exemple, de savoir précisément le degré de parenté d'entre César et Lucius César, ou de savoir au juste le jour du mois de la bataille de Pharsale?"53
Im Unterschied zur cronique zeichnet sich die histoire dadurch aus, daß sie die Ebene der reinen Faktensammlung überschreitet, indem in ihr die Darstellung und Analyse vergangener oder - beim „historien contemporain" 54 - zeitgenössischer Ereignisse und Prozesse von einem profunden historischen Urteilsvermögen geprägt wird, vermittels dessen der Historiker das Wesentliche vom Nebensächlichen, das Nützliche vom Wertlosen unterscheiden kann:
Saint-Pierre, Pour perfexioner les histoires generales, Ms. Caen, Dossier VII, p. 4. Zur Datierung dieses Manuskripts vgl. die folgende Anmerkung. So Saint-Pierre in einem auf August 1712, also während der Entstehungszeit des Projet de paix datierten und bis Juni 1713 nochmals korrigierten Manuskript Observation sur le genre Historique, Ms. Neuchâtel, R 175, p. 5. - Dieses Manuskript liegt auch der in der vorstehenden Anm. zitierten Abhandlung Pour perfexionner les histoires generales zugrunde, die einerseits die 1713 gefertigten Korrekturen Saint-Pierres nicht berücksichtigt, andererseits später aber erweitert wurde und den Vermerk „revu 1739" trägt; hier findet sich dieselbe Stelle leicht gekürzt auf p. 7. Saint-Pierre, Histoires generales, Ms. Caen, Dossier VII, p. 25. Saint-Pierre, Projet pour établir des Annalistes, Ouvr., IV, p. 230. Saint-Pierre, Annales politiques, p. 4. - Es ist eben diese Einstellung, die dazu führt, daß er etwa auch Fragen wie die nach dem Zeitpunkt und nach dem Initiator der Union Germanique als unwesentlich und problemlos zu vernachlässigen behandeln kann; vgl. ders., Projet de paix, H, pp. 274, 278-281; hierzu oben, S. 141 ff. Zudem kennt Saint-Pierre den 'historien compilateur', der „dans nos Anales [... peut] puizer la Vérité toute entière, & la faire conoitre cent ans aprèz", wenn es keinen Grund für persönliche Rücksichtnahmen mehr gibt, so daß die Objektivität der Beurteilung leichter falle (Saint-Pierre, Projet pour établir des Annalistes, Ouvr., IV, p. 232).
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D a s Projet
de paix perpétuelle
als p o l i t i s c h e s und r e c h t s p h i l o s o p h i s c h e s U n t e r n e h m e n
„il faut à l'historien une Equité a juger sainement [...] [et] une grande pénétration pour demeler les véritables causes des Evenemens".55
Dadurch wird gleichsam der Sammlertätigkeit der Chronisten allererst Sinn und Verstand verliehen, denn „sans le secours des reflexions, le récit des faits peut bien etre amuzant, mais il devient inutile pour la conduite du lecteur et ne lui sert de rien pour perféxioner son jugemant et pour augmanter son propre bonheur et celui des autres".56 Erst auf diese Weise nämlich ist der nach Saint-Pierre wesentlichsten Aufgabe historischer Erkenntnis gerechtzuwerden. Denn für ihn - wie für die gesamte französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts nach ihm - ist die Geschichtswissenschaft wie jede Form wissenschaftlicher Erkenntnis nicht als Selbstzweck zu begreifen, sondern als ein Wissen über Natur, Mensch und Gesellschaft, das über die Ursachen und die Gesetzmäßigkeiten des Geschehens in der Wirklichkeit aufklärt und den Anspruch erhebt, bei der Verbesserung der materiellen, gesellschaftlichen und moralischen Lage der Menschen mitzuwirken.57 Deshalb ist es nach Saint-Pierres Ansicht für Historiker auch unbedingt erforderlich, daß sie zugleich „bons filozofes moraux" und „bons filozofes politiques" sind,58 denn nur in diesem Fall besitzen sie die notwendige Urteilsfähigkeit, um das für die Individuen wie für das gesellschaftliche Ganze Wichtige und Vorteilhafte zu erkennen und so zu vermitteln, daß ihr Wissen dazu beiträgt, auf individueller wie auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene ein Handeln zu ermöglichen und anzuregen, das zur Verbesserung der allgemeinen Verhältnisse führt. Geschichtsschreibung muß nach Saint-Pierre somit moralisch informierte wie auch politisch engagierte Geschichtsschreibung sein. Einerseits muß der Historiker mit den Prinzipien moralischer und psychologischer Erkenntnis vertraut sein, um die Ereignisse und Handlungen so einsichtig und vorbildhaft erklären und darstellen zu können, daß die Leser motiviert werden, daraus die entsprechenden, den eigenen wie den allgemeinen Interessen förderliche Konsequenzen zu ziehen.59 Ebenso muß der Historiker andererseits „une conoissance trez profonde et trez etanduë de la politique" besitzen,60 um über die moralische Geschichtsschreibung hinaus gleichsam noch eine Form politischer Geschichtsschreibung zu liefern,
55
Saint-Pierre,
Observation sur le genre Historique, Ms. Neuchâtel, R 175, p. 5.
56
Saint-Pierre,
Histoires generales, Ms. Caen, Dossier VE, pp. 21 f.
57
Vgl. Hammerstein, der, ausgehend von der Feststellung, daß die „französische Geschichtsschreibung des ausgehenden 18. Jahrhunderts" eine im Vergleich zu Deutschland „ungleich stärkere politische Tendenz" hatte und „vorwiegend politische Tendenzschrift und politisches Manifest" war, bemerkt, daß dies bereits für die gesamte Aufklärung gegolten hat, insofern „[historische Argumentation [...] in Frankreich schon immer politische Ziele" verfolgt habe (Hammerstein, Jus und Historie, S. 371 mit Anm. 269). - Angesichts der oben angezeigten Rezeption der Reichsverfassung muß es jedoch mehr als zweifelhaft erscheinen, ob man auf Seiten der deutschen Geschichts- und Rechtswissenschaften tatsächlich von einer 'unpolitischen Geschichtsschreibung' sprechen kann und ob sie nicht direkt oder indirekt stets von ganz bestimmten politischen Präferenzen, Perspektiven und Hintergrundannahmen geprägt war.
58
Saint-Pierre,
5
In diesem Zusammenhang fordert Saint-Pierre
*
Histoires generales, Ms. Caen, Dossier VU, p. 3. (ebd., Dossier VU, p. 1) u. a. eine „histoire particulière des
hommes illustres", die die „mérité de chaque axion et de la prudance de l'homme illustre dans la choix de ses antreprizes" mit folgender Zielstellung aufzeigen sollte: „Le principal but de l'historien ne doit pas etre de plère au lecteur, mais de lui plère pour lui etre utile; or la plus grande utilité qu'il puisse tirer de cette histoire, c'est de se trouver plus excité à aquerir des talans utiles à la patrie et à devenir ancore plus juste et plus bienfaizant anvers tout le monde". 60
Ebd., Dossier VU, p. 2.
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die - gemäß Saint-Pierres Auffassung von der prinzipiellen Überordnung der Politik über die Moral61 - als „histoire generale" fungieren kann über die „affaires principales des nations et sur tout de celles qui ont cauzé de grans changemans dans les Etats et qui en ont augmanté considerablemant ou le bonheur ou le malheur".62 Auf diese Weise gründet ein recht verstandener Umgang mit historischer Erfahrung und eine wahrhafte Form geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis für ihn in einer ausgeprägten politischen und moralischen Urteilskraft, und die Ausbildung eben dieser Urteilskraft wird durch ihre praktische Anwendung auf bestehende Problemlagen wiederum befördert. Geschichtsschreibung wird somit „une nouvelle métode pour enseigner la sience des Mœurs & la sience du Gouvernement".63 Dieses Verständnis der Aufgaben und Ziele historischer Erkenntnis basiert auf zentralen geschichtsphilosophischen Voraussetzungen des wissenschaftlichen und politischen Denkens Saint-Pierres, die auch für das Verständnis seiner Beschäftigung mit der Verfassungsstruktur des Alten Reichs von Bedeutung sind. Zunächst wird Geschichte von ihm als ein kontinuierlicher und linearer, prinzipiell unabgeschlossener Prozeß verstanden, der die Möglichkeit eines beständigen Fortschreitens der Menschen eröffnet, eines Fortschritts in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.64 Dieses aus heutiger Sicht trivial erscheinende, tatsächlich jedoch radikal neue Verständnis des historischen Prozesses bricht nicht nur mit den überkommenen Vorstellungen eines zyklischen oder naturalistischen Geschichtsverlaufs, sondern ebenso mit der Idee, er sei von natürlichen oder göttlichen Gesetzen beherrscht und dem Willen der Menschen prinzipiell vor- und übergeordnet. Der geschichtliche Prozeß und der im Verlauf der bisherigen Entwicklung erreichte Fortschritt im Wissen
Vgl. zu Saint-Pierres Auffassung, „que la Politique est supérieure à la Morale" (Saint-Pierre, blir des Annalistes, Ouvr., IV, p. 237), oben, S. 74 ff. Saint-Pierre, Histoires generales, Ms. Caen, Dossier VII, pp. 1 f.
Projet pour éta-
Saint-Pierre, Réflexions sur la vie de Charles XII, Ouvr., IX, p. 304. - Saint-Pierre steht damit einerseits in der Tradition einer weniger um historische Faktizität bemühten Form der Geschichtsschreibung, die Geschichte als „eine Schule der Moral" und der Belehrung über bürgerliche und fürstliche Tugenden sieht (Hazard, Die Krisis des europäischen Geistes, S. 57 ff.), wie sie sich dann etwa auch in der moralischen Geschichtsschreibung des von Saint-Pierre beeinflußten Mably findet (vgl. Hüning, Klassischer Republikanismus und Reichsverfassung, S. 264 ff.). Andererseits ist hierbei die Skepsis der Cartesianer gegen ein geschichtlich begründetes Wissen spürbar, insofern es für sich genommen unsicher ist und nur im Verbund mit verstandesmäßiger Konstruktion nützlich sein kann: Unverzichtbar für wahrhafte historische Erkenntnis sind, wie im weiteren zu zeigen ist, vernünftiger Begriff und Wille. Dies zeigt sich schon im 'Projet de paix', I, p. 311, wenn SaintPierre das auf das wechselseitige Aufstellen von einander ausschließenden, von allen Parteien jeweils als 'historisch' gesichert bezeichneten Rechtsansprüchen als „une espèce de Pyrrhonisme" anprangert, aus dem nicht Geschichte, sondern nur der rationale, auf vernünftige Reflexion, Entscheidung und Konstruktion begründete Weg herausführen kann. - Dieser ganze Komplex verweist auf die lebhaft geführte Debatte um Möglichkeit, Aufgaben und Grenzen historischen Wissens, wie sie u. a. durch Malebranches scharfe Kritik an der Autorität der Anciens ausgelöst worden war (Recherches de la vérité, v. a. H. H, pp. 282 ff., 285 ff.), die er Saint-Pierre und seinen in dieselbe Richtung argumentierenden Freunden Fontenelle und Vertot in jener „cabane" in der Rue Saint-Jacques, von der schon die Rede war (oben, S. 51), wohl direkt hat nahebringen können (vgl. Niderst, Fontenelle, p. 119 f.). Zum Hintergrund dieser auch von Saint-Pierre - der schließlich um 1712 seine „Observation sur le genre Historique' (Ms Neuchâtel, R 175) verfaßte - betriebenen Suche nach „une conception nouvelle du genre même de l'histoire" vgl. Mercier, Une controverse sur la vérité historique (Zitat ebd., p. 295). Zu Saint-Pierres Geschichtsbegriff und zu dem radikalen Wandel, den er damit im Verhältnis zur gesamten vorhergehenden Tradition geschichtsphilosophischen Denkens vollzieht, vgl. oben, S. 57 ff., sowie Rouvillois, L'invention du progrès.
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Das Projet de paix perpétuelle als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
wie auch im Bereich der gesellschaftlichen, technischen und kulturellen Erfindungen und Einrichtungen ist für Saint-Pierre vielmehr das Resultat des Handelns der Menschen selbst. Ausdrücklich weist er im Projet de paix auf die Notwendigkeit hin, den Schein des unhistorischen Denkens, für welches das jeweils Gegebene immer schon existiert hat, zu zerstören und das Bewußtsein dafür zu wecken, daß es Produkt menschlichen Handelns und nicht bereits von Natur aus vorhanden ist. Im Hinblick auf die Gründung politisch verfaßter Gesellschaften schreibt Saint-Pierre hier in bemerkenswerter Klarheit: „les hommes naissant au milieu des sociétés toutes formées sont portés naturellement à croire que ce qu'ils ont vû dés leur naissances, a toûjours été & sera toûjours de même, ils jouissent des biens que leur procurent les bons reglemens de leur société, sans savoir quel est la base de cette même Société, quel en est le principal lien, & même sans se soucier d'en être instruits."65
Diese Reflexion auf die praktischen Ursprünge der menschlichen Einrichtungen führt zu entsprechenden Konsequenzen hinsichtlich der gegenwärtigen und der künftigen Verhältnisse, denn was aus dem Handeln der Menschen selbst resultiert, kann und muß, so es den sich ändernden Umständen nicht mehr angemessen ist oder sich als dysfunktional und unvernünftig erweist, überprüft und gegebenenfalls verändert oder durch neue Einrichtungen und Regelungen ersetzt werden. Indem er das verbreitete, aus der neuzeitlichen Mechanik übertragene Bild eines sorgfältig hergestellten Uhrwerks auf die Struktur und das Funktionieren politisch-administrativer Einrichtungen anwendet, stellt Saint-Pierre sie zur Disposition rationaler Kontrolle und Veränderung: „Les etablissemans humaines ressamblent jusqu'ici a des horloges qu'il faut nétoyer et remonter de tems en tems si l'on veut etre toujours contant de leurs operasions; ainsi il faut une direxion continuelle et exterieure de la part du gouvernement et une augmantasion de ressort pour soutenir les meilleurs etablissemans en dirigeant mieux l'intérêt particulier vers l'intérêt publiq et c'est le sublime de la politique."66
Einerseits muß deshalb nach Saint-Pierre versucht werden, die Prinzipien zu erkennen, auf denen die politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen und Regelungen beruhen, 67 andererseits müssen die Gesetzmäßigkeiten und historisch feststellbaren Regelmäßigkeiten ausfindig gemacht werden, die in ihnen wirken und beobachtbar sind. Als „bons Observateurs des causes de ce qui s'est passé" tragen Historiker zur Erkenntnis jener Regelmäßigkeiten und allgemeinen Kausalbeziehungen bei, wie sie in gesellschaftlichen und politischen Prozessen zu berücksichtigen sind, so daß aufgrund der dadurch gewonnenen Erfahrungen Lösungen für neue, strukturell jedoch gleichartige Problemkonstellationen gefunden werden
65 66
67
Saint-Pierre, Projet de paix, HI, pp. xxvi f. Saint-Pierre, Moïens de procurer dans un Etat le progrez de la politique, Ms. Neuchâtel, R 168, p. 13. - Deutlich kommen in diesem Bild zugleich die schon oben (S. 87 f.) erwähnten mechanistischen Grundlagen von Saint-Pierres Verständnis des geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses wie auch die praktischpolitische Ausrichtung seines Begriffs wissenschaftlicher Erkenntnis zum Ausdruck. Notwendig ist nämlich nach Saint-Pierre, „la nature de l'homme & l'origine de la société" zu studieren, „[pour] s'instruire à fonds des premiers principes de la Police" (Saint-Pierre, Projet de paix, ni, pp. xxiv u. xxvii); zur naturrechtlichen Begründung des politischen Denkens bei Saint-Pierre vgl. oben, Kap. II.4.2, S. 77 ff.
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können. 68 In diesem Sinne geht es in den Wissenschaften von der Gesellschaft wie in den Naturwissenschaften um die Erkenntnis allgemeiner Strukturen, Kausalitäten und gesetzmäßiger Zusammenhänge: „les observasions de medecine nous guident et nous aident à préférer certains prezervatifs et certains remèdes. Si nous avions de meme dans la morale et dans la politique des observasions faites avec certitude par des filozofes sur les biens et sur les maux qui sont arivez de tels ou tels choix qu'ont fait ou les particuliers qui gouvernent les afaires de leurs familles ou les ministres qui gouvernent les afaires publiques de toutes les familles d'un Etat, nous verrions croître bien sansiblemant en peu de tems la raizon humaine".69
Das, was die „Politique purement spéculative" auf der Grundlage rationaler Prinzipien demonstriert, was aber aufgrund seiner Abstraktheit nur einer kleinen Zahl an Gelehrten zugänglich und einsichtig ist, wird durch die historisch informierte „Politique pratique" bzw. durch die „Politique historique" konkretisiert und auf eine historische Erfahrungsbasis gestellt, so daß es für die nicht primär wissenschaftlich ausgerichteten gesellschaftlichen und politischen Akteure - und dazu zählt Saint-Pierre Akteure bis in politische, administrative und militärische Spitzenpositionen hinein - verständlich gemacht werden kann. 70 Die rationale Demonstration und das Argumentieren mit historischen Beispielen und Belegen sind für Saint-Pierre somit zwei einander ergänzende Verfahren, politisches und geschichtliches Handlungswissen zu vermitteln: „l'histoire donne un corps aux reflexions, elle joint la preuve invincible de l'experiance aux preuves de la spéculasion qui sont toujours un peu douteuzes pour le commun des lecteurs, c'est ce qui compoze des démonstrasions complètes pour la conduite. On peut donq dire que d'un coté sans le secours des faits les reflexions sont trop vagues, plaizent moins à l'esprit et y font peu d'impression et que de l'autre sans le secours des reflexions, le récit des faits peut bien etre amuzant, mais il devient inutile pour la conduite du lecteur et ne lui sert de rien pour perféxioner son jugemant et pour augmanter son propre bonheur et celui des autres."71
Den Arbeiten Saint-Pierres liegt also, wie sich zusammenfassend festhalten läßt, die Idee eines konstitutiven Zusammenhangs von geschichtlicher Entwicklungsdynamik, vernünftiger Einsicht und praktischem Handeln zugrunde, durch den ein kontinuierlicher Fortschritt und die Verwirklichung der Vernunft in Geschichte und Gesellschaft erreicht worden und weiterhin erreichbar sei. Betrachtet man nun Saint-Pierres Beschäftigung mit Geschichte, Gründung und Struktur des Alten Reichs vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur Geschichtswissenschaft und ihres Verhältnisses zur politischen Theorie und Praxis, so erhält sie eine neue Dimension.
Saint-Pierre, Projet pour établir des Annalistes, Ouvr., IV, p. 233. Aufgrund der Erkenntnis jener „causes" nämlich könne man „facilement profiter dans les mêmes cas des Expériences" der vorangegangenen Generationen, um dadurch in der Lage zu sein, „[de] diminuer les malheurs du peuple". Daß es sich hierbei zugleich um eine scharfe Kritik des politischen Systems seiner Zeit handelt, zeigt sich spätestens, wenn er anschließend die lateinische Sentenz zitiert: „Car le peuple est puni des sotises des Rois". Saint-Pierre, Histoires generales, Ms. Caen, Dossier VII, p. 26. Saint-Pierre, Projet pour établir des Annalistes, Ouvr., IV, pp. 233-234. Dies ist der theoretische Hintergrund für Saint-Pierres Begründung der Notwendigkeit, die rational demonstrierten 'propositions' des Projet de paix durch historisch-empirische 'préjugés' zu ergänzen; vgl. oben, S. 134 f. Saint-Pierre, Histoires generales, Ms. Caen, Dossier VU, pp. 21 f.
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Das Projet de paix perpétuelle als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
Jetzt nämlich erst wird erklärlich, w a r u m er sich an entscheidenden Stellen seiner Darstellung auf den schwankenden B o d e n historischer Spekulation und Konstruktion begibt und diesen der vermeintlichen Sicherheit historischer Fakten und Überlieferung vorzieht. 7 2 N u r unter dieser Bedingung nämlich sind an d e m Modellfall der Union Germanique j e n e Elemente zu identifizieren, die an ihm nach Saint-Pierres Ansicht f ü r die Bewältigung einer strukturell identisch gelagerten Problematik innerhalb der europäischen Staatenwelt zu lernen sind. Z u m einen nämlich sind Vorgeschichte und Gründung der Union Germanique f ü r Saint-Pierre vor allem deshalb von Interesse, weil sie belegen, daß die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, d a ß der Verfall, die Veränderung oder N e u b e g r ü n d u n g allgemeiner Institutionen und M e c h a n i s m e n auf den Willen und das Handeln konkreter Akteure zurückzuführen sind. 7 3 Insbesondere läßt sich hier zeigen, d a ß nicht nur einzelne Innovationen und Änderungen innerhalb eines bestehenden Institutionensystems denkbar sind, sondern daß auch geschichtsmächtige Gebilde wie das Alte Reich auf der Basis einer 'bloßen Idee' als einer rational ersonnenen institutionellen Antwort auf einen unhaltbaren Zustand in der Wirklichkeit begründet werden können; 7 4 - und d a ß es deshalb auch als Präzedenzfall f ü r ein noch bedeutend größer dimensioniertes Projekt dienen kann. W i e das Reich aufgrund des Planes von zunächst einigen wenigen Fürsten gegründet worden sei oder wie - so ein anderes Beispiel Saint-Pierres - die mächtige Gesellschaft der Jesuiten auf die Idee eines kleinen Kreises u m Ignatius von Loyola zurückgehe, so werde sich auch „un j o u r le merveilleux etablissemant de la diète E u r o p a i n e " durchsetzen, auch wenn sie bisher nicht mehr als eine bloße Idee und ein Plan Heinrichs IV. oder Saint-Pierres sei, denn: „Tels sont et seront une infinité d'autres excelans projets qui ne seront dans les comancemans que de simples propozitions bien démontrées. De là on voit que sans de bons projets bien aprofondis, bien rectifiez, bien eclersis, bien démontrez, il ne se fait presque jamais aucuns bons règlemans, aucuns bons etablissemans, et que quand ces premières cauzes manquent, leurs bons efets manquent necessairemant. Ces premiers projets sont comme autant de grains de fromant que l'on sème. Tous ne réussissent pas; mais il n'en viendroit pas trente fois plus que l'on n'en sème, si l'on n'en semoit point du tout. Les meilleurs projets ressemblent en cela aux
Daß die Überlieferang und das Wissen um das 'historische Geschehen' auch für die Historiker seiner Zeit alles andere als zuverlässig war, war dabei freilich Bedingung der Möglichkeit eines solchen Umgangs mit historischen Ereignissen und Prozessen; vgl. Hazard, Die Krisis des europäischen Geistes, S. 59 ff. Sie können die Folgen von direkten Absichten und Plänen sein, aber eben auch von einem an 'falschen' Interessen und kurzsichtigen Handlungsmotiven orientierten Handeln, das zu Konflikten führt, die als solche nicht notwendig gewollt sein müssen. Auch diese 'nichtintendierten Handlungsfolgen' sind in Saint-Pierres Konzeption als Folgen des Handelns und Wollens der Akteure zu sehen, auch wenn nicht sie bezweckt waren - bspw. die Permanenz des Kriegszustandes zwischen den souveränen deutschen Staaten nach dem Zerfall des karolingischen Reichs - , sondern etwas anderes - nämlich die Erhaltung und Sicherung der absoluten Souveränität der einzelnen Fürsten - das Ziel ihrer Handlungen gewesen ist. Nach Saint-Pierre müssen und können sie zumindest post festum erkennen, daß eben dies die mit ihrem Handeln verbundene Folge ist, und in der Lage sein, beide Folgen gegeneinander abzuwägen. Vgl. hierzu und zum folgenden nochmals die schon angesprochenen Äußerungen Saint-Pierres zur Notwendigkeit, einen Plan und Initiator als historisches Faktum unterstellen zu müssen (vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, II, pp. 274, 278-281, sowie oben, S. 144 f.). Goyard-Fabre (La construction de la paix, p. 133) schließlich spricht aus nicht näher erläuterten Gründen, aber mit einer Saint-Pierres Äußerungen fast noch übertreffenden Selbstverständlichkeit davon, daß „le Saint Empire romain germanique [...], ne en 982, confe'derait plus de deux cents souverains, grands ou petits".
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grains semées aux quelles il faut de tems et plusieurs conjonctures favorables pour fructifier, mais sans graines semées, point d'arbres, point de blés, point de fruits."75 Zum zweiten ist die Geschichte der Gründung des Alten Reichs im Rahmen von SaintPierres politischer Philosophie auch ein Lehrstück hinsichtlich der prinzipiellen Möglichkeit, aus der Geschichte zu lernen. 76 Analysiert wird hier zwar ein durchaus singuläres Geschehen, indem von dem Zustand ausgegangen wird, in dem sich die Mitglieder des ursprünglichen Empire germanique nach dessen Zerfall befunden hätten. Dabei wird nach der hier wirkenden Dynamik des Krieges, nach den Interessen und den Motiven der einzelnen Akteure gefragt, die sie dazu bringen, neue allgemeine Strukturen zu suchen und zu realisieren, welche die Defizite jenes Zustands auf Dauer aufheben. Insofern man aber anhand dieses besonderen Falls allgemeine Kausalverhältnisse, Problemstellungen und Strukturen zu ihrer dauerhaften Auflösung ausfindig machen kann, können diese gleichsam isoliert, exemplarisch festgehalten und als begriffliches und konzeptionelles Instrumentarium einer rationalen science politique und Science du Gouvernement auf andere Problemfelder und Verhältnisse angewandt werden. Die prinzipielle Möglichkeit eines solchen Verfahrens historischer Erkenntnis- und Lernprozesse aber gründet in Saint-Pierres Geschichts- und Fortschrittsbegriff, steht in diesem doch das kumulative Wachstum von Wissen über die kausalen Mechanismen im Zentrum, und dies „pour augmanter et multiplier les biens et pour diminuer les maux", wodurch die Beförderung des wesentlichen Ziels aller theoretischen und praktischen Einsicht erreicht werden kann: „la plus grande utilité publique". 77 In diesem Sinne geht es Saint-Pierre mit der Darstellung des Alten Reichs weniger um die Erweiterung des historischen Wissens als darum, einen Beitrag zur „aquizition perpétuèlle de nouvelles lumières naturelles & de la raizon universelle" und damit zum „progrez nécessaire & indéfini de la Raizon humaine" zu leisten. 78 Drittens und letztens schließlich ist dies der Ort, um auf die inhaltliche und systematische Bedeutung von Saint-Pierres Rückgriff auf das historische Beispiel der Reichsverfassung im Projet de paix zurückzukommen. Das Alte Reich soll für ihn schließlich jenseits seiner geschichtlichen Singularität die verallgemeinerbare Antwort auf bestimmte Strukturen des Verhältnisses politischer Körperschaften zueinander sein und somit ein Lösungsmodell darstellen, welches als rationales Muster auf das Verhältnis zwischen den europäischen Staaten Saint-Pierre, Moïens de procurer dans un Etat le progrez de la politique, Ms. Neuchâtel, R 168, pp. 20-21. ter Meuten (Der Gedanke der Internationalen Organisation, S. 211, Anm. 1) weist im Zusammenhang mit der Einsicht, daß das Alte Reich nach Saint-Pierre eben nicht als organisches Gebilde betrachtet wird, sondern als eines, das wie der anvisierte „europäische Bund kraft eines bewußten Willensaktes" entstanden sein soll, auf Georg Jellineks Aussage hin, nach der die historische und soziologische Forschung immer deutlicher zeige, „dass alle Institutionen bewussten Willensakten ihren Ursprung verdanken, durch Zweckwandel jedoch von ihrem ersten Entstehungsgrund sich loslösen und dadurch den Anschein von Bildungen erlangen, deren Dasein vom menschlichen Willen unabhängig ist" (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 47). In diesem Sinne könnte man bei Saint-Pierres Erklärung der Entstehung des Alten Reichs gleichsam vom Versuch einer handlungstheoretischen Erklärung verselbständigter Institutionen wie der des Reichs sprechen. In diesem Sinne ermöglicht und erfordert nach Saint-Pierre historisches Bewußtsein die produktive Verbindung von Erfahrung und Reflexion: „c'est principalement par le secours des Expériences des autres, & de nos reflexions sur ces Expériences que nos Successeurs peuvent aprendre à éviter les fautes dans le Gouvernement" (Saint-Pierre, Projet pour établir des Annalistes, Ouvr., IV, p. 228). Saint-Pierre, Idée de politique compiette, Ms. Neuchâtel, R 188, p. 1. Saint-Pierre, Conséquances du progrez necessaire, Ouvr., XV, pp. 105 u. 100.
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Das Projet de paix perpétuelle als politisches und rechtsphilosophisches Unternehmen
insgesamt transferierbar sein soll. Der politische und philosophische Zweck der Analyse, Konstruktion und Darstellung von Geschichte und Struktur des Alten Reichs ergibt sich aus dem Interesse, Strukturdefizite im rechtlich nicht geregelten Verhältnis souveräner Staaten zueinander und Wege aufzuweisen, um diese Defizite dauerhaft überwinden zu können. Damit ist zugleich eine Thematik angeschnitten, die, wie im folgenden zumindest angedeutet werden soll, zu den grundlegenden Problemen des neuzeitlichen Denkens über die sich im 17. und 18. Jahrhundert manifestierende, historisch neue Struktur internationaler Beziehungen gehört.
IH.4.3
Die Konzeption einer Föderation souveräner Staaten: Das Modell des Alten Reichs als Lösung eines rechtsphilosophischen Dilemmas?
Die zentrale Bedeutung der Verfassungsstruktur des Alten Reichs besteht für Saint-Pierre darin, daß sich souveräne Staaten unter rationaler Abwägung ihrer Lage, Interessen und Handlungsoptionen entschlossen haben, eine neue, sie übergreifende, souveräne politische Körperschaft zu gründen. Der Traité de l'Union, den sie miteinander abschließen, erzeugt eine neue politisch-rechtlich verfaßte Gesellschaft, „une Societé permanente entre Souverains": „une Union générale & permanente des Souverains de la Nation, [...] perpétuellement réprésentez par leurs Députez dans les Dietes, afín d'avoir une süreté permanente de terminer sans Guerre, par conciliation, ou par arbitrage les différens futurs, en imposant une peine tresconsiderable, comme est celle du Ban, ou de la perte de ses Etats, ä celui qui refuseroit d'exécuter le Jugement du Corps Germanique, & qui voudroit désormais soütenir ses droits par la forcé contre tout le Corps."79
Der neue Bund ist mithin als eine machtvolle, zwangsbewehrte Föderation konzipiert, die dafür Sorge trägt, daß die Sicherheit und das Fortbestehen, das Eigentum und die Rechtsansprüche der Mitgliedsstaaten gewährleistet werden können. Ein solches Modell aber ist nach Saint-Pierres Ansicht nicht auf seine besonderen historischen Erscheinungsformen - sei es im Alten Reich, in der Schweiz oder in den General Staaten der Niederlande - zu beschränken, sondern ebenso als Grundlage eines Corps Européen für die institutionelle Überformung und Regelung der Beziehungen sämtlicher europäischer Staaten denkbar. Von entscheidender Bedeutung ist für Saint-Pierres Argumentation der Doppelcharakter dieses Modells, der sich dadurch charakterisieren läßt, daß es sowohl Elemente einer Föderation als auch solche einer Konföderation zwischen Staaten enthält. 80 Eine Föderation im Sinne
Saint-Pierre, Projet de paix, I, pp. 120 u. 57. Zu der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts ausprägenden terminologischen Differenzierung von Föderation und Konföderation vgl. Koselleck, Bund. Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, dort S. 627 ff. zur frühen Neuzeit, S. 637 f. (Anm. 285) zur Entwicklung in Frankreich sowie S. 636 ff. zu dem seit Kant 'neuen Begriff der Föderalität'. Zur Differenz von Staaten- oder Völkerbund und Bundesstaat auf globaler Ebene, wie sie sich bei Kant nachzeichnen läßt, vgl. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, S. 267 ff., Steiger, Frieden durch Institution, S. 145 ff. Systematisch zur Unterscheidung von Bundesstaat und Staatenbund Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 743-765.
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eines Bundesstaates ist der Bund, insofern es zur Überwindung des Naturzustands zwischen Staaten der Bildung eines „new State" bedarf, der die „characteristics of a republic, the Republic of the European Union" aufweist. 81 Wie das Alte Reich, so soll auch die künftige Union Européenne eine souveräne politische Körperschaft bilden mit einer Hauptstadt, mit gemeinsamen Institutionen wie einem 'Bundestag', mit einer höchsten Gerichtsbarkeit wie auch mit der notwendigen Sanktions- und Verteidigungsgewalt. Denn nur eine derart strukturierte Körperschaft ist in der Lage, ihre Mitglieder einem System von objektiv gültigen Rechten und Pflichten zu unterwerfen, gegen das sie als 'Untertanen' des Bundes kein Recht auf Widerstand haben können. Nur in diesem Falle kann davon gesprochen werden, daß der latente Kriegszustand zwischen ihnen nicht nur zufälligerweise, sondern dauerhaft und strukturell aufgehoben ist. Insofern ist Saint-Pierres Konzeption also, wie Redslob bemerkt hat, eindeutig als eine bundesstaatliche anzusehen: „Das Gebilde des Abbé de Saint-Pierre ist mehr als ein Bund. Es ist ein Bundesstaat,"82
Dennoch weisen zahlreiche Stellen in Saint-Pierres Werk darauf hin, daß sein Modell einer Union Européenne zugleich wesentliche Elemente einer Konföderation aufweist, d. h. eines 'bloßen Staatenbundes',83 so vor allem, wenn es heißt, daß die Mitgliedsstaaten weiterhin als souveräne Staaten fortbestehen sollen. In diesem Sinne richtet sich die föderative Konzeption Saint-Pierres, wie Goyard-Fabre hervorgehoben hat, gerade gegen die Einrichtung eines „super-Etat", indem er darauf beharre „que, par delà la signature volontaire des monarques au traité d'union, chaque Etat-membre devra conserver sa propre souveraineté". 84 Beide, die föderativen und die konföderativen, die bundesstaatlichen und die bloß staatenbündischen Elemente, versucht Saint-Pierre in seinem - deshalb auch als République verstandenen - Bund 8 5 zu vereinen, um den Erfordernissen einer starken und legitimen Rechts81
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Spoltore, Federalism in the History of Thought, pp. 224 f. - Daß die „'République Européenne' [...] so fest konstruiert werden sollte, daß sie eher einen staatsrechtlichen als einen völkerrechtlichen Charakter getragen hätte", zeigt sich für Hintze (Staatseinheit und Föderalismus, S. 77) noch in Rousseaus 'Extrait' von SaintPierres Projekt; zu Rousseaus Ambivalenz in dieser zentralen Frage vgl. unten, Kap. IV.4. Redslob, Das Problem des Völkerrechts, S. 180. In dieser Hinsicht spricht auch Kant nach anfänglicher Betonung, der internationale Naturzustand könne nur „nach der Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts einzelner Menschen" aufgehoben werden (Kant, Über den Gemeinspruch, S. 312 f.), so daß es „das Surrogat des bürgerlichen Gesellschaftsbundes, nämlich der freie Föderalism ist, den die Vernunft mit dem Begriffe des Völkerrechts notwendig verbinden muß" (ders., Zum ewigen Frieden, S. 356), so klingt es in der 'Rechtslehre', § 54, S. 344, weitaus verhaltener: Zwar heißt es auch hier noch, daß „ein Völkerbund nach der Idee eines ursprünglichen Vertrages nothwendig ist", doch ebenso kategorisch erklärt er nun, daß „die Verbindung doch keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung), sondern nur eine Genossenschafl (Föderalität)", also keine staatsrechtliche Qualität implizieren darf; vgl. hierzu unten, S. 309 f. Goyard-Fabre, La construction de la paix, pp. 135-136. Als République hatte Saint-Pierre im 'Projet de paix' (z. B. I, pp. 82, 84, 85 oder 86) bereits die Verfassungsstruktur des Alten Reichs bezeichnet und damit auf den Umstand verwiesen, daß die Mitgliedsstaaten nicht um ihrer Sicherheit willen ihre Freiheit opfern müssen, sondern daß sie nur auf die 'natürliche', ihre Existenz gefährdende Freiheit im System des internationalen Naturzustands verzichten und sie gegen die rechtlich gesicherte, 'bürgerliche' Freiheit im Système de l'Union eintauschen; vgl. ausführlich zu dieser Widerlegung der 'Schimäre' natürlicher Freiheit ders.. Projet de paix, HI, pp. 3 ff., v. a. 84 ff., 89 ff. u. ö. Saint-Pierre formuliert hier für die Ebene der internationalen Beziehungen dieselbe Differenz, wie sie sich bereits für die Beziehungen zwischen Individuen der Sache nach schon bei Hobbes (vgl. Hüning, Freiheit und Herrschaft, S. 103 ff. mit Anm. 27), explizit dann bei Rousseau findet, wo der Eintritt in den Gesellschaftszustand zwar
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gemeinschaft und dem Streben nach einzelstaatlicher Freiheit und Selbsterhaltung in gleichem Maße gerecht zu werden. Obwohl die souveränitätstheoretische Problematik dieses föderativen Konzepts offenkundig ist - und auf sie wird im folgenden zurückzukommen sein - , wird doch an Saint-Pierres Versuch eines ganz deutlich: Die Antwort, die er auf die destruktiven Konsequenzen der Durchsetzung des modernen Systems souveräner Nationalstaaten sucht, besteht weder in der Rückkehr zu vor-nationalstaatlichen Ideen, sei es denen einer Universalmonarchie oder einer vorpolitischen 'societas humana', noch in der Suche nach einem alternativen Weg in die Moderne, der prinzipiell jenseits der nationalstaatlichen Bahnen verliefe. Vielmehr soll nach Saint-Pierres Konzeption gleichsam eben jene Waffe - nämlich die einer staatsrechtlich verfaßten politischen Körperschaft - , die die Wunde - die des internationalen Naturzustands schlug, die Mittel dazu liefern, sie zu heilen. Saint-Pierre vertritt somit einerseits die Position einer strukturellen Unhintergehbarkeit der Ausbildung und Realisierung von souveränen Staaten, derer es zur internen Regelung der gesellschaftlichen Ordnung und zur Organisation des durch sie ermöglichten Fortschritts bedarf. Im Außenverhältnis der Staaten zueinander entfalten diese für ihn zur Beförderung des friedlichen Zusammenlebens und der Wohlfahrt der vergesellschafteten Menschen notwendigen Staaten andererseits das 'Folgeproblem' jener verheerenden Dynamik eines strukturellen Kriegszustandes, der die Permanenz von Mißtrauen, Rüstung, Konflikten und Kriegen nach sich zieht.86 Dieser Zustand kann nach Saint-Pierre, wie sich gezeigt hatte, nur dadurch überwunden werden, daß dieselbe Logik, die zum Zusammenschluß der Bürger in Gestalt staatlich verfaßter Gesellschaften geführt hat, weitergetrieben und auf die Ebene der internationalen Beziehungen angewandt wird, auf der sich die Staaten wie Individuen im Naturzustand begegnen. Wie dort der Staat, wird hier mit dem Bund ein internationaler „corps Politique tout puissant" geschaffen, dem alle als Mitglieder angehören und dem alle wie die Bürger innerhalb eines Staatswesens unbedingt unterworfen sind.87 Das 'Modell Nationalstaat' ist demzufolge bei föderativen Zusammenschlüssen, wie Saint-Pierre sie versteht, zugleich konstitutiv und aufgehoben: Dieses Modell liefert mit dem Problem auch das Instrumentarium, um die destruktiven Konsequenzen der Struktur souveräner Nationalstaaten aufzuheben, doch geschieht diese Überwindung der nationalstaatlich induzierten Probleme wiederum auf Wegen, die den konstitutiven Prinzipien von Staatlichkeit überhaupt entsprechen. Es ist genau diese komplexe Struktur, die Saint-Pierre in der Geschichte des Alten Reichs institutionell vorgeformt und vorgelebt sieht. Das 'monstrum simile' des Alten Reichs, jenes eigentümliche vor-nationale oder quer zum souveränitätstheoretisch stringenten Weg der frühneuzeitlichen Staatenbildung stehende Gebilde, fungiert damit im Rahmen von Saint-Pierres Projekt einer internationalen Rechtsgemeinschaft überraschenderweise gleichsam als Modell einer Antwort auf Probleme, die erst mehrere Jahrhunderte später zu außerordentlicher Aktualität gelangt sind, insofern nun die neuzeitliche Leitidee einer Pluralität souveräner Staaten immer deutlicher nicht nur ideell, sondern
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die „aliénation totale de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté" erfordert, und doch „chacun [...] n'obéisse pourtant qu'à lui-même et reste aussi libre qu'auparavant" (Du contrat social, p. 360 [1.6]). Zur Fassung, die Rousseau diesem Problem als Strukturproblem der Staatenbildung gibt, vgl. weiter unten, Kap. IV.2.2, S. 218 ff. Saint-Pierre, Projet de paix, HI, p. 117.
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durch die faktischen ökonomischen, sozialen und (sicherheits-)politischen Entwicklungen ihre Bedeutung zu verlieren scheint und nach neuen Formen internationaler Kooperation gesucht wird. 88 Ein bemerkenswertes Resultat der Analyse des Konzepts einer Föderation der europäischen Staaten im Projet de paix kann nämlich darin gesehen werden, daß Saint-Pierre im frühen 18. Jahrhundert, das heißt am Beginn der modernen Staatenwelt, eine Reihe jener Strukturen, Dynamiken und Entwicklungswege thematisiert hat, die erst heute, an der Wende zum 21. Jahrhundert auf der Tagesordnung zu stehen scheinen, wenn allerorten von einer Krise, von dem nahenden oder gar schon vollzogenen Ende einer Welt souveräner Nationalstaaten die Rede ist89 und von der Notwendigkeit, sie durch übergreifende politisch-rechtliche Gemeinschaften zu ergänzen oder gar zu ersetzen. 90 Dies zeigt sich etwa in dem in vorliegendem Zusammenhang besonders interessierenden Beispiel der europäischen Staaten, wenn man an den zwar langsam und stockend, sich aber dennoch mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit vollziehenden Entwicklungs- und Integrationsprozeß der Europäischen Union denkt. Denn dieser vollzieht sich als Prozeß einer ,,fortschreitende[n] Umwandlung des europäischen Staatensystems in eine quasi-föderale Europäische Union", 91 wobei die Erinnerung an Saint-Pierres Friedensprojekt zu frappierenden Assoziationen führt. Ebenso wie Saint-Pierre am Beginn des 18. Jahrhunderts für eine nach dem Modell des Alten Reichs zu begründende Union Européenne plädiert, weist Evers am Ende des 20. Jahrhunderts wenngleich in eher deskriptiver Perspektive - auf eine Reihe von erstaunlichen Übereinstimmungen zwischen der Struktur des Alten Reichs mit jener Europäischen Union hin, wie sie faktisch im Entstehen begriffen ist: Der Modellcharakter, den Saint-Pierre dem Reich hinsichtlich der von ihm projektierten Union Européenne zuschrieb, scheint durch eine 'List der Geschichte' doch noch zur Geltung gekommen zu sein.92 Und in vergleichbarer Weise hat Spoltore sich veranlaßt gesehen, Saint-Pierres Projet de paix und die darin vorgeschlagenen Strukturen einer Union Européenne als Vorwegnahme der heutigen zu interpretieren: „The Union proposed by the Abbé [...] préfigurés in form and substance many of the problems faced today by the European Union which was created by the Treaty of Maastricht signed by the Heads of State and Government of the European Community in December 1991."93
Dieselbe Aktualität der von Saint-Pierre entworfenen Strukturen zeigt sich an der breit diskutierten Notwendigkeit, neue inter- und supranationale Institutionen und Verfahren zu finden, um die im Zeitalter einer sich globalisierenden Welt anstehenden politischen, ökonomi88
So erkennt Hüglin (Das 'Westfälische System', S. 154) „Traditionsbestände im westlichen politischen Denken" aus der „frühneuzeitlichen Transformationsphase europäischer Staatswerdung", die bei der Bewältigung aktueller 'Globalisierungseffekte' hilfreich sein können, wobei er sich freilich vor allem auf die föderalistischgenossenschaftliche Idee von Althusius' 'Politica' bezieht.
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Vgl. bspw. Camilleri/Falk, The End of Souvereignty (1994). Für Zürn (Regieren jenseits des Nationalstaats, S. 12) läßt sich die Frage, ob ein solcher Prozeß der 'Denationalisierung' stattfindet, sinnvoll gar nicht mehr stellen. Es geht nur mehr um das „Wie", nicht um das „Ob" neuer Formen transnationalen Regierens: „Das zentrale Problem der Gegenwart besteht vielmehr darin, Formen des guten Regierens jenseits des Nationalstaates zu finden." Hüglin, Das 'Westfälische System', S. 156. Evers, Supranationale Staatlichkeit, S. 115 ff., bes. 121-126. Zur normativen Interpretation des Modellcharakters des Reichs bei Hartmann oben, S. 82, Anm. 47. Spoltore, Federalism in the History of Thought, p. 226.
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sehen, sozialen, ökologischen oder sicherheitspolitischen Probleme bewältigen zu können. 94 Spätestens seit dem Ende des Ost-West-Dualismus 1989 gilt dies auch wieder für jene Problematik, die Saint-Pierre besonders umtrieb, diejenige von Krieg und Frieden. Die fortbestehende Logik der Konflikte zwischen souveränen Staaten oder - wie im Fall ethnischer bzw. unter dem Deckmantel ethnischer Konflikte ausgetragener Auseinandersetzungen oder auch etablierter separatistischer Bewegungen - innerhalb der Staaten führen dazu, daß der Nationalstaat zunehmend an seine Grenzen stößt. 95 Sei es im - zumindest vorderhand - 'friedlichen', ökonomisch induzierten, sei es im 'unfriedlichen', durch Konflikte und militärische Aktionen ausgelösten Fall: Überall, wo die durch Nationalstaaten oder durch die bisherigen Formen ihrer Kooperation nicht mehr lösbaren Probleme in die Hände von internationalen Einrichtungen gelegt werden, die ihre Entscheidungen gegebenenfalls auch gegen den Willen der mandatierenden Staaten durchsetzen wollen, wird man unvermeidlicherweise stets wieder mit eben jenen Strukturen und Problemen, Begriffen und Konzeptionen konfrontiert, mit denen sich der Abbé de Saint-Pierre bereits ausführlich auseinandergesetzt hat. 96 Dies zeigt sich besonders prägnant an dem hier behandelten Problem von Souveränität und Föderation. Wenn nämlich von der Notwendigkeit einer übernationalen Organisation gesprochen wird, auf die die staatsrechtliche Kompetenz übertragen wird, verbindliche Regeln und Entscheidungen zu setzen und durchzusetzen, oder gar schon davon, daß eine solche Rechtsgemeinschaft sich in Einrichtungen wie der Europäischen Gemeinschaft durchzusetzen begonnen habe, dann stößt man schnell wieder auf jene Bestimmungen und Problematik, wie sie bereits Saint-Pierres Konzept einer Union des États souverains kennzeichneten. Denn auch im Hinblick auf die Ebene der Europäischen Union oder gar einer in der UNO zentrierten globalen Rechtsordnung wäre jeweils erst einmal zu bestimmen, wie sich die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten der regionalen oder globalen Gemeinschaft und die der gemeinsamen, gleichfalls staatlichen Charakter tragenden föderativen Körperschaft zueinander verhalten. Dies wirft unmittelbar gravierende staatsrechtliche Probleme auf. Wenn es am Beginn des 21. Jahrhunderts immer deutlicher wird, daß es, was Saint-Pierre vielleicht als erster bereits zu Beginn des neuzeitlichen Staatensystems in dieser Konsequenz erkannt und begründet hat, notwendig ist, „the absolute souvereignty of States" zu
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Vgl. hierzu die Bestandsaufnahme bei Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats, Teil A (Kap. I-IV). Hinzu kommt neuerdings verstärkt die Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus, die verdeutlicht, daß die Differenz von Innen und Außen aufgehoben wird und keine Möglichkeit mehr besteht, innergesellschaftliche Entwicklungen und Politiken unabhängig von internationalen Zwängen und Gefährdungen zu betreiben. - Zur historischen Funktion des Nationalstaats und seinem Funktionsverlust vgl. Knieper, Versuch über die Grenzen der Wirksamkeit des Nationalstaates, S. 132-138. Und ob man heute bei dem Versuch, adäquate Antworten zu finden oder auch nur ein angemessenes Problembewußtsein zu formulieren, sehr viel weiter gelangt ist, kann durchaus noch nicht als ausgemacht gelten (vgl. unten, S. 1 8 3 f . m i t A n m . 106). Goyard-Fabre (La construction de la paix, p. 138) jedenfalls hat darauf hingewiesen, daß dem Projet de paix rechtliche Problemstellungen zugrundeliegen, die sich nicht in ihrem historischen Entstehungszusammenhang erschöpfen: „loin de verser dans un idéalisme naïf et d'affirmer préremptoirement qu'un avenir radieux va naître de l'Union européenne, il a voulu construire, avec un réalisme prudent, un dispositif juridique qui devrait permettre l'avènemenet de la sûreté et de la paix. C'est donc du point de vue du droit et non du point de vue de l'histoire qu'il convient d'en juger."
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überwinden, 97 so stellt sich die Frage, inwiefern staatliche Souveränität dann noch denkbar ist, inwiefern Souveränität überhaupt anders als 'absolut', wie also ein 'souveräner' Akteur selbst wieder als rechtlich beschränkt gedacht werden kann. 98 Daß dies keine rein akademische, sondern eine eminent praktische Fragestellung ist, zeigt sich in jedem einzelnen Fall, in dem aufgrund divergierender Interessenlagen Probleme internationaler politischer Kooperation auftreten, so daß es zur Nagelprobe kommt, bei w e m die souveräne Kompetenz liegt, in Konfliktfällen letztinstanzlich zu entscheiden. In solchen Situationen wird damit auch entscheidbar, ob es sich bei der jeweiligen Form internationaler Institutionen und Entscheidungsprozesse tatsächlich bereits um ein 'föderatives System' und um eine Rechtsgemeinschaft handelt, in welcher Entscheidungen auch gegen den Willen der Mitgliedsstaaten getroffen und - vor allem - ihnen gegenüber rechtlich legitimiert durchgesetzt werden können, oder ob das Recht auf die Annahme oder Ablehnung internationaler Vereinbarungen oder Schiedssprüche weiterhin bei den einzelnen Staaten verbleibt, so daß sie sich immer noch im Natur- und nicht in einem rechtlichen Zustand miteinander befinden, da ein jeder von ihnen, wie Saint-Pierre schreibt, de facto die Position vertritt: ,Je suis [...] seul Juge dans ma propre Cause, & dans toutes mes prétentions, je ne reconnois aucun Supérieur sur la Terre". 99 Erstaunlicherweise macht Saint-Pierre jedoch das hier auftretende Problem und die Dynamik der Souveränität, deren Logik und Folgen er doch bei der Analyse des internationalen Naturzustands so scharfsichtig erkannt und kritisiert hatte, 100 an keiner Stelle seines Projet de paix zum Gegenstand einer expliziten Auseinandersetzung. 101 Offensichtlich kann er in der Idee eines souveränen Bundes, dessen Mitglieder gleichfalls souverän bleiben sollen, keinen Widerspruch entdecken, obwohl sie doch, bedenkt man es richtig, in souveränitätstheoretischer Perspektive, die ja auch diejenige Saint-Pierres ist, einiges von der sprichwört-
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Spoltore, Federalism in the History of Thought, p. 222, der diese Idee bei Saint-Pierre erstmals in seiner modernen Bedeutung in die Geschichte des politischen Denkens eingeführt sieht; zur systematischen Begründung dieser Position vgl. weiter oben, Kap. in.2.2, v. a. S. 113 ff. Von Bodin über Hobbes und Rousseau bis zu Kant und Hegel wird ungeachtet der Unterschiedlichkeit ihrer politischen Konzeptionen die Absolutheit der Souveränität als eine aus der Logik der Sache folgende Notwendigkeit bestimmt, insofern „diejenige Instanz, die durch ihren machthabenden Willen Rechtsverhältnisse zwischen Menschen überhaupt erst möglich macht, ihrerseits nicht wieder mit den Mitteln des positiven Rechts beschränkt werden kann" (Hüning, Freiheit und Herrschaft, S. 265). Saint-Pierre, Projet de paix, EI, p. 7. - Daß dieser 'Naturzustand' auch in hoch integrierten Formen internationaler Kooperation wirksam ist, läßt sich an der Verfolgung und Durchsetzung nationaler Interessen und Strategien in der Europäischen Union beispielhaft beobachten. Vgl. oben, S. 113 ff. u. 132 ff., sowie Saint-Pierre, Projet de paix, 1. Discours. Goyard-Fabre (La construction de la paix, p. 142) hat diesen Umstand, daß Saint-Pierre die Frage der Souveränität im Verhältnis der Staaten zueinander im dunkeln läßt, kritisch angemerkt. Man könnte diese Kritik auf die mangelnde Schärfe seines Begriffs von Souveränität überhaupt - wie auch seiner Begriffsbildung insgesamt - ausdehnen. Dies ändert aber nichts daran, daß Saint-Pierre der Sache nach das Problem der Beziehungen zwischen souveränen Staaten klar erkannt und bestimmt hat. Wenn diese Klarheit in dem Moment, in dem sie die Bestimmung von Souveränität im Falle föderativer Zusammenschlüsse berührt, widersprüchlichen Bekundungen weicht, liegt dies eher an einem Problem in der Sache selbst, das bis heute nicht zufriedenstellend gelöst ist - so dies denn möglich sein sollte. Trotz und wegen seines 'Mutes' zur doppeldeutigen Begriffsbestimmung, kann Saint-Pierres Konzeption einer Union Européenne also durchaus als eine wichtige Etappe Prozeß der Bestimmung des Verhältnisses von Souveränität und Föderation angesehen werden.
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liehen Idee eines hölzernen Eisens an sich zu tragen scheint. Für ihn können sich souveräne Staaten zu einer Union zusammenschließen, die selbst wieder nach innen und nach außen souverän ist und eine einzige politische Körperschaft bildet. Dies ist in Saint-Pierres Augen theoretisch offenbar um so weniger problematisch, als ein Blick auf das Alte Reich und andere, im Europa seiner Zeit existierende bundesstaatlich organisierte Gemeinwesen wie die Schweiz oder die holländischen Generalstaaten diese Konzeption praktisch zu bestätigen scheint. In ihnen dokumentiert sich für ihn geradezu der Fortschritt, der seit den Zeiten der griechischen Amphyktionen stattgefunden hat, wo es zwar gemeinsame Institutionen und Entscheidungen gab, die jedoch mangels der Existenz einer souveränen Zwangsgewalt auf den Willen der Mitglieder angewiesen waren, sich den gemeinsamen Entscheidungen zu unterwerfen oder nicht. 102 Demgegenüber sei das Alte Reich gerade ein Beispiel dafür, daß und wie es möglich ist, souveräne Staaten zur Einhaltung von allgemeinen Rechtsprinzipien und zur Ausführung von Urteilen anzuhalten, die durch die dazu legitimierten übergreifenden Institutionen gefällt worden sind, „décidée souverainemant à la pluralité des voix des députez ou Amfictions dans la Diète ou assamblée générale des Etats souverains qui composent l'Ampire Germanique". 103 Der Hinweis auf das Alte Reich dokumentiert gleichsam durch seine faktische Existenz anschaulich, daß ein solches, aus einer streng souveränitätstheoretischen Perspektive heraus gesehen mehr als problematisches Mischgebilde, tatsächlich ein 'monstrum simile', politisch sehr wohl möglich ist und über einen langen Zeitraum hinweg funktionieren kann. 104 Insofern kann Saint-Pierre erklären, er fasse das Alte Reich als eine „Souveraineté" auf, „parce que ce n'est qu'un Corps", und ebenso verhalte es sich mit der Schweiz wie auch mit Holland, „parce que cette République, quoique composée de sept Républiques Souveraines, ne fait qu'un Corps". 105 Für Saint-Pierre liegt hier offenkundig aus dem Grund kein Widerspruch vor, weil er unausgesprochen stets schon zwischen der inneren und der äußeren Souveränität unterscheidet 102
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Vgl. hierzu die lakonische, angesichts der Crux internationaler Schiedsgerichtsbarkeit bis in die Gegenwart hinein treffende Bemerkung Saint-Pierres zu den in Delphi zur Regelung der „afaires communes de la Nasion" versammelten „députez des Republiques de la Grece": „Iis décidoient aussi quelquefois les diférans qui étoient antre deux Republiques, mais seulemant lors que toute deux se soumetoient ä leur arbitraje" (SaintPierre, Observations pour la lecture de Plutarque, Ouvr., XI, p. 213). Ebd., Ouvr., XI, p. 214. Unverkennbar ist also auch hier wieder der von Saint-Pierre gewiß nicht unbemerkt gebliebene, doch nicht weiter diskutierte Umstand, daß er Souveränität sowohl den Mitgliedsstaaten als auch dem Ganzen zuschreibt, so daß sein Souveränitätsbegriff nicht unmittelbar mit demjenigen in eins gesetzt werden kann, den Bodin, Hobbes, Rousseau oder Kant für staatsrechtlich unverzichtbar halten. Vgl. dazu die übernächste Fußnote. Saint-Pierre regt damit gleichsam schon im vorhinein eine eigene Variante des von Kant dann berühmt gemachten Gemeinspruchs an, insofern für ihn offenbar etwas, was für die Theorie nicht taugen mag, darum trotzdem für die Praxis richtig sein kann. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. viii. - Es ist bereits oben, S. 160 ff., darauf hingewiesen worden, daß SaintPierre hier der Sache nach ein Ziel verfolgt, das in der Tradition Besolds, Hugos und Leibniz' und ihres Modells eines aus souveränen Staaten gebildeten, wiederum souveränen Bundes steht. Es geht darum, die „Quadratur des Kreises - ein Staat, der mehrere Staaten enthält - " zu lösen, wie Kühnhardt, Föderalismus und Subsidiarität, S. 39, bemerkt. Und wenn Kühnhardt (ebd.) meint, die theoretische und praktische Lösung dieses Problems sei dem Pragmatismus des amerikanischen Verfassungsdenkens vorbehalten gewesen, so zeigt die Betrachtung der Interpretation der Reichsverfassung und ihrer modellhaften Übertragung auf Europa, daß Saint-Pierre schon nicht weniger pragmatisch auf die faktische Möglichkeit eines solchen - souveränitätstheoretisch gesehen - monströsen Gebildes gesetzt hat.
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und deshalb davon ausgeht, eine Aufteilung verschiedener Souveränitätsrechte auf unterschiedliche Instanzen und Subjekte sei prinzipiell möglich. Die Mitgliedsstaaten der föderativen Union bleiben insofern souveräne Staaten, als sie im Innern ihre Herrschaft weiterhin rechtlich unbeschränkt ausüben können. Zur Sicherung dieser 'inneren Souveränität' verankert Saint-Pierre in den articles fondamentaux des ursprünglichen Traité d'Union eigens einen Paragraphen, der das Prinzip der Nichteinmischung des Bundes in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten festschreibt.106 Die 'äußere Souveränität' hingegen scheint demnach aufgegeben und an den gemeinsam gegründeten Bund abgetreten werden zu können. Dieser allein ist von diesem Zeitpunkt an einziger Richter in allen Fragen, die die Verhältnisse der Staaten zueinander betreffen, sei es im Hinblick auf Rechts- und Besitzansprüche, die sie gegeneinander erheben mögen, oder auf Konflikte, die zwischen ihnen (und/oder ihren Bürgern) auftreten, oder sei es - solange es sich nur um eine europäische und nicht um eine weltumspannende Föderation handelt - im Verhältnis des Bundes zu anderen, außerhalb seiner Grenzen existierenden politischen Körperschaften. Hier ist der föderative Bund nach Saint-Pierre ein souveräner politischer Akteur, dessen Wille nach innen und außen absolut und mit unwiderstehlichem Zwang bewehrte Geltung besitzt. Saint-Pierres Projet de paix kreist also um Probleme wie die Frage nach der Notwendigkeit und Möglichkeit des Transzendierens souveräner Nationalstaaten, nach den Bedingungen internationaler Rechtsstrukturen und quasi-staatlicher Institutionen, nach der Vermittelbarkeit einzelstaatlicher Souveränität mit den Kompetenzen eines souveränen Bundes, der diese Staaten umfaßt und die zwischen ihnen notwendigen Regulierungsleistungen erbringen kann; - man braucht diese Elemente nur aufzuzählen, um zu erkennen, in welchem Maße sich die hier entwickelten Begriffe und Konzeptionen auch in den gegenwärtigen Debatten wiederfinden, und zwar bis hin zu ihren Unklarheiten und Doppeldeutigkeiten. Denn es mag als offene Frage dahingestellt bleiben, inwieweit die Nachfolger Saint-Pierres, seien es Rousseau oder Kant, seien es heutige Theoretiker internationaler Beziehungen, Lösungsvorschläge für die Bestimmung nationalstaatlicher Souveränität innerhalb des sich entwickelnden internationalen Rechtssystems entwickelt haben, die einen substantiellen Fortschritt gegenüber der hier vorgestellten Konzeption bedeuten würden. Festzuhalten ist aber, daß eine solche Lösung offenbar nicht darin bestehen kann, daß man sich des Problems der Souveränität einfach dadurch terminologisch zu entledigen sucht, daß man es als unergiebige Fragestellung oder als Resultat eines von Hobbes bis Kant gepflegten Dogmas bezeichnet.107 Die gleichen Zweifel scheinen angebracht, wenn versucht wird, Vermittlungsformen zwischen
Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 290 f. Damit macht Saint-Pierre ein in allen heutigen Bündnissystemen verankertes, jüngst freilich zunehmend zur Disposition gestelltes Prinzip stark (vgl. Goyard-Fabre, La construction de la paix, pp. 134 f., v. a. Anm. 3). - Auf das zentrale Problem dieses Interventionsverbots, ob und wann der Bund nicht doch in die inneren Angelegenheiten seiner Mitgliedsstaaten eingreifen muß - sei es zur Sicherung des Status quo der bestehenden Herrschaftsrechte, wie Saint-Pierre es in diesem Artikel explizit vorsieht, sei es zur Wahrung von Menschenrechten oder zur Abwendung von Völkermorden, wie es angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts naheliegt (vgl. Höffe, Für und Wider eine Weltrepublik, S. 221) - kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Schon die Erwähnung dieses Problems deutet jedoch bereits darauf hin, daß die Abgrenzung zwischen inneren und äußeren Angelegenheiten alles andere als eindeutig ist und das gesamte Denken in Kategorien von 'geteilten' oder 'gestuften' Souveränitäten aus den Angeln heben kann. So etwa Beaud, Föderalismus und Souveränität, S. 50, oder Kersting, Globale Rechtsordnung oder weltweite Verteilungsgerechtigkeit?, S. 210 u. 214, Anm. 17
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souveräner Staatlichkeit und transnationalen Strukturen durch Konzepte 'gestufter Souveränität' zu konstruieren.108 Denn auch nach einem Ausbau solcher rudimentärer Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit bleibt in Konfliktfällen zwischen nationalstaatlichen und den sie übergreifenden Akteuren das oben angesprochene Problem verbindlicher Letztentscheidung, d. h. die souveränitätstheoretische Gretchenfrage des quis judicabit, bestehen. Genügt es, an dieser entscheidenden Stelle seine ganze Hoffnung auf das Vorhandensein und auf die Wirksamkeit „einer gehörigen Portion 'institutioneller Weisheit'" zu setzen?109 Dies jedenfalls wäre der Sache nach letztlich nur ein vollgültiges Äquivalent für die Hoffnung des Abbé de Saint-Pierre, daß eine - wenn schon nicht theoretische, so doch zumindest - faktische Vereinbarkeit von fortbestehender einzelstaatlicher Souveränität und einer mit souveränen Kompetenzen ausgestatteten Föderation der europäischen Staaten möglich ist, von der er überzeugt war, daß sie in den Strukturelementen jener 'monströsen' Verfassungsstruktur des Alten Reiches schon historisch vorgelebt worden sei.
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Vgl. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, S. 266 ff.; zum Begriff gestufter Souveränität insbes. ebd., S. 271 ff. Höffe, Für und Wider eine Weltrepublik, S. 215.
TEIL B: DIE POLITISCHE THEORIE JEAN-JACQUES ROUSSEAUS
IV. Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand in der politischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus Wendet man sich im Anschluß an die Betrachtung der politischen Theorie des Abbé de Saint-Pierre derjenigen Jean-Jacques Rousseaus zu, so vollzieht man damit einen bemerkenswerten Sprung hin zu einer Position innerhalb der Bewegung der Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts, die in vielerlei Hinsicht entschieden von derjenigen Saint-Pierres abweicht. Dabei sind die Differenzen, auf die im folgenden genauer einzugehen sein wird, so gravierend, daß mit einigem Recht die Frage gestellt werden könnte, inwiefern hier überhaupt noch von der Zugehörigkeit zu ein und derselben Strömung politischen Denkens gesprochen werden kann, insofern eine solche Behauptung schließlich die Existenz eines identifizierbaren Kerns von Übereinstimmungen hinsichtlich wesentlicher theoretischer und praktisch-politischer Auffassungen voraussetzt. 1 Dieses Problem wird insbesondere durch die Stellung des politischen und gesellschaftstheoretischen Denkens Rousseaus zur Aufklärungsbewegung aufgeworfen. Denn das komplizierte, oft widersprüchliche Verhältnis Rousseaus zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts insgesamt ist ein Thema, auf das in der Forschungsliteratur vielfach hingewiesen worden ist2 und das ins Zentrum seiner politischen Chartier, Die kulturellen Ursprünge, S. 29, sieht den traditionellen Korpus aufklärerischer Doktrinen „um einige grundlegende Prinzipien herum aufgebaut [...], als da wären: Kritik am religiösen Fanatismus, Verherrlichung der Toleranz, Vertrauen auf Beobachtung und Experiment, kritische Übeiprüfung aller Institutionen und Gebräuche, Definierung einer natürlichen Moral und schließlich Neuformulierung der politischen und sozialen Bande auf der Grundlage der Freiheitsidee." Rousseaus spannungsreiches Verhältnis zur Bewegung der Aufklärung berührt alle wesentlichen Fragen wie die Einschätzung der Bestimmungen und des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft, der Rolle der Vernunft, der Geschichts- und Fortschrittskonzeption, der Möglichkeit von Aufklärung und gesellschaftlicher Reform. Mortier (Unité ou scission, pp. 1207 ff.) warnt freilich davor, diese Gegensätze und den Konflikt zwischen Rousseau und den philosophes zu verabsolutieren: „II s'agit d'une querelle de famille, violente, farouche, déchirante, mais qui n'exclut pas l'accord sur un certain nombre de ponts fondamentaux" (ebd., p. 1215).
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
Philosophie hineinführt. Deshalb soll es im folgenden näher in den Blick genommen werden (IV. 1), bevor anschließend auf seine Analyse der internationalen Beziehungen eingegangen wird.
IV. 1 Rousseaus politische Theorie zwischen Gesellschaftskritik und Philosophie der Freiheit ,L'homme est né libre, et par-tout il est dans les fers." (J.-J. Rousseau, 1762)
Die Schwierigkeit hinsichtlich der Bestimmung von Rousseaus Verhältnis zur Aufklärung läßt sich gleichsam exemplarisch aufzeigen, wenn man in vergleichender Perspektive einen kurzen Blick auf das Leben und das Werk Saint-Pierres und Rousseaus wirft. Auf der einen Seite ist nämlich eine ganze Reihe von Berührungspunkten zwischen beiden Denkern zu bemerken. Wie sich die Lebenszeit Rousseaus und Saint-Pierres beträchtlich überschneidet - ersterer ist 31 Jahre alt, als der letztere stirbt - , so überschneiden sich auch ihre Lebenskreise und Tätigkeitsbereiche in mehrfacher Weise: Der junge Rousseau begegnet dem alten Saint-Pierre in der Welt der Pariser Salons, er bewegt sich eine Zeitlang im Kreis derjenigen Personen, in dem sich auch Saint-Pierre bewegt hatte, er setzt sich ausführlich mit dessen Werk auseinander, und in gewisser Weise kann Rousseau bei alldem persönlich und theoretisch als einer der prominentesten Repräsentanten der auf Saint-Pierre folgenden, das 'aufklärerische Projekt' fortsetzenden Generation von Philosophen des Siècle des Lumières angesehen werden. Und obgleich Rousseau am Ende „in allen Punkten dem zu widersprechen [scheint], was als wesentlich hervorgehoben" wird, wenn man von aufklärerischem Denken spricht, so daß man meinen könnte, er „sei gar kein Aufklärer, sondern ein Gegner der Aufklärung gewesen",3 so dürfen doch die Differenzen, die ihn von der allgemeinen Bewegung trennen, den Blick auf die gemeinsamen - wo nicht Lösungen, so doch zumindest - Problem- und Fragestellungen nicht verdecken.4 Und dennoch scheint auf der anderen Seite der Übergang von Saint-Pierre zu Rousseau einen Sprung ins entgegengesetzte Extrem der Aufklärung zu bedeuten. Bei allen Momenten der Kontinuität zwischen beiden scheint es doch keinen größeren Gegensatz zu geben als den zwischen dem euphorischen Vertreter der Frühaufklärung einerseits, dem skeptischen Horkheimer, Geschichte der neueren Philosophie, S. 377 u. 378, der die von den Verfechtern dieser Auffassung vorgebrachten Gründe referiert: „Er war gegen rationale Wissenschaft und für das Gefühl, für die Einfalt gegen die Erkenntnis, er glaubte nicht an den Naturzustand als einen schlechten, sondern an die ursprüngliche Güte und Vorzüglichkeit des Menschen, daher faßte er auch die Geschichte wesentlich nicht als Überwinderin, sondern als Urheberin des Übels, er haßte die Zivilisation und liebte die Primitivität, die Romantik hat ihn auf den Schild gehoben, im gleichen Augenblick, in dem sie alle übrige Aufklärung bekämpfte und Gift und Galle gegen Voltaire spie" (ebd., S. 377). Einen neueren Versuch, Rousseau als Gegenaufklärer auszumachen, unternimmt Garrard, Rousseau, Maistre, and the Counter-Enlightenment, pp. 97 ff. Daran erinnert Belissa, Fraternité universelle, p. 11: „Les Lumières ne font pas un 'parti'. S'il s'agit bien d'un 'monument collectif, il ne faut pas oublier qu'il a été édifié au milieu des controverses."
Politische Theorie zwischen Gesellschaftskritik und Philosophie der Freiheit
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Denker der Blütezeit der intellektuellen und sozialen Kultur der Aufklärung in Paris, dem Zentrum des „Europe française" 5 in der Mitte des 18. Jahrhunderts, andererseits. Die Differenz zwischen Saint-Pierre und Rousseau beginnt bereits hinsichtlich ihrer persönlichen Lebensführung und bei ihrem Auftreten. 6 Während Saint-Pierre die Nähe zu den politisch und intellektuell führenden Kreisen gesucht und sich Zeit seines Lebens in ihnen bewegt hat, ist diese Lebensweise bei Rousseau ein vor allem auf die vierziger und die erste Hälfte der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts beschränktes Bemühen gewesen, als er „sich in dem geradezu hektischen Bemühen [verzehrte], in der Pariser gehobenen Gesellschaft, in ihren Salons und literarischen Zirkeln Fuß zu fassen und zu Ansehen zu gelangen". 7 Eine grundlegende Änderung vollzog sich im Gefolge jener schweren Krise, die ihren Höhe- und Wendepunkt in jenem berühmten, von Rousseau wiederholt dramatisch beschriebenen Erweckungserlebnis hatte, als er auf dem Weg von Paris nach Vincennes zu einem Besuch des dort inhaftierten Diderot die Ausschreibung der Akademie zu Dijon las, die ihn zu seiner ersten Abhandlung über den Niedergang der Kultur angeregt habe: „A l'instant de cette lecture je vis un autre univers et je devins un autre homme". 8 Auch wenn diese Abwendung von der Gesellschaft noch nicht unmittelbar eintrat, sondern Rousseau aufgrund seines beginnenden literarischen Ruhmes erst einmal einen Erfolgszug durch die Salons antrat, bevor es dann aufgrund „jener zweiten Krise [um 1755] [...] zu seinem endgültigen Bruch mit dem kulturellen System des alten Frankreich" - einschließlich der 'neuen' philosophes - kam 9 : Hier begann der Prozeß, in dem er sich dieser Kultur nicht nur persönlich immer stärker entfremdete, sondern sie vor allem theoretisch einer rückhaltlosen Kritik unterwarf und sich ihr schließlich ganz entzog. 10 Rousseaus Verhältnis zur 'modernen' Zivilisation mit ihrer Dynamik der ständig anwachsenden Bedürfnisse, des Luxus und der 'künstlichen', verfeinerten Sitten stellt sich spätestens seit der Veröffentlichung des Discours sur les sciences et les arts in theoretischer Hinsicht, im Verlauf der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts dann zunehmend auch in lebenspraktischer Hinsicht als ein wesentlich kritisches, negatives dar, da sie als eine Welt erscheint, die es strikt abzulehnen gelte.
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So Pomeau, L'Europe des Lumières, pp. 57 ff., der erklärt: „Par sa capitale, par sa vie sociale, par sa culture, la France rayonnait sur l'Europe et le monde" (ebd., p. 59). Freilich können im Siècle des Lumières die Formen des Lebens und der Kommunikation nicht vom Ganzen des politischen und gesellschaftstheoretischen Denkens abgelöst werden, da die Aufklärungsbewegung sich selbst wesentlich als Gestalt einer spezifischen Lebensweise und Kommunikationsform innerhalb eines neuen institutionellen Rahmens begründet, der die aktive Mitwirkung in diskutierenden Zirkeln und Salons bis hin zur räsonierenden Öffentlichkeit umfaßt: „Nicht Denken des Denkens, sondern soziales Verhalten des Denkens ist struktives Prinzip aufklärerischer Intellektualität, welches diese zusammenhält" (Schräder, Soziabilitätsgeschichte der Aufklärung, S. 185; zur Aufklärung als „système culturel" vgl. Roche/Ferrone, Historiographie des Lumières, pp. 553 ff., sowie Chartier, Die kulturellen Ursprünge). Schwan, Politische Theorien, S. 220. Rousseau, Confessions, livre VIH, p. 351 - Rousseau hat dieses Erlebnis mehrfach ausführlich und in den leuchtendsten Farben beschrieben; vgl. vor allem den zweiten der Quatre Lettres à Malesherbes vom 12. Januar 1762, pp. 1135 f. Darnton, Rousseau in Gesellschaft, S. 111. Vgl. hierzu Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, S. 10 ff. - Freilich betrifft diese Abwendung nur die aktive Partizipation Rousseaus: seine negative Beziehung auf die bestehende und die sich entfaltende Kultur der Aufklärung und die bürgerliche Gesellschaft bleibt bestehen und bildet weiterhin den Kern seiner kritischen Analyse des historisch-gesellschaftlichen Prozesses und ihrer Resultate.
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Aus dieser komplizierten Stellung Rousseaus zu den gesellschaftlichen und geistigen Entwicklungen seiner Zeit ergeben sich Konsequenzen, die für die irritierende Komplexität und Widersprüchlichkeit des politischen und gesellschaftskritischen Denkens Rousseaus insgesamt verantwortlich sind. 11 Im folgenden sollen deshalb, bevor näher auf die Rolle SaintPierres für Rousseaus Entwicklung einerseits (IV. 1.2), auf seine Stellung zur Problematik der Sphäre internationaler Beziehungen und ihrer Verrechtlichung eingegangen wird (IV.2 bis IV.5), zumindest die Umrisse der systematischen und politisch-praktischen Positionen seiner politischen Theorie aufgezeigt werden (IV. 1.1). Erst vor diesem Hintergrund nämlich wird seine im Vergleich mit Saint-Pierre in kritisch-analytischer wie in normativer Hinsicht sehr viel kompliziertere und uneinheitlichere Stellung zur Frage der Einrichtungen von Rechtsverhältnissen zwischen Staaten verständlich und angemessen einzuschätzen sein.
IV. 1.1
Gesellschaftskritik, Geschichtspessimismus und die Möglichkeit der Politik: Rousseau und die Aufklärung
Gleich mit seiner ersten Schrift, mit der Rousseau als Analytiker der zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgetreten ist, hat er die Kluft, die ihn von der durch Saint-Pierre repräsentierten Position der Aufklärung trennt, deutlich markiert. Während für diese der Prozeß der Aufklärung, die Entfaltung der modernen Wissenschaften und die fortschreitende Zivilisierung des gesellschaftlichen Lebens einen untrennbaren Zusammenhang bilden, so scheint genau dies für Rousseau zu den ebenso verbreiteten wie verhängnisvollen „préjugés de [s]on siècle" zu zählen. 12 Für ihn gilt, wie er in seiner ersten, weithin Aufsehen erregenden Abhandlung von 1750 erklärt, nicht nur, daß „le progrès des sciences et des arts n'a rien ajoûté à nôtre véritable félicité", 13 sondern umgekehrt sei es eben dieser Fortschritt gewesen, der ursächlich zum Niedergang der Sitten beigetragen habe. Weit davon entfernt, bestehende Formen gesellschaftlicher Unfreiheit und Ungleichheit aufzuheben und zur Befreiung der Menschen zu führen, befördern „les Lumières dont notre siècle se glorifie" lediglich „la dissolution et l'esclavage" 14 : „les Sciences, les Lettres et les Arts, moins despotiques et plus puissans [que le gouvernement et les loix; O.A.] peut-être, étendent des guirlandes de fleurs sur les chaînes de fer dont ils [les hommes; O.A.] sont chargés, étouffent en eux le sentiment de cette liberté originelle pour laquelle ils sembloient être nés, leur font aimer leur esclavage et en forment ce qu'on appelle des Peuples policés. Le besoin éleva les Trônes; les Sciences et les Arts les ont affermis. [...] Peuples policés, cultivez-les: Heureux esclaves, vous leur devez ce goût délicat et fin dont vous vous piquez; cette douceur de caractère et cette urbanité de mœurs qui rendent parmi vous le
Nicht umsonst hat Diderot Rousseau als Exempel für den Stil eines aufklärerischen Moralisten betrachtet, der, anders als Geometer wie d'Alembert oder Naturgeschichtler wie Buffon, vehement und leidenschaftlich argumentiere und sich weniger um Logik oder Stringenz kümmere: „il touche, il trouble, il agite, il incline à la tendresse, à l'indignation, il élève ou calme les passions" (Diderot, Réfutation d'Helvétius, p. 588). Rousseau, Préface à Narcisse, p. 962. Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, p. 28. Ebd., pp. 11 u. 15.
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commerce si liant et si facile; en un mot, les apparances de toutes les vertus sans avoir aucune."15
Dieser Zusammenhang, den Rousseau zwischen der Entwicklung der Wissenschaften und der durch sie erzeugten Kultur einerseits, dem Niedergang von natürlicher Freiheit und Sitten andererseits feststellt, ist für ihn keine zufällige Koinzidenz, sondern seiner Ansicht nach besteht eine Kausalität zwischen beiden Phänomenen. Es handele sich hierbei um eine „liaison nécessaire", 16 eine Verbindung, die für die Individuen wie für die gesamte Gesellschaft gleichermaßen Gültigkeit besitzt, und zwar jeweils mit denselben fatalen Konsequenzen für die Tugend der Bürger wie für die Sittlichkeit des Gemeinwesens. Dementsprechend kann er den von ihm behaupteten Zusammenhang zwischen wissenschaftlich-zivilisatorischem Fortschritt und moralischem Niedergang mit solchen naturgesetzlicher Kausalität vergleichen: „L'évélation et l'abbaissement journalier des eaux de l'Océan n'ont pas été plus régulièrement assujetis au Cours de l'Astre qui nous éclaire durant la nuit, que le sort des mœurs et de la probité au progrès des Sciences et des Arts. On a vu la vertu s'enfuir à mesure que leur lumiere s'élevoit sur notre horizon, et le même phénoméne s'est observé dans tous les tems et dans tous les lieux."17
Aufklärung, Wissen und Wissenschaften sind für Rousseau also nichts, was dazu beigetragen hätte, die Menschheit aus einem Stadium ihrer Entwicklung herauszuführen, in dem sie noch unaufgeklärt, blind und unwissend und deshalb den Zwängen natürlicher und gesellschaftlicher Gewalten unterworfen gewesen war. Vielmehr ist es genau umkehrt gerade der ursprüngliche Zustand, der dem aufgeklärten vorzuziehen ist, da in ihm die Menschen noch nicht durch die - gesellschaftlich allererst erzeugten - Leidenschaften, Bedürfnisse und Ideen korrumpiert seien. Rousseau hält dem Ideal der zivilisierten Welt der Moderne „l'image de la simplicité des premiers tems" entgegen, einer Zeit, in welcher „les hommes innocens et vertüeux" gewesen seien und diese Unschuld und Tugend noch nicht gegen die Trugbilder vermeintlichen Wissens, gesellschaftlicher Werte und verfeinerter Sitten eingetauscht hätten. 18 Diese Konzeption untermauert Rousseau 1755 in seinem Discours sur l'origine et les fondemens de l'inégalité parmi les hommes, in dem er eine Begründung für die hier kritisierten Tendenzen zu liefern versucht, indem er sie als Resultat der auf die Einführung des Privateigentums zurückgehenden gesellschaftlichen Ungleichheit darstellt: 19 Die Dynamik der Konkurrenzgesellschaft führt zur Entfremdung von den natürlichen Ursprüngen des menschlichen Lebens, und alle kulturellen und sozialen Errungenschaften dienen nur mehr dazu, diesen Entfremdungsprozeß zu beschleunigen und zu vollenden.
Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, p. 7. Rousseau, Préface à Narcisse, p. 965. Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, p. 10. Ebd., p. 22. Zu Rousseaus Bild des Menschen im 'reinen Naturzustand', wie er es dann vor allem in seinem Discours sur l'inégalité weiter ausführt, vgl. Müller, Anthropologie und Geschichte, S. 49 ff. Diese gesellschaftskritische Verankerung seiner kultur- und zivilisationskritischen Thesen skizziert er Ende 1751 in den 'Observations de Rousseau', pp. 49 f. („La première source du mal est l'inégalité; de l'inégalité sont venues les richesses [...]. Des richesses sont nés le luxe et l'oisiveté; du luxe sont venus les beaux Arts, et de l'oisivité les Sciences"), oder in der 1752 publizierten 'Demier Reponse', p. 80, bevor er sie ausführlich im zweiten Teil seines 'Discours sur l'inégalité', pp. 164 ff., entwickelt.
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Diese wenigen Bemerkungen zeigen bereits, daß eine klarere Gegenposition zu den Überzeugungen des Abbé de Saint-Pierre - und mit ihm jener der breiten Hauptströmung der französischen Aufklärung - kaum denkbar ist.20 Im Gegensatz zu der bei Saint-Pierre entwickelten und im Zeitalter der Aufklärung dominant gewordenen Auffassung, nach welcher die aufgeklärte Vernunft und die durch sie geleitete Wissenschaft einen unverzichtbaren Beitrag zum historischen Fortschritt der Menschheit aus primitiven, durch die Übermacht blinder Naturmächte gekennzeichneten Anfängen leisten, zeichnet Rousseau ein überaus pessimistisches Bild des geschichtlichen Entwicklungsprozesses und der Rolle, die Vernunft und Wissenschaft in ihm spielen. Er entwirft gleichsam eine negative Geschichtsphilosophie, der zufolge die Menschen, einmal aus dem natürlichen Zustand tugendhafter, weil wesentlich selbstgenügsamer und noch nicht unter dem Diktat der Akkumulation von Mitteln sozialer Herrschaft und Konkurrenz unterworfener Existenz herausgetreten sind, das Gegenteil eines vernunftgemäßen Bildungsprozesses durchlaufen: „Die Geschichte bewegt sich nicht auf die Vernunft zu. Rousseau verschärft diese These: die bewegenden Kräfte der Geschichte erzwingen eine Evolution des Unrechts und des Elends, die eigenen, durch die Umstände determinierten Handlungen der Menschen führen sie zwangsläufig den Weg hinab vom goldenen ins eiserne Zeitalter. Die Wirklichkeit [...] entwickelt eine eigene Dynamik des Niedergangs."21
Rousseau zeichnet somit das Bild einer historischen Entwicklungsdynamik, das quer steht zu der gesamten Tradition des neuzeitlichen politischen und naturrechtlichen Denkens, das insbesondere Saint-Pierres Bild eines geschichtsphilosophischen Fortschritts vom 'eisernen' zum 'goldenen' Zeitalter wie auch den Fortschrittshoffnungen der Aufklärungsphilosophie insgesamt diametral entgegengesetzt ist.22 Wenn Rousseau erklärt, das „système", das seinem gesamten Werk zugrunde liege, basiere auf dem „grand principe que la nature a fait l'homme heureux et bon mais que la société le déprave et le rend miserable",23 so vollzieht
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Was Saint-Pierre anbetrifft, so lassen sich die Differenzen bis in Details hinein verfolgen. Wenn Saint-Pierre die zivilisatorische Bedeutung des Buchdrucks hervorhebt (vgl. oben, S. 63 f.), so unterstreicht er damit die zentrale Rolle, die der Schrift und der Möglichkeit ihrer technischen Reproduzierbarkeit und Verbreitung innerhalb der Aufklärung zugesprochen wurde (vgl. hierzu Lotterie, Les lumières contre le progrès?, p. 388 f.). Rousseau hingegen möchte genau diese Entwicklungen aufgrund ihrer tiefgreifenden Konsequenzen am liebsten wieder rückgängig gemacht sehen: „A considérer les desordres affreux que l'Imprimerie a deja causés en Europe, à juger de l'avenir par le progrès que le mal fait d'un jour à l'autre, on peut prévoir aisement que les souverains ne tarderont pas à se donner autant de soins de bannir cet art terrible de leurs Etats, qu'ils en ont pris pour l'y établir" (Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, p. 28, Anm.). Vgl. auch Rousseau, Rousseau juge de Jean-Jacques, p. 672.
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Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, S. 47. Vgl. hierzu oben, S. 58 f. Freilich ist diese Entgegensetzung nicht unproblematisch, denn wie schon SaintPierre, so sehen auch 'fortschrittsoptimistische' Vertreter der Aufklärung wie Diderot, Grimm, Buffon oder Condorcet den sich vollziehenden Fortschritt stets als prekär und von Rück- oder Umschlägen bedroht an, denn „le temps, où s'enracine l'expérience humaine, est aussi le lieu catastrophique de l'excès, de la digue ouverte" (Lotterie, Les Lumières contre le progrès?, p. 394). Insofern artikuliert Rousseau einen der Aufklärung selbst immanenten Aspekt in seiner extremsten Gestalt, während ihre 'optimistischeren' Vertreter mit ihrer „condamnation de Rousseau, [...] ont sans doute exorcisé une part de leur mauvaise conscience" (ebd., p. 395). Rousseau, Rousseau juge de Jean-Jacques, p. 934. - Diese Einheit betont Rousseau bereits 1762 in seinem 'Lettre à Beaumont', pp. 928, 933, 935 f.
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er eine vollständige Umwertung im Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft, eine Umwertung, wie sie radikaler kaum sein könnte. Der ursprüngliche, als 'natürlich' qualifizierte Zustand gilt schließlich in der Tradition der modernes gerade als ein solcher, der das Gegenbild zum Zustand des gesellschaftlichen, 'zivilisierten' Lebens mit seinen politischen und sozialen Einrichtungen und Verhaltensprinzipien bildet, und zwar ganz gleich, ob er nun als hypothetischer oder als realgeschichtlicher Naturzustand angesehen wird, ob er als rein negativer, als a-sozialer, oder ob er als ein solcher entworfen wurde, aus dem sich die positiven Bestimmungen und Maßstäbe individuellen und gesellschaftlichen Lebens herleiten lassen. Nirgends wird in der modernen politischen Philosophie die prinzipielle Notwendigkeit und Wünschbarkeit des Ausgangs aus dem Zustand der 'ersten Natur' dergestalt in Frage gestellt wie bei Rousseau. Es ist dieser Umstand, daß bei Rousseau der herrschende Geist des Jahrhunderts so deutlich negiert und als Schein und Trugbild denunziert wird, der dazu führt, daß das Erscheinen des Discours sur les Sciences et les Arts 1750 die heftigsten Reaktionen auslöst und gleich Dutzende von empörten Protesten, Pamphleten und Widerlegungsversuchen in Frankreich und ganz Europa nach sich zieht.24 Diese Reaktionen veranlassen Rousseau wiederum zu einer Reihe von erläuternden Erwiderungen, in denen er seine zunächst eher plakativ und provokativ vorgetragenen Thesen zunehmend differenziert und weiterentwickelt,25 ohne ihnen jedoch die Schärfe zu nehmen, sie in gesellschaftskritischer Hinsicht vielmehr noch steigernd. Bis in seine spätesten Schriften hinein bleibt es jedoch bei der prinzipiellen Überordnung der Natur und des von ihr angeleiteten Lebens - „Tous les premiers mouvemens de la nature", so schreibt Rousseau etwa noch 1776, „sont bons et droits. Ils tendent le plus directement qu'il est possible à notre conservation et à notre bonheur" - über die menschliche Gesellschaft, in welcher „la foule des passions et des préjugés qu'elle engendre a fait prendre le change à l'homme, et [...] les obstacles qu'elle entasse l'ont détourné du vrai but de notre vie".26 Dies macht nachvollziehbar, warum man in Rousseau oftmals weniger einen Vertreter der Aufklärung als einen exponierten Verfechter der wissenschafts- und zivilisationskritischen Gegenaufklärung hat sehen wollen, der angesichts der Prozesse der Moderne erkannt habe, „daß das moderne Wagnis ein radikaler Irrtum war."27
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Die Reaktionen reichten von seriösen Entgegnungen über die bissigen Kommentare eines Voltaire - der zum zweiten Discours schrieb: „On n'a jamais tant employé d'esprit à vouloir nous rendre Bêtes. Il prend envie de marcher à quatre pattes quand on lit votre ouvrage" (Voltaire, Lettre à Rousseau, 30. August 1755, p. 1379) bis hin zur unfreiwilligen Komik von Veranstaltungen wie jener an der Universität Leipzig, wo man unter der Ägide Gottscheds die Wissenschaften gegen Rousseau in Schutz nahm und - wie dieser 1753 zu zitieren sich nicht entgehen läßt - erklärte, ein wiedergeborener Sokrates würde jetzt, über den an der Leipziger Universität sichtbaren Fortschritt der Wissenschaften von Staunen ergriffen, sich bescheiden unter ihre Studentenschaft mischen und aufmerksam den Lektionen der Professoren folgen (Rousseau, Préface à Narcisse, p. 960, Anm.).
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Im Nachgang zu seinem ersten Discours hat Rousseau, der binnen kurzem rund siebzig Erwiderungen erhalten hatte, mehrere Antworten verfaßt und seine Studien und Argumente bis zur Abfassung des Discours sur l'inégalité weitergetrieben. Rousseau, Rousseau juge de Jean-Jacques, pp. 668 u. 669. Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 263. - Fontius faßt diese 'gegenaufklärerische' Lesart folgendermaßen zusammen: „Das Lob der 'glücklichen Unwissenheit', die Absage an den Glauben, daß der 'Fortschritt der Wissenschaften und der Künste' unweigerlich einen Fortschritt für die Menschheit bedeute, das Plädoyer für eine strenge Begrenzung wissenschaftlicher Forschung auf eine Elite und die Ablehnung aufklärerischpopulärwissenschaftlicher Anstrengung, kurz, all jene Gedanken, mit denen Rousseau in der Abhandlung über
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Eine solche pointierte Lesart würde freilich den argumentativen Status der gesellschaftskritischen, wesentlich polemischen Entgegensetzung von Natur und Gesellschaft im Werk Rousseaus übersehen. Denn unverkennbar richtet sich seine Polemik gegen die moderne Wissenschaft und Zivilisation in erster Linie gegen ihre Erscheinungsformen, wie sie ihm in der Mitte des 18. Jahrhunderts vor Augen standen, und zwar sowohl auf seiten der herrschenden Eliten in Politik und Gesellschaft als auch der in Opposition zu ihnen stehenden philosophes.28 Bereits in der weiter oben zitierten Passage29 hatte Rousseau davon gesprochen, daß es die zeitgenössische Kultur mitsamt ihren aufgeklärten und verfeinerten Sitten vor allem dazu gebracht habe, daß den Menschen ihre tatsächliche Knechtschaft und ihre reale Entfremdung von ihrer natürlichen Bestimmung, ihren Möglichkeiten und Potentialen verschleiert worden ist, so daß sie ihnen als Handlungs- und Lebensperspektive erst gar nicht mehr in den Blick kommen. Ebensowenig bekommen sie jedoch - und diesen Punkt rückt Rousseau in der Folgezeit immer stärker ins Zentrum - jene gesellschaftlichen Gruppen in den Blick, die aufgrund ihres Interesses an der Aufrechterhaltung von Verhältnissen gesellschaftlicher Ungleichheit, Herrschaft und Ausbeutung von dieser Situation profitieren. In diesem Sinne wendet sich Rousseau nicht gegen die Außclärung als solche, sondern plädiert gerade vermittels seines Protests gegen ihre zeitgenössische Gestalt für ihre Radikalisierung: Aufklären, ins Licht rücken und damit der Möglichkeit einer klaren Erkenntnis, Kritik und schließlich auch Veränderung zugänglich machen will er eben jene negative Dynamik des 'Verfalls', des 'Niedergangs' der individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen der virtu und des 'natürlichen', nicht durch die Imperative des kritisierten gesellschaftlichen Zusammenhangs von Herrschaft und Ausbeutung zugerichteten Lebens. Ins Bewußtsein rufen will er folglich die Verlustgeschichte, welche sich hinter dem Siegeszug des vermeintlich erfolgreich vollzogenen und tendenziell unendlich fortschreitenden wissenschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritts verbirgt. Vor diesem Hintergrund gesehen, enthält die schneidende Ironie der fulminanten Eröffnungspassage des ersten Discours zugleich eine praktisch-kritische Spitze: „C'est un grand et beau spectacle de voir l'homme sortir en quelque maniéré du néant par ses propres efforts; dissiper, par les lumières de sa raison, les ténébres dans lesquelles la nature l'avoit enveloppé; s'élever au-dessus de soi-même; s'élancer par l'esprit jusques dans les régions célestes; parcourir à pas de Géant ainsi que le Soleil, la vaste étendu de l'Univers; et, ce qui est encore plus grand et plus difficile, rentrer en soi pour y étudier l'homme et connoître sa nature, ses devoirs, et sa fin."30
Worauf Rousseau an dieser Stelle jenseits des ironischen Lobes für den in seinen Augen katastrophale Folgen zeitigenden Zivilisationsprozeß implizit verweist, ist das gewaltige Mißverhältnis, das zwischen den Möglichkeiten und der Energie, die die Menschen auf die Erforschung der physischen und der moralischen Welt angewandt haben, und seinem Resultat
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die Wissenschaften und die Künste sein Jahrhundert herausforderte und so zu einer europäischen Berühmtheit wurde, sie liefen, wenn man sie ernst nahm, auf Gegenaufklärung hinaus" (Fontius, Von akademischen Preisschriften, S. 18). Die unterschiedlichen Gestalten und Stilisierungen Rousseaus zeigt Forschner, Die Stadt der Philosophen, S. 165 ff. Vgl. die oben, S. 188 f., zitierte Passage aus Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, p. 7. Ebd., p. 6.
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hinsichtlich der Qualität des individuellen und gesellschaftlichen Lebens besteht. Es deutet sich hier an, was Rousseau in der Folgezeit immer wieder seinen Kritikern entgegengehalten und ins Zentrum seiner Erwiderungen gestellt hat: daß es ihm weniger um Aussagen über die Bedeutung und die Nützlichkeit der kulturellen Fortschritte und vor allem der Wissenschaft 'an sich' gehe. Dies will er gar nicht bestreiten, sondern erklärt, die Wissenschaft sei „très bonne en soi, cela est évident; et il faudrait avoir renoncé au bon sens, pour dire le contraire".31 Es geht vielmehr darum, jenen faktischen 'Verhängniszusammenhang' herauszustellen, den Geschichte, sozioökonomische Herrschaftsverhältnisse und kultureller und wissenschaftlicher Fortschritt bisher erzeugt und stetig verstärkt haben. Kritisiert wird demzufolge in erster Linie der Herrschafts- und Legitimationscharakter der Wissenschaften, der Umstand, daß sie die Menschen davon abhält, ihre fundamentalen Pflichten und Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen. Dazu aber sind die wissenschaftlichen und zivilisatorischen Entwicklungen bisher nicht hilfreich, sondern nur hinderlich gewesen, bedarf es hierzu doch nach Rousseau nur der Besinnung auf die Tugend, wie sie in den Herzen aller Menschen eingeschrieben sei; für deren Erkenntnis aber gilt, daß „chacun a reçu toutes les lumières dont il a besoin".32 Insofern die Wissenschaften dazu beigetragen haben, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein solches tugendhaftes Leben zu zerstören, kann die Veränderung der bestehenden Verhältnisse nur dadurch erreicht werden, daß der allgemeine Rahmen, innerhalb dessen sich der Aufklärungs- und Zivilisationsprozeß bisherig vollzogen hat, verwandelt wird. Nur ein solcher Wandel könne die möglichen positiven Wirkungen, die ein aus dem durch Vernunft und Wissenschaft beförderter Ausgang aus der natürlichen 'ignorance heureuse' mit sich bringen mag, freizusetzen. Insofern verweist Rousseaus geschichtsphilosophische Kritik des Zivilisationsprozesses unmittelbar auf die Frage nach einer möglichen Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen. Von Anfang an also kreist Rousseaus Denken um die Möglichkeit politischen Handelns, um Fragen wie die nach der Legitimation und der Bestimmung der 'richtigen' Gestalt und Zweckbestimmung politischer Einrichtungen, so daß die Tugend und die Freiheit der Individuen in einem angemessenen Verhältnis zu jenen politischen Institutionen und Verfahren stehen, in denen und durch die sie sich zuallererst realisieren lassen. Die Methoden, Frageund Problemstellungen, mit denen Rousseau sich dieser Problematik nähert, sind dabei ebenso vielfältig wie die Resultate und Perspektiven, die sich für ihn daraus ergeben. Und mehr noch: wie Rousseaus Einschätzung von Bedeutung und Funktion der modernen wissenschaftlich-zivilisierten Kultur zeigt, scheinen sie oft in einem solchen Maße voneinander
Rousseau, Observations de Rousseau, p. 36. Ebd., p. 37. Vgl. in diesem Sinne den pathetischen Schluß von Rousseaus erster Abhandlung: „O vertu! Science sublime des ames simples, faut-il donc tant de peines et d'appareil pour te connoitre? Tes principes ne sont-ils pas gravés dans les cœurs, et ne suffit-il pas pour apprendre tes Loix de rentrer en soi-même et d'écouter la voix de sa conscience dans le silence de ses passions?" (Discours sur les sciences et les arts, p. 30). Dementsprechend sollte Rousseau zufolge die Kenntnis der Wissenschaften idealerweise nur kleinen Eliten, wenigen 'großen Männern' vorbehalten bleiben, da sie auf die Normalsterblichen nur verwirrend wirke und fatale, von der wahrhaften Tugend ablenkende Konsequenzen zeitige. Denn die Wissenschaft „n'est point faite pour l'homme en général", da dieser nicht zum Denken geboren sei: ,,L'étude corrompt ses mœurs, altère sa santé, détruit son tempéramment, et gâte souvent sa raison". Nur dann, wenn alle Menschen Weise wie Sokrates wären, könne man sagen, „la science alors ne leur seroit pas nuisible, mais ils n'auroient aucun besoin d'elle" ('Préface à Narcisse', pp. 970 u. 971).
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Herrschaft des G e s e t z e s und internationaler Naturzustand bei R o u s s e a u
abzuweichen, widersprüchlich und miteinander unvereinbar zu sein, daß es nicht verwundert, daß die Einheit seines Werks mehr als einmal in Frage gestellt worden ist.33 Auf diese Frage, der Rousseau sich selbst schon gestellt und mit dem Hinweis auf das „System", das allen seinen Schriften zugrunde liege, zu beantworten gesucht hat,34 kann an dieser Stelle nicht eigens eingegangen werden. Worauf freilich nicht verzichtet werden kann, ist der Versuch, zumindest skizzenhaft aufzuzeigen, wie sich diese Komplexität im Hinblick auf die wesentliche Frage nach Status, Funktion und praktischer Bedeutung politischer Erkenntnis darstellt. Wichtig nämlich für das Verständnis von Rousseaus politischer Theorie im allgemeinen, dann aber auch seiner Überlegungen zur Regulierung der internationalen Beziehungen im besonderen, ist die Einsicht, daß die unterschiedlichen methodischen Ansätze, Konzeptionen und Schlußfolgerungen, die er in diesem Zusammenhang seinen Interpreten darbietet, nicht etwa in seinem 'subjektiven Unvermögen' gründen; sie verweisen auf Dimensionen und Tiefenschichten, die der modernen Gesellschaft immanent sind und keine einfache, 'widerspruchsfreie' Auflösung zulassen, so daß, worauf schon Cassirer hingewiesen hat, die vermeintlich 'subjektiven' Probleme Rousseaus stets „eine objektive Problematik vor uns hinstellen".35 Schon im ersten Discours, der in polemischer, eher durch rhetorischen Überzeugungswillen als durch analytische Schärfe geprägten Kritik der verderblichen Rolle von Wissenschaft und Zivilisation in der modernen Gesellschaft nachspürt, hat Rousseau versucht, die Aussicht auf einen Ausweg aus dem Dilemma der von ihm behaupteten, unvermeidlich scheinenden, weil einander wechselseitig verstärkenden Faktoren des Niedergangs von Kultur, Gesellschaft und individueller Tugend anzudeuten, indem er wissenschaftliche Erkenntnis an die Durchsetzung einer alternativen Form gesellschaftlichen Zusammenlebens bindet. Dadurch nämlich verknüpft er ihre Bedeutung ebenso, wie es bei Saint-Pierre der Fall gewesen ist, mit der Realisierung bestimmter gesellschaftlicher und individueller Zwecke, denn ,,[e]n politique, comme en morale, c'est un grand mal que de ne point faire de bien".36 In einer Konstruktion, die Piatons Bild des Philosophenkönigs abgeschaut ist, entwirft er hier eine positiv bewertete Rolle der Wissenschaft, insofern sie sich der Macht beigesellt und diese dabei berät, das Gemeinwesen zu leiten und zur Verwirklichung des Glücks der Völker - zur ,J>onheur des Peuples" - beizutragen. „C'est alors s e u l e m e n t q u ' o n verra c e que peuvent la vertu, la s c i e n c e et l'autorité animées d ' u n e noble émulation et travaillant de concert à la félicité du Genre-humain. M a i s tant que la p u i s s a n c e sera seule d'un côté; les lumières et la sagesse seules d ' u n autre; les savans pense-
So hat sich nach Brandt etwa in der Mitte der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts ein fundamentaler Bruch in Rousseaus Entwicklung vollzogen, so daß der Contrat social völlig unabhängig von der geschichtsphilosophischen Analyse der beiden Discours gesehen werden müsse (Brandt, Rousseaus politische Philosophie, v. a. S. 53-69), während Forschner (Rousseau, S. 20 f., 56 f. u. ö.) von einer prinzipiellen Einheit und Kontinuität ausgeht. Vgl. zu dieser Frage bereits Lanson, L'unité de la pensée. Vgl. die oben, S. 190 f., zitierte Antwort Rousseaus (Rousseau juge de Jean-Jacques, p. 934) auf Einwände, man finde in seinen Schriften „des idées et des maximes très paradoxes, [...] des inégalités, même des contradictions" (ebd., p. 932). Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, S . l l . Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, p. 18.
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ront rarement de grandes choses, les Princes en feront plus rarement de belles, et les Peuples continueront d'être vils, corrompus et malheureux." 37
Auch wenn auf diese Weise der Niedergang der Sitten und der Verlust der natürlichen Unschuld und Tugend nicht mehr wettgemacht werden können: Immerhin sollte es dadurch, so Rousseau, einem Solon, einem weisen Gesetzgeber, möglich sein, diesem Prozeß dadurch Einhalt zu gebieten, daß er die für die spezifische Situation von Ort und Zeit je angemessensten politischen Einrichtungen und Gesetze gibt. 38 Die Wissenschaften und die Künste erhalten dabei gleichsam die Gelegenheit, einen kleinen Ausgleich für ihren aktiven Beitrag zum historischen Depravationsprozeß zu liefern, indem sie mit ihren 'Nichtigkeiten' die Menschen zu unterhalten und abzulenken vermögen, um sie so davon abzuhalten, „de faire le mal" und „d'occuper leur oisiveté à des choses plus dangereuses". 39 Heftig wehrt er sich zwar zeitlebens gegen den Vorwurf, Wissenschaften, Künste, Theater und andere Bildungsund Kultureinrichtungen zerstören zu wollen, doch wenn er „a toujours insisté au contraire sur la conservation des institutions existantes", so scheint der Grund dafür doch nur ein rein defensiver zu sein, da „leur destruction ne ferait qu'ôter les palliatifs en laissant les vices et substituer le brigandage à la corruption". 40 In dieser geschichtsphilosophischen Verfallsperspektive kommt deutlich zum Vorschein, warum Rousseau vielen als konservativer Denker oder gar als „philosophe antiprogressiste par excellence" erscheint. 41 Für ihn nämlich gilt als ausgemacht, daß die Menschen ebenso wie ganze Gesellschaften dann, wenn sie erst einmal 'verdorben' sind und den Zustand der ursprünglichen naiven - im Sinne einer präreflexiven - Einheit und tugendhaften Identifikation mit dem Ganzen verlassen haben, nicht mehr in ihn zurückkehren können. Auch wenn dies von Anfang an Rousseau gern unterstellt worden ist: Es gibt für ihn keine Möglichkeit eines 'Zurück zur Natur', denn ,jamais on ne remonte vers les tems d'innocence et d'égalité quand une fois on s'en est éloigné." 42 Die Aufgabe einer - sei es wissenschaftlich aufgeklärten, sei es wissenschaftlich angeleiteten - Politik, die sich dieses Geschehens bewußt und die auch willens ist, dem etwas entgegenzusetzen, kann damit offenbar nur darin bestehen, diese Entwicklung durch entsprechende Gegenmaßnahmen zu bremsen und ihr bestenfalls
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Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, p. 30. - Bemerkenswerterweise also vertritt Rousseau an dieser Stelle explizit eine politische Konzeption, die nicht auf Aufklärung und Selbstbestimmung setzt, sondern auf eine Politik des 'von oben', durch die vereinigte Kraft von Weisheit und politischer Macht letztlich autoritativ bestimmten und durchgesetzten Glücks. Die Figur des Gesetzgebers taucht auch im Contrat social (Kap. n.7, pp. 381 ff.) wieder auf; zu der problematischen Stellung dieser Figur innerhalb der Rousseauschen Konzeption, vgl. Gagnebin, Die Rolle des Gesetzgebers, S. 135 ff., Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, S. 116 ff., Forschner, Rousseau, S. 157 ff., sowie vor allem Herb, Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft, S. 158 ff. Rousseau, Préface à Narcisse, p. 972. Zu den an dieser Stelle geradezu strategisch eingesetzten Wissenschaften und Künsten als Ideologie, die, wie er in 'machiavellistischer' Manier erklärt, als 'Opium für das Volk' verwendet werden sollten, vgl. im Zusammenhang ebd., pp. 971 f., sowie ders., Observations de Rousseau, p. 56. Rousseau, Rousseau juge de Jean-Jacques, p. 935. So Jouvenel, Rousseau, evolutionniste pessimiste, p. 437. Rousseau, Rousseau juge de Jean-Jacques, p. 935. - Hinsichtlich dieser Unmöglichkeit für die Individuen vgl. Rousseau, Observations de Rousseau, pp. 55 f., oder ders., Economie politique, p. 260; das gleiche gilt auch für die Völker, die die einmal verlorene Freiheit und Bürgertugend nicht mehr wiedererlangen können; vgl. ders., Du contrat social, p. 387 (II.8), oder bereits ders., Préface à Narcisse, p. 971.
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Einhalt zu gebieten. Es geht nicht mehr um einen Fortschritt in Bewußtsein und Wirklichkeit der Freiheit, sondern umgekehrt darum, „[de] retarder le progrès de nos vices",43 d. h. um die Erhaltung des Status quo der jeweils herrschenden Sitten und Verhältnisse, die, auch wenn sie noch so schlecht sein mögen, immer noch besser als der Wille zur Veränderung oder gar zur Revolution sind, da diese die Übel nur verschärfen und den Niedergang beschleunigen würden.44 Rousseau, der sich als jemand versteht, „qui porte un plus vrai respect aux loix, aux constitutions nationales, et qui a le plus d'aversion pour les révolutions et pour les ligueurs de toute espèce" 45 erscheint deshalb, so Fetscher, „als ein traditionalistischer Moralist, der die verheerenden Folgen der entfesselten Konkurrenzgesellschaft erkennt und durch politische und pädagogische Mittel ihren 'Fortschritt zu verlangsamen' versucht".46 Ganz anders scheint es sich zu verhalten, wenn Rousseau in normativer Perspektive versucht, den historisch-empirisch entstandenen Gestalten politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen das Ideal einer Form politischer Vergesellschaftung entgegenzustellen, in der die Menschen als Bürger ein gänzlich neues Verhältnis zu sich und zueinander eingehen. So entwirft Rousseau im Contrat social Prinzipien des Staatsrechts, die mit der geschichtsphilosophischen Konstruktion der beiden Discours und vor allem mit der dort behaupteten Notwendigkeit des Verfalls menschlicher Tugend und verwirklichter Vernünftigkeit insofern nicht mehr in Einklang zu bringen sind, als er einen methodisch völlig anders gelagerten Standpunkt einnimmt. Nunmehr geht er nicht mehr von einer Diagnose der historischen Situation aus, sondern stellt die Frage, wie der Mensch sich als 'être moral', das heißt als freies, vernunftbegabtes Wesen, politische Einrichtungen schaffen kann, die einerseits seine physische Selbsterhaltung sichern, die ihm andererseits seine moralische Existenz als freies und sich selbst bestimmendes, sich autonom das Gesetz gebendes Wesen zu garantieren vermögen.47 Indem er auf diese Weise die institutionellen Bedingungen einer (staatsrechtlichen Verfassung aufweist, in der sich die menschliche Freiheit allererst realisieren kann, vollzieht Rousseau eine Umkehr hinsichtlich der Einschätzung des Verhältnisses zwischen Natur und Gesellschaft: es ist jetzt nicht mehr der Prozeß der Vergesellschaftung, der die In43 44
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Rousseau, Rousseau juge de Jean-Jacques, p. 935. Dasselbe Argument findet sich auch in Rousseaus Kritik des Friedensprojekts Saint-Pierres, von dem er sagt, seine gewaltsame Durchsetzung „feroit peut-être plus de mal tout d'un coup qu'elle n'en préviendroit pour des siècles" (Rousseau, Jugement sur le projet de paix, p. 600). Rousseau, Rousseau juge de Jean-Jacques, p. 935. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 254. - In diesem Sinn hat Rousseau also, worauf Fetscher damit zumindest implizit hinweist, Aspekte der Kritik des Fortschritts vorweggenommen, wie Walter Benjamin sie - wenngleich mit anderer theoretischer und politischer Stoßrichtung - vertreten hat, wenn er gegenüber je-, nen, die in vulgärmarxistischer Tradition „nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahr haben" wollen, für eine „Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt" und für einen Sprung heraus aus einer Geschichte plädiert, die „eine einzige Katastrophe [ist], die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft"; Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 699, 701 u. 697 (Thesen XI, XIII und IX); vom „Sprung" aus dem durch historische Notwendigkeit und Blindheit charakterisierten „Kontinuum der Geschichte" heraus spricht er in der XIV. These, ebd., S. 701. Zu Zusammenhang und Problematik dieser Benjaminschen Konzeption vgl. Asbach, Kritische Gesellschaftstheorie und historische Praxis, S. 293 ff. Darin liegt die doppelte Aufgabe des Gesellschaftsvertrags: „Trouver une forme d'association qui défende et protégé de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun s'unissant à tous n'obéisse pourtant qu'à lui-même et reste aussi libre qu'auparavant" (Rousseau, Du contrat social, p. 360 [1.6]).
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dividuen von ihrer ursprünglichen, 'natürlichen' Freiheit entfremdet und ihre natürliche Tugendhaftigkeit zerstört. Vielmehr gelten nun gerade umgekehrt die Vergesellschaftung und der Zusammenschluß zu einer politischen Körperschaft als Voraussetzung dafür, daß sich die Menschen der Herrschaft der blinden Natur und ihrer gesellschaftlichen Erscheinungsform in Gestalt der Herrschaft des Rechts des Stärkeren entziehen können, indem sie Verhältnisse eingehen, die ihrer Vernunftnatur angemessen sind. Hier erinnert nichts mehr an die Rede von der gesellschaftlich bewirkten Entartung des naturgemäß lebenden 'guten Wilden', sondern nunmehr erfährt man, daß es erst die gesellschaftlichen Einrichtungen sind, die aus einem „animal stupide et borné [...] un être intelligent et un homme" machen: „Ce passage de l'état de nature à l'état civil produit dans l'homme un changement très remarquable, en substituant dans sa conduite la justice à l'instinct, et donnant à ses actions la moralité qui leur manquoit auparavant. C'est alors seulement que la voix du devoir succédant à l'impulsion physique et le droit à l'appétit, l'homme, qui jusques là n'avoit regardé que luimême, se voit forcé d'agir sur d'autres principes, et de consulter sa raison avant d'écouter ses penchans." 4 8
Somit scheint Rousseau im Contrat social die Prinzipien einer politisch-gesellschaftlichen Organisationsform aufzuzeigen, die die historisch erzeugte Denaturierung der individuellen und gesellschaftlichen Existenz aufheben könnte, wie sie auf der Basis der kultur- und zivilisationskritischen Verfallsthese der ersten beiden Abhandlungen unausweichlich schien. Doch schon im Contrat social selbst konterkariert Rousseau diese vernunftrechtlich eröffnete Perspektive einer alternativen Politikkonzeption. Immer dann nämlich, wenn es um die historischen Realisationsbedingungen dieser Strukturen geht, zeigt er sich mehr als skeptisch. Denn nunmehr weist er auf, inwiefern die Verwirklichung allgemeiner Rechtsverhältnisse und die positiv-rechtliche Umsetzung des im Contrat social entworfenen droit politique in realen politischen Körperschaften für ihn der Substanz nach an historisch-konkrete Bedingungen gebunden ist wie etwa die Größe, das 'Alter', die ökonomischen oder klimatisch-geographischen Bedingungen der Völker bzw. der sich eine Verfassung gebenden Gesellschaften. Dadurch aber scheint seine Lehre vom Gesellschaftsvertrag weniger „die gemeinschaftsbildende Kraft eines formal-theoretisch begründbaren Rechts" zu propagieren, als Ausdruck der „recht- und vernunftbildende[n] Kraft der erlebten Gesellschaft" zu sein.49 Diese Feststellung ist weit weniger harmlos, als sie auf den ersten Blick zu sein scheint, kommt doch durch diese Hintertür die 'Empirie' konkreter historischer Völker in den Begründungskern der vermeintlich apriorischen, vernunftrechtlich deduzierten Bedingungen legitimer Formen politischer Herrschaft und Verwirklichung menschlicher Freiheit hinein und destruiert ihn methodisch wie auch in sachlicher Hinsicht. Es ist genau diese Stelle, an der jene geschichtsphilosophische und zivilisationskritische Perspektive mitsamt ihren Konsequenzen wieder ins Spiel kommt, die Rousseau durch den Wechsel auf die vernunftrechtliche Begründungsebene des Contrat social hinter sich gelassen zu haben schien.50 Die Folgen zeigen sich schon - und dadurch wird die Unmöglichkeit 48 49 50
Ebd., p. 364 (1.8). Forschner, Rousseau, S. 79. Es ist also nicht so, daß Rousseau nur vernunftrechtliche Prinzipien und empirische Verhältnisse ergänzen und so gleichsam die juridisch-naturrechtliche Strömung neuzeitlichen Denkens, wie sie seit Hobbes besteht, und die historisch-empirisch verfahrende, 'proto-sozialwissenschaftliche' Methode eines Montesquieu vermitteln
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einer säuberlichen Trennung von Rousseaus Denken in das des Kulturkritikers der beiden Discours und das des 'Idealisten' des Gesellschaftsvertrags deutlich - im Contrat social selbst, wenn er die Möglichkeit der Realisierung der Prinzipien legitimer Gemeinwesen auf eben jene Völker beschränkt, die ihre natürliche Freiheit und Tugend noch nicht verloren haben, Eigenschaften, die späterhin nicht mehr wiederherstellbar scheinen. 51 Damit ist nicht 'nur' der Universalitätsanspruch, der den vernunftrechtlichen Prinzipien immanent ist, aufgehoben, so daß der dadurch eröffnete Ausweg aus der historischen Verfallslogik sofort wieder negiert wird, sondern auch ihr empirischer Anwendungsbereich wird radikal reduziert. Denn die von Rousseau für notwendig erachteten Voraussetzungen sind seines Erachtens kaum noch irgendwo gegeben; nur im Befreiungskampf der Korsen und in der Idee eines strukturell reformierten Polen sieht er Chancen für eine Umsetzung von Elementen eines legitimen Gemeinwesens. 52 Doch dies sind für Rousseau nur die Ausnahmen, die die Regel bestätigen, nach welcher unter den gegebenen Verhältnissen die von ihm skizzierte Gestalt eines legitimen Gemeinwesens der geschichtlichen Wirklichkeit ohne jede ernsthafte Vermittlungs- und Verallgemeinerungsperspektive gegenübersteht. 53 Sie droht nicht nur zu einer 'reinen Idee' zu werden, die mit der Wirklichkeit durch nichts vermittelt ist, sondern zu einer, die nicht einmal eine regulative Funktion für das konkrete politisch-praktische Handeln übernehmen kann. Denn jenseits der genannten Optionen einer politisch-institutionell organisierten Stillstellung der historischen Dynamik der gesellschaftlichen Dekadenz durch das Zusammenwirken von Wissenschaften und weisem Herrscher einerseits, der Umsetzung einer Form legitimer politischer Herrschaft im Sinne des Contrat social andererseits scheint für Rousseau als dritte Variante nur mehr die resignative Abwendung vom Politischen zu bleiben. Im Emile, dem 1762 gleichzeitig mit der Abhandlung über den Gesellschaftsvertrag erschienenen Bildungsroman, bestätigt er in seinen programmatischen Vorbemerkungen nicht nur, daß er die Hoffnung auf eine tatsächliche Verwirklichung einer legitimen Herrschafts-
würde: Es zeigt sich vielmehr ein eklatanter methodischer Widerspruch im Begründungskem des Contrat social: denn entweder argumentiert er prinzipientheoretisch, dann erhebt er einen universellen, für alle politischen Einrichtungen und Staaten gültigen Anspruch, oder er beansprucht, historisch-empirisch die Bedingungen, Voraussetzungen und Strukturen republikanisch verfaßter Gemeinwesen aufzuzeigen; damit freilich wäre der Anspruch, die principes du droit politique zu begründen, aufgegeben. „Les Peuples ainsi que les hommes ne sont dociles que dans leur jeunesse, ils deviennent incorrigibles en vieillissant; quand une fois les coutumes sont établies et les préjugés enracinés, c'est une entreprise dangereuse et vaine de vouloir les réformer [...]. Peuples libres, souvenez-vous de cette maxime; On peut acquérir la liberté; mais on ne la recouvre jamais" (Rousseau, Du contrat social, p. 385 (II.8)). Korsika erwähnt Rousseau in 'Du contrat social', p. 391 (11.10). Sowohl für Korsika wie für Polen hat er bekanntlich Verfassungen entworfen, in denen er die Spielräume für eine praktische Umsetzung seiner staatsrechtlichen Prinzipien auslotet. Dieser Verallgemeinerung bedürfte es schließlich auch deswegen, weil es zu den außenpolitischen Realisierungsbedingungen der kleinen Republiken zählt, daß die Welt strukturell aggressiver Großmächte aufgehoben wird; vgl. weiter unten, Kap. IV.2 und IV.5.1. Unabhängig von diesem Problem hat die angesprochene fehlende Vermittlungsperspektive des Contrat social Brandt zu der Auffassung gebracht, Rousseau in dieser Hinsicht als einen Platoniker einzuschätzen, da er im Gegensatz zu der übrigen neuzeitlichen Rechtsphilosophie von Hobbes bis Kant, der es um die theoretische Begründung der existierenden politisch-rechtlichen Strukturen und Verhältnisse zu tun war, die Idee eines 'ganz Anderen' begründe, die Idee einer 'guten Menschengesellschaft, die dem schlechten Bestehenden äußerlich entgegengehalten werde; vgl. Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft. S. 13 ff.
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form aufgegeben hat. 54 Darüber hinaus zeigt er in ihm, daß es auch keinen Ausweg darstellt, gleichsam vom anderen Ende her beginnen und versuchen zu wollen, nicht zuerst die politischen und gesellschaftlichen Institutionen zu reformieren, sondern die Individuen so zu erziehen, daß dem allgemeinen sittlichen Niedergang durch die Schaffung der 'Subjekte' einer tugendhaften Republik ein Ende bereitet werden kann. Dies ist jedoch für Rousseau ausgeschlossen. Eine Erziehung zum „homme naturel", der eine in sich ruhende und einzig auf sich bezogene Ganzheit wäre, ist nicht mehr möglich, da es ein Widerspruch in sich sei, einen natürlichen Menschen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft erziehen, bewahren oder ihn gar zur Grundlage von deren Reform machen zu wollen. Ebenso unmöglich aber ist es, einen „homme civil" zu erziehen, da es dazu der „bonnes institutions sociales" bedarf, „qui savent le mieux dénaturer l'homme, lui ôter son existence absolue pour lui en donner une relative, et transporter le moi dans l'unité commune". 55 Dies jedoch setzt eben jene öffentlichen Institutionen voraus, die nicht existieren und auch nicht mehr restituierbar sind: „Zwar stellt der Émile den Gesellschaftsvertrag als eine règle de droit für die Gegenwart vor, seine Krisenanalyse der zeitgenössischen Gesellschaft zeigt aber, daß das Zeitalter der Republik und des citoyen überschritten ist. Die geschichtlichen Möglichkeiten für die politische Praxis nach den Prinzipien des Staatsrecht sind damit vereitelt."56 Als letzte, fast schon verzweifelte Hoffnung bleibt, daß sich Individuen und Gesellschaft durch den von den modernen Wissenschaften und Künsten erzeugten Schein eines zivilisatorischen Fortschritts der Vernunft in der Geschichte, so falsch und verderblich er in Rousseaus Augen auch sein mag, selbst zu täuschen vermögen und die Vollendung der Barbarei dadurch vermeiden, daß das herrschende „'public simulacrum' of virtue" aufrechterhalten wird 57 und im Sinne einer 'self-fulfilling prophecy' funktioniert: indem man an die Herrschaft und die Existenz von Tugend und Vernunft glaubt und so tut, als ob sie Motiv und Zweck individuellen und gesellschaftlichen Handelns seien, entfalten sie Wirkungen, die den vorgetäuschten Motiven zumindest ähnlich sind und ihnen so eine ironische Wirklichkeit verschaffen. 58
So fordert er, daß die beiden zentralen, seine Idee einer legitimen politischen Herrschaftsform durchziehenden Begriffe der „patrie" und des „citoyen" aus den modernen Sprachen ausgelöscht („effacés") werden sollten, da es die ihnen korrespondierenden Gegenstände nicht mehr gebe und, so muß man Rousseaus Intention wohl verstehen, sie durch weiteren unangemessenen Sprachgebrauch gleichsam entwürdigt würden; vgl. Rousseau, Émile, p. 250. Ebd., p. 249. Brandt/Herb, Einleitung in Rousseaus 'Gesellschaftsvertrag', S. 7. - Mit Recht also weist Fetscher (Rousseaus politische Philosophie, S. 98 f.) auf die Zirkelhaftigkeit des Arguments hin und bemerkt, daß sich aus „der wechselseitigen Aufeinanderangewiesenheit des Gemeinwesens und der sittlichen Individuen [...] die Probleme und Aporien der Rousseauschen Politik [ergeben]: denn die Republik kann nur leben, wenn das Gesetz über den Menschen steht. Soll aber das Gesetz über den Menschen stehen, dann müssen diese (wenigstens in ihrer Mehrheit) tugendhaft sein. Tugendhaft aber werden sie erst mit Hilfe der organisierten Republik". Keohane, Philosophy and the State, p. 435; vgl. hierzu auch nochmals die oben (S. 195) angeführten komplementären Bemerkungen Rousseaus zur Rolle von Wissenschaft und Kunst als 'Opium fürs Volk', das sie hindere, Übles zu tun. Vgl. Rousseau, Emile, p. 858: „D y a toujours un gouvernement et des simulacres de loix [...]. Que le contract social n'ait point été observé, qu'importe, si l'intérêst particulier l'a protégé comme auroit fait la volonté générale, si la violence publique l'a garanti des violences particulières [...]. La seule apparence de l'ordre le [den
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Wenn jedoch in letzter Instanz für Rousseau eine jede, sei es auch noch so wohlbegründete Veränderung von Gesellschaft und Staat den sich realiter vollziehenden Prozeß des Niedergangs nur beschleunigen würde, bleiben dem Weisen letztlich nur der Rückzug und der völlige Verzicht auf praktisch-politisches Handeln. Paradoxerweise nämlich scheint gerade darin die letzte und einzige Möglichkeit zu bestehen, in der er einen positiven Beitrag zur 'Nicht-Beschleunigung' des universalhistorischen Verfallsprozesses leisten kann: „Dans la société humaine, sitôt que la foule des passions et des préjugés qu'elle engendre a fait prendre le change à l'homme, et que les obstacles qu'elle entasse l'ont détourné du vrai but de notre vie, tout ce que peut faire le sage, battu du choc continuel des passions d'autrui et des siennes, et parmi tant de directions qui l'égarent ne pouvant plus démêler celle qui le conduirait bien, c'est de se tirer de la foule autant qu'il lui est possible et de se tenir sans impatience à la place où le hazard l'a posé; bien sûr qu'en n'agissant point il évite au moins de courir à sa perte et d'aller chercher de nouvelles erreurs. "59
Zwei Aspekte, die für das Verständnis von Rousseaus Theorie internationaler Beziehung wesentlich sind, können aufgrund der bisherigen Betrachtung seiner politischen Theorie herausgehoben werden. Zum einen ist deutlich, in welchem Maße er von der fortschrittsoptimistischen, die praktisch-politische Rolle vernünftiger Erkenntnis betonenden Hauptströmung der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts abweicht, zum anderen jedoch auch, inwiefern er gleichzeitig mit ihr dieselben Probleme, Kritiken, Konzeptionen und Perspektiven teilt oder kritisch diskutiert. Indem er der vermeintlichen Erfolgsgeschichte historischer Vernunft und Freiheit auf individueller wie gesellschaftlicher Seite die Verlustbilanz entgegenstellt, ihren Ursachen und möglichen Gegenmitteln nachspürt, hat er die realen Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung dennoch klarer benannt als die meisten seiner optimistischen Zeitgenossen. Die Widersprüche, in die er dabei - durchaus auch mit sich selbst - geraten ist, seien sie nun methodischer, diagnostischer oder perspektivischer Art, sind demzufolge weniger ein Argument gegen seine politische Theorie, sondern sie können als eines für sie gelten, insofern bei ihm „les contradictions sont les servitudes inévitables d'une pensée qui va au fond des choses et se heurte à des obstacles insurmontables en leur temps". 60 Rousseaus Werk bietet „keine feste und fertige Doktrin; es ist vielmehr eine stetig sich erneuernde Bewegung des Gedankens", und darin gerade mag ihr objektiver Wahrheitsgehalt liegen: „Gegen die Vorstellung, daß ein Gedanke nur dann objektiven Wert und objektive Wahrheit haben könne, wenn er von vornherein in fester systematischer Fügung und Panzerung auftritt, hat sich Rousseau jederzeit gewehrt - und die Zumutung eines solchen systematischen Zwan-
Menschen; O.A.] porte à le connoitre, à l'aimer." - Damit bewegt sich Rousseau einerseits - wenngleich mit anderer Bewertung - nahe bei der Position von Saint-Pierres, wenn dieser lakonisch feststellt, es sei das Motiv gesellschaftlich wertvollen Handeln ganz gleichgültig, da einzig und allein zähle, daß es objektiv so wirke, als ob es tugendhaft sei. Andererseits ist an dieser Stelle schon die Struktur der Argumentation Kants erkennbar, wenn dieser die internationale Rechtsordnung zu einer unausführbaren Idee der praktischen Vernunft erklärt, der man sich aber dennoch durch sein Streben annähern und die man somit - wenn auch nie vollständig verwirklichen könne; vgl. Kant, Rechtslehre, § 61 und Beschluß, S. 350 u. 355, sowie weiter unten, S. 309 f. Rousseau, Rousseau juge de Jean-Jacques, p. 669. Lecercle, Utopie et réalisme chez Mably, p. 1049.
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ges hat er unwillig abgelehnt. Dies gilt ebensowohl im theoretischen wie im praktischen Sinne".61 Selbst da noch, wo er an der Möglichkeit von Aufklärung und vernünftiger Praxis verzweifelt, bestätigt Rousseau „que tout tenoit radicalement ä la politique",62 das heißt, daß es letzten Endes von der Erkenntnis und dem Handeln, von der vernünftigen Selbstbestimmung der Menschen abhängig ist, wenn den von ihm so scharf kritisierten Tendenzen historischen Niedergangs Einhalt geboten werden soll. Zugleich verweist er gerade dort, wo er Widersprüche nicht auflöst, sondern gegensätzliche Positionen, Zugänge und Perspektiven nebeneinander stehen läßt, auf Widersprüche und Probleme, die 'in der Sache selbst' gründen. Die vom neuzeitlichen politischen Denken erkannten oder doch wenigstens erkennbaren Probleme und Zielstellungen - die historischen, gesellschaftlichen und philosophischen Bedingungen, Formen, Inhalte und Verwirklichungsbedingungen individueller Freiheit und objektiver Rechtsverhältnisse - lassen sich offenbar nicht in einfachem Zugriff angehen, so als müßte man sie nur theoretisch auflösen, um sie sodann auch praktisch bewältigen zu können. Dies ist ein Problem, das sich, wie sich im weiteren Fortgang dieser Arbeit zeigen wird, durch die unterschiedlichen Entwicklungsstadien von Rousseaus politischer Theorie ebenso fortschreibt wie in den unterschiedlichen Dimensionen praktisch-aufklärerischer Reflexion, sei es auf individueller oder gesellschaftlicher, sei es auf inner- oder auf zwischenstaatlicher Ebene.
IV. 1.2
Rousseaus Auseinandersetzung mit dem Abbé de Saint-Pierre und die Herausbildung seiner politischen Philosophie
Das Problem der Unterschiedlichkeit der von Rousseau gewählten Zugänge zu den von ihm analysierten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, seiner methodischen Verfahren und argumentativen Strategien wie auch seiner Absichten und Perspektiven insgesamt, wie es sein politisches Denken auszeichnet, wiederholt sich im Hinblick auf seine Stellungnahmen zur Problematik der internationalen Beziehungen und prägt sie in besonderer Weise. Und dieselbe Mehrdeutigkeit findet sich auch in seiner Auseinandersetzung mit jenem Autor, der sich in besonderer Weise der politisch-institutionellen Neuordnung der Staatenwelt verschrieben hatte, dem Abbé de Saint-Pierre. Hier liegt einer der Gründe, warum diese Auseinandersetzung, die für die Entwicklung von Rousseaus politischer Philosophie so bedeutsam gewesen ist, bis heute oftmals unterschätzt oder gänzlich übersehen wird. Die Behauptung dieser Bedeutung mag im ersten Augenblick wenig überzeugen. Denn nicht genug damit, daß Saint-Pierre als früher und besonders begeisterter Vertreter allseits aufgeklärter und rationalisierter politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen Positionen vertritt, die bei Rousseau keinesfalls auf Zustimmung stoßen konnten; darüber hinaus führt bei Saint-Pierre die Beschäftigung mit der Frage nach der Möglichkeit einer internationalen Rechtsgemeinschaft mit friedensgarantierenden Institutionen und Mechanismen ins Zentrum seines politischen Interesses hinein, während bei Rousseau das Gegenteil der Fall zu sein
Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, S. 7 u. 11. Rousseau, Confessions, p. 404; vgl. hierzu weiter unten, S. 208 f.
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scheint. Denn obwohl sein Name mit demjenigen Saint-Pierres und dessen Friedensprojekt eng verknüpft ist, ist diesem Umstand in der Forschungsliteratur nur selten nachgegangen oder Bedeutung beigemessen worden. Wenn jedoch diese implizit oder explizit zutage tretende Einschätzung der sachlichen Irrelevanz dieser Verbindung zutreffend wäre, würde dies bedeuten, daß im Falle Rousseaus die Beschäftigung mit dieser Thematik einer politischen Philosophie der internationalen Beziehungen anders als bei Saint-Pierre gänzlich aus dem Zentrum seines Denkens hinaus und auf Abwege führen würde, und dies sowohl in systematischer wie in theoriegeschichtlicher Perspektive. Überblickt man nämlich aus der Perspektive der hier primär interessierenden Problemund Aufgabenstellung das Werk Rousseaus, wie es heute vorliegt, so ist der Eindruck naheliegend, daß die Beschäftigung mit den zwischenstaatlichen Beziehungen alles andere als eine zentrale Stellung einnimmt, daß die diesbezüglichen Arbeiten geradezu eine marginale Rolle zu spielen. Hier scheint eine systematische Leerstelle vorzuliegen.63 In Rousseaus Werk stehen Schriften, die seiner tiefen Skepsis über die geschichtlichen Entwicklungstendenzen in Politik, Wissenschaft und Kultur Ausdruck verleihen, neben staatsrechtlichen und pädagogischen Abhandlungen, politischen und verfassungsrechtlichen Entwürfen sowie umfangreichen Streit- und Rechtfertigungsschriften, doch es findet sich keine eigenständige Untersuchung der Verhältnisse zwischen Staaten. Alles, was hierzu von Rousseau verfaßt worden ist, sind neben einer Reihe von verstreuten Hinweisen und von Fragmenten zwei kleine Abhandlungen von insgesamt kaum drei Dutzend Druckseiten, die das Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre darstellen und kritisch beleuchten sollen. Somit liegt der Schluß nahe, daß die kritische Untersuchung der Sphäre der internationalen Beziehungen sei es in normativer, sei es in historisch-empirischer Hinsicht für Rousseau nachrangig, wenn nicht bedeutungslos war, zumindest insofern sie in keiner Weise ein originäres Interesse bei ihm zu erwecken vermochte. Für ihn machte es demnach offenbar zwar Sinn, nach Wegen zu suchen, den von ihm konstatierten, verhängnisvollen Lauf der Welt durch die Reform der inneren politischen Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens einerseits, durch die der Erziehung der Individuen andererseits umzukehren oder doch wenigstens zu bremsen, nicht aber, ein gleiches für die Probleme und Defizite des internationalen Staatensystems und der Beziehungen der Völker zueinander durch ihre Analyse, Kritik und den Entwurf zu ihrer Neuordnung zu leisten.64 In eben derselben Weise scheint die Befassung mit der Problematik internationaler Rechtsbeziehungen auch in theoriegeschichtlicher Perspektive wenig vielversprechend zu Auf diese Frage nach der systematischen Verortung der Theorie internationaler Beziehungen im Denken Rousseaus wird unten in Kap. IV.2, S. 210 ff., eingegangen. Dementsprechend wird der Thematik auch in der Forschungsliteratur zu Rousseau kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Nur exemplarisch sei hier für die deutschsprachige Forschung auf Forschners Rousseau-Monographie hingewiesen, in dessen Darstellung seines „Gesamtwerks" die Problematik internationaler Beziehungen überhaupt nicht thematisiert wird, oder auf die bis heute grundlegende Untersuchung Fetschers, in der dieser Frage immerhin fünf von rund 380 Seiten gewidmet werden (Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 179 ff.). Symptomatisch auch, daß in der unüberschaubaren Literatur zu Rousseau nur drei selbständige Untersuchungen zu seiner Theorie internationaler Beziehungen zu verzeichnen sind, und zwar die Pionierarbeit von Windenberger aus dem Jahr 1899 ('La république confédérative'), die blasse, kaum über Windenbergers Studie hinausgehende Arbeit Lassudrie-Duchênes von 1906 ('Rousseau et le Droit des Gens') sowie die 1988 erschienene systematische, außerordentlich problembewußte Arbeit von Carter, 'Rousseau and the Problem of War'.
Politische Theorie zwischen Gesellschaftskritik und Philosophie der Freiheit
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sein. Dies gilt sowohl hinsichtlich des Gegenstandes als auch des Mediums, durch das es bei ihm vornehmlich betrachtet wird, nämlich durch seine Auseinandersetzung mit den Ideen und Projekten des Abbé de Saint-Pierre. Die philosophische und theoretische Statur wie auch die praktisch-politische Bedeutung Saint-Pierres scheinen, wie Rousseau selbst oft genug bestätigt hat, 65 allzu dürftig, als daß sie es verdienten, ernsthaft in Betracht gezogen zu werden, wenn es darum geht, die ihn prägenden Einflüsse, Werke und Denker zu bestimmen. Die Ausbildung der politischen Philosophie Rousseaus wird zumeist vor allem unter dem Blickwinkel ihrer Beziehung zu den Hauptströmungen der neuzeitlichen Naturrechtstradition gesehen. So bezeichnet Derathé es beispielsweise als Ziel seiner Untersuchung über Rousseau et la science politique de son temps, den Nachweis dafür zu erbringen, „que la doctrine politique de Rousseau est issue d'une réflexion sur les théories soutenues par les penseurs qui se rattachent à ce qu'on a appelé l'École du droit de la nature et des gens."66 Entsprechend behandelt er dann vornehmlich die Rolle, die Autoren wie Grotius, Pufendorf, Hobbes, Locke oder Montesquieu bei der Ausbildung von Rousseaus politischer Theorie spielen. Ein Hinweis auf eine mögliche Bedeutung der Auseinandersetzung mit Saint-Pierre, seiner Idee einer neuen science politique und ihrer praktischen Bedeutung für die Reform der innergesellschaftlichen wie der zwischenstaatlichen Verhältnisse fehlt dagegen vollständig. 67 Zu sehr verharrt der Blick offenbar auf den eingefahrenen systematischen und theoriegeschichtlichen Gleisen, als daß die hier behandelten Thematiken und Einflüsse einer näheren Untersuchung und Integration in Rousseaus politisches Denken für wert erachtet worden wären. Angesichts dieser Ausgangslage kann es kaum verwundern, wenn in jüngerer Zeit noch in einem Handbuch zu Rousseaus Werk die Auffassung vertreten worden ist, die unter dem Titel der Écrits sur l'Abbé de Saint-Pierre zusammengefaßten Texte seien „of only limited interest" und „do not form part of Rousseau's major social and political writings". 68 Dies aber muß, wie im folgenden zu zeigen sein wird, als ein krasses Fehlurteil angesehen werden, und zwar sowohl im Hinblick auf die Bedeutung der Auseinandersetzung Rousseaus mit Saint-Pierre als Vertreter einer progressiv-aufklärerischen, praktisch-kritisch gerichteten politischen Wissenschaft, als auch angesichts der Thematik von dessen friedenstheoretischem Hauptwerk. In beiden Fällen nämlich gilt, daß Rousseaus Arbeiten in diesem Zusammenhang einen wesentlichen Beitrag zum Prozeß der Herausbildung wie auch zu grundlegenden Elementen, Strukturen und Problemen seines politischen Denkens darstellen. 69
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Vgl. zu Rousseaus Urteilen über Saint-Pierre u. a. oben, Kap. II. 1, S. 47 f., und Kap. ULI, S. 96 ff. Derathé, Rousseau et la science politique, p. 1. - Zur neueren Interpretation von Rousseaus politischer Philosophie vgl. Pezzolli, L'échec du 'Contrat social', pp. 365 ff. Lediglich eine einzige Erwähnung Saint-Pierres findet sich im Hinblick auf die Problematik der Gewaltenteilung; vgl. Derathé, Rousseau et la science politique, p. 304. - Demgegenüber weist F.A. Pottle in einer Anmerkung zu Boswell, Besuch bei Rousseau, S. 61, darauf hin, daß auf Rousseaus „eigenes Denken [...] die Beschäftigung mit Saint-Pierre stark abgefärbt" hat (hierzu auch unten, Anm. 82, S. 206). Auch Fontius (Von akademischen Preisschriften, S. 44) betrachtet Rousseaus in diesem Zusammenhang entstandene Arbeiten als solche „ersten Ranges, in denen wesentliche Erkenntnisse niedergelegt sind". So Dent, A Rousseau Dictionary, p. 100. Mit Recht hat also Stelling-Michaud (Introduction, p. CXX) bemerkt, daß ,,[d]ans la formation de la pensée politique de Rousseau, les écrits de l'abbé de Saint-Pierre jouent un rôle dont l'importance a été généralement méconnue."
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
Der erste Anstoß zu Rousseaus intensiver Beschäftigung mit den Schriften Saint-Pierres und damit insbesondere mit dessen Konzeption einer Analyse und Kritik der internationalen Verhältnisse kam, wie es zumindest auf den ersten Blick den Anschein hat, von außen. Rousseaus Bericht in den Confessions zufolge war es der Abbé de Mably, der zuerst den Gedanken ins Spiel gebracht hatte, ihn mit der Durchsicht, Überarbeitung und Neuedition der wichtigsten Projekte Saint-Pierres zu befassen. Gabriel Bonnot de Mably, Bruder Condillacs, war bis 1746 Diplomat und trat anschließend als Verfasser zahlreicher rechts-, staats- und moralphilosophischer sowie historischer Schriften hervor.70 Mably hatte SaintPierre persönlich gekannt und war in zahlreichen Motiven seines Denkens deutlich von diesem beeinflußt worden.71 Zugleich stand er aber auch unter dem Eindruck des Rousseauschen Werks, so daß für ihn die Verbindung zwischen beiden politischen Denkern mehr als naheliegend gewesen sein muß. Vermittlerin dieses Ansinnens an Rousseau war Madame Dupin, die einen der prominentesten Pariser Salons der Zeit führte. Ihr Name ist mit wichtigen Etappen im Leben sowohl Saint-Pierres als auch Rousseaus verbunden. In seinen Confessions heißt es bei Rousseau in diesem Zusammenhang über ihre Beziehung zum Verfasser des Projet de paix: „Elle étoit une des trois ou quatre jolis femmes de Paris dont le vieux Abbé de St. Pierre avoit été l'enfant gâté [...]. Elle conservoit pour la mémoire du bon homme un respect et une affection qui faisoient honneur à tous deux, et son amour-propre eut été flatté de voir ressusciter par son sécrétaire les ouvrages mort-nés de son ami."72
Besonders bemerkenswert ist dabei, daß Mably Werke über Le Droit public de l'Europe fondé sur les traités depuis la paix de Westphalie en 1648 jusqu'à nos jours (1746) und Principes des négociations pour servir d'introduction au droit public de l'Europe fondé sur les traités (1757) verfaßt hat, womit er in historischer, vor allem in diplomatiegeschichtlicher Perspektive vom europäischen Droit public spricht, dessen Grundlagen nach Ansicht Saint-Pierres und Rousseaus erst noch zu schaffen sind. Wie Saint-Pierre vertritt auch Mably die Auffassung vom methodischen, alle anderen Wissenschaften unter ihre Zwecke subsumierenden Primat der Politischen Wissenschaft und die Überzeugung, daß es vornehmste Aufgabe von Politik und Staat ist, die Bedingungen für das Glück, die Wohlfahrt und den Frieden der Bürger herzustellen. Zugleich kritisiert er freilich Saint-Pierre scharf, da dieser nicht entschieden genug die Quelle des Übels, den Despotismus der Monarchie, angreife, sondern den König als Subjekt politischer Reformen sehe: , j l ignore parfaitement qu'il est [...] nécessaire que le magistrat obéisse à la loi. Il met toujours le roi à la place de la loi, au lieu que dans un plan raisonnable de réforme, tout doit tendre à soumettre le roi à la loi" (Mably, Droits et devoirs du citoyen, p. 406 f.). - Zu Mablys in zahlreichen Aspekten an Rousseau gemahnenden, utopisch-kommunistische Züge tragenden Werk vgl. Lecercle, Utopie et réalisme chez Mably; über Mably und die internationalen Beziehungen vgl. Fischbach, Krieg und Frieden, S. 77 ff., zur Forschungsliteratur zu Mably vgl. die Hinweise ebd., S. 78 Anm. 255; die traditionellen, j a 'reaktionären' Elemente Mablys betont Hüning, Klassischer Republikanismus und Reichsverfassung, v. a. S. 256 ff. Rousseau, Confessions, livre IX, p. 407. - Zur Rolle Saint-Pierres in der Salonkultur der dreißiger und vierziger Jahre, in der er gleichsam „la chaine vivante entre les grands salons successifs du XVIIF siècle" bildete, und bei den die Salons unterhaltenden Frauen, bei denen er, wie Faguet (L'abbé de Saint-Pierre, p. 562) einfühlsam bemerkt, „viellit très doucement, très caressé", vgl. ausführlich Drouet, L'abbe de Saint-Pierre, pp. 81 ff. Hier war es, wo Saint-Pierre nach seinem Ausschluß aus der Académie française 1718 und dem Verbot des Club d'Entresol 1731 Diskussionspartner, Publikum und Anerkennung fand. Mit mildem Spott, jedoch angesichts der Bedeutung dieser Salons für die entstehende Sphäre einer kritischen Öffentlichkeit wohl nicht ganz gerecht, hat Goyard-Fabre (Introduction, Présentation, p. 20) hierzu bemerkt: „D est vrai que, dans sa vieillesse, il fréquenta beaucoup les salons féminins et que, peut-être, en ces lieux, le succès est plus facile que dans les académies de savants".
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In seinen späten Jahren, etwa ab 1735, war der greise Saint-Pierre gleichsam philosophischer Lehrmeister, ständiger Begleiter und Ratgeber der 1706 geborenen Madame Dupin gewesen. Ein Großteil der zahlreichen Überarbeitungen, denen er im letzten Jahrzehnt seines Lebens seine Schriften - vor allem zur Vorbereitung der Publikation seiner Ouvrages politique et morale - unterzogen hat, ist von ihm mit dem Vermerk „revu a chenonceaux" versehen worden, d. h. sie sind auf dem Schloß Madame Dupins in der Touraine entstanden, wohin sie „l'emmenait passer la belle saison".73 Saint-Pierre war regelmäßiger Gast ihres Hauses, des Hôtel Lambert auf der Ile Saint-Louis, wo sie einen Salon unterhielt, in dem zahlreiche Repräsentanten der politischen und geistigen Elite verkehrten, ein Haus, das Rousseau als „aussi brillante qu'aucune autre dans Paris" beschreibt, insofern sich dort „rassembloit des sociétés auxquelles il ne manquoit que d'être un peu moins nombreuses pour être d'élite dans tous les genres", worunter sich etwa auch Männer wie Fontenelle, Voltaire oder Buffon befanden.74 Hier war es, wo Rousseau zu Beginn der vierziger Jahre seine ersten Schritte in die Pariser Gesellschaft und Salonkultur unternommen hat, und hier wird es aller Wahrscheinlichkeit nach auch gewesen sein, wo er Saint-Pierre kurz vor dessen Tod noch selbst begegnet war.75 Schließlich arbeitete Rousseau ab 1746 für mehrere Jahre als Sekretär für Madame Dupin und ihren Gatten. Im Rahmen dieser Tätigkeit hat er einerseits Exzerpte für ein von Madame Dupin bereits zu Lebzeiten Saint-Pierres geplantes - und von diesem auch schon kommentiertes76 - , aber nie realisiertes Werk über die Rolle der Frauen in unterschiedlichen Ländern und Zeiten hergestellt. Geplant war eine Art von „Encyclopédie du 'Deuxième sexe'", in welcher „la défense de la femme dans tous les domaines et sous tous ses aspects" unternommen werden sollte.77 Andererseits arbeitete Rousseau - freilich in keiner eigenständigen, sondern in rein ausführender Rolle - an einer Kritik von Montesquieus De l'esprit des lois mit, die Madame Dupin gemeinsam mit ihrem Mann vorbereitete und 1749 sowie, in zwei-
Drouet, L'abbe de Saint-Pierre, p. 86. - Zu Madame Dupin vgl. Villeneuve-Guibert, Le Portefeuille de Madame Dupin, pp. 1-37. Zum angenehmen Leben auf Chenonceaux am Ende der vierziger Jahre vgl. Rousseau, Confessions, livre VII, p. 342. Ebd., livre VII, pp. 291 f. Zu seinem Entré ins Haus Dupin vgl. Rousseau, Confessions, livre VE, pp. 291 ff.; von seiner Begegnung mit dem greisen Saint-Pierre berichtet er nur, er habe „un peu vu l'Abbé de St. Pierre dans sa vieillesse" (ebd., livre IX, p. 423). Saint-Pierre schreibt in seinem in Briefform gefaßten Kommentar 'Lettre sur les femmes', pp. 269 f.: „Si rien n'est plus légitime, Madame, que vos plaintes sur notre injustice vis-à-vis de votre sexe et la dureté du refus qu'on vous fait, depuis tant de siècles, de vous élever aux sciences, aux arts, de vous faire part du gouvernement politique ou militaire, rien en même temps n'est plus facile à démêler que les raisons de cette conduite: vous en trouverez sans peine la source dans notre jalousie, dans la crainte de vous voir nous devancer dans cette carrière, si elle vous étoit ouverte et si on vous y laissoit partir du même but que nous." Mit dieser bemerkenswerten Herleitung der Unterordnung der Frauen aus der systematischen Behinderung ihrer individuellen und gesellschaftlichen Potentiale durch das Streben der Männer nach Aufrechterhaltung ihrer Vorrechte weicht Saint-Pierre deutlich von der Sicht auf das Geschlechterverhältnis und die Rolle der Frau beim 'Freiheitsphilosophen' Rousseau ab, der zwar sorgfältig zwischen natürlichen und sozialen Differenzen zu unterscheiden sucht, im Endeffekt aber gerade durch den zivilisationskritisch intendierten Rückgang auf natürliche Faktoren traditionelle Stereotypen des Geschlechterverhältnisses reproduziert; vgl. Rousseau, Emile, 1. V, pp. 692 ff.; vgl. hierzu auch Sénéchal, Rousseau, Secrétaire de Madame Dupin, pp. 186 f. Ebd., pp. 185 u. 184; vgl. Sénéchals Text insgesamt über Rousseaus Beziehung zu den Dupins.
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ter Auflage, 1751/52 veröffentlichte. 78 Wie im Falle Mablys, so war also auch bei Madame Dupin die in der Mitte der fünfziger Jahre an Rousseau herangetragene Bitte um dessen Bearbeitung der Schriften Saint-Pierres ein Unternehmen, das aus der persönlichen und sachlichen Konstellation heraus naheliegend erscheinen mußte. 79 Zur Vorbereitung der geplanten Neuedition erhielt Rousseau vom Comte de Saint-Pierre, einem Neffen des verstorbenen Philosophen, Ende 1754 dessen nachgelassene Manuskripte, die neben den gedruckten Werken die Grundlage der geplanten Neuedition zentraler Texte und Vorhaben Saint-Pierres bilden sollten. 80 Obwohl Rousseau weder mit dem Stil SaintPierres noch mit dessen fortschrittsorientiertem und vernunftzentriertem Denken übereinstimmen konnte, ihn vielmehr immer wieder zum Gegenstand deutlicher Kritik machte, 81 fühlte er sich doch nicht zuletzt aufgrund der - trotz allem Spott und aller Kritik durchaus ernstzunehmenden - „vénération que j'avois pour sa mémoire", 82 verpflichtet, die Arbeit ernsthaft in Angriff zu nehmen. Vor allem nach seinem Umzug in die Einsamkeit der Emeritage in Montmorency 1756, wo er innerhalb kurzer Zeit seine Hauptwerke verfaßte, widmete er sich dem Studium der Schriften und Papiere Saint-Pierres, und es war schließlich, wie er ebenfalls bekannte, ganz und gar nicht einfach nur die Unzufriedenheit mit dem Material und den hier vorgelegten Konzeptionen, die ihn von der ursprünglich geplanten Form einer neuen Veröffentlichung Abstand nehmen ließ. Vielmehr spielte die Schärfe und Offenheit der Kritik an den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie Saint-Pierres Arbeiten auszeichnete und die eine neue Ausgabe weitertransportiert und aktualisiert hätte, eine zentrale Rolle, denn sie wäre nach Rousseaus Auffassung gewiß auf ihn zurückgefallen und hätte seine Position als bloß geduldeter Ausländer in Frankreich gefährdet: „La pluspart des écrits de l'Abbé de St. Pierre étaient ou contenoient des observations critiques sur quelques parties du gouvernement de France, et il y en avoit même de si libres qu'il étoit heureux pour lui de les avoir faites impunément. [...] Si j'étois parvenu à le faire écouter le cas eut été différent. Il étoit françois, j e ne l'étois pas; et en m'avisant de répéter ses censures,
Vgl. hierzu Sénéchal, Rousseau, Secrétaire de Madame Dupin; François, Rousseau, les Dupins, Montesquieu. - Fontius (Von akademischen Preisschriften, S. 16) hat auf die Ironie der Situation hingewiesen, daß „Rousseau als bezahlter Lohnarbeiter im Dienst eines Generalsteuerpächters, also einer Symbolfigur der Welt des Luxus und des Reichtums, an der Kritik des 'berühmten Montesquieu' mitwirkte". Einen schönen Beleg für die Bekanntschaft und Verbindung der hier von Rousseau genannten Personen bietet ein Brief Saint-Pierres an Mme Dupin vom 24. September 1742, in dem er vom Beginn der diplomatischen Karriere Mablys berichtet („M. l'abbé Mably a été choisi par M. le cardinal de tansin [d. i.: Tencin; O.A.] segond segretaire") sowie davon, daß er ihn gerade gesprochen habe und daß „M. l'abbé mably m'a prit de vous faire ses complimans." (Ms. BN, naf 13629, n° 23; auch abgedruckt in Villeneuve-Guibert, Le Portefeuille de Madame Dupin, pp. 234-235). Zum Ablauf der 'Beauftragung' Rousseaus und seinem Vorgehen vgl. Stelling-Michaud, Introduction, pp. CXXm ff.; Vaughan, Political Writings, vol. I, pp. 359 ff. Vgl. nochmals Rousseau, Écrits sur l'abbé de Saint-Pierre, p. 657, wo er ihn der Jolie de la raison" zeiht, oder die Confessions, livre IX, p. 422, wo Rousseau schreibt, Saint-Pierre sei dem „faux principe de la raison perfectionnée" verpflichtet gewesen. Ebd., livre IX, p. 423. - Vgl. zur Bestätigung auch ders.. Lettre à Beaumont (Fragments), p. 1014 („On n'a guéres vu de Citoyen plus zélé et qui connut mieux l'étendu de ses devoirs que l'Abbé de St. Pierre et je n'en ai jamais tant dit que lui"), oder den Bericht von Boswell, Besuch bei Rousseau und Voltaire, S. 60-62, wo Rousseau Saint-Pierre gleichsam als Vorbild eines konsequenten Denkers darstellt und Boswell empfiehlt, „es dem Abbé de Saint-Pierre gleichzutun" (S. 61).
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quoique sous son nom, je m'exposois à me faire demander, un peu rudement, mais sans injustice, de quoi je me mêlois. Heureusement avant d'aller plus loin, je vis la prise que j'allois donner sur moi, et me retirai bien vîte." 83
Unzweifelhaft also ist, wie dieser kleine Exkurs zum Hintergrund von Rousseaus Beschäftigung mit Saint-Pierres Schriften gezeigt hat, der Anstoß zu ihr gleichsam 'von außen' gekommen. Dennoch wäre es ein großer Fehler anzunehmen, er sei deshalb auch nur zufällig erfolgt. Denn diese Auseinandersetzung führt auch systematisch ins Zentrum von Rousseaus entstehender politischer Philosophie. Die Beschäftigung mit dem Werk Saint-Pierres ist Teil der sich in eben jenem Zeitraum vollziehenden Suchbewegung, die Rousseau im Prozeß der Herausbildung der Grundlagen seiner eigenen politischen und staatsrechtlichen Positionen vollzogen hat. Die Arbeiten, die er im sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit Saint-Pierres Schriften zur Struktur internationaler Beziehungen, zum Kriegsrecht oder zum Völkerrecht verfaßt hat, sind - und darauf wird im folgenden ausführlich zurückzukommen sein - Teil der von Rousseau zu dieser Zeit ins Auge gefaßten Abhandlung über die 'Politischen Einrichtungen' (Institutions politiques). Ein Werk dieses Titels hatte er sich zuerst in seiner Zeit als Sekretär des französischen Botschafters in Venedig 1743/44 vorgenommen, und aus den nach 1755 unternommenen Arbeiten an ihm wurde später der unter dem Titel Du contrat social publizierte Teil über die Begründung der Prinzipien staatlich verfaßter Gesellschaften vollendet und 1762 schließlich veröffentlicht. Dieses Werk über die Institutions politiques sei jenes Werk, schreibt Rousseau zum Jahr 1756 in seinen Bekenntnissen, „dont je m'occupois avec le plus de gout, auquel je voulois travailler toute ma vie, et qui devoit selon moi mettre le sceau à ma réputation", und der Gedanke zu ihm sei ihm erstmalig gekommen, „lorsqu'étant à Venise j'avois eu quelqu'occasion de remarquer les défauts de ce Gouvernement si vanté", wodurch er zu der Erkenntnis der eminenten Bedeutung des Studiums der Politik gelangt sei.84 Bis zu jener Zeit, in der er schließlich die Arbeit an Saint-Pierres Texten aufnimmt, habe diese Untersuchung, die er von 1751 an in die Tat umzusetzen versuchte, freilich keine großen Fortschritte gemacht. 85 Erst vor diesem zeitlichen und sachlichen Hintergrund wird der Status der den politischen Projekten Saint-Pierres gewidmeten Arbeiten Rousseaus erkennbar: Nur wenn man berücksichtigt, wie sie sich in dieses Programm einer Untersuchung der Institutions politiques einfügen, wird erklärlich, warum er ihnen jene intensive Aufmerksamkeit hat zukommen lassen, wie sie sich in den Texten, Notizen und Hinweisen spiegelt, die erhalten geblieben sind und in ihrem sachlichen Gehalt den Gegenstand des folgenden Kapitels der vorliegenden
Rousseau, Confessions, livre IX, p. 423 f. - Rousseaus Auffassung, daß Saint-Pierre deshalb von schärferer Verfolgung durch die Regierung verschont geblieben sei, weil sein schlechter Ruf und sein noch schlechterer Stil verhindert hätten, daß man seine Ideen so ernstgenommen habe, wie sie es verdient hätten, vertritt auch d'Alembert, Éloge de Saint-Pierre, p. 264. Rousseau, Confessions, p. 404. Verblüffend ist die Parallelität dieser biographischen Reflexion zu der SaintPierres: Dieser hatte ebenfalls seine Befassung mit der Politik in Zusammenhang mit seiner Position am Hofe Ludwigs XIV. gebracht (vgl. den Brief an Mme de Lambert aus dem Jahr 1698, zit. oben, S. 76) und den Bildungsgang über die Moral zur Politik, von der alles abhänge, als den von ihm selbst beschrittenen und sachlich einzig angemessenen beschrieben. „Quoiqu'il y eut déjà" - so schreibt Rousseau im Jahre 1756 - „cinq ou six ans que je travaillois à cet ouvrage, il n'étoit encore guère avancé" (Rousseau, Confessions, p. 405). - Ausführlich zu den Institutions politiques weiter unten, S. 210 ff.
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Arbeit bilden werden; ihnen kommt, wie Stelling-Michaud bemerkt hat, „un rôle déterminant dans la formation de la pensée politique" von Rousseau zu.86 Denn es sind diese Jahre nach der Publikation des zweiten Discours, in denen Rousseau gleichsam in und vermittels der Beschäftigung mit Saint-Pierres Ideen zu einer 'politikwissenschaftlichen' und prinzipientheoretischen Analyse und Kritik der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse dazu gelangt, „seine eigenen Vorstellungen in Bezug auf Frieden und Krieg einerseits und auf Regierungsorganisation und Regierungshandeln ('Politische Ökonomie', 'Polizey') andererseits" zu klären.87 Dies ist eine der Implikationen der oft zitierten Bemerkung Rousseaus, das von ihm gewählte Verfahren, zusammenfassende Auszüge (Extraits") aus Saint-Pierres wichtigsten außen- und innenpolitischen Projekten herzustellen, ermögliche es ihm, unter dessen Deckmantel eigene Überlegungen und Konzeptionen zu entwickeln und der Öffentlichkeit vorzulegen.88 Aber auch auf ganz grundsätzlicher Ebene lassen sich Übereinstimmungen finden, die zeigen, in welchem Maße Rousseau hier von Gegenständen handelt, die im Zentrum seines Interesses stehen und nicht bloß 'äußerlich induziert' sind. Auf die Schärfe und Radikalität der Kritik an den bestehenden Zuständen, wie sie nicht erst Rousseaus Schriften, sondern auf ihre Art bereits diejenigen Saint-Pierres auszeichnet, ist bereits hingewiesen worden. Darüber hinaus verbindet beide Autoren die Überzeugung von der Notwendigkeit einer systematischen Aufwertung der Politik. So lobt Rousseau Saint-Pierre für sein Verständnis des Politischen generell, da er zu der Einsicht gelangt sei, „que la plus grande partie du bonheur et du malheur des hommes venoit des bonnes ou des mauvaises loix", woraus er auf die Notwendigkeit geschlossen habe, die Politik ins Zentrum des Interesses zu rücken: SaintPierre habe erkannt, „que la morale n'etoit pas la science la plus importante pour le bonheur des hommes, mais que c'etoit la politique ou la science du gouvernement et qu'une seule loy sage pouvoit rendre incomparablement plus d'hommes heureux que cent bons traittés de morale".89 Diese Auffassung Saint-Pierres findet ihr Pendant bei Rousseau selbst. Denn in genau diesem Sinne bezeichnet er dann auch die Überzeugung, „que tout tenoit radicalement à la politique, et que, de quelque façon qu'on s'y prit, aucun peuple ne serait jamais que ce que la nature de son Gouvernement le ferait être", als Ausgangspunkt seiner eigenen Lehre von den Institutions politiques.90 Folglich ist es naheliegend, den „Erkenntniswert" der Beschäftigung mit Saint-Pierres Werk „für die Herausentwicklung dessen, was Rousseau eigentlich will, [als] besonders hoch" einzuschätzen, liefern sie doch Entwürfe für die von ihm für notwendig erachtete grundlegende Veränderung der politischen und gesellschaftlichen 86 87 88
89 90
Stelling-Michaud, Ce que Rousseau doit à Saint-Pierre, p. 35. Koch, Anmerkungen, S. 790. Vgl. Rousseau, Confessions, p. 408: „en ne me bornant pas à la fonction de traducteur, il ne m'étoit pas défendu de penser quelquesfois par moi-même, et je pouvois donner telle forme à mon ouvrage, que bien d'importantes vérités y passeraient sous le manteau de l'Abbé de St. Pierre encore plus heureusement que sous le mien." Rousseau, Extrait de projet de paix, pp. 664 u. 665. Rousseau, Confessions, p. 404. - Zu den Spuren und Konzeptionen Saint-Pierres, die sich im Werk Rousseaus aufweisen lassen und denen in diesem Zusammenhang im einzelnen nicht weiter nachgegangen werden kann, vgl. im einzelnen Hendel, Jean-Jacques Rousseau moralist, chap. VM u. IX, sowie Perkins, The Moral and Political Philosophy, chap. Vin. Wenn Wokler (Rousseau's Pufendorf, p. 373) also schreibt, daß „Rousseau subscribed more earnestly than perhaps any other major thinker of modern history to the proposition that human nature is shaped by politics", so ist hier die Spur zu einem der Vorläufer dieser Idee zu sehen.
Politische Theorie z w i s c h e n Gesellschaftskritik und P h i l o s o p h i e der Freiheit
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Verhältnisse seiner Zeit.91 Daß dies bedeutet, daß die Écrits sur l'abbé de Saint-Pierre mehr als bloße Vor- oder Gelegenheitsarbeiten sind, hat Rousseau schließlich selbst bestätigt. Denn 1765, als er sich mit der Planung einer Ausgabe seiner gesammelten Werke beschäftigt, verleiht er der Schlüsselfunktion seiner Auseinandersetzung mit Saint-Pierre dadurch noch einmal Ausdruck, daß er die daraus hervorgegangenen Schriften zusammen mit dem Discours sur l'inégalité und dem Contrat social in den Band seiner Politischen Schriften aufnehmen will.92 Offenbar kann also Stelling-Michaud berechtigterweise zu der Einschätzung kommen: „Tout ce que R o u s s e a u a écrit sur les f o n d e m e n t s de l'ordre social, sur la souveraineté politique et la nature du gouvernement, sur les relations entre Etats, sur le problème de la guerre et de la paix, doit être rattaché plus ou m o i n s directement à c e dialogue à c œ u r ouvert et par-delà le tombeau, avec l'auteur du Projet
de paix perpétuelle
"93
Die von Rousseau in den Jahren zwischen der Veröffentlichung des zweiten Discours und der Abfassung des Contrat social geführte Auseinandersetzung mit Saint-Pierre und seinen Reformprojekten steht demzufolge im Schnittpunkt seiner Kritik am Prozeß der modernen Zivilisation, seiner Suche nach den Voraussetzungen, Bedingungen und Formen von legitimer, in der Freiheit der Bürger gründender Herrschaft sowie seiner Reflexionen über die Möglichkeiten und Aussichten einer europäischen Friedensordnung. Gerade die letztgenannte, im Zentrum des Interesses der vorliegenden Arbeit stehende Problematik der Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen ist schließlich keine nur aus der bisher angesprochenen zufälligen Konstellation der geplanten Bearbeitung der Schriften Saint-Pierres entspringende Fragestellung Rousseaus, sondern sie ist als sachliches Problem für sein Werk von zentraler, d. h. von durchaus eigenständiger Bedeutung: Sie ist und bleibt wesentlicher Teil der von ihm intendierten Realisierung einer durch Recht und Freiheit, nicht durch physische Gewaltverhältnisse bestimmten Organisation gesellschaftlichen Zusammenlebens. Bevor auf die unterschiedlichen Versuche eingegangen wird, die sich zur Bearbeitung der so umrissenen Aufgabenstellung im Werk Rousseaus finden (hierzu Kap. IV.3 bis IV.5), soll zunächst dem, was bisher eher auf der Grundlage persönlicher Verbindungen und zeitlicher Abläufe als naheliegend erscheinend dargestellt wurde, systematisch nachgegangen werden, der Frage nämlich, inwiefern tatsächlich die Notwendigkeit besteht, daß Rousseau jenen Schritt von der Kritik bestehender gesellschaftlicher Herrschaftsformen und der Analyse der Voraussetzungen und Möglichkeiten einer politisch-institutionellen Verwirklichung menschlicher Freiheit hin zur Untersuchung der Sphäre der internationalen Beziehungen unternimmt (IV.2).
v. Raumer, Ewiger Friede, S. 138. - Trotz dieses vierzig Jahre alten Plädoyers von Raumers ist in Deutschland bis 1989 nicht einmal eine brauchbare Textausgabe der Écrits verfügbar gewesen; erst 1989 erschien innerhalb der von Martin Fontius herausgegebenen Edition von Rousseaus Kulturkritischen und politischen Schriften eine Übersetzung. So kann man kaum überrascht sein, wenn es in einer jüngeren Geschichte der politischen Ideen heißt, Rousseau habe die Schrift Saint-Pierres [!] „trotz Vorbehalten erneut publiziert [!]" (Reinhard, Vom italienischen Humanismus, S. 346). Vgl. den Anhang zu Rousseaus Brief an du Peyrou, 24. Januar 1765, in: Rousseau, Correspondance générale, tome XU, p. 247, sowie den Brief an seinen Verleger M.-M. Rey vom 18. März 1765, in: ebd., tome XIH, pp. 135 f. Stelling-Michaud,
Ce que Rousseau doit à Saint-Pierre, p. 38.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
IV.2 Die Notwendigkeit einer Theorie internationaler Beziehungen in Rousseaus politischer Philosophie ,Mettre
la loi au-dessus de l'homme est un problème en politique que je compare à celui de la quadrature du cercle en géometrie" (J.-J. Rousseau, 1771/1772)
Als Jean-Jacques Rousseau im April 1762 der Öffentlichkeit seine kleine Schrift Du contrat social vorlegte, erhob er mit ihr den Anspruch, die Grundsätze des Staatsrechts - eben jene Principes du droit politique, die der Untertitel des Contrat social ankündigte - entwickelt zu haben. Gegenstand des Begründungsversuchs legitimer politischer Herrschaft sind demzufolge „l'origine de l'État, la nature, l'étendue et le fondement du Pouvoir civil, les diverses formes de gouvernement, les rapports de l'Église et de l'État", insofern all dies „la matière du droit politique" darstellt.1 Diese Erklärung hinsichtlich der Reichweite der im Contrat social entwickelten Prinzipien ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie zugleich die Erklärung der Unvollständigkeit des von Rousseau präsentierten Unternehmens in sich enthält. Dies zumindest ist, wie Rousseau gleich zu Beginn seiner Abhandlung klarstellt, seine eigene Überzeugung gewesen, denn sie darf seinen Worten gemäß nur als der erste Teil eines weit umfangreicheren Buches angesehen werden, „entrepris autrefois sans avoir consulté mes forces, et abandonné depuis long-tems".2 Mit diesem Hinweis spielt Rousseau auf seinen Plan an, eine umfassende Untersuchung über die Institutions politiques zu verfassen, deren Gesamtanlage er in seinem gleichzeitig mit dem Werk über den Gesellschaftsvertrag erschienenen Emile skizziert hat.3 Den Plan zu diesem Werk hatte er, wie schon erwähnt, bereits in den frühen vierziger Jahren gefaßt, doch erst seit Beginn der fünfziger Jahre systematisch verfolgt, das heißt in den Jahren nach dem Erscheinen seines ersten zivilisationskritischen Discours sur les sciences et les arts von 1750 und seiner verstärkten Hinwendung zu historischen und prinzipientheoretischen Fragen der Grundlagen und Einrichtungen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Während er mit dem Contrat social also den ersten Teil des intendierten Projekts vorlegt, deutet er den weitergehenden Inhalt der ursprünglich geplanten Schrift über die politischen Einrichtungen in ihrer Gesamtheit an verschiedenen Stellen des Contrat social an. Nachdem er nämlich in dieser Abhandlung den Versuch unternehme, „[de] pos[er] les vrais principes du droit politique et [...] de fonder l'Etat sur sa base",4 habe es „dans la suite de cet ouvrage" darum gehen sollen, die ,relations externes", die Beziehungen zwischen den Staaten zu be1
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Derathé, Rousseau et la science politique, p. 393. Derathé weist darauf hm, daß Rousseau damit unter droit politique wie die naturrechtliche Tradition, in der er steht und wie sie etwa von Pufendorf repräsentiert wird (vgl. Wokler, Rousseau's Pufendorf), eine naturrechtlich begründete Lehre der grundlegenden Bestimmungen des Staates und seiner Einrichtungen versteht. In diesem Sinne schreibt Rousseau in den 'Lettres de la Montagne' (6 e lettre, p. 812), der Contrat social „ne peut être considéré que dans le nombre de ceux qui traitent du droit naturel et publique". Rousseau, Du contrat social, p. 349. Vgl. Rousseau, Émile, pp. 836-849; hierauf wird später zurückzukommen sein. Rousseau, Du contrat social, p. 470.
D i e Notwendigkeit einer Theorie internationaler Beziehungen in der politischen Philosophie
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handeln. Dies aber bedeutet hinsichtlich des gesamten Begründungsprogramms von Rousseaus Arbeit eine mehr als bloß quantitative Ergänzung: Wie er beansprucht, im Contrat social die Prinzipien des Staatsrechts neu begründet zu haben, so sollte die Fortsetzung der Institutions politiques auch die Grundlagen des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen völlig neu bestimmen, jenen Gegenstand, den er als „Matière toute neuve" bezeichnet, „où les principes sont encore à établir". 5 Mit den Institutions politiques beabsichtigte Rousseau mithin nichts weniger als eine Neubegründung der rechtlichen Prinzipien und Einrichtungen sowohl innerhalb als auch zwischen Staaten: „II souhaite réformer les h o m m e s et le monde, aussi bien sur le plan des relations intérieurs ou de la vie associée [...] que sur le plan des relations entre États et de la société internationale [...]. Rousseau, en effet, avait eu l'intention, après avoir établi les conditions de la société civile dans le cadre de la communauté nationale, de définir les principes qui régissent les relations des États entre eux". 6
Von Rousseau selbst ist ein solches, der Grundlegung der 'Prinzipien des Staatsrechts' im Contrat social analoges Werk über die 'Prinzipien des Völkerrechts' bzw. des Rechts zwischen den Staaten nicht überliefert. Schon nach seinen Erklärungen aus den Jahren um 1762, in denen er davon spricht, daß er es aufgegeben habe, 7 ist auch daran zu zweifeln, daß er ein solches Werk abgeschlossen hat und mehr zu tradieren gewesen sein könnte als jene Dokumente, die erhalten geblieben und im wesentlichen als Stadien der Vorarbeiten zu betrachten sind. 8 Der einzige Hinweis auf die Existenz eines längeren Manuskripts zur geplanten Fortsetzung der Institutions politiques stammt vom Comte d'Antraigues, der 1790 in seiner Schrift Quelle est la situation actuelle de l'Assemblée Nationale? berichtet, Rousseau habe ein entsprechendes, 32 Seiten umfassendes Manuskript verfaßt und es ihm zur Aufbewahrung übergeben. 9 Leider hilft diese Aussage nicht weiter, und dies aus zwei Gründen. Auf der einen Seite ist die Glaubwürdigkeit dieses Berichtes nur schwer einzuschätzen: Weder für die Beziehung d'Antraiques zu Rousseau, die seiner eigenen Aussage gemäß mehr als ein halbes Jahrzehnt gedauert haben und durch regelmäßige Besuche und einen ausführlichen Briefwechsel geprägt gewesen sein soll, noch für die von ihm erwähnte Abhandlung gibt es auch nur die geringste Bestätigung von Seiten Dritter. Doch selbst wenn man dies nicht zum Anlaß zu grundlegender Skepsis gegenüber dem Bericht nimmt, führt auf der an-
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Ebd., p. 431, Anm. Stelling-Michaud, Introduction, p. CXXXIX. Vgl. Rousseau, Du contrat social, p. 349 („un ouvrage [...] abandonné depuis long-tems"), sowie - in exakt den gleichen Termini - im 'Émile', pp. 842 f., Anm. - In der Vorbemerkung des Contrat social (p. 349) erklärt Rousseau zu den über das Staatsrecht hinausgehenden Teilen der Institutions politiques: „Le reste n'est déjà plus". Hierzu zählen neben Rousseaus Arbeiten zu Saint-Pierres Projet de paix perpétuelle und den im 'Contrat social' sowie im 'Émile' vorliegenden Hinweisen vor allem die Fragmente 'Que l'état de guerre'. Der Comte d'Antraigues berichtet hier: ,J.-J. Rousseau avait eu la volonté d'établir, dans un ouvrage qu'il destinait à éclaircir quelques chapitres du Contrat social, par quels moyens de petits Etats libres pouvaient exister à côté des grands Puissances, en formant des confédérations. D n'a pas terminé l'ouvrage; mais il en avait tracé le plan, posé les bases, et placé, à côté des seizes chapitres de cet écrit, quelques unes de ses idées, qu'il comptait développer dans le corps de l'ouvrage. Ce manuscrit de 32 pages entièrement de sa main, me fut remis par lui-même; et il m'autorisa à en faire, dans le courant de ma vie, l'usage que je croiais utile" (zit. n. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 320 f., Anm. 1).
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
deren Seite der Hinweis sachlich dennoch nicht weiter. Denn an gleicher Stelle erklärt d'Antraigues, der sich während der Französischen Revolution von einem begeisterten Anhänger Rousseaus zum ebenso entschiedenen Monarchisten gewandelt hatte, er habe Rousseaus Manuskript vernichtet, nachdem ihm klargeworden sei, daß seine Veröffentlichung eine Bedrohung für die französische Monarchie und die Einheit der Nation dargestellt hätte. 10 Es bleibt dabei, daß man bei dem Versuch, sich einer Antwort auf die Frage nach der Gesamtstruktur der Institutions politiques und der unausgeführt gebliebenen völkerrechtlichen Ergänzung des Contrat social anzunähern, lediglich auf die verschiedenen erhalten gebliebenen, in ihrem Status und ihrer Aussagekraft sehr heterogenen Bemerkungen, Fragmente und GelegenheitsSchriften Rousseaus zurückgreifen muß, in denen er sich mit Problemen des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen befaßt. Angesichts dieser Situation steht die Interpretation von Rousseaus politischer Philosophie vor einer doppelten Aufgabe. Zunächst stellt sich die Frage, ob es kontingent oder ob es systematisch zwingend ist, daß Rousseau seine Institutions politiques nicht zu Ende geführt hat. Inwieweit ist seinen Worten, er habe 'seine Kräfte überschätzt' und sich deshalb auf die Fertigstellung des Contrat social beschränkt, Erklärungskraft zuzuschreiben? Lassudrie-Duchêne jedenfalls glaubte, aufgrund dieser Aussage darauf schließen zu können, Krankheit und Schwäche seien der wesentliche Grund für Rousseaus Verzicht gewesen: „si cette partie de son œuvre reste inachevée, c'est à la maladie, à la faiblesse de ses forces physiques, qu'en remonte la cause, mais non certes à son indifférence pour de semblables problèmes ou à l'impuissance de son esprit."11
Doch eine solche Erklärung vermag nicht recht zu überzeugen. Denn schließlich könnte angesichts der in den sechziger und siebziger Jahren dann noch folgenden literarischen Produktion Rousseaus gefragt werden, warum er nicht einen Teil seiner Energie und keineswegs versiegenden Schaffenskraft auf die Fertigstellung dieses wichtigen und, wie er schließlich meinte, ihm am meisten Freude bereitenden und seinen Ruf besiegeln sollenden Werkes verwendet hat. Näher scheint deshalb eine andere Vermutung zu liegen, nach welcher dieser Verzicht eben nicht zufällig, sondern in der Sache selbst begründet ist. DemzuIn der genannten Schrift Quelle est la situation actuelle...? hatte d'Antraigues geschrieben: „Cet écrit, que la sagesse d'autrui m'a préservé de publier, ne le sera jamais: j'ai trop bien vu et de trop près le danger qui en résulteraut pour ma patrie. Après l'avoir communiqué à l'un des plus véritables amis de J.-J. Rousseau, [...] il n'existera plus que dans nos souvenirs"; zit. n. Windenberger, La république confédérative, p. 56; vgl. zur Einschätzung d'Antraigues und seines Berichts ebd., pp. 55-62, sowie Vaughan, Political Writings, vol. H, pp. 135 f.; ausführlich zu d'Antraigues Riemer, Die Staatsanschauung des Grafen d'Antraigues, S. 5 - 2 9 , zu seiner Stellung zu Rousseau ebd., S. 72 ff., zu seiner Wendung zum Revolutionsgegner 1789/1790 ebd., S. 100 ff. - Zu erinnern ist anläßlich von d'Antraigues Aussage über die Gefahr, die von Rousseaus Schrift für die Nation ausgehe, daran, daß die Verbindung von Republik und Föderation auch bei den Protagonisten der Französischen Revolution insgesamt einen schweren Stand hatte, da der Föderalismus Erinnerungen an die feudale Zersplitterung weckte und Vertreter eines mit diesem Begriff verbundenen Republikanismus gebrandmarkt und zeitweise verfolgt wurden (vgl. Hintze, Staatseinheit und Föderalismus, Kap. Xm, S. 262 ff.). So weist d'Antraigues in seiner Schrift von 1790 Rousseaus Gedanken einer Föderation kleiner Republiken zurück und bemerkt, wie Hintze (ebd., S. 267) zusammenfaßt, „man habe die Anhänger der Demokratie in dem - vielleicht ungerechten - Verdacht, 'in Frankreich den Roman der konföderierten Republiken verwirklichen zu wollen' - einen Roman, der durch seine Schönheit allerdings die besten Bürger verfuhren könne". Lassudrie-Duchêne, Rousseau et le Droit des Gens, p. 89.
Die Notwendigkeit einer Theorie internationaler Beziehungen in der politischen Philosophie
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folge könnte es deshalb bei bloßen Absichtserklärungen geblieben sein, weil eine solche Notwendigkeit einer das Droit politique ergänzenden Theorie des Droit public international überhaupt nicht besteht. In diese Richtung zielt die These Brandts, nach dessen Einschätzung Rousseau schließlich eingesehen hat, daß der Contrat social „tatsächlich ein in sich abgeschlossenes Ganzes" darstellt und „an keiner Stelle über sich hinaus auf die Notwendigkeit der Klärung der externen Relationen" verweist; dies sei der wahre Grund dafür, daß er „den ursprünglichen Plan der Institutions politiques aufgeben und sich auf seinen narzißtischen Staat beschränken" mußte.12 Dann freilich stellt sich die Frage, warum Rousseau offensichtlich auch während und nach der Abfassung von Contrat social und Émile nicht dieser Auffassung war, sondern der erklärten Überzeugung, dies sei systematisch zwingend und notwendig. Vielleicht aber ist diese vermeintliche Alternative von Notwendigkeit oder Unmöglichkeit insgesamt verfehlt, da hier nur jeweils unterschiedliche Aspekte von Rousseaus Position verallgemeinert und fälschlich für das Ganze genommen werden. Denn schließlich mag es und dies wird sich als ein wesentliches Resultat der vorliegenden Untersuchung erweisen sein, daß Rousseaus Antwort auf die Frage nach der rechtlichen Regulierung der internationalen Beziehungen und ihrer Konfliktdynamik eine grundlegende Paradoxie aufweist und theoriestrategisch in eine ausweglose Situation führt: vielleicht ist es nämlich am Ende dieselbe, der Konstruktionsweise des legitimen Gemeinwesens im Contrat social entspringende Notwendigkeit, die einerseits auf die rechtliche Regelung der Beziehungen zwischen den staatsrechtlich verfaßten Völkern verweist, die andererseits zugleich für ihre Unmöglichkeit und somit für das Scheitern des Plans der Institutions politiques verantwortlich ist. Wie auch immer man diese Fragen beantworten wird, stellt sich dem Interpreten des politischen Denkens Rousseaus eine zweite Aufgabe, die indirekt zur Beantwortung der genannten systematischen Problematik beitragen kann. In jedem Fall nämlich hat man sich bei der Interpretation seiner politischen Philosophie zu den vielfältigen Texten und Hinweisen zu verhalten, die allein durch ihre Zahl schon „the importance of international relations in the overall evolution of Rousseau's political thought" dokumentieren. 13 Wie steht es mit diesen Texten, in denen er sich zu den Problemen des Völkerrechts, zur Struktur der Beziehungen zwischen Staaten, zum Wesens des Krieges oder zur Möglichkeit seiner Bändigung oder dauerhaften Vermeidung äußert und in mehr oder weniger direkten Zusammenhang mit den Grundlagen seiner eigenen politischen, staatsrechtlichen und geschichtsphilosophischen Problemstellungen bringt? Zu fragen wäre, welche Zielsetzungen er in ihnen jeweils verfolgt, in welchem Argumentationszusammenhang sie je angesiedelt sind, zu welchen Resultaten Rousseau dabei in den jeweiligen Kontexten gelangt. Wie die folgende Untersuchung zeigen wird, erweist sich deshalb eine sorgfältige Unterscheidung der ganz unterschiedlichen Dimensionen, Fragestellungen und argumentativen Ebenen von Rousseaus Beschäftigung mit den Prinzipien der Verhältnisse in und zwischen Staaten als außerordentlich hilfund aufschlußreich. Denn auf diesem Weg erst erscheint eine Antwort auf die Frage, warum Rousseau von seinem Plan eines Werkes über die Staats- und Völkerrecht integrierenden Institutions politiques nur die erste Hälfte zum Abschluß gebracht hat, sinnvoll möglich zu sein. 12 13
Brandt, Die Interpretation philosophischer Werke, S. 109. Roosevelt, A Reconstruction of Rousseau's Fragments, p. 227.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
Bevor jedoch in diese detaillierte Analyse der entsprechenden Ansätze bei Rousseau eingetreten wird (IV.3 bis IV.5), soll zunächst danach gefragt werden, ob und inwiefern sich nicht doch aus den Prinzipien von Rousseaus politischer Philosophie auf die Notwendigkeit schließen läßt, sich mit der Problematik des Völkerrechts und der Struktur der Beziehungen nicht nur innerhalb der Staaten, sondern auch zwischen ihnen zu befassen. In dieser Hinsicht lassen sich zumindest zwei verschiedene Dimensionen unterscheiden, von denen sich die eine unmittelbar aus der im Contrat social entwickelten Konzeption republikanischer Gemeinwesen ergibt (IV.2.1), während die andere aus Rousseaus Bestimmung des 'Wesens' des Staates überhaupt entspringt, ganz gleich, wie er jeweils politisch-institutionell verfaßt sein mag (IV.2.2).
IV.2.1
Die Theorie internationaler Beziehungen als Folgeproblem: Die Sicherung der Existenz kleiner Republiken
Rousseau hat aus dem Umstand, daß er mit dem Contrat social die selbstgesetzte Aufgabe, die Bedingungen für die Entstehung und Erhaltung legitimer politischer Herrschaft aufzuweisen, noch nicht erfüllt sieht, kein Geheimnis gemacht. Vor allem ergibt sich diese Ergänzungsbedürftigkeit nicht aus dem 'äußerlichen' Grund eines zuvor aufgestellten Plans, in einem umfangreichen Werk über politische Einrichtungen eine bestimmte Reihe von Sachgebieten abzuhandeln, weil sie sich empirisch als naheliegend oder relevant aufdrängen, sondern sie resultiert aus der Logik des Arguments innerhalb des Contrat social selbst. Dieser verweist, wie zu zeigen sein wird, entgegen Brandts oben zitierter Vermutung eben doch aus internen Gründen „über sich hinaus auf die Notwendigkeit der Klärung der externen Relationen". Eines der zentralen Resultate von Rousseaus Abhandlung Du contrat social läßt sich in der These zusammenfassen, daß eine mit den Prinzipien des Gesellschaftsvertrags übereinstimmende Form legitimer staatlicher Herrschaft nicht nur unter bestimmten klimatisch-geographischen wie auch sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen möglich ist, sondern daß sie insbesondere von der spezifischen Größe des Staates abhängt und letztlich nur in kleinen Staaten dauerhaft realisiert werden kann.14 Dies ist deshalb der Fall, weil der Staat des Contrat social zwar einerseits groß genug sein muß, um den Bürgern eine sichere und autarke Lebensgrundlage verschaffen zu können, daß er andererseits jedoch eine gewisse Größe nicht überschreiten darf. Denn wie die Natur dem Menschen eine bestimmte natürliche Ausdehnung vorgegeben habe, so gilt dies für Rousseau auch für die Größe politischer Körperschaften: „il y a de même, eu égard à la meilleure constitution d'un Etat, des bornes à l'étendue qu'il peut avoir, afin qu'il ne soit ni trop grand pour pouvoir être bien gouverné, ni trop petit pour pouvoir se maintenir par lui-même". 1 5
Diese Erläuterung zeigt, daß Rousseaus Hinweis auf die 'natürliche' Größe legitimer Gemeinwesen keine Naturalisierung von corps politiques bedeutet, sondern in der Einsicht in 14 15
Vgl. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 175 ff. Rousseau, Du contrat social, p. 386.
Die Notwendigkeit einer Theorie internationaler Beziehungen in der politischen Philosophie
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institutionelle Verwirklichungsbedingungen der von ihm geforderten Gestalt politischer Herrschaft gründet. In großen Staaten sind die Staatsausgaben umfangreicher, bedarf es einer starken, zentralisierten Regierung und einer Vielzahl von Institutionen, die einen entsprechend großen Teil des gesellschaftlichen Reichtums verbrauchen und ein Eigenleben entwickeln, das zu einer immer größeren Entfremdung zwischen politisch-administrativer Elite und Bürokratie auf der einen, den Regierten auf der anderen Seite führt.16 Das aber ist für die Struktur republikanischer Gemeinwesen, wie Rousseau sie begründen will, nicht tragbar. Dies gilt vor allem, weil sich die Nachteile einer zu großen Ausdehnung des politischen Gemeinwesens in besonderem Maße im Hinblick auf das Herzstück des Contrat social auswirken, auf die staatsrechtliche Konstruktion, die die Übereinstimmung des Willens der Individuen mit der volonté générale garantieren soll. Die Gesetze nämlich, durch die der Souverän seinem Willen Ausdruck verleiht und handelt, können nach Rousseau nur dann als authentische Akte des Gemeinwillens angesehen werden, wenn sich das Volk versammeln und sie selbst beschließen kann. „Le Souverain n'ayant d'autre force que la puissance législative n'agit que par des loix, et les loix n'étant que des actes authentiques de la volonté générale, le Souverain ne saurait agir que quand le peuple est assemblé." 17
Aufgrund dieser Bedingungen ergibt sich für Rousseau im Fall einer Überdehnung des Umfangs politischer Gemeinwesen die Gefahr einer zweifachen Bedrohung des Fortbestehens der Struktur der Herrschaft der Bürger über sich selbst. Einerseits nämlich führe die Vergrößerung der Anzahl der Bürger, aus denen sich der Souverän zusammensetzt, in quantitativer Hinsicht dazu, daß der Einfluß der Stimme eines jeden einzelnen schwindet, mit der Konsequenz, daß „plus l'Etat s'aggrandit, plus la liberté diminue".18 Vollends problematisch wird es andererseits, wenn der Staat einen solchen Umfang angenommen hat, daß sich der Gemeinwille nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch indirekt äußern kann, worunter für Rousseau die Versuche zählen, das Volk als Souverän im Gesetzgebungsprozeß durch Abgeordnete zu repräsentieren. In diesem Fall hat sich nach Rousseau, der sich vom Verfechter zum radikalen Kritiker des Repräsentationsprinzips im Namen des Republikanismus gewandelt hat,19 ein qualitativer Umschlag vollzogen. Faktisch nämlich ist in diesem Moment die Gestalt legitimer politischer Herrschaft bereits zerstört, da der Gemeinwille weder veräußerlich ist noch von jemandem vertreten werden kann, sofern für den (Selbst-)Gesetzgebungsprozeß gefordert wird: „Toute loi que le Peuple en personne n'a pas ratifiée est nulle; ce n'est point une loi".20
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17 18
19 20
Zur Frage nach der angemessenen Größe legitimer politischer Körperschaften und den Fehlentwicklungen, die hier bestehende Disproportionen nach sich ziehen, vgl. Rousseau, Du contrat social, Ü.9 und IE (pp. 386 ff. u. 400 ff.). Rousseau, Du contrat social, p. 425. Ebd., p. 397. - Zu Rousseaus Versuch, die richtigen Proportionen republikanischer Regieningsverhältnisse mathematisch zu bestimmen, vgl. die Anmerkungen von Robert Derathé zu pp. 396 ff. des 'Contrat social' auf pp. 1475 ff. Vgl. zu dieser Entwicklung Rousseaus Herb, Verweigerte Moderne. Rousseau, Du contrat social, p. 430.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
Wenn Rousseau also „nur in Kleinstaaten eine politische Ordnung für möglich hielt, die legitim und d. h. republikanisch sein kann",21 weil einzig und allein in solchen staatlichen Gebilden das politische Gemeinwesen nicht durch interne Probleme zerstört wird und direkte Partizipation und Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten durch die Bürger selbst möglich sind, dann stellt sich für den corps politique in verschärfter Form das Problem der Selbsterhaltung nach außen. Man kann demzufolge pointiert formulieren, daß die Gewährleistung der Selbsterhaltung der Republik gegenüber inneren Zerstörungstendenzen von Strukturen legitimer Herrschaft dazu führt, daß die Problematik der Selbsterhaltung gleichsam auf die äußeren Beziehungen transponiert wird. Wie nämlich ist angesichts dieser Realisierungsbedingungen von Formen legitimer Herrschaft zu gewährleisten, daß solche Kleinstaaten nicht sofort wieder durch die Intervention fremder Mächte zerstört werden? Wenn das Volk als Souverän „l'exercice de ses droits" nur dann bewahren kann, „si la Cité n'est très petite", so stehen die kleinen Republiken angesichts der Pluralität der Staaten vor der existenziellen Frage: „si elle est très petite elle sera subjuguée?"22 Rousseau ist realistisch genug zu sehen, daß Kleinstaaten, denen es gelungen ist, sich gemäß den Prinzipien des Contrat social zu organisieren, der Übermacht der aggressiven großen Mächte mehr oder weniger hilflos ausgeliefert wären.23 Folglich muß die Aufgabe, die auf die im Contrat social dargelegte Begründung des Staatsrechts folgt, darin bestehen, nunmehr zu zeigen, wie man kleinen Republiken die erforderliche Stärke großer Staaten verleihen kann, d. h. „comment on peut réunir la puissance extérieure d'un grand Peuple avec la police aisée et le bon ordre d'un petit Etat".24 Der Übergang von der Frage nach Struktur und Organisation der republikanischen Gemeinwesen zu jener nach den internationalen Beziehungen ist somit kein willkürlicher Schritt, der ganz nach Belieben getan werden oder unterbleiben könnte. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein unmittelbares Folgeproblem aus der Konstruktion des Contrat social selbst, so daß es tatsächlich als konstitutiv angesehen werden muß für die Bildung und die Erhaltung eines legitimen politischen Gemeinwesens. Rousseaus Ausführungen über die Regelung der Beziehungen zwischen Staaten kommt hinsichtlich der Bestimmungen über Grundlagen und Realisierungsbedingungen republikanischer Herrschaft eine systematische Komplementärfunktion zu, sie können und müssen als integraler Bestandteil der Konstituierung und Bestimmung der innerstaatlichen Politik angesehen werden.25 Aus diesem Grund leiten entsprechende Hinweise den Contrat social ein, finden sie sich inmitten seiner Argumentation, schließt Rousseau sein Buch mit ihnen, wenn er im abschließenden Kapitel bemerkt, seine Arbeit sei erst zur Hälfte getan und bedürfe der Fortsetzung:
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22 21
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Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 177. - Zur terminologischen Differenzierung zwischen 'Demokratie' und 'Republikanismus', durch die Rousseau sich sowohl von der antiken und neuzeitlichen Tradition als auch vom heutigen Verständnis deutlich unterscheidet, vgl. Bastid, Die Theorie der Regierungsformen, v. a. S. 155 ff. Rousseau, Du contrat social, p. 431. 'Mehr oder weniger hilflos' deshalb, weil Rousseau zumindest in bestimmten Argumentationszusammenhängen die Selbsterhaltungskräfte kleiner Republiken auch gegenüber vermeintlich übermächtigen Nachbarn betont; vgl. Rousseau, Projet de Constitution pour la Corse, pp. 914 f., sowie unten, Kap. IV.5.1, v. a. S. 282 ff. Rousseau, Du contrat social, p. 431. Ebd., p. 427, benennt er das Problem wie folgt: „comment donner aux petits Etats assez de force pour résister aux grands?" v. Raumer, Ewiger Friede, S. 137 f.
Die Notwendigkeit einer Theorie internationaler Beziehungen in der politischen Philosophie
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„Après avoir posé les vrais principes du droit politique et tâché de fonder l'Etat sur sa base, il resteroit à l'appuyer par ses rélations externes; ce qui comprendrait le droit des gens, le commerce, le droit de la guerre et les conquêtes, le droit public, les ligues, les négociations, les traités etc.".26
Diese Konzeption bekräftigt und präzisiert er im zugleich mit der Schrift über den Gesellschaftsvertrag entstandenen Émile, in dem er die Grundzüge der geplanten Institutions politiques skizziert. Diese Darstellung ist von besonderem Interesse, weil sie die einzige zusammenhängende Ausführung über die Gesamtanlage dieses geplanten Werkes überhaupt ist. Hier kommt Rousseau im Abschluß an die Darlegung der Grundzüge des Contrat social darauf zu sprechen, daß aus der unterschiedlichen Größe und Stärke der Staaten eine gegenseitige Bedrohung resultiere und die ständige Gefahr des Krieges und der Zerstörung der konkurrierenden politischen Körperschaften bestehe. Somit ergibt sich auch hier für Rousseau die Notwendigkeit, zur Untersuchung der Strukturen der Beziehungen zwischen Staaten fortzuschreiten, um die Gefahren für die republikanische Freiheit erkennen und ihnen begegnen zu können: „Nous examinerons [...] l'espèce des remèdes qu'on a cherchés à ces inconvéniens par les ligues et confédérations, qui, laissant chaque Etat son maitre au dedans, l'arme au dehors contre tout aggresseur injuste. Nous rechercherons comment on peut établir une bonne association fédérative, ce qui peut la rendre durable, et jusqu'à quel point on peut étendre le droit de la-> confédération, sans nuire à celui de la souveraineté."27
Solche Passagen scheinen Interpreten wie Windenberger, den Verfasser der ersten systematischen Untersuchung von Rousseaus système de politique étrangère" zu bestätigen, wenn er aus der Feststellung, daß der Contrat social unvollständig ist und aufgrund seiner internen Struktur auf eine völkerrechtliche Ergänzung verweist, den Schluß zieht, diese Darstellung der staatsrechtlichen Grundlagen eines „Etat idéal" sei durch eine „doctrine des relations idéales entre les peuples" zu ergänzen und zum Abschluß zu bringen: „Le Contrat social postulait le Contrat international",28 Und ebenso hat Vaughan hervorgehoben, daß die Studien und Überlegungen zu den internationalen Beziehungen, zum Völkerrecht, zu den Fragen nach Krieg und Frieden und den institutionellen Bedingungen internationaler Rechtsverhältnisse, wie Rousseau sie vor allem im Umkreis seiner Beschäftigung mit dem Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre betrieben hat, im organischen Zusammenhang mit der Idee des ursprünglichen Gesamtplans der Institutions politiques stehen. 29 Auch wenn man Rousseau, Du contrat social, p. 470. Rousseau, Emile, p. 848. Windenberger, La république confédérative, pp. 13 f. u. 49. Windenberger führt zur Stützung seiner These drei seines Erachtens „apriorische" Gründe für eine solche notwendige Vervollständigung des Contrat social an (pp. 47-54): erstens den universalistischen Charakter von Rousseaus Prinzipien von Freiheit und Gleichheit; zweitens gehöre die Schutzverpflichtung des Staates gegen äußere Gefahren zu seinem Begriff; drittens weist er die geringe Größe und die daraus folgende Schutzbedürftigkeit legitimer Gemeinwesen hin: „Pour ces trois raisons - elles sont a priori, en ce sens qu'elles se tirent du simple examen de l'œuvre politique de J.-J. Rousseau - nous n'hésitons pas à affirmer dès ce moment que cette œuvre est inachevée" (ebd., p. 54). Vgl. Vaughan, Political Writings, vol. I, p. 100: „the doctrine of Federation, so far from being a mere offshoot, springs from the very root of Rousseau's political ideal; that the international Contract is necessary to complete the demands of that which gives birth to each nation taken singly; that it is still more necessary for the protection of the small State, which is also the 'free' State, against the aggressions of the large".
218
Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
berechtigte Zweifel daran haben kann, daß Rousseau, wie es hier anklingt, letztlich seinem Gesellschaftsvertrag ein strukturanaloges Modell der Organisation der Beziehungen zwischen den Staaten hinzuzufügen bereit gewesen wäre30: zutreffend sind offensichtlich die Hinweise von Windenberger und Vaughan auf den unmittelbaren Verweisungszusammenhang, den die Begründung innerer und äußerer Verhältnisse staatlicher Herrschaft für Rousseau bilden. In jedem Fall ist die Frage nach den Prinzipien eines legitimen politischen Gemeinwesens nach Rousseaus eigener Auffassung offenbar solange nicht vollständig beantwortet, wie sie nicht über die internen Konstitutions- und Erhaltungsbedingungen hinaus auch diejenigen umfaßt, die aus dem externen System der internationalen Beziehungen hervorgehen.
IV.2.2
Die Theorie internationaler Beziehungen als Strukturproblem: Die Staatenwelt als Natur- und Kriegszustand
Das Problem der Regulierung der Sphäre der zwischenstaatlichen Beziehungen betrifft bei Rousseau freilich nicht nur die kleinen Republiken, von denen bisher die Rede war. Es verschärft und generalisiert sich nämlich durch eine weit grundsätzlichere Überlegung, die er anstellt, wenn er den Zusammenhang zwischen dem 'Wesen' politischer Gemeinwesen überhaupt - „l'essence du corps politique"31 - einerseits und den sich aus ihm ergebenden Beziehungen zwischen solchen corps politiques andererseits analysiert. In dieser Hinsicht ist die Notwendigkeit der Untersuchung der Frage internationaler Beziehungen kein auf die Verwirklichung spezifischer, nämlich legitimer Staatswesen beschränktes Problem mehr, sondern eines, das mit der Begründung einer jeden Form einer staatlich konstituierten Rechtsgemeinschaft von Bürgern untrennbar verbunden ist. Dies zeigt der argumentative Gebrauch, den Rousseau in seiner Analyse der internationalen Beziehungen von der Theorie des Thomas Hobbes macht. Für Rousseau ist nämlich das Verhältnis zwischen Staaten aufgrund der spezifischen Bestimmungen des Begriffs des Staates prinzipiell als ein solches zu begreifen, wie es Hobbes als Kennzeichen seiner Konstruktion eines Naturzustandes zwischen Individuen angesehen hatte: Die Staaten befinden sich demnach untereinander in einem rechtlich nicht geregelten, von Mißtrauen, Ehrgeiz und Konkurrenz geprägten Zustand des unaufhebbaren, zumindest stets latenten Krieges aller gegen alle. Die Feststellung, daß das internationale System durch diese Struktur gekennzeichnet ist, resultiert nicht aus Rousseaus Betrachtung der historischen und empirischen Verhältnisse zwischen den europäischen Staaten seiner Zeit32 - obwohl es hier zweifellos Anschauungsmaterial genug gegeben hat - , sondern aus seiner Analyse der Struktur ihrer Beziehungen als corps politiques selbst. Rousseau, so Goyard-Fabre,
Vgl. ausführlich hierzu unten, Kap. IV.5, v. a. IV.5.1, S. 278 ff., 281 ff. Rousseau, Que l'état de guerre, p. 603. Dies vermutet Windenberger, La république confédéralve, pp. 69 ff., indem er den Ausgangspunkt Rousseaus wie folgt beschreibt: „11 existe, c'est un fait, un grand nombre d'États, et bien différents les uns des autres, - et de cette diversité résultent le plus souvent la tyrannie et la guerre" (ebd., p. 70). Daraus ergebe sich die Notwendigkeit eines (empirischen!) Vergleichs der „différentes sociétés politiques": „Rousseau n'avait qu'à jeter les yeux sur l'état de l'Europe au XVHT siècle, pour y constater la plus curieuse diversité" (ebd., p. 71).
D i e Notwendigkeit einer Theorie internationaler Beziehungen in der politischen Philosophie
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„ne dispute pas des faits; il considère la guerre et la paix du point de vue du droit". 33 Um dem Krieg und seinen Ursachen wirklich auf die Spur zu kommen, muß man folglich hinter die zufälligen historischen Umstände wie auch hinter besondere Erscheinungsformen mehr oder weniger legitimer Staatsformen zurückgehen und nach den ihnen zugrundeliegenden Strukturen und der aus ihnen resultierenden Dynamik der Beziehungen zwischen souveränen Staaten überhaupt fragen, die internationale Konflikte um vermeintliche Rechtsansprüche immer wieder von neuem erstehen lassen. Rousseau folgt dabei auf eine eigenwillige Weise den Spuren von Hobbes' Begründung der Notwendigkeit des exeundum e statu naturalis indem er den von diesem beschriebenen Naturzustand und dessen destruktive Dynamik nicht als den ursprünglich zwischen Menschen bestehenden Zustand ansieht, sondern als denjenigen, der einzig im Verhältnis zwischen Staaten existiert. Im Discours sur l'inégalité hat Rousseau eine Lehre vom natürlichen Zustand zwischen den Menschen entworfen, die derjenigen von Hobbes sowohl in inhaltlicher als auch in methodischer Hinsicht entschieden widerspricht. 34 Hobbes hatte mit der juridischen Fiktion des Zusammentreffens (gesellschaftlicher!) Menschen unter Abstraktion von allen politischen und rechtlichen Einrichtungen eingesetzt, um die Notwendigkeit von Recht und Staat zu demonstrieren. Rousseau setzt diesem Bild in geschichtsphilosophischanthropologischer Perspektive eine Konzeption entgegen, in der die Individuen im ursprünglichen Naturzustand selbstgenügsam lebende Wesen sind, bei denen sich die Bedürfnisse und die Umstände, unter denen sie sich befinden, in völligem Einklang miteinander befinden. Da sie hier noch weitgehend isoliert und ohne dauerhafte Beziehung miteinander leben, kann es nach Rousseaus Ansicht gar nicht zu jenem Kriegszustand kommen, von dem Hobbes in seinem „horrible sistème" und in „son absurde doctrine" ausgehe 35 : „les h o m m e s vivant dans leur primitive indépendance n'ont point entre eux de rapport assez constant pour constituer ni l'état de paix ni l'état de guerre, ils ne sont point naturellement ennemis". 3 6
Es sind die Zerstörung jener ursprünglichen Harmonie und der durch Arbeitsteilung, Konkurrenzkampf, Privateigentum und Ungleichheit gezeichnete wachsende gesellschaftliche Zusammenhang zwischen den Individuen, die nach Rousseau für die Heraufkunft des unerträglichen Zustands einer nahezu ununterbrochenen Reihe von Konflikten verantwortlich sind. In diesem Stadium entsteht zuallererst jener „conflit perpetuel qui ne se terminoit que par des combats et des meurtres" und somit jener Kriegszustand - der „plus horrible état de Goyard-Fabre, La Construction de la paix, p. 148. Freilich blendet Rousseau die rechtslogische Funktion der Hobbesschen Naturzustandstheorie - die er auf völkerrechtlicher Ebene wiederum in Anspruch nimmt - völlig aus; vgl. hierzu Herb, Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft, S. 19 ff., 75 ff. Rousseau, Que l'état de guerre, p. 610. - Rousseau folgt hier Montesquieus Kritik an Hobbes: „Le désir que Hobbes donne d'abord aux hommes de se subjuguer n'est pas raisonnable. [...] [Hobbes] attribue aux hommes avant l'établissement des sociétés, ce qui ne peut leur arriver qu'après cet établissement, qui leur fait trouver des motifs pour s'attaquer et pour se défendre" (Montesquieu, De l'esprit des lois, chap. 1.2, p. 126). Rousseau, Du contrat social, pp. 356 f. - Treffend hat Tuck gegen diesen Versuch Rousseaus, Hobbes' Ausgangspunkt zu destruieren, eingewandt: „of course, Rousseau's natural man was by definition in a state with which Hobbes had not been particularly concerned, for he was in a state in which there was effectively no interaction with other men. [...] Hobbes never supposed that in his state of nature men would be as isolated as they were in Rousseau's" (Tuck, The Rights of War and Peace, p. 199).
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
guerre" -, 3 7 aus dem sich dann die Notwendigkeit ergibt, politische Körperschaften zu gründen, in denen das Handeln der Individuen durch allgemeine Gesetze geregelt wird, indem sie ihre unsichere natürliche Freiheit durch gesicherte bürgerliche Freiheit unter Gesetzen ersetzen. Dies bedeutet, daß Rousseau den Naturzustand, wie Hobbes ihn seiner Ansicht nach als ursprünglichen unterstellt hatte, nicht als Ausgangs-, sondern als Endpunkt eines langen historischen Prozesses sieht. Die unerträgliche Konflikthaftigkeit des gesellschaftlichen Verkehrs ist mithin für ihn nicht das Resultat der natürlichen Gleichheit, sondern umgekehrt das der Institutionalisierung der gesellschaftlichen Ungleichheit. 38 Doch der wirkliche Kriegszustand ist für Rousseau selbst in diesem Stadium noch nicht erreicht, d. h. in jenem, das der Bildung einer Staatsgewalt, die die Beziehungen zwischen den Individuen rechtlich reguliert und von der Anwendung physischer Gewaltmittel befreit, unmittelbar vorausgegangen ist und diese notwendig gemacht hat. Wahrhaft etabliert sich für ihn der Zustand des Krieges aller gegen alle, der Kriegszustand in der Hobbesianischen Bedeutung des Wortes, erst als notwendiges Resultat der Bildung dieser den innergesellschaftlichen Rechtsfrieden stiftenden Staaten. Im zweiten Teil des Discours sur l'inégalité skizziert Rousseau „l'histoire hypothétique" der Herausbildung der politischen Gemeinwesen. 39 Dabei konstatiert er eine Dynamik der Entstehung einer Pluralität von Staaten. Denn in dem Augenblick, in dem sich die erste - im staatsrechtlichen Sinn - politische Körperschaft gebildet habe, seien alle anderen vorpolitischen Gemeinschaften gezwungen gewesen, ebenfalls die Gestalt staatlicher Einheiten anzunehmen, so daß binnen kurzem die gesamte Erde mit gleichermaßen staatlich verfaßten Gesellschaften bedeckt und unter ihnen aufgeteilt gewesen sei.40 Denn nur, wenn auch sie sich zu festen Einheiten, die durch einen Willen zu lenken sind, zusammenschließen und dadurch in die Lage versetzt sind, die Macht einer Gesellschaft zu bündeln und als Akteur gegen äußere Mächte und Interesse ins Spiel zu bringen, können sie verhindern, von den bereits bestehenden Staaten überwältigt, unterworfen und aufgesogen zu werden. Jenseits der Alternative von Unterwerfung unter die neu entstandene politische Gesellschaft oder Bildung einer eigenen, diese Form reproduzierenden Gesellschaftsorganisation gibt es kein Drittes: „II faut en faire partie ou s'unir pour lui resister. Il faut l'imiter ou se laisser engloutir par elle." 41 Die solcherart auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung gleichsam unvermeidlich entstehende Pluralität politischer Entitäten erzeugt nun freilich mit der gleichen Unvermeidlichkeit eben jenen Kriegszustand, den Hobbes nach Rousseaus Ansicht fälschlicherweise als natürlichen zwischen Individuen angenommen habe. Gleichgültig nämlich, nach welchen Prinzipien die Staaten jeweils eingerichtet sind, ob sie also der Willkürherrschaft von Despoten unterliegen oder ob sie als Verkörperungen des Gemeinwillens angesehen werden können: Im Verhältnis zueinander bleiben die Staaten doch in jedem Fall
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41
Beide Zitate Rousseau, Discours sur l'inégalité, p. 176. Carter, Rousseau and the Problem of War, p. 71. Rousseau, Discours sur l'inégalité, p. 127. Vgl. hierzu zusammenfassend Windenberger, La république confédérative, pp. 27 ff. Vgl. Rousseau, Discours sur l'inégalité, p. 178: „Les Sociétés se multipliant ou s'étendant rapidement couvrirent bientôt toute la surface de la terre, et il ne fut plus possible de trouver un seul coin dans l'univers où l'on pût s'affranchir du joug"; vgl. ders., Guerre et état de guerre, p. 1899. Rousseau, Que l'état de guerre, p. 603.
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partikulare, individuelle Willen,42 zwischen denen keinerlei positiv-rechtliche Beziehungen bestehen; Rechtsverhältnisse gibt es nur innerhalb, nicht zwischen den Staaten. In dieser Hinsicht gilt, da zwischen ihnen der Naturzustand herrscht, einzig das natürliche Gesetz. „Le droit civil étant [...] devenu la régie commune des Citoyens, la Loy de Nature n'eut plus lieu qu'entre les diverses Sociétés". 4 3
Denn die Aufhebung des „Loy de nature" zwischen Individuen ändert nichts an seiner Gültigkeit in der durch das positive Recht nicht erfaßten Sphäre: „la volonté de l'état quoique générale par rapport à ses membres, ne l'est plus par rapport aux autres états et à leurs membres, mais devient pour eux une volonté particulière et individuelle, qui a sa regle de justice dans la loi de nature". 44
Warum aber erweist sich dieser Naturzustand zwischen Staaten in Rousseaus Augen überhaupt notwendigerweise als ein Zustand des Krieges, warum zeigt sich „entre eux un raport général qui tend à leur destruction mutuelle"?45 Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus den bereits angedeuteten Bestimmungen der Individualität des corps politique einerseits, der Pluralität solcher Körperschaften andererseits. Zunächst unterscheidet sich dieser Naturzustand vom ursprünglichen zwischen den noch nicht vergesellschafteten Individuen dadurch, daß die Staatspersonen anders als jene keine natürlichen Schranken hinsichtlich ihrer Bedürfnisse und Leidenschaften haben, die es ihnen ermöglichen würden, prinzipiell selbstgenügsam und friedlich mit- resp. nebeneinander zu leben. Denn die natürliche Begrenztheit der menschlichen Existenz und ihrer Bedürfnisse war nach Rousseau die Voraussetzung dafür, daß die Menschen in der ersten Phase des Naturzustands in friedlicher Abgeschiedenheit und Isolation voneinander und somit ohne Streitursachen leben konnten.46 In bezug auf die Staaten ist ein solcher Zustand der Genügsamkeit und Selbstbezogenheit für Rousseau jedoch prinzipiell ausgeschlossen. Denn auf der einen Seite ist der Staat als corps politique zwar mit dem Menschen als willensbegabtem Wesen, als „être moral", vergleichbar;47 auf der anderen Seite hat der Staat aber im Unterschied zum Menschen als künstlich geschaffener Körper weder eine natürliche Größe noch eine natürliche Schranke im Hinblick auf den Umfang seiner Bedürfnisse und des zu seiner Erhaltung Notwendigen.
Vgl. Rousseau, Du contrat social, p. 363: „à l'égard de l'étranger, il [d. i. „le corps politique ou le Souverain"; O.A.] devient un être simple, un individu." Rousseau, Discours sur l'inégalité, p. 178; es versteht sich, daß Rousseau hier unter Sociétés staatlich verfaßte Gesellschaften versteht, d. h. Staaten. Rousseau, Discours sur l'Économie politique, p. 245. Rousseau, Guerre et état de guerre, p. 1899. „l'homme, au fond n'a nul rapport nécessaire avec ses semblables il peut subsister sans leur concours dans toute la vigueur possible; il n'a pas tant besoin des soins de l'homme que des fruits de la terre; et la terre produit plus qu'il ne faut pour nourrir tous ses habitants. Ajoutez que l'homme a un terme de force et de grandeur fixé par la nature et qu'il ne saurait passer. [...] Tout porte l'homme naturel au repos; manger et dormir sont les seuls besoins qu'il connaisse; et la faim seule l'arrache à la paresse" (Rousseau, Que l'état de guerre, pp. 604 u. 605). Rousseau, Discours sur l'Économie politique, pp. 244 f.: „Le corps politique, pris individuellement, peut être considéré comme un corps organisé, vivant, et semblable à celui de l'homme. [...] Le corps politique est [...] un être moral qui a une volonté [...] qui tend toujours à la conservation et au bien-être du tout et de chaque partie".
222
Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
„L'état [ . . . ] étant un corps artificiel n'a nulle mesure determiné, la grandeur qui lui est propre est indéfini, il peut toujours l'augmenter, il se sent foible tant qu'il en est de plus forts que lui". 48
Damit ist implizit bereits auf die zweite wesentliche Differenz zum 'natürlichen Menschen' hingewiesen. Denn aufgrund des 'Faktums der Pluralität' der Staaten 49 führt diese Unbestimmtheit der Größe, der Bedürfnisse und der notwendigen Bedingungen für die Selbsterhaltung einen jeden Staat zur Permanenz der (Konkurrenz-)Beziehung gegenüber allen anderen Staaten. Dadurch besteht gleichsam ein gesellschaftlicher Zusammenhang zwischen ihnen, der eine Dynamik hervorbringt, die den Naturzustand zwischen politischen Körperschaften zu einem des Krieges werden läßt. Rousseau folgt in diesem Zusammenhang ganz der Logik der Argumentation, wie sie von Hobbes vorgeführt worden ist. Dieser hatte den Naturzustand als „status Hominum extra Societatem civilem" - wie Hobbes das erste Kapitel von De cive überschrieben hatte - dadurch definiert, daß es in ihm keine Instanz gibt, die ein gemeinsames Recht setzen, anwenden und exekutieren könnte. Dies bedeutet, daß keine objektive Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Gut und Böse, zwischen Mein und Dein besteht, daß es vor allem keine Instanz gibt, die die einzelnen zwingen würde, in konkreten Fällen bestimmte Ansprüche und Urteile zu akzeptieren. Jeder einzelne bleibt Richter darüber, ob die jeweiligen Mittel und Handlungen „zur Erhaltung seines Lebens und seiner Glieder notwendig" und somit naturrechtlich zulässig sind oder nicht. 50 Unter diesen Bedingungen wären die Handlungskonflikte selbst dann unvermeidlich, wenn keiner dem anderen feindselig und mit dem Willen gegenübertreten würde, ihm zu schaden; aus rein präventiven Gründen ist jeder - und dies gilt für die Individuen im Naturzustand ebenso wie für die Akteure des gleichfalls als Naturzustand zu fassenden internationalen Systems - gezwungen, die Mittel zur Steigerung der eigenen Macht und zur Schwächung der Macht anderer zu akkumulieren. Rousseau hatte, wie oben angedeutet wurde, in geschichtsphilosophischer und anthropologischer Hinsicht mit Vehemenz den systematischen Ausgangspunkt von Hobbes bestritten, wonach „der natürliche Zustand der Menschen, bevor sie zur Gesellschaft zusammentraten, der Krieg gewesen ist, und zwar [...] der Krieg aller gegen alle". 51 Für Rousseau ist demgegenüber der Krieg nicht der natürliche Zustand, sondern das Resultat des Prozesses der Entfremdung von der Natur und der zunehmenden Vergesellschaftung. 52 Anders verhält es sich für ihn offenbar hinsichtlich der Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen. Hier erscheint ihm Hobbes' Darstellung angemessen zu sein und sich an ihrem richtigen Ort zu befinden. Denn die Staaten existieren in einem Zustand, in dem die wechselseitigen Ansprüche und Streitfragen durch keinerlei natürliche oder gesetzliche Instanzen verbindlich zu bestimmen oder zu entscheiden sind. Sie erfreuen sich ihrer natürlichen Freiheit, und ihr 48
49
50 51 i2
Rousseau, Que l'état de guerre, p. 605. In diesem Zitat muß man natürlich, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, „État" (Staat) lesen und nicht „état" (Zustand). Der für die politische Theorie Hannah Arendts konstitutive Begriff des Faktums der Pluralität bezeichnet treffend diesen Punkt in Rousseaus Argumentation. Arendt selbst hat den Begriff nicht nur im Rahmen ihrer Bestimmung der Grundbedingtheiten der condition humaine auf die Individuen angewendet (vgl. Arendt, Vita activa, § 1, S. 15), sondern, wenngleich en passant, auch auf die Staaten (ebd., § 28, S. 195). Hobbes, De cive, S. 81 (1.9). Ebd., S. 83 (1.12); vgl. hierzu auch oben, S. 37 ff. u. 41 ff. Carter, Rousseau and the Problem of War, p. 10.
D i e N o t w e n d i g k e i t einer T h e o r i e internationaler B e z i e h u n g e n in d e r politischen P h i l o s o p h i e
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partikularer Wille findet „sa regle de justice dans la loi de nature", das jedoch „tend toujours à la conservation et au bien-être du tout et de chaque partie" 53 : damit aber fällt - worauf noch näher einzugehen sein wird - das auf die Selbsterhaltung ausgerichtete Naturrecht mit dem Recht des Stärkeren ineins. Solange keine dritte Instanz die wechselseitigen Schranken und Ansprüche wirksam bestimmen kann, ist der Kriegszustand dauerhaft und durch den bloßen Willen zum Frieden und zur Beschränkung auf das, was jeder zu einem gegebenen Zeitpunkt das Seine nennt, nicht zu beenden. Die permanente Konkurrenz und die Gefahr, Angriffen anderer unvorbereitet ausgesetzt zu sein und zu unterliegen, zwingen einen jeden Staat dazu, ständig für einen Krieg vorbereitet zu sein oder ihn gar gegebenenfalls präventiv zu führen. Dies aber ist nichts anderes als die Konstatierung eben jener bereits von SaintPierre beklagten 'malheureuse nécessité', im Naturzustand den Wunsch nach Frieden dem Gewaltanwendung einbeziehenden Selbsterhaltungsstreben unterordnen zu müssen: „la guerre seroit encore inévitable, quand même chacun voudrait être juste". 54 Als künstlicher Körper ist der Staat gezwungen, sich beständig mit anderen zu vergleichen und sein Handeln im Hinblick auf deren Größe, Stärke und - vermutete - Absichten auszurichten: „il se sent foible tant qu'il en est de plus forts que lui. Sa sûreté, sa conservation, demandent qu'il se rende plus puissant que tous ses voisins. [...] Ainsi la grandeur du corps politique étant purement relative, il est forcé de se comparer sans cesse pour se connoître; il dépend de tout ce qui l'environne, et doit prendre interest à tout ce qui s'y passe car il auroit beau vouloir se tenir au dedans de lui sans rien gagner ni perdre; il devient petit ou grand, foible ou fort, selon que son voisin s'étend ou se resserre et se renforce ou s'affaiblit." 5 5
Der Übergang der Individuen in den staatlichen Zustand führt somit bei Rousseau zu einem paradoxen Resultat. Vollzogen wird er von den Individuen, um den Gefahren und Unsicherheiten der letzten Phase des Naturzustandes zu entkommen, um unter allgemeinen Gesetzen zu leben und Sicherheit für ihr Leben, ihre Freiheit und ihr Eigentum zu erlangen. 56 Nachdem sie diesen Schritt jedoch getan haben, finden sie sich in der dadurch geschaffenen Welt von Staaten all jenen Greueln ausgesetzt, zu deren Vermeidung sie ihn unternommen hatten. Statt eines Zustands allgemeinen Friedens und Rechts sehe man „les hommes unis par une concorde artificielle se rassembler pour s'entre égorger et toutes les horreurs de la guerre naitre des soins qu'on avoit pris pour la prévenir", was für Rousseau die Umkehr der von Hobbes behaupteten Kausalbeziehung von Natur-, Kriegs- und staatlichem Zustand bedeutet:
Rousseau, Discours sur l'Économie politique, p. 245. Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 569. - Saint-Pierre hatte in seinem Projet de paix (I, pp. 6 f.) festgestellt: „ils se trouvent dans la malheureuse nécessité pour avoir ce qu'ils regardent chacun comme le leur, de chercher à se surprendre par la ruse, & à se détruire par la force, c'est-à-dire, par la Guerre." Rousseau, Que l'état de guerre, p. 605. Abstrahiert wird dabei an dieser Stelle natürlich von dem gesellschaftlichen Inhalt, den dieser Übergang in Rousseaus Augen hat: Sicherheit und Eigentumsgarantie kommen für ihn schließlich primär den Interessen der Mächtigen und Reichen zugute, die auf diesem Weg ihren Usurpationen den Anstrich von Rechtmäßigkeit verleihen und mit der vereinigten Kraft der ganzen Gesellschaft verteidigen können wollen; vgl. Rousseau, Discours sur l'inégalité, pp. 175 ff.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
„bien loin que l'état de guerre soit naturel à l'homme, la guerre est née de la paix, ou du moins des précautions que les hommes ont prises pour s'assurer une paix durable."57
Die Folge des Eintritts in den staatlichen Zustand ist, daß die Individuen den Naturzustand noch nicht wirklich hinter sich gelassen haben, sondern sich nunmehr in einem „état mixte" befinden: Zur gleichen Zeit leben sie sowohl im bürgerlichen Zustand - insofern sie den Gesetzen ihrer Staaten unterworfen sind - als auch im Naturzustand - insofern sich die Staaten, deren Bürger sie sind, mit allen Konsequenzen in einem solchen befinden. Dadurch aber bleiben die Menschen „exposés aux maux des deux états sans en avoir les avantages".58 Offensichtlich befinden sich die Individuen, solange sie gezwungen sind, in diesem gemischten Zustand zu verharren, in einer schlechteren Position, als wenn sie den natürlichen Zustand niemals gegen den bürgerlichen eingetauscht und stattdessen ihre natürliche Freiheit behalten hätten. Entsprechend drastisch zeichnet Rousseau die Konsequenzen dieser Aufhebung des Naturzustands zwischen den Individuen, die denjenigen zwischen den Staaten ins Leben ruft und aufrechterhält und die Sinnhaftigkeit des ersten Schritts in Zweifel ziehen muß: „Les Corps Politiques restant [...] entr'eux dans l'Etat de Nature se ressentirent bientôt des inconveniens qui avoient forcé les particuliers d'en sortir, et cet Etat devint encore plus funeste entre ces grands Corps qu'il ne l'avoit été auparavant entre les individus dont ils étaient composés. De là sortirent les Guerres Nationales, les Batailles, les meurtres, les représailles, qui font frémir la Nature et choquent la raison, et tous ces préjugés horribles qui placent au rang des vertus l'honneur de répandre le sang humain. Les plus honnêtes gens apprirent à compter parmi leurs devoirs celui d'égorger leurs semblables; on vit enfin les hommes se massacrer par milliers sans savoir pourquoi; et ils se commettaient plus de meurtres en un seul jour de combat et plus d'horreurs à la prise d'une seule ville, qu'il ne s'en était commis dans l'Etat de Nature durant des siècles entiers sur toute la face de la terre. Tels sont les premiers effets qu'on entrevoit de la division du Genre-humain en différentes Sociétés." 59
Somit ergeben sich aus Rousseaus Analyse des 'Wesens' politischer Körperschaften Konsequenzen, die sich in origineller Weise auf die bisherige natur- und völkerrechtliche Tradition beziehen60 und für seine eigene Konzeption von zentraler Bedeutung sind. Im Unterschied zu Hobbes ist für ihn der Naturzustand erst am Ende einer langen Phase zunehmender Vergesellschaftung und wechselseitiger Abhängigkeit zu einem solchen geworden, in dem „la paix et le bonheur ne sont [...] qu'un éclair" und „rien n'est permanent que la misere", so daß die Menschen den Willen haben müssen, ihn zu verlassen.61 Ein wahrhafter Kriegszustand wird erst in dem Moment möglich und wirklich, in dem die Individuen den Naturzustand verlassen und politische Gemeinschaften gebildet haben. Vor dem Eintritt in den staatlichen Zustand mag es im natürlichen zwischen den Individuen wohl vereinzelte Kämpfe, gewaltsame Auseinandersetzungen oder Duelle gegeben haben, doch ist die Struktur der Beziehungen zwischen ihnen nicht dauerhaft und fest genug, um überhaupt von einem 'Krieg' sprechen können. Sind sie aber erst einmal Teil eines corps politique geworden, so
Rousseau, Que l'état de guerre, p. 603 u. 610. Rousseau, Emile, p. 848. Rousseau, Discours sur l'inégalité, p. 178 f.; vgl. ebenso ders., Émile, p. 848. Auf weitere Aspekte dieser Beziehung Rousseaus zur natur- und völkerrechtlichen Tradition wird weiter unten, S. 250 ff., eingegangen. Rousseau, Du contrat social (Manuscrit de Genève), p. 282.
Die Notwendigkeit einer Theorie internationaler Beziehungen in der politischen Philosophie
225
verhindert die Existenz der Staatsgewalt und der Rechtsordnung, denen alle Bürger gleichermaßen unterworfen sind, daß die Individuen noch zu Subjekten der Kriegsführung werden können. Um von 'Kriegen' sprechen zu können, bedarf es dauerhafter Strukturen, Einrichtungen und gleichsam materieller, in Eigentumsbeziehungen gründender Beziehungen, die erst auf der Grundlage einer bestehenden Staatenwelt zu existieren vermögen. „C'est le rapport des choses et non des hommes qui constitue la guerre, et l'état de guerre ne pouvant naitre des simples rélations personnelles, mais seulement des rélations réelles, la guerre privée ou d'homme à homme ne peut exister, ni dans l'état de nature où il n'y a point de propriété constante, ni dans l'état social où tout est sous l'autorité des loix."62
Mit dieser Behauptung, daß der Begriff des Krieges überhaupt nicht auf Verhältnisse zwischen Individuen angewendet werden kann, wendet sich Rousseau nicht nur gegen Hobbes, sondern zugleich auch gegen Hugo Grotius, einen der Begründer des neuzeitlichen Völkerrechts. Dieser hatte in seinem Werk De jure belli ac pacis mit dem Terminus Krieg noch einen jeden „Zustand von Personen bezeichnet, die miteinander gewaltsam kämpfen", und zwischen öffentlichen, privaten und gemischten Kriegen unterschieden. 63 Für Grotius stellten gewaltsame Konflikte zwischen Staaten demnach nur eine von mehreren Varianten möglicher Kriege dar. Für Rousseau hingegen kann von Kriegen allein im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Staaten gesprochen werden. 64 Die Bürger kommen hier nur in den Blick, insofern sie einander als Repräsentanten der jeweiligen Staaten gegenübertreten. „La guerre n'est donc point une rélation d'homme à homme, mais une rélation d'Etat à Etat, dans laquelle les particuliers ne sont ennemis qu'accidentellement, non point comme hommes ni même comme citoyens, mais comme soldats; non point comme membres de la patrie, mais comme ses défenseurs."65
Krieg und Staatlichkeit sind für Rousseau also ursächlich miteinander verbunden. Wie bereits im vorhergehenden Abschnitt die Betrachtung des Contrat social und seiner Beziehung zum geplanten zweiten, dem völkerrechtlichen Teil seiner Untersuchung über die Institutions politiques ergeben hat, so führt auch die Analyse von Rousseaus Konzeption jenes état mixte, den die Generierung der Welt von Staaten zur Überwindung des Naturzustands zwischen den Individuen erzeugt hat und der sich als ein Zustand erweist, der für die Freiheit und die Selbsterhaltung der Individuen bedrohlicher ist als derjenige, den er abgelöst hat, zu einem vergleichbaren Resultat. Rousseau kann sich mit der Konstatierung des erreichten Zustands nicht zufrieden geben, sondern er muß die Analyse der Dynamik der internationalen Beziehungen und der Möglichkeiten ihrer Überwindung vorantreiben. Ersparen könnte er sich dies nur um den Preis, sich damit zu begnügen, wie etwa im zweiten Discours in geRousseau, Du contrat social, p. 357. - Goyard-Fabre (La Construction de la paix, p. 155) hat die unterschiedlichen Aspekte hervorgehoben, die nach Rousseau erfüllt sein müssen, um von 'Krieg' sprechen zu können. Demnach bedarf es erstens „des conditions de durée" - d. h. der Krieg setzt konstante Beziehungen voraus - , zweitens „des conditions de personnes" - Krieg erfordert die wechselseitige Anerkennung als Feinde - , und drittens „des conditions d'objet": Krieg setzt als „le rapport des choses" voraus, daß „de relations réelles" bestehen, d. h. Beziehungen „de la propriété". Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges, S. 47 (1.1.2, §1), S. 83 (1.3.1, §1). Auf die Konsequenzen dieser Position für sein (Kriegs-)Völkerrecht wird weiter unten eingegangen; vgl. Kap. IV.3.3, v. a. S. 252 ff. Rousseau, Du contrat social, p. 357; vgl. ders., Que l'état de guerre, p. 604.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
schichtsphilosophischer und anthropologischer Perspektive als Kritiker des Zivilisationsprozesses aufzutreten und keinerlei darüber hinausgehende Ziele zu verfolgen. Doch insofern er mehr will, nämlich gleichsam in konstruktiver Einstellung als Theoretiker der Grundlagen politischer Institutionen und Prinzipien, welche die bürgerliche Freiheit und ein tugendhaftes Leben ermöglichen sollen, aufzutreten, kommt er nicht umhin, Lösungswege aus den Widersprüchen des beschriebenen état mixte zu suchen. Sowohl aus der Perspektive der Sicherung der gemäß den Prinzipien des Contrat social gebildeten Kleinstaaten als auch generell aus der Perspektive der Folgen der Bildung politischer Körperschaften ergibt sich mithin die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie der nun erst in aller Schärfe ausgebrochene, als Krieg aller gegen alle zu verstehende Naturzustand zwischen den Staaten zu bändigen oder vielleicht sogar dauerhaft aufzuheben ist.
227
Natur, Geschichte und Politik - W e g e aus d e m Naturzustand zwischen Staaten?
IV.3
Natur, Geschichte und Politik Wege Aus dem Naturzustand zwischen Staaten? „Toutes les Puissances de l'Europe forment entre elles une sorte de système ..." „... l'état relatif des Puissances de l'Europe est proprement un état de guerre." (J.-J. Rousseau, 1758)
Im Rahmen des Werks von Rousseau finden sich mehrere Anläufe, die er unternommen hat, um zu einer befriedigenden Lösung für das Problem des internationalen Naturzustands zu gelangen. Dabei lassen sich analytisch deutlich voneinander unterschiedene normative und deskriptive Konzeptionen erkennen, die er auf ihre Tragfähigkeit, Wünsch- und Machbarkeit hin befragt, die Konfliktlogik zwischen Staaten still zu stellen. Auch für diese Lösungsansätze gilt, daß Rousseau sie kaum einmal als solche entfaltet hat, geschweige denn, daß er sie konsistent vertreten und fortgeführt hätte. Denn es verändert sich die Bedeutung, die er ihnen jeweils zuspricht, im Laufe seiner philosophischen Entwicklung ebenso wie die Perspektive, unter der er jeweils die Ursachen, Dynamik, Tendenzen und Schranken des internationalen Naturzustands betrachtet. Deshalb sollen im folgenden die wesentlichen Argumentationslinien skizziert werden, die Rousseau entworfen hat, um das Problem des Naturzustands zwischen Staaten und seiner Folgen für die Möglichkeit der Einrichtung einer 'guten' Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu analysieren und aufzulösen. Dabei sollen, bevor auf Rousseaus Ideen zu einer staats- und völkerrechtlichen Reform der Staatenwelt eingegangen wird (IV.4 und 5), zunächst die sich realgeschichtlich vollziehenden Tendenzen zu einer Auflösung der in ihr bestehenden Konfliktdynamik in den Blick genommen werden (IV.3), die Rousseau überraschenderweise in der real existierenden Staatenwelt beobachten zu können glaubt. Überraschend ist ein solcher Ansatz, weil die damit verbundene Unterstellung erst einmal quer zu all jenen Überlegungen Rousseaus zu stehen scheint, wie sie bisher vorgestellt worden sind. Die Gründe nämlich, die er für die herrschende Dynamik des Mißtrauens, der Rüstung und militärischer Konflikte angeführt hatte, scheinen schließlich von vornherein jeglichen Überlegungen den Boden zu entziehen, nach denen sich der gesetzlose Zustand zwischen den Staaten aufgrund der Entwicklungslogik - sei es der Geschichte, sei es des faktischen politischen Handelns der Akteure - unter den gegebenen Bedingungen sozusagen von selbst entschärfen und in konfliktfreie Bahnen des Zusammenlebens münden könnte. Zu eindeutig widersprechen solchen Hoffnungen Rousseaus durchgängige und tiefgreifende Zivilisationskritik und sein geschichtsphilosophischer Pessimismus einerseits, seine Analyse der rechtlichen Widerspruchsstruktur souveräner Staatspersonen andererseits. Nun lassen sich in Rousseaus politischen Schriften jedoch Hinweise finden, die in eben diese Richtung einer sich de facto bereits vollziehenden Pazifizierung der internationalen Beziehungen zumindest auf europäischer Ebene deuten. Zum einen gilt dies für die Idee eines Systems des Gleichgewichts der europäischen Staaten bis hin zu ihrer zunehmenden Vergesellschaftung (IV.3.1). Darüber hinaus sind die Hinweise auf das Alte Reich und seine föderale Struktur in den Blick zu nehmen, die Rousseau in Fortführung und spezifischer Abgrenzung von den entsprechenden Passagen im Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre
228
Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
in ihrer Bedeutsamkeit für die Stabilität und einen weitergehenden Organisationsgrad Europas würdigt (IV.3.2). Und schließlich ist an jene Entwicklungstendenzen innerhalb des bestehenden Völkerrechts zu erinnern, die auch in Rousseaus Augen auf eine Einhegung und Beschränkung der internationalen Konflikte hinzudeuten scheinen (IV.3.3). Bereits die Aufzählung dieser Dimensionen internationaler Beziehungen im 18. Jahrhundert zeigt zugleich, daß es auch jenseits der Beschäftigung mit Rousseaus Werk von Interesse ist, diesen Ansätzen etwas genauer nachzugehen: Sie bestimmen schließlich nicht nur Rousseaus weitere Lösungsversuche in entscheidender Weise, sondern sind bis auf den heutigen Tag im politischen, völkerrechtlichen und geschichtsphilosophischen Denken wirksam und finden ihre Anhänger, ohne daß ihre Problematik dabei immer schon so deutlich erkannt worden wäre, wie es bei Rousseau und in der Tradition, in der er steht und zu der SaintPierre und Kant zu zählen sind, der Fall gewesen ist.
IV.3.1
Die europäische Gesellschaft als System des Gleichgewichts
Angesichts der zwischenstaatlichen Konflikte und ihrer destruktiven Folgen für Individuen und Staaten könnte es durchaus plausibel und lebensnah erscheinen, auf die zivilisatorischen und pazifizierenden Tendenzen zu vertrauen, die in übergreifender historischer Perspektive festzustellen oder doch zumindest zu erhoffen und realistischerweise zu erwarten sind. Es könnte - wie es dann etwa auch bei Kant der Fall sein wird 1 - vermutet werden, daß ähnlich der Idee einer den wirtschaftlichen Gesamtprozeß regulierenden invisible hand des Marktes die weitere geschichtliche Entwicklung gleichsam selbsttätig dafür sorgt, daß das Leben und die Interessen der bisher einander so feindlich gesonnenen Staaten so stark miteinander verkoppelt und verflochten werden, daß ihre Konflikte künftig in friedlichen Bahnen ausgetragen werden? 2 Und lassen sich nicht vielleicht auf dem Wege des praktischen politischen Handelns und der Diplomatie im Laufe der Zeit Mechanismen finden, die die grundlegenden Widersprüche zwischen den Staaten wenn auch vielleicht nicht prinzipiell aufheben, so doch immerhin soweit entschärfen können, daß dauerhaft zu vermeiden ist, daß Konflikte in offene Gewaltanwendung und Kriege umschlagen? Hinweise darauf, daß Rousseau solche historischen und pragmatischen Überlegungen angestellt und in Erwägung gezogen hat, finden sich vor allem in den einführenden Passagen des Auszuges, den er in der Mitte der fünfziger Jahre aus dem Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe hergestellt hat, in dem Saint-Pierre die politisch-institutionellen Voraussetzungen für eine dauerhafte europäische Friedensordnung aufzeigen versuchte. Im Unterschied zur eigentlichen Diskussion der institutionellen und rechtlichen Aufhebung des Kriegszustands zwischen Staaten, bei der Rousseau sich in diesem Text eng an die Vorlage Saint-Pierres anschließt, 3 sind diese einleitenden Überlegungen in ihrem argumentativen Gehalt nicht Saint-Pierre, sondern allein Rous-
1 2
3
Vgl. hierzu unten, S. 309 f. Zur friedenspolitischen Bedeutung des Handels und des internationalen Wirtschaftsverkehrs, wie sie von zahlreichen Vertretern der französischen Aufklärung hervorgehoben wird, vgl. Fischbach, Krieg und Frieden, S. 97 f. (u. passim). Vgl. hierzu weiter unten, Kap. I V A 1, S. 264 ff.
Natur, G e s c h i c h t e und Politik - W e g e aus d e m Naturzustand z w i s c h e n Staaten?
229
seau zuzuschreiben, der hier tatsächlich den Namen des „bon abbé" benutzt, um seine eigenen Einsichten zu verkünden. 4 Rousseau weist in diesen Bemerkungen auf reale Vergesellschaftungsprozesse in Europa hin, auf jene historischen, kulturellen, politischen, ökonomischen und rechtlichen Konvergenzen und Verbindungen, die die Völker Europas im Laufe der Jahrhunderte zu einer Art von System zusammengeschlossen haben. Es bestehen nach Rousseaus Ansicht nämlich „par l'union des intérêts, par le rapport des maximes, par la conformité des coutumes, ou par d'autres circonstances [...] des relations communes entre des Peuples divisés". 5 Aus diesem Grund kann - zumindest im konkreten Fall Europas - mit einiger Berechtigung die Frage gestellt werden, ob nicht durch solche Verbindungen der Kriegszustand zwischen den Staaten gemäßigt werden könnte. Oder führen diese Entwicklungen gar zu einem Abschleifen der ihm zugrunde liegenden Konfliktpunkte und somit gleichsam zum Absterben des Naturzustands zwischen den Staaten? Dies scheint durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen, hört man Rousseaus Darstellung dieser „société réelle" Europas: „ t o u t e l e s P u i s s a n c e s d e l ' E u r o p e f o r m e n t entre e l l e s u n e sorte d e s y s t è m e qui l e s unit par u n e m ê m e r e l i g i o n , par u n m ê m e droit d e s g e n s , par l e s m œ u r s , par l e s lettres, par l e c o m m e r c e , et par u n e s o r t e d ' é q u i l i b r e qui e s t l ' e f f e t n é c e s s a i r e d e t o u t c e l a " . 6
Diese Einheit Europas ist für Rousseau das Produkt einer langen historischen Entwicklung. Ihre Wurzeln lägen in den gemeinsamen Ursprüngen im Römischen Reich und im Fortwirken des gesellschaftlichen und politisch-rechtlichen Bandes, mit dem Rom die Völker Europas vereinte. Darüber hinaus sei es vor allem das Christentum - und hierbei nicht zuletzt der Einfluß der Päpste und ihrer jeweiligen Politik - gewesen, dem „l'Europe doit encore aujourd'hui l'espece de société qui s'est perpétuée entre ses membres". 7 Zwar spricht auch Rousseau vom „simulacre antique de l'Empire Romain" und vermutet in ihm folglich mehr eine interessierte Fiktion als eine geschichtliche Wirklichkeit. Nichtsdestotrotz anerkennt er das Weiterleben und -wirken der hier gewachsenen gemeinsamen soziokulturellen Wurzeln, die gleichsam die Basis für „une société plus étroite entre les Nations de l'Europe" gebildet haben. 8 Von größerer Bedeutung ist jedoch nach Rousseau eine zweite Dimension der europäischen Vergemeinschaftung, die in der aktuellen Struktur der Beziehungen zwischen den Völkern Europas gründet. Demnach scheinen sie sich, begünstigt durch die geographischklimatischen Konstellationen, auf dem besten Weg zu befinden, zu einer übergreifenden gesellschaftlichen Einheit zusammenzuwachsen. Bedenkt man, daß Rousseau nur wenige Jah4
Rousseau,
Confessions, p. 408. - Es läßt sich also nicht einfach zwischen „Referat" - im 'Extrait' - und
„Kommentar" - im 'Jugement' - unterscheiden, wie es etwa nach Schräder S. 107) der Fall zu sein scheint. Demgegenüber hat v. Raumer
(Politisch-semantische Strategien,
(Ewiger Friede, S. 135 ff.) mit Recht hervorge-
hoben, daß Rousseaus Bearbeitung des Projet de paix sich fast durchgängig von Saint-Pierres ursprünglichem Ansatz unterscheidet. 5
Rousseau,
6
Ebd., pp. 5 6 7 u. 565.
7
Extrait du Projet de paix, p. 565.
Ebd., p. 566. - Es klingt wie ein spätes Echo Rousseaus, wenn Schulze
zum Beginn der Geschichte Europas
nach dem Niedergang des Römischen Reiches schreibt: „Europa wäre in eine unzusammenhängende Vielfalt primitiv verfaßter Stämme auseinandergefallen, wäre da nicht die einigende Kraft der Kirche gewesen, und die fortdauernde Erinnerung an Rom" (Staat und Nation, S. 20). 8
Rousseau,
Extrait du Projet de paix, p. 567.
230
Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
re zuvor in seinen beiden zivilisationskritischen Abhandlungen in der wissenschaftlichkulturellen Zivilisation gerade den Grund für die moralische Dekadenz der Gegenwart namhaft gemacht hatte, so zeichnet er diesen Bildungsprozeß Europas in überraschend positiven, geradezu an den Fortschrittsoptimismus des Abbé de Saint-Pierre gemahnenden Wendungen. Die neuen technischen Entwicklungen, der durch Handel und Reisen geförderte Transfer von Gütern und Wissen, der künstlerische und wissenschaftliche Austausch haben demnach zu einem sozialen, politischen, rechtlichen und kulturellen Zusammenhang der europäischen Völker geführt, der sie zu einer festen Einheit mit spezifischen Merkmalen soziokultureller Homogenität gestaltet hat: „une société réelle qui a sa Religion, ses mœurs, ses coutumes et même ses loix, dont aucun des Peuples qui la composent ne peut s'écarter sans causer aussi-tôt des troubles".9
Dieses gleichsam historisch gewachsene, die unterschiedlichen Dimensionen politisch-sozialen Lebens umfassende Gleichgewichts- und Stabilitätssystem Europas wird für Rousseau darüber hinaus auf politischer und diplomatischer Ebene durch das System des Gleichgewichts der Mächte gestützt, wie es sich von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an zwischen den europäischen Staaten ausgebildet hatte und seit der Wende zum 18. Jahrhundert zum leitenden Ordnungsmodell geworden war. Nach Rousseau ist „cet équilibre si vanté" jedoch kein bewußt eingerichtetes System, sondern es ist gleichsam naturwüchsig entstanden und erhält sich nach autonomen Gesetzmäßigkeiten selbst, denn „qu'on y songe ou non, cet équilibre subsiste, et n'a besoin que de lui-même pour se conserver, sans que personne s'en mêle; et quand il se romproit un moment d'un côté, il se rétablirait bientôt d'un autre". 10 Jeder Versuch europäischer Mächte, allein oder im Bündnis mit anderen die Hegemonie zu gewinnen, die übrigen Mächte zu beherrschen und „die ausbalancierte Pluralität der Nationen" zu gefährden," muß Rousseau zufolge also entsprechende Gegenreaktionen hervorrufen und ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zwei Elemente sind es, durch die Rousseau dieses 'natürlich' gewachsene Gleichgewicht zusätzlich gefestigt sieht. Auf der einen Seite gibt es „le jeu des négociations, qui presque toujours se balancent mutuellement". 12 Rousseau weist hiermit auf den Umstand hin, daß sich im Zuge der Durchsetzung des modernen Staatensystems ein neues System der Diplomatie zur Herstellung und Sicherung der jeweiligen Macht- und Rechtsansprüche entwickelt hat, ein System, welches er 1743 bis 1744 als Sekretär des französischen Botschafters in Venedig aus nächster Nähe kennenlernen konnte. 13 Auf der anderen Seite erblickt er im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, wie es seit dem Westfälischen Frieden verfaßt 9 10
11 12 13
Ebd., p. 567. Ebd., p. 570. - Es wäre freilich, wie sich im folgenden zeigen wird, verfehlt, Rousseau aufgrund dieser Formulierungen voreilig als Vertreter des europäischen Gleichgewichtsdenkens anzusehen. Brandt, Europa in der Reflexion der Aufklärung, S. 14. Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 572. Vgl. Schräder, Le Saint-Empire, p. 90, der bemerkt, daß man seit dem 17. Jahrhundert „utilise de plus en plus le moyen de la diplomatie. Or la diplomatie exige - et ce phénomène va croissant - du personnel diplomatique, une caste spécifique disposant d'une formation le plus souvent historico-juridique. Ces hommes-là publient des textes scientifiques, ils font de la diplomatie une discipline universitaire à part entière et se créent leur propre champ d'action dans l'opinion publique. [...] On voit ainsi se former une véritable classe politique." - Allgemein zur Entstehung der modernen Diplomatie vgl. Janssen, Anfänge des modernen Völkerrechts.
Natur, Geschichte und Politik - Wege aus dem Naturzustand zwischen Staaten?
231
war, „le vrai soutien du système de l'Europe". 14 Hiermit spielt Rousseau zum einen auf das - worauf im folgenden genauer einzugehen sein wird - mit den Friedensverträgen von Münster und Osnabrück geschaffene komplexe System wechselseitiger Garantien an, durch das die großen und kleinen Staaten des Kontinents in eine Art von gesamteuropäischer Friedensordnung eingebunden seien. Zum anderen weist er damit auf die 1648 festgelegte Verfassungsstruktur des Alten Reichs hin, die im Inneren die Interessen und die Existenz der beträchtlichen Anzahl von Territorialmächten reguliert und sichert, nach außen dafür sorgt, daß dem Reich die Mittel und der Wille zur Eroberung genommen wird, dabei selbst aber gegen alle Eroberungsgelüste fremder Mächte gefeit bleibt.15 Seine Einschätzung der gesamteuropäischen Bedeutung und Vorbildlichkeit der Reichsstruktur kulminiert in der emphatischen Erklärung, daß „le Droit public, que les Allemands étudient avec tant de soin, est encore plus important qu'ils ne pensent, et n'est pas seulement le Droit public Germanique, mais à certains égards, celui de toute l'Europe."16
Dennoch ist dieses historisch gewachsene Gleichgewicht zwischen den Staaten Europas für Rousseau keine mögliche Basis für eine dauerhafte Ordnung allgemeinen friedlichen Verkehrs. Anzunehmen, daß er unter Hinweis auf die vermeintliche „Naturgegebenheit des europäischen Gleichgewichts" sein Vertrauen „auf Faktoren der Kontinuität" habe setzen können, würde seine wirkliche Position deutlich verkennen.17 Trotz und gerade wegen der 'realen Vergesellschaftungsprozesse' innerhalb Europas kann nämlich nach Rousseaus Ansicht keineswegs davon ausgegangen werden, daß auf ihrer Grundlage nun etwa die Konflikthaftigkeit der internationalen Beziehungen abgemildert und der Naturzustand zwischen Staaten wenn schon nicht aufgehoben, so doch zumindest pazifiziert werden kann. Denn die Vergesellschaftungsdynamik der Staaten verläuft nach eben jenem Muster, das auch die der Individuen im Naturzustand prägte. Wie im vorstaatlichen Zustand die wachsende Vergesellschaftung zwischen den zunächst isoliert lebenden Individuen, so verursacht auch die Zunahme der politischen, kulturellen und ökonomischen Verflechtung zwischen den Staaten wachsende Ungleichheit und Konflikthaftigkeit. Je enger das Netz der wechselseitigen Bindungen, Interessen, Ansprüche, Rechte und generell der Beziehungen zwischen ihnen wird, 14 15
Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 572. Vgl. ebd., p. 572; ausführlicher hierzu v. Aretin, Das Reich, S. 55 ff., sowie den Exkurs zum Alten Reich unten, S. 240 ff. - Rousseau greift hier ein Motiv auf, das sich 1670 schon bei Leibniz findet, der ganz in diesem Sinne seine Bedencken welchergestalt Securitas publica interna et externa und Status praesens im Reich iezigen Umbstände nach auf festen Fuß zu stellen mit der Vision schloß, daß durch die wiederhergestellte Ordnung des Reiches „Teutschland in seinen flor, Europa in die balance, daraus es verrucket, wieder kommen [werde], und alles in friede und ruhe, zu allgemeinen besten der Christenheit, erhalten werden" (S. 214).
16
Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 572. - Dies verweist bereits auf unterschiedlichen Konzeptionen eines Gleichgewichts, wie sie für die Theorie internationaler Beziehungen systematisch von Bedeutung sind: „La conception [de la balance] attachée à la politique extérieure, à la Realpolitik et à l'Europe, est anarchique [...]; la représentation inspirée par le principe de l'Empire, elle, se fonde sur des institutions stables et des procédures juridiques" (Schräder, Le Saint-Empire, p. 94); insofern können die rechtlich-institutionellen Strukturen eines Gebildes wie des Reiches als Vorbild für eine internationale, politisch-rechtlich institutionalisierte, den anarchischen Naturzustand dauerhaft aufhebende Gemeinschaft dienen.
17
So Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, S. 426 f., indem er sich einseitig auf die bisher hervorgehobenen Passagen stützt, die - im folgenden behandelten - Gründe hingegen, die dem widerstreiten, gänzlich übergeht.
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Herrschaft des G e s e t z e s und internationaler Naturzustand bei R o u s s e a u
desto fragiler wird es auch. Rousseau schwenkt demzufolge nicht auf die fortschrittsoptimistische Position jener Aufklärer ein, die von einem natürlichen Gleichschritt von aufblühendem ökonomischen Handelsgeist und wachsendem Interesse an Verrechtlichung und Gewaltfreiheit innerhalb wie zwischen den staatlich verfaßten Gesellschaften ausgehen. Demgegenüber führen für ihn „les idées de commerce et d'argent" nicht zur Verlagerung der Energien vom Krieg auf den friedlichen ökonomischen Konkurrenzkampf, sondern zur Verschärfung der Konflikte, so daß es dabei bleibt, „que l'état relatif des Puissances de l'Europe est proprement un état de guerre".18 Von Völkerfreundschaft ist wenig zu spüren, betrachtet man die „dissentions perpétuelles, les brigandages, les usurpations, les révoltes, les guerres, les meurtres, qui désolent journellement ce respectable séjour des Sages, ce brilliant asyle des Sciences et des Arts": Angesichts dieser Situationsbeschreibung vermag Rousseau nur bitter zu spotten, daß „cette fraternité prétendue des Peuples de l'Europe ne semble être qu'un nom de dérision, pour exprimer avec ironie leur mutuelle animosité".19 Dieser Zustand des europäischen Gesellschaftszusammenhangs kann durch jenes System des Gleichgewichts, das er doch selbst als vermeintlich so festgefügt beschrieben hatte, nicht entscheidend abgemildert werden. Der Zustand des Gleichgewichts schafft kein „equilibrium", kein ruhiges und geregeltes Neben- und Miteinander der Akteure des internationalen Interaktionssystems. Es ist vielmehr ein derart ausbalanciertes Geflecht von Interessen, Rechten, Beziehungen und Kräfteverhältnissen, „que le moindre mouvement des uns ne peut manquer de choquer les autres", so daß jede Änderung der zu einem gegebenen Zeitpunkt bestehenden Interessen, Kräfte- und Machtverhältnisse - ob willentlich oder nicht - zum Zusammenbruch und gewaltsamen Austarieren einer neuen Balance führen kann.20 Rousseau folgt in dieser kritischen Einschätzung Saint-Pierre, der die Bewunderung seiner Zeitgenossen für das Gleichgewichtsmodell und ihr Vertrauen in es schon nicht zu teilen vermocht hatte. Dieser hatte sich, wie bereits bemerkt wurde, sehr früh schon als scharfsichtiger Kritiker der neu entstehenden Ideologie eines europäischen Gleichgewichtssystems erwiesen, zu dem er sich wenig hoffnungsvoll äußerte: „L'Equilibre par sa nature est une situation, où tout c e qui est en balance est très-facile à être m i s & à être conservé en m o u v e m e n t ; la moindre cause intérieure o u extérieure suffit pour lui donner un m o u v e m e n t nouveau, o u pour faire continuer celui qu'il avoit déjà". 21
Auch die politischen und diplomatischen Aktivitäten stabilisieren nach Rousseau das Gleichgewicht der Mächte nicht, sondern perpetuieren die Konflikte, da nicht die Erhaltung Rousseau, Extrait du Projet de paix, pp. 572 u. 568. Ebd., pp. 567 f. - Darauf, daß Rousseau, wie es an dieser Stelle anklingt, den Kosmopolitismus der Mehrheit der Aufklärungsvertreter nicht teilt und statt dessen auf die Betonung nationaler Strategien zur Gewinnung und Sicherung politischer Freiheit setzt, wird unten zurückgekommen, vgl. S. 282 ff. Ebd., p. 568. - Für Rousseau ist also evident, was in der modernen Theorie internationaler Beziehungen hinsichtlich des Begriffs des „Gleichgewichts" bemerkt worden ist, daß mit diesem Begriff nämlich tatsächlich gänzlich heterogene und einander widersprechende Zustände bezeichnet werden und daß er von dieser Unbestimmtheit und Mannigfaltigkeit der Bedeutungen in der politischen Praxis gewissermaßen auch lebt; vgl. Behrens/Noack, Theorien der internationalen Politik, S. 54 ff., v. a. 55 f. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 37; vgl. zu Saint-Pierre oben, S. 114 f. u. 132 f. - Diese Skepsis teilte auch Kant, für den „die sogenannte Balance der Mächte in Europa [...], wie Swifts Haus, welches von einem Baumeister so vollkommen nach allen Gesetzen des Gleichgewichts erbaut war, daß, als sich ein Sperling drauf setzte, es sofort einfiel, ein bloßes Hirngespinst" ist (Kant, Über den Gemeinspruch, S. 312).
Natur, Geschichte und Politik - Wege aus dem Naturzustand zwischen Staaten?
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des Friedens, sondern die Aufrechterhaltung einer spezifischen Mächtebalance ihr Ziel ist, was das Vorbereiten und Führen von Kriegen nicht aus-, sondern explizit als legitimes Mittel der Politik einschließt. 22 Für Rousseau ist die 'Unerschütterlichkeit' des Gleichgewichts nicht mit Stabilität und tendenzieller Aufhebung des Kriegszustands zwischen den europäischen Staaten zu verwechseln. Das Gleichgewichtssystem bedeutet ganz im Gegensatz dazu seine faktische Institutionalisierung: es ist eine Form, sich im universalen Zustand des Krieges zu bewegen, ohne seine Spielregeln verändern zu wollen.
IV.3.2
Das Alte Reich als Kern einer europäischen Ordnung?
Wie ist nun in diesem Zusammenhang der Hinweis auf Struktur und Bedeutung des Alten Reiches einzuschätzen, wie er sich in Rousseaus Überlegungen zur historisch gewachsenen Einheit und Stabilität der Verhältnisse zwischen den europäischen Gesellschaften findet? Dieser Hinweis ist im hier behandelten Zusammenhang von doppeltem Interesse. Zum einen knüpft Rousseau mit ihm offenbar direkt an ein wichtiges Motiv des Projet de paix des Abbé de Saint-Pierre an, insofern dieser, wie gezeigt, die historische Gestalt des Alten Reichs in konstruktivistischer Perspektive idealisierte und als allgemeines Strukturmodell einer internationalen Föderation souveräner Staaten interpretierte und zugunsten seines Friedensprojekts in Anschlag brachte. Zum anderen bringt er hier eine (verfassungs-)rechtliche Perspektive für die europäische Ordnung ins Spiel, die, wie im folgenden noch zu sehen sein wird, auch für ihn ein unverzichtbares - darum aber, wie sich gleichfalls zeigen wird, von ihm noch nicht notwendig auch als realisierbar eingeschätztes - Element der Überwindung des internationalen Naturzustands darstellt. Die Hinweise auf die Ordnung des frühneuzeitlichen deutschen Reichs bei Saint-Pierre und Rousseau haben in der historischen und verfassungsgeschichtlichen Literatur der vergangenen Jahre im Zusammenhang mit der Diskussion über eine differenziertere Erforschung und Bewertung dieses Staatsgebildes und seiner Stellung im europäischen System des 17. und 18. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit gefunden. 23 Diese beiden französischen Aufklärer zählen schließlich zu jenen politischen, staats- und völkerrechtlichen Schriftstellern, die - im Unterschied zur lange Zeit vorherrschenden Sichtweise 24 - in diesem Reich
Dies unterstreichen Bérenger und Meyer, La France dans le monde au XVDT siècle, p. 17: J'équilibre est, par définition, instable, de sorte que tout l'art de la diplomatie consiste à le maintenir ou à le rétablir, le cas échéant, en déclenchant une guerre limitée dans ses objectifs et ses manifestations." Diese Neubewertung verbindet sich - bei aller sonstigen Differenzen - mit Namen wie Karl Otmar von Aretin, Volker Press, Heinz Schilling, Heinz Duchhardt, Klaus Malettke oder Anton Schindling; vgl. exemplarisch Press, Die kaiserliche Stellung im Reich, S. 189 ff.; Schräder, L'Allemagne avant l'État-nation, pp. 13 ff.; Schindling, Kaiser, Reich und Reichsverfassung, S. 25 ff. Diese pointierten Kritiken der Verfassungsstruktur des Alten Reichs setzten bereits im 17. Jahrhundert ein, wofür Autoren wie der aus schwedisch-antihabsburgischer Perspektive schreibende Hippolithus a Lapide oder der aus souveränitätstheoretischer Perspektive argumentierende Samuel Pufendorf stehen (vgl. oben, S. 159, 161 ff.). Zu diesen Positionen trat im 18. Jahrhundert die antifeudalistisch inspirierte Kritik, wie sie etwa in der Enzyklopädie im Artikel 'Empire' oder bei Mably zum Ausdruck kommt (vgl. oben, Anm. 100 auf S. 148, sowie den Exkurs weiter unten, S. 240 f.). Im 19. Jahrhundert, das mit der zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Kritik Hegels an der Verfassung Deutschlands (1799/1802) und mit der offiziellen Auflösung des Reichs 1806 anhob, setzte mit der borussischen, national(-istisch) am deutschen Einheitsstaat orien-
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
einen positiven Beitrag zur bestehenden Ordnung in der Mitte Europas wie auch für die gesamteuropäische Staatenwelt gesehen haben. Mehr noch als die sehr viel ausführlichere Diskussion des Reichs bei Saint-Pierre, auf dessen Spuren Rousseau sich prima vista zu bewegen scheint, ist es im Rahmen dieser historiographischen Neubewertung vor allem jene Einschätzung Rousseaus, die immer wieder herbeizitiert und als Beleg dafür angeführt wird, daß es durchaus auch positive und differenzierte Würdigungen des vielgeschmähten Alten Reichs gegeben habe. Schließlich sei dieser es gewesen, der sich „zu einem Loblied des Deutschen Reiches aufgeschwungen habe], in dem er [...] geradezu die Unverzichtbarkeit des Reiches für das europäische Staatensystem zum Ausdruck brachte"25 und seine Bedeutung „als Instrument der regionalen Integration Europas" hervorhob.26 Solche Versuche, Rousseau zum Kronzeugen einer noch nicht von vorrangig nationalstaatlich geprägten Perspektiven und einer eigenständigen Interpretation des Reiches anzuführen, können bei genauerem Hinsehen freilich zumindest voreilig und sachlich wenig angemessen scheinen. Für diese Annahme könnten zwei Gründe sprechen. Auf der einen Seite nämlich handelt es sich bei diesen Ausführungen um eine äußerst kurze, nicht einmal einen ganzen Absatz umfassende Stelle, die zudem noch in dem ganzen von Rousseau bekannten Œuvre vollkommen isoliert dasteht. Nirgends finden sich weitere Hinweise, die von einem eigenständigen, vertieften Studium von Geschichte, Verfassung, Zustand und europäischer Stellung des Alten Reichs durch Rousseau zeugen würden.27 Dies allein relativiert schon die Bedeutung von Rousseaus Einschätzung stark. Erschwerend jedoch kommt auf der anderen Seite noch der erwähnte Umstand hinzu, daß sich Rousseaus Hinweis auf das Reich inmitten seines Extrait du Projet de paix perpétuelle de M. l'abbé de Saint-Pierre findet. Somit könnte man mit einigem Recht zu der Schlußfolgerung kommen, daß es sich bei Rousseaus Bemerkungen zum Alten Reich, seiner Verfassung und Stellung in Europa lediglich um eine beiläufige Passage innerhalb einer scheinbar epigonalen, der Darlegung und Explikation von Gedankengängen eines Dritten bemühten Gelegenheitsschrift handelt, die zudem noch den Charakter einer Auftragsarbeit besitzt.28 Es scheint also nach dem Gesagten nur legitim, die Frage aufzuwerfen, inwiefern hier überhaupt von einer originären Leistung Rousseaus gesprochen werden kann und es sich bei den Ausführungen zum Alten Reich nicht um eine bloße Wiedergabe von Positionen des Abbé de Saint-Pierre handelt. Dies würde zumindest auch den erstgenannten Umstand erklärlich machen, wonach sich außerhalb dieses Textes kein weiteres Zeugnis der Beschäftigung Rousseaus mit der Verfassung des Alten Reichs und ihrer gesamteuropäischen Dimentierten Rezeption und retrospektiven Kritik an der Verfassung des Alten Reichs eine neue Phase deutscher Nationalgeschichtsschreibung ein (vgl. Schulze, Staat und Nation, S. 178 ff.; Schindling, Kaiser, Reich und Reichsverfassung). Duchhardt, Reich und europäisches Staatensystem, S. 179; vgl. auch v. Aretin, Das Reich, S. 53. Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, S. 197. - Demgegenüber schenkt Windenberger in seiner einschlägigen Studie über 'La République confédérative' (vgl. etwa p. 209) dem Verweis auf das Alte Reich keinerlei Beachtung. Insofern bleibt man auf Vermutungen über Rousseaus Lektüre oder andere, eher informelle Informationsquellen angewiesen. So findet sich etwa unter den zahlreichen um 1750 von Rousseau als Sekretär von Madame Dupin ausgewerteten Büchern eine zehnbändige Histoire générale de l'Allemagne von Le P. Joseph Barre (1748), wobei diese Auswertung freilich, wie oben, S. 205, gesagt, ganz anderen Zwecken dient, nämlich die Rolle der Frauen in der Geschichte zu dokumentieren. Dies suggerieren Rousseaus Bemerkungen in den 'Confessions', pp. 407 f., 422 ff.
Natur, Geschichte und Politik - Wege aus dem Naturzustand zwischen Staaten?
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sion mehr findet. Eigentümlicherweise wird diese Frage aber kaum gestellt, nicht zuletzt vielleicht auch deshalb, weil dies eine Lektüre der Werke des als Schriftsteller schon zu Lebzeiten in Verruf geratenen Saint-Pierre 29 voraussetzen würde, da nur auf dieser Basis eine vergleichende Untersuchung möglich ist. Einem Großteil der Forscher scheint es demnach angebracht, Rousseaus Erklärung, er habe die Schrift dazu genutzt, um unter dem Mantel des Abbé de Saint-Pierre eigene Erkenntnisse und Wahrheiten zu verkünden, 30 auch auf diese spezielle Passage anzuwenden und der generellen Vermutung nachzugeben, der rationale Kern, der in Saint-Pierres Werk stecke, sei in Rousseaus Auszug aufgehoben, d. h. einerseits aufbewahrt, andererseits überhaupt zum erstenmal klar entwickelt und zu Bewußtsein gebracht worden. 31 Auf diese Weise würde man sich zudem der Mühe, die Schriften Saint-Pierres selbst zur Hand nehmen und ihre als mühsam und wenig erfreulich bekannte Lektüre beginnen zu müssen, auf elegantem Wege entledigt haben. Doch so einfach verhält es sich nicht; weder sind Rousseaus Bemerkungen, so knapp sie auch sein mögen, einfach zu vernachlässigen, noch sind sie ein bloßer Aufguß der Vorstellungen Saint-Pierres. Dies zeigt bereits ein kurzer Blick in die dem Alten Reich gewidmeten Passagen des Projet de paix des Abbé de Saint-Pierre und des Auszuges, den Rousseau aus ihm hergestellt hat. Schon ein oberflächlicher Vergleich bestätigt, daß beide erheblich voneinander abweichen, und zwar sowohl hinsichtlich der Aussagen über den faktischen Zustand und die Bedeutung des Alten Reichs und seiner Verfassung, als auch im Hinblick auf die Stellung, die diesem Hinweis im Rahmen der jeweiligen Argumentation zur Bestimmung der Bedingungen einer künftigen Rechts- und Friedensordnung zwischen den europäischen Staaten zukommt. Rousseau führt, so hatte sich gezeigt, den Hinweis auf das Reich im Zusammenhang mit seiner Darstellung des historischen Prozesses ein, der dazu geführt habe, daß die europäischen Staaten „une sorte de système" hervorgebracht hätten, eine „société", die sich auf der Basis einer Vielzahl von Entwicklungen, Verflechtungen und Gewohnheiten in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen herausgebildet habe, und dies trotz seiner fehlenden politisch-rechtlichen Überformung in Gestalt gemeinsamer europäischer Institutionen und Verfahren. 32 Als besonderes Element hatte Rousseau hier - neben der römisch-christlichen Verwurzelung und Prägung, den ökonomischen, wissenschaftlich-technischen und kulturellen Verflechtungsprozessen sowie jenem mit politischen und diplomatischen Mitteln ausbalancierten System der europäischen Mächte - den Beitrag bezeichnet, den in diesem Zusammenhang das Alte Reich leiste. 33 An dieser, in der einschlägigen Literatur oft zitierten Stelle schreibt Rousseau zur Rolle des Reichs in Europa sowie zur „sagesse" seiner bundesstaatlichen Organisation: 34
29 30 31
32 33 34
Vgl. hierzu oben, S. 48 ff. u. S. 97 ff. Rousseau, Confessions, p. 408. Nach verschiedentlichen Erklärungen Rousseaus hat man es bei Saint-Pierre mit einem naiven und dem ,Wahn der Vernunft' verfallenen Denker (Rousseau, Écrits sur l'abbé de Saint-Pierre, p. 657) zu tun. Sachlich zur Einschätzung der Berechtigung von Rousseaus Vorwurf eines unreflektierten Rationalismus an die Adresse Saint-Pierres vgl. neben den Ausführungen im Teil A der vorliegenden Arbeit auch Carter, Rousseau and the Problem of War, pp. 145 ff. Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 565; vgl. hierzu oben, S. 229 ff. Vgl. ebd., pp. 565-572. Ebd., pp. 564 f.
236
Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
„c'est le Corps Germanique, placé presque au centre de l'Europe, lequel en tient toutes les autres parties en respect, et sert peut-être encore plus au maintien de ses Voisins, qu'à celui de ses propres membres: Corps redoutable aux Etrangers, par son étendue, par le nombre et la valeur de ses Peuples; mais utile à tous par sa constitution, qui, lui ôtant les moyens et la volonté de rien conquérir, en fait l'éceuil des Conquérans. Malgré les défauts de cette constitution de l'Empire, il est certain que tant qu'elle subsistera, jamais l'équilibre de l'Europe ne sera rompu, qu'aucun Potentat n'aura à craindre d'être détrôné par un autre, et que le Traité de Westphalie sera peut-être a jamais parmi nous la base du système politique." 3 5
Die Bedeutung des Empire oder Corps Germanique ergibt sich für Rousseau mithin aus zwei Aspekten. Wenn er die Westfälischen Friedensverträge als die dauerhafte 'Grundlage des politischen Systems' bezeichnet, so verweist er damit einerseits auf jenes komplexe (Rechts-)System wechselseitiger Garantien, welches dazu geführt habe, daß die europäischen Mächte in eine Art von Rechts- und Friedensordnung eingebunden seien, indem sie mit der Gewährung der inneren und äußeren Stabilität des Reichs zugleich das Mächtegleichgewicht Europas im Lot halten. 36 Andererseits und vor allem aber trägt nach Rousseau die spezifische Organisationsform des Alten Reichs, d. h. sein institutionell und praktisch gesichertes Zusammenspiel von Einheit und Differenz der mannigfaltigen großen und kleinen Territorien und Herrschaften, auf dreifache Weise zur Sicherung und Verfestigung des Friedens in Europa bei. Zum einen gereicht offenbar die - ansonsten vielbeklagte - Größe und Schwerfälligkeit des Reiches Europa zum Vorteil, insofern es dadurch als Ganzes zu aggressiven Akten gegenüber Dritten strukturell nicht in der Lage ist. Zweitens schrecke das Reich durch seine Größe und Macht selbst wiederum von solchen kriegerischen Akten Dritter ihm gegenüber ab, insofern seine Mitglieder wie auch der Kaiser im Fall äußerer Bedrohung von internen Konflikten und Interessengegensätzen absehen und zur Selbsterhaltung des Ganzen wie seiner Glieder zusammenstehen. 37 Und drittens schließlich hat es die Reichsverfassung - als jener verfassungsrechtliche „Corps Germanique [... qui] sert [...] au maintien de ses [...] membres" - vermocht, die Gegensätze zwischen Ständen und Konfessionen innerhalb des Reiches zu pazifizieren und dadurch die materiellen und ideologischen
Ebd., p. 572. Freilich ist hier ein historischer Wandlungsprozeß zu bemerken, der in Rousseaus Darstellung nicht mehr recht erkennbar ist. Das europäische System, wie es im Rahmen des Westfälischen Friedens 1648 begründet wurde, war noch in Kategorien einer gesamteuropäischen Äecftrsordnung konzipiert. Dieses System ist spätestens seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts nur mehr eine historische Reminiszenz und Berufungsinstanz in Friedensverträgen, während es in der Realität zunehmend durch jenes „rechtsfreie" System des europäischen Gleichgewichts abgelöst wurde, bei dem nicht mehr die Berufung auf Recht, sondern die „Überlegenheit der Machtmittel oder die bessere Diplomatie" den Verlauf internationaler Politik dominierte (Aretin, Das Reich, S. 64 f.). Diese Komponente des nicht rechtlich, sondern eher mechanisch verstandenen Gleichgewichts kommt, wie gesehen, auch bei Rousseau neben jenem älteren des europäischen Rechtssystems seit 1648 in seiner Zustandsbeschreibung Europas und der Rolle des Alten Reichs in seiner Mitte zum Tragen. Ein - wohl auch für Rousseaus Bild des Reichs prägendes - Beispiel ist der Siebenjährige Krieg, der gerade zur Zeit der Abfassung seiner Bemerkungen zum Alten Reich stattfand und in dem Frankreich nach der renversement des alliances erstmals seit Jahrhunderten auf Seiten des Kaisers und der Reichsstände gegen das aufstrebende Preußen als abtrünnige, die internen Reichsstrukturen und das europäische System gefährdende Macht in den Krieg zog; zu diesem Einschnitt im französischen Deutschlandbild vgl. Externbrink, Frankreich und die Reichsexekution gegen Friedrich II.
Natur, Geschichte und Politik - W e g e aus dem Naturzustand zwischen Staaten?
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Streitgegenstände zu unterbinden, die in der Vergangenheit regelmäßig zu europäischen Flächenbränden geführt hatten. 38 Von zentraler Bedeutung für Rousseaus „Loblied" auf das Alte Reich als unverzichtbarem „Kernstück einer europäischer Friedensordnung" 39 ist demzufolge seine spezifische historische Gestalt und Funktion, die es seiner Einschätzung zufolge auf der Grundlage des 1648 errichteten verfassungsrechtlichen Gebäudes und seiner darauf beruhenden Stellung innerhalb des europäischen Gleichgewichtssystems angenommen hat. Damit jedoch führt Rousseau eine Perspektive ein, die sich prinzipiell von derjenigen des Abbé de Saint-Pierre unterscheidet. Bei diesem hatte nicht nur aus Gründen seines ganz anderen historischen Erfahrungshintergrundes eine derart positive Einschätzung der realgeschichtlichen Existenzweise des Reichs weniger nahe gelegen. Saint-Pierre entwarf sein Projet de paix und sein Bild der Verfassung des Alten Reichs schließlich nicht nur inmitten eines europäische Dimensionen annehmenden Krieges zwischen den Bourbonen und den Habsburgern um die spanische Erbfolge, sondern auch am Ende einer rund hundertjährigen Phase fast dauerhaften Krieges in Europa, in dessen Zentrum oft - wenngleich meist als Schlachtfeld - das Alte Reich stand. Saint-Pierre hatte also wenig Anlaß dafür, auf eine faktisch pazifizierende Funktion des Reichs zu verweisen, wie Rousseau es nach der just 1713/14 mit den Friedensschlüssen von Utrecht und Rastatt einsetzenden - zumindest gesamteuropäisch gesehen langen Phase des Friedens tun konnte. 40 Vor allem jedoch konnte sich eine solche Einschätzung einer konkreten Stabilisierungsfunktion des Alten Reichs in Europa bei Saint-Pierre aufgrund seines völlig anders gearteten systematischen Vorgehens und seiner Einschätzung der aktuellen Gestalt der Verhältnisse im Reich und in Europa gar nicht finden. Bei ihm fungierte, wie gezeigt worden ist, 41 das Alte Reich wesentlich als ein Modell, als ein Beispiel für eine allgemeine Struktur institutionell garantierter Rechtsbeziehungen zwischen souveränen Staaten. Bei Rousseau hingegen wird das Reich weniger als Modell denn als historische Realität betrachtet, wie Stelling-Michaud klarsichtig, doch eigentümlicherweise fast gänzlich ohne Resonanz bleibend, bemerkt hat: „Tandis qu'aux yeux de l'abbé de Saint-Pierre, le 'Corps germanique' apparaissait, par son caractère supra-national et fédératif, c o m m e une forme idéale ou un modèle pour la future Europe, Rousseau, lui, considère l'Empire c o m m e une réalité historique, localisée, susceptible de
Obwohl der Siebenjährige Krieg das Gegenteil nahelegt, kann er doch auch als Bestätigung für das Funktionieren des Systems verbucht werden, zu dem die Exekution von 'Strafmaßnahmen' gegen widerrechtlich handelnde Mitglieder zählt. v. Aretin, Das Reich, S. 58. Vgl. hierzu insgesamt oben, S. 105 f. - Doch auch im Falle Rousseaus bleibt die Frage, inwiefern seine Darstellung des Reichs als Kern der europäischen Friedensordnung auch in der Mitte des 18. Jahrhunderts tatsächlich eine historisch-empirisch angemessene Beschreibung darstellt, bedenkt man, daß er seine Diagnose angesichts des sich seit 1740 deutlich manifestierenden preußisch-habsburgischen Dualismus, vor allem aber eben des seit 1756 wütenden Siebenjährigen Krieges stellt; vgl. zur Frage der historischen Angemessenheit von Rousseaus Urteil v. Aretin, Das Reich, S. 58 ff.; zum Bild des Alten Reichs während der 50er Jahre des 18. Jahrhunderts Externbrink, Frankreich und die Reichsexekution gegen Friedrich IL, S. 224 ff., sowie Hüning, Klassischer Republikanismus und Reichsverfassung, S. 270 ff. Vgl. oben, Kap. m.3 und ffl.4.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
devenir le centre de l'association fédérative ou d'exercer une fonction équilibrante dans le système de la nouvelle Europe". 4 2
Jener Aspekt, der bei Saint-Pierre von zentraler Bedeutung ist - das Alte Reich als Modell und historisches Exempel einer europäischen Verfassungsstruktur - , tritt bei Rousseau demzufolge gänzlich in den Hintergrund. Nur in einer Nebenbemerkung ganz am Rande seines Extrait du projet de paix scheint in seiner Darstellung die Möglichkeit auf, daß das Alte Reich in seiner Bedeutung für das Friedensprojekt über seine historisch-empirische Balance- und Vermittlungsfunktion hinausgehen könnte. Dies ist der Fall, wenn Rousseau im Anschluß an die oben zitierten Ausführungen über das durch den Westfälischen Frieden etablierte politische System Europas schreibt, daß das „Droit public Germanique" in gewisser Weise „celui de toute l'Europe" sei.43 Mit diesem Droit public weist Rousseau nun über die skizzierte empirische Dimension des Alten Reichs hinaus auf seine eigentümliche Verfassungsstruktur hin, durch die die komplexen Verhältnisse im Reich, die Beziehung zwischen den auf ihre Landesherrschaft pochenden Territorialherren, den Institutionen des Reichs und des Kaisertums, geregelt werden. Auf ihrer Grundlage bildet das Reich einerseits eine politische Körperschaft, die nach innen und nach außen für die Sicherung der friedlichen Konfliktaustragung sorgen und Rechtsverletzungen durch Einsatz (legitimer) Gewaltmittel ahnden kann, andererseits sorgt es für den Fortbestand der selbständigen Existenz der zahlreichen Gliedstaaten des Reichs gegen Gefahren, die ihm voneinander oder von seiten Dritter drohen. Somit hat die institutionelle Struktur der Reichsverfassung im Inneren - „malgré les abus de sa Police, et l'extrême inégalité de ses Membres" 44 - die ähnlich gelagerte Konstellation einer anarchischen Mannigfaltigkeit der verschiedenen Territorialmächte und ihrer Interessen durch institutionell-verfassungsrechtliche Mechanismen reguliert und dadurch die Sicherheit und die Fortexistenz der Mitglieder garantiert; - ein Zugewinn, der sie den damit verbundenen empfindlichen Verlust an Souveränität verschmerzen lasse.45 Diese Struktur einer föderalen Ordnung, in der sich Staaten zu einem übergreifenden Staatenbund mit souveränen Kompetenzen zusammenschließen, ist jener Aspekt, der das Droit public Germanique zum Modell eines Droit public Européen prädestiniert, wie Rousseau an dieser Stelle mit Saint-Pierre nahezulegen scheint, indem nun auf europäischer Ebene das anarchisch-fra-
So Stelling-Michaud in seiner Anm. 1 zu Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 572, in: OC, HI, p. 1546. Einen der wenigen Hinweise in diese Richtung gibt von Raumer, für den Saint-Pierre eine „Art von Staatsroman" über das Alte Reich verfaßt hat, während „Rousseau dieses Denkschema [d. h. das des übernationalen und föderativen Charakters des Reichs; O.A.] mit Fleisch und Blut erfüllt. Gegenüber der 'Ortlosigkeit' von Saint-Pierres Friedensgedanken gründet der seines Nachfolgers und Interpreten durchaus im Raum" (v. Raumer, Ewiger Friede, S. 146). Freilich übersieht von Raumer damit die unterschiedlichen Argumentationsebenen Saint-Pierres und Rousseaus, die nicht durch ein Fortschreiten vom 'Staatsroman' zur historisch-konkreten Verortung aufzuheben sind. Während Saint-Pierre nämlich eher strukturanalytisch und modelltheoretisch mit dem Vorbildcharakter der Verfassungsstruktur des Reichs argumentiert, interessiert Rousseau hier das historische Reich und seine reale Funktion und Bedeutung in Europa, eine „mit Fleisch und Blut" versehene Darstellung, die man sich für Saint-Pierres Darstellung zwar ebenfalls wünschen mag - da sein 'Roman' dann etwas romanhafter zu goutieren wäre - , die dieser aber systematisch nichts hinzufügen und die Vorteile einer .trockenen' Strukturanalyse eher überdecken würde. Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 572; vollständiges Zitat oben, S. 231. Ebd., p. 578. Vgl. ebd., p. 584.
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gile Gleichgewicht ebenso durch ein einheitliches Verfassungsrecht und entsprechende institutionelle Strukturen und Akteure eingerichtet und gesichert wird.46 Doch es bleibt bei dieser Präzisierung der Analogiestruktur zwischen dem historischen deutschen und einem künftigen europäischen Verfassungsrecht, eine Parallelisierung, die Saint-Pierre zwar der Sache nach, begrifflich aber erst nach Abschluß des Projet de paix ebenso gefaßt hatte.47 Somit bleibt die in der Forschungsliteratur oft bemerkte,48 doch eigentümlicherweise in ihrer Bedeutung nur selten explizierte Erwähnung der möglichen Vorbildlichkeit des Droit public Germanique für ein mögliches Droit public européen in Rousseaus Werk ein vereinzelter Gedanke, den er offenbar nicht weiter vertieft hat.49 Diese faktische Herabstufung des Hinweises auf die Reichsverfassung resultiert also gerade aus der realistischen, auf die empirische Rolle des Alten Reichs bezogenen Perspektive Rousseaus. Bei Saint-Pierre konnte seine Verfassungsstruktur unabhängig vom konkreten Funktionieren innerhalb des Reiches wie auch im europäischen Kontext vorbildlich sein und die Union Germanique als Modell für eine Union Européenne fungieren; es stellte also allen faktischen Gegentendenzen zum Trotz gleichsam eine 'Realutopie' hinsichtlich der grundsätzlichen Möglichkeit einer Föderation freier Staaten dar. Ganz anders steht es hiermit in Rousseaus Theorie internationaler Beziehungen. Als Modell kommt dem Alten Reich und seiner Verfassungsstruktur bei ihm keine spezifische Bedeutung und Funktion mehr zu; in konkreter historisch-empirischer Perspektive aber ist dieses Reich trotz seiner positiven Aspekte denkbar wenig geeignet, eine solche zukunftsweisende Rolle zu spielen. Auch im Rahmen der Rousseauschen Darstellung bleibt es letzten Endes eines der Elemente des europäischen Gleichgewichtssystems, das von ihm insgesamt als ungeeignet qualifiziert wird, den Naturzustand zwischen Staaten zu überwinden. Historisch ist das Alte Reich kein Subjekt der Verrechtlichung und Pazifizierung der europäischen Verhältnisse, bleibt es - bevor sein Verfassungsgebäude schließlich vom inneren preußisch-habsburgischen Dualismus zersetzt wird - im wesentlichen Spielball der europäischen Mächte, „passive Geschichtslandschaft", wie es Duchhardt bezeichnet hat,50 und nicht Ausgangspunkt und Vorbild eines gesamteuropäischen föderativen Verfassungssystems. Deshalb bleibt es in Rousseaus Extrait du projet de paix bei der ephemeren und abstrakten Erinnerung an das Alte Reich als Modell einer möglichen internationalen Rechtsgemeinschaft mit einem einheitlichen Droit public euro-
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Rousseaus Hinweis auf ein Droit public européenne ist also anders als bei Vattel oder Mably nicht die bloße Sammlung historisch eingegangener bi- oder multinationaler Verträge, Abkommen, Rechte und Verpflichtungen, sondern das Resultat von Akten gesamteuropäischer Verfassungs- und Gesetzgebung.
47
Es ist also durchaus unrichtig, wenn Stelling-Michaud (note 2 sur Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 572, in: OC, DI, p. 1545) meint, Saint-Pierre kenne den Begriff eines „droit public" noch nicht. Vgl. etwa den oben bereits erwähnten Briefwechsel Saint-Pierres mit den deutschen Juristen bzw. Reichshistorikern Carl und Ludewig aus dem Jahre 1723 (s. o., S. 163 ff.) oder auch Saint-Pierres 1725 erschienenes Memoire pour diminuer le nombre des procès, in dem er pp. 389 ff. das „droit public Germanique" mit jenem „droit des nations entre-elles, ou plutôt [...] ce que l'on apelle improprement droit des gens" in Verbindung bringt. Die von Rousseau verwendete Begrifflichkeit eines droit public [européenne] setzt sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts seit Montesquieu und Burlamaqui durch; vgl. Derathé, Rousseau et la science politique, pp. 393 ff.
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Vgl. exemplarisch Schräder, Le Saint-Empire, pp. 99 ff.; Duchhardt, Reich und europäisches Staatensystem, S. 180. Zu den Gründen seiner generellen Skepsis gegenüber einer internationalen Föderation vgl. weiter unten, Kap. IV.4.2, S. 268 ff. Duchhardt, Das Heilige Römische Reich, S. 13.
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péen.51 Dort aber, wo bei Rousseau eine internationale Rechtsgemeinschaft selbst zum Gegenstand der Reflexion wird, macht er dies unabhängig vom Modellfall der Verfassung des Alten Reichs.52 Exkurs: Zum historischen Hintergrund der föderativen Interpretation der Verfassungsstruktur des Alten Reichs Bereits bei Saint-Pierre, noch mehr aber bei Rousseau kann die Berufung auf die Verfassungsstruktur des Alten Reichs, gar die Bewertung als eines möglichen Vorbilds einer vernünftigen europäischen Friedensordnung überraschen. Wie kann diesen Kritikern feudaler und absolutistischer Formen politischer und gesellschaftlicher Herrschaft und Ungleichheit ein solches Staatsgebäude, das doch historisch wesentlich dazu beitrug, die überkommenen Herrschaftsverhältnisse zu festigen und zu perpetuieren, Bewunderung abnötigen? Es liegt eine gewisse Ironie darin, wenn Rousseau, der den Feudalismus als ein „système absurde s'il en fut jamais" und als „inique et absurde Gouvernement dans lequel l'espece humaine est dégradé" bezeichnet hatte,53 nun einer Verfassungsordnung positive Seiten abgewinnt, die dafür sorgt, daß im Unterschied zur ansonsten seit dem 17. Jahrhundert zu konstatierenden Auflösung der „mittelalterlichefn] hierarchische[n] Ordnung der christlichen Staatenwelt [...] im Reich die alte hierarchische Ordnung erhalten geblieben" war.54 Kurt von Raumer hat auf die „tiefe Paradoxie" hingewiesen, „die darin liegt, daß der revolutionärste politische Denker des Jahrhunderts gleichzeitig der von sympathetischem Verständnis erfüllte Interpret seiner konservativsten Institution war".55 Die Frage ist also, wie inmitten des 18. Jahrhunderts Rousseau, Saint-Pierre und andere Protagonisten der herrschaftskritischen Aufklärungsbewegung die Verfassungsstruktur eines Reiches preisen können, welche „das Gegenbild all dessen sein muß, was sich die rationalistischen 'Philosophen' unter einem 'vernünftigen' und 'nützlichen' Staatsgebilde vorstellen".56 Sehr viel konsequenter erscheint es demgegenüber, wenn in der auf gesellschaftliche Rationalisierung und die Befreiung der Individuen von überkommenen Formen der Herrschaft abzielenden Perspektive der französischen Aufklärung das Alte Reich als Inbegriff eines schwerfälligen Kolosses betrachtet wurde, dessen Mitglieder sich durch wechselseitige Ansprüche und Streitigkeiten paralysierten und deren Einigkeit bis zu jenem Punkt reichte, wo Auf die Strukturen und Elemente, die eine positive Bezugnahme auf das Alte Reich für die französische und deutsche Reichspublizistik wie auch für Rousseau dennoch ermöglichten, wird im folgenden Exkurs eingegangen. Vgl. hierzu ausführlich unten, Kap. IV.4 und IV.5. Rousseau, Du contrat social, pp. 357 u. 430. v. Aretin, Das Reich, S. 67 f. Denn „Kurfürsten, Fürsten, Grafen, Ritter und Städte standen dem Kaiser in ihrer alten hierarchischen Gliederung gegenüber. Noch immer wurde ihre Bedeutung im Reich von der verfassungsmäßigen Stellung und nicht von der Macht bestimmt. Ein Kurfürst von Mainz galt mehr als der mächtige Landgraf von Hessen-Kassel. Von daher erhellt, daß sich die Formen der Reichspolitik notwendig von denen der europäischen Politik unterscheiden mußten" (ebd., S. 68). v. Raumer, Ewiger Friede, S. 147. Weis, Geschichtsschreibung und Staatsauffassung, S. 145. - v. Aretin (Das Reich, S. 56) hat diesen Umstand ebenfalls treffend formuliert: „In der von Rationalität bestimmten französischen Staatsrechtsliteratur erschien in der Mitte des 18. Jahrhunderts die aller Rationalität widersprechende Reichsverfassung als eine Art europäische Friedensordnung", wobei er dann vor allem auf Rousseau und Mably hinweist.
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es um die Unterdrückung ihrer Völker im Interesse ihrer Machterhaltung und um die Verhinderung des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts zur bürgerlichen Gesellschaft ging. So bemerkte der Verfasser des Artikels „Empire" in der Encyclopédie vermutlich handelt es sich hierbei um d'Holbach - in Entgegnung auf allzu euphorische Bewertungen der Reichsstruktur: „Cette liberté du corps Germanique si vantée, n'est que l'exercice du pouvoir arbitraire dont jouit un petit nombre de souverains, sans que l'empereur puisse les e m p ê c h e r de fouler & d'opprimer le peuple, qui n ' e s t c o m p t é pour rien, q u o i q u e c e soit en lui que réside la force d ' u n e nation." 5 7
Härter noch fiel die Beurteilung der Reichsverfassung eine Generation später aus. So eröffnet Hegel, nun schon ganz von der Idee der Unhintergehbarkeit der Logik moderner Nationalstaatlichkeit beseelt, seine Schrift Über die Verfassung Deutschlands mit der lapidaren Feststellung: „Deutschland ist kein Staat mehr."58 Und er ist seiner Ansicht nach auch niemals ein solcher gewesen. Denn im Gegensatz zu seinen westeuropäischen Nachbarn sei es dem Reich nie gelungen, sich auf einen staatlichen Mittelpunkt hin zu organisieren, d. h. einen souveränen staatlichen Willen zu bilden, dem sich alle partikularen gesellschaftlichen Gruppen und Korporationen unterordnen: Die Stände hätten „keine Staatsmacht aufkommen" und die Staatlichkeit zur bloßen „Formalität" verkommen lassen.59 Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung sieht er im Westfälischen Frieden, der die „Staatslosigkeit Deutschlands organisiert" und es daran gehindert habe, „zu einem modernen Staate zu werden und eine Staatsmacht zu haben".60 Deshalb sei die Verfassung des Alten Reichs das genaue Gegenteil einer Aufhebung des Kriegszustandes: das Reich habe sich vielmehr permanent in einem Kriegszustand ohne Kriegserklärung befunden. Und so schreibt er 1817 nur konsequent nach dem schließlich auch formellen Ende des Reiches, daß dieser mit Recht als Konstituierung der Anarchie" bezeichnete „Unsinn" einer Staatsverfassung „endlich sein verdientes und ihm auch in der äußeren Art und Weise gemäßes schimpfliches Ende erreicht hatte".61
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d'Holbach, Art. 'Empire', p. 583; zur uneinheitlichen Rezeption der Reichsverfassung in der Enzyklopädie Malettke, Reich, Kaiser und Reichsstände, v. a. S. 282 ff. Daß Mably ebenso deutlich die Rede von der „liberté germanique" als Ideologie anprangert, wurde bereits erwähnt; vgl. oben, S. 148, Anm. 100. Hegel, Die Verfassung Deutschlands (1800-1802), S. 461; vgl. S. 452, 610. - Hegel schließt hier an Pufendorf an, der das Reich als „einen irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper" bezeichnet hatte, in dem die unklare Souveränitätszuordnung „die dauernde Quelle für die tödliche Krankheit und die inneren Umwälzungen des Reiches" darstelle (Pufendorf', Verfassung des deutschen Reiches, S. 106 f. [VI. § 9]); vgl. oben, S. 161 ff.
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Hegel, Die Verfassung Deutschlands, S. 525. Treffend schreibt Schräder, L'Allemagne avant l'Etat-nation, p. 88) zu den hegelianischen Konsequenzen aus dem Diktum Hegels, Deutschland sei „kein Staat" mehr bzw. niemals ein solcher gewesen: „D n'y a pas de concept pour cette forme politique, et ce qu'on n'arrive plus à concevoir conceptuellement, n'a pas d'existence".
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Hegel, Die Verfassung Deutschlands, S. 546. Vgl. auch ebd., S. 527, 548 u. 573 f.; Deutschland als Staat zu bezeichnen, würde zu logisch selbstwidersprüchlichen Folgerungen zwingen: „sein politischer Zustand müßte als eine rechtliche Anarchie, sein Staatsrecht als ein Rechtssystem gegen den Staat betrachtet werden" (ebd., S. 470). Hegel, Verhandlungen der Landstände 1815/1816, S. 464.
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Dieser Blickwinkel auf die Geschichte des Reichs ist in der deutschen Geschichtsschreibung seit dem letzten Jahrhundert so weit verbreitet gewesen,62 daß man sie als eine „ahnungslose Geschichtswissenschaft" bezeichnet hat, da sie stets „das Ideal des Machtstaats preußischer Prägung vor Augen hatte" und dadurch die historische Wirklichkeit des Reichs kategorial verfehlte.63 Bis in die Gegenwart hinein lassen sich solche Darstellungen und Urteile finden, wonach von 1648 an durch die vertragliche Sanktionierung der Rechte der Territorialstände das „festgeschriebene innere Chaos im Deutschen Reich" bestanden habe.64 Solche retrospektiven Bewertungen gehen freilich immer schon vom Gesichtspunkt der erfolgreichen Durchsetzung des souveränen Nationalstaats aus, wie er sich zuerst in England und Frankreich ausgebildet hatte. Übersehen wird hierbei jedoch, daß dieser Idealtypus eine Eindeutigkeit suggeriert, die der Realität der historischen Entwicklung und der Deutungskämpfe, die sie jeweils begleiten und im nachhinein nur noch die Perspektive des 'Siegers' übriglassen, nicht gerecht wird. Gerade an dem Beispiel der Ausbildung des souveränen, absolutistischen, d. h. die absolute Macht im Inneren beanspruchenden Staates im Frankreich Ludwigs XIV. auf der einen Seite, der die Herrschaft der Stände garantierenden Verfassung des alten deutschen Reiches auf der anderen Seite läßt sich der Gegensatz als Stilisierung von unterschiedlichen Elementen und Tendenzen eines interdependenten Prozesses der Bildung der Verhältnisse in und zwischen den Staaten Europas im Übergang zur modernen Gesellschaft entziffern.65 Es ist erforderlich, sich von Vorstellungen eines unilinearen, geradezu teleologisch vorgezeichneten Weges in die moderne Staatlichkeit freizumachen und die realhistorische Komplexität und Vielgestaltigkeit des Bildungsprozesses des modernen souveränen Nationalstaats in der europäischen Staatenwelt des 17. und 18. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen.66 Erst nach der Überwindung von simplifizierenden Schematismen wie denen einer 'reaktionären', einzig zur Sicherung feudaler Verhältnisse gegenüber der
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Vgl. nur exemplarisch Wagner, Europa im Zeitalter des Absolutismus, S. 22 ff., oder Dickmann, Der Westfälische Frieden, S. 29; vgl. oben, S. 233 f., Anm. 24. Schindling, Kaiser, Reich und Reichsverfassung, S. 34. Geiss, Die universale Dimension, S. 353. Besonders klar wird die Problematik einer solchen Stilisierung, bedenkt man, in welchem Maße gerade in Frankreich, das doch „gemeinhin als klassisches Land des Absolutismus gilt, [...] die Versuche der Krone zur Modernisierung von Verwaltung, Justiz und Steuerwesen an dem erbitterten und machtvollen Widerstand der Gerichtshöfe ('parlements') [scheiterten], die die staatliche Reformpolitik als Despotismus brandmarkten" (iStollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, S. 195). Oestreich hat die Gegensätzlichkeit des Staatsbildungsprozesses im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts prägnant formuliert, wenn er schreibt, es verschärfe sich „auf dem Kontinent das Tempo der Entwicklung von altständischen, regionalistisch abgesicherten Freiheiten zu machtstaatlichen, zentralistisch gelenkten Ordnungen, von mittelalterlich-feudalen Herrschaftsformen zu moderner Staatlichkeit", um zum Alten Reich zu bemerken, daß es angesichts dieses „entscheidenden Disziplinierungsproze[sses] [...] vollständig versagt. Es blieb eine archaische Lebensform inmitten politischer Verjüngung, sich überall durchsetzender Straffung und sich erweiternder monarchischer Staatlichkeit. [...] Irgendeine Disziplinierung der deutschen Fürsten und Städte in Richtung auf eine übergeordnete Macht, irgendeine bemerkenswerte Einschränkung der deutschen Libertät zugunsten des Reichsganzen ist nicht erreicht worden." Es bleibt für ihn nur die Alternative: wenn man „in dem Herauskommen des Staates und der sich letztlich in ihm verkörpernden Disziplin das wesentlich Bleibende dieser Epoche erkennt, so dünkt eine Betrachtung des Reiches verlorene Zeit und Mühe". Die Alternative dazu sei, daß man sich, um „die historische Realität des alten Reiches besser begreifen zu können, [...] von den einseitig positivistisch-machtstaatlich orientierten Wert- und Urteilsmaßstäben geschichtlicher Vorgänge" löse (Oestreich, Reichsverfassung und europäisches Staatensystem, S. 236, 237 u. 238).
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entstehenden bürgerlichen Gesellschaft etablierten Verfassungsstruktur des Reiches einerseits, eines 'progressiven', auf den modernen bürokratischen Anstalts- und Rechtsstaat vorausweisenden absolutistischen Machtstaats andererseits, wirkt Rousseaus (und SaintPierres) Inanspruchnahme der Verfassung des Alten Reiches als Vorbild für einen europäisches föderatives Gemeinwesen nicht mehr derart willkürlich und deplaziert, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. In diesem Fall erst ist jene Umkehrung der Fragestellung und ihre sinnvolle Formulierung und Beantwortung möglich, die von Raumer bereits vor Jahrzehnten eingefordert hat: „Das historische Urteil sollte nicht [...] die Erscheinung dieses Deutschen Reichs ausschließlich an der Binsenwahrheit seiner wirklichen und ex eventu unumstößlich gemachten politischen Ohnmacht messen, sondern vielmehr überlegen, was es bedeutet, daß Montesquieu, noch 1748, es (ebenso wie Holland und die Schweiz) als 'Staatswesen von ewiger Dauer' bezeichnen konnte und Jean-Jacques Rousseau nur acht Jahre später in seinem Auszug St. Pierres über den Ewigen Frieden im Deutschen Reich, dem an Weisheit kein andres Gemeinwesen gleich komme, geradezu das Modell eines Zukunftseuropa sehen konnte".67
Es ist also notwendig, sich erneut dem Gegenstand selbst zuzuwenden, d. h. der Verfassungsstruktur des Alten Reichs und ihrer Perzeption innerhalb der zeitgenössischen Publizistik und politisch-diplomatischen Diskussion, um zu erklären, was an ihr den eigentümlichen Reiz für gesellschaftliche und politische Kritiker und Reformatoren ausgemacht hat. Dabei zeigt sich, daß Rousseau sich - worauf bereits im Rahmen der Diskussion von SaintPierres Bild des Reichs hingewiesen wurde - in der Tat bereits auf einen Diskussionszusammenhang beziehen konnte, der seit dem Westfälischen Frieden im Gange war - besonders natürlich in Deutschland selbst, aber, vermittelt über Leibniz, Pufendorf und andere Vertreter der Reichspublizistik, auch darüber hinaus und mit besonderer Ausstrahlung auf das machtpolitisch traditionell auf das Reich und das Haus Habsburg fixierte Frankreich - , eine Diskussion, die zu wichtigen Beiträgen zur politischen und theoretischen Bestimmung von Staat und Verfassung in der entstehenden modernen Gesellschaft geführt hat. Zentraler Bezugspunkt dieser staats- und verfassungsrechtlichen Diskussion seit der Mitte des 17. bis ans Ende des 18. Jahrhunderts war die im Westfälischen Frieden fixierte Ordnung des alten deutschen Reiches und seiner Position in der Mitte Europas. 68 Mit dem Friedensschluß von Münster und Osnabrück endete 1648 der Dreißigjährige Krieg. 69 Frankreich und Schweden wurden zu Garantiemächten einer neuen Reichsverfassung, die zugleich die Stabilisierung der europäischen Staatenwelt und der Beziehungen der - seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 miteinander verkoppelten - Reichsstände und Konfessionen in Deutschland zum Ziel hatte. Durch diese Verfassung wurde der langfristige Prozeß der allmählichen Verselbständigung der Territorialfürsten durch die Anerkennung ihrer Souveräni-
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v. Raumer, Absoluter Staat, S. 186; vgl. auch Press, Die kaiserliche Stellung im Reich, S. 189 ff., der freilich anmahnt, Uber der fälligen Neubewertung des Reichs nicht zu vergessen, daß es „auch im 17. und 18. Jahrhundert nach wie vor als Lehensverband zu begreifen ist, zusammengehalten durch die oberste Spitze, den Kaiser - ein feudales Gebilde im Wortsinne also", dessen Spielregeln durch den Westfälischen Frieden nicht aufgehoben, sondern bestätigt worden seien (ebd., S. 198).
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Zur innerreichischen wie europäischen Regelungsfunktion des Westfälischen Friedens vgl. Steiger, Die Friedenskonzeption der Verträge. Einschlägig zum Westfälischen Frieden Dickmann, Der Westfälische Frieden.
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tät förmlich zum Abschluß gebracht. 70 Eingesetzt hatte dieser Prozeß im Übergang vom 11. zum 12. Jahrhundert, als die geistlichen und weltlichen Fürsten damit begannen, ihre territoriale Herrschaft und Verwaltung auszubauen und als eigenständige Basis zu begreifen, aus der heraus sie ein Herrschaftsrecht sui generis beziehen, das sie gegenüber dem Reich und seinen Institutionen in eine neue Position bringt. In dieser Zeit entstanden die Anfänge jenes Reichsfürstenstandes, der sich als konstitutives Moment und tragende Kraft des Reichs und seiner Verfassung verstand und dementsprechend beanspruchte, in allen Angelegenheiten des Reichsganzen mitsprechen und mitentscheiden zu können. 71 Es dauerte freilich noch bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, bis dieser Prozeß der Festigung, Verstetigung und politisch-rechtlichen Durchformung und Absicherung der Fürstentümer als der zukunftsträchtigen Territorialstaaten dann tatsächlich in jene politische und verfassungsrechtliche Neustrukturierung und Institutionalisierung des Reichs und seiner Organe einmündete, durch welche der Weg hin zur Verfassung von 1648 gebahnt wurde. Durch die Reichsreformen zur Zeit Maximilians I. erst erhielt das Reich, wie Leibniz erkannte, „par le moyen des Diètes et des pacifications, la forme qui luy est restée, à laquelle ceux qui ont fait la paix de Westfalie ont mis la dernière main". 72 Seit dem 13. und 14. Jahrhundert hatte sich auf der Ebene der Reichsstände der Ausbau der 'Landesherrschaften' vollzogen, d. h. die Durchsetzung der auf ihre souveränen Herrschaftsrechte über ein territorial identifizierbares Gebiet und seine Bevölkerung bedachten Fürsten und sonstigen herrschenden Körperschaften. Damit setzte im Reich „jener Prozeß ein, der in langen Jahrhunderten die eigentümliche föderative Reichsverfassung hervorbringen sollte". 73 Die institutionellen und inhaltlichen Bestimmungen des Reichs, wie sie noch das französische Bild von ihm im 18. Jahrhundert prägten, waren das Resultat jenes Prozesses, der in dieser Phase seinen Ausgang genommen und im Verlauf der eineinhalb Jahrhunderte zwischen dem Wormser Reichstag 1495 und dem Abschluß des Westfälischen Friedens 1648 die politische und (staats-)rechtliche Struktur des Alten Reiches ausgebildet hatte. Eine Besonderheit des nun zunehmend als 'deutsch' verstandenen Reichs 74 war dabei die Kontinuität föderativer Elemente, auch wenn diese für ganz unterschiedliche politische, gesellschaftliche und soziale Strukturen und Beziehungen standen: Getragen, geprägt und zugleich immer wieder erschüttert wurde das Reich durchgängig durch jeweils verschieden bestimmte, doch stets „relativ selbständige politische Einheiten" - seien es nun, wie in der Zeit nach dem Zerfall des karolingischen Reiches, Einheiten, wie die sich herausbildenden StamVgl. zu dieser Entwicklung Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vgl. Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 483. Leibniz, Observations, p. 41. Salewski, Deutschland, Bd. I, S. 41. Der Titel eines „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation" taucht erstmals 1486 in einem Reichsgesetz auf; auch wenn dieser Zusatz noch kein Indiz für eine 'Nationalisierung' des Reiches darstellen mag, bedeutet er doch einen markanten Einschnitt, nämlich den Verzicht auf den Universalitätsanspruch der kaiserlichen Herrschaft: „um 1495 [war] unübersehbar, daß das Reich primär damit beschäftigt war, nach 'nationalen' verfassungsrechtlichen Lösungen zu suchen, daß für das Reich die Spannung zwischen nationalem Königtum und universalem Kaisertum zunächst einmal aufgehoben war. Bürokratisierung und Verfestigung von Institutionen, Beginn einer neuen Phase im Dualismus Kaiser/Reich, 'Nationalisierung' des Reiches - das sind somit die wesentlichen Aspekte, die es rechtfertigen bzw. zumindest vertretbar erscheinen lassen, im Wormser Reformreichstag von 1495 eine Zäsur in der Verfassungsentwicklung des Reiches zu sehen" (Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 17).
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mesherzogtümer, 75 oder, wie seit dem Hoch- und Spätmittelalter, zunehmend territorial bestimmte Herrschaftssysteme - , und eben dies verlieh „der deutschen Staatsentwicklung eine charakteristische föderative Tendenz". 76 Bis sich von der Mitte des 18. Jahrhunderts an mit dem Aufstieg Brandenburg-Preußens der Dualismus zwischen diesem und dem Hause Österreich-Habsburg herausbildete, durch den das Reich schließlich aufgerieben wurde, bestand auf der Grundlage der im Westfälischen Frieden festgeschriebenen Verfassungsstruktur ein komplexes Gebilde, das sich von einer überraschenden Dauerhaftigkeit erwies, und dies ungeachtet seiner verfassungsrechtlichen Zwitterexistenz. Die habsburgischen Kaiser behielten ihre imperiale Macht und konnten die völlige Verselbständigung der Territorialfürsten zu souveränen Herren verhindern. Doch hatte sich ein institutionelles Geflecht herausgebildet, das die Kaiser nicht nur in der faktischen Ausübung ihrer souveränen Gewalt erheblich einschränkte, sondern die Legitimität des jeder souveränen Macht innewohnenden absolutistischen Moments rundweg negierte. Wesentliche Elemente dieses Systems waren die Kaiserwahl mit ihrer zuvor mit den Reichsständen auszuhandelnden, die kaiserliche Machtausübung bindenden Wahlkapitulation, die ökonomisch und militärisch gestärkten Reichskreise, das Reichskammergericht, der Reichshofrat und der ('Immerwährende') Reichstag als einflußreiche Ständevertretung und Kontrollinstanz kaiserlicher Macht. 77 Durch diese Strukturen der Bindung des Kaisers an das Reich und an die Rechte der Partikulargewalten wurde die Ausbildung eines den französischen Entwicklungen entsprechenden Reichsabsolutismus dauerhaft verhindert. In diesem Zusammenhang kam, worauf Rousseau in seiner Bemerkung zum Empire Germanique anspielte, der Reichsverfassung gleich auf mehreren institutionellen Ebenen die Aufgabe zu, ein Gleichgewicht zu stiften oder aufrechtzuerhalten. Im Inneren sollte sie das Gleichgewicht zwischen den Konfessionen, zwischen den Ständen sowie zwischen Ständen und Reich sichern, nach außen hin sollte sie zur Aufrechterhaltung des europäischen Ba-
Die „Dezentralisierung der politischen Macht" vollzog sich in Gestalt der „Bildung neuer Reiche und Völker auf dem Boden des zerfallenden Kaiserreiches" (Schulze, Vom Reich, S. 346), insofern die sich im 9. und 10. Jahrhundert herausbildenden Stammesherzogtümer der Franken, Bayern, Sachsen, Thüringer oder Lotharingier zunehmend zum ,,territoriale[n] Gerüst der Reichsordnung" wurden (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 94), wobei diese Herzöge die Wahl des Königs zunächst dominierten und schließlich ganz in ihre Hände nahmen: , J e schwächer die monarchische Gewalt der letzten Karolinger wurde, desto stärker traten die Stämme im politischen Leben wieder hervor. Geführt und repräsentiert vom Stammesadel gewannen die Stämme zunehmend Einfluß auf die Besetzung des Thrones, bis sie schließlich zu Beginn des 10. Jahrhunderts zu Wahlkörperschaften wurden. Die Königswahl wurde zu einer Wahl durch die Stämme" (Schulze, Hegemoniales Kaisertum, S. 75). Für Salewski bezeichnet die Wahl Konrads I. im Jahre 911 durch die ostfränkischen Herzöge den historischen Zeitpunkt, an dem sie „nicht allein zu den 'Großen' des Reiches [wurden] sie waren das Reich" (Salewski, Deutschland, Bd. I, S. 19). Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 16. Auch für Ehlers (Entstehung des deutschen Reiches, S. 4) ist der ,Antagonismus von Reich und Territorialstaat, von übergreifender Einheit und Regionen, von Gesamtstaatsidee und föderativer Realität [...] als solcher sehr alt und läßt sich schon im frühen Mittelalter nachweisen". Salewski (Deutschland, Bd. I, S. 20) sieht gar die Wurzeln des „die gesamte deutsche Geschichte bis hin zur Gegenwart" bestimmenden ,,eigentümliche[n] föderative[n] Moment[s]" in der nachfränkischen Ära begründet und beschreibt, historisch und politisch alles andere als unproblematisch, einen kühnen Bogen: „Wohl und Wehe des Reiches hingen niemals allein von der Zentralgewalt ab, sondern von der eigenständigen Geschichte der großen Herzogtümer, die in jahrhundertelangem Prozeß zu Territorialfürstentümern, schließlich zu Reichs- und Bundesländern werden sollten." Vgl. Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 170 ff.
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lance of Powers beitragen.78 Justus Johann Moser hat 1772 die reichsinterne Komponente dieses Gleichgewichts der Reichsstände prägnant beschrieben und es zugleich - da es zu diesem Zeitpunkt aufgrund des preußisch-habsburgischen Dualismus real schon zerbrochen war - noch einmal beschworen: „In Teutschland kann und soll der Kaiser den Ständen und die Stände dem Kaiser die Waage halten: D i e s e s gibt ein Regierungsgleichgewicht, darin das gemeinsame Beste des ganzen Staats bestehet [...]. Lassen die Stände dem Kaiser und der Kaiser denen Ständen, beide Religionsverwandten einander, was j e d e m gebühret, und leben unter sich in Friede und Einigkeit; so ist Teutschland der allerglücklichste und respektabelste europäische Staat, an welchen sich g e w i ß kein anderer machen wird". 79
All diese Wandlungen in der Verfassungsstruktur des Reiches hatten gravierende Veränderungen hinsichtlich der Reflexion über den Charakter von Reich und Verfassung zur Folge, Veränderungen, die schon seit dem frühen 17. Jahrhundert zu einer plötzlichen Blüte des politischen und verfassungsrechtlichen Denkens in Deutschland führten.80 Die Lehre von der Translatio imperii, durch die im Mittelalter die Begründung des deutschen Reichs aus der Kontinuität mit dem universalistischen christlich-römischen Reich heraus versucht wurde,81 war nicht zuletzt durch die Verselbständigung der protestantischen Territorien und der eigenständigen Ausbildung eines ius circa sacra in diesen Gebieten in Auflösung begriffen. „Eine Säkularisierung des Reichsgedankens, der universalhistorisch-heilsgeschichtlichen Ableitungen, ein strenger empirisch ausgerichtetes, gleichwohl politisch-normatives Verfahren, das im Sinne [der] aristotelischen philosophia practica den Zustand des Reichs und seiner Territorien zu legitimieren vermöchte, waren nunmehr das Ziel." 8 2
In einer weitgefächerten juristischen und historischen Literatur wurde versucht, der Verfassungsbegründung wie auch der Verfassungswirklichkeit des Alten Reichs gerechtzuwerden - Namen wie Johannes Althusius, Hermann Coming, Samuel Pufendorf oder Gottfried Wilhelm Leibniz sind nur die heute noch bekanntesten der Teilnehmer an dieser Debatte. 83 Diese Versuche, die komplexe Realität des Reiches durch die Verbindung immer stärker säkula78
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Vgl. v. Aretin, Das Reich, S. 55 ff.; zur Begriffsgeschichte vgl. Fenske, Art. 'Gleichgewicht, Balance', hier bes. S. 965 ff. zur Durchsetzung des Gleichgewichtsbegriffes in Deutschland, sowie S. 971 ff. zum 18. Jahrhundert, in dem er zum „europäischen Leitbegriff' wurde. J. J. Moser (1772), zit. n. v. Aretin/Hammerstein, Art. 'Reich', S. 481. Vgl. Denzer, Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform, S. 235 ff. - Auf die Veränderungen in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, die neue Anforderungen an den Staat und seine verwaltungsmäßigen Kapazitäten stellten und dadurch einen wesentlichen Anstoß zur theoretischen und praktischen Neukonzipierung von Form und Aufgaben des Staates gaben, kann in diesem Rahmen nur hingewiesen werden; zur verfassungsgeschichtlichen Entwicklung des Reichs und ihren sozialen und gesellschaftlichen Hintergründen vgl. Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte, sowie W. Schulze, Deutsche Geschichte, v. a. S. 204 ff. Vgl. zur Lehre von der Translatio imperii - die vereinzelt noch im 18. Jahrhundert vertretenen wurde (vgl. v. zur Mühlen, Die Reichstheorien in der deutschen Historiographie, S. 125 ff., 140) - allgemein Goez, Translatio imperii. Vgl. zur Kritik an dieser Theorie schon Pufendorf, Die Verfassung Deutschlands, S. 23 f. (I, § 14), für den sie nichts als ein 'kindischer Irrtum' ist, und zwar, wie er anmerkt, ein teurer obendrein, da sich die zur Erlangung der römischen Kaiserwürde nötigen Italienfeldzüge und Zahlungen an den Klerus ökonomisch nicht auszahlten (ebd., § 15, S. 24 f.). v. Aretin/Hammerstein, Art. 'Reich', S. 471. Vgl. zur Übersicht über die Vielfalt und innere Differenzierung dieser Diskussionen Denzer, Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform, S. 237 ff..
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risierter, normativ-rationaler Ableitung einerseits, historisch-empirischen Studiums der Institutionen und Verfahren andererseits zu erfassen, mündeten schließlich in der Reichspublizistik, wie sie an den Universitäten Halle - um Christian Thomasius - und Göttingen am stärksten ausgebildet wurde: durch 'publizistische', d. h. durch rational-juridische und historische Verfahren, sollte das neue Jus Publicum Romano-Germanicum bestimmt werden.84 Im Zentrum dieser Debatten stand neben der Reichsverfassung als solcher besonders das Problem der Souveränitätszuordnung.85 Bodin hatte die neuzeitliche Bestimmung der Souveränität als „la puissance absolue & perpetuelle d'vne Republique"86 formuliert, eine Gewalt, die „n'est limitee, ny en puissance, ny en charge, ny à certain temps",87 und in bezug auf das deutsche Reich gefolgert, daß hier die Souveränität nicht beim Kaiser liege. Die Reichspublizistik ist von Anbeginn an mit der Intention aufgetreten, Bodins „These, das Reich sei gar keine Monarchie, sondern ein aristokratisches Gebilde",88 zu widerlegen. Die Aufspaltung der Souveränitätsrechte zwischen Kaiser und Reichsinstitutionen einerseits, den Territorialfürsten andererseits wird hier schließlich zumeist als wechselseitige Ergänzung von aristokratischen und monarchischen Elementen innerhalb der Konstitution und Regierungsform interpretiert.89 Gerade dadurch, daß die Reichsverfassung ein Gleichgewicht zwischen getrennten souveränen Gewalten, ein „Gleichgewicht der Rechte und Pflichten zwischen dem Haupt und den Gliedern dieses Staats-Cörpers"90 stifte, konstituiere und sichere sie die vielbeschworene 'deutsche Freiheit' oder 'Libertät'. Die lex fundamentalis des Reichs, so paraphrasieren von Aretin und Hammerstein einen prominenten Vertreter der Reichshistorie, Nicolaus Hieronymus Gundling, am Beginn des 18. Jahrhunderts, „garantiere dem Reich insgesamt Libertät, lege es auf Gerichtsverfahren, Austräge, rechtlich-administrative Maßnahmen fest, verhindere bewaffnete Auseinandersetzungen. Anders als Frankreich oder England - den Ländern absolutistischer Herrschaft eines einzelnen bzw. einer Mehrheit - sei das Reich durch Rechtlichkeit, Herkommen, Freiheit gekennzeichnet."91
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Vgl. v. Aretin/Hammerstein, Art. 'Reich', S. 475 ff.; Denier, Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform, S. 258 ff., 264 ff.; v. zur Mühlen, Die Reichstheorien in der deutschen Historiographie; Hammerstein, Jus und Historie; Stolleis, Staatsdenker in der frühen Neuzeit; Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes?, S. 30 ff.
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Denzer, Spätaristotelismus, Naturrecht und Reichsreform, S. 241. Bodin, Six Livres de la République, p. 122 (1.8). Ebd., p. 124 (1.8); hierbei ist die Identifikation des Souveräns mit dem absolutistischen Monarchen, wie sie in Ludwig XIV. nachgerade idealtypisch verkörpert wurde, „unter dem Vorrang der Staatsraison und nicht einer verabsolutierten majestatis personalis zu sehen" (Conze, Art. 'Monarchie', S. 179). Duchhardt, Verfassungsgeschichte, S. 176; vgl. zu Bodin auch weiter oben, S. 159 f. - Daß Bodins Thesen „eine Stellungnahme der seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert entstehenden Reichspublizistik geradezu herausforderte]", betont Hoke, Die reichsständische Reichspublizistik, S. 143 (u. ff.).
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Vgl. zu dieser - Pufendorfs Urteil ins Positive wendende - Position etwa Christoph Lorenz Bilderbeck, der 1715 schreibt: „Dannoch scheinet diejenige Meinung, daß das Römische Reich [Teutscher Nation] zwar ein aus der Monarchie und Aristocratie vermischter Staat sei, jedoch daß die Monarchie und die Kaiserliche Praeeminenz und Hoheit praevalire, die raisonableste zu sein [...]. Und obwohl eines Römischen Kaisers Macht durch die capitulationes und andere Reichsgrundgesetze sehr restringiret und ihm gleichsam Ziel und Maße vorgeschrieben sind, so geschiehet doch solches ihm nicht als inferiori oder pari, sondern weil er sich desfalls mit den Ständen geding- und pactsweise also vergleichet" (zit. n. v. Aretin/Hammerstein, Art. 'Reich', S. 479 f., Anm. 230).
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Friedrich Carl von Moser (1765), zit. n. v. Aretin/Hammerstein, v. Aretin/Hammerstein, Art. 'Reich', S. 477.
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Art. 'Reich', S. 479 f.
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Diese und ähnliche reichspublizistische Diskussionen und Interpretationen haben über die Reichsgrenzen hinweg Aufmerksamkeit gefunden. Seit dem 16. und 17. Jahrhundert gilt dies in besonderem Maße für Frankreich.92 Auf der einen Seite galt dies auf der Ebene der Diplomatie, welche nach dem Westfälischen Frieden einen personellen und strukturellen Bedeutungszuwachs erfahren hatte, da ihr bei dem Versuch, die angestrebte französische Hegemonie und das entsprechende (Gleich-)Gewicht der europäischen Mächte auch jenseits der Mittel militärischer Macht zu erringen und zu sichern, eine wichtige Funktion zuerkannt wurde.93 Das Interesse an den deutschen Verhältnissen und der Reichspublizistik ging so weit, daß in Versailles eine chancellerie allemande eingerichtet wurde, die gewissermaßen „le premier véritable corpus de la germanistique française" darstellte.94 Während diese sozusagen „regierungsamtliche" Rezeption darauf ausging, die offene und Frankreich als Garanten des Westfälischen Friedens gleichsam auch offiziell angehende Reichsstruktur für die französischen Machtinteressen zu instrumentalisieren,95 entwickelte sich auf der anderen Seite eine Rezeptionslinie, in der das Bild des komplexen Gefüges der Teilung und Ausbalancierung der Kräfte im Reich polemisch gegen die französischen Zustände gewendet wurde. Auch in Frankreich war schließlich die absolutistische Politik der Zentralisierung aller Macht beim souveränen Monarchen nicht ohne Widerstand abgelaufen und zu keinem Zeitpunkt tatsächlich realisiert worden, und ebenso war die Repräsentation der Nation in der Person des souveränen Monarchen nicht ohne Widerspruch akzeptiert worden. Dies zeigte nicht nur die Existenz der 'feudal-reaktionären Opposition' gegen die zentralistische Politik des Sonnenkönigs, sondern verschärfte sich im 18. Jahrhundert zunehmend bei der dem Absolutismus prinzipiell kritisch gegenüberstehenden Partei der philosophes. Die Rede von der 'teutschen Freiheit' und der Verweis auf die föderative Organisation des Verfassungsgebäudes des Alten Reichs eigneten sich somit hervorragend als Projektionsflächen und als eine Berufungsinstanz für die antiabsolutistischen Kräfte in Frankreich, so unterschiedlich ihre politischen Zielsetzungen ansonsten auch sein mochten. Die Einrichtungen des föderativ organisierten Reichs, insbesondere die Existenz des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg, und die Existenz institutionell gesicherter Freiheitsrechte der Reichsmitglieder gegenüber der Zentralgewalt waren geeignet, nicht nur die vom Absolutismus ausgeschalteten feudalen Kreise, sondern auch die politischen und gesellschaftlichen Reformkräfte der Aufklärung daran zu erinnern, daß die französischen États généreaux seit 1614 nicht mehr einberufen worden waren, vor allem aber: daß die Nation nicht allein durch den Monarchen an der Spitze, sondern auch in anderer Form repräsentiert werden konnte und es schließlich dann auch wurde.96
92
93
94 95 96
Dies belegt anhand zahlreicher Beispiele für das 17. Jahrhundert Malettke, Altes Reich und Reichsverfassung, v. a. S. 229 ff. „Die mühsame und langwierige Entwicklung eines dichten außenpolitischen Geflechts begann, das nicht nur intime Einsichten in die politischen Probleme der Nachbarstaaten erlauben sollte, sondern auch fortwährende Positionsnahmen im Verständnis einer allezeit offenen Disposition zu diplomatischer oder auch militärischer Mit-Aktivitätsausübung im Rahmen ernsthafter Konflikte erforderlich machte" (Dotzauer, Macht - Politik Diplomatie, S. 339; ausführlich ebd., S. 335 ff.). Schräder, L'Allemagne avant l'État-nation, p. 58. - Vgl. Dotzauer, Macht - Politik - Diplomatie, S. 338 ff. Vgl. Duchhardt, Altes Reich und Europäische Staatenwelt, S. 53 ff. Nicht vergessen werden darf darüber freilich der Unterschied zwischen der Kritik absolutistischer Repräsentation aus einer vorabsolutistischen, territorialständischen Perspektive einerseits, einem aus postabsolutisti-
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IV.3.3
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Die rechtliche Dimension des europäischen Friedens: Rousseau zum Kriegs- und Völkerrecht
Der Zustand, wie er in Rousseaus Augen zwischen den Staaten Europas herrscht, ist, so haben die ersten beiden Abschnitte dieses Kapitels gezeigt, offenbar ein solcher, der nicht nur zu mehr oder weniger zufällig auftretenden, prinzipiell vermeidbaren und vorübergehenden Auseinandersetzungen, sondern strukturell zu Konflikten und Kriegen führt. 97 Dementsprechend wäre es für Rousseau „une grande erreur, d'espérer que cet état violant pût jamais changer par la seule force des choses". 98 Ausgeschlossen ist demnach die Hoffnung, es könne etwa der 'natürliche Gang' der Geschichte für den Ausgleich und für friedliche Konfliktlösungen zwischen den Staaten sorgen. Dies gilt auch und gerade, weil Rousseau tiefgreifende historische, politische und soziokulturelle Faktoren der Kommunikation und Stabilität der Verhältnisse zwischen den Gesellschaften Europas konstatiert, bis hin zur Stufe eines regelrechten Vergesellschaftungszusammenhangs zwischen ihnen. Aus systematischen wie aus historisch-empirischen Gründen kann das bestehende System des Gleichgewichts zwischen den europäischen Staaten keine dauerhafte Stabilität garantieren. An dieser Situation ändert auch die Existenz des Alten Reichs nichts Grundsätzliches, da es unabhängig von seiner verfassungsrechtlichen Organisation im Inneren und der seiner Verfassung zukommenden gesamteuropäischen Dimension letztlich nur einen weiteren Faktor in dem mit politischen, diplomatischen und militärischen Mitteln geführten Kampf um Selbsterhaltung und Machterweiterung im internationalen Naturzustand darstellt. Das System der europäischen Mächte ist und bleibt - sei es mit, sei es ohne die Existenz eines föderativ strukturierten Alten Reichs in seiner Mitte - ein fragiles Gebilde, in dem kriegerische Konflikte jederzeit ausbrechen können und in Anbetracht der fortbestehenden Logik des Naturzustandes über kurz oder lang auch ausbrechen müssen: „il y a, entre les Puissances Européennes, une action et une réaction qui, sans les déplacer toutà-fait, les tient dans une agitation continuelle; et leurs efforts sont toujours vains et toujours renaissans, comme les flots de la mer, qui sans cesse agitent sa surface, sans jamais en changer le niveau; de sorte que les Peuples sont incessament désolés, sans aucun profit sensible pour les Souverains."99
Die naturwüchsige Entwicklung - eben die besagte „seule force des choses" - vermag also für Rousseau auch in Europa den internationalen Kriegszustand nicht zu beenden. Die Logik des durch die Schaffung künstlicher Körperschaften, der Staaten, erzeugten 'zweiten Naturzustands' zwischen ihnen perpetuiert auch hier nur einen Zustand des Krieges, dessen Virulenz durch das Anwachsen der gesellschaftlichen Verbindungen, des Handels, der Ar-
schem, auf die demokratische Repräsentation des Dritten Standes abzielendem Blickwinkel andererseits; vgl. zu den unterschiedlichen Formen der Ausbildung des modernen Repräsentationsbegriffs in den europäischen Staaten Haller, Art. 'Repräsentation', S. 816 ff. Podlech bemerkt (Art. 'Repräsentation', S. 516 f.), daß das Selbstverständnis der Reichsstände als Repräsentanten der Länder in Deutschland selbst kaum ausgeprägt war und in der Literatur erst seit Mitte des 17. Jahrhunderts, und auch dann nur vereinzelt, auftaucht. - Zur landständischen Repräsentation im Alten Reich vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? 97 98 99
Vgl. Kap. IV.3.1 undIV.3.2. Rousseau, Extrait du Projet de paix, pp. 569 f. Ebd., p. 572.
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beitsteilung und des technischen und kulturellen Austauschs zwischen den Völkern nur noch erhöht wird. Gelingt aber eine Regulierung der Beziehungen nicht aus sich selbst heraus, dann bedarf es, will man sich nicht dem Recht des Stärkeren, der bloßen Gewalt also, beugen, alternativer Regulierungsweisen, durch welche die Rechte der Akteure und ihre Verletzung bestimmt und geahndet werden können. Damit liegt die Frage nahe, ob für Rousseau nicht Wege einer rechtlichen Regelung und Befriedung zwischen den Staaten denkbar und aussichtsreich sind. Tatsächlich finden sich denn auch in seinem Werk verstreut entsprechende Hinweise und Überlegungen zum Völkerrecht im allgemeinen, zum Kriegsrecht im besonderen. Demzufolge ist zu fragen, inwieweit seine Analysen und Einschätzungen völkerrechtlicher Grundlagen, Regelungen und Perspektiven im europäischen Staatensystem des 18. Jahrhunderts darauf hoffen ließen, es könne sich eine solche rechtliche Ordnung herausbilden. Von einer eingehenden Beschäftigung mit dem Kriegs- bzw. Kriegsvölkerrecht zeugen Dokumente Rousseaus aus der Zeit, in der er sich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Prinzipien des Staatsrechts und den Grundlagen politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen auch mit Saint-Pierres Friedensprojekt befaßt hatte. So berichtet er im März 1758 von einer Abhandlung über die „Principes du droit de la guerre", die er vorbereite, aber noch nicht zum Abschluß gebracht habe.100 Diese zweifellos als Teil der Institutions politiques geplanten Prinzipien des Kriegsrechts sind es, welche seiner Ansicht nach „Grotius et les autres" vergeblich gesucht haben, hätten sie doch „n'en en donné que de faux".101 Auf der Grundlage seiner bereits diskutierten Definition des Krieges als eines ausschließlich zwischen Staaten bestehenden Verhältnisses102 hofft Rousseau demgegenüber, eine Reihe von rechtlichen Grundsätzen ableiten zu können, die für die staatlichen Akteure hinsichtlich ihres Verhaltens vor, während und nach Kriegen verbindlich sind und ihnen gegenüber zur Geltung gebracht werden können. Den Begriff des Krieges definiert Rousseau dabei in seinen im Nachlaß erhaltenen Fragmenten solcherart, daß er als der wechselseitige Wille bestimmt wird, einen anderen Staat zu zerstören, insofern ihm dies aufgrund seines Selbsterhaltungsstrebens geboten erscheint: „quand les choses [...] sont au point qu'un être doué de raison est convaincu que le soin de sa conservation est incompatible non seulement avec le bien être d'un autre mais avec son existence; alors il s'arme contre sa vie et cherche à le détruire avec la même ardeur dont il cherche à se conserver soi même et par la même raison. L'attaqué sentant que la sûreté de son existence est incompatible avec l'existence de l'aggresseur attaque à son tour de toutes ses forces la vie de celui qui en veut à la sienne. Cette volonté manifestée de s'entredétruire et tous les actes qui en dépendent produisent entre les deux ennemis une relation qu'on appelle guerre.
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Rousseau, Brief an Rey, 9. März 1758, in: Correspondance Générale, vol. III, p. 300. - Erhalten sind die aus diesem Zeitraum die 'Fragments sur la guerre', 'Que l'état de guerre' sowie die erst 1965 aufgefundenen, im Anhang des HI. Bandes der Pléiade-Ausgabe abgedruckten Fragmente 'Guerre et état de guerre'. Roosevelt hat editorisch und interpretatorisch überzeugend nachgewiesen, daß diese Fragmente in der bisherigen Form unangemessen abgedruckt sind. Erst in der Reihenfolge, die sie vorschlägt, zeige sich, daß sie „a single welldeveloped exposition" der geplanten „Principes du Droit de Guerre" ergeben; Roosevelt, A Reconstruction of Rousseau's Fragments, p. 231 u. 232; im Zusammenhang ebd., pp. 226 ff.; vgl. ebd., pp. 233-244, ihre rekonstruierte (englischsprachige) Fassung der Fragmente.
101
Rousseau, Émile, p. 849. Vgl. oben, Kap. IV.2.2, v. a. S. 220 ff.
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De là il s'ensuit que la guerre ne consiste point dans un ou plusieurs combats non prémédité, pas même dans l'homicide et le meurtre commis par un emportement de colère, mais dans la volonté constante, réfléchie et manifestée de détruire son ennemi".103 Dieser Wille zur Zerstörung des feindlichen Staates vollzieht sich vermittels der Ausübung von Feindseligkeiten („hostilités") der kriegsführenden Staaten gegeneinander. Hierbei unterscheidet Rousseau zwischen Phasen des „heißen" Krieges, in denen militärische Kampfhandlungen vollzogen werden ( , f a i r e la guerre"), und solchen eines „kalten" Kriegszustands („état de guerre"), in welchem die Waffen vorübergehend ruhen, 104 aber noch kein Waffenstillstand 105 oder gar Friede herrschen würde. Um einen einmal erklärten Krieg zu beenden, bedarf es wie zu seiner Eröffnung einer förmlichen Erklärung: „la relation de guerre une fois établie ne peut cesser que par une paix formelle", 106 wobei zum Frieden mehr als das Schweigen der Waffen gehört. Zumindest in diesem Zusammenhang nämlich geht Rousseau weniger auf die institutionellen oder gesellschaftlichen Voraussetzungen dauerhaften und gesicherten Friedens zwischen Staaten ein, als daß er - wie er in Anlehnung an die stoisch-christliche Tradition und in sentimentalisch gebrochener Weise schreibt - auf den Frieden als einen Zustand abhebt, in welchem die während des Krieges verlorengegangene Harmonie der Menschen und Völker einschließlich ihres transzendent-religiösen Bezuges wieder hergestellt wird: „Le repos, l'union, la concorde, toutes les idées de bienveuillance et d'affection mutuelles semblent renfermées dans ce doux mot de paix. Il porte à l'âme une plenitude de sentiment qui nous a fait aimer à la fois nôtre propre existence et celle d'autrui, il représente le lien des êtres qui les unit dans le sistême universel, il n'a toute son étendue que dans l'esprit de Dieu à qui rien de ce qui est ne peut nuire et qui veut la conservation de tous les êtres qu'il a crées."107
Rousseau, Guerre et état de guerre, p. 1903. Alle Zitate aus ebd., p. 1903. - Es ist wichtig zu bemerken, daß Rousseau, wenn er hier vom „état de guerre" spricht, nicht von jenem Kriegszustand handelt, von dem in rechtsphilosophischen Argumentationszusammenhängen die Rede ist, in denen der vorstaatliche Naturzustand als Kriegszustand im Sinne des Hobbesschen 'Krieges aller gegen alle' qualifiziert wird. État de guerre ist an dieser Stelle hingegen die Bezeichnung für eine Phase des Ruhens der Waffen, in welcher nur Kräfte für den nächsten Waffengang gesammelt werden: „loin de s'endormir dans l'inaction, l'animosité ne fait qu'attendre un moment favorable pour surprendre l'ennemi, et souvent l'état de guerre qui produit le relâchement est plus dangereux que la guerre même" (ebd., p. 1904). Zum Waffenstillstand (trêve) als der „suspension d'armes" schreibt Rousseau, er sei nur „un état de guerre modifié, dans lequel les deux ennemis se lient les mains sans perdre ni déguiser la volonté de se nuire. On fait des préparatifs, on amasse des armes, des matériaux pour les sièges, toutes les opérations militaires qui ne sont pas spécifiées se continuent" (ebd., p. 1904). - Zur Abweichung dieser Bestimmung von der rechtslogischen Analyse des Naturzustands, vgl. die folgende Anmerkung. Ebd., p. 1903. - Rousseau hält also insofern auch im bestehenden System der internationalen Beziehungen an der Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen paix und trêve fest, eine Möglichkeit, die Saint-Pierre in seinem Projet de paix (vgl. I, p. 38) und Rousseau selbst in seinem Extrait du projet de paix (pp. 568 f.) in naturrechtlichen Argumentationszusammenhängen explizit ausgeschlossen hatten: Im Naturzustand kann es prinzipiell nur zeitweilige Waffenstillstände, aber keine dauerhafte Beendigung des Kriegszustandes geben. Die Idee eines rechtlich (d. h. durch einen Friedensvertrag) gesicherten Friedenszustands ist naturrechtlich ein Widerspruch in sich; auf diese Problematik des Kriegs- und Völkerrechts im herrschenden System Europas wird im weiteren Verlauf dieses Abschnitt zurückgekommen. Rousseau, Guerre et état de guerre, p. 1902. - Hier wird wieder jene Dimension der 'Friedensidee' Rousseaus deutlich, wie sie bereits am Beginn seines Auszugs aus dem Friedensprojekt Saint-Pierres zum Ausdruck kam,
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Die Frage ist nun, inwieweit angesichts dieser Aussagen von einem Fortschritt hinsichtlich der Bestimmung des Kriegsrechts gesprochen werden kann. Deutlich wird auf der Grundlage von Rousseaus Definition des Krieges in jedem Fall, worin für ihn der zentrale Ausgangspunkt seiner Bestimmung des Kriegsrechts besteht: Beim Krieg zwischen Staaten geht es nicht um den Vollzug irrationaler Gewaltakte und Grausamkeiten, sondern um die rational kalkulierte Gewaltausübung gegen andere zum Zweck der Selbsterhaltung - „pour juger que l'existence de cet ennemi est incompatible avec notre bien être, il faut du sang froid". 108 Insofern aus Rousseaus Bestimmung des Verhältnisses zwischen Staaten folgt, daß der Zweck von Kriegen allein in „la destruction de l'Etat ennemi" bestehen kann, werden den kriegführenden Parteien ausdrücklich bestimmte Vorgaben gemacht, die der Willkürfreiheit hinsichtlich ihrer Kriegsführung Fesseln anzulegen scheinen: „la guerre ne donne aucun droit qui ne soit nécessaire à sa fin". 109 Damit ist zweifellos eine Beschränkung des Rechts der Kriegsführung im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation bezeichnet, insofern das Recht des Krieges in genau jenen spezifischen Zwecken seine Erfüllung und somit seine Grenze findet. Die Frage ist bloß, welche inhaltlichen Konsequenzen aus dieser Auskunft folgen, und vor allem, ob diese tatsächlich so zu qualifizieren sind, daß hier von einer „Humanisierung und Bändigung des Kriegs" gesprochen werden kann. 110 Daß man in der Beurteilung dieser Aussagen leicht über das Ziel hinausschießen kann, zeigt die emphatische Erklärung Windenbergers, der aus Rousseaus Bestimmung von Sinn und Zweck des Staates, für die Erhaltung von Leben und Freiheit der Bürger zu sorgen, darauf schließen möchte, daß dadurch ein unfehlbares Mittel zur Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriege an die Hand gegeben sei. Denn nunmehr könne man zuverlässig entscheiden, wann ein Krieg gerecht und legitim sei, da der Pflicht des Staates zur Verteidigung der Bürger ein entsprechendes Recht auf das Führen von Defensivkriegen zur Wiederherstellung erlittenen Unrechts korrespondiere, daß sich dieses Recht jedoch andererseits auch einzig und allein auf diesen besonderen Zweck beschränke. 111 Demgegenüber ist jedoch an die Einsicht Rousseaus zu erinnern, daß sich die Staaten miteinander im Naturzustand befinden, also unter Verhältnissen allgemeiner Rechtsunsicherheit. Dies aber heißt nichts anderes, als daß Verhältnisse bestehen, in denen ungeachtet allen subjektiven Rechtsempfindens überhaupt kein objektives Recht existiert. Das heißt, daß in diesem Zustand ein jeder Staat sein eigener Richter über die Mittel ist, die zu seiner Selbsterhaltung notwendig sind, so daß damit einer objektiven, d. h. allgemeingültigen Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen bzw. Kriegsgründen der Boden entzogen ist. Somit impli-
wo er diesem trocken und rationalistisch argumentierenden Autor die eigene moralische Emphase unterstellt hatte (Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 563, zit. oben, S. 98. Diese Dimension des Friedensgedankens, die in Rousseaus politischer Theorie ansonsten hinter der Analyse der gesellschaftlichen und pölitisch-institutionellen Voraussetzungen und Bedingungen in den Hintergrund tritt, verweist auf seinen wohl stoisch inspirierten Universalismus, bei dem gegen die dekadente Gesellschaft die Natur als jene ursprüngliche Einheit und jene „vorgängige Ordnung des Seins und des Lebens" hervorgehoben wird, die als werthafte „für Rousseau noch die Funktion eines objektiven Maßstabs für vernünftiges und freies Handeln übernehmen" kann (Forschner., Rousseau, S. 196). Rousseau, Guerre et état de guerre, p. 1903. Rousseau, Du contrat social, pp. 357 u. 358. v. Raumer, Ewiger Friede, S. 150. Vgl. Windenberger, La république confédérative, pp. 131 f.
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ziert Rousseaus Ansatz nichts weniger als eine Neubegründung der Lehren vom gerechten Krieg; er stellt vielmehr umgekehrt die argumentativen Mittel bereit, den „Gnadenstoß gegen das bellum justum" zu führen. 112 Damit ist jedoch die Rede vom „Kriegsrecht" als solchem noch nicht sinnlos geworden. Denn auch wenn sich objektive Kriterien des Rechts zum Kriege im Sinne der traditionellen Theorien gerechter Gründe zur Eröffnung von Kriegen aus Rousseaus Bestimmung von Staat und Krieg nicht ableiten lassen, so erlaubt sie ihm offenbar doch im Hinblick auf das Recht im Kriege Aussagen über die rechtlichen Schranken des Führens von Kriegen. 113 Durch die Unterscheidung, daß der Begriff des Krieges ein Verhältnis zwischen Staaten und keines zwischen Personen bezeichnet, versucht Rousseau eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen dem, was im Krieg rechtlich erlaubt ist, und dem, was in ihm verboten ist. Hierbei weist er nun zunächst auf die förmlichen Kriegserklärungen hin, die für ihn einen unverzichtbaren Teil des Kriegsrechts bilden. Solche Erklärungen sind nicht nur der formale Akt, durch den der Eintritt in den Kriegszustand dokumentiert und dieser von Akten bloßer Gewalt und Aggression unterschieden wird, 114 sondern sie sind Rousseau zufolge „moins des avertissemens aux puissances qu'à leurs sujets". 115 Ihre Bedeutung liegt demnach wesentlich darin, Zivilisten rechtzeitig vom Ausbruch eines Krieges zu informieren und zu warnen, um dadurch zu verhindern, daß sie unwissentlich in Kriegshandlungen verwickelt werden, die sie als Individuen gar nicht unmittelbar betreffen. 116 Als Bürger nämlich sind sie von den zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen überhaupt nicht betroffen; Bürger sind weder Subjekte noch Akteure des Krieges. Insofern nämlich, wie Rousseau in seiner grundlegenden Definition bestimmt hatte, nicht die Bürger, sondern nur der gegnerische Staat der Feind eines Staates sein und das Ziel des Krieges nur im Sieg über diesen Staat bestehen kann, ist durch das Kriegsrecht lediglich der Kampf gegen diejenigen gedeckt, die den gegnerischen Staat aktiv verteidigen, d. h. gegen die tatsächlichen Kombattanten. Das Kriegsrecht verleiht einzig „le droit d'en tuer les défenseurs tant qu'ils ont les armes à la main; mais sitôt qu'ils les posent et se rendent, cessant d'être ennemis ou instruments de l'ennemi, ils redeviennent simplement hommes et l'on n'a plus le droit sur leur vie". 117 Findet der Krieg nur „entre des êtres moraux" statt118 und befindet sich der Staat nicht mit den Menschen als solchen im Kriegszustand, sind die Unterwerfung und der Tod der konkreten Individuen, die den feindlichen Staat verteidigen, nicht der Zweck des Kampfes, sondern nur Mittel zum Zweck, desjenigen des Sieges über den gegnerischen Staat." 9 Folglich sind sie von dem Moment an 112
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114 115 116 117 1,8 119
Dies hat v. Raumer (Ewiger Friede, S. 145) mit Recht hervorgehoben. Vgl. hierzu auch Lepan, Guerre et paix, pp. 442 ff. Zur Terminologie des Kriegsrechts, insofern zwischen einem Recht zum Krieg und einem im Krieg gesprochen werden kann, vgl. die Differenzierung in Kants Rechtslehre (§§ 56-58, S. 346 ff.), zu der sich noch als drittes das Recht nach dem Kriege gesellt. - Zu der französischen Diskussion des 18. Jahrhunderts über die sich in dieser Zeit von der Frage des gerechten Krieges ablösenden Suche nach einem Kriegsrecht vgl. Belissa, Fraternité universelle, pp. 75 ff., das Kapitel mit dem treffenden Titel „Le droit de la guerre: un 'code barbare ou un progrès des mœurs?'". Rousseau, Fragments sur la Guerre, p. 615. Rousseau, Du contrat social, p. 357. Windenberger, La république confédérative, p. 137. Rousseau, Du contrat social, p. 357. Rousseau, Que l'état de guerre, p. 608. Vgl. hierzu Rousseau, Fragments sur la Guerre, p. 613.
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nicht mehr gerechtfertigt, in dem der Sieg errungen ist und das feindliche 'étre moral' kapituliert hat. Der Sieg gibt also nicht nur kein „droit de massacrer les peuples vaincus", sondern es ist prinzipiell sogar denkbar, einen Krieg zu führen, „sans öter la vie ä personne".120 Das gleiche Prinzip gilt hinsichtlich des Eigentums. Das, was als öffentliches Eigentum des feindlichen Staates angesehen werden kann, darf legitimerweise durch den siegreichen Staat angeeignet werden, nicht aber das Eigentum der Bürger: „un prince juste [...] respecte la personne et les biens des particuliers".121 Entschieden wendet sich Rousseau somit gegen das Kriegsvölkerrecht, wie er es von Grotius und anderen gerechtfertigt sieht, die er als „Docteurs vendus ä la Tyrannie" bezeichnet,122 weil sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker mißachteten: Sie leiten aus dem Krieg ein angebliches Recht auf die Versklavung der Besiegten durch den Sieger ab, insofern für sie der Sieger „le droit de tuer le vaincu" für sich beanspruchen und der Unterlegene nur mehr versuchen könne „[de] racheter sa vie aux dépends de sa liberté; Convention d'autant plus légitime qu'elle tourne au profit de tous deux".123 In dem Maße, in dem das von Rousseau entwickelte Kriegsrecht also die Integrität von Leben, Freiheit und Eigentum der Staatsbürger sichert, zielt es auf eine 'Humanisierung' der Kriegsführung ab im Sinne „einer Schadensbegrenzung [...], die man in einem instrumentellen Sinn gewiß auch als 'Rationalisierung des Krieges' bezeichnen kann".124 Tatsächlich ist es legitim und, solange Kriege insgesamt noch stattfinden, keineswegs gering zu schätzen, wenn versucht wird, das Recht der kriegsführenden Staaten insgesamt engeren Grenzen zu unterwerfen, um sie „soweit wie möglich rechtlich einzudämmen, ihre Folgen für die Beteiligten einzugrenzen, Garantien für die Verwundeten und Gefangenen zu sichern und den diplomatischen Kontakt nicht abreißen zu lassen".125 Dennoch sind die wenigen Bemerkungen, die sich in Rousseaus Werken hierzu finden, insgesamt kaum zufriedenstellend, und dies sowohl aus pragmatischen wie aus systematischen Gründen. Außerordentlich negative Folgen zeigen sich nämlich schon, wenn man sich fragt, wie es sich mit Rousseaus Bestimmungen des Kriegsrechts in jenem Fall verhielte, wenn legitime Staaten im Sinne des Contrat social tatsächlich einmal existieren und als Mitglieder des in-
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Zitate aus Rousseau, Du contrat social, p. 358, sowie äers., Que l'état de guerre, p. 608. - Rousseau führt an dieser Stelle Gedanken fort, wie Montesquieu sie im 3. Kap. von Buch X in 'De l'esprit des lois' (vol. 1, v. a. p. 275) entwickelt hat. Rousseau, Du contrat social, p. 357. Rousseau, Fragments sur la Guerre, p. 616. Rousseau, Du contrat social, p. 356. - Derathé weist in seinem Kommentar zu dieser Passage daraufhin (OC, m, pp. 1440 f.), daß Rousseau hier weniger Grotius als Hobbes und dessen vertragstheoretische Begründung der Sklaverei im Blick habe; vgl. Hobbes, De cive, V E 1. Darin pflichtet Pufendorf (Droit de la Nature, 1. VI. chap. HI, § 6, p. 204) Hobbes bei: „Dans une telle Convention, le bien que le Vaincu reçoit, c'est la vie, que le Vainqueur pouvoit lui ôter par le droit de la Guerre: & le bien qu'il promet de son côté, c'est son service & son obéissance, & même, autant qu'il se peut, une obéissance absolue." - Sowohl die Kritik an Grotius wie auch die Differenzierungen, wie Rousseau sie im Rahmen seiner Diskussion des Kriegsrechts vornimmt, deuten auf den Einfluß der Schriften Burlamaquis hin; vgl. dessen Principes du Droit politique, Quatrième partie, v. a. chap. V I - V m , vol. H, pp. 86 ff. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf, S. 65; - wobei Gerhardt freilich den Begriff der „Humanisierung" mit guten Gründen nicht angewandt sehen will, da dieser immer noch einen Euphemismus bedeutet: „In der politischen Geschichte kann (und darf) es Reservate für den Krieg nicht geben" (ebd., S. 65 f.). Ebd., S. 67, Anm. 57.
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ternationalen Systems auftreten sollten. Dann würde sich die Frage stellen, ob unter diesen Umständen Rousseaus Unterscheidung zwischen Staat und Bürgern noch greift, auf der doch das skizzierte Verfahren einer vermeintlichen 'Humanisierung' des Krieges aufbaut. Für diese republikanischen Gemeinwesen sollte schließlich nicht nur gelten, daß die Gesamtheit der Bürger der Souverän ist, sondern auch, daß „tous les citoyens sont soldats en tems de guerre et il n'y a plus de soldats en tems de paix".126 Damit jedoch führt die von Rousseau geforderte patriotische Identifikation der Bürger mit dem Staat dazu, daß faktisch jeder einzelne Bürger schon per definitionem zum Kombattanten wird, wodurch die Abgrenzung zwischen unbeteiligten Bürgern, die vom Standpunkt des Kriegsrecht aus gesehen nicht angetastet werden dürfen, und Verteidigern des Vaterlands, deren Tötung rechtens ist, ins Leere zu laufen droht. Über diese Gefahr war sich Rousseau selbst bereits im klaren. Ihr trägt er nämlich in einer Anmerkung zum Émile Rechnung, in welcher er bemerkt, daß Kriege zwischen republikanisch organisierten Staaten grausamer verlaufen als solche zwischen Monarchien, und zwar eben aufgrund jener starken patriotischen Identifikation zwischen den Bürgern und 'ihrem' Staat.127 Unter solchen Bedingungen kann freilich von einer 'rechtlichen Schadensbegrenzung' durch das Kriegsrecht nicht mehr ernsthaft gesprochen werden; die Kriegsführung und das Kriegsrecht tendieren vielmehr zum Recht auf den 'totalen Krieg'. Nicht weniger deutlich wird die Selbstwidersprüchlichkeit der Annahme eines 'humanisierenden' Kriegsrechts unter der Bedingung eines fortdauernden internationalen Naturzustands anhand eines zweiten Beispiels. Auf der einen Seite nämlich hatte Rousseau das natürliche Recht der Staaten hervorgehoben, alles tun zu dürfen, was sie zu ihrer Selbsterhaltung für erforderlich erachten - einschließlich des Rechts, alle anderen Staaten 'präventiv' zu schwächen oder gar zu vernichten. Wie verhält sich dieses 'Recht' aber zu jenem Recht auf Freiheit von Fremdbestimmung und Versklavung, das Rousseau auf der anderen Seite den Individuen und Völkern im Rahmen seiner Bestimmung des Kriegsrechts zuspricht? Im Gegensatz zum natürlichen Recht wird in diesem Fall durch das Kriegsrecht ein 'Vernichtungskrieg' ausgeschlossen und - womit die angesprochene Kantische Trias des Kriegsrechts vollendet wäre - ein Recht nach dem Kriege bestimmt, insofern die Beendigung des Krieges voraussetzt, daß das Volk des unterlegenen Staates nicht versklavt wird; wenn dies nämlich der Fall wäre, dann würde „l'état de guerre subsistefr] entre eux".128 Dem Rousseauschen Kriegsrecht zufolge muß also auch das unterlegene Volk seine Freiheit behalten, weiterhin autonom die eigenen Angelegenheiten zu regeln, d. h. einen eigenständigen corps politique zu gründen, in dem der Gemeinwille seinen Ausdruck findet. Eine solche 'rechtliche Einschränkung' aber widerspricht offensichtlich jenem weiterhin geltenden natürlichen Recht der Staaten im Naturzustand. Vor allem aber steht das Kriegs(völker)recht im Hinblick auf die entscheidende Frage nach der Möglichkeit der Verrechtlichung und Pazifizierung der Beziehungen zwischen den Staaten vor einem doppelten Problem. Zum einen läßt es den Kriegszustand als solchen völlig unangetastet und bewegt sich streng innerhalb des von diesem vorgegebenen Rahmens. 126 127 128
Rousseau, Fragments sur la Guerre, p. 614. Rousseau, Émile, pp. 1295, 1865. Rousseau, Du contrat social, p. 358. - Zum Recht nach dem Kriege bei Kant vgl. dessen Rechtslehre, § 58, S. 348 f.
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Zum anderen liefert Rousseau mit ihm zwar auf vernunftrechtlicher Ebene „some Standard by which the policies and practices of statesmen might be judged",129 doch ist damit noch nichts über die positive Geltung und die Möglichkeit ausgesagt, daß diese 'Humanisierung' der Kriegsführung und die Linderung der Leiden der Zivilbevölkerung jemals wirklich werden und jene 'Standards' einen anderen Charakter erhalten können als den moralischer Appelle, deren Auslegung jeweils ins Belieben der handelnden Akteure gestellt ist. Diese grundsätzliche Problematik des Rechtscharakters eines solchen zwischenstaatlichen 'Rechts' selbst betrifft über das von Rousseau skizzierte Kriegsrecht hinaus seine Überlegungen zum Völkerrecht insgesamt, von dem es systematisch gesehen nur einen Teil bildet.130 Im Schlußabschnitt des Contrat social zählt Rousseau ebenso wie im Émile im Rahmen seiner Zusammenfassung seines Plans der Institutions politiques auf, welche Bereiche der Beziehungen zwischen den Staaten durch das Völkerrecht geregelt werden. Er subsumiert hier unter dem Titel des droit des gens erstens die Regelungen des internationalen Handels, zweitens das (soeben umrissene) Recht des Krieges und auf Eroberungen sowie drittens das droit public, in dem es um Gegenstände wie internationale Bündnisse, Verträge oder Verhandlungen geht.131 Die entscheidende Frage ist nun, wie Rousseau dieses Völkerrecht begründet und welchen Status, welche Geltungsbedingungen er ihm zuschreibt. Daß das Völkerrecht nach Rousseau ein Recht ist, von dem nur im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Völkern gesprochen werden kann, sofern sie sich zu politischen Körperschaften zusammengeschlossenen haben, ist in den vorangegangenen Ausführungen mehrfach hervorgehoben worden. Das Völkerrecht ist mithin immer erst jenes Recht zwischen staatlich organisierten Gemeinwesen, die selbst nicht von Natur, sondern Resultat eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses und Zusammenschlusses zu jenen corps politiques sind, deren Pluralität Voraussetzung der sinnvollen Rede von einem droit des gens ist. Von Natur aus kann es ein solches demzufolge nicht geben. Weil der natürliche Zustand der Menschen nach Rousseau der einer isolierten und selbstgenügsamen Existenz ist, kann für ihn, wie er in polemischer Wendung gegen seine aufklärerischen Zeitgenossen schreibt, die Idee einer rechtsbegründenden „société générale" aller Menschen höchstens den „sistêmes des Philosophes" entsprungen sein, nicht aber einer angemessenen Analyse der Sache, denn „le mot de genre humain n'offre à l'esprit qu'une idée purement collective qui ne suppose aucune union reelle entre les individus qui le constituent".132 Aus der Form der natürlichen (Nicht-)Beziehung aufeinander ergeben sich keinerlei rechtliche Beziehungen, sondern es wirkt lediglich „la commisération naturelle", die auf einer allgemeinen Ebene „une répu-
Carter, Rousseau and the Problem of War, p. 119. Aus diesem Grund können die Fragmente zum Kriegsrecht letztlich eben nicht die „most fruitful" Quellen hinsichtlich Rousseaus Denken über den internationalen Beziehungen sein, wie Roosevelt, A Reconstruction of Rousseau's Fragments, p. 226, glaubt. Denn die Prinzipien des Kriegsrechts diskutieren gerade nicht das zentrale Problem: es geht in ihnen darum „to limit the ravages of war" (ebd., p. 226), nicht darum, den Kriegszustand als solchen zu thematisieren, d. h. seine Ursprünge und Dynamik und die Bedingungen seiner Überwindung zu untersuchen. Vgl. Rousseau, Du contrat social, p. 470; ders., Emile, p. 648. - Vgl. hierzu Derathé, Rousseau et la science politique, pp. 395 f. Rousseau, Du contrat social (Manuscrit de Genève), pp. 284 u. 283. - Zur bereits angesprochenen, sich im Laufe der Zeit verschärfenden Kritik Rousseaus am Kosmopolitismus der Aufklärung vgl. unten, S. 283.
Natur, Geschichte und Politik - Wege aus dem Naturzustand zwischen Staaten?
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gnance naturelle [darstellt] à voir perir ou souffrir tout être sensible et principalement nos semblables".133 Den rechtlichen Regeln kommt demzufolge gleichsam die Aufgabe zu, den durch den Prozeß der Vergesellschaftung bewirkten Verlust dieses natürlichen Mitleids zu kompensieren. Mit der Begründung, die er für das Völkerrecht liefert, begibt Rousseau sich in ein eigentümliches Spannungsverhältnis zur Tradition des neuzeitlichen Natur- und Völkerrechts seit Grotius, Hobbes und Pufendorf, der er sich ja, wie oben gesehen, zumindest in bezug auf die internationalen Beziehungen durchaus zugehörig betrachtet. Für Hobbes wie für die sich auf ihn beziehenden Vertreter des neuzeitlichen Naturrechts stand fest, daß von einem vom Naturrecht unterschiedenen Völkerrecht nicht wirklich gesprochen werden kann. In De cive hatte Hobbes das natürliche Gesetz in zweifacher Hinsicht bestimmt, soweit es nämlich einerseits zwischen den Menschen gelte, andererseits zwischen den Staaten, wobei man eben letzteres gewöhnlich als „Völkerrecht" (ius Gentium/Rights of Nations) bezeichne.134 Konsequenterweise weigert er sich dann auch im Leviathan ausdrücklich, näher darauf einzugehen, was das Völkerrecht ist, da seiner Ansicht nach eben „the Law of Nations, and the Law of Nature, is the same thing" und jeder Staat „hath the same Right, in procuring the safety of his People, that any particular man can have, in procuring the safety of his own Body".135 Pufendorf schließt sich dieser Argumentation Hobbes' vollständig an und anerkennt ebenso wie dieser kein „Droit des Gens Volontaire ou Positif, au moins qui ait force de Loi proprement dite, & qui oblige les Peuples comme émanant d'un Supérieur".136 Auch Pufendorf vermag im Völkerrecht nichts als die Anwendung des Naturrechts auf die Beziehungen zwischen den Staaten zu erkennen.137 Daraus aber folgt, daß jeder Versuch, zu einem positivrechtlichen Verständnis des Völkerrechts kommen zu wollen, vergeblich bleiben muß. Dies hat Barbeyrac, der für die französische Aufklärung einflußreiche Übersetzer der Werke von Grotius und Pufendorf und Kommentator der neuzeitlichen Tradition rechts-, staats- und völkerrechtlichen Denkens, in Übereinstimmung mit Hobbes und Pufendorf in seinem Kommentar zur Übersetzung von Grotius' Hauptwerk auf den Punkt gebracht: „ce Droit des Gens, positif et distinct du Droit Naturel, est une pure chimère".138 Demgegenüber hatte Grotius vom ius gentium naturale, wie er es aus der Natur selbst und aus dem göttlichen Gesetz herleitet, ein ius gentium voluntarium unterschieden, welches „durch die Sitte und stillschweigenden Vertrag eingeführt" worden sei.139 In diesem Sinne gibt es für ihn ein vom Naturrecht unterschiedenes Völkerrecht, wie es sich „unter allen oder mehreren Staaten durch Übereinkommen" gebildet hat und die natürlichen Rechte der Souveräne - auf freiwilliger Basis - in ihrer Willkürfreiheit beschränkt. Zugleich fehlt diesem Völkerrecht je-
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Rousseau, Discours sur l'inégalité, pp. 178 u. 126. Hobbes, De cive, S. 220 (XIV.4). Hobbes, Leviathan, p. 394 (XXX.30). Pufendorf, Le Droit de la Nature et des Gens, p. 213 (ü. ffl, § 23). Vgl. Reibstein, Völkerrecht, Bd. I, S. 488 ff. Barbeyrac, zit. n. Goldschmidt, Anthropologie et politique, S. 616. Zur Bedeutung Barbeyracs für die französische Pufendorf-Rezeption allgemein oben, S. 112, Anm. 32; besonders zu Rousseau vgl. Wokler, Rousseau's Pufendorf. Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges, S. 31 (Vorr., § 1); auf die Widersprüchlichkeit dieser Konzeption weist Reibstein hin, Völkerrecht, Bd. I, S. 334 ff.; ebenso Grewe, Grotius - Vater des Völkerrechts?, S. 166 f.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
doch der Charakter der Allgemeinheit, wie er dem Naturrecht eignet. Denn ist es Resultat von Konvention und Tradition, so ist auch nach Grotius ein solches Völkerrecht, das allgemein gilt, „ k a u m zu finden [...]. Vielmehr ist oft in einem Teil der Erde etwas völkerrechtsgemäß, in dem anderen aber nicht".140 Rousseaus Stellung in dieser Debatte um Natur- und Völkerrecht141 ist, soweit sie sich aus seinen verstreuten Bemerkungen rekonstruieren läßt, nicht leicht zu bestimmen, und dies ist vor allem deshalb der Fall, weil sie durch eine grundlegende Ambivalenz gekennzeichnet ist. Einerseits will Rousseau - gegen den von ihm als prinzipienlos angesehenen Grotius, der „des autorités de poetes" und geschichtliche Erzählungen unhinterfragt für historisch bare Münze nehme - die Prinzipien des Staats- und Völkerrechts 'aus der Natur der Sache' ableiten und auf die Vernunft selbst gründen,142 das heißt, sie sollen im Rückgang auf den Begriff des Staates und der Struktur der Beziehung zwischen einer Mannigfaltigkeit solcher staatlichen Entitäten aufgefunden werden. Insofern kommt diesen Grundsätzen des Völkerrechts ein universalistischer Charakter zu: sie sind unbedingt verpflichtend und ,,conforme[s] aux máximes établies de tous les tems et ä la pratique constante de tous les peuples policés".143 Andererseits finden sich angesichts der Vehemenz von Rousseaus Polemik gegen Grotius überraschende Übereinstimmungen zwischen beiden im Hinblick auf die Bestimmungen eines Völkerrechts, das sich in Quelle und Geltung vom Naturrecht unterscheidet und ihm gerade entgegengesetzt wird. Die Rede ist hier von einem Völkerrecht, das nicht rational aus dem Begriff abgeleitet, sondern das Resultat von historisch kontingenten Prozessen, Übereinkünften, Sitten und Bräuchen ist.144 Insofern im Anschluß an die Gründung politischer Körperschaften das Naturrecht nicht mehr zwischen Individuen, sondern nunmehr zwischen Staaten - in um so destruktiverem Maße - wirksam sei, wird nach Rousseau dieses „Loy de Nature [...], sous le nom de Droit des gens, [...] temperée par quelques Conventions tacites pour rendre le commerce possible".145 In diesem Sinne ist das Völkerrecht gerade nicht mit dem Naturrecht identisch, sondern als Resultat menschlicher Setzung zu dem Zweck geschaffen, um dessen zerstörerische Auswirkungen abzuschwächen. In einem Brief an Malesherbes vom 5. November 1760 führt Rousseau gleichsam als später Nachhall zu Grotius zum 'positiven Völkerrecht' aus, daß es, „tenant ä des mesures d'institutions humaines et qui n'ont point de terme absolu, varié et doit varier de nation ä nation", denn es sei auf der Grundlage des von den jeweiligen Interessen geleiteten und auf den eigenen Vorteil bedachten Handelns der Völkerrechtssub140
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Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges, S. 34 (Vorr., § 17), sowie ebd., S. 53 f. (1.1.14, §1). - Vgl. zu Grotius und seiner theoriegeschichtlichen Verortung Hüning, 'Nonne puniendi potestas reipublicae propria est'. Es versteht sich, daß mit diesen Bemerkungen nur einige wenige Aspekte der Debatten zum Natur- und Völkerrecht im 17. und 18.Jahrhundert genannt worden sind; eine knappe, auch für Rousseau bedeutsame Entwicklung der Probleme von Natur- und Völkerrecht liefert Burlamaqui, Principes du Droit naturel, chap. VI, pp. 186 ff. Rousseau, Du contrat social, p. 358. Ebd., p. 357. Rousseau greift hier eine Differenz auf, die auch von Burlamaqui vertreten wurde, der zwischen einem notwendigen „droit des gens universel, de nécessité, obligatoire par lui-même", und „un autre droit des gens [unterschied], que l'on pourra nommer arbitraire, et de liberté, comme n'étant fondé que sur quelque convention ou expresse ou tacite" (Burlamaqui, Principes du Droit naturel, VI, § 9, p. 192). Rousseau, Discours sur l'inégalité, p. 178.
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jekte, „[que] naît le vrai droit des gens, établi, non dans les livres, mais entre les hommes".146 Die in den vorangegangenen Abschnitten angesprochenen Hinweise Rousseaus auf die politisch-rechtliche Verfaßtheit Europas wirken in dieser Hinsicht wie historisch-empirische Bestätigungen und Realisationsweisen eines so verstandenen ,positiven', vom Naturrecht systematisch unterschiedenen Völkerrechts. Denn mit dem in Rousseaus Bearbeitung von Saint-Pierres Friedensprojekt angesprochenen Spiel von Verhandlungen und Vereinbarungen, durch welches das europäische System gestützt werde, verweist er schließlich auf die diplomatischen und politischen Bemühungen, zu regional verbindlichen völkerrechtlichen Übereinkünften zu kommen, die die Rechte und Pflichten der staatlichen Akteure bestimmen und ihre Verletzungen sanktionieren. Und mit dem Hinweis, daß das Droit public, wie es die deutsche Reichsverfassung kennzeichne, vorbildhaft sei für ein gesamteuropäisches Droit public, unterstreicht und bestätigt Rousseau noch einmal, daß das System der „Puissances de l'Europe" bereits unter den jetzigen Umständen „par un même droit des gens" zusammengehalten und gefestigt werde.147 Jedoch enden spätestens an dieser Stelle schon wieder die Übereinstimmungen zwischen Rousseau und Grotius. Es darf aus dem Umstand, daß „Rousseau partage sa [d. i. Grotius'; O.A.] conception d'un droit des gens purement positif, keineswegs der Schluß gezogen werden, „[qu'il] rejette donc sans ambiguïté les théories de Hobbes, Pufendorf, Barbeyrac et Burlamaqui."148 Denn wo Grotius die Hoffnung gehegt hatte, der Prozeß der stillschweigend oder förmlich eingegangenen gemeinsamen Verträge und Bräuche, aus dem das positive Völkerrecht erwachse, könne so weit ausgeweitet werden, daß sie einen rechtlichen Zusammenhang erzeugen, durch den der Naturzustand zwischen den Staaten reguliert und eingehegt werden kann, ist dies für Rousseau aus systematischen wie auch aus historischen Gründen ausgeschlossen. Denn solange die einzelnen Staaten in letzter Instanz souverän darüber entscheiden können, ob sie den eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen Folge leisten oder ob sie sie als nichtig betrachten, und sofern der natürliche Zustand zwischen den Staaten eben kein „état de société et de paix" ist, der unter dem „loi générale de la sociabilité'" steht und zur unbedingten Einhaltung der natürlichen Rechte verpflichtet,149 ist auch für Rousseau - und hier stimmt er in der Konsequenz wieder mit Hobbes, Pufendorf oder Barbeyrac überein - die Rede von einem vom Naturrecht unterschiedenen Völkerrecht sinnlos, sofern es nicht wiederum „dépend en dernier ressort de la loi naturelle, qui ordonne que l'on soit fidèle à ses engagemens".150 Denn solange seine Befolgung eine Frage reinen Nutzenkalküls ist, ist es auch nach Rousseau im Hinblick auf das „droit des gens, dont on fait tant de bruict", wie er in einer gestrichenen handschriftlichen Variante abschätzig bemerkt, „certain que, faute de sanction, ses loix ne sont que des chimères plus foibles encore que la loi de nature";151 es bleibt dabei, daß in den Verhältnissen zwischen den Staaten „le vain nom de justice ne sert partout que de sauvegarde à la violence".152
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Rousseau, Lettre à Malesherbes, 5. November 1760, in: Correspondance générale, vol. V, p. 247. Man vgl. hierzu nochmals die Äußerungen Grotius', oben S. 257 f. Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 572 sowie p. 565. So lautet die These von Belissa, Fraternité universelle, p. 34. Burlamaqui, Principes du Droit naturel, VI, § 7, p. 189. Ebd., VI, § 9 , p. 192. So in einer Variante zu Rousseau, Que l'état de guerre, in: OC, HI, p. 1556. Ebd., p. 610.
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Herrschaft d e s G e s e t z e s und internationaler Naturzustand bei R o u s s e a u
Damit übt Rousseau nicht nur eine scharfe Kritik an den zahlreichen zeitgenössischen Versuchen, den Begriff der Gerechtigkeit zur Durchsetzung der jeweiligen Machtinteressen ideologisch zu instrumentalisieren, wie auch an der fehlenden faktischen Durchsetzungskraft dessen, was man unter Völkerrecht versteht. Er kritisiert zugleich auch das völkerrechtliche Denken der Aufklärung entscheidend prägende Positionen wie die eines Burlamaqui oder Vattel, die von einem universellen, notwendigen Völkerrecht ausgehen, das unbedingt verpflichte, da es im Naturrecht verwurzelt und trotz aller Spezifikationen und Besonderheiten in der Anwendung auf die Verhältnisse zwischen Staaten untereinander imstande sei, „vollkommene Verpflichtungen" für sie zu erzeugen.153 Für Rousseau ist eine solche Position jedoch aus systematischen wie aus geschichtsphilosophischen Gründen ausgeschlossen, da der 'ursprüngliche Zustand zwischen Staaten' eben nicht als ein solcher angesehen werden kann, in dem die Staaten einen strukturell friedlichen, vom natürlichen Gesetz regulierten oder doch regulierbaren Gesellschaftszusammenhang bilden; nur in diesem Fall nämlich könnte dem Völkerrecht durch die Rückbindung an das Naturrecht ein höherer Geltungs- und Verpflichtungsgrad zugesprochen werden.154 Bei Rousseau hingegen ist der Hinweis auf ein vom Naturrecht nicht verschiedenes Völkerrecht gerade umgekehrt der Hinweis auf einen Zustand, in dem gerade wegen der Existenz eines unbeschränkten (natürlichen) subjektiven Rechts das Fehlen eines allgemeinen objektiven Rechts mitsamt der sich daraus ergebenden Möglichkeit einer Bestimmung besonderer Rechte und Pflichten zu konstatieren ist. So ist der natürliche Zustand zwischen den europäischen Staaten ungeachtet der bestehenden Verträge und wechselseitigen Versicherungen über die jeweiligen 'Rechte' für Rousseau in letzter Instanz weiterhin ein Kriegszustand, in dem „tous les Traités partiels [...] sont plutôt des Trêves passagères que de véritables Paix",155 da ihre Geltung von der Willkür der subjektiven Rechtsbestimmung der Vertragsparteien abhängt. Der Konstruktionsfehler, der dafür verantwortlich ist, daß das europäische Völkerrecht, das 'Droit public de l'Europe', auch für Rousseau letzten Endes nichts als eine Schimäre ist, liegt darin, daß es nicht gelungen ist, den internationalen Naturzustand durch einen für alle verbindlichen objektiv-rechtlichen Zustand zu ersetzen, sondern daß die rein subjektive Rechtsbestimmung und -durchsetzung unangetastet bleibt, insofern unterlassen wird, die institutionellen Voraussetzungen rechtlicher Verhältnisse zu schaffen: „le Droit public de l'Europe n'étant point établi o u autorisé de concert, n'ayant aucuns princip e s généraux, et variant incessamment selon les tems et les lieux, il est plein de réglés contradictoires qui ne se peuvent concilier que par le droit du plus fort". 1 5 6
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Vattel, Les Droits des gens, Einl., § 17, S. 23. - Vattel erklärt, daß „das Völkerrecht ursprünglich nichts anderes ist als das auf die Nationen angewandte Naturrecht" (§ 6, S. 18), und zwar notwendiges Völkerrecht. Es ist notwendig, weil die Nationen zu seiner Beachtung schlechthin verpflichtet sind" (§ 7, S. 19). Ebenso hatte, wie oben gezeigt wurde, Burlamaqui von einem aus sich selbst heraus verpflichtenden „droit des gens universel" gesprochen (Burlamaqui, Principes du Droit naturel, VI, § 9, p. 192). Vgl. nochmals die schon zitierten Aussagen Burlamaquis zum ursprünglichen „état de société et de paix" zwischen Staaten (Principes du Droit naturel, VI, § 7, p. 189); ebenso geht auch Vattel von einer Gemeinschaft freier und unabhängiger Nationen aus, die durch das Naturgesetz verpflichtet und in die Lage versetzt sind, für das Glück und die Vervollkommnung sowohl der eigenen Nation wie der anderen Staaten zu wirken; vgl. Vattel, Les Droits des gens, Einl., §§ 17 ff., S. 23 ff. Rousseau, Extrait du Projet de paix, p. 568. Ebd., pp. 568 f.
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Dies aber bedeutet in letzter Konsequenz nichts anderes, als daß das existierende Droit public Europas genau jenen Zustand herbeiführt, den man durch es vermeiden wollte bzw. vermeiden zu wollen vorgab: „Le droit public existant, loin d'étre la matérialisation de la sociabilité européenne, est au contraire l'une des principales sources de conflits."157 Somit haben sich, wie an dieser Stelle zusammenfassend festgestellt werden kann, die verschiedenen, bisher betrachteten Ansätze und Versuche Rousseaus, innerhalb des real sich vollziehenden Geschichtsprozesses Grundlagen einer dauerhaften friedlichen Organisation der Beziehungen in und zwischen den europäischen Staaten auszumachen, als aussichtslos herausgestellt. Ebenso, wie es sich als unmöglich erwiesen hat, auf eine 'naturwüchsige' Herausbildung einer stabilen Ordnung der Pluralität souveräner Staaten zu hoffen, erledigt sich für Rousseau auch die Aussicht darauf, daß die in den bisherigen Formen ablaufenden politischen und diplomatischen Prozesse zur Ausbildung und Verbreitung eines Völkerrechts führen könnten, das geeignet wäre, die wechselseitigen Rechte und Ansprüche und das jeweilige Eigentum der Akteure im internationalen System mit der gleichen Sicherheit und Erzwingbarkeit auszustatten und ihr Handeln insgesamt rechtlich so zu regulieren, wie dies innerhalb der bürgerlichen Gesellschaften der Fall ist. Dieses ernüchternde Resultat ist jedoch alles andere als rein negativ und keine Auswege mehr offen lassend. Ganz im Gegenteil hat Rousseau vermittels dieser Darstellung nicht zuletzt ex negativo Bedingungen aufgewiesen, wie solche rechtlichen Verhältnisse zur Vermeidung gewaltsamer Konfliktlösungen zu schaffen und zu gestalten wären. Denn wenn sich einerseits das Vertrauen, daß sich die Verhältnisse „par la seule force des choses" bessern könnten, als großer Irrtum erwiesen hat, 158 so verweist diese Formulierung unausgesprochen schon auf die zentrale Aufgabe: der Herrschaft der Gewalt muß durch ein Recht, welches selbst erst durch die Menschen zu stiften und einzurichten ist, Schranken gesetzt werden. Wenn sich andererseits die entsprechenden Versuche, auf der Grundlage und unter Beibehaltung souveräner staatlicher Akteure zu rechtlichen Übereinkünften zu gelangen, als unmöglich erweisen, dann ist nach den Voraussetzungen zu fragen, derer es zur Aufhebung des Naturzustands zwischen Staaten bedarf. Erst vor diesem Hintergrund offenbart sich die ganze Reichweite von Rousseaus Aufgabenbestimmung hinsichtlich des Verhältnisses von Gewalt und Gesetz: „La perfection de l'ordre social consiste, il est vrai, dans le concours de la force et de la loi; mais il faut pour cela que la loi dirige la forcé".'59 Dies aber ist eine Aufgabe, die in den Beziehungen innerhalb und zwischen den Staaten in äußerst ungleichem Maße in Angriff genommen und gelöst worden ist. Denn wenn der Schritt zur Aufhebung des zum Kriegszustand regredierten Naturzustands zwischen den Individuen auf internationaler Ebene eben jenen Zustand reproduziert, in dem die Gewalt immer noch über das Gesetz triumphiert, so verlangt die Vollendung des angestrebten Ziels das in der Unterordnung der Gewalt unter das Recht besteht - offensichtlich den zweiten
Belissa, Fraternité universelle, p. 35. Rousseau, Extrait du Projet de paix, pp. 569 f. Rousseau, Que l'état de guerre, p. 610.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
Schritt der Stiftung verbindlicher Rechtsverhältnisse, nämlich derjenigen zwischen den corps politiques. Somit ist nunmehr der Frage nachzugehen, in welchem Maße Rousseau diese Konsequenz aus seinen Analysen der systematischen wie der historisch konkreten Verhältnisse des internationalen Systems zu ziehen bereit war oder ob er alternative Konzeptionen und Vorschläge entwirft, um die Ersetzung des Zustands der Gewalt durch den des Gesetzes zu vollenden.
Internationale Rechtsgemeinschaft und politische Freiheit bei Rousseau und Saint-Pierre
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IV.4 Internationale Rechtsgemeinschaft und politische Freiheit - Rousseau und das Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre Jl est facile de comprendre que d'un côté la guerre et les conquêtes et de l'autre le progrès du Despotisme s'entr 'aident mutuellement. " (J.-J. Rousseau, 1758)
Der Durchgang durch Rousseaus Überlegungen hinsichtlich der systematischen und historisch-empirischen Grundlagen und Tendenzen der zwischenstaatlichen Beziehungen hat zu einem eindeutigen Resultat geführt. Die Frage nach der Notwendigkeit einer die Institutions politiques vollendenden Theorie internationaler Beziehungen im allgemeinen ist ebenso wie diejenige der Etablierung objektiver Rechtsverhältnisse zwischen Staaten ein Projekt, das von Rousseau formuliert wird, weil es sich aus den internen Voraussetzungen seiner politischen Philosophie selbst ergibt. In einem Brief an Mirabeau hat Rousseau diese Aufgabe in die Form gekleidet, daß „le grand problème en politique" darin bestehe, „la loi au-dessus de l'homme" zu setzen.1 Will Rousseau aber dieses 'große Problem' einer jeden Politik lösen, so kann er sich offenbar nicht mit der Bildung von staatlich verfaßten Gesellschaften zufriedengeben, und seien sie auch legitim im Sinne des Contrat social. Denn insofern es im Begriff des Staates selbst liegt, im Inneren der von ihm organisierten Gesellschaft allgemeine Verhältnisse objektiven Rechts einzurichten und aufrechtzuerhalten, so wird dadurch doch im gleichen Moment im Verhältnis der Staaten zueinander eine Sphäre rechtlich nicht geregelter Verhältnisse zwischen mehr oder minder mächtigen corps politiques erzeugt und ohne institutionelle Regelung gelassen. In diesem Bereich aber entstehen die Konflikte mit derselben Notwendigkeit, wie es im individuellen Naturzustand der Fall gewesen ist, und ebenso wie dort können sie auch nur mit dem Recht des Stärkeren entschieden werden, und dies bedeutet: nicht durch Recht, sondern nur durch Gewalt. An diesem Zustand haben, wie gesehen, die von Rousseau konstatierten historischen, soziokulturellen, diplomatischen und völkerrechtlichen Prozesse nichts zu ändern vermocht. Es gilt also auch und gerade nach der Bildung souveräner politischer Körperschaften, Wege zur Lösung jenes 'grand problème en politique' zu finden. Im folgenden sollen deshalb die Ansätze herauspräpariert werden, mit denen Rousseau Möglichkeiten der Vollendung der Etablierung von Rechtsverhältnissen auszuloten versucht hat. Hierbei ist zunächst an seine Auseinandersetzung mit dem Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre zu denken (IV.4.1). Dabei zeigt sich, daß Rousseau trotz seiner grundsätzlichen Akzeptanz der rechtlichen Grundlagenproblematik die von Saint-Pierre vorgeschlagenen Institutionen verwirft, um einer alternativen Strategie der Vermeidung von Gewalt und Unrecht innerhalb und zwischen Staaten einzuschlagen, bei der durch eine strukturelle Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse der Dynamik von Despotie und Krieg gleichermaßen ein Ende bereitet werden soll (IV.4.2). Mit dem Entwurf einer Welt von legitimen, gemäß den Prinzipien des Rousseau, Brief an Mirabeau vom 26. Juli 1767, in: Correspondance générale, vol. XVII, p. 157.
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Herrschaft des G e s e t z e s und internationaler Naturzustand bei R o u s s e a u
Contrat social errichteten Staaten verbindet Rousseau offenbar die Idee einer Pluralität von strukturell friedlichen, autarken, durch Konföderationen lose miteinander verbundenen republikanischen Gemeinwesen (IV.5.1). Doch diese exponierteste, konsequent mit den normativen Prinzipien seiner Gesellschaftstheorie zusammenstimmende Konzeption führt zu einer aporetischen Situation und zu der Einsicht, daß das grundlegende Problem einer definitiven Aufhebung des Naturzustands durch die Gestalt rechtlich garantierter Verhältnisse für die internationale Ebene mit den von ihm gewählten konzeptionellen Mitteln nicht zu lösen ist (IV.5.2).
IV.4.1
Vom 'Contrat social' zum 'Contrat international'?
Wenn Rousseau um 1755 begonnen hat, Saint-Pierres Abhandlung über die Notwendigkeit und die Bedingungen einer institutionell garantierten Friedensordnung zwischen den Staaten neu zu bearbeiten, um es 1761 schließlich in Gestalt eines Auszuges der Öffentlichkeit vorzulegen, so ist darin offensichtlich keineswegs nur eine Reminiszenz an diesen eifrigen Propagandisten der Friedenstheorie zu sehen. Unerachtet der Kritik nämlich, die Rousseau gegen Saint-Pierre vorbringt, und auch ungeachtet des Umstands, daß Rousseaus und SaintPierres Friedenskonzeptionen nicht vorschnell miteinander identifiziert werden dürfen 2 : Nach den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, daß es unmöglich ist, Rousseaus Befassung mit Saint-Pierres Projekt und der hier behandelten Thematik einer internationalen Rechtsordnung aus dem Kreis der für sein politisches Denken zentralen Texte auszuschließen. In diesen Schriften, die aus seiner Phase der kultur- und gesellschaftskritischen Diagnose der frühen Schriften zur normativen Begründung seiner politischen Philosophie des Gesellschaftsvertrags fallen und gleichsam eine Brücke zwischen ihnen bilden, führen systematisch ins Zentrum seiner Philosophie. 3 In seiner Überarbeitung und Präsentation von Saint-Pierres Friedensprojekt hat Rousseau die rechtslogischen Konsequenzen reflektiert, die sich aus seiner Analyse und Bestimmung der Struktur des Verhältnisses von Staaten zueinander als der eines zwischen ihnen bestehenden Naturzustands ergeben haben. Das systematische Ausgangsproblem ist demnach kein 'äußerliches', bei Saint-Pierre aufgefundenes, von ihm nur referiertes, sondern entspringt der originären Fragestellung von Rousseaus politischer Theorie: Wie die Individuen vor dem Zusammenschluß zu politisch verfaßten Gesellschaften, sind es für ihn danach die Staaten, die sich in einem Zustand faktischer Vergesellschaftung befinden. Wie die Individuen in der letzten Phase des Naturzustands, so beziehen sie sich notwendig aufeinander und treten miteinander in Kontakt und Verkehr; hier wie dort ist dieser politisch-rechtlich nicht regulierte Vergesellschaftungszusammenhang der Herd dauernder Konflikte. Daß der Naturzustand zwischen den europäischen Staaten „proprement un état de guerre" ist, erweist sich, wie die vorangegangenen Ausführungen im einzelnen gezeigt haben, für Rousseau als
Vgl. Goyard-Fabre, La construction de la paix, pp. 158 ff. Roosevelt (A Reconstruction of Rousseau's Fragments, p. 231) ist der Auffassung, daß die in dieser Zeit durchgeführten „reflections on international public right may have helped to stimulate his reflections on domestic political right."
Internationale Rechtsgemeinschaft und politische Freiheit bei Rousseau und Saint-Pierre
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ein strukturelles Problem, das durch Vergesellschaftungsprozesse, durch moralische Selbstverpflichtung oder zwischenstaatliche Verträge und Gewohnheiten nicht zu überwinden ist: „les choses ne font que suivre en cela leur cours naturel; toute société sans loix ou sans Chefs, toute union formée ou maintenue par le hasard, doit nécessairement dégénérer en querelle et dissention à la première circonstance qui vient à changer".4
Eine jede, sei es zwischen Individuen oder zwischen Staaten gebildete Gesellschaft ohne Gesetze und ohne allgemeine Gewalt nämlich gerät, so Rousseau, unvermeidlich in unaufhebbare Rechtskonflikte. Selbst wenn „chacun voudrait être juste", 5 wäre der Krieg doch unvermeidlich, weil jede Handlung und jeder Äec/iisanspruch eines Akteurs jederzeit von einem beliebigen anderen als Angriff auf seine Handlungsfreiheit, auf sein legitimes Recht auf Selbsterhaltung und Selbstbestimmung interpretiert werden kann, ohne daß eine Instanz existiert, die Konflikte dieser Art verbindlich entscheiden und regeln könnte. Die Analyse dieses fundamentalen Strukturdefizits, das den internationalen Naturzustand in Analogie zu dem zwischen den Individuen prägt, verweist zugleich auf das Hilfsmittel, dessen es zu seiner Behebung bedarf: „dès qu'il y a société, il faut nécessairement une force coactive, qui ordonne et concerte les mouvemens de ses Membres, afin de donner aux communs intérêts et aux engagemens réciproques, la solidité qu'ils ne sauraient avoir par eux-mêmes".6
Die erforderliche Koordination selbst freilich wird eben vom naturwüchsigen 'Lauf der Dinge' - sei es in den kulturellen, ökonomischen, politischen oder völkerrechtlichen Entwicklungen - nicht hergestellt und ist durch ihn nicht herstellbar: sie muß gegen ihn durchgesetzt werden. Die Verwirklichung der Bedingungen des Rechtsfriedens ist kein Resultat der zweiten, gesellschaftlichen - Natur, sondern bedarf der „secours de l'art". 7 Das heißt, die Vollendung des Ausgangs aus dem gewaltsamen Zustand natürlicher Vergesellschaftung und die Aufhebung des in ihm wirkenden Antagonismus der Handlungsstruktur erfordert die durch menschliches Tun bewirkte Herstellung rechtlich gesicherter Verhältnisse, welche auf Seiten der streitenden Parteien den Rückgriff auf Gewalt zur (vermeintlichen) Konfliktlösung ausschließen und damit der Herrschaft des Rechts des Stärkeren ein Ende bereiten. Die Existenz solch objektiv-rechtlicher Verhältnisse freilich setzt zwischen den Staaten nicht anders als zwischen den Individuen das Bestehen institutioneller Strukturen voraus. In ausdrücklicher Anknüpfung an die Art und Weise, in der die Aufhebung des Naturzustands zwischen Individuen vollzogen wird, formuliert Rousseau folglich im Hinblick auf die Auflösung des Widerstreits, den die antagonistischen Strukturen zwischen Staaten erzeugen: „S'il y a quelque moyen de lever ces dangereuses contradictions, ce ne peut être que par une forme de gouvernement confédérative, qui, unissant les Peuples par des liens semblables à ceux qui unissent les individus, soumette également les uns et les autres à l'autorité des Loix".8
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Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 568. Ebd., p. 569. Ebd., p. 569. Ebd., p. 570. Ebd., p. 564.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
Soll also dem Kriegszustand zwischen den Völkern und Staaten dauerhaft ein Ende bereitet werden, bedarf es offensichtlich für Rousseau tatsächlich der Formulierung eines europäischen, strenggenommen sogar eines 'universellen Contrat social', auf daß „la société libre et volontaire, qui unit tous les Etats Européens, prenant la force et la solidité d'un vrai Corps politique, peut se changer en une confédération réelle".9 Damit scheint, wie Windenberger emphatisch erklärt hat, tatsächlich die Notwendigkeit zu bestehen, den Contrat social durch einen 'contrat international' zu ergänzen und zu vollenden.10 Die Staaten müssen demzufolge einen Bund eingehen, in dem die Mitgliedsstaaten ihre natürliche Freiheit zugunsten wechselseitiger Sicherheit und Garantie für ihre Existenz und ihr Eigentum auf Dauer und irrevokabel aufgeben: „il faut [...] mettre tous les Membres dans une dépendance tellement mutuelle, qu'aucun ne soit seul en état de résister à tous les autres, et que les associations particulières qui pourroient nuire à la grande, y rencontrent des obstacles suffisans pour empêcher leur execution: sans quoi, la confédération seroit vaine; et chacun serait réellement indépendant, sous une apparente sujétion.""
Den so begründeten Bund nennt Rousseau eine eine „confédération solide et durable" bzw. „réelle".12 Wie bei Saint-Pierre, so ist auch hier bei der Verwendungsweise des Begriffs der 'Konföderation' Vorsicht geboten: Schon die angeführten Bestimmungen dieser 'Konföderation' und ebenso die Erinnerung an die Aufgabe, die sie zu erfüllen hat - die Schaffung und Durchsetzung objektiver Rechtsverhältnisse - , machen deutlich, daß der von Rousseau verwandte Begriff für die von ihm intendierte Form des Zusammenschlusses zumindest für die heutigen Leser mißverständlich, wenn nicht irreführend ist. Denn in der modernen Terminologie wird unter einer 'Konföderation' ein Zusammenschluß von selbständigen Einheiten verstanden, der zwar enger und umfassender ist als ein bloßer Bündnispakt, sich jedoch prinzipiell von einer Föderation im Sinne eines föderal gegliederten Staates unterscheidet, da die letztinstanzlich entscheidende Souveränität der Mitgliedsstaaten unangetastet bleibt.13 Auf dieser Skala unterschiedlicher Grade internationaler Kooperation und Integration wird ein Bund, der den Naturzustand durch einen dauerhaften Zustand objektiven Rechtsfriedens ersetzen können soll, gewiß auf der Seite eines föderativen Zusammenschlusses zu lokalisieren sein und nicht auf der eines mehr oder weniger festen Geflechts von Einzelstaaten, die zwar untereinander vielfach vertraglich gebunden und einander wechselseitig verpflichtet sein mögen, doch weiterhin - auch im Hinblick auf die Auslegung und Einhaltung der eingegangenen Verträge und Bündnisverpflichtungen - souveräne Einzelstaaten bleiben. Die Möglichkeit, objektive Entscheidungen über das jeweilige Mein und Dein, über Recht und Unrecht in den Verhältnissen zwischen Staaten zu treffen und gegebenenfalls auch gegen
Ebd., p. 574. Vgl. Windenberger, La république confédérative, pp. 237 f.: „Au Contrat social s'ajoute le Contrat international; à l'organisation des hommes au sein des sociétés civile se superpose la République confédérative des peits États." Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 573. Ebd., pp. 573 u. 574. Vgl. die Skizze der Optionen bei Vaughan, Political Writings of Rousseau, vol. I., pp. 97 f.; vgl. zur entsprechenden Problematik bei Saint-Pierre und zur sachlichen Problematik generell oben, S. 176 ff.; zu der vergleichbaren Doppeldeutigkeit bei Kant vgl. Asbach, Internationaler Naturzustand und Ewiger Friede, S. 228 f.
Internationale Rechtsgemeinschaft und politische Freiheit bei Rousseau und Saint-Pierre
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Widerstreben durchzusetzen, erfordert eben, so zeigt Rousseaus oben zitierte Erklärung, daß die Abhängigkeit der Mitglieder des Bundes vom Willen der Gesamtheit keine nur scheinbare ist, sondern daß ihre Handlungsfreiheit wirkungsvoll beschränkt und geregelt werden kann und muß. Die von Rousseau dargelegte Vereinigung bzw. „confédération" der europäischen Staaten muß folglich einen neuen corps politique erzeugen, der aus den ihn bildenden Gliedern besteht, der aber, um als politische Körperschaft gelten zu können, einen eigenen Willen besitzen muß, der von dem seiner Teile unterschieden und ihm übergeordnet ist. Folgerichtig stattet Rousseau ihn denn auch mit jenen legislativen und exekutiven Kompetenzen aus, die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich sind: „il faut [...] que cette confédération soit tellement générale, que nulle Puissance considérable ne s'y refuse; qu'elle ait un tribunal judiciaire, qui puisse établir les loix et les réglemens qui doivent obliger tous les Membres; qu'elle ait une force coactive et coërcitive, pour contraindre chaque Etat de se soumettre aux délibérations communes, soit pour agir, soit pour s'abstenir; enfin, qu'elle soit ferme et durable, pour empêcher que les Membres ne s'en détachent à leur volonté, si-tôt qu'ils croiront voir leur intérêt particulier contraire à l'intérêt général". 14
Was nun die konkrete Ausgestaltung des Bundes angeht, so hält sich Rousseau weitgehend an die Vorgaben, die Saint-Pierre zur Herstellung einer „Union permanente de l'Europe" 15 entworfen hat. Ins Zentrum stellt er die fünf grundlegenden Artikel eines solchen Zusammenschlusses, die er in Anlehnung an Saint-Pierres eigene Kurzfassung seines Friedensplans formuliert.16 Konstitutiv für den Bund ist demzufolge die Übereinkunft der souveränen Staaten, „une alliance perpétuelle et irrévocable" einzugehen und eine gemeinsame zentrale Instanz ins Leben zu rufen - „une Diete ou un Congrès permanent" - , die das Herzstück und das leitende Organ der neu gegründeten Körperschaft bildet.17 Obwohl auf diesem Congrès permanent die einzelnen Staaten durch weisungsgebundene Gesandte repräsentiert werden und der Vorsitz in dieser zentralen Einrichtung zwischen den Mitgliedsstaaten wechseln soll, ist dies nicht so zu verstehen, als bleibe deshalb die Souveränität der einzelnen Mitglieder unangetastet. Denn wie in der im Contrat social vorgestellten staatsrechtlichen Konstruktion der Umstand, daß die Gesellschaftsmitglieder Teil der gesetzgebenden Körperschaft und somit des Souveräns sind, nichts daran ändert, daß sie als einzelne Individuen dem rechtsbestimmenden Willen des Staates vollständig unterworfen sind,18 so ist auch die zentrale Institution des Staatenbundes der Ort, an dem die volonté générale des Bundes bestimmt und durchgesetzt wird und „tous les différends des Parties contractantes seront réglés et terminés par voie d'arbitrage ou de jugement".19 Dies schließt ein, daß der neu geschaffene Corps Européen 14 15 16 17 18
19
Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 574. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 59. Vgl. Saint-Pierre, Abrégé du projet de paix (1729), pp. 21 ff. Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 575. Rousseau spricht hier bekanntlich sogar von einer „aliénation totale de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté" (Du contrat social, p. 360 [1.6]), weshalb ihm Autoren wie Talmon (The Rise of Totalitarian Democracy) vorwerfen, einem radikalen Antiindividualismus und Kollektivismus oder gar Formen totalitären Denkens Vorschub geleistet zu haben. Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 575. - Zu dieser Gleichzeitigkeit von Freiheit und Unterwerfung innerhalb einer Föderation vgl. die den Bedeutungshorizont des Föderalismusbegriffs und die Zumutungen, die in souveränitätstheoretischer Hinsicht in ihm stecken, ausleuchtenden Bemerkungen von Voyenne, Histoire de
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
mit den notwendigen Mitteln (legitimer!) physischer Gewaltanwendung ausgestattet wird, durch die die selbstgegebenen Regeln der wechselseitigen Rechte und Pflichten im Konfliktfall auch mit Zwang zur Geltung gebracht werden können. Hier reicht die Skala möglicher Sanktionen von der Belegung mit dem Bann und der Ächtung von Zuwiderhandelnden als öffentlicher Feinde bis hin zu gemeinsamen bewaffneten Strafaktionen, indem man gegen diejenigen, die sich den Gesetzen und Schiedssprüchen aktiv widersetzen, „armera et agira offensivement, conjointement et à frais communs, [...] jusqu'à ce qu'il ait mis bas les armes, exécuté les jugemens et réglemens de la Diete, réparé les torts, remboursé les frais, et fait raison même des préparatifs de guerre, contraires au Traité".20 Erst auf der Grundlage einer solchen institutionellen Struktur wäre also für Rousseau die Möglichkeit geschaffen, dem konflikthaften Vergesellschaftungszusammenhang des internationalen Staatensystems eine verbindliche rechtliche Form zu verleihen. Der mit den notwendigen legislativen und exekutiven Mitteln ausgestattete Bund stiftet einen Rechtszusammenhang, durch den ein bestimmtes Mein und Dein und die objektive Bestimmung von Recht und Unrecht konkreter Handlungen und Ansprüche möglich werden. In diesem Moment erst wären die Voraussetzung dafür gegeben, daß der beschriebene defizitäre Zustand Europas überwunden und wahrhaft von einem Recht zwischen Staaten, von einem Völkerrecht bzw. von einem Droit public de l'Europe, gesprochen werden kann.
IV.4.2
Rousseaus Perspektivwechsel in Analyse und Strategie internationaler Konflikte
Mit dem Nachweis der Notwendigkeit und der institutionellen Voraussetzungen eines föderativen Zusammenschlusses der Staaten zu einer neuen politischen Körperschaft, wie Rousseau ihn im Anschluß an Saint-Pierre als Ausweg aus dem internationalen Naturzustand aufzeigt, scheint er in seiner argumentativen Stringenz allen Ansprüchen gerecht werden zu können, die sich aus seiner Exposition der Problematik internationaler Beziehungen ergeben hatten. Und dennoch kann diese Konzeption eines 'Contrat international' nicht als jene angesehen werden, die in der zweiten Hälfte der geplanten Institutions politiques über die „Principes du droit public international" zu finden gewesen wäre. Dabei wäre dies in Anbetacht des bisher Entwickelten auf der einen Seite durchaus konsequent, betrachtet man die Logik seiner Analyse des internationalen Systems, die strukturell analog verläuft zur Begründung der Notwendigkeit der Aufhebung des Naturzustands zwischen den Individuen. Erfordert die Überwindung der Logik des Konflikts zwischen den unabhängigen Staatspersonen die Schaffung objektiver Rechtsverhältnisse, so setzt dies - weil Gewalt kein Recht l'idée fédéraliste, p. 62: „toute fédération, ou confédération, exige à la fois la pleine autonomie des constituants et leur union sur un pied d'égalité. Des hommes ou des groupements qui ne seraient pas libres ne pourraient se fédérer; mais ceux qui abandonneraient cette liberté en s'unissant ne le seraient pas davantage. [...] Le vouloir-vivre ensemble n'est que le corollaire de la possibilité d'exister séparément. [...] l'essentiel de l'alliance ne réside pas tant dans ses finalités [...] que dans la reconnaissance mutuelle par les contractants de leurs droits réciproquement garantis. C'est cette confiance [...] qui fonde proprement la fédération et est sa raison d'être. Avant tout autre, son but est le respect des différences affirmées par chacun, [...] en aucune manière leur fusion ou leur abandon. Le lien fédérale est, simultanément, unitaire et distinctif." Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 576.
Internationale Rechtsgemeinschaft und politische Freiheit bei Rousseau und Saint-Pierre
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schafft - den freiwilligen Verzicht auf die natürliche Freiheit im Sinne der subjektiven Willkür und unbeschränkten subjektiven Rechtsbestimmung voraus sowie die Existenz einer alle gleichermaßen überformenden Rechtszwangsgemeinschaft, die die objektive Rechtsordnung garantiert und in der die Mitglieder ihre natürliche Freiheit gegen die gesetzlich bestimmte Freiheit, die Sicherheit ihrer Existenz und ihres Eigentums eingetauscht haben. Mit einer solchen Föderation auf europäischer - oder auf globaler - Ebene würde zudem Rousseaus genereller Forderung, die Herrschaft des Gesetzes an die Stelle der Gewalt zu setzen, institutionell Genüge getan. Doch Rousseau scheut auf der anderen Seite davor zurück, sich diese Struktur eines institutionell gefestigten „Système de la Société permanente de l'Europe" 21 vorbehaltlos zu eigen zu machen. Die Gründe für diese Skepsis sind auf zwei unterschiedlichen, doch miteinander verflochtenen Ebenen zu suchen. Sie betreffen einerseits, wie im folgenden zu zeigen sein wird, seine Einschätzung der zeitgenössischen politischen Situation, der grundlegenden gesellschaftlichen und politischen Triebkräfte und Tendenzen der historischen Entwicklungen und ihrer Bedeutung für die zwischenstaatlichen Beziehungen. Andererseits, und dies wird anschließend betrachtet werden, entspringt seine zunehmende Skepsis gegenüber einer Internationalisierung der Rechtsverhältnisse und der dafür notwendigen institutionellen Realisationsweisen jener normativen Konzeption eines republikanischen Gemeinwesens, die Rousseau als Antwort auf seine zeitdiagnostisch und zivilisationskritisch untermauerte Kritik an den herrschenden politischen, gesellschaftlichen und moralischen Verhältnissen entwirft.22 Zeitgleich mit dem Auszug, den er aus Saint-Pierres Friedensprojekt hergestellt hat, verfaßte Rousseau auch eine kritische Beurteilung dieses Projekts, das Jugement sur le projet de paix perpétuelle, das freilich erst 1782 posthum erschienen ist. Wichtig zur Einschätzung und Situierung dieser „Beurteilung" in der Gesamtargumentation Rousseaus ist, daß für sie entsprechend gilt, was bereits zu seinem „Auszug" aus dem Projet de paix gesagt wurde: Ebensowenig, wie dieser Extrait eine getreue Darstellung von Saint-Pierres Projekt enthält, bietet jenes Jugement allein eine Sammlung kritischer Einwände, die er gegen es vorzubringen hat, - auch wenn dies einer zuweilen auch von Rousseau verbreiteten Auffassung entspricht.23 Insbesondere kann das Jugement nicht als zentraler Bezugstext zur Bestimmung von Rousseaus eigener Position angesehen werden. Es ist durchaus nicht so, daß in ihm etwa schon die Gesamtheit der Argumente enthalten wäre, welche ihn einerseits davor zurückschrecken lassen, Saint-Pierres Projekt zu seinem eigenen zu machen, die andererseits über die Voraussetzungen, die Reichweite und die Problematik föderativer Zusammenschlüsse zwischen Staaten Auskunft geben können, wie Rousseau sie für möglich, erreichbar und wünschenswert hält. Ein angemessenes Verständnis seiner Stellung zur Problematik von internationaler (Kon-)Föderation und Friedensordnung muß deshalb, wie anschließend (Kap. IV.5) zu zeigen sein wird, über das Jugement hinaus die historisch-kritischen wie
Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 35. Vgl. hierzu ausführlich weiter unten, Kap. IV.5, S. 277 ff. Vgl. Rousseau, Confessions, pp. 408 u. 423. - So spricht Fontius von Rousseaus „Absicht, durch die 'Auszüge' die 'Ideen des Wohltäters der Menschheit' erst wirken zu lassen, bevor seine eigenen Gedanken dazu in den Gutachten bekannt werden sollten" (in: Rousseau, Kulturkritische und politische Schriften, Bd. 2, S. 539; vgl. ebd., S. 533).
270
Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
auch die normativ-utopischen Aspekte seiner politischen Philosophie, wie sie über sein gesamtes Werk verstreut zu finden sind, in den Blick nehmen. Die einleitenden Passagen des Jugement zeigen bereits, daß es sich bei ihm keinesfalls um eine reine 'Abrechnung' handelt, sondern um eine Auseinandersetzung mit einer Problematik, bei der Zustimmung oder Ablehnung von wesentlichen theoretischen und politisch-strategischen Vorannahmen und Überlegungen abhängen. Rousseau eröffnet seine 'Beurteilung' denn auch mit einer entschiedenen Verteidigung der „vérité morale" und der „utilité générale et particulière de ce projet": Das von Saint-Pierre verfolgte Vorhaben sei keine „vaine spéculation", sondern wohlbegründet und durchdacht.24 Schon zu Beginn des Extrait hatte Rousseau diejenigen, die aufgrund ihrer Befangenheit und Vorurteile SaintPierres überzeugende Argumente gar nicht mehr wahrnehmen, dafür bedauert, daß sie diesen ihren Starrsinn und ihre Uneinsichtigkeit für Weisheit und Einsicht in die Realitäten halten.25 Ebenso wirft er nun auch hier den Opponenten Saint-Pierres vor, sie seien zumeist gar nicht in der Lage, die argumentative Kernstruktur und Stoßrichtung des Projekts zu erkennen und zu würdigen: „[Ils] ne jugent pas des raisons par la raison mais seulement par l'événement, et [...] n'ont rien à objecter contre ce projet sinon qu'il n'a pas été éxécuté."26
Der kontingente Umstand, daß rational ersonnene und demonstrierte Vorhaben nicht realisiert werden oder bei ihrer Umsetzung an faktischen Hindernissen oder Interessen scheitern können, erlaubt demnach noch kein Urteil über ihre 'vérité morale'. 27 Diese Erklärungen Rousseaus sind nicht als formale Verbeugungen vor dem Autor abzutun, dessen „ouvrages morts-nés"28 er sprachlich überarbeitet neu ins öffentliche Bewußtsein bringen sollte. Sie weisen vielmehr auf zwei wichtige Aspekte hin, die für seine Einschätzung und Kritik des Projekts des Abbé de Saint-Pierre von Bedeutung sind. Auf der einen Seite bestätigen und unterstreichen sie indirekt noch einmal die argumentative Logik und Stringenz von SaintPierres Analyse der Konfliktstruktur und der Bedingungen ihrer Überwindung. Auf der anderen Seite verweisen diese metakritischen Bemerkungen zu verfehlten Strategien der Kritik an Saint-Pierre zugleich auf den methodischen Status der Einwände, die Rousseau selbst gegen dessen Projekt vorbringt und die faktisch dazu führen, daß er es nicht nur als unrealistisch, sondern sogar als kontraproduktiv und gefährlich verwirft. Wenn Rousseau nämlich auf die Illusionen hinweist, die Saint-Pierre hinsichtlich der Bedingungen und Möglichkeiten der Realisierung des Bundes der Staaten Europas hegte, so ist dies eben nicht im Sinne eines positivistischen Hinweises auf die Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist, zu verstehen, als falle für ihn Wahrheit mit historischem Erfolg unmittelbar zusammen. Rousseau macht vielmehr auf eine Dimension des Nachdenkens über die Bedingungen von Krieg und Frieden aufmerksam, die sein Vorgänger nicht hinreichend bedacht habe, auf den Zusammenhang nämlich zwischen der internen Verfaßtheit und Organisation der Staaten und der Struktur ihrer Beziehungen zueinander.
24 25 26 27 28
Rousseau, Jugement sur le projet de paix, p. 591. Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 563. Rousseau, Jugement sur le projet de paix, p. 592. Vgl. Rousseau, Écrits sur l'abbé de Saint-Pierre, pp. 655 f. Rousseau, Confessions, p. 407.
Internationale Rechtsgemeinschaft und politische Freiheit bei Rousseau und Saint-Pierre
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Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß auch Saint-Pierre bereits die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen der Verwaltungs- und Regierungsorganisation des feudalabsolutistischen Systems insbesondere Frankreichs erkannt und in zahlreichen Schriften für dessen Veränderung plädiert hatte, was ihn, wie die scharfen Reaktionen auf die Publikation seiner Schrift über die Polysynodie zeigten, in Konflikt mit den politisch herrschenden Kräften gebracht hatte.29 Zugleich war die Herstellung einer international gesicherten Friedensordnung von Saint-Pierre stets auch als Ermöglichungsbedingung für solche grundsätzlichen politischen, sozialen und ökonomischen Reformen im Inneren gesehen worden.30 Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, gleichzeitig sein gesamtes Friedensprojekt auf die Überzeugung zu gründen, daß die herrschenden Fürsten bei angemessener Einsicht in ihre Interessen willens und in der Lage sein würden, den Staatenbund einzurichten. Zumindest angesichts der Dringlichkeit der von ihm geforderten Reform des Systems internationaler Beziehungen schienen ihm die jeweils politisch Herrschenden Frankreichs und Europas die einzig möglichen politischen Subjekte zu sein, so daß er realistischerweise in ihnen die unmittelbaren Adressaten seiner Reformpläne erblickte. Dementsprechend wurde Saint-Pierre Zeit seines Lebens nicht müde, ihnen die Vorteile anzupreisen, die der internationale Gesellschaftsvertrag für die Aufrechterhaltung und Verewigung ihrer Herrschaft gegen innere und äußere Feinde mit sich bringe. Es ist eben diese Konzeption mitsamt der ihnen zugrundeliegenden Präsuppositionen und Erwartungen, bei der Rousseaus Kritik einsetzt: Sie geht seiner Ansicht nach von einer völligen Verkennung des Wesens der Struktur politischer Herrschaft aus, wie sie bis dahin die Wirklichkeit der europäischen Staatenwelt prägte. Denn es ist, wie Rousseau schon in seinem Discours sur l'inégalité im Rahmen seiner Darstellung einer hypothetischen Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung zu zeigen versucht hatte, durchaus nicht so, daß sich die Entstehung staatlicher Herrschaft als Zusammenschluß freier und gleicher Subjekte zum gemeinsamen Nutzen vollzogen hat. Die Entstehung der politischen Einrichtungen diente vielmehr der Institutionalisierung und Sicherung der Ungleichheit, wie sie sich im Gefolge der Entstehung des Privateigentums ausgebildet hatte. Das Ziel der Gesetze und der staatlichen Einrichtungen insgesamt ist somit nicht die Verwirklichung des Glücks und der Freiheit des Volkes, sondern die Perpetuierung ungleicher gesellschaftlicher Macht- und Eigentumsverhältnisse.31 Diese Ausrichtung des Staates nicht am Wohl der Bürger, sondern am partikularen Interesse einiger weniger an der Aufrechterhaltung und Ausdehnung ihrer Machtpositionen und Privilegien ist es, die das Handeln derjenigen bestimmt, auf die SaintPierre seine philantropischen Hoffnungen gesetzt hatte. Für Rousseau hingegen muß unter diesen Bedingungen die Hoffnung auf Frieden eine vergebliche Illusion bleiben.
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Dies hatte Rousseau (Confessions, 1. IX, pp. 423 f.) - wie schon (oben, S. 206 f.) bemerkt wurde - ausdrücklich anerkannt und als Grund dafür angegeben, sich nicht selbst durch Verbreitung dieser Ideen exponieren und gefährden zu wollen. Vgl. hierzu oben, Kap. ID.2.1, S. 103 ff.; allgemein zu Saint-Pierres Kritik am herrschenden politischen und gesellschaftlichen System auch oben, S. 51 ff. u. 83 ff. Vgl. Rousseau, Discours sur l'inégalité, pp. 176-178. Vgl. hierzu nochmals die Exposition dieser Konzeption oben, S. 219 ff.
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Herrschaft des G e s e t z e s und internationaler Naturzustand bei R o u s s e a u
„Toute l'occupation des Rois, ou de c e u x qu'ils chargent de leurs fonctions, se rapporte à deux seuls objets, étendre leur domination au dehors et la rendre plus a b s o l u e au dedans. Tout autre vüe, ou se rapporte à l'une de ces deux, o u ne leur sert de prétexte". 3 2
Rousseau erkennt folglich einen notwendigen Zusammenhang zwischen Despotie und Krieg, ein Zusammenhang, der es ausschließt, letzteren abzuschaffen, um erstere zu befestigen.33 Verschärft wird dieser Zusammenhang dadurch, daß beide Tendenzen einander wechselseitig bedingen und verstärken: „d'un côté la guerre et les conquêtes et de l'autre le progrés du Despotisme s'entr'aident mutuellement".34 Denn wie die despotische Herrschaft im Inneren die expansive Kriegspolitik nach außen erst ermöglicht, so dient die Permanenz des Krieges dazu, die Repression und Ausplünderung der Staatsbürger im Inneren zu rechtfertigen.35 Und wenn die Fürsten zur Reproduktion ihrer Herrschaft auf den Krieg setzen, so gilt dies in noch viel stärkerem Maße für ihre Minister und Beamten, die diesem System ihre Positionen verdanken. Von ihnen wird man zuallerletzt die Initiative zum Frieden erhoffen dürfen, und entsprechend sinnlos ist der Versuch, ausgerechnet an sie zu appellieren: „Les Ministres ont besoin de la guerre pour se rendre nécessaires, pour jetter le Prince dans les embarras dont il ne se puisse tirer sans eux et pour perdre l'état, s'il le faut, plustôt que leur place; ils en ont besoin pour vexer le peuple s o u s prétexte des nécessités publiques; ils en ont b e s o i n pour placer leurs créatures, gagner sur les marchés et faire en secret mille o d i e u x m o nopoles; ils en ont b e s o i n pour satisfaire leurs passions, et s'expulser mutuellement; ils en ont b e s o i n pour s'emparer du Prince [...]: ils perdraient toutes c e s ressources par la paix perpétuelle". 3 6
Es ist für Rousseau also gerade nicht, wie Saint-Pierre geglaubt hatte, die Verkennung ihrer wahren Interessen und des eigentlichen Ziels ihrer Herrschaft, die die despotischen Fürsten und ihren Regierungsapparat dazu bringen, auf Eroberungen auszugehen und dadurch große ökonomische, soziale und menschliche Kosten zu verursachen. Nur wenn dem so wäre, könnte man hoffen, sie durch Aufklärung über ihre wirklichen Ziele und über adäquate Mittel zu ihrer Verwirklichung dazu veranlassen zu können, eine Kehrtwendung in ihrem politischen Wollen und Tun zu vollziehen. Demgegenüber ist für Rousseau eine solche Politik vielmehr Ausdruck des Wesens dieser Form politischer Herrschaft selbst, so daß der „State of war in international society" lediglich eine ihrer Ausdrucksweisen ist, „a terrible reflec-
Rousseau, Jugement sur le projet de paix, p. 592. - Mit dieser Idee einer notwendigen Verkopplung von Monarchie und aggressiver Außenpolitik greift Rousseau nochmals ein Motiv Montesquieus auf, der geschrieben hatte: ,,L'esprit de la Monarchie est la guerre et l'agrandissement" (De l'esprit des lois, IX.n, vol. 1, p. 267). Denn darauf läuft Rousseau zufolge letztlich Saint-Pierres Argument hinaus, wenn er die „durée des Maisons Souveraines sur le Trône" zum Resultat seines „Système de la Paix" erklärt und die Herrschaft gegen alle internen oder externen Bedrohungen und Revolten absichert; Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 248 (u. ff.). Rousseau, Jugement sur le projet de paix, p. 593. Vgl. Rousseau, Discours sur l'Economie politique, p. 268. Rousseau, Jugement sur le projet de paix, p. 595. - Schon Leibniz hatte die Rolle der Minister bei der Realisierung des Projet de paix ausführlich thematisiert, freilich eher pragmatisch und mit anderer Stoßrichtung, insofern es ihnen, wenn sie die Nützlichkeit der Realisierung des Plans für den Staat erkannt hätten (was seines Erachtens also offenbar kein Problem darstellt), nicht möglich sein würde, es ernsthaft vorzuschlagen, da sie damit in die Prärogative der Herrscher eingreifen und ihnen den Verzicht auf ihre Souveränität zumuten würden; Leibniz, Brief an Saint-Pierre, 4. April 1715, in: Robinet, Correspondance Leibniz - Saint-Pieire, pp. 54-56.
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tion of the violence and oppression built into the political system".37 Diese Überzeugung schließt aus, daß Rousseau, anders als viele andere philosophes, glauben konnte, ein aufgeklärter Monarch, ein despotisme éclairé könnte die Übel der bisherigen Politik kurieren und sein vornehmstes Interesse darin erblicken, im Inneren das Glück, die Freiheit und die Sicherheit der Bürger zu befördern und im Außenverhältnis die Herstellung friedlicher Beziehungen zu den Nachbarn anzustreben.38 Die Vermutung liegt nahe, in dieser Annahme über den ursächlichen Zusammenhang von Despotie und außenpolitischer Aggression den Grund für die Schärfe zu sehen, mit der Rousseau Saint-Pierre für seinen vermeintlich so naiv vertretenen Rationalismus und Glauben an die Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften kritisiert.39 Dabei hatte SaintPierre sich doch wiederholt gegen solche Annahmen gewandt und sich deutlich als Vertreter einer Art hobbesianischer Anthropologie zu erkennen gegeben und die Auffassung, daß sich die Menschen nicht durch die Vernunft, sondern „par des passions et des intérêts mal entendus" leiten lassen, ausdrücklich zu den Voraussetzungen seines Friedensprojekts gezählt.40 Dies hatte Saint-Pierre jedoch nicht daran gehindert, beharrlich an der prinzipiellen Möglichkeit festzuhalten, daß die bestehenden politischen Verhältnisse im Sinne seines Friedensplans veränderbar sind, wenn es nur gelinge, den Herrschenden hinreichend deutlich zu machen, daß ihnen aus seiner Umsetzung dauerhaft Vorteile erwachsen würden. Aufgrund seiner scharfen Kritik und seines Verständnisses des despotischen Herrschaftssystems ist für Rousseau ein solcher Glaube an eine mögliche Einsicht in die eigenen Vorteile und Interessen prinzipiell ausgeschlossen. Hier ist der Grund dafür zu sehen, daß Rousseau Saint-Pierre dann vorwerfen kann, daß trotz der Richtigkeit seines Friedensplans „les moyens de l'executer se sentoient de la simplicité de l'auteur".41 Seiner Ansicht nach nämlich ist der Glaube an die eigene Weisheit und Stärke den despotischen Herrschern so wesentlich wie die Überzeugung, keine Instanz über sich dulden zu können, die sie in ihrer Willkür und absoluten Freiheit subjektiver Rechtsbestimmung einschränken könnte. Die Rationalität, der das System des Despotismus folgt, ist nach Rousseau eben nicht jene Rationalität, die SaintPierre voraussetzen muß, wenn er den Souveränen die materiellen und gesellschaftlichen Kosten des Kriegsführens vorrechnet, wie sie sich „de la suspension du commerce, de la depopulation, du dérangement des finances, et des pertes reelles que cause une vaine conquête" ergeben.42 Die in den despotischen Staaten herrschende raison d'état ist nach Rousseau gerade die der Eroberung und Machtsteigerung, und der Verzicht auf diese Ziele ist für die herrschenden Fürsten ebensowenig vorstellbar wie es die Zumutung wäre, ihr Handeln
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Carter, Rousseau and the Problem of War, p. 92. Waltz, Man, the State and War, p. 121. Dafür spricht, daß Rousseau in seiner Kritik des 'despotisme éclairé', wie er ihn 1767 in seinem 'Lettre à Mirabeau', pp. 159 ff., übt, just Saint-Pierre als Beispiel heranzieht und sich bei entsprechenden Ideen an diesen erinnert fühlt. Saint-Pierre, Projet de paix, H, pp. 103 f.; Perkins, The Moral and Political Philosophy, pp. 4-2-A7-, zu Rousseaus Blickwinkel darauf vgl. Carter, Rousseau and the Problem of War, pp. 145 ff. Rousseau, Jugement sur le projet de paix, p. 595. Ebd., p. 594. Entsprechende Äußerungen durchziehen Saint-Pierres gesamtes Friedensprojekt; vgl. exemplarisch Saint-Pierre, Projet de paix, in, pp. 212 ff., wo er Venedig die finanziellen Vorteile vorrechnet.
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durch verpflichtende, ihnen übergeordnete Instanzen auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüfen und somit ihre Freiheit der Willkür, d. h. ihre Souveränität, einschränken zu lassen.43 Rousseau beschränkt sich freilich nicht auf diesen Vorwurf eines naiven Utopismus und Rationalismus, insofern aufgrund der gegebenen Verhältnisse innerhalb der europäischen Staatenwelt die Verwirklichung des von Saint-Pierre vorgeschlagenen Bundes - und zwar ungeachtet seiner 'vérité morale' - als völlig unrealistisch angesehen werden muß. Darüber hinaus ist er in Rousseaus Augen auch gar nicht wünschenswert, da er in seinen Konsequenzen verheerend wirken würde. Dies betrifft einerseits die Folgen einer Realisierung unter den bestehenden Verhältnissen selbst, andererseits den Weg, der zurückzulegen sein würde, um dorthin zu gelangen. Selbst wenn nämlich die Herstellung eines solchen Bundes gelingen würde, so wäre dadurch nicht nur die Sicherung gegen Kriege und internationale Konflikte erreicht, sondern es wäre aufgrund der wechselseitigen Garantien zugleich auch die Autorität der Fürsten „contre toute rebellion de ses Sujets" und die Niederschlagung und Unterdrückung aller „révoltes des Sujets rebelles" dauerhaft gesichert.44 An dieser Konsequenz des Friedensprojektes, durch deren Hervorhebung Saint-Pierre es für die Adressaten seiner Vorschläge in ein besonders vorteilhaftes Licht rücken wollte, indem er zeigte, daß ,,[l]e principal effet de l'Union est de conserver toutes choses en repos en l'état qu'elle les trouve",45 kann Rousseau jedoch keinen Gefallen gefunden haben. Ein solches Ergebnis bedeutet in Rousseaus Augen schließlich nichts anderes als die Verewigung des von ihm als widersinnig angesehenen Systems feudalabsolutistischer Herrschaft, in dem das Prinzip der Freiheit, für ihn Grundbedingung eines jeden legitimen Gemeinwesens, mit Füßen getreten wird.46 Hinzu kommt schließlich der nicht weniger relevante Aspekt des Weges hin zu einem solchen Bund 'despotischer Staaten'. Denn wenn aufgrund der spezifischen Interessensstruktur der herrschenden Kreise innerhalb der europäischen Staaten eine freiwillige Übereinstimmung prinzipiell ausgeschlossen werden muß, so könnte ein allgemeine Rechtsverhältnisse herstellender und erzwingender Bund nur auf gewaltsamem Wege, d. h. gegen den Willen der Fürsten, durchgesetzt werden. Dann aber gilt, „[qu'il] n'est plus question de persuader mais de contraindre et il ne faut pas écrire des livres mais lever des troupes".47 Diese Einschätzung sieht Rousseau ironischerweise gerade durch die Aktivitäten Heinrichs IV. und seines Kanzlers Sully bestätigt, die Saint-Pierre als Initiatoren und Vorbilder seines Friedensprojekts bezeichnet hatte.48 Denn der von ihnen anvisierte Bund, den Sully in sei43 44 45
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Vgl. Rousseau, Jugement sur le projet de paix, pp. 593 f. Rousseau, Extrait du projet de paix, pp. 583 u. 588. Saint-Pierre, Projet de paix, I, p. 291. - Vgl. zu diesem Topos bei Saint-Pierre ebd., I, pp. 41 f., 290 ff. u. ö.; zur Einschätzung dieser Erklärungen oben, S. 103 ff. Vgl. zur Kritik des feudalabsolutistischen Systems Rousseau, Du contrat social, pp. 357 u. 430, sowie seine prinzipielle Erklärung der Unverzichtbarkeit menschlicher Freiheit, die jedem politischen System zugrundeliegen muß: „Renoncer à sa liberté c'est renoncer à sa qualité d'homme, aux droits de l'humanité, même à ses devoirs" (ebd., p. 356), so daß ein jeder dem widersprechender Akt der Unterwerfung unter eine politische Körperschaft nichtig ist. Rousseau, Jugement sur le projet de paix, p. 595. So führt Saint-Pierre den Heinrich IV. zugeschriebenen Plan bereits im ersten Band des 'Projet de paix', I, pp. 123 ff., als einen von zwei 'préjugés' zugunsten seines Projekts an. Vor allem der dritte Band von SaintPierres Projet de paix steht dann ganz im Zeichen Heinrichs IV. Schon im Titel klingt es, als expliziere er nur dessen Plan: Projet pou rendre la paix perpétuelle [...] proposé autrefois par Henri le Grand Roy de France
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nen Mémoiren als den Grand Dessin beschrieben hatte, dessen Umsetzung durch die Ermordung Heinrichs 1610 verhindert worden sei, 49 sei nicht als freiwilliger Zusammenschluß der europäischen Souveräne konzipiert gewesen, sondern habe auf die gewaltsame Durchsetzung der Hegemonie Frankreichs in Europa abgezielt. Entsprechend hätten Heinrich IV. und Sully zu den einzig angemessenen Mitteln zur Verwirklichung einer solchen 'Vereinigung Europas' greifen wollen: zu Geheimdiplomatie, Bündnispolitik und militärischer Aufrüstung zum Zweck eines letzten Krieges, der gesamteuropäische Dimensionen angenommen hätte.50 Eine solche Form der Schaffung der institutionellen Voraussetzungen eines ewigen Friedens „par des moyens violens et redoutables à l'humanité"51 aber ist für Rousseau mehr als problematisch. 52 Denn erstrebe man den Frieden durch gewaltsame Umwälzungen („révolutions"), d. h. durch einen Krieg, „qui devoit être la dernière", so kann die Einrichtung der „Ligue Européenne" schrecklichere Folgen zeitigen als der zu überwindende Zustand: „eile ferait peut-être plus de mal tout d'un coup qu'elle n'en préviendrait pour
49 50 51 52
[...] Eclairci par M. l'Abbé de S. Pierre [...]. Die Widmung an den Regenten beginnt entsprechend mit der Erklärung, in den drei Bänden nur „l'importance & la solidité du fameux Projet du Roi Henri le Grand vôtre Bisayeul" demonstriert zu haben (Projet de paix, IQ, p. iii). Zudem trägt der erste Teil des Buches (pp. 1-170) durchgehend die Kopfzeile .Projet de Paix perpétuelle d'Henri le Grand". Vgl. v. Raumer, Ewiger Friede, S. 61-78; Hartmann, Rêveurs de Paix, S. 31 ff. Rousseau, Jugement sur le projet de paix, pp. 596 ff. Ebd., p. 600. Darin stimmt er ironischerweise mit Saint-Pierre überein, der die Idee eines solchen 'letzten großen Krieges' gleichfalls abgelehnt und an den Plänen Heinrichs und Sullys gerade die gewaltsame Zerschlagung der Macht Habsburgs und den Verzicht auf die Prinzipien von Freiwilligkeit und Akzeptanz des Status quo kritisiert hatte, da in dieser Gewalt der Keim zu neuen Kriegen liege und das Ziel einer dauerhaften Friedensordnung verfehlt werde (vgl. Saint-Pierre, Suplément à l'Abrejé du Projet de Paix, pp. 23 ff.). Demgegenüber scheint Rousseaus Annahme, das Friedensprojekt könne eben nicht durch Einsicht, Wille und Vertrag realisiert werden, sondern letztlich nur durch eine entsprechende Eroberungspolitik Frankreichs, weniger auf Saint-Pierre als auf dessen 'Schüler', den Marquis d'Argenson, dem politischen Schriftsteller, Staatsmann und zeitweiligen französischen Außenminister, zurückzugehen (zu dem 'Lehrer-Schüler-Verhältnis' zwischen beiden instruktiv Goumy, Étude sur la vie, pp. 56 ff.); dieser wollte Saint-Pierres Plan realpolitisch angemessener fassen und erklärte: „Die Unterzeichnung der fünf Artikel [des Friedensplans Saint-Pierres; O.A.] stößt heute auf große Schwierigkeiten in der Neigung zum Bösen, die das Bestreben der wichtigsten Mächte Europas ist. Es braucht Zeit, diese Neigung zu beseitigen. Wir wollen hier diesen Vorschlag unterbreiten, daß Frankreich allein nicht nur damit anfangen, sondern auch allein und tatkräftig all das durchsetzen kann, was der Allgemeine Gerichtshof durchsetzen würde, nämlich eine bewaffnete Schlichtung" (d'Argenson, Essay über die Einsetzung des europäischen Gerichtshofes, S. 167; zu dieser Schrift und ihrem Verhältnis zu der Saint-Pierres vgl. Hömig, Einleitung, S. 28 ff.). Daß dieser 1737 entstandene Essay d'Argensons, der gewiß alles andere als eine aggressive Kriegspolitik Frankreichs legitimieren sollte, dennoch aber die Durchsetzung der Union Européenne mit der Idee einer (,friedensfördemden') politisch-militärischen Hegemonie Frankreichs in Europa und die eines 'letzten großen Krieges' in Verbindung bringt - „Man muß sie also zwingen, glücklich zu werden" (ebd., S. 169) - , Rousseaus Bild des Friedensplans geprägt hat, ist sehr naheliegend. Denn Rousseau kennt diese 1764 erstmals unter dem Titel „Considérations sur le Gouvernement ancien et présent de la France" erschienene Schrift, zitiert sie in seinem ansonsten an Zitaten so armen Contrat social ungewöhnlich oft und erklärt dort in der letzten Anmerkung: ,Je n'ai pu refuser au plaisir de citer quelque-fois ce manuscrit quoique non connu du public, pour rendre honneur à la mémoire d'un homme illustre et respectable, qui avoit conservé jusques dans le Ministere le cœur d'un vrai citoyen, et des vues droites et saines sur le gouvernement de son pays" (Rousseau, Du contrat social, p. 467).
276
Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
des siècles".53 Zudem wäre selbst im Falle des Gelingens einer solchen Umwälzung Europas das anvisierte Ziel durchaus nicht erreicht. Denn ein gewaltsam geschaffener Zusammenschluß würde alles andere als die Garantie dafür bieten, daß der auf diese Weise zustande gekommene Bund auch tatsächlich die Interessen, die Sicherheit und die Freiheit der Mitgliedsstaaten sicherstellt. Ganz im Gegenteil muß davon ausgegangen werden, daß eine solche hegemoniale Herrschaftsstruktur eines Eroberers keinen dauerhaften Friedenszustand zu begründen vermag, da nach Rousseau aus Gewalt kein Recht und keine Form legitimer Herrschaft entstehen kann und einem jeden Volk das unveräußerliche Recht verbleibt, über die Gestalt seines Gemeinwesens selbst zu bestimmen.54 Folglich würde ein solcherart zustande gekommener Staatenbund den Kriegszustand zwischen den Staaten lediglich in eine neue Gestalt überführen und dadurch nur verlängern. Rousseaus Analyse der Verhältnisse innerhalb der überwiegenden Mehrzahl der Staaten seiner Zeit führt also im Hinblick auf die internationale Friedenssicherung zu einem ernüchternden Urteil: Da sowohl eine freiwillige als auch eine gewaltsame Herstellung der institutionellen Voraussetzungen einer rechtlichen Organisierung der internationalen Beziehungen nicht nur völlig unrealistisch, sondern auch nicht zu wünschen sind, weil sie in der einen oder anderen Weise die bestehende Despotie und den Kriegszustand nur verschärfen und perpetuieren würden, muß dieser Ansatz zur Aufhebung des Naturzustands zwischen Staaten insgesamt fallengelassen werden. Die Friedenstheorie muß einen Perspektivwechsel vollziehen und sich den Verhältnissen innerhalb der Staaten zuwenden. Denn nur wenn es gelingt, den Zusammenhang von Despotie und Krieg zu durchbrechen, ist die Hoffnung erlaubt, daß mit den inneren Ursachen auch die Dynamik internationaler Konflikte entfällt. Dies ist der Grund, warum Rousseau sich nach dem Ende seiner Beschäftigung mit den Schriften Saint-Pierres vornehmlich Fragen der Begründung legitimer Herrschaft zuwendet, und in diesem Zusammenhang wird, wie abschließend zu zeigen ist, das Problem der Herstellung einer internationalen Friedensordnung zu einem reinen Folgeproblem zurückgestuft. Zeigen wird sich freilich auch, daß Rousseau damit in eine Aporie zwischen den internen und den externen Bedingungen einer Überwindung des Naturzustandes zwischen Staaten gerät, in der der Grund dafür zu suchen ist, warum er das programmatische Ziel seiner Institutions politiques, das Recht auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens über die Gewaltverhältnisse zu setzen, nicht hat erreichen können.
Rousseau, Jugement sur le projet de paix, pp. 599 u. 600. - Auch hier bestätigt sich das oben (S. 195 f.) bereits erwähnte scheinbare Paradox des 'konservativen' Charakters des revolutionären Denkers Rousseau, der einer jeden revolutionären Tat abhold ist und dem es weniger um die Beschleunigung des Fortschritts als um dessen Verlangsamung zu tun war; vgl. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 254. Rousseau, Du contrat social, pp. 355 u. 358.
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Die Aponen des Staats- und Völkerrechts bei Rousseau
IV.5 Republikanische Inseln im Meer der internationalen Staatenwelt: Die Aporien des Staats- und Völkerrechts bei Rousseau Jlfaut
maintenant [...] qu'il cherche la paix dans la liberté." (J.-J. Rousseau, 1765)
Rousseau vollzieht, so läßt sich das Resultat des vorangegangenen Abschnitts zusammenfassen, im Verhältnis zu Saint-Pierre und anderen Verfechtern einer bei der Organisation der internationalen Beziehungen ansetzenden Traditionslinie völkerrechtlichen Denkens eine Änderung der Ebenen der Analyse, die man als einen Paradigmenwechsel bezeichnen kann: Es ändern sich für ihn nun die gesamte Fragestellung, der Bezugsrahmen und die Begriffe im Hinblick auf die Frage nach den Bedingungen für die Herstellung eines 'ewigen Friedens' zwischen den Staaten.1 Die Einsicht, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen innerstaatlichem Despotismus und einer aggressiven, auf militärische Expansion ausgerichteten Außenpolitik besteht, führt Rousseau dazu, daß er von nun an für den Primat der Reform der innerstaatlichen Verhältnisse votiert. Es ist kein Zufall, daß Rousseau sich in der Folge nur mehr politisch-staatsrechtlichen Reformvorhaben widmet und daß von den Institutions politiques nur der Contrat social realisiert wurde. Für Rousseau erhält die Frage nach den Bedingungen der Institutionalisierung der innerstaatlichen Freiheit nunmehr einen methodischen Vorrang vor derjenigen nach den Bedingungen des zwischenstaatlichen Friedens, insofern dieser jene zur unmittelbaren Voraussetzung hat: Die Freiheit gilt nicht mehr als Folgeprodukt des primär zu erreichenden Friedens, sondern umgekehrt ist „la paix dans la liberté" zu suchen und durch sie anzustreben.2 Insofern ist ,,[m]it und durch Rousseau [...] der Friede innenpolitisch zum revolutionären Argument" geworden, denn er hat wie kein anderer das Bewußtsein seiner Zeitgenossen dafür geschärft, daß es „kein Ende des Krieges ohne ein Ende des Absolutismus" geben kann.3 Somit hat sich der interne Nachvollzug der heterogenen Überlegungen Rousseaus zu einer dauerhaften Pazifizierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen in gewisser Weise zu einem Kreis geschlossen. Die Analyse hat zu eben jener Frage nach der Organisation der Außenbeziehungen legitimer politischer Gemeinwesen im Sinne des Contrat Der Begriff des Paradigmas bezeichnet hier die formale Bestimmung eines spezifischen Zusammenhangs von Voraussetzungen, Elementen, Methoden und Perspektiven einer Theorie und nicht „allgemein anerkannte(n) wissenschaftlichen Leistungen" im Sinne Kuhns (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 10). Bedeutsam ist v. a. das Element des Neuen, des Bruchs mit der Gesamtheit des vorhergehenden theoretischen Ansatzes, das mit der Änderung der Fragestellung verknüpft ist. Rousseau, Projet de Constitution pour la Corse, p. 904. - Zur methodischen Wendung Rousseaus vgl. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf, S. 29 ff. Fischbach, Krieg und Frieden, S. 77. Es ist also angemessen, wenn Pekarek sein Buch über 'Absolutismus als Kriegsursache' mit Rousseau enden läßt und ihn als „strengsten Vertreter" dieser These bezeichnet (S. 129), wenngleich die Aufhebung des Absolutismus eine zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für das Ende internationaler Kriegsdynamik ist.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
social zurückgeführt, von der die vorliegende Untersuchung der Positionen Rousseaus ihren Ausgang genommen hatte, freilich mit einer entscheidenden Akzentverschiebung: War die fehlende völkerrechtliche Ergänzung des Contrat social zunächst das zu lösende Problem, so erscheint die Konstruktion des Contrat social paradoxerweise nun weniger Problem als Lösung für das Problem der defizienten Beziehungen zwischen den Staaten zu sein (hierzu IV.5.1). Andererseits ändert dies nichts daran, daß die im Contrat social vorgelegte Konzeption auch in Rousseaus Augen als eine solch umfassende Lösung nicht tauglich ist, da sie den fundamentalen Widerspruch in den Beziehungen zwischen den Staaten als 'corps artificiels' nicht aufzuheben vermag. Abschließend ist deshalb zu zeigen, inwiefern in Rousseaus politischer Philosophie die internen und externen Faktoren, die die Problematik des internationalen Naturzustands generieren, einander widersprechende Lösungen erfordern und eine aporetische Situation erzeugen, aus der es auf der Grundlage von Rousseaus systematischen und historisch-politischen Annahmen zur Genesis und zu den Entwicklungsprinzipien der internationalen Staatenwelt keinen gradlinigen Ausweg mehr gibt oder geben kann (IV.5.2).
IV.5.1
Die Konföderation autarker Republiken als Ausweg aus dem internationalen Naturzustand?
Der Umstand, daß die Überwindung des mit der Entstehung der neuzeitlichen Welt souveräner Staaten erzeugten Naturzustands zwischen ihnen durch den natürlichen Gang der Geschichte ebensowenig zu erhoffen ist wie auf den herkömmlichen Pfaden der vorpolitisch-gesellschaftlichen Entwicklungen, politisch-diplomatischen oder völkerrechtlichen Bemühungen, hatte der von Saint-Pierre vielleicht am entschiedensten vertretenen Konzeption eines mit der Kompetenz zur Rechtssetzung und zum Rechtszwang ausgestatteten Zusammenschlusses der Staaten zu einem neuen corps politique ihre Attraktivität verliehen. Obwohl Rousseau ihr seine Anerkennung nicht versagen konnte und wollte, verwarf er, so hat sich gezeigt, schließlich doch die Idee eines solchen Bundes, indem er - und hierin liegt die erste Dimension seiner Kritik - auf seine problematischen Realisierungsbedingungen in der Staatenwelt Europas in der Mitte des 18. Jahrhunderts hinwies. Nicht genug damit, daß der seiner Meinung nach von Saint-Pierre nur ungenügend reflektierte Zusammenhang von Tyrannei und Krieg seine Verwirklichung prinzipiell ausschloß; darüber hinaus würde unter den gegebenen historisch-politischen Verhältnissen eine jede denkbare Variante der Umsetzung des Modells von Saint-Pierre die Gewalt- und Unsicherheitsverhältnisse nicht abschwächen, sondern verstärken und verewigen. Diese am historisch Gegebenen orientierte Kritik des Staatenbundes im Sinne Saint-Pierres wird bei Rousseau jedoch durch eine zweite Dimension der Kritik ergänzt und verschärft. Auch unter den Bedingungen einer erfolgreich vollzogenen Überwindung der despotischen Strukturen der Staaten und einer Verwirklichung innerer Reformen in Richtung auf eine radikale Republikanisierung der politischen Systeme muß die Stiftung eines übergreifenden politisch-rechtlichen Zusammenhangs für Rousseau ausgeschlossen und in jedem Fall vermieden werden. Und zwar ist dies paradoxerweise gerade das Resultat jenes Umstands, der die Frage der konföderativen Organisation der internationalen Beziehungen zur Existenzbedingung eines legitimen politischen Gemeinwesens zuallererst auf den Plan ge-
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bracht hatte: daß ein solches Gemeinwesen für Rousseau einzig und allein in Gestalt kleiner Republiken gebildet und erhalten werden kann, „in der das Volk sein unverzichtbares Recht auf die unrepräsentierbare und unteilbare Souveränität voll in Anspruch nimmt und alle legislativen Befugnisse selber ausübt".4 Aufgrund dieser verfahrensmäßigen Voraussetzungen der Institutionen legitimer Herrschaft ist die Bindung an übergeordnete, mit exekutiven und legislativen Funktionen ausgestattete Instanzen für die republikanischen Staaten ebensowenig denkbar wie für die despotischen, wenngleich aus ganz anderen Gründen. Ist in despotischen Staaten nämlich die absolute Willkürfreiheit Bedingung für eine ungebremste Politik der inneren und äußeren Machtsteigerung, so ist die Sicherung der unbeschränkten Autonomie der staatsrechtlichen Institutionen, Strukturen und Verfahren für die kleinen Republiken Bedingung für die Realisierung der inneren Freiheit und der Selbstbestimmung der Bürger. Rousseau diskutiert diese von ihm geforderte Autonomie und Souveränität im Außenverhältnis republikanischer Staaten auf zwei Ebenen. Zunächst und ganz unmittelbar stellt sich die Frage nach den Bedingungen des Überlebens der kleinen Republiken, sobald es einzelnen Völkern gelungen ist, sich in Gestalt legitimer Gemeinwesen zu konstituieren. Als solche aber sind sie notwendigerweise kleine und militärisch deshalb relativ wenig beeindruckende Staaten, die sich in einer Umwelt behaupten müssen, die aus großen, an militärischer Stärke weit überlegenen und aufgrund ihrer inneren Organisation auf Expansion ausgehenden Staaten besteht.5 Obwohl Rousseau in diesem Zusammenhang die Möglichkeit von internationalen Verträgen und Bündnissen erwägt, verbieten sich für ihn doch selbst in dieser Situation extremer Ungleichheit Versuche, die Existenz solcher isolierter Inseln republikanischer Freiheit dadurch sichern zu wollen, daß sie mit jenen großen Staaten Bündnisse eingehen. Dies gilt sogar dann, wenn diese Übereinkünfte formell nichts als die Versicherung gegenseitiger Freundschaft und Unterstützung, die Erhaltung der inneren Strukturen und die Sicherung gegen äußere Aggression zum erklärten Ziel haben, also reine Defensivbündnisse ohne erkennbare hegemoniale Komponenten sind. Denn auch in diesen Bündnissen wirkt nach Rousseau die natürliche 'Zentrifugalkraft' der Völker fort, durch welche die Stärkeren unvermeidlich ihre Hegemonie über ihre schwächeren Nachbarn ausbauen und zunehmend beherrschen, so daß in solchen Bündniskonstellationen „les foibles risquent d'être bientôt engloutis".6 Als beispielhaft lobt Rousseau deshalb das Verhalten der 'Republik Thlascala', die zwar vollständig vom Königreich Mexiko umgeben gewesen sei, dennoch aber sogar selbst auf ihre kostenlose Versorgung durch Mexiko mit dem lebenswichtigen Salz verzichtet habe, weil sie hinter dieser Großzügigkeit die Falle erkannte, die sie für ihre Unabhängigkeit und Freiheit dargestellt hätte.7 Folglich weist Rousseau auch in seinem Verfassungsentwurf für die nach Unabhängigkeit strebenden Korsen auf das ungleiche und freiheitsgefährdende Verhältnis vorgeblich allein auf die Existenzsicherung abzielender Bündnisse hin. Stattdessen empfiehlt er ihnen die unbedingte Bewahrung ihrer Autonomie und den Verzicht auf internationale Verträge und Bündnisse, ja auf jegliche Form internationaler Politik überhaupt, da in deren Strukturen die Interessen der Starken notwendigerweise überwiegen und sich stets durchsetzen würden: 4 5 6 7
Fischbach, Krieg und Frieden, S. 74. - Vgl. hierzu oben, S. 214 ff. Vgl. Rousseau, Du contrat social, p. 431; ders., Emile, p. 848. Rousseau, Du contrat social, p. 388. Ebd., pp. 390 f., Anm.
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Herrschaft des G e s e t z e s und internationaler Naturzustand bei R o u s s e a u
„ D e s alliances, des traités, la foi des h o m m e s , tout c e l a peut lier le f o i b l e au fort et ne lie jamais le fort au foible. Ainsi laissez les n é g o c i a t i o n s aux puissances et ne c o m p t e z q u e sur vous." 8
Darüber hinaus verbietet sich für Rousseau eine Integration der Kleinstaaten in einen übergreifenden corps politique auf einer zweiten, ganz prinzipiellen Ebene. Denn er geht noch weiter und behauptet, daß die republikanischen Gemeinwesen nicht nur jede Form der Zusammenarbeit mit großen Mächten auf jeden Fall vermeiden müssen, sondern daß ebenso die denkbare alternative Option eines Zusammenschlusses mit anderen, ebenfalls gemäß den Kriterien des Contrat social verfaßten Kleinstaaten verworfen werden muß. Zwar zielen alle diese Republiken in ihrer Binnenstruktur auf die Realisierung der Freiheit der Gesellschaftsmitglieder und auf die Ermöglichung ihrer autonomen Gesetzgebung ab, und sie teilen in ihrem Außenverhältnis das Interesse an einer friedlichen /To-Existenz und am Schutz gegen äußere Einmischung in ihre internen Angelegenheiten, so daß ein direktes oder indirektes Streben nach außenpolitischer Hegemonie und aggressiver Expansion nicht zu befürchten ist. Dennoch begründen diese Gemeinsamkeiten nicht die Möglichkeit eines föderativen Zusammenschlusses. Zwar können die kleinen Republiken als politische Körperschaften Verträge und wechselseitige Verpflichtungen eingehen, doch dürfen sie ihre Souveränität niemals teilweise oder ganz auf andere Instanzen übertragen, ohne gegen den Gesellschaftsvertrag, der ihnen zugrunde liegt, zu verstoßen: „le corps politique ou le Souverain ne tirant son être que de la sainteté du contrat ne peut jamais s'obliger, m ê m e envers autrui, à rien qui déroge à cet acte primitif c o m m e d'aliéner quelque portion de l u i - m ê m e ou de se soumettre à un autre Souverain. V i o l e r l'acte par lequel il existe serait s'anéantir". 9
Sowenig das Individuum auf seine Freiheit verzichten kann, sowenig kann also nach Rousseau auch ein Volk auf seine Souveränität verzichten und diesen Verzicht zur Grundlage rechtlicher Verhältnisse machen.10 Anders als Hobbes, für den auf seiten der Individuen ein solcher Verzicht Teil des ursprünglichen, als Unterwerfungsvertrag konzipierten Gesellschaftsvertrags ist,11 schließt Rousseaus Verständnis legitimer Herrschaft die dauerhafte Vertretung des Willens der Gesellschaftsmitglieder durch den Willen eines oder mehrerer Repräsentanten grundsätzlich aus: 8 9 10
"
Rousseau, Projet de Constitution pour la Corse, p. 903. Rousseau, Du contrat social, p. 363. Ebd., pp. 355 f. So bedarf es nach Hobbes, um die Übereinstimmung der Menschen, den Naturzustand zu verlassen und in einen rechtlichen Zustand einzutreten, „constant and lasting" zu machen, der Unterwerfung unter eine allgemeine Gewalt durch die Übertragung von „all their power and strength upon one Man, or upon one Assembly of men", deren Handlungen und Wille unwiderruflich als die eigenen angesehen werden müssen (Hobbes, Leviathan, pp. 226 u. 227 [XVÜ. 12/13]). Zu Hobbes' Theorie der Autorisierung und Repräsentation vgl. Hüning, Freiheit und Herrschaft, S. 213 ff. Freilich ist für Hobbes ebenso wie für Rousseau ein Souveränitätsverzicht der vertraglich konstituierten politischen Körperschaften zugunsten eines übergreifenden Leviathans ausgeschlossen, da es oberste Aufgabe des Souveräns sei, „to maintain those Rights entire" - und hier vor allem jenes Recht „of making Warre, or Peace" - , so daß es „against his duty" wäre, „to transferre to another, or to lay from himselfe any of them" (Hobbes,, Leviathan, pp. 376 f. [XXX.3]; vgl. Asbach/Hüning, Naturzustand und Rechtsbegründung, S. 310 f.; Hüning, ,Inter arma silent leges', passim).
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„la souveraineté n'étant que l'exercice de la volonté générale ne peut jamais s'aliéner, et [...] le souverain, qui n'est qu'un être collectif, ne peut être représenté que par lui-même".12
Verzichtet nämlich ein Volk auf die Freiheit, seinen Willen selbst zu bestimmen, indem es sich - und sei es um der Selbsterhaltung willen - unwiderruflich der Willkür eines fremden Willens unterwirft, dann ist der grundlegende Gesellschaftsvertrag verletzt, die Freiheit, deren Realisierungsform er darstellen sollte, ist aufgegeben, und der auf ihm basierende Staat ist nicht länger existent: „Si donc le peuple promet simplement d'obéir, il se dissout par cet acte, il perd sa qualité de peuple; à l'instant qu'il y a un maitre il n'y a plus de Souverain, et dès lors le corps politique est détruit".13
Der Begriff einer staatsrechtlichen Charakter annehmenden (Kon-)Föderation kleiner Staaten ist für Rousseau demzufolge ein in sich widersprüchlicher Begriff. 14 Die Bindung der Verwirklichung menschlicher Freiheit an die republikanischen Institutionen zieht nicht nur im Inneren, sondern auch für die äußeren Beziehungen das Gebot einer unaufhebbaren Souveränität nach sich, durch das „Fragen der [föderalen internationalen] Staatengemeinschaft und der [föderalen inneren] Staatsgliederung" eindeutig abschlägig beantwortet werden müssen. 15 Ein föderativer Zusammenschluß kleiner Republiken müßte nämlich, um wirksam zu sein, sowohl legislative als auch exekutive Kompetenzen an sich ziehen und der freien Verfügung der Einzelstaaten entreißen. Dadurch aber würde er illegitim, da er für die Republiken einen inakzeptablen Souveränitätsverzicht erforderlich machen würde, insofern „le légicentrisme supra-étatique imposerait à chaque Etat une autorité hétéronomique incompatible avec la liberté". 16 Die politisch-staatsrechtlichen Strukturen von Freiheit und autonomer Selbstbestimmung würden um ihrer Erhaltung willen geopfert. Ein Aufgehen legitimer Gemeinwesen in einem neuen corps politique, wie es Saint-Pierres Idee einer internationalen Rechtsgemeinschaft vorsah, würde also die ihn bildenden Mitglieder vernichten und sich auf den Ruinen der politischen Einheiten erheben, zu deren Schutz er gegründet worden war. 17 12
Rousseau, Du contrat social, p. 368. - Hierin besteht jene von Herb als 'Verweigerte Moderne' charakterisierte Kritik Rousseaus an jeder Form von Repräsentation.
13
Rousseau, Du contrat social, p. 369. Diese Problematik geht in der verbreiteten Ansicht verloren, nach welcher Rousseau nach dem Modell des Contrat social eine Konföderation kleiner Staaten als jene „internationale Organisation" ansehe, mit der er „die Menschheit beglücken wollte", indem so „zu einer partiellen internationalen Gemeinschaft" zu gelangen sei (ter Meulen, Der Gedanke der internationalen Organisation, S. 257-258). Über die Bedeutung und die Konsequenzen dieses „partiell" schweigt man sich jedoch gemeinhin aus.
14
15
Gierke, Althusius, S. 360 (Nachtrag 1902). Für Gierke stellt dabei Rousseaus Position - „hier wie überall die letzte Konsequenz ziehend" - diejenige dar, die „den centralistisch-atomistischen Gedanken vollendete und schliesslich bei der theoretischen Vernichtung aller Zwischengliederungen zwischen dem souveränen Individuum und der souveränen Allgemeinheit" einerseits, dieser Allgemeinheit und den anderen Staaten andererseits anlangte (ebd., S. 256 f. u. 256).
16
Goyard-Fabre, La Construction de la paix, p. 168. Vgl. Windenberger, La république confédérative, p. 205: „L'État fédéral [...] est seul revêtu de l'autorité, les nations particulières qui l'ont engendré ne la possèdent donc plus, et ne sont même plus des nations, puisque nous avons établi que la souveraineté caractérise exactement la société politique. Depuis la création de l'État fédéral, il n'existe qu'un seul Souverain; il est impossible en effet que, sur le même territoire, puissent coexister plusieurs puissances suprêmes dont chacune, n'étant soumise à aucune autre, aurait au contraire le droit de
17
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Rousseaus Verzicht auf die Konzeption einer internationalen Rechtsgemeinschaft und ihrer institutionellen Realisierungsbedingungen gründet folglich nicht nur in seiner realpolitischen Einschätzung der zeitgenössischen Verhältnisse in und zwischen den Staaten Europas, sondern auch in den Grundlinien seines normativ-utopischen Gegenentwurfs legitimer Formen politischer Herrschaft. Wenn die Errichtung solcher politischer Gemeinwesen erreicht werden sollte, dürfen sie sich vor den Gefahren, die ihnen aus der anarchischen Struktur des internationalen Systems erwachsen, nicht dadurch schützen wollen, daß das Erreichte praktisch wieder zerstört wird, indem die freiheitskonstitutiven Strukturen funktional entleert und die wirkliche politisch-rechtliche Willensbildung und -exekution dauerhaft und unwiderruflich auf übergeordnete Organisationen und Instanzen transferiert werden. Die - sogleich noch näher zu betrachtende - befremdlich anmutende patriotische Emphase, die Rousseaus Entwurf eines legitimen Gemeinwesens durchzieht, und sein Beharren auf der unbedingten Beibehaltung und Sicherung der einzelstaatlichen Souveränität sind in dieser Perspektive das Resultat seiner demokratietheoretischen Überzeugungen und Sorge um die Aufrechterhaltung der Verhältnisse demokratischer Selbstbestimmung im Rahmen kleiner Republiken. Die genannte Wendung Rousseaus vom Frieden zur Freiheit, das heißt zum Primat der Durchführung einschneidender innerer Reformen in den Staaten zur Lösung der Frage nach der Herstellung eines dauerhaften Friedens zieht somit offensichtlich gravierende Konsequenzen für seine Theorie internationaler Beziehungen nach sich. Denn einerseits hat Rousseau schließlich selbst wiederholt und nachdrücklich darauf hingewiesen, daß auch für die zwischenstaatlichen Verhältnisse die Notwendigkeit einer Verrechtlichung der Beziehungen besteht, sofern der Naturzustand und die in ihm bestehenden Gewaltverhältnisse vollständig aufgehoben werden sollen.18 Andererseits jedoch ergibt sich aus seiner Konzeption nationaler Selbstbestimmung für die friedenssuchenden Republiken ein absolutes Verbot, den zur Herstellung objektiv bestehender und verpflichtender Rechtsverhältnisse notwendigen Souveränitätsverzicht zu leisten. Aus dieser Problemlage folgen eine eher pragmatische und eine theoretisch grundsätzliche Frage: Wie nämlich ist auf dieser Grundlage einerseits die von Rousseau geforderte außenpolitische Absicherung der Existenz legitimer Gemeinwesen zu erreichen, und was bedeutet dies andererseits für die angestrebte und aufgrund der Dynamik rechtlich nicht regulierter Beziehungen zwischen politischen Körperschaften für notwendig erachtete Überwindung des herrschenden Naturzustands zwischen den Staaten im allgemeinen? Was die Frage der praktischen Absicherung kleiner Republiken anbetrifft, ergibt sich ihre Beantwortung für Rousseau aus der Spezifik seiner Analyse der internationalen Konfliktdynamik. Insofern es nämlich zwischen Staaten, wie es bereits zwischen den sich vergesellschaftenden Individuen der Fall gewesen sei, Verkehr, Kommunikation und Handel seien, die zu gegenseitiger Abhängigkeit, zu strategischem, ausschließlich an partikularen Interessen orientiertem Handeln, zu Konkurrenzkampf und Konflikten bzw. Kriegen führten, so ist der äußere Friede als Voraussetzung der Sicherung kleiner Republiken nicht in erster Linie
commander à tout le pays. Par conséquent, les sociétés politiques primitives, en cessant d'être souveraines, ont cessé d'exister. [...] L'État fédéral s'est donc élevé sur les ruines des petits États." Vgl. hierzu vor allem nochmals Rousseaus Bemerkungen zum untragbaren „état mixte": Émile, p. 848, und vor allem, Que l'état de guerre, p. 610.
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durch bestimmte außenpolitische Maßnahmen oder die Bildung internationaler Organisationen und Rechtsverhältnisse zu erreichen. Vielmehr können und müssen für Rousseau die konfliktgenerierenden Ursachen dadurch abgemildert werden, daß die Autonomie und Autarkie der legitimen Kleinstaaten in den Vordergrund gerückt werden. Je stärker sie auf sich selbst bezogen und in sich ruhend existieren - das heißt: je isolierter sie sind desto größer erscheint ihm ihre Chance, sich gegen äußere Aggressoren behaupten zu können. 19 Im Gegensatz zu der Auffassung, territoriale Expansion und außenpolitisches Engagement jedweder Art seien für die Macht eines Staates unverzichtbar, fordert er die Wendung des Blicks nach innen auf die Festigung der republikanischen Verfassung und Organisation des Staates. Kriterium der politischen Reife und Freiheit eines Volkes ist nach Rousseau die Fähigkeit zur Autarkie, und das heißt dazu, daß es „peut se passer des autres peuples", da diese Verbindung ebenso wie die territoriale Größe nur der Verwirklichung realer Freiheit entgegenwirkt: „une saine et forte Constitution est la premiere chose qu'il faut rechercher, et l'on doit plus compter sur la vigueur qui nait d'un bon gouvernement, que sur les ressources qui fournit un grand territoire". 20
Entscheidend für die Lebenskraft und Stärke der kleinen Gemeinwesen ist nach Rousseaus Ansicht dabei der bereits erwähnte Grad der Unmittelbarkeit, mit dem die Bürger an den allgemeinen Angelegenheiten teilhaben und das Funktionieren der staatlichen Einrichtungen als Teil ihres eigenen Wollens und Strebens ansehen. Um die Sicherheit und die Erhaltung der kleinen Republiken zu gewährleisten, muß deshalb nach Rousseau, der den abstrakten Kosmopolitismus seiner aufklärerischen Zeitgenossen scharf kritisiert hatte, 21 den kleinen Völkern die Liebe zum Vaterland nähergebracht werden. Diese „amour de la patrie plus vif et plus délicieux cent fois que celui d'une maítresse" bringe all jene Bürgertugenden und „actions immortelles dont l'éclat ébloüit nos foibles yeux" hervor, 22 von denen aus der Antike so viele Beispiele überliefert worden seien. Rousseau verfolgt demnach, so könnte man die bisherigen Überlegungen zusammenfassen, in normativer Hinsicht auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen die Strategie einer radikalen nationalen Autarkie als erster Bedingung der Errichtung und Erhaltung der Freiheit. Es ist diese Konzeption, die sich auf der Grundlage seines Contrat social ergibt und für die die Verfassungsentwürfe für Polen und Korsika gleichsam als Probe aufs Exempel gelten können. Es ist ein Entwurf, den man als „a national strategy" bezeichnen kann, „that seeks to disengage the nation's character, economy, politics, and security from foreign influence and contact". 23 In seiner Verfassungsschrift für Polen verschärft Rousseau dabei
Rousseau verfolgt insofern konsequent den einmal gewählten Weg der Abwendung von den Verhältnissen von gesellschaftlichem und ökonomischem Verkehr und Kommunikation als den Hauptursachen von Konflikten und historischer Verfallsdynamik, auch und gerade im Hinblick auf die Außenbeziehungen kleiner Republiken. Rousseau, Du contrat social, pp. 390 u. 388. Vgl. Rousseau, Discours sur l'Économie politique, pp. 254 f.; ders., Contrat social (Manuscrit de Genève), p. 287; ders., Emile, p. 249. - Hierzu Belissa, Fraternité universelle, pp. 33 ff. u. 55 ff. Rousseau, Discours sur l'Économie politique, p. 255. Hoffinann/Fiedler, Introduction, p. XXXIV.
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die nationale Emphase noch einmal und erhebt sie zu einem zentralen Element staatsbürgerlicher Gesinnung und Erziehung. „C'est l'éducation qui doit donner aux ames la force nationale, et diriger tellement leurs opinions et leurs goûts, qu'elles soient patriotes par inclination, par passion, par nécessité. Un enfant en ouvrant les yeux doit voir la patrie et jusqu'à la mort ne doit plus voir qu'elle. Tout vrai républicain suça avec le lait de sa mère l'amour de sa patrie, c'est-à-dire des loix et de la liberté. Cet amour fait toute son existence; il ne voit que la patrie, il ne vit que pour elle; sitôt qu'il est seul, il est nul: sitôt il n'a plus de patrie, il n'est plus et s'il n'est pas mort, il est pis."24
Es nimmt nicht wunder, wenn Rousseau es - und zwar ganz und gar nicht primär in kritischer Absicht - im Emile geradezu als Notwendigkeit darstellt, daß jeder Patriot zu einem Chauvinisten wird, der nur die liebt, mit denen er zusammenlebt, während er alle Fremden verachtet und als nichtswürdig betrachtet. Zwar kann Rousseau nicht umhin, ein solches Verhalten als ein Übel (inconvénient) zu qualifizieren, nicht ohne jedoch den Tadel gleich wieder dadurch einzuschränken und aufzuheben, daß er eine solche Einstellung aufgrund des für die innere Stärke und den Zusammenhalt freier Staaten für unabdingbar erachteten Patriotismus als läßliche Sünde rechtfertigt: „Cet inconvénient est inévitable, mais il est foible". 25 Dennoch wäre es sowohl systematisch als auch historisch verfehlt, Rousseau umstandslos als „apostle [...] of modern nationalism" zu betrachten 26 oder in ihm gar einen der Väter des modernen Sozialimperialismus oder Faschismus erblicken zu wollen. 27 Nicht weniger entschieden nämlich verurteilt Rousseau einen jeden aggressiven, gegen andere Völker gerichteten Patriotismus als blutdürstige und intolerante Variante „de faire de la patrie l'objet de l'adoration des Citoyens". 28 Denn die von ihm verfolgte Strategie patriotischer Identifikation der Bürger mit dem Gemeinwesen ist wesentlich nach innen gerichtet und bezweckt die Übereinstimmung der individuellen Willen der Gesellschaftsmitglieder mit der volonté générale, insofern die staatlichen Institutionen die Verkörperung ihres eigenen allgemeinen Willens sind. Im diametralen Gegensatz zum nationalistischen Furor des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts ist Rousseaus Idee einer patriotischen Grundlegung und Verankerung der politischen Gemeinwesen ganz auf dessen Selbsterhaltung und -beschränkung ausgelegt
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Rousseau, Considérations sur le gouvernement de Pologne, p. 966. Rousseau, Emile, pp. 248 f. Hinsley, Power and the Pursuit of Peace, p. 55. So etwa H. Weinstock im Nachwort zu einer 1971 erschienenen deutschsprachigen Ausgabe des Contrat social; zit. n. Forschner, Rousseau, S. 17 Anm. 8. - Auch für Fetscher „hat Rousseau namentlich in den 'Considérations sur le Gouvernement de Pologne' einen religiös verklärten Patriotismus und Nationalismus gepredigt", was ihn zu dem Urteil bringt, daß „dieser blinde patriotische Glaube [...] mit jenen verhängnisvollen nationalistischen Irrlehren in Zusammenhang steht, die seit dem Zeitalter der Französischen Revolution Europa und nicht nur Europa verwüstet haben" (Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 195). Vgl. auch die Diskussion der Frage, inwiefern Rousseaus Bemerkungen zu Nationalismus und patriotischer Identifikation mit dem Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts vergleichbar sind oder gar dessen Ursprung bilden, bei Cobban, Rousseau and the Modern State, pp. 99 ff., v. a. 116 ff. Rousseau, Du contrat social, pp. 464 f. - Die systematisch spannende Frage wäre also, ob der aggressive Nationalismus nur eine kontingente Abweichung und Verirrung vom prinzipiell pazifistisch ausgerichteten Patriotismus ist, oder ob der Patriotismus die Tendenz zur nationalistischen Aggression nicht notwendig in sich birgt (so Rousseau, Émile, pp. 248 f.).
Die Aponen des Staats- und Völkerrechts bei Rousseau
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und angewiesen. 29 Es ist dieser Zusammenhang, den Rousseau im Auge hat, wenn er auf die Vorbildlichkeit der Einrichtungen der Schweiz hinweist, in der „les Citoyens remplissent eux-mêmes les fonctions que partout ailleurs ils aiment mieux payer pour les faire remplir par d'autres. Ils sont soldats, officiers, magistrats, ouvriers: ils sont tout pour le service de l'Etat, et [...] toujours prêts à payer de leur personne". 30 Die Einrichtungen und Strukturen, die sich nach Rousseau aus dem Begriff legitimer Gemeinwesen ergeben, führen für ihn somit gleichsam zur strukturellen Verhinderung expansionistisch ausgerichteter Kriegspolitik. Hierzu trägt die Ausrichtung der kleinen Republiken auf die Verwirklichung der Freiheit und der republikanischen Tugend innerhalb ihrer jeweiligen Staaten ebenso bei wie der Verzicht auf ökonomisches Konkurrenzdenken und die Entfaltung eines Handelsgeistes, der auf die Aneignung und Akkumulation von Gütern ausgeht und somit den Grundstein für vielfältige Konflikte und Kriege liefert. Ein weiteres zentrales Element kommt in Gestalt der Abschaffung institutionalisierter militärischer Apparate hinzu. Wie aufgrund der bezeichneten Strukturen des staatlichen Zusammenlebens die Motivation für eine aggressive Kriegspolitik fehlt, sorgen nach Rousseau die Identifikation mit dem politischen Gemeinwesen sowie das Milizsystem zur Landesverteidigung, bei dem jeder Bürger im Kriegsfall zugleich zum Soldaten wird, dafür, daß selbst kleinste Staaten von Großmächten nicht dauerhaft besiegt und unterworfen werden können. Als Beispiel und Vorbild führt er in diesem Sinne den korsischen Freiheitskämpfern wiederum „l'inébranlable fermeté, la constance, l'archarnement" der Schweizer vor Augen, die wegen „l'union constante qui régnoit entre des hommes sans maîtres, presque sans loix" ihr Land verteidigten und - „n'ayant pas même l'idée de séparer leur vie de leur liberté" - erreichten, daß „les trois plus grandes puissances et les troupes les plus belliqueuses de l'Europe échou[aient] successivement dans leurs entreprises contre cette héroique nation". 31 Die auf dem Prinzip der Volkssouveränität, d. h. der republikanischen Selbstbestimmung der Gesellschaftsmitglieder basierenden legitimen Gemeinwesen sind also nicht nur so etwas wie „l'ennemi-né [s] de la guerre", 32 insofern sie jene Dynamik von Tyrannei und Krieg aufgehoben haben, wie sie Rousseau zufolge despotische Staaten prägt. Gleichzeitig sind sie aufgrund ihrer internen Stärke und Geschlossenheit selbst schon ein wirksamer Schutzwall gegen mögliche Aggressionen auswärtiger Mächte. Damit scheint bei Rousseau nun eine gewisse Vorentscheidung hinsichtlich der zweiten der angesprochenen Fragen getroffen, derjenigen nämlich nach den Konsequenzen dieser Konzeption für die künftige Organisation des internationalen, als Naturzustand verstandenen Systems. Denkt man die hier skizzierten Mit Recht bemerkt Hoffmann (Rousseau on War and Peace, p. 76): „Aggressive nationalism would have destroyed Rousseaus's ideal." In diesem Sinne schränkt auch Fetscher (Rousseaus politische Philosophie, S. 207) sein oben (vgl. Anm. 27) zitiertes Urteil ein; vgl. hierzu auch Lepan, Guerre et paix, pp. 450 ff. Rousseau, Considérations sur le gouvernement de Pologne, p. 1010. Rousseau, Projet de Constitution pour la Corse, p. 915. - Mit Recht weist Lepan in diesem Zusammenhang auf den irritierenden Umstand hin, daß Rousseau in seiner Konzeption eines legitimen Gemeinwesens durchgängig eine „réelle fascination pour la guerre et l'ordre militaire" zeige und die „vertu guerrière" der „vertu citoyenne" beigeselle (Lepan, Guerre et paix, p. 436). Auch wenn Rousseau stets die Bindung der Wehrhaftigkeit an die Institutionen der republikanischen Freiheit und Gesetze hervorhebt und so ein gewisses „équilibre entre l'esprit républicain et l'esprit militaire" anstrebt (ebd., p. 453), bleibt eine eigentümlich starke Betonung des Opfers, des „thème traditionnel d'une incompatibilité entre la paix et la liberté" und der „glorification du patriotisme et du soldat-citoyen" (ebd., pp. 4 3 6 ^ 3 7 ) . Windenberger, La république confédérative, p. 86.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
Überlegungen so, wie einige Interpreten dies mit guten Gründen getan haben, gradlinig zu Ende, dann bestünde die Lösung des von Rousseau aufgeworfenen, aber offengelassenen Problems einer völkerrechtlichen Absicherung der kleinen Republiken in der Utopie einer Welt, „die gar keine großen, stets dem Despotismus zuneigenden Machtstaaten mehr [kennt], sondern sich nur noch aus einer sehr großen Anzahl autarker, bedürfnisarmer, bäuerlich-demokratischer Kleinstaaten" zusammensetzt.33 Hätte Rousseau dieser Interpretation zufolge die Konsequenzen aus den im Contrat social entfalteten internen und externen Realisierungsbedingungen legitimer Gemeinwesen gezogen, so hätte er eine Aufsplitterung der bestehenden Staatenwelt in eine Vielzahl kleiner und kleinster politischer Körperschaften anvisieren müssen,34 die in vollkommener politischer und ökonomischer Autarkie und Isolation nebeneinander her existierten. Hoffmann hat diese vermeintliche Auflösung der Widersprüche des internationalen Systems anschaulich beschrieben: „Were the whole planet covered with small, essentially self-sufficient republics, e n d o w e d with civic pride but no national vanity and equipped with purely defensive militias, then the world would ipso facto
be at peace. [...] However, this general society would not entail a 'real union',
with formal links between its member nations, just as there was no real union between men in the original state of nature. [...] the ideal international society would be like pearls juxtaposed but not on a string". 35
Ein solches Modell würde also offenbar den ursprünglich friedlichen („ersten") Naturzustand, wie Rousseau ihn als zwischen den Individuen vor der Ausbildung gesellschaftlicher Zusammenhänge und Ungleichheit bestehend beschrieben hat, auf der Ebene der Mannigfaltigkeit autarker Republiken erneut herstellen. Der Frieden wird gestiftet durch die absolute Abschließung gegeneinander, er ist mithin eine 'Stiftung', die das genaue Gegenteil des Gründungsakts eines politisch-rechtlichen Zusammenhangs bedeutet. Denn während die Stiftung eines Gesellschaftsvertrags die institutionellen Grundlagen des politischen Lebens und Handelns bedeutet, bewirkt sie im Hinblick auf die Beziehungen der Staaten zueinander eine vollständige „evasion of politics".36 Obwohl dieser 'Lösungsweg' aus der Konflikthaftigkeit des internationalen Systems also an zahlreichen Stellen in Rousseaus theoretischen oder praktisch ausgerichteten Schriften nahegelegt wird, hat er ihn doch als solchen niemals ausgeführt und propagiert. Der Grund dafür dürfte in dem in mehrfacher Hinsicht problematischen Charakter dieser Konzeption zu suchen sein. Dabei liegt seine Skepsis nicht allein in dem völlig utopischen Zug begründet, der einer solchen Perspektive eignet, da sie nichts weniger als die völlige Zerschlagung der zahlreichen großen Staaten und damit eine noch viel größere Umwälzung der existierenden Staatenwelt voraussetzen würde, als es das Projekt der Realisierung von Saint-Pierres Staa-
Fischbach, Krieg und Frieden, S. 77. Vgl. Hinsley, Power and the Pursuit of Peace, p. 55: „If he had found a solution it would have involved [...] not the federal proposal of the Extrait, but the breakdown of Europe's existing states into federal sub-states on the basis of local rule before the re-association of the sub-states in a confederation of Europe on the model of Switzerland" - wobei hier aber nicht an die heutige, staatsrechtlich verfaßte Schweiz zu denken ist: was Rousseau vor Augen hat, ist eine nach dem Modell antiker Stadtstaaten idealisierte Schweiz als Konföderation souveräner Kantonen und Republiken. Hof/mann, Rousseau on War and Peace, pp. 78-79. Ebd., p. 80; vgl. Lepan, Guere et paix, p. 436.
Die Aponen des Staats- und Völkerrechts bei Rousseau
287
tenbund bedeutet hätte, welches er bereits mit diesem Argument negiert hatte. 37 Und ebensowenig war es wohl sein kulturkritisch und geschichtsphilosophisch begründeter Pessimismus allein, der ihn zu der Überzeugung brachte, daß der zivilisatorische, Moral und Politik umfassende Verfallsprozeß schon zu weit fortgeschritten war, um noch einen solchen allgemeinen Neuanfang für denkbar zu halten. Daß Rousseau dieses 'Ideal' eines politik- und beziehungslosen Systems von in monadischer Abgeschlossenheit voneinander existierender Republiken nicht positiv entfaltete, lag wohl vor allem auch, wie noch näher zu erläutern sein wird, an seinem Wissen darum, daß selbst in diesem internationalen System völlig autonomer Republiken die Konflikthaftigkeit der zwischenstaatlichen Beziehungen nicht aufgehoben und nicht aufhebbar ist. Auf der Grundlage der Bestimmungen des Contrat social ist freilich eine andere, weniger voraussetzungsvolle und zufriedenstellendere Lösung der Problematik internationaler Beziehungen nirgends erkennbar. Zwar sieht Rousseau offenbar die Bildung von Konföderationen, zwischenstaatlichen Bündnissen und Verträgen vor, welche die Republiken außenpolitisch absichern und die anvisierte Konstruktion der Institutions politiques vollenden sollten. 38 All diese Einrichtungen haben jedoch nichts mehr mit der Etablierung öffentlichrechtlicher Verhältnisse auf internationaler Ebene gemein, wie sie in der Konzeption von Saint-Pierres Projet de paix perpétuelle und ebenso noch in Rousseaus Zusammenfassung und Weiterführung dieses Projekts als notwendig erachtet wurde, um die Aufhebung des stets latenten Kriegszustandes zwischen souveränen Staaten zu erreichen. Wenn zwischenstaatliche Bündnisse überhaupt noch denkbar und möglich sein sollen - und das unterstellt Rousseau wohl aus pragmatischen Erwägungen heraus schließlich ausdrücklich - , so müssen sie angesichts der dargestellten Verwirklichungsbedingungen legitimer Gemeinwesen außerordentlich engen Grenzen und Funktionszuweisungen unterliegen. Im Emile hatte Rousseau das Problem in die Frage gekleidet, „comment on peut établir une bonne association fédérative, ce qui peut la rendre durable, et jusqu'à quel point on peut étendre le droit de la confédération sans nuire à celui de la souveraineté?" 39 Nach dem oben Gesagten wird man füglich bezweifeln dürfen, ob die von Rousseau niemals explizit gegebene Antwort auf diese Frage noch erlaubt haben würde, im strikten Sinn von einer anzustrebenden ( K o n f ö deration und einem ihr zukommenden 'Recht' zu sprechen. Die Wendung des Friedensgedankens zum Primat der Herstellung republikanischer Verhältnisse und zur Überwindung des kriegstreiberischen Despotismus im Inneren der Staaten zieht im Hinblick auf die Idee der Föderation von Staaten einen bezeichnenden Funktionswandel nach sich: werden Föderationen mit dem Ziel abgeschlossen, die freiheitliche Struktur, wie sie kleine Republiken auszeichnet, mit der äußeren Macht zu verbinden, wie sie großen Monarchien eignet, 40 dürfen sie der Sache nach doch nicht mehr als jederzeit aufkündVgl. Rousseau, Jugement sur le projet de paix, p. 600; vgl. oben, S. 274 ff. - Dies ist genau jene Perspektive, die, wie schon erwähnt wurde, die republikanisch-föderalistischen Ideen in der Französischen Revolution so in Verruf gebracht hat; vgl. Hintze, Staatseinheit und Föderalismus, Kap. XIT1, S. 262 ff. u. ö. Rousseau, Du contrat social, pp. 431, 470. Rousseau, Emile, p. 848. Diese Verbindung von „la force des grandes Monarchies et la liberté des petites Républiques" (Rousseau, Considérations sur le gouvernement de Pologne, p. 1010; ebenso 'Du contrat social', p. 431) fordert Rousseau in Anlehnung an Montesquieu (De l'Esprit des Lois, vol. I, p. 265 u. p. 266 [IX.1]), der eine,république fédérative" durch eben diese Qualitäten bestimmt: „Composé des petites républiques, il [d. i.: cet État; O.A.] jouit
288
Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
bare Zweckbündnisse sein, und zwar ohne ein 'droit de la souveraineté'. Als prosaische „union of small states sharing a common defensive problem"41 verbindet sich mit dem Föderationsgedanken hier gerade nicht mehr die Emphase der Bildung eines neuen corps politique. Dieses Mittel - d. h. die Strukturen, Institutionen und Kompetenzen eines potentiellen Bündnisses - darf den Zweck - nämlich die Erhaltung der autonomen souveränen Republiken nicht negieren, es darf folglich kein Eigenleben unabhängig vom Willen der Mitgliedsstaaten entfalten und schon gar kein Recht sui generis setzen und ihnen gegenüber durchzusetzen versuchen. Damit hat die Föderationsidee bei Rousseau einen im Vergleich zu Saint-Pierres Zielsetzung einer föderativen Union Européenne denkbar großen Bedeutungswandel erfahren. Weit davon entfernt, den krönenden Abschluß des rechtsphilosophischen Systems und den nach Rousseaus Auffassung erforderlichen zweiten Schritt des Ausgangs aus dem rechtlosen Naturzustand zu markieren, bleibt die Föderation ein einfaches Instrument einer republikanischen Außenpolitik: „Confédération can [...] be no more than a defensive arrangement which will operate only in rare instances".42 (Kon-)Föderationen sind nichts weiter als pragmatische Formen temporärer Zusammenarbeit republikanischer Regierungen zum Zweck der Selbsterhaltung, wobei der Grad, die Inhalte, die sachliche und zeitliche Reichweite dieser Zusammenarbeit letztinstanzlich der Entscheidung der einzelnen Staaten überlassen bleiben, die somit durch die Bündnisinstanzen in ihren souveränen Rechten in keinster Weise beschnitten werden (dürfen). Föderative Zusammenschlüsse setzen den Konflikten zwischen Staaten kein rechtlich gesichertes Ende, so daß, wie Hoffmann prägnant zusammenfaßt, sie „do not signal international sunshine; they provide a shelter against the storm. This is the logic of peace-via-deterrence, rather than of peace-through-law."43
IV.5.2
Die Unaufhebbarkeit des Naturzustands zwischen Staaten bei Rousseau
Mißt man Rousseau an den von ihm selbst gesetzten Standards, so ist es ihm nicht gelungen, angesichts seiner Ablehnung des Versuchs, den Kriegszustand zwischen den Staaten durch die Bildung eines übergreifenden Subjekts allgemeiner Rechtsbestimmung und Konfliktregulierung zu überwinden, ein alternatives Modell dauerhafter rechtlicher Konfliktvermeidung zu entwerfen: Weder seine Konzeption, die auf die pazifizierenden, die Entstehungsgründe von Kriegen verringernde bzw. gänzlich aufhebende Tendenz autarker kleiner Gemeinwesen setzt, noch seine Andeutungen zu einer Konföderation kleiner Staaten bieten eine tragfähige Lösung für das Problem einer internationalen Friedensordnung.44 Dies zeigt
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de la bonté du gouvernement intérieur de chacune; et, à l'égard du dehors, il a, par la force de l'association, tous les avantages des grandes monarchies". Carter, Rousseau and the Problem of War, p. 186. Ebd., p. 200. Hoffmann, Rousseau on War and Peace, p. 80. Daß ihm diese Lösung gelungen ist, unterstellt - angesichts unseres Befundes durchaus überraschend - mehr oder weniger explizit eine stattliche Anzahl von Interpreten von Windenberger (La république confédéral ve, pp. 208 ff.) und Lassudrie-Duchêne (Rousseau et le Droit des Gens, pp. 187 ff.) über Vaughan (Political Writings, vol. I., pp. 97 ff.) bis zu Fetscher (Rousseaus politische Philosophie, S. 125 f., 182 f.).
Die Aponen des Staats- und Völkerrechts bei Rousseau
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auch sein Schwanken zwischen unterschiedlichen Heilmitteln in seinen Schriften der sechziger und siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts. Daß er nämlich im Contrat social und im Emile Hinweise auf föderative Bündnisse und völkerrechtliche Abmachungen zur Sicherung der kleinen Republiken gibt, während er in den späteren, auf konkrete Staaten wie Polen oder Korsika bezogenen Texten die Autarkie und den weitestgehenden Verzicht nicht nur auf ökonomische und gesellschaftliche Beziehungen, sondern auch auf den politisch-diplomatischen Verkehr nachdrücklich empfiehlt, ohne daß er eine der beiden Optionen wirklich ausführen und als systematischen Schlußstein seiner Theorie der Institutions politiques entfalten würde, deutet darauf hin, daß er vor dem Problem, dem Naturzustand zwischen Staaten auf dem Wege der Herstellung allgemeiner Rechtsverhältnisse ein Ende zu bereiten, resigniert hat. Denn ihm mußte aufgrund seiner eigenen Analysen klar sein, daß diese Optionen kaum mehr als Minimallösungen und Notbehelfe darstellen können, die den erstrebten Zweck niemals erreichen könnten. Es ist nicht zu übersehen, daß die Konföderation kleiner Staaten mit ihrer Auflage, die Souveränität der Mitgliedsstaaten unangetastet zu lassen und keine Institutionen zu schaffen, deren Urteil sie sich gegebenenfalls unter Androhung oder gar Einsatz legitimer Gewaltanwendung zu unterwerfen hätten, die von Rousseau beschriebenen Strukturdefizite aller bisherigen Formen völkerrechtlicher Bündnisse und Verträge teilt. Weit davon entfernt, die universelle Gültigkeit einer Rechtsordnung zu erzeugen, die den Mitgliedsstaaten und deren Bürgern ihre Freiheit, Gleichheit und Sicherheit garantieren könnte, sind sie partikulare, von mehr oder minder konstanten Interessenlagen abhängige Abwehrbündnisse ohne weitergehende Ansprüche. Als solche aber heben sie den Naturzustand nicht auf, sondern setzen ihn voraus, da jeder Akteur des internationalen Systems weiterhin Richter in eigener Sache bleibt; mithin wird die Entscheidung darüber, wann und wie lange welche Ansprüche und Handlungen der einzelnen Staaten als rechtmäßig betrachtet werden, weiterhin der Rechtsbestimmung der Einzelstaaten überlassen und bleibt folglich Quelle konkurrierender Interpretationen und einer Vielzahl möglicher Konflikte. Ebensowenig bietet das Setzen auf die Autarkie und die völlige Selbstbezogenheit der kleinen Republiken allein einen denkbaren Ausweg aus den Konfliktstrukturen des internationalen Systems. Dagegen spricht nicht nur Rousseaus Überzeugung, daß aufgrund der Unumkehrbarkeit des moralischen Verfallsprozesses bei der Mehrzahl der bestehenden Staaten überhaupt nur eine verschwindend geringe Zahl an Völkern die Möglichkeit besitzt, noch ein legitimes Gemeinwesen im Sinne des Contrat social zu realisieren.45 Denn selbst wenn man den von Rousseau ausdrücklich ausgeschlossenen, gänzlich utopischen Fall unterstellen würde, die ganze Welt bestünde nur mehr aus solchen kleinen Republiken, sogar dann würde die Konfliktstruktur nicht durch eine neue Gestalt einer friedlichen Naturzustandsidylle isolierter (Staats-)Personen von selbst verschwinden. Die Aufhebung der internen, zu Kriegen treibenden Gründe durch eine neue Form legitimer politischer Herrschaft überwindet nämlich noch nicht die Logik der Struktur der Beziehungen souveräner Staaten zueinander, wie sie vor diesen inneren Reformen und unabhängig von ihnen bestand. Diese Struktur mitsamt ihren Widersprüchen und systematischen Konfliktherden besteht nicht nur, solange es despotisch regierte Staaten gibt, sondern - wie Rousseau ausführlich analysiert hat46 - geRousseau, Du contrat social, pp. 385, 390 f.; Vgl. zu dieser pessimistischen Diagnose oben, S. 197 f. Vgl. weiter oben, IV.2.2, v. a. S. 222 ff.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
nerell zwischen einer Pluralität von corps artificiels, wie es auch die kleinen Republiken nun einmal sind. Auch diese bleiben schließlich „par rapport aux autres états et à leurs membres [...] une volonté particulière et individuelle" 47 - und sie müssen es, wie gesehen, für Rousseau auch bei Strafe des Verlusts ihrer legitimen Ordnung bleiben. Die einzelnen politischen Gemeinwesen sind künstliche Körperschaften ohne Grenzen und Eigentum, die ihnen durch irgendeine übergeordnete, von den anderen Staaten anerkannte Instanz rechtmäßig zugesprochen worden wären. Konfligierende Rechtsansprüche und Handlungskonflikte sind deshalb unvermeidlich, und der einzige Weg, sie - so niemand zurücktritt - zu entscheiden, bleibt in letzter Instanz jenes 'Recht', das sich als das stärkere erweist, indem es physische oder sonstige Machtmittel aufbieten kann, die hinreichen, um den Widersacher zum Verzicht zu zwingen. Somit kann die Wendung Rousseaus zur inneren Reform und zum Primat der Herstellung innerstaatlicher Freiheit vor derjenigen internationalen Friedens nicht als angemessene Lösung für die Widersprüche des internationalen Systems angesehen werden. Der Aufweis der Bedingungen von prinzipiell selbstgenügsamen und rein defensiv ausgerichteten Kleinstaaten enthebt nicht von der Verpflichtung, sich mit den konflikterzeugenden Strukturen zu befassen, die sich aus jenem fortbestehenden System autonomer Staaten ergeben. Im Gegenteil, die Dringlichkeit einer solchen Untersuchung verstärkt sich noch aufgrund der destruktiven Rückwirkungen, die aus dieser Struktur der internationalen Beziehungen für die Verhältnisse innerhalb der legitimen Gemeinwesen resultieren. Denn sie stellen schließlich eine doppelte, innere und äußere Bedrohung für jeden Versuch dar, ein republikanisches Gemeinwesen zu etablieren. Diese Gefahr hatte Rousseau selbst bereits deutlich erkannt. Schon in seinem Auszug aus Saint-Pierres Friedensprojekt hatte er im Hinblick auf „les moyens de perfectionner un Gouvernement quelconque" bemerkt, daß „des embarras et des obstacles [...] naissent moins de sa constitution que de ses relations externes". 48 Diese Meinung behält er auch bei, nachdem er der Herstellung legitimer Herrschaft innerhalb der Staaten den systematischen Primat vor der Reform des internationalen Systems eingeräumt hat. Ausdrücklich schreibt er etwa im Emile, solange nur die Individuen und nicht auch die Staaten den Naturzustand verlassen hätten, könnten Krieg und despotische Herrschaft als Resultat des „état mixte" unvollkommener Verwirklichung von Rechtsverhältnissen ständig neu entstehen: „N'est-ce pas cette association partielle et imparfaite qui produit la tyrannie et la guerre? et la tyrannie et la guerre ne sont-elles pas les plus grands fléaux de l'humanité 7'149
Aufgabe ist und bleibt also, jene 'partielle und unvollkommene Vereinigung' von Individuen und Staaten in eine vollständige und vollkommene Vereinigung unter Rechtsverhältnissen umzuwandeln und die „perfection de l'ordre social" zwischen Individuen und zwischen Staaten zu erreichen, d. h. eine Ordnung, in der „la loi dirige la force". 50 Dann erst nämlich kann es für Rousseau Rechtssicherheit vor den Gefahren geben, die den kleinen Republiken sowohl im Hinblick auf internationale Konflikte drohen als auch hinsichtlich der
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Rousseau, Rousseau, Rousseau, Rousseau,
Discours sur l'Économie politique, p. 245. Extrait du projet de paix, p. 564. Émile, p. 848. Que l'état de guerre, p. 610.
Die Aponen des Staats- und Völkerrechts bei Rousseau
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Erhaltung der Verfassungsstrukturen, die im Inneren die Übereinstimmung von individuellem und allgemeinem Willen garantieren. Denn einerseits ist es evident, daß eine vergleichsweise winzige, nach den Prinzipien des Contrat social konstituierte „république bien gouvernée" der Macht großer Staaten nur begrenzt widerstehen kann und wegen der Fortdauer des objektiv rechtlosen Naturzustandes nicht davor gefeit ist, selbst 'ungerechte' Kriege zu führen. 51 Andererseits freilich ist eine solche Republik aufgrund der internationalen Konstellation immer in der Gefahr, von innen heraus despotische Strukturen zu entwickeln und die Konzentration auf die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit der Bürger aus den Augen zu verlieren. Die aus dem Zustand der rechtlich nicht geregelten Beziehungen einer Mannigfaltigkeit freier und gleicher Staaten zueinander herrührende Unsicherheit der kleinen Republiken begünstigt und rechtfertigt die Verselbständigung der Exekutive und eines militärischen Apparats, durch den die gesellschaftlichen Machtpositionen militärisch-politischer Eliten abgesichert und verewigt wird, so daß selbst dann, wenn „la guerre, ou la préparation de la guerre, ne s'accompagne pas nécessairement de la 'tyrannie', toujours est-il que c'est elle qui détermine la 'police' et la corrompt". 52 Rousseaus Werk bietet folglich ein komplexes und widersprüchliches Bild der internationalen Ordnung, ihrer Defekte und möglichen Heilmittel. Die Bildung republikanischer Staaten kann in ihm höchstens eine notwendige, doch keine hinreichende Voraussetzung ihrer Befriedung sein. Die Konstitution von Gemeinwesen, die gemäß den Grundsätzen des Contrat social errichtet sind, ist zwar nicht nur Mittel, um innerhalb der Gesellschaften die Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger zu sichern und dem politisch-moralischen Verfallsprozeß Einhalt zu gebieten, sondern ihre Bildung gilt Rousseau auch als Voraussetzung für ein Ende von Aggression und kriegerischen Konflikten auf internationaler Ebene. Nur in diesem Fall ist es schließlich möglich, die den despotischen Systemen innewohnende Tendenz außenpolitischer Aggression und Expansion dauerhaft als Faktor internationaler Politik auszuschließen. Dennoch bedeutet diese die Autarkie kleiner Staaten verabsolutierende Konzeption bestenfalls eine - letzten Endes illusorisch bleibende - „escape from the international jungle he had so brilliantly described, not a solution". 53 Daß Rousseau zu keiner abschließenden Antwort auf die Frage nach dem Ausweg aus diesem 'international jungle' kommt, liegt an den Widersprüchen, die zwischen den unterschiedlichen, von ihm jeweils klar erkannten Ursachenkomplexen für die Konflikthaftigkeit der internationalen Beziehungen und den jeweils erforderlichen Gegenmaßnahmen bestehen. Dies läßt sich verdeutlichen, wenn man die analytischen Unterscheidungen, wie sie von Kenneth N. Waltz geprägt worden sind, heranzieht und in ihrem Lichte die Aussagen Rousseaus betrachtet. Waltz differenziert zwischen unterschiedlichen Weisen, sich Bilder („images") der internationalen Beziehungen, der Ursachen ihrer Konflikte und ihrer Aufhebung zu machen, je nachdem, ob sie eher auf anthropologischen Faktoren beruhen, ob sie in Verhältnissen innerhalb der jeweiligen politisch verfaßten Gesellschaften oder aber in der Struktur des internationalen Systems selbst begründet sind. 54 Demnach antwortet Rousseau auf der einen Seite mit dem Contrat social auf „the second image, the idea that defects in states
Rousseau, Discours sur l'Économie politique, p. 246. Goldschmidt, Anthropologie et politique, p. 622. Hoffmann, Rousseau on War and Peace, p. 55. Vgl. hierzu Waltz, Man, the State and War, pp. 16 ff„ 80 ff„ 159 ff.
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Herrschaft des Gesetzes und internationaler Naturzustand bei Rousseau
cause wars among them", so daß die Wendung zur innenpolitischen Reform die konsequente und richtige Antwort ist: „the reform of states [...] is taken to be the sine qua non of world peace". 55 Auf der anderen Seite hingegen erweist sich Rousseau gleichzeitig als ein Denker, der das „third-image" internationaler Beziehungen reflektiert und in Betracht zieht. Demnach gilt, daß ,,[w]ith many sovereign states, with no system of law enforceable among them, with each state judging its grievances and ambitions according to the dictates of its own reason or desire - conflict, sometimes leading to war, is bound to occur". 56 Die Auflösung dieser Konfliktstruktur des internationalen Systems - das third image - jedoch würde, so hat sich gezeigt, wiederum die Konzeption des Contrat social - die Lösung des second image-Problems - zerstören, da jene einen internationalen Staatenbund fordert, den diese um der republikanischen Selbstbestimmung willen kategorisch ausschließt. Blickt man zusammenfassend auf die vorstehende Untersuchung der politischen Theorie internationaler Beziehungen bei Rousseau, so kann man ihr Resultat vielleicht am besten in Gestalt eines Paradoxons formulieren: Rousseaus Analyse der Realisierungsbedingungen legitimer Formen politischer Herrschaft einerseits und der Dynamik des internationalen Staatensystems andererseits führt mit der gleichen Notwendigkeit zur Forderung nach der Aufhebung des gewaltsame Konflikte erzeugenden Naturzustands zwischen Staaten, mit der sowohl die Möglichkeit als auch die Wünschbarkeit der institutionellen Voraussetzungen einer solchen gesicherten Friedensordnung verworfen werden. Auf der einen Seite nämlich ist eine dauerhafte, rechtlich gesicherte Aufhebung des stets latenten Kriegszustandes zwischen Staaten mitsamt der Bedrohungen, die er für die Erhaltung freiheitlicher Strukturen innerhalb der einzelnen Staaten nach sich zieht, ohne die Bildung einer übergreifenden politischen Körperschaft, d. h. eines föderativen Bundes, nicht zu erreichen. Ein solcher Bund freilich müßte mit legislativen und exekutiven Kompetenzen ausgestattet sein und würde den Mitgliedsstaaten einen entsprechend einschneidenden Souveränitätsverzicht abverlangen. Auf der anderen Seite jedoch ist ein solcher Zusammenschluß zu einem neuen corps politique für Rousseau vollkommen undenkbar: undenkbar ist er unter den gegebenen, von despotischen Herrschaftsformen geprägten Welt, in der ein solcher Bund höchstens durch gewaltsame Umwälzungen herbeigeführt werden und dadurch den Kriegszustand verschärfen würde. Undenkbar ist ein internationaler corps politique aber auch unter den idealen Bedingungen einer Welt kleiner Republiken, in der eine föderative Rechtsgemeinschaft das Gebot der Unveräußerlichkeit der Souveränität verletzen würde wie auch den entscheidenden Umstand, „que la volonté générale peut seule diriger les forces de l'Etat selon la fin de son institution, qui est le bien commun". 57 Für Rousseau kann es offenbar keine prinzipielle Auflösung und Überwindung des Naturzustands zwischen den Staaten geben, weder durch die Einrichtung autarker Republiken noch durch den Zusammenschluß der souveränen Staaten in einer Föderation: „the problem of international society as a 'state of nature' remains intractable", und letzten Endes gibt es nach Rousseau auch keinerlei Aussicht, ihm jemals wirklich entrinnen zu können. 58 Eine
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Ebd., pp. 83 u. 84. Ebd., p. 159 Rousseau, Du contrat social, p. 368. Carter, Rousseau and the Problem of War, p. 190. - Für Carter führt dies gar zu der Konsequenz, daß Rousseau trotz seiner prinzipiellen Einwände gegen Krieg und aggressive Politik auf internationaler Ebene für eine
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dauerhafte Friedensordnung ist nicht durch die Etablierung internationaler Institutionen zu erlangen, die in Analogie zum Gesellschaftsvertrag die einzige Möglichkeit wären, zur Setzung, Bestimmung und Durchsetzung von objektiv-allgemeinen Rechtsverhältnissen zwischen Staaten zu kommen. Die republikanische Organisation der Staaten und die zu ihrer Absicherung eingegangenen Bündnisse mögen zwar einen gewissen Schutz bieten, die Konflikte verringern und ihre Erscheinungsformen und Auswirkungen mildern, doch ändern sie nichts an der Fortdauer des Zustands objektiver Rechtlosigkeit im Verhältnis der Staaten untereinander. Und ebensowenig, wie es nach Rousseau die Perspektive auf eine politisch-institutionelle, sei es auf völkerrechtlicher oder auf staatsrechtlicher Ebene anzugehende Aufhebung des internationalen Naturzustands geben kann, bietet für ihn - anders als später dann für Kant - das Vertrauen auf den geschichtlich-gesellschaftlichen Fortschritt einen möglichen Ausweg aus der völkerrechtlichen Aporie des gleichzeitigen Ge- und Verbots eines exeundum für die Staaten. 59 Auch wenn man Rousseaus Zivilisationskritik nicht im Sinne einer negativen Geschichtsphilosophie interpretieren will, gleichsam als ob „le ciel nous ait abandonnés sans ressource à la dépravation de l'espèce" 60 : Es wäre doch von vornherein ein hoffnungsloses Unternehmen, in seinen Überlegungen eine optimistische Geschichtsteleologie ausfindig machen zu wollen, aus der unter Hinweis auf den Gang der Geschichte und ihre Individuen und Gesellschaften bestimmende Wirkungsmacht die Aussicht auf die Etablierung und Sicherung von innerstaatlicher Freiheit und internationalem Frieden zu gewinnen wäre. Offensichtlich kann man mit Carter in Rousseaus vergeblichen Versuchen, einen Ausweg aus den Irrwegen des Naturzustandes zu finden, tatsächlich eine „tragische Dimension" erkennen: „The tragic dimension of Rousseau's vision is that whilst he firmly believes in the application of human reason and will in the pursuit of justice, he is not able to couple this with a belief in universal progress towards a more just social and political order. The State of war is a condition from which men may seek and find temporary respite, but which can never be finally transcended." 6 1
Obwohl der 'ewige Friede' für ihn eine moralische Aufgabe ist und bleibt, ist er für Rousseau politisch, d. h. durch bewußtes, rationales Handeln und die Stiftung angemessener nationaler und internationaler Einrichtungen, nicht zu erreichen, und ebensowenig kann er geschichtsphilosophisch erhofft werden. Doch indem er mit seinen Analysen die unterschiedlichen Dimensionen und Bedingungsfaktoren sowie die möglichen Lösungswege, Schranken und Widersprüchlichkeiten der Verwirklichung von freiheitlichen und friedlichen Beziemachiavellistische Machtpolitik plädieren muß, da „power rather than reason will continue to be the major determinant in international relations" (ebd., p. 210). Ähnlich die Schlußfolgerung von Goyard-Fabre, La Construction de la paix, p. 171: Für Rousseau sei letztlich „la guerre [...] inscrite dans la nature essentielle des relations inter-étatiques. Le conflit de la nature et de l'ordre socio-juridique est inéluctable [...]. L'état de guerre, au monde des hommes, est latent et l'horizon de la paix est extrêmement lointain, si lointain que [...] la désespérance politique et juridique de Rousseau est immense. [...] Le problème de la paix risque fort de conserver à tout jamais, au monde des hommes, son caractère problématique." Vgl. zu den diesbezüglichen Hoffnungen bei Kant, Zum ewigen Frieden, S. 360 ff.; der.s., Über den Gemeinspruch, S. 310, 313; hierzu auch Asbach, Internationaler Naturzustand und Ewiger Friede, S. 229 ff., sowie weiter unten, S. 309 u. 315. Rousseau, Contrat social (Manuscrit de Genève), p. 288. Carter, Rousseau and the Problem of War, pp. 212 f.
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hungen in und zwischen den Staaten ausgeleuchtet hat, bleiben Rousseaus Untersuchungen und Entwürfe der Maßstab, an dem alle weiteren Versuche sich messen lassen, die sich anschicken, die internen und externen Voraussetzungen individueller und gesellschaftlicher Freiheit und Sicherheit aufzuweisen. Dies gilt für die bis heute philosophisch wie praktischpolitisch einflußreichsten Versuche Kants, die Möglichkeit eines „ewigen Friedens" zwischen Staaten auszuloten, ebenso wie für die aktuellen theoretischen und politischen Bemühungen, Perspektiven für neue institutionelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für das internationale System des 21. Jahrhunderts zu entwickeln.
SCHLUSSBETRACHTUNG
V. Die politische Theorie internationaler Rechtsverhältnisse bei Saint-Pierre, Rousseau und darüber hinaus Die politischen Theorien des Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseaus stellen, wie die vorstehende Untersuchung gezeigt hat, zwei Versuche dar, die gesellschaftlichen, politischen und internationalen Verhältnisse des 17. und 18. Jahrhunderts kritisch zu analysieren. Zugleich ist deutlich geworden, in welchem Maße diese beiden Theorien trotz ihrer übereinstimmenden Stoßrichtung gegen die als unvernünftig qualifizierten Verhältnisse hinsichtlich ihrer Analyse, Diagnose und Perspektiven voneinander abweichen oder - besonders in der (Selbst-)Stilisierung Rousseaus - einander diametral entgegengesetzt zu sein scheinen. Die Diversität und - sei es vermeintlichen, sei es realen - Widersprüchlichkeiten der Methoden, Perspektiven und Resultate zwischen diesen beiden Autoren wie auch innerhalb ihrer jeweiligen Werke selbst können und dürfen jedoch nicht vorschnell als Argument gegen sie gewendet werden. Vielmehr sind sie, und dies soll im folgenden zusammenfassend in seiner sachlichen Bedeutung skizziert werden, das Resultat der gleichsam 'pionierhaften' Bemühungen, eine der neuen historischen Situation angemessene, praktisch relevante politische Theorie der internationalen Beziehungen und ihrer möglichen Umgestaltung und Rationalisierung zu entwickeln. Bei aller Unterschiedlichkeit des Vorgehens und der Resultate zeichnet sich ihr Denken durch eine doppelte Ausrichtung aus: Es geht ihnen nicht nur um das Begreifen dessen, was ist, sondern um ein praktisch-kritisches Verhalten gegenüber dem historisch Gewordenen und Bestehenden. Dies wiederum bedeutet: Es geht Saint-Pierre wie Rousseau einerseits um die kritische Erkenntnis der herrschenden Strukturen, Dynamiken und Tendenzen, doch diese Erkenntnis geschieht andererseits aus dem praktischen Interesse heraus, die - sei es bestehenden, sei es bereits verpaßten - Möglichkeiten aufzeigen zu können, durch die die in den bestehenden Verhältnissen existierenden Potentiale realisiert werden könn(t)en. Gerade in ihrer Unterschiedlichkeit, d. h. in der Entschiedenheit, mit der Saint-Pierre seine Positionen vorträgt, und in der Komplexität und Widersprüchlichkeit, mit der Rousseau gleichsam auf sie antwortet und seine eigenen Auffassungen in immer neuen Anläufen zu entwickeln versucht, kann einer der Gründe für die Fruchtbarkeit der Auseinandersetzung
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Schlußbetrachtung
mit ihren Konzeptionen gesehen werden. Sie erregen Zustimmung oder Widerspruch, wie es bei Kant ebenso festzustellen ist wie bei den zahlreichen auf ihn folgenden Theoretikern und Praktikern, die sich mit den Prinzipien einer rationalen Kriterien genügenden Organisation der internationalen Beziehungen auseinandersetzen. Auf der einen Seite leuchten SaintPierre und Rousseau aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Strukturen und Dynamiken der sich ausbildenden Welt souveräner Staaten und der zwischen ihnen bestehenden Verhältnisse aus. Auf der anderen Seite untersuchen sie die verschiedenen, sei es bis dahin erst theoretisch ersonnenen oder bereits politisch-praktisch verwendeten Konzeptionen hinsichtlich der Bedingungen und Möglichkeiten der Regulierung, der Pazifizierung und Verrechtlichung dieser Ordnung und der in ihr entstehenden Konflikte. Sie analysieren die verschiedenen Defizite und Schranken der bisher entwickelten Lösungswege und entwerfen alternative Konzepte zur Überwindung von Konflikten und zur Sicherung der Entwicklungspotentiale sowohl auf gesellschaftlicher wie auf internationaler Ebene. In analytischer wie in praktisch-kritischer Hinsicht sind die von Saint-Pierre und Rousseau entwickelten Konzeptionen bis heute von überraschender Aktualität. Kritisch setzen sie sich mit den Problemen und Dilemmata der sich in der Neuzeit durchsetzenden Ordnung staatlich verfaßter Gesellschaften auseinander, einer Ordnung, die heute trotz und wegen ihrer vielfach konstatierten Verfallserscheinungen immer stärker ins Zentrum des Interesses politischer Theorie gerückt ist.1 Für Saint-Pierre wie für Rousseau ist die Idee einer präpolitischen Einheit gesellschaftlichen Zusammenlebens endgültig zerbrochen: es kann kein 'Zurück zur Natur' geben, keine Rückkehr zu einer universellen Rechtsordnung, die durch Rekurs auf eine natürliche oder göttliche Instanz zu begründen wäre, die verbindliche Maßstäbe individuellen und kollektiven Handelns liefern, den gesellschaftlichen Zusammenhang stiften und die Garantie von friedlichen Formen der Konfliktaustragung leisten könnte. Gesellschaften, die die (rechtliche) Freiheit und Gleichheit ihrer Mitglieder zur Grundlage haben und einander in der internationalen Sphäre als ebensolche freie und gleiche Subjekte begegnen, bedürfen demnach jener politischen Institutionen und Verfahren, durch die ein den gesellschaftlichen Verkehr rechtlich, politisch und sozial organisierender Zusammenhang erzeugt und aufrechterhalten wird. Daß diese Form staatlicher Einheit für sich allein genommen noch nicht hinreichend ist, um die Freiheit, die Sicherheit und die Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen und Gesellschaften zu gewährleisten, daß sie selbst vielmehr Urheberin neuer Formen von Unsicherheiten und Konflikten ist, bildet den Ausgangspunkt für Saint-Pierres und Rousseaus Bestreben, nicht bei der Aufhebung des 'individuellen Naturzustands' stehenzubleiben. Hierin liegt der Grund für ihr Beharren darauf, daß es zur „perfection de l'ordre social", bei der das Gesetz über die bloße Gewalt herrschen soll,2 d. h. zur Vollendung der Ersetzung von Gewaltverhältnissen durch Rechtsbeziehungen, verbindlicher politischer Institutionen und Regelungen auf internationaler, tendenziell globaler Ebene bedarf. Mit dieser Einsicht verbindet sich bei beiden Autoren eine eindringliche Kritik der bis in die Gegenwart hinein wirksamen Versuche, die Latenz des Krieges in den internationalen Beziehungen aufzuheben, ohne den ihnen zugrunde liegenden Naturzustand als solchen aufVgl. ausführlicher hierzu die einleitenden Ausführungen oben, Kap. 1.1, S. 13 ff. Rousseau, Que l'etat de guerre, p. 610; ausführlich hierzu oben, Kap. IV.4, S. 263 ff.; zu Saint-Pierres in dieser Hinsicht analoger Forderung oben, Kap. ÜI.2.2, S. 109 ff.
Die politische Theorie internationaler Rechtsverhältnisse
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heben zu wollen. Diese Versuche wurden und werden in unterschiedlichen Varianten vorgebracht: Sie erscheinen in der Vorstellung, den Frieden und die gewaltfreie Form der Lösung von Konflikten dauerhaft durch ein System des Gleichgewichts der Mächte erhalten zu können; sie liegen der Überzeugung zugrunde, durch politische und diplomatische Zusammenarbeit freundschaftliche und kooperative Beziehungen zur Zivilisierung der internationalen Sphäre auf Dauer stellen zu können; und sie bilden schließlich auch den Nährboden der Hoffnungen, durch die Weiterentwicklung des Völkerrechts und anderer Formen bi- oder multilateraler Verträge und Übereinkünfte, durch internationale Regimes oder global governance sukzessive einen Zusammenhang internationaler Verrechtlichung und Verflechtung herstellen zu können, durch den die jeweiligen Rechtsansprüche bestimmbar und Konflikte konsensuell beizulegen sein werden. Von Saint-Pierre über Rousseau bis hin zu Kant wurde demgegenüber deutlich zu machen versucht, daß all diese Versuche, den internationalen Naturzustand aufzuheben, nur genau so lange wirksam sind, wie der Wille der einzelnen Akteure innerhalb des internationalen Systems reicht, sich den 'Spielregeln' des Systems zu fügen, daß sie aber auch die Freiheit und das Recht besitzen, sich ihnen zu entziehen, sofern ihnen dies ihrer subjektiven Rechtseinschätzung gemäß erforderlich oder auch nur vorteilhaft zu sein scheint.3 In ihren Überlegungen zur Problematik der neuzeitlichen Staatenwelt haben Saint-Pierre und Rousseau solchen trügerischen Hoffnungen gegenüber wesentliche Elemente herausgearbeitet, derer es bedarf, um tatsächlich von einer dauerhaften Aufhebung des Naturzustands sprechen zu können und nicht nur von seiner Hegung und Zivilisierung, da dies nichts anderes bedeuten würde als ein zufälliges und temporäres Vermeiden des Akutwerdens seiner Konsequenzen - des ('heißen') Kriegszustands. Um die Probleme von Recht und Unrecht, von Krieg und Frieden, von gesellschaftlichem Fortschritt oder Rückfall in die Barbarei gewaltsamer Konfliktaustragung nicht länger der blinden Dynamik oder der Willkür der Akteure im internationalen Naturzustand zu überlassen, müssen demnach die Strukturen politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen so verändert und ergänzt werden, daß diese Willkürfreiheit entweder aufgehoben wird oder, so sie weiterhin besteht, keine Chance zur gewaltsamen Durchsetzung einseitig erhobener Ansprüche mehr besitzt. Saint-Pierre und Rousseau entfalten in je spezifischer Weise die Voraussetzungen und Bedingungen, die zur Verwirklichung des Projekts einer internationalen Friedens- und Rechtsordnung notwendig sind. Wie die vorstehende Untersuchung ausführlich gezeigt hat - und wie im folgenden in seinem sachlichen Gehalt noch einmal kurz zusammengefaßt werden soll - , stellen sie dabei jeweils unterschiedliche Aspekte und Dimensionen ins Zentrum: Während Saint-Pierre unmittelbar beim Strukturproblem des internationalen Systems ansetzt (V.l), vollzieht Rousseau die Wendung zum Primat der gesellschaftlichen und politischen Reform diesseits der internationalen Sphäre, und zwar in der Hoffnung, dadurch die darin vorhandenen Probleme gleichsam auf indirektem Wege lösen zu können (V.2). Auf diese Weise gelangen Saint-
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Zu diesem Problem, auf das weiter unten zurückgekommen wird, vgl. neben den entsprechenden Passagen der vorliegenden Arbeit zu Saint-Pierre (etwa S. 113 ff.) und Rousseau (S. 223 ff., 259 ff.) in diesem Sinne auch Kant, der Völkerrecht unter anderem als etwas bezeichnet, das „in der Tat nur ein Wort ohne Sache ist und auf Verträgen beruht, die in demselben Akt ihrer Beschließung zugleich den geheimen Vorbehalt ihrer Übertretung enthalten" (Zum ewigen Frieden, S. 377; vgl. auch die weiter unten, S. 300, zitierte Passage aus derselben Schrift, S. 355).
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Schlußbetrachtung
Pierre und Rousseau zu ganz unterschiedlichen Resultaten und normativen Perspektiven, ohne daß sie jedoch die jeweils anderen Positionen verkennen oder verwerfen würden. Welcher der verschiedenen Aspekte und Blickwinkel aber von ihnen gewählt und ins Zentrum der Analyse und der jeweiligen normativen Konzeption gestellt wird, hängt vor allem von zwei Faktoren ab: auf der einen Seite von der jeweils vertretenen theoretischen Gesamtkonzeption und den ihr zugrundeliegenden gesellschaftstheoretischen, politischen und geschichtsphilosophischen Annahmen, auf der anderen Seite aber von der historischen Situation, in denen Saint-Pierre und Rousseau ihre Theorien ausgebildet haben und auf die sie sich als politische Theoretiker jeweils - sei es positiv oder negativ - theoretisch und praktisch beziehen. Gerade dadurch aber entwerfen sie ein breites Spektrum von Fragestellungen, von analytischen und normativen Konzeptionen und Lösungsversuchen, die in zahlreichen Aspekten auf aktuelle Problemlagen vorausweisen und auf Versuche, sie theoretisch und praktisch zu bewältigen (V.3).
Saint-Pierre und der Primat der Reform des internationalen Systems
V. 1
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Saint-Pierre und der Primat der Reform des internationalen Systems
Seit der Herausbildung des von souveränen Staaten geprägten Systems der internationalen Beziehungen in der frühen Neuzeit ist die Frage von Krieg und Frieden eine solche, die sich vornehmlich mit den zwischen Staaten herrschenden Verhältnissen befaßt. Demzufolge ist es naheliegend, bei der Lösung der hier entstehenden Probleme bei der Reform der Strukturen eben dieses internationalen Systems selbst zu beginnen. Was bei Thomas Hobbes als außerstaatlicher, zwischen Individuen bestehender Zustand beschrieben worden war - der sich in Gestalt des Krieges aller gegen alle manifestierende Naturzustand - , gilt nun für die Beziehungen der Staaten zueinander. Auf diese Parallelität hatte Hobbes bereits beiläufig hingewiesen, doch erst bei Saint-Pierre und Rousseau ist sie, so hat sich gezeigt, ausgeführt und zur Grundlage der Herstellung internationaler Rechtsverhältnisse gemacht worden. 1 Ebenso hat Kant schließlich am Ende des 18. Jahrhunderts auf die ursprüngliche Identität von Natur- und Kriegszustand zwischen Staaten hingewiesen, insofern sich der „Staat, als eine moralische Person, gegen einen anderen im Zustande der natürlichen Freiheit, folglich auch dem des beständigen Krieges" befindet. 2 Im Verhältnis zwischen ihnen existiert keine das Recht setzende und durchsetzende Instanz, die ihre Handlungen allgemeinen, die wechselseitige Verträglichkeit des Freiheitsgebrauchs garantierenden Regeln zu unterwerfen imstande wäre. Es handelt sich somit um einen nicht-rechtlichen Zustand, in dem das Recht des Krieges und damit das des Stärkeren herrscht, 3 insofern „der Krieg doch nur das traurige Nothmittel im Naturzustande ist (wo kein Gerichtshof vorhanden ist, der rechtskräftig urtheilen könnte), durch Gewalt sein Recht zu behaupten; wo keiner von beiden Theilen für einen ungerechten Feind erklärt werden kann (weil das schon einen Richterausspruch voraussetzt), sondern der Ausschlag desselben (gleich als vor einem so genannten Gottesgerichte) entscheidet, auf wessen Seite das Recht ist".4 Es kann als die Leistung des Abbé de Saint-Pierre angesehen werden, als erster und vielleicht am konsequentesten die Logik des internationalen Systems reflektiert und ins Zentrum seiner friedenspolitischen Konzeption gestellt zu haben. Wenn, so argumentiert Saint-Pierre, die Dynamik der (Rechts-)Konflikte und des Kriegszustands zwischen Staaten dauerhaft beendet werden soll, müssen die Strukturdefizite dieses Systems ebenso überwunden werden, wie es innerhalb des Naturzustands zwischen Individuen der Fall sein muß. Während diese Perspektive für Hobbes noch gar nicht zur Debatte stand, sind die Positionen, die Rousseau und Kant hierzu einnehmen, von einer eigentümlichen Ambivalenz geprägt. Ebenso, wie es in der vorliegenden Untersuchung für Rousseau gezeigt wurde, verbindet auch Kant die prinzipielle Anerkennung der Notwendigkeit, den internationalen Naturzustand durch Schaf-
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Vgl. zu Hobbes die Hinweise in der Einleitung, oben, S. 33 ff.; zu Saint-Pierre oben, S. 109 ff.; zu Rousseau oben, S. 222 ff. Kant, Rechtslehre, § 53, S. 343. Denn auf den Umstand, daß in der Rede von einem vermeintlichen Recht des Stärkeren („droit du plus fort") der Begriff des Rechts nur „ironiquement" genommen werden könne und „ne signifie rien du tout", hatte Rousseau bereits hingewiesen (Du contrat social, 1.3, p. 354). Kant, Zum ewigen Frieden, S. 346 f.
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Schlußbetrachtung
fung eines Rechtszustands zwischen Staaten zu überwinden, mit der Ablehnung, die dafür erforderlichen Institutionen als machbar oder überhaupt als wünschenswert anzusehen. Einerseits nämlich kritisiert Kant explizit an Positionen wie denen des Grotius' oder Pufendorfs, daß das Völkerrecht „nicht die mindeste gesetzliche Kraft hat, oder auch nur haben kann", solange Staaten nicht „unter einem gemeinschaftlichen äußeren Zwange stehen",5 und sieht einzig in einem 'Völkerstaat', 6 in dem alle den Gesetzen und der Zwangsgewalt des allgemeinen Willens unterliegen,7 die Garantie zur Beendigung des Naturzustandes. Andererseits ist für ihn eine solche Auflösung weder wünschenswert noch denkbar. Deshalb setzt er „an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik [...] nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes",8 Die unbedingte Rechtspflicht aber, den Naturzustand zu verlassen, scheint auf diese Weise gleichsam nur aufgestellt worden zu sein, um sogleich wieder zurückgenommen zu werden. Für Saint-Pierre hingegen steht fest, daß zur Aufhebung des internationalen Naturzustands genau jene Konsequenzen gezogen werden müssen, welche zur Aufhebung des Naturzustands zwischen Individuen erforderlich sind.9 Anders als Rousseau und Kant, anders aber auch als die Vertreter der realistischen Schule innerhalb der Theorie internationaler Beziehungen im 20. Jahrhundert, die in einem naturalistischen Fehlschluß von der Faktizität der 'internationalen Anarchie' auf deren normative Unhintergehbarkeit schließen zu können glauben, 10 plädiert Saint-Pierre für die Schaffung eines internationalen, mit staatlichen Kompetenzen ausgestatteten Staatenbundes - der Union Européenne als einer Föderation der europäischen Staaten. Nur dann nämlich, wenn sich die Staaten zu einer 'Société permanente' zusammenschließen und sich allgemeine Gesetze geben, deren Geltung notfalls mit der vereinigten Macht der Gemeinschaft durchgesetzt werden kann, kann nach Saint-Pierre von der Aufhebung des Naturzustands und der Etablierung von Rechtsverhältnissen gesprochen werden, die den Frieden auf Dauer zu sichern vermögen.11 Es wäre dies ein Zustand, in dem nach Kant ein „jeder [...] seine Sicherheit und Rechte [...] allein von diesem großen Völkerbunde (Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte". 12 Politische Theorie und politische Praxis müssen für Saint-Pierre somit bei dem Versuch, Lösungen für die wesentlichen Entwicklungsprobleme gesellschaftlicher Rationalisierung zu entwerfen, bei der Veränderung der Struktur des internationalen Systems einsetzen, d. h. bei der Schaffung politischer Institutionen und Verfahren auf der internationalen, die Gesellschaften und Staaten übergreifenden und sie in ein neues Verhältnis zueinander setzenden Ebene. Die Erzeugung neuer politischer und rechtlicher Institutionen ermöglicht erst die
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Kant, Zum ewigen Frieden, S. 355. Vgl. ebd., S. 357; ders., Über den Gemeinspruch, S. 312. Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 24 u. 26. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 357; vgl. ausführlicher hierzu Asbach, Internationaler Naturzustand und Ewiger Friede, S. 227 ff. Vgl. Saint-Pierre, Projet de paix, HI, pp. xxiv u. xxvii: „l'unique moyen de faire faire à la Police de chaque Etat un grand & solide progrès, c'est de suivre exactement les premiers principes qui l'ont fait naître, & de rapeler toujours tout à ces premiers principes fondés sur la nature elle-même". Zur Kritik an diesem Fehlschluß vgl. Laubach-Hintermeier, Kritik des Realismus, S. 86 ff. Vgl. bspw. Saint-Pierre, Projet de paix, n, p. 359; ausführlich hierzu oben, Kap. m.2.2, v. a. S. 117 ff. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 24.
Saint-Pierre und der Primat der R e f o r m des internationalen S y s t e m s
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Aufhebung der bestehenden blinden, nicht vernünftig steuerbaren Dynamik der Prozesse auf allen - d. h. 'innen-' wie 'außenpolitischen' - Ebenen von Gesellschaft und Politik, insofern erst im Gefolge einer solchen internationalen Neuordnung auch eine Rationalisierung der Verhältnisse innerhalb der einzelnen Gesellschaften möglich wird. Diese Überzeugung Saint-Pierres muß berücksichtigt werden, wenn man sich begreiflich machen will, warum er in scheinbar krassem Widerspruch zu seiner vielfach dokumentierten und vehement vorgetragenen Kritik an den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Zuständen13 im Rahmen seiner friedenspolitischen Entwürfe eine Verewigung und Unverrückbarkeit eben dieser kritisierten Verhältnisse anzustreben und zugunsten der Sicherung des zwischenstaatlichen Friedens in Kauf nehmen zu wollen scheint. Der Grund für die systematische Priorität der Reform des internationalen Systems und den von Saint-Pierre vorgebrachten 'realpolitischen Appell' an das Eigeninteresse der Herrschenden seiner Zeit ist in seiner Überzeugung zu sehen, daß in diesem äußeren System die wesentlichen Ursachen auch für die Deformationen und Fehlentwicklungen innerhalb der Gesellschaften liegen. Die Existenz dieses Systems nämlich ermöglicht es, daß politische und gesellschaftliche Einrichtungen und Akteure weniger auf das Ziel der Wohlfahrt und des Glücks der Bürger als vielmehr auf die Akkumulation von Macht, von militärischem Ruhm und Reichtum innerhalb - und vermittels - des Systems von Krieg und Gewalt ausgerichtet sind. Folglich ist für Saint-Pierre ebenso wie dann für Rousseau und schließlich auch für Kant das Problem der Konstituierung und Erhaltung „einer vollkommnen bürgerlichen Verfassung [...] von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig und kann ohne letztere nicht aufgelöset werden".14 Dieser für Saint-Pierre untrennbare Zusammenhang von Schaffung einer vernünftigen, auf Frieden, Recht, gesellschaftliche und individuelle Wohlfahrt zielenden Organisation des Verkehrs innerhalb und zwischen den Staaten bzw. staatlich verfaßten Gesellschaften ist es, der angesichts seines scheinbar ausschließlich auf das internationale System bezogenen Reformeifers nicht übersehen werden darf. Daß am Ende der Ära Ludwigs XIV. und nach Jahrzehnten einer die gesellschaftlichen Ressourcen erschöpfenden und die Entwicklungsmöglichkeiten beschneidenden Politik militärischer Aggression und Expansion und unmittelbar aufeinander folgender Kriege in Europa für Saint-Pierre die Beendigung dieses strukturellen Hemmnisses gesellschaftlichen Fortschritts Vorrang besaß, negiert nicht, sondern bekräftigt und unterstreicht nur den internen Zusammenhang, der für ihn zwischen innergesellschaftlichen und politisch-administrativen Reformen und Rationalisierungen auf einzelstaatlicher Ebene einerseits und der Reform der Strukturen zwischen Staaten andererseits besteht.
Zu dieser Kritik Saint-Pierres an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen im Frankreich und Europa seiner Zeit vgl. die Ausführungen Kap. D, v. a. 0.4, S. 83 ff. u. 90 ff., sowie Kap. ffl.2.1, S. 103 ff. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 24; vgl. in diesem Sinne Rousseau, Extrait du projet de paix, p. 564; zu Saint-Pierre oben, Kap. ffl.2.1, S. 103 ff., v. a. S. 107 ff.
302
Schlußbetrachtung
V.2 Rousseau und der Primat der gesellschaftlichen Reform Ins Zentrum der friedenspolitischen Reflexion und erstmals deutlich ins Bewußtsein tritt der bei Saint-Pierre noch weitgehend implizit bleibende Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Reform einerseits, der Beendigung der auf Gewalt und Krieg hin orientierten internationalen Sphäre souveräner Staaten andererseits freilich erst bei Rousseau, der damit den Weg für die Kantische Konzeption eines 'ewigen Friedens' zwischen Staaten bereitet. Obwohl Rousseau die von Saint-Pierre herausgestellte Problematik des internationalen Systems souveräner Akteure ebenfalls als Strukturproblem ansieht und daher auch für die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand plädieren müßte, verfolgt er aufgrund seiner Skepsis gegenüber Saint-Pierres Konzeption eines internationalen Staatenbundes 1 eine neue Strategie. Für ihn kann und darf nicht darauf gesetzt werden, daß die Herrschenden die Bedingungen für Frieden und gesellschaftliche Rationalität schaffen, sondern umgekehrt muß durch innergesellschaftliche Reformen, d. h. durch radikalen Wandel der politischen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und Einrichtungen die Dynamik von despotischer Herrschaft im Inneren, von Krieg und Machtsteigerung nach außen außer Kraft gesetzt werden. Der Frieden auf internationaler Ebene wird somit von Rousseau weniger als Voraussetzung denn als Folgeprodukt der Verwirklichung vernünftiger Verhältnisse innerhalb der einzelnen Gesellschaften angesehen. Während für Saint-Pierre offenbar erst ein an rationalen Zielen orientiertes politisches System und Handeln die Eliminierung der Drohungen, aber auch der Versprechungen des anarchischen internationalen Systems voraussetzte, 2 wird von Rousseau das Augenmerk auf die gesellschaftlichen Institutionen, Handlungsformen und -ziele gerichtet, durch die die Entstehung internationaler Konflikte gänzlich vermieden oder doch zumindest verhindert werden soll, daß sie sich in Form gewaltsamer Auseinandersetzungen entladen. Mit seinem Entwurf zu den Bedingungen und Einrichtungen legitimer Gemeinwesen formuliert Rousseau das Ideal einer gesellschaftlichen Ordnung, die sich der Dynamik von Herrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung entzieht, wie sie den bisherigen Geschichtsverlauf geprägt hat. Auf doppelte Weise sind die kleinen Republiken, die den von ihm aufgestellten Ansprüchen an Formen legitimer Herrschaft genügen, gegenüber internationalen Konflikten gleichsam 'immunisiert': Zum einen wehren sie aufgrund ihrer Größe und ihrer Festigkeit kriegerische Tendenzen ab, da ihr geringer Umfang und ihre Verpflichtung auf überschaubare Verhältnisse expansionistische Tendenzen von vornherein ausschließt; zum anderen sorgt ihre Struktur republikanischer Selbstregierung dafür, daß Staat und Bürger den Blick einzig 'nach innen' auf die Einrichtung eines guten, tugendgeleiteten Gemeinwesens richten, so daß weder das Bedürfnis noch die Möglichkeit zur Ausbildung aggressiver, für andere Staaten wie für die innere gesellschaftliche Gleichheit bedrohlicher Tendenzen
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Vgl. zu Rousseau und seiner analytischen 'wie normativen Stellung zum internationalen Naturzustand und dessen möglicher Aufhebung oben, Kap. IV.2.2, IV.4.1 und 2, S. 218 ff. u. 2 6 3 ff.
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Verlockungen bietet das System von Rüstung und Krieg deshalb, weil es für Herrscher und einzelne Subjekte profitabel erscheinen mag, innerhalb dieses Systems verbleiben zu wollen, da sie sich auf Kosten anderer Staaten oder Subjekte Gewinn versprechen.
Rousseau und der Primat der gesellschaftlichen Reform
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besteht. Rousseau hat seine hier angelegten Überlegungen zu einer Theorie internationaler Beziehungen auf der Grundlage des Contrat social nicht zum Abschluß gebracht. Man wird jedoch vermuten können, daß seine Konzeption unter dem Leitbild einer Welt von kleinen, autarken und souveränen Republiken gestanden hätte, d. h. einer Welt, in der internationale Kooperation und konföderative Zusammenschlüsse nur einen komplementären, auf Absicherung der autarken Republiken gegen äußere Gefahren beschränkten Status gehabt hätten. 3 Obgleich Rousseau diese Konzeption also nur andeutet, aufgrund struktureller Probleme der von ihm aufgestellten Bedingungen legitimer Herrschaft aber nicht entfaltet hat,4 leitet er mit seinen Überlegungen zweifellos eine bedeutsame Wendung und Ergänzung innerhalb des rechts- und friedenspolitischen Denkens des 18. Jahrhunderts ein. Denn trotz seiner 'anti-rousseauistischen' Wendung des Republikbegriffs hat Kant in derselben Weise wie Rousseau von der anfänglichen Betonung einer Reform der internationalen (Rechts-)Verhältnisse die Wendung hin zum Primat einer Veränderung der inneren Strukturen von Gesellschaft und politischer Herrschaft vollzogen. 5 In Kants Schrift 'Zum ewigen Frieden' wird die Frage der Herstellung eines allgemeinen, dauerhaften Friedens ausdrücklich nicht mehr zur Frage der Konstituierung internationaler Äec/z/iverhältnisse gemacht, sondern als eine der Moral behandelt, insofern nur mehr „die Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht".6 Die Grundlagen eines dauerhaften Friedens zwischen Staaten hingegen werden durch eine Veränderung der Verfaßtheit der einzelnen Gesellschaften geschaffen:
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Zu dieser Idee einer „bonne association fédérative" zwischen Staaten mit einem „droit de la confédération", das nicht in der Lage sei „[de] nuire à celui de la souveraineté" (Rousseau, Émile, p. 848), vgl. Kap. IV.5.1, S. 278 ff., v. a. S. 279 ff. u. 287 f. Die wesentlichen Gründe dafür liegen, wie sich gezeigt hat (vgl. oben, S. 278 ff.), einerseits in den komplexen Realisierungsbedingungen der im Contrat social dargelegten Form legitimer Herrschaft, Bedingungen, an deren Realisierung Rousseau selbst gezweifelt hat, andererseits in der fortbestehenden Problematik des internationalen Naturzustands, dessen Logik schließlich auch durch die Bildung einer Welt kleiner republikanischer Gemeinwesen nicht aufgehoben wäre.
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Vgl. zu dieser Entwicklung bei Kant Brandt, 'Quem fata non ducunt, trahunt', S. 79 ff. Diese wichtige inhaltliche Übereinstimmung hinsichtlich der grundsätzlichen Stoßrichtung der Theorie darf nicht übersehen werden, auch wenn Kant Rousseaus Idee eines nicht-repräsentativen, unmittelbar demokratischen Republikanismus mit Vehemenz bestreitet. Für Kant (Zum ewigen Frieden, S. 352) ist jede „Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, [...] eigentlich eine Unform", so daß ihm „Demokratie im eigentlichen Verstände des Worts nothwendig ein Despotism" zu sein scheint. Insofern jedoch die hier von Kant eingeforderte Trennung zwischen (allgemeiner) Gesetzgebung und (besonderer) Exekutive auch von Rousseau als unverzichtbar bezeichnet wird (Rousseau, Du contrat social, 1.1 ff., 1.6, II.l), ist die Lage auch in dieser Hinsicht komplexer, als es zunächst scheinen mag; hierzu auch Brandt, Historisch-kritische Beobachtungen, S. 88-90.
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Kant, Zum ewigen Frieden, S. 356; denn an Kants expliziter Negation des M ¿»undum-Arguments ändert auch die gleichzeitig aufgestellte Erklärung nichts, es müsse dazu die Stiftung eines ,,Vertrag[s] der Völker unter sich" und „einen Bund von besonderer Art geben, den man den Friedensbund (foedus pacificum) nennen kann" - diesem Bund fehlen nämlich eben jene politisch-rechtlichen Institutionen, die zur Aufhebung des Naturzustands notwendig wären. - Geismann (Nachlese zum Jahr des 'ewigen Friedens', S. 330 ff., 336 ff., 340) zählt zu den wenigen, die im Gegensatz zur dominierenden Kantinterpretation den Nachweis zu führen suchen, daß dessen ungeachtet auch Kant den Verzicht auf (innere und äußere) Souveränität der Staaten zur Überwindung des internationalen Naturzustands nicht nur für möglich, sondern auch für notwendig halte; der „Friedensbund" sei deshalb nur ein erster Schritt, da nach Kant die Rechtspflicht bestehe, eine internationale Rechtsordnung zu institutionalisieren.
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Schlußbetrachtung
erforderlich ist eine republikanische, nach den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit der Bürger unter einem allgemeinen Gesetz gegründete Verfassung, und diese bezeichnet Kant als ersten 'Definitivartikel zum ewigen Frieden'. 7 Eine solche Gesellschaftsverfassung aber würde nach Kant zugleich eine solche sein, die internationale Konflikte vermeidet und zur Perpetuierung des Friedens tendiert, da in ihr nicht mehr die partikularen Interessen der an den Vorteilen des Systems von Rüstung und Krieg partizipierenden, die aus ihm resultierenden Nachteile freilich weitgehend zu umgehen vermögenden Akteure dominieren, sondern der Wille und das Interesse der Bürgerschaft insgesamt. Diese jedoch würde sich für die Erhaltung des Friedens und gegen die Vorbereitung und das Führen von Kriegen aussprechen: „Wenn ( w i e es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die B e i s t i m m u n g der Staatsbürger dazu erfordert wird, u m zu beschließen, o b Krieg sein solle, oder nicht, s o ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten [...], sie sich sehr bedenken werden, ein so s c h l i m m e s Spiel anzufangen". 8
Zugespitzt könnte man somit formulieren, daß nach der die Motive und die generelle Stoßrichtung von Rousseaus Ansatz fortführenden Auffassung von Kant die republikanischen d. h. hier in heutigem Verständnis: demokratischen - Systeme gar nicht so sehr deshalb für die Herstellung dauerhaften Friedens prädestiniert sind, weil sie demokratischen Prinzipien, Normen und Werten verpflichtet wären. Ihre Friedensorientierung rührt viel eher daher, daß sich in ihnen die Interessen der Bürger Geltung verschaffen, diese Interessen aber diejenigen der rational Kosten und Nutzen kalkulierenden, die Risiken und Gewinnaussichten gegen den zu erwartenden Schaden von Kriegen abwägenden Wirtschaftsbürger sind. Internationaler Frieden hängt insofern von der innergesellschaftlichen politischen Verfassung an, diese jedoch beruht auf spezifischen sozioökonomischen Erwartungen hinsichtlich des Rationalitätskalküls der Bürger, darüber hinaus aber auch auf der - empirisch äußerst voraussetzungsreichen - Vermutung, eine Politik von Rüstung, Krieg und militärischer Expansion würde tatsächlich stets den wirklichen Interessen rational kalkulierender Bürger widerstreben.9
Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 349 ff.; zu den Implikationen dieser Bestimmung vgl. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf, S. 74 ff., v. a. S. 79 ff. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 351; vgl. auch ders., Über den Gemeinspruch, S. 311. - Zu den institutionellen und sachlichen Implikationen und Voraussetzungen dieser These und den aus ihr resultierenden Anforderungen an demokratische Systeme vgl. Czempiel, Kants Theorem. Über den Zusammenhang von internationalem Frieden, demokratischem System und liberalem Kapitalismus ist in den vergangenen Jahren ausführlich diskutiert worden. Dabei wird seit Doyles Aufsatz 'Kant, Liberal Legacies and Foreign Affairs' vielfach der Versuch unternommen, die Richtigkeit des von Kant behaupteten Zusammenhangs von Demokratie und Frieden empirisch zu belegen; vgl. hierzu exemplarisch Doyle, Liberalism and World Politics; Lake, Powerful Pacifists; Russett, Grasping the Democratic Peace; kritisch zu dieser These: Layne, Kant or Cant; Paris, Peacebuilding and the Limits of Liberal Institutionalism; Calic, Demokratie und Frieden; analytisch zu dem von Kant behaupteten Zusammenhang Müller, Antinomien des demokratischen Friedens.
Das politische Projekt internationalen Rechtsfriedens
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V.3 Das politische Projekt internationalen Rechtsfriedens zwischen historischer Skepsis und geschichtsphilosophischer Hoffnung Es ist bei allen Unterschieden im einzelnen offenbar ein gemeinsames, über die Jahrhunderte hinweg ein immer wieder erneuertes, Aktualität und Dringlichkeit gewinnendes Projekt, das vom Abbé de Saint-Pierre entworfen, von Rousseau und Kant kritisch fortgeführt worden ist und bis heute theoretisch und praktisch weiterwirkt: Die Reflexion auf die internationalen und die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Probleme der Organisation von gewaltfreien, Freiheit und Sicherheit garantierenden Verhältnissen und des Verkehrs zwischen den Individuen wie auch zwischen den staatlich verfaßten Gesellschaften. Im 18. Jahrhundert sind, so hat die vorliegende Arbeit gezeigt, die grundlegenden Konzepte der Analyse und möglicher Auswege aus den Dilemmata post-traditionaler, das heißt nicht mehr auf einer vorgegebenen 'quasi-natürlichen', die individuellen, gesellschaftlichen, staatlichen und universellen Verhältnisse verbindlich regelnden Ordnung basierenden Gesellschaften und Staaten entworfen worden. Es sind dies Dilemmata, auf die auch am Beginn des 21. Jahrhunderts in Theorie und Praxis offensichtlich noch keine abschließenden Antworten gefunden worden sind. Auf einige der wesentlichen systematischen Aspekte und Problemdimensionen soll deshalb abschließend noch einmal anhand dreier Thesen zusammenfassend hingewiesen werden. (,a) Die Herstellung des Friedens gilt seit der aufklärerischen Kritik an den internationalen Beziehungen im 18. Jahrhundert als ein komplexes Projekt, zu dessen Verwirklichung strukturelle Veränderungen sowohl auf internationaler wie auf gesellschaftlicher Ebenen notwendig sind. Durch den Abbé de Saint-Pierre und Rousseau ist, so wurde in den vorhergehenden Ausführungen noch einmal deutlich, theoretisch der Nachweis geführt worden, daß in der neuzeitlichen, auf den Prinzipien freier und gleicher Subjektivität basierenden Welt ein jedes Projet pour rendre la paix perpétulle an die dauerhafte Überwindung zentraler gesellschaftlicher und internationaler Strukturprobleme geknüpft ist. Positiv gewendet bedeutet dies zweierlei. Die von der Dynamik von Unsicherheit, Rüstung, Aggression und gewaltsamem Konfliktaustrag gezeichnete Staatenwelt muß zum einen 'von unten' reformiert werden, also 'indirekt' durch die Veränderung der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse. Zum anderen erfordert sie eine Veränderung der Struktur internationaler Beziehungen, insofern nur so den aus ihr resultierenden spezifischen Konfliktursachen selbst begegnet werden kann. Obgleich die verschiedenen Theoretiker die unterschiedlichen Ursachen und Lösungswege in je eigener Weise in den Blick nehmen und selektiv fokussieren, zeigt eine nähere Untersuchung ihrer Konzeptionen, daß sie sich darüber im klaren sind, daß sie der jeweils anderen, von ihnen partiell ausgeblendeten Elemente notwendig bedürfen. Die Isolierung einer einzi-
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Schlußbetrachtung
gen Ebene der Konfliktdynamik und die Konzentration auf sie allein würde ihr Ziel verfehlen. Ein Ansatz, der die primäre Ursache für die Permanenz internationaler Konflikte in der Struktur des internationalen Systems erkennt, das von unabhängigen, keiner allgemeinen Rechtsordnung unterliegenden Akteuren gebildet wird, und der demzufolge das Hauptaugenmerk auf die Reform dieser internationalen Verhältnisse legt, bleibt dennoch notwendig zugleich auf die Reform der innergesellschaftlichen bzw. der einzelstaatlichen Verhältnisse verwiesen. Eine Rationalisierung der internationalen Beziehungen nämlich kann als solche nur wirksam werden und auf die Beförderung der weiteren Entwicklung innerhalb der verschiedenen Gesellschaften hinwirken, wenn die einzelnen Gesellschaften selbst schon gewissen Rationalitätsstandards genügen. Dieser Zusammenhang gilt auch für den Abbé de Saint-Pierre, obgleich dieser bei seiner Propagierung eines internationalen Staatenbundes prima vista die irrationalen Interessen der je Herrschenden zu bedienen scheint. Auch er setzt in seiner Konzeption jedoch zumindest implizit immer schon voraus, daß die Staaten bzw. die in ihnen Herrschenden rationalen Standards genügen und rationalem Interessenkalkül zugänglich sind. Für ihn ist es selbstverständlich, daß die Beförderung des Wohls der größtmöglichen Zahl der Gesellschaftsmitglieder, daß der Fortschritt des Handels wie der politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse als zentrale Aufgaben der politischen und gesellschaftlichen Institutionen angesehen werden, daß es mithin nicht um die Bereicherung und Machtsteigerung kleiner partikularer Interessengruppen geht.1 Nur wenn sich diese neue Form politischer Rationalität durchgesetzt hat, werden die an Krieg, Expansion und Machtakkumulation orientierten Interessen verschwinden. Bei Rousseau und Kant wird diese 'interne', innergesellschaftliche Prämisse einer dauerhaften Friedensordnung explizit gemacht und ins Zentrum der Argumentation gestellt: Damit eine internationale Ordnung überhaupt denkbar wird, müssen die innergesellschaftlichen Verhältnisse demokratisiert bzw. im Sinne eines Rechtsstaatlichkeit und bürgerliche Freiheit garantierenden Republikanismus reformiert werden. Nur wenn Gesellschaften intern so strukturiert sind, daß sie Recht, Freiheit und Frieden zu unhintergehbaren Prinzipien politischen und gesellschaftlichen Handelns machen, kann davon ausgegangen werden, daß sich überhaupt ein Interesse an komplementären Strukturen auf internationaler Ebene herausbildet. Solche Ansätze wiederum, die die primäre Ursache für internationale Konflikte auf gesellschaftlicher und einzelstaatlicher Ebene sehen und demzufolge hier auch den Hebel zu ihrer Überwindung ansetzen, können sich darum doch nicht der Frage nach der Notwendigkeit und der Möglichkeit einer Reform des Systems der internationalen Beziehungen selbst entziehen. Dies zeigt sich bei Rousseau wie auch bei Kant, die sich - im Unterschied zu Saint-Pierre - beide für diesen Weg entscheiden. In ihrer politischen Theorie wird die Souveränität des Volkes konstitutiv für die gesellschaftliche Verwirklichung von Recht und Freiheit der Staatsbürger und ihres Verkehrs untereinander. Insofern dadurch jedoch die
Wenn Rousseau Saint-Pierre dafür kritisiert, daß er nicht erkannt habe, daß die Verwirklichung seines Projekts den Interessen der Herrschenden diametral zuwiderlaufe und deshalb nie auf deren Zustimmung zählen dürfe (vgl. Rousseau, Jugement sur le projet de paix, v. a. pp. 592-595), so hat er, was die Opposition zwischen den Zielen des Projekts und denen der Herrschenden angeht, vollkommen recht. Zugleich unterschätzt Rousseau jedoch wohl, in welchem Maße Saint-Pierre sich darüber im klaren ist, damit eine kontrafaktische Unterstellung gemacht zu haben.
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(Volks-)Souveränität unverzichtbar und unveräußerlich wird, zwingt sie auch zum definitiven Verzicht auf die Schaffung der institutionellen Voraussetzungen einer internationalen Rechts- und Friedensordnung, und dies, obwohl Rousseau und Kant doch gleichermaßen eine solche Überwindung der internationalen Konfliktstruktur als Voraussetzung der Garantie gesellschaftlicher Rechtsverhältnisse angesehen hatten.2 Die politischen Theorien Saint-Pierres einerseits, Rousseaus und Kants andererseits weisen somit aufgrund ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen komplementäre Stärken und Defizite bei der Behandlung von bestehenden und neu zu schaffenden Strukturen und Verfahren auf. Zwar erkennen sie alle deren jeweilige Relevanz und beschreiben und erklären sie innerhalb desselben theoretischen Rahmens, doch im Ergebnis kommen sie dahin, sie konzeptionell verschieden zu bewerten, zu gewichten und umzusetzen. (b) Die institutionelle Dimension des Friedensprojekts verweist darauf, daß Frieden als politisches Projekt den Entwurf und die Umsetzung neuer gesellschaftlicher und internationaler Einrichtungen und Beziehungen erfordert. Wie innerhalb der staatlich verfaßten Gesellschaften, so wird auch in den Beziehungen zwischen ihnen die Erzeugung der Prinzipien und der Realisierungsformen rechtlich gesicherten Friedens zunehmend als das Resultat des politischen Handelns der Akteure selbst verstanden. In der Theorie und Praxis internationaler Rechtsverhältnisse, wie sie sich seit dem Übergang zum 18. Jahrhundert herausbildet, geht es nicht mehr um die Erkenntnis, Propagierung und Umsetzung einer transzendenten Ordnung, von der sie ihre Prinzipien und eine teleologische Struktur vorgegeben bekäme. Die internationale Rechtsgemeinschaft ist ein säkulares Projekt, das von der Fähigkeit der Menschen abhängt, die allgemeinen Bedingungen ihres eigenen Handelns als freie und gleiche Subjekte rational zu erkennen und die gesellschaftlichen Einrichtungen und Verfahren ihnen gemäß zu gestalten. Diese Überzeugung ist am Beginn der Reflexion auf die Strukturen der neuzeitlichen Staatenwelt vom Abbé de Saint-Pierre mit einer Emphase vertreten worden, wie sie bei seinen im Hinblick auf die bewußte Mach- und Gestaltbarkeit der Verhältnisse skeptischeren Nachfolgern nicht mehr zu finden ist. Insofern für Saint-Pierre die Aufgabe politischer Wissenschaft in der Erkenntnis der allgemeinen Bedingungen der „bonheur des hommes" besteht, die Zielsetzung der Politik selbst wiederum in der Verwirklichung und Umsetzung der „Reglemens utiles pour augmenter la Justice & la bienfaisance" der Individuen und Gesellschaften,3 so ist auch die Sphäre der internationalen Beziehungen, durch deren Struktur alle gesellschaftlich möglichen Fortschritte wieder gefährdet werden, politisch zu reformieren. Deshalb wird Saint-Pierre nicht müde, seine Einsichten durch eine Vielzahl von Schriften und mémoires wie auch in Formen der mehr oder weniger institutionalisierten politischen und wissenschaftlichen Diskussion und Beratung zu verbreiten. Die Allgemeinheit des kri-
Paradox formuliert bedeutet dies, daß bei Rousseau und Kant aus freiheits- und friedenspolitischen Gründen die Strukturen der Volkssouveränität nicht angetastet werden dürfen, wodurch die von ihnen selbst für nötig befundene internationale Organisation und rechtliche Garantie der Freiheit und des Friedens verhindert wird; hierauf wird weiter unten zurückgekommen. Zitate aus Saint-Pierre, Annales de Castel, Ms. Rouen 950, p. 217, sowie ders., Fragments de morale, Ms. Neuchätel, R 262, p. 46.
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Schlußbetrachtung
tischen Reformdenkens, das in der Endphase der Herrschaft Ludwigs XIV. bis in die führenden Kreise hinein zu spüren war und die für die weitere Entwicklung des postludovizianischen Frankreichs die Umsetzung grundlegender Reformen erwarten ließ, hat den Nährboden jenes Optimismus gebildet, der Saint-Pierres Wirken zeitlebens geprägt hat. Trotz aller auch von ihm deutlich erkannten und beschriebenen Vorherrschaft irrationaler, partikularer Interessen konnte er deshalb auch daran festhalten, daß die Verwirklichung von Verhältnissen gesicherten Rechts und bürgerlicher Freiheit nicht anders möglich ist als durch politischen Willen und politisches Handeln. Daß er darüber hinaus von dem dauerhaften und kontinuierlichen Fortschritt in der Idee und der Verwirklichung vernünftiger Verhältnisse überzeugt war, ist keinesfalls als geschichtsphilosophischer Ersatz des rein 'diesseitigen' politischen Handelns zu interpretieren, sondern bildet umgekehrt dessen Resultat und Komplement. Die Möglichkeit des historischen Fortschritts basiert nach SaintPierre schließlich auf jener gesellschaftlichen und individuellen Fähigkeit, das Vernünftige zu bestimmen, zu erkennen und durch politische Institutionalisierung allgemein zu verwirklichen. Für Rousseau hingegen schienen, wie sich gezeigt hat, der Rationalismus und das optimistische, auf unmittelbare Praxis zielende Denken Saint-Pierres auf den ersten Blick kaum mehr als Ausdruck von dessen 'Wahn der Vernunft' zu sein, und entsprechend scharf geißelte er Saint-Pierres Versuche, bei der Reform des internationalen Systems und nicht bei der seines Erachtens zuvor notwendigen Änderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der verschiedenen Staaten einzusetzen. Nichtsdestotrotz bedeutet dies nicht, daß Rousseau nicht ebenso wie Saint-Pierre die Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit gesehen hat, die bestehenden Verhältnisse kritisch zu analysieren und zum Gegenstand politischen Handelns und institutioneller Reformen zu machen. Tiefe Skepsis kennzeichnet jedoch Rousseaus Überlegungen zur Möglichkeit, ja sogar zur Wünschbarkeit einer politisch-institutionellen Überformung der Beziehungen souveräner Staaten zueinander, die sich doch für ihn wie schon für Hobbes und Saint-Pierre als Naturzustand mitsamt den daraus resultierenden Konsequenzen eines stets latenten Kriegszustandes dargestellt hat. Von ebensolcher Skepsis sind seine Aussagen hinsichtlich einer möglichen empirischen Umsetzung von Strukturen legitimer Herrschaft innerhalb kleiner politischer Gemeinwesen geprägt, durch welche seiner Auffassung nach gleichsam die Quellen internationaler Konflikte zum Versiegen zu bringen wären. Doch in dem einen wie in dem anderen Falle dürfen die tiefe Skepsis und die Verzweiflung Rousseaus im Hinblick auf die Verwirklichungsbedingungen allgemeiner Verhältnisse des Rechts und der Freiheit nicht mit der Leugnung ihrer prinzipiellen Möglichkeit und Notwendigkeit verwechselt werden. Sein geschichtsphilosophischer und kulturkritischer Pessimismus und seine Überzeugung, daß der historische Prozeß des Niedergangs den 'point of no return' längst überschritten hat, hebt nicht die Überzeugung auf, daß letztlich „tout tenoit radicalement ä la politique".4 Eine jede denkbare Änderung des vermeintlich schicksalhaften Geschichtsprozesses hängt prinzipiell von der politischen Neuschaffung allgemeiner gesellschaftlicher Prinzipien und Einrichtungen ab, durch die er gebremst oder gar umgekehrt und umorientiert werden könnte.5
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Rousseau, Confessions, p. 404. Selbst im 'Contrat social' wendet Rousseau sich noch in einem Zusammenhang, in dem er die Unmöglichkeit der faktischen Realisierung der von ihm aufgestellten principes du droit politique aufzeigt, gegen Vorwürfe,
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Auch in dieser Hinsicht hat Kant Argumente und Motive Saint-Pierres und Rousseaus weitergeführt und ihnen eine eigene Wendung gegeben. Denn nicht weniger emphatisch als bei Saint-Pierre klingt die Konsequenz, die sich für ihn aus der Bestandsaufnahme der Struktur(-defizite) des internationalen Systems ergibt: Wie der Friedenszustand zwischen Individuen kann auch derjenige zwischen Staaten nur als Resultat politischen Willens und Handelns erreicht werden - „Er muß also gestiftet werden."6 Zumindest in seinen späten Schriften, in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre, wendet er sich jedoch, wie gesehen, zugleich nicht weniger entschieden als Rousseau gegen die institutionellen Konsequenzen eines solchen Stiftungsaktes, wonach die Staaten wie die Bürger zum Mitglied einer übergreifenden, sie umfassenden Rechtsordnung werden. Um nicht dem „schrecklichsten Despotismus" eines weltumspannenden Universalstaats zu verfallen und den internen Zusammenhang zwischen bürgerlicher Freiheit und republikanischer Selbstgesetzgebung einer politischen Körperschaft zu zerstören, muß es Kant zufolge bei einem rechtlich nicht verbindlichen, den Naturzustand selbst unangetastet lassenden internationalen Staatensystem bleiben.7 Die Garantie, daß unter diesen Umständen die Herstellung dauerhaften Friedens zwischen den Staaten mehr ist als eine leere Hoffnung, bietet für Kant vor allem die Einsicht in das Wirken der ,,große[n] Künstlerin Natur".8 Diese von der praktischen Vernunft zu vollziehende Erkenntnis nämlich, daß hinter den faktisch ablaufenden ökonomischen, politischen und kulturellen Prozessen und selbst noch hinter den militärischen Konflikten ein verborgener Plan der Natur erkannt werden könne, führt zu der geschichtsphilosophischen Vergewisserung der sich untergründig bereits vollziehenden Verwirklichung vollendeter Rechtsverhältnisse innerhalb und zwischen Staaten. Somit bleibt zwar für Kant „der ewige Friede [...] eine unausführbare Idee", doch wird diese vermeintlich resignative Feststellung für ihn dadurch ausgeglichen, daß die normative Anerkennung dieser Idee und die Einsicht in die ihre sukzessive Verwirklichung befördernde historische Teleologie „in continuirlicher Annäherung zum höchsten politischen Gut, zum ewigen Frieden, hinleiten kann".9 Die politische Herstellung dauerhafter Rechts- und Friedensverhältnisse in und zwischen Staaten wird somit auf ein noch weitgehend ungebrochenes Vertrauen in den stattfindenden Geschichtsprozeß gegründet. Dieses Vertrauen mochte bei Kant durch die von ihm
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bloße Spekulationen und Hirngespinste zu produzieren, die der tatsächlichen Praxis widersprächen: gerade in der Entgegensetzung gegen den naturwüchsigen Lauf der Dinge und im Versuch ihrer vernünftigen Regulierung besteht für ihn erklärtermaßen die Aufgabe politischer Theorie und Praxis; vgl. Rousseau, Du contrat social, 11.11, p. 92. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 349. - Zum Moment der „Politik als Griindungsakt" bei Kant vgl. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf, S. 74 ff. Kant spricht in diesem Zusammenhang von einem „Völkerbund, der aber gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte", und vom ,,freie[n] Föderalism" (Zum ewigen Frieden, S. 354 u. 356), zwei Jahre später in seiner Rechtslehre von einer „Genossenschaft (Föderalität)" als einer „Verbindung, die zu aller Zeit aufgekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert werden muß" (Rechtslehre, § 54, S. 340), bzw. von einem permanenten Staatencongreß", welcher „nur eine willkürliche, zu aller Zeit auflösliche Zusammentretung verschiedener Staaten, nicht eine solche Verbindung, welche [...] auf einer Staatsverfassung gegründet und daher unauflöslich ist" (ebd., § 61, S. 350 f.). Ebd., S. 360. Kant, Rechtslehre, § 61 und Beschluß, S. 350 u. 355. Ausführlicher zu dieser Konzeption und ihrer Problematik Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf, S. 107 ff.; Asbach, Internationaler Naturzustand und Ewiger Friede, S. 229 ff.; Kaufmann, Wie gegründet ist Kants Hoffnung?, S. 182 ff.
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Schlußbetrachtung
beobachtete Dynamik der entstehende bürgerlichen Gesellschaft, des fortschreitenden Prozesses der Aufklärung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie auch der von ihm vermuteten Folgen der Französischen Revolution genährt worden sein. Für Saint-Pierre und Rousseau hingegen war - freilich aus je verschiedenen Gründen - eine solche geschichtsphilosophische Untermauerung des politischen Projekts allgemeiner Rechtsverhältnisse nicht möglich,10 und der Verlauf der beiden auf Kant folgenden Jahrhunderte hat gezeigt, daß ein solcher historischer Optimismus Ausdruck einer spezifischen Situation gewesen ist und nicht lange währen konnte. In diesem Sinne ist die Verwirklichung von Frieden, Recht und Freiheit ein politisches Projekt, das auch weiterhin eher gegen die Tendenzen und die Dynamik der gesellschaftlichen Naturgeschichte zu stiften und durchzusetzen wäre. (c) Die gegenwärtigen politischen und systematischen Diskussionen über Probleme moderner Staatlichkeit und internationaler Beziehungen zeugen von der Relevanz und fortdauernden Aktualität der von Saint-Pierre, Rousseau und ihren Nachfolgern thematisierten Prinzipien, institutionellen Voraussetzungen und Probleme internationalen Rechts und Friedens In der modernen Gesellschaft, wie sie sich seit dem 16. und 17. Jahrhundert herausgebildet hat, sind Recht, Freiheit und Gleichheit der - sei es individuellen, gesellschaftlichen oder staatlichen - Akteure notwendig auf politisch-institutionelle Bedingungen verwiesen. Konstituiert, positiviert und gesichert werden die Rechtsansprüche der Subjekte durch eine gesellschaftlich erzeugte Struktur objektiven, allgemeingültigen Rechts, zu deren Verwirklichung es übergreifender, Recht setzender und durchsetzender Institutionen bedarf. Nur dann, wenn die eigenen Freiheits- und Rechtsansprüche im Konfliktfall einklag- und erzwingbar sind, ist die Ungewißheit über ihren rechtlichen Status, ihre Wirklichkeit und ihre Grenzen aufgehoben. Diese in der neuzeitlichen politischen Theorie fundamentalen Bestimmungen einer selbstgegebenen Rechts- und Friedensordnung in post-traditionalen modernen Gesellschaften führt, wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, in der Sphäre der internationalen Beziehungen zu einem gravierenden theoretischen und praktischen Problem. In ihr nämlich hat der innergesellschaftlich vollzogene Schritt zur Etablierung allgemeiner Rechtsverhältnisse nicht stattgefunden, so daß sich die Akteure in dieser Sphäre nach wie vor in dem als Naturzustand beschriebenen Verhältnis zueinander befinden. Zwar treten die zur internationalen Kooperation, zur Konfliktbearbeitung, zur Bestimmung der Rechte und Pflichten der Akteure im internationalen System eingegangenen Übereinkünfte und Organisationen oft in der Gestalt „internationalen Rechts" auf, doch darf diese Freiheit von subjektivem Rechts10
Bei Saint-Pierre ist eine solche Konzeption ausgeschlossen, da er trotz seines fast unerschütterlichen Vertrauens in den historischen und gesellschaftlichen Fortschritt die Idee eines mit naturgesetzlicher Notwendigkeit ablaufenden Geschichtsprozesses nicht teilt; für ihn ist Fortschritt immer gebunden an das Wollen und Tun der gesellschaftlichen Akteure (vgl. dazu nochmals oben, Kap. n.2, S. 57 ff.). Die Inkompatibilität von Rousseau;, Position mit derjenigen Kants dürfte nach allem, was bisher dazu ausgeführt wurde, evident sein: seine Diagnose eines universalgeschichtlichen Verfallsprozesses stellt nachgerade das genaue Gegenbild zu der von Kant vorgetragenen Idee eines sich hinter dem Rücken der Akteure und durch ihre Handlungen hindurch vollziehenden politischen und moralischen Fortschritts dar.
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willen und Selbstverpflichtung innerhalb des bestehenden Naturzustands nicht mit der Existenz eines Zustands objektiver Rechtsverhältnisse identifiziert werden. Für die Individuen führt die Unterordnung unter die Sphäre des - idealerweise selbstgegebenen - Gesetzes dazu, daß die Freiheit der subjektiven Rechtsbestimmung aufgegeben wird, daß zur Begründung, Sicherung und Erhaltung der (bürgerlichen) Freiheit eine äußere Instanz legitimer Sanktionierung und Beschränkung der im Naturzustand unbegrenzten subjektiven Freiheit geschaffen wird. Ebenso gilt für Staaten, daß es erst ein solcher rückhaltloser Verzicht auf die Freiheit subjektiver Rechtsbestimmung - d. h. der Verzicht auf die Souveränität als der „puissance absolue & perpetuelle d'vne Republique"11 - möglich machen würde, von der Aufhebung des Naturzustands durch einen rechtlichen Zustand zu sprechen. Genau dieser Schritt ist jedoch auch heute noch nicht vollzogen worden. Das so umrissene, von Saint-Pierre, Rousseau und Kant deutlich bezeichnete Bedingungsverhältnis von Souveränitätsverzicht und dauerhafter Überwindung des internationalen Naturzustands muß im Auge behalten werden, um nicht Gefahr zu laufen, aktuell zu beobachtende Prozesse vorschnell und fälschlich als Schritte zur Überwindung einer durch Nationalstaaten geprägten internationalen Sphäre oder gar als Beginn der Schaffung internationaler Rechtsverhältnisse zu interpretieren. Wenn nämlich die zahlreichen empirischen Indizien aufgezählt werden, die dafür sprechen, daß gegenwärtig die Handlungs- und Gestaltungsmacht des modernen Nationalstaats immer stärker eingeschränkt wird, liegt der Schluß nahe, es werde durch das Aufkommen neuer gesellschaftlicher und internationaler Akteure, Organisationen, Einflüsse oder Strukturen zugleich die staatliche Souveränität tendenziell aufgelöst. Ebenso wird dies von jenen Positionen implizit oder explizit unterstellt, die - sei es kritisch, nüchtern konstatierend oder als politisch wünschenswert ansehend neue Formen internationaler Organisation und Kooperation entstehen sehen, durch welche staatliche Kompetenzen und Regelungsmacht sukzessive auf andere Ebenen übertragen werden, da auf diese Weise bisher den Nationalstaaten vorbehaltene Aufgaben effektiver zu erfüllen seien.12 In keinem Fall können solche - empirisch unzweifelhaft zu beobachtenden - Prozesse umstandslos als Indikatoren einer neu entstehenden Ordnung jenseits und oberhalb der einzelnen Staaten verstanden werden. Darauf weist bereits die Schärfe hin, mit der regelmäßig auf Überlegungen reagiert wird, die den Verdacht erwecken, hier werde einem förmlichen Verzicht auf staatliche Souveränität zugunsten einer übergeordneten internationalen Organisation das Wort geredet.13 An dieser Stelle wird wie in jedem einzelnen Fall konkreter Kooperation, Regelungen oder (Selbst-)Verpflichtung der staatlichen Instanzen gegenüber Dritten deutlich, daß die letztinstanzliche Entscheidung darüber, ob etwas getan wird oder nicht, bei den sich verpflichtenden Parteien verbleibt; abgetreten werden wohl einzelne Rechte und Bodin, Six livres de la Republique, 1.8, p. 122. Vgl. zu diesen Diskussionen und zu Hinweisen auf einschlägige Literatur oben, Kap. 1.1, v. a. S. 22 ff. Dabei ist es zumindest in dieser Hinsicht unwesentlich, ob sich dieser Protest nun aus rückwärtsgewandten Motiven speist, indem im Staat vornehmlich der Machtstaat oder gar ein zur Identitätsbildung unverzichtbares Gebilde gesehen wird, oder ob ihm die Befürchtung zugrunde liegt, ein solcher Verzicht zerstöre die im Staat organisierte oder doch zumindest potentiell organisierbare Gestalt einer Selbstregulierung der Gesellschaft mit der Möglichkeit individueller und gesellschaftlicher Gleichheit und Partizipation, eine Chance, die durch das Aufgehen in unüberschaubar werdenden Zusammenhängen verloren gehe (vgl. hierzu etwa Habermas, Die postnationale Konstellation).
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Schlußbetrachtung
Kompetenzen, Aufgaben und Privilegien, nicht aber die Souveränität, d. h. die 'Kompetenzkompetenz' als jener Vorbehalt, selbst darüber zu entscheiden, was unverzichtbare souveräne Rechte sind und welche wie lange abgetreten werden.14 Dies alles bedeutet durchaus nicht die Leugnung faktischer Verpflichtungen der Staaten innerhalb internationaler Organisationen oder der Existenz praktisch bewährter Formen der Kooperation in zum Teil durchaus stark institutionalisierter Gestalt, so daß man mit Recht vom Wirken 'internationaler Regimes' oder von Fortschritten in Richtung auf eine 'global governance', eine 'governance without government' oder ein 'Regieren jenseits des Nationalstaats' gesprochen hat. Und ebensowenig bedeutet dies die Leugnung realer Zwänge, seien es nun solche politisch-hegemonialer, ökonomischer oder sozialer Art, denen Nationalstaaten unterliegen und die bis zum faktischen Verlust ihrer formal fortbestehenden Souveränität reichen können und dazu, daß sie ihre Freiheit und ihre Handlungsmöglichkeiten vollständig verlieren. Entscheidend ist dabei jedoch, daß dies keine rechtlichen Zwänge sind, sondern daß sie Beschränkungen und strukturelle Beschneidungen der Freiheitsrechte sind, wie sie im außerrechtlichen (Natur-)Zustand existieren. All die existierenden internationalen Organisationen, Verträge und Verpflichtungen stiften noch kein objektives Rechtsverhältnis, sie bleiben provisorisch und zu jedem Zeitpunkt der Willkür der Rechtsbestimmung der Vertragsparteien unterworfen.15 Denn es gibt keine souveräne Instanz, die bestimmen könnte, wann welche Konflikte oder Probleme wie zu regeln wären, wann und wie steuernd auf 'naturwüchsig' ablaufende ökonomische, politische, soziale, ökologische oder andere Zustände und Entwicklungen eingewirkt werden muß. Der Naturzustand in den internationalen Beziehungen ist mithin nicht aufgehoben, solange eine solche Instanz fehlt, die verbindliche Rechtsverhältnisse schafft und zur Geltung bringt als jene fundamentalen „Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann".16 Die vermeintliche Auflösung der bisherigen, von Nationalstaaten dominierten Form des internationalen Systems und die damit möglicherweise einhergehende Verringerung der spezifisch aus diesem System resultierenden Konfliktursachen führt mithin zu einem neuen Zustand, der „nicht weniger Konflikte und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht weniger Gewalt" hervorruft als der bisher bestehende.17 Es findet keine Aufhebung, sondern lediglich eine Formveränderung des internationalen Naturzustands statt, in dem für die neu entstehenden Probleme, Spannungen, Konfliktlinien und zu bewältigenden Aufgaben, die sich 14
Die Unverzichtbarkeit der Souveränität besteht schließlich, wie Rousseau deutlich gezeigt hat, in nichts anderem als in der Unveräußerlichkeit des Willens, der entscheidet, ob er etwas will oder nicht. Alle bestimmten Inhalte können aufgegeben werden, nicht aber diese Kompetenz zur freien Willensbestimmung (vgl. Rousseau, Du contrat social, H l , pp. 368 ff.).
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Für Saint-Pierre ist deshalb im Naturzustand ein jeder, und sei es auch noch so begründeter Rechtsanspruch „un droit inutile", da er keinen anderen zur Anerkennung verpflichtet (Origine des devoirs, Ouvr., n, p. 117). Und für Kant ist eine jede Verpflichtung und Erwerbung im außerrechtlichen Zustand eben „nur provisorisch [...], so lange sie noch nicht die Sanction eines öffentlichen Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt und durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist" (Rechtslehre, § 44, S. 312). Ebd., Einleitung, § B, S. 230. So Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats, S. 326, in der Schlußfolgerung einer Passage, die in treffender Doppeldeutigkeit mit „Weshalb es dank der gesellschaftlichen Denationalisierung keine globalen Konfliktlinien mehr geben wird" überschrieben ist (ebd., S. 321).
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den bisher bekannten Verständnis- und Bearbeitungsmustern entziehen, neue Formen und Verfahren entwickelt werden. Solange jedoch keine internationale Ordnung geschaffen wird mitsamt einer rechtlichen Verfassung, die die allgemeinen Bedingungen von Recht und Unrecht zu bestimmen und in konkreten Zusammenhängen um- und durchzusetzen vermag, sind die zu erwartenden Konsequenzen ernüchternd. Daß jemandem das ihm seinem Urteil nach rechtlich Zustehende auch zukommt, daß Sicherheit, Freiheit und die zu ihrer Verwirklichung notwendigen Voraussetzungen gesichert werden, ist und bleibt dann so zufällig wie je zuvor, d. h. eine Frage des Privilegs, der relativen Stärke und der jeweils zur Verfügung stehenden Machtmittel, die zu ihrer Verwirklichung eingesetzt werden können. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn in der gegenwärtigen Diskussion über die Möglichkeiten einer künftigen Rechtsordnung jenseits des überkommenen Zusammenhangs von Nationalstaat und souveräner Rechtssetzungskompetenz im Inneren Konzepte und Problematiken erkennbar werden, die in der hier thematisierten Traditionslinie politischer Theorie ausführlich behandelt worden sind. Dies betrifft vor allem die Versuche, zu einer Bestimmung solcher internationaler Organisationsformen und Institutionen zu gelangen, die einerseits die einzelnen Gesellschaften und Staaten integrieren und die Fähigkeit besitzen sollen, einen allgemeinen Rechtszusammenhang zu stiften, ohne andererseits die Freiheit und die Selbstbestimmung der Mitglieder aufzuheben. In souveränitätstheoretischer Hinsicht nämlich sieht man sich damit nur einmal mehr vor die bekannte Quadratur des Kreises gestellt, d. h. man sieht sich vor der Notwendigkeit, angeben zu müssen, wer in letzter Instanz die Befugnis hat, darüber zu entscheiden, was in wessen Kompetenz liegt, - wer also souverän ist. Dies ist keine historische, sich nur aus rein philosophischem, theorie- oder dogmengeschichtlichem Interesse stellende Frage. Jeder praktisch motivierte Versuch, internationale Organisationen mit der Befugnis auszustatten, verbindlich Recht setzen und Entscheidungen treffen zu können, wird unweigerlich mit dieser Problematik konfrontiert. Wer etwa die entstehende politische Ordnung Europas als eine solche versteht, die auf eine 'Europäische Föderation souveräner Staaten' hinlaufe und hinauslaufen solle, sieht sich konsequenterweise der Frage gegenüber, wie die Rechte und Kompetenzen dieser beiden Ebenen jeweils bestimmt sind. Der Hinweis darauf, eine solche Frage sei 'nicht theoretisch', sondern erst im Prozeß der politischen Verwirklichung eines solchen Soll-Zustandes zu beantworten, mag da pragmatisch angemessen sein, umgeht jedoch das darin implizierte systematische, aber eben auch in Konfliktfällen für die konkrete Gestalt des anvisierten Gebildes wesentliche Bestimmungsmoment einer jeden Rechtsordnung.18
De facto bedeutet dies, daß die Bestimmung über die Kompetenz-Kompetenz jeweils 'außerrechtlich' erfolgt und von den politischen und ökonomischen Machtpotentialen abhängig bleibt. Beispielhaft hierfür ist die vom gegenwärtigen deutschen Außenminister Joschka Fischer angestoßene Diskussion über eine 'Europäische Föderation', die die souveränen Nationalstaaten zugleich überformen und bewahren soll (vgl. hierzu oben, Kap. 1.3, S. 44, Anm. 18). Auf Nachfragen französischer Abgeordneter bezüglich der Abgrenzung zwischen Föderation und Nationalstaaten hatte Fischer geantwortet, diese Frage sei nicht theoretisch zu klären, sicher aber sei, „daß die Nationalstaaten an den Entscheidungen der Union beteiligt sein müßten [...]: 'Entscheidungen, die jeder bei sich zuhause treffen kann, sollten auch zuhause getroffen werden'" (nach: „Beifall aus Paris für Fischers Europa-Rede", in: Frankfurter Rundschau, 15. Juni 2000, S. 2). Unklar bleibt somit offenbar die zentrale Frage: wer entscheidet, wann wer an welchen Entscheidungen beteiligt wird, welche Entscheidungen „zuhause getroffen werden" können und welche nicht?
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Schlußbetrachtung
Nicht anders verhält es sich, wenn in politiktheoretischer oder philosophischer Perspektive Antworten auf die Fragen nach der Möglichkeit einer Aufhebung des in objektiver Hinsicht rechtsfreien Naturzustands und der Verrechtlichung in der Sphäre internationaler Beziehungen gesucht werden. Auch hier wird dann, wenn die Notwendigkeit internationaler Rechtsverhältnisse und ihrer institutionellen Voraussetzungen anerkannt wird, auf unterschiedlichen Wegen versucht, sie mit den bestehenden Strukturen nationalstaatlicher Souveränität in Einklang zu bringen. Zum Teil wird dabei, wie erwähnt, die Problematik der Souveränität nachgerade auf begrifflichem Wege für nichtig zu erklären und somit gleichsam elegant durch ein terminologisches Revirement zu 'lösen' versucht.19 Andere wollen vermittels Konzepten einer 'geteilten' oder 'gestuften' Souveränität die nationalstaatlichen Strukturen mit solchen Instanzen verknüpfen, die internationales Recht setzen und durchsetzen,20 - in der stillschweigenden oder der erklärten Hoffnung, mit der bereits erwähnten, von Höffe beschworenen „gehörigefn] Portion institutioneller Weisheit"21 der politischen Akteure seien die dabei notwendig auftretenden Konflikte über die jeweiligen Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen zu schlichten. Wie die vorstehende Untersuchung gezeigt hat, sind auch hinsichtlich dieser Problematik einer die nationalstaatlich gesetzten Rechtsverhältnisse transzendierenden Rechtsordnung die grundlegenden theoretischen Alternativen in der mit Saint-Pierres Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe einsetzenden Tradition aufgewiesen und entwickelt worden. Denn bei Saint-Pierre als dem energischsten Verfechter eines internationalen Staatenbundes war das prinzipielle Problem einer 'geteilten' Souveränität zwar weitgehend im unklaren und ohne theoretische Auflösung geblieben. De facto aber hat er mit dem Hinweis auf die Vorbildlichkeit der Verfassungsstruktur des Alten Reichs - der Union Germanique - eine Form der internationalen (Rechts-)Staatlichkeit entworfen, innerhalb derer die Mitglieder der internationalen Rechtsgemeinschaft einerseits selbst gesetzgebend tätig sind, andererseits auf diese Weise aber auch diesen selbstgegebenen Gesetzen ebenso absolut unterworfen sind, wie es bei den Bürgern innerhalb der staatlichen Ordnung der Fall ist.22 Bei Rousseau hingegen wird diese Konsequenz der Schaffung einer international gesicherten Rechtsordnung - d. h. der Verzicht auf die Souveränität der Mitgliedsstaaten23 - klar erkannt, im Gegensatz zu Saint-Pierre dann aber ebenso klar abgelehnt. Eine solche Struktur nämlich würde nach Rousseau den Grundlagen einer jeden Form legitimer Herrschaft wi19
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Vgl. dazu in unterschiedlichen Varianten Beaud, Föderalismus und Souveränität, S. 50; Kersting, Globale Rechtsordnung oder weltweite Verteilungsgerechtigkeit?, S. 210 u. 214, Anm. 17; Hiebaum, Politische Vergemeinschaftung, S. 20 ff. Die philosophisch exponierteste Position in dieser Hinsicht ist die oben (S. 183 f.) erwähnte von Höffe-, ausführlich hierzu ders., Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. Einen politikwissenschaftlichen Lösungsvorschlag skizziert Zürn mit einem neuen „Gesamtarrangement von governance by, with and without government" (Regieren jenseits des Nationalstaates, S. 334). Demzufolge sollte sich die neue Form einer 'postnationalen' Staatlichkeit durch drei Elemente auszeichnen, die eine Gewaltenteilung zwischen internationalen Gesetzgebungsinstanzen, nationaler Exekutive und transnationalen Kontrollinstanzen vorsehen (ebd.). Höffe, Für und Wider eine Weltrepublik, S. 215. Ausführlich oben, Kap. m.2.2, S. 116 ff., sowie - im Hinblick auf das Alte Reich - Kap. III, passim, hier v. a. die Abschnitte 3.2.(b) u. (c) sowie 4.3, S. 176 ff. Denn für die Staaten, die Teil eines neuen Corps politique sind, gilt die doppelte Beziehung auf sich selbst, die für die Individuen im Staat gilt: ,,[Ds] s'appellent [...] Citoyens comme participans à l'autorité souveraine, et Sujets comme soumis aux loix de l'Etat" (Rousseau, Du contrat social, 1.6, p. 362).
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dersprechen, zu der die Unveräußerlichkeit der Souveränität der über ihre allgemeinen Angelegenheiten selbst bestimmenden Bürger zählt. Und hierfür nimmt Rousseau in Kauf, daß die Frage nach der Möglichkeit der Schaffung internationaler Rechtsverhältnisse bei ihm ohne Antwort bleibt. 24 Dieser Alternative zwischen Saint-Pierres Erklärung der Notwendigkeit internationaler, mit Rechtszwangsgewalt ausgestatteter Institutionen einerseits, Rousseaus Verzicht auf die rechtliche Bestimmung und Regulierung internationaler Beziehungen andererseits versucht Kant zu entgehen. Zu diesem Zweck nimmt er einerseits Rekurs auf die in den allgemeinen politischen, rechtlichen und ökonomischen Entwicklungen seines Erachtens erkennbare geschichtliche Tendenz, die auch ohne bewußtes Dazutun der Akteure zur Internationalisierung des Rechts führe, 25 andererseits verweist er auf die Gebote der moralisch-praktischen Vernunft, durch welche die Überwindung des Naturzustands und die Schaffung von Rechtsverhältnissen zwischen Individuen wie zwischen Staaten zur sittlichen Pflicht gemacht werde. 26 Dadurch wird die Lösung des zwischen Saint-Pierre und Rousseau strittigen Problems der historischen Praxis anvertraut: der 'ewige (Rechts-)Frieden' zwischen den Staaten wird zu jenem Punkt der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung, an dem moralischer Wille und geschichtliche Wirklichkeit im Unendlichen zusammenfallen. 27 In den gegenwärtig dominierenden Konzeptionen, wie sie in der politischen Theorie und Philosophie, zuweilen aber auch bereits in der politischen Praxis vertreten werden, ist vor diesem Hintergrund eine interessante, zumindest implizite Bezugnahme auf die Tradition politischer Philosophie, wie sie hier untersucht worden ist, zu erkennen. Auf der einen Seite nämlich scheint heute die „pragmatische" Lösung Saint-Pierres ungeachtet ihrer souveränitätstheoretischen Problematik weiterhin außerordentlich aktuell zu sein, wenn es darum geht, Grundstrukturen internationaler Rechtsverhältnisse zu entwerfen. Auf der anderen Seite jedoch wird gleichsam an Rousseaus und Kants Skepsis gegenüber der Internationalisierung und Denationalisierung der Institutionen des Rechts festgehalten, wenn darauf hingewiesen wird, daß es gerade diese Formen der gesellschaftlichen Organisation sind, die 24 25
26
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Vgl. hierzu insbesondere Kap. IV.5, S. 277 ff. Zur „Naturgarantie" vgl. neben Kant, Zum ewigen Frieden, S. 360 ff., auch schon seine bemerkenswerte Formulierung in 'Über den Gemeinspruch', S. 313, nach welcher die 'Natur der Dinge' bzw. das Schicksal „dahin zwingt, wohin man nicht gerne will (fata volentem ducunt, nolentem trahunt)". Vgl. den ersten 'Anhang' über das Verhältnis von Moral und Politik in Kants Schrift 'Zum ewigen Frieden', hier v. a. S. 383 ff., sowie ders., Rechtslehre, § 61 f., S. 350 f., und den Beschluß, S. 354 f. Vgl. den Beschluß der Rechtslehre Kants, S. 354 f., wo es heißt: „die moralisch-praktische Vernunft [spreche] in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein-, weder der, welcher zwischen Mir und Dir im Naturzustände, noch zwischen uns als Staaten, die, obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (in Verhältniß gegen einander) im gesetzlosen Zustande sind; - denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll. Also ist nicht mehr die Frage: ob der ewige Friede ein Ding oder Unding sei, und ob wir uns nicht in unserem theoretischen Urtheile betrügen, wenn wir das erstere annehmen, sondern wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist, auf Begründung desselben und diejenige Constitution, die uns dazu die tauglichste scheint (vielleicht den Republicanism aller Staaten sammt und sonders) hinwirken, um ihn herbei zu führen und dem heillosen Kriegfuhren, worauf als den Hauptzweck bisher alle Staaten ohne Ausnahme ihre innere Anstalten gerichtet haben, ein Ende zu machen. Und wenn das letztere, was die Vollendung dieser Absicht betrifft, auch immer ein frommer Wunsch bliebe, so betrügen wir uns doch gewiß nicht mit der Annahme der Maxime dahin unablässig zu wirken; denn diese ist Pflicht; das moralische Gesetz aber in uns selbst für betrüglich anzunehmen, würde den Abscheu erregenden Wunsch hervorbringen, lieber aller Vernunft zu entbehren und sich seinen Grundsätzen nach mit den übrigen Thierclassen in einen gleichen Mechanism der Natur geworfen anzusehen."
316
Schlußbetrachtung
Prozesse von demokratischer Willensbildung und Selbstbestimmung auch und gerade in Fragen ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen möglich gemacht haben, also auch nicht fahrlässig aufs Spiel gesetzt werden sollten.28 Die von Saint-Pierre und Rousseau entwickelten und von Kant weitergeführten Überlegungen zu den Bedingungen einer internationalen, das 'Recht' des Stärkeren aus den gesellschaftlichen Beziehungen verbannenden und stattdessen eine die Freiheit und die Entwicklungsmöglichkeiten von Individuen und Gesellschaften ermöglichenden Rechtsordnung ist somit immer noch eine 'unvollendete Aufgabe', die nichts von ihrer Aktualität und Dringlichkeit verloren hat.
Diese Probleme diskutieren aus unterschiedlichen Perspektiven etwa im Hinblick auf die Europäische Union Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?; im Anschluß an Überlegungen Hannah Arendts Brunkhorst, Solidarität der Bürgergesellschaft; schließlich Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 154 ff. u. 185 ff.
VI. Quellen- und Literaturverzeichnis
VI. 1 Archive und Bibliotheken Bei der Durchführung der vorliegenden Untersuchung wurden zahlreiche, z. T. unveröffentlichte Manuskripte und Dokumente des Abbé de Saint-Pierre, Jean-Jacques Rousseaus und anderer Autoren in französischen und schweizerischen Archiven eingesehen. Nachstehend werden diejenigen Archive aufgeführt, aus deren Beständen Quellen der vorliegenden Arbeit stammen. Genannt werden die wichtigsten ausgewerteten Bestände sowie die bei Zitaten in den Anmerkungen verwandten Kürzel.
Archives de l'Académie Française, Institut de France. Bibliothèque et Archives, Paris. [ = AF] Einige Handschriften des Abbé de Saint-Pierre, u.a. Notizen zum Beginn einer „histoire de l'Allemagne" des Abbé Alary. Archives départementales du Calvados, Caen, Frankreich. [= Caen] Manuskripte aus dem Nachlaß des Abbé de Saint-Pierre unter der Signatur: „Document F non classé: Écrits de l'abbé de Saint-Pierre"; nur mehr sechs der ursprünglich acht Dossiers sind noch vorhanden. Archives du Ministère des Affaires étrangères, Paris. Manuskripte und Briefe des Abbé de Saint-Pierre Archives nationales de France, Paris. Manuskripte des Abbé de Saint-Pierre d'Orléans".
[ = AAE]
[= AN] in der Série R4: „Papiers de la Maison
Bibliothèque municipale, Rouen, Frankreich. [ = Rouen] Manuskripte aus dem Nachlaß des Abbé de Saint-Pierre, vor allem drei umfangreiche Bände mit handschriftlichen Fassungen von zahlreichen Werken Saint-Pierres (Signatur: A.1948-950). Bibliothèque nationale de France, Paris. Manuskripte und Briefe des Abbé de Saint-Pierre in mehreren Beständen.
[=BN]
318
Quellen- und Literaturverzeichnis
Bibliothèque publique et universitaire de Genève, Schweiz. Manuskripte aus dem Nachlaß von Jean-Jacques Rousseau.
[= Genf]
Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, Schweiz. [- Neuchâtel] Umfangreiche Sammlung von Manuskripten aus dem Nachlaß des Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseaus.
319
Ungedruckte Quellen
VI.2 Ungedruckte Quellen VI.2.1
Abbé de Saint-Pierre
SAINT-PIERRE, CHARLES-IRENEE CASTEL ABBE DE: Abrégé du projet de paix (datiert: 1726), Ms., Archives nationales, Paris, R 4 825 (120 Seiten). — : Abrégé du projet de paix (Widmung S. 7 datiert auf 15. Juli 1727), Ms., Bibliothèque municipale, Rouen 948, S. 7-108. — : Annales de Castel, Ms., Bibliothèque municipale, Rouen 950, S. 211-221. — -.Annales de Castel [enthält tatsächlich jedoch: Annales politiques municipale, Rouen 950, S. 223-561.
(bis 1730)], Ms., Bibliothèque
— : Bibliomètre ou metode pour comparer la valeur des monumens humains, Ms., Bibliothèque municipale, Rouen 948, pp. 973-991. — : Brief an Johann Peter Ludewig, Caen, Dossier I.
September 1723, Ms., Archives départementales du Calvados,
— : Briefwechsel mit Ernst Ludwig Carl, September 1723, Ms., Archives départementales du Calvados, Caen, Dossier I. — : 35 Lettres à Mme Dupin, Ms., Bibliothèque nationale, Paris, nouvelles acquisitions françaises (naf) 13629. — : Dialogues sur la divinité de l'alcoran p. 511-672.
et du Vedan, Ms., Bibliothèque municipale, Rouen 948,
— : Effets prodigieux que l'on peut attandre d'une très petite cause, c'est à dire, de quelques fondations de prix pour les meilleurs discours qui se feront sur d'excellens etablissemens politiques, Ms., Archives départementales du Calvados, Caen, Dossier VII, (7 Seiten). — : Enigme politique, Ms., Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, R 150 [Datiert auf 10.3.1741. - Eine weitere Fassung unter der Signatur R 173 ist seit 1964 als verschwunden registriert; zwei weitere, auf den 10.3. und den 8.4.1741 datierte Fassungen der 'Énigme politique finden sich in den Archives départementales du Calvados, Caen, Dossier VII], — : Fragmens de morale, Ms., Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, R 262 (63 Seiten). — : Grans Esprits, (10 Seiten).
Grans Genies, Ms., Archives départementales du Calvados, Caen, Doss. VII
— : Idée de politique compiette, Ms., Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, R 188. — : L'abbé de Vertot (1735), Ms., Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, Ms., R 261. — -.Lettre d'Els à l'abbé de Saint-Pierre, naf 11232, fol. 291r°-292v° u. 299r°.
13. Oktober 1712, Ms., Bibliothèque nationale, Paris,
— : Lettre de l'abbé de Saint-Pierre au Régent, (1716), in: Achives des Affaires étrangères, Paris, Aquisitions extraordinaires, Vol. 55, fol. 9r°-10r°. — : Lettre au Roy de Prusse, 3. April 1743 (Abschrift), Archives départementales du Calvados, Caen, Dossier IV. — : Memoire Pour rendre la paix perpetue lie en Europe. Preface. Vue generale du Projet (1711), Achives des Affaires étrangères, Paris, M.D. France 308, fol. 270r°-276v° (Separatdruck mit Partien in Reinschrift, paginiert Seiten 1-14). — : Moïens de procurer dans un Etat le progrez de la politique, Ms., Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, R 168.
320
Quellen- und Literaturverzeichnis
SAINT PIERRE: Observation sur le genre Historique publique et universitaire, Neuchâtel, R 175.
[August 1712 bis Juni 1713], Ms., Bibliothèque
— : Observations pour perfectioner 'Le receüil déz Ordonnances', versitaire, Neuchâtel, R 215 (5 Seiten).
Ms., Bibliothèque publique et uni-
— : Observations sur la grande diminuation de maux et sur la grande augmentation de biens que les hommes doivent attendre de siècle en siècle du progrèz continuel de la Raizon Universel (erweiterte Fassung von Ouvr. ; XI ; pp. 257-316), Ms., Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, R 210 (39 Seiten). — : Observations sur le livre italien de paul mathia doria troisième Edition a Naples 1728 qui a pour titre 'De la Société civile', Ms., Archives départementales du Calvados, Caen, Dossier VII. — : Pensées diverses 1689, [Heft mit vermischten Notizen Saint-Pierres], Ms., Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, R 242. — : Physique et médicine 1689 1690 1691, [Heft mit vermischten Notizen Saint-Pierres], Ms., Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, R 243. — : Pour perfexioner sier VII.
les histoires generales, Ms., Archives départementales du Calvados, Caen, Dos-
— : Prédictions politiques, Ms., Bibliothèque municipale, Rouen 950, p. 583-653. — : Préface du traducteur M. de Castera (décembre 1734), Ms., Archives départementales du Calvados, Caen, Dossier VII. — : Progrez de la politique, schrift, 19 Seiten).
Ms., Archives départementales du Calvados, Caen, Dossier VIII (Rein-
— : Projet De Paix Inaltérable pour L'Europe. Préfacé. Vüe generale Du Projet (1710/11), Achives des Affaires étrangères, Paris, M.D. France 308, fol. 266r°-269r° (Ms., Reinschrift, 7 Seiten). — : Projet de Paix Inaltérable Pour L'Europe. Préfacé. Vüe generale du Projet (1711), Achives des Affaires étrangères, Paris, M.D. France 309, fol. lr°-4v° (Ms., Reinschrift mit hs. Ergänzungen durch Saint-Pierre, 8 Seiten). — : Projet pour procurer en peu d'années un grand progrez de la politique, Ms., Archives nationales, Paris, R 825 (19 Seiten). — : Reflexions morales, Ms., Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, R 157. — : Vies des Hommes Illustres de Plutarque de Dacier, Ms., Archives départementales du Calvados, Caen, Dossier III.
VI.2.2
Weitere Quellen
VERTOT, René-Aubert, abbé de: dessein de composer une histoire des revolutions d'allemagne, qui commence vers l'an 1630. jusqu'en 1648 [1708], Archives du Ministère des Affaires Étrangères, Paris, Mémoires et Documents. Allemagne 37 (1648-1742), fol. 316r°-320r°. — : Lettre à Monsieur de Me me Premier President du Parlement de Paris. 1708, Archives du Ministère des Affaires Étrangères, Paris, Mémoires et Documents. Allemagne 37 (1648-1742), fol. 321r°355v°.
321
Gedruckte Quellen
VI.3 Gedruckte Quellen VI.3.1
Schriften des Abbé de Saint-Pierre
Abrégé du projet de paix perpétuelle inventée par le roi Henri le Grand, approuvé autrefois par la reine Elisabeth, par le roi Jacques, son successeur, par les Républiques et par la pluspart des autres potentats de l'Europe; accommodé à l'état présent des intérêts des souverains; démontré infiniment avantageux pour tous les hommes en général, et pour les Maisons souveraines en particulier, Rotterdam 1729.
SAINT-PIERRE, CHARLES-IRENEE CASTEL ABBE DE:
— : Abrégé du Projet de paix perpétuelle, (zugleich: Ouvrages de Politique, tome I), Rotterdam/Paris 1738. — : Anéantissement Futur du Mahometisme & des autres Religions humaines par le progrès continuel de la Raison humaine universelle, in: Ouvrages de Morale et de Politique, tome XIII, Rotterdam 1737, pp. 203-250. — : Annales politiques (1658-1740). Nouvelle édition, par Joseph Drouet, Paris 1912. — : Avantages des Conférences politiques, in: Ouvrages de Politique et de Morale, tome IV, Rotterdam 1733, pp. 88-101. — : Avantages que doit produire l'Agrandissement continuel de la Ville capitale d'un Etat, in: Ouvrages de Politique et de Morale, tome IV, Rotterdam 1733, pp. 102-165. — : Betrachtungen zum Antimachiavel von 1740, in: Abbé de Saint-Pierre, Kritik des Absolutismus, hrsg. von Herbert Hömig und Franz-Josef Meißner, München/Wien 1988. — : Conséquances du progrez nécessaire & indéfini de la Raizon humain malgré les interruptions des guerres, in: Ouvrages de Politique et de Morale, tome XV, Rotterdam 1741, pp. 100-112. — : Correspondance G.W. Leibniz - Ch.l. Castel de Saint-Pierre, éd. intégralement selon les manuscrits inédits des bibliothèques d'Hanovre et de Göttingen par André Robinet, Paris 1995. — : Der Traktat vom ewigen Frieden 1713, hrsg. u. mit einer Einl. vers. v. Wolfgang Michael. Deutsche Bearbeitung v. Friedrich v. Oppeln-Bronikowski, Berlin 1922. — : Discours de M. VAbbé de Saint-Pierre pourperfectioner 1725, pp. 190-222.
l'Ortografe, in: Journal des Sçavans 77,
— : Diskurs über die Polysynodie, in: ders., Kritik des Absolutismus, hrsg. v. Herbert Hömig u. FranzJosef Meißner, München 1988, S. 113-256. — : Enigme politique par M. l'Abbé de St. Pierre le 10 Avril 1741, abgedruckt in: Johann Gustav Droysen, Über die Schrift Anti-Saint-Pierre und deren Verfasser, in: Monatsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1878 (Sitzung vom 8. August), Berlin 1879, S. 732-736. — : Lettre à Madame la Marquise de Lambert, (A Versailles, 4 janvier 1697), in: Ouvrages de Politique, tome XVI, Rotterdam 1741, pp. 166-174. — : Lettre à Mme Du Tort (A St. Cloud, 1er Juillet 1698), in: Ouvrages de Politique, tome XVI, Rotterdam 1741, pp. 174-182. — : Lettre sur les femmes, in: Le Portefeuille de Madame Dupin Dame de Chenonceaux, Lettres et œuvres inédites, publié par le Comte Gaston de Villeneuve-Guibert, Paris 1884, pp. 269-302. — : Memoire pour diminuer le nombre des procès, Paris 1725. — : Memoire pour rendre la paix perpetuelle en Europe („Prétirage") (Sept./Nov. 1711). [Druckfassung mit Partien in Reinschrift zu Beginn der Kapitel. Separate Paginierung der ersten Hälfte (1. bis 4. Diskurs) S. 1-153, zweite Hälfte mit Receuil De diverses objections pag. S. 1-60.
Quellen- und Literaturverzeichnis Am Schluß ein 2-seitiger Lettre a M.*** Pour examiner l'ouvrage. Nationale, Signatur E* 319],
Exemplar in der Bibliothèque
: Mémoire Pour rendre la paix perpetuelle en Europe. Préface. Vue generale du Projet (1711). Separatdruck der Vorrede mit Partien in Reinschrift, paginiert Seite 1-14, [Exemplar in den Achives des Affaires étrangères, Paris, M.D. France 308, fol. 270r°-276v°]. : Memoire sur la réparation des chemins, o.O., o.J. (1708). : Mémoires Pour rendre la paix perpetuelle [448 Seiten, Bibliothèque Nationale].
en Europe, A Cologne, Chez Jaques le Pacifique, 1712
: [Nouveau Plan]: Vue Generale des efets merveilleux que produiroit nécessairement en Europe le Nouveau Plan de Gouvernement des Etats, in: Ouvrages politiques, tome VI, Rotterdam 1734, pp. 312-372. : Observasions pour randre la lecture de Plutarque plus utile, in: Ouvrages politiques, tome XI, Rotterdam 1737, pp. 173-256. : Observasions sur le progrèz continuel de la Raizon Universelle, in: Ouvrages politiques, tome XI, Rotterdam 1737, pp. 257-316. : Observasions sur le Testament Politique du Cardinal de Richelieu, tome XVI, Rotterdam 1741, pp. 1-76.
in: Ouvrages de Politique,
: Observation pour rendre l'étude du Droit entre Nations, & l'étude de la sience du Gouvernement, plus facile & plus utile, in: Ouvrages politiques, tome VII, Rotterdam 1734, pp. 17-28 : Observations terdam 1734.
concernant le Ministère de l'Interieur de l'Etat, Ouvrages politiques, tome VII, Rot-
: Observations politiques 1733, pp. 150-183.
sur le célibat des prêtres, in: Ouvrages de Politique, tome II, Rotterdam
: Observations politiques sur le Gouvernement IX, Rotterdam 1734, pp. 1-296. : Observations qui regardent le Ministere 1734, pp. 1-131. : Observations pp. 1-31.
sur l'essentiel
des Rois de France, in: Ouvrages politiques, tome
Général, in: Ouvrages politiques, tome VI, Rotterdam
de la réligion, in: Ouvrages politiques, tome XI, Rotterdam 1737,
: Origine des devoirs des uns envers les autres. Origine des droits des uns envers les autres, in: Ouvrages de Politique, tome II, Rotterdam 1733, pp. 105-120. : Pensées de Morale et de Politique, Reviies à Paris, Juin 1737, in: Ouvrages de Morale et de Politique, tome XIII, Rotterdam 1737, pp. 251-384. : Préface (Saint Pierre Églize, Juillet 1736), in: Ouvrages de Morale et de Politique, tome XIII, Rotterdam 1737, pp. 3-10. : Projet de taille tariffée pour faire cesser les maux que causent en France les disproportions neuses dans les répartitions de la taille arbitraire, 2 vol., Paris 1723.
rui-
: Projet pour établir des Annalistes de l'Etat, in: Ouvrages de Politique et de Morale, tome IV, Rotterdam 1733, pp. 226-254. : Projet pour faire cesser les disputes tome V, Rotterdam 1733, pp. 149-192. : Projet pour perfectioner
séditieuses
des Théologiciens,
l'ortografe des langues d'Europe,
: Projet pour perfectioner le Gouvernement tome III, Rotterdam 1733. : Projet pour rendre l'établissement terdam 1733, pp. 63-103.
in: Ouvrages politiques,
Paris 1730
des Etats, in: Ouvrages de politique et de morale,
des réligieux plus utile, in: Ouvrages politiques, tome V, Rot-
Gedruckte Quellen
323
Projet pour rendre la paix perpétuelle [2 Bde.; die sog. „Prétirage" von Juli/Sept. 1712; Druckfassung mit Partien in Reinschrift; Bibliothèque Nationale, Signaturen E* 534 und E* 535].
SAINT-PIERRE :
— : Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe, (en 3 tomes), Utrecht 1713 (tome I et II) et 1717 (tome III); Reprint avec Introduction, présentation, bibliographie, notes et appendice par Simone Goyard-Fabre, Paris 1981 [Zitate gemäß der Paginierung der Originalausgabe 1713/1717 mit röm. Band- und arab. Seitenzahl], — : Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe, Texte revue par Simone Goyard-Fabre, Paris 1986. — : Projet pour rendre les Livres & autres monumens plus honorables pour les Auteurs futurs & plus utiles à la postériorité, in: Ouvrages de Politique, tome II, Rotterdam 1733, pp. 231-268. — : Projet pour rendre les titres plus honorables, plus utiles au service du Roy & de l'Etat, in: Ouvrages de Politique, tome II, Rotterdam 1733, pp. 121-149. — : Réflexions morales et politiques sur la vie de Charles XII. Roi de Suede, in: Ouvrages politiques, tome IX, Rotterdam 1734, pp. 297-377. — : Réflexions morales, in: Ouvrages de Politique et de Morale, tome XV, Rotterdam 1741, pp. 5984. — : Reflexions sur l'Antimachiavel de 1740, in: Ouvrages de Politique, tome XVI, Rotterdam 1741, pp. 459-534. — : Reflexions sur la vie de Socrates et de Pomponius Atticus, in: Ouvrages politiques, tome X, Rotterdam 1735, pp. 76-200. — : Suplément à l'Abrejé du Projet de Paixperpétuèle, 1733, pp. 3-83.
in: Ouvrages de Politique, tome II, Rotterdam
— : Suplemant à l'Abrejé du Projet de Paix perpetuelle, in: Ouvrages de Politique, tome I, Rotterdam 1738, pp. 194-352. — : Sur l'éducation des enfants chez des maîtres de pension, in: Ouvrages de Politique et de Morale, tome XIV, Rotterdam 1740, pp. 32-102. — : Sur le grand homme, & sur l'homme illustre, in: Ouvrages politiques, tome XI, Rotterdam 1737, pp. 33-122. — : Sur le grand homme, & sur l'homme illustre, in: Ouvrages de Politique et de Morale, tome XIV, Rotterdam 1740, pp. 126-167. — : Sur les Voeux Monastiques, in: Ouvrages de Morale et de Politique, tome XIII, Rotterdam 1737, pp. 150-169. — : Temistocle & Aristide. Modèle pour perfectionner les vies de Plutarque, in: Ouvrages de Politique et de Morale, tome XIV, Rotterdam 1740, pp. 168 ff.
324 VI.3.2
Quellen- und Literaturverzeichnis
Schriften von Jean-Jacques Rousseau
ROUSSEAU, Jean-Jacques: Œuvres complètes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, 5 tomes (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1969 ff. [im folgenden zitiert: OC und röm. Bandzahl]. — : Considérations sur le gouvernement de Pologne (1771/1772), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 951-1041. — : Correspondance générale. Collationée sur les originaux, annotée et commenté par Théophile Dufour, (20 vol.), Paris 1924-1934. — : Dernier Reponse de J.-J. Rousseau de Genève (1752), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 71-96. — : Discours sur l'Économie politique (1755), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 239-278. — : Discours sur l'origine et les Fondemens de l'inégalité parmi les hommes (1755), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 109-223. — : Discours sur la question: Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs (1750), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 1-30. — : Du contrat social [Manuscrit de Genève] ou Essai sur la forme de la République (Première version), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 279-346. — : Du contrat social; ou, Principes du droit politique (1761), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 347470. — : Écrits sur l'abbé de Saint-Pierre (1756/59), in: ders., III, Paris 1964, pp. 561-682. — : Émile ou de l'éducation (1762), in: ders., OC, IV, Paris 1969, pp. 239-868. — : Extrait du Projet de paix perpétuelle de Monsieur l'abbé de Saint-Pierre (1758/ 59), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 563-589. — : Fragments politique, in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 471-560. — : Fragments sur la guerre, in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 613-616. — : Guerre et État de Guerre, in: ders., OC, III, Paris 1991 (Appendice), pp. 1899-1904. — : Jugement sur le Projet de paix perpétuelle (1758/59), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 591-600. — : Kulturkritische und politische Schriften in zwei Bänden, hrsg. v. Martin Fontius, Berlin 1989. — : Les Confessions de J.-J. Rousseau, in: ders., OC, I, Paris 1959, pp. 1-656. — : Les Rêveries du promeneur solitaire (1776/78), in: ders., OC, I, Paris 1959, pp. 993-1099. — : Lettre à Christophe de Beaumont (1762), (mit Fragments de la lettre à Beaumont), in: ders., OC, IV, Paris 1969, pp. 925-1030. — : Lettre à M. le Marquis de Mirabeau (26 juillet 1767), in: C.E. Vaughan, The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau (1915), ND: Oxford 1962, pp. 159-162. — : Lettres écrites de la Montagne (1764), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 683-897. — : Observations de Jean-Jacques Rousseau sur la Réponse qui a été faite à son Discours (1751), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 35-57. — : Préface à Narcisse ou L'amant de lui-même (1753), in: ders., OC, II, Paris 1964, pp. 961-974. — : Projet de Constitution pour la Corse (1765), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 899-950. — : Quatre Lettres à M. Le Président de Malesherbes contenant le vrai tableau de mon caractère et les vrais motifs de toute ma conduite (Januar 1762), in: ders., OC, I, Paris 1959, pp. 1130-1147. — : Que l'état de guerre nait de l'état social (um 1758), in: ders., OC, III, Paris 1964, pp. 601-612. — : Rousseau juge de Jean-Jacques. Dialogues (1772/1776), in: ders., OC, I, Paris 1959, pp. 657-992.
Gedruckte Quellen
VI.3.3
325
Weitere Quellen
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Abromeit, Heidrun 44 Aguesseau, Henri François d' 112 Albrecht, Ulrich 14, 33 f. Albrow, Martin 20,22 Alembert, Jean Le Rond d' 48, 57, 188, 207 Althusius, Johannes 160,246 Anderson, Perry 28 Antraigues, Emmanuel-Henri- LouisAlexandre d' 211 f. Aquin Thomas von 73 Archimedes 62 Arendt, Hannah 63,222 Aretin, Karl Otmar von 162, 167, 231, 233 f„ 236, 237, 240, 246, 247 Argenson, René-Louis Marquis d' 53, 119 f., 275 Aristoteles 62, 72 f„ 110 Asbach, Olaf 12, 42, 44,105, 122, 196, 266, 293, 300, 309 Bacon, Francis 54, 134 Baczko, Bronislaw 61 Bahner, Werner 46, 95 Barbeyrac, Jean 112, 257, 259 Barbiche, Bernard 86 Barre, Le P. Joseph 234 Bastid, Paul 216 Beaud, Olivier 183,314 Belissa, Marc 122, 186, 253, 259, 261, 283 Bély, Lucien 82, 102, 130, 158 Benjamin, Walter 196 Bérenger, Jean 233 Besold, Christoph 182
Bignon, Jean-Paul, Abbé 112,161 Bilderbeck, Christoph Lorenz 247 Bleek, Wilhelm 12 Bockenforde, Ernst-Wolfgang 29, 60, 166 Bodeker, Hans Erich 41 Bodin, Jean 29 f., 31 f„ 110, 159 f„ 163, 182, 247,311 Boisguilbert, Pierre de 56 Boldt, Hans 245 Bolingbroke, Lord Henry St. John, Viscount 53, 102 Boswell, James 206 Botero, Giovanni 28 Bottaro Palumbo, Maria Grazia 43,46, 53, 102, 107, 108, 127 Boulainvilliers, Henri de, Comte de Saint-Saire 90 Bourgogne, Louis, Due de 56 Brandt, Reinhard 10, 104, 111, 190, 194 f„ 198 f., 213 f„ 230, 303 Bredow, Wilfried von 18,19 Brunkhorst, Hauke 316 Buffon, Georges Louis Ledere 188, 190, 205 Burlamaqui, Jean-Jacques 239, 254, 258-260 Bush, George 18 Calie, Marie-Janine 304 Camilleri, Joseph A. 22, 179 Carl, Ernst Ludwig 163,239 Carter, Christine Jane 48, 70, 202, 220, 222, 235, 256, 273, 288, 292, 293 Cassirer, Ernst 97, 187, 194, 201
348 Cavallar, Georg 25 Chartier, Roger 185 Cobban, Alfred 284 Coirault, Yves 129 Condillac, Etienne de 204 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de 55, 190 Conring, Hermann 246 Conze, Werner 247 Cooper, Robert 20 Cornette, Joel 106 Crucé, Emeric 94 Czempiel, Ernst-Otto 14 f., 19, 23, 25 ff., 43, 82, 104, 109, 304 Dammaschke, Mischka 10 Damton, Robert 187 Dent, Nicholas J.H. 203 Denzer, Horst 246,247 Derathé , Robert 111, 203, 210, 215, 239, 254, 256 Descartes, René 50 f., 55, 61 f., 64, 67 ff., 74, 76 Desmarets, Nicolas 106 Deuerlein, Ernst 161 Dickmann, Friedrich 242, 243 Diderot, Denis 48, 55, 57, 88, 187 f., 190 Dieckmann, Herbert 74 Dietze, Erwin 50, 59 f., 77, 86, 92, 157 Doria, Paolo Mattia 110 Dotzauer, Winfried 165, 248 Doyle, Michael W. 304 Drouet, Joseph 14, 50, 52 f., 60, 83, 87 f., 90 f . , 94 ff., 108, 117, 119 ff., 129, 204, 205 Droysen, Johann Gustav 100 Duchhardt, Heinz 148, 165 ff., 233 f., 239, 244-248 Dülffer, Jost 14 Dupin, Louise-Marie-Madeleine, dame de Chenonceaux 49, 97, 164, 204206, 234 Ehlers, Joachim 245 Elisabeth Charlotte, Duchesse d'Orléans 51,94, 161 f.
Personenregister Erasmus von Rotterdam 94 Evers, Tilmann 44, 82, 125, 179 Externbrink, Sven 236,237 Faguet, Émil 51, 120,204 Falk, Jim 22, 179 Fénelon, François de Salignac de la Mothe 56,90, 110 Fenske, Hans 246 Fetscher, Iring 46 f., 55 f., 106, 196, 199, 202, 211, 214, 216, 276, 284 f., 288 Fiedler, David P. 283 Fischbach, Claudius R. 121, 204, 228, 277, 279, 286 Fischer, Joschka 44,313 Fleury, Hercule de, Cardinal 53 Folkes, Herbert G. 129 Fontenelle, Bernard le Bouvier de 51 f., 54, 57,63,99, 164, 171,205 Fontius, Martin 191 f., 203, 206, 209, 269 Forschner, Maximilian 192, 194 ff., 202, 252 Franz I. 155 Freudenthal, Gideon 87 f. Friedrich, Manfred 164 Friedrich II., König von Preußen 100, 164 Friedrich, Wolfgang-Uwe 114 Fukuyama, Francis 18 Gagnebin, Bernard 195 Galilei, Galileo 55 Garrard, Graeme 186 Gärtner, Heinz 13 Geismann, Georg 30,42, 303 Geiss, Immanuel 242 Gembicki, Dieter 54 f. Gembruch, Werner 86, 90, 92 Gerhardt, Volker 10, 25, 254, 277, 304, 309 Gierke, Otto von 36, 43, 281 Godefroy, Théodore 163 Goez, Werner 246 Göhring, Martin 56, 84 Goldschmidt, Victor 291
349
Personenregister Gottsched, Johann Christoph 191 Goumy, Edouard 52 f., 60, 70, 98, 275 Goyard-Fabre, Simone 37,41,58,60, 68, 95, 105 f., 108, 111, 119, 129, 133, 174, 177, 180 f., 183, 204, 218 f., 225,264, 281,293 Grawert, Rolf 35 Greven, Michael Th. 10, 12 Grewe, Wilhelm G. 16, 34 ff., 94, 257 Grimarest, J.L. le Gallois de 130 Grimm, Dieter 316 Grimm, Frédéric Melchior 50, 190 Grotius, Hugo 33, 35 f., 83, 110, 112, 203, 225, 254, 257-259, 300 Gruner, Wolf D. 114 Guellouz, Azzeddine 135 Guggenberger, Bernd 27, 42 Gundling, Nicolaus Hieronymus 164, 247 Habermas, Jürgen 24, 53, 55, 311, 316 Haller, Benedikt 249 Hammerstein, Notker 164, 170, 246 f. Hartmann, Antje Victorine 94, 143, 275 Hartmann, Peter Claus 44, 82, 125, 179 Hazard, Paul 55, 171, 174 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 59, 88, 181,233,241 Heinrich IV. 56, 119, 131, 143, 174, 274 f. Held, David 20 f. Hendel, Charles William 208 Herb, Karlfriedrich 30, 195, 199, 215, 219, 281 Herz, John H. 23 Heyden-Rynsch, Verena von der 52 Hiebaum, Christian 314 Hinsley, Francis H. 284, 286 Hintze, Hedwig 177, 212, 287 Hippolithus a Lapide (Bogislaw Philipp von Chemnitz) 159,233 Hobbes, Thomas 23, 27, 30 ff., 33 ff., 41, 59 f., 79 f., 81, 110-113, 116 f., 132, 161, 177, 181 ff., 197, 198, 203, 218-223, 225, 251, 254, 257, 259, 280, 299, 308
Höffe, Otfried 44, 176, 183 f., 314 Hoffmann, Stanley 283, 285 f., 288, 291 Hoke, Rudolf 159, 247 Holbach, Paul-Henri-Thiry, Baron d' 241 Hömig, Herbert 46, 57, 83, 85 ff., 96, 114, 275 Horkheimer, Max 11 f., 126, 186 Hospital, Michel de 1' 30 Houwens-Post, Hendrik 129 Hüglin, Thomas O. 160, 179 Hugo, Ludolph 160 f., 182 Humboldt, Alexander von 25 Hüning, Dieter 10, 30 f., 33 ff., 41 f., 113, 148, 171, 177, 181,204, 237, 258, 280 Huntington, Samuel 20 Huygens, Christiaan 51 Jacob, Margaret C. 56 Janssen, Wilhelm 32, 38, 40, 230 Jauß, Hans Robert 54 Jellinek, Georg 175 f. Jouvenel, Bertand de 195 Kaiser, Thomas E. 88 Kant, Immanuel 9, 25 f., 31, 42, 47, 59, 93, 98, 102 ff., 109 f., 122 ff., 176 f., 181 ff., 198, 200, 228, 231, 253, 255, 266, 293, 297, 299-301, 303-312, 315 f. Karl der Große 136 Karl Ludwig, Pfälzischer Kurfürst 162 Karl V. 148, 165 Kaufmann, Matthias 309 Kennedy, Paul 16 Keohane, Nannerl O. 46, 70, 75, 88, 106, 199 Kersting, Wolfgang 20, 25, 27, 42, 113, 183,314 Kimminich, Otto 15, 19, 36 Kingsley, Martin 70 Klaits, Joseph 83 Kleinschmidt, Harald 14 ff., 231, 234 Klemme, Heiner 99 Knieper, Rolf 180
350 Koch, Eckhart 208 Kondylis, Panajotis 66 Koselleck, Reinhart 53, 55, 176 Krauss, Werner 51, 54 Krauthammer, Charles 18 Kuhn, Thomas S. 277 Kühne, Winrich 19 Kühnhardt, Ludger 182 Kunze, Karl 163 Lake, David A. 304 Lambert, Thérèse de Courcelle, Marquise de 52,76 Lanson, Gustave 194 Lassudrie-Duchène, Georges 202, 212, 288
Laubach-Hintermeier, Sonja 300 Layne, Christopher 304 Le Cour Grandmaison, Olivier 81, 85, 133 Le Roy Ladurie, Emmanuel 86 Lebigre, Arlette 162 Lecercle, Jean-Louis 96, 98 f., 104, 200, 204 Leibniz, Gottfried Wilhelm 51, 63 f., 76, 88,99, 130, 143, 160 f., 164, 182, 231, 243 f., 246, 272 Lenk, Kurt 12 Lepan, Géraldine 253,285,286 Lichtenberger, André 91 Link, Christoph 159 Link, Werner 17 Locke, John 27, 37, 41, 116, 203 Lotterie, Florence 190 Loyola, Ignatius von 174 Ludewig, Johann Peter 164, 239 Ludwig der Fromme 136 Ludwig XIII. 155 Ludwig XIV. 38 f., 50 ff., 55, 86, 89 f., 94, 105 f., 167, 207, 242, 301, 308 Luttenberger, Albrecht P. 165 Lyons, M. Gene 20 Mably, Gabriel Bonnot, Abbé de 97, 148, 204, 206, 233, 239 f. Machiavelli, Niccolò 28 f., 31, 110
Personenregister Maier, Hans 12 Malebranche, Nicolas 61 f., 161, 171 Malettke, Klaus 39, 84, 132, 162 f., 165, 167, 233, 241, 248 Mandrou, Robert 39, 55, 86 Mastandundo, Michael 20 Maximilian I. 148,244 Mayer, Theodor 28, 138 Mayr, Otto 87 Mearsheimer, John J. 18 f. Meißner, Franz-Joseph 50 Menzel, Ulrich 20, 22 ff. Mercier, Roger 171 Merle, Jean-Christophe 95 Meulen, Jacob ter 48, 96, 121, 175, 281 Meyer, Jean 233 Meyers, Reinhard 14, 17, 34, Michael, Wolfgang 101 f., 120, 157 Molinari, Gustave de 70 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 52 f., 88, 197, 203, 205, 219, 239, 254, 272, 287 Morgenthau, Hans J. 32 Mornet, Daniel 88 Mortier, Roland 185 Moser, Friedrich Carl von 247 Moser, Justus Johann 246 Mühlen, Patrick von zur 159, 164, 246 f. Müller, Reimar 57, 189 Münkler, Herfried 10, 28 ff., 78 Napoleon (I.) Bonaparte 119 Narr, Wolf-Dieter 12 Newton, Isaac 55, 63 f., 76 Niderst, Alain 51, 171 Oestreich, Gerhard 242 Orléans, Due d' (Regent von Frankreich) 85 f. Othmer, Sieglinde 112 Paris, Roland 304 Pascal, Blaise 62,63 Pekarek, Marcel 89,277 Penterriedter, Christoph, Freiherr von 162, 164
Personenregister Perkins, Merle L. 48, 50 f., 53, 59, 67, 102, 105, 108, 110 f., 129, 208, 273 Perrault, Charles 54 Pezzillo, Lelia 203 Pfeil, Alfred 16 Piaton 62, 110, 124, 194 Pocock, John G.A. 29 Podlech, Adalbert 249 Polignac, Melchior, Abbé (später Cardinal) de 129 Pomeau, René 187 Pottle, Frederick A. 203 Press, Volker 233, 243 Pufendorf, Samuel 36, 44, 83, 110, 112, 124, 160-163, 166, 203, 210, 233, 241, 243, 246 f., 254, 257, 259, 300 Quaritsch, Helmut 29 f. Raumer, Kurt von 88, 94, 143, 209, 216, 229, 238, 240, 243, 252 f., 275 Redslob, Robert 177 Reibstein, Ernst 257 Reichardt, Rolf 50, 54 f., 209 Reinhard, Wolfgang 29, 47 Reinkingk, Dietrich (Theodorus) 159 Reibstein, Ernst 36 Reitemeyer, Ursula 47, 119 Richelieu, Armand Jean du Plessis, Cardinal de 28,39,65, 110 Riemer, Siegfried 212 Rihs, Charles 124 Rittberger, Volker 18 Robinet, André 128 Roche, Daniel 82, 158 Roeck, Bernd 164 Rohan, Henri, Duc de 28 Röhrich, Wilfried 12,23 Roosevelt, Grâce G. 213, 250, 256, 264 Rosenau, James N. 20 Rousseau, Jean-Jacques 9, 26, 37, 38 f., 4 1 ^ 5 , 47 ff., 59 f., 77, 87, 96, 98 f., 102 ff., 106, 109, 111, 116 f., 119 f., 122-125, 133, 158, 177 f., 181 ff., 185-316 (passim) Rouvillois, Frédéric 61, 171
351 Russett, Bruce 304 Saint-Pierre, Charles-Irenée Caste, Abbé de 9, 26, 38^14, 45-188 (passim), 190, 194, 200 ff„ 203-209, 217, 223, 227-230, 233 ff„ 237-240, 243, 250 f., 263 f., 266-276, 278, 281, 287 f., 290, 295-316 (passim) Saint-Pierre, Comte de 206 Saint-Simon, Louis de Rouvroy, Duc de 47, 52, 55, 90 Salewski, Michael 244 f. Sand, Georges 88,97 Schaumann, Wilfried 117 Schiller, Friedrich 25 Schilling, Heinz 20, 33, 166, 233 Schindling, Anton 167, 233 f., 242 Schleich, Thomas 73 Schlobach, Jochen 57 Schmauss, Johann Jacob 164 Schneider, Hans-Peter 161 Schneiders, Werner 55, 134 Schräder, FredE. 9, 10, 30, 162, 187, 229 ff., 233, 239, 241, 248 Schröder, Peter 34, 161, 163 Schubert, Friedrich Hermann 159 f. Schulze, Winfried 29, 138, 229, 234, 244 ff. Schwan, Alexander 47, 187 Schwarz, Hans-Peter 19 Sée, Hans 86, 106 Seiderer, Georg 90 Seibert, Wolfgang 165 Sénéchal, Anicet 49, 205 f. Senghaas, Dieter 18, 21, 23, 25 f. Seroux-d'Agincourt, Camille 47, 56, 114, 133 Sokrates 62 Sombart, Werner 25 Sophie, Kurfürstin von Hannover 161 Spinoza, Baruch de 110 Spoltore, Franco 129, 177, 179, 181 Stammen, Theo 12 Steiger, Heinhard 115, 176, 243 Stelling-Michaud, Sven 203, 206, 208 f., 211, 237 ff.
352
Personenregister
Stollberg-Rilinger, Barbara 87 f., 242, 247, 249 Stolleis, Michael 32, 247 Strauss, Leo 191 Struve, Burkhard Gotthelf 164 Süarez, Franciso de 33 Sully, Maximilien de Béthune, Duc de 56, 119, 131, 143, 274 f.
Wildenburg, Dorothea 10 Windenberger, Joseph-Lucien 98, 202, 212, 217 f., 220, 234, 252 f., 266, 281 f., 285, 288 Winkler, Norbert 10 Wobbe, Theresa 23 Wokler, Robert 208, 210, 257 Wolf, Christian 36
Talmon, Yaakov Leib 267 Thomasius, Christian 247 Thou, Jacques Auguste de 160, 162 Thuillier, Guy 83 Tocqueville, Alexis de 12 Torcy, Jean Baptiste Colbert, Marquis de 83, 102, 112, 130, 162 Tuck, Richard 219 Tudyka, Kurt 23 Turgot, Anne Robert Jacques 55
Ziegler, Karl-Heinz 35 Zürn, Michael 18, 23 f., 33, 179, 312, 314
Varignon, Pierre 51, 61, 99, 161 Vattel, Emer de 239, 260 Vauban, Sébastien le Piestre de 56, 105 Vaughan, Charles Edwyn 206,212, 217 f., 266, 288 Vertot, René-Aubert, Abbé de 51, 162, 165, 171 Villeneuve-Guibert, Gaston de 205 f. Vitoria, Francisco de 33, 36 Vogel, Uli 10 Vogt, Wolfgang R. 23 Volger, Helmut 16, 19 Voltaire, François Marie Arouet 40, 88, 100, 191,205 Voyenne, Bernard 267 f. Wade, Ira O. 46 Wagner, Fritz 242 Walters, Francis Paul 16 Waltz, Kenneth N. 273, 291 f. Weinstock, Heinrich 284 Weis, Eberhard 240 Weizsäcker, Carl-Friedrich von 26 Welzel, Horst 71 White, Howard B. 54 Wight, Martin 13