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German Pages [981] Year 2023
Baden bei Wien
Dominik Zgierski
Baden bei Wien unter dem Hakenkreuz „Deutschlands größtes Schwefelbad“
Gedruckt mit Unterstützung durch: Zukunftsfonds der Republik Österreich Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus Amt der N.Ö. Landesregierung
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Plakat: Baden bei Wien. Deutschlands größtes Schwefelbad (StA B; Inventarnummer: P 2021) Satz: Bettina Waringer, Wien Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21787-9
Gewidmet meiner lieben Freundin Eva
Inhalt
Erster Teil Vorspiel und Einleitung Der Anschluss und die Quellen Kapitel 1 Unterwandert
15
Kapitel 2 Gebrauchsanweisung für dieses Buch…
39
… und die Quellen
42
Zweiter Teil Transformation und Konsolidierung Aufbruch – Gleichschaltung – Vertreibung – Vernichtung Baden zwischen dem Anschluss und dem Kriegsbeginn Kapitel 3 Euphorie und Volkswille Kapitel 4 Von neuen und alten Namen
Legislative Exekutive Justitia Schola Hospital Mammon Mammon II Die vierte Gewalt Circulus
67 76 77 78 87 95 104 110 116 119 123
Kapitel 5 Idealismus
129
Kapitel 6 Der erste Sommer unter dem Hakenkreuz
140
Kapitel 7 Nr. 52.294 und seine NSDAP
156 163
Schiller, Gasteiner und die Tante Marie Kapitel 8 Provinz Hierarchien und ihre Kaiser
Der Legale und die vier Illegalen Die linke und die rechte Hand des Teufels Kapitel 9 Die braune Verfärbung der Schwefelkinder
Alternativen
171 172 183 189 200
Kapitel 10 Als Jude in Baden zwischen Anschluss und Novemberpogrom, zwischen Segregation und Vertreibung, Beraubung und Vernichtung
Kurörtliche Spezifika Reaktion Phase II Kapitel 11 Das nicht schädlingshafte Andere
Von braven Bürgern, Bauern und Edelleuten Die linke Kurstadt Nibelungen
206 217 221 225 233 235 256 266
Kapitel 12 Sprösslinge
269
Kapitel 13 NS-Innen
282
Kapitel 14 Wie aus Scherben Kristall wurde
299
Kapitel 15 Im neunten Monat
314
Fotostrecke
326
Dritter Teil Expansion und Zenit Kriegsbeginn und Kriegsalltag, Siege und Stalingrad Kapitel 16 Ante bellum
343
Kapitel 17 Exekution – Phase III
362 367 370 380 382
Die Aspiranten Die Komplikationen Die volksverratenden Verweser Die braune Disharmonie Kapitel 18 Vulkane brechen aus, Kriege werden begonnen
Business as usual Kapitel 19 Vom ersten zum zweiten Kriegswinter
Verrat und Verräter
392 401 414 437
Kapitel 20 Von Fremden, Frauen, Front und der Ferne
454
Kapitel 21 Pech und Schwefel
479
Kapitel 22 Paradise Lost
500 509 517
Die Untreuen… … und die Abgekommenen
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
Das Mysterium vom Leben und Sterben Theatralische Fassendhaftigkeit Teure Würste und gepanschter Wein Das leise Kriseln Stimmen aus dem Osten Kapitel 24 Mischehen, Mischlinge sowie Halb- und Vierteljuden
Natur und Technik Die Unbelehrbaren Darwin Blutsbrüder und Blutsschwestern Kapitel 25 Die Auszumerzenden
Gesindel Menschen, die behindern Einer von zwei Scherenschleifer
531 544 556 571 577 586 598 609 614 620 626 641 641 655 664 672
Vierter Teil Kontraktion und Radikalisierung Von der Kriegswende im Osten bis zu Kapitulation des tausendjährigen Reiches Kapitel 26 Post Stalins Stadt
Wider der Defatigation Zeichen am Horizont Kapitel 27 Phantasmagorien und die Farbe Grau
Schatten und Zwielicht Malus – ICD-10 Kapitel 28 Apostasie
Bitternis Höllensturz Die letzte Party der Badener Nationalsozialisten Kapitel 29 Systemerhalter
Das Fremde im Alltag Das Fremde und ich Eva Die Rückkehr der Juden
681 689 703 711 720 730 750 756 767 779 782 783 788 801 805
Kapitel 30 Pathologische Zuversicht
Rien ne va plus Tödliche Premiere Das Uhrwerk und die Zahnräder Ideologie zu vergeben und die Ehre auf Abwegen Kapitel 31 Die letzten Tage des größten Schwefelkurortes Großdeutschlands
Die letzten Ausgaben Der Abstieg und das leere Grab Das Erscheinen des Messias… …und das Warten auf den Heiligen Geist Kapitel 32 Buchende
…und eine an Sisyphos Was wurde aus…
813 820 829 837 854 865 870 880 892 901 908 917 933
Anhang 940
I. Kreisleitung Baden II. Ortsgruppen, Zellen und Blöcke im Kreis Baden III. Ortsgruppenleiter im Kreis Baden 19. April 1944 IV. Statistiken und Auswertungen V. Flächennutzung und Besitzverhältnisse Quellen und Sekundärliteratur
Monographien Sammelbände Internetseiten Online abrufbare Dissertationen Zeitschriften und Periodika Archive
940 941 943 944 948 951 951 953 954 954 955 955
Themen-Index
957
Personen- und Ortsverzeichnis
958
Ich sage Danke
980
Darüber, ob die Stadt, in der wir in Österreich lebten, nur ein bisschen oder sehr antisemitisch wäre, gingen die Meinungen in unserer Familie auseinander. Meine Eltern waren von Ersterem überzeugt, wir Kinder von Letzterem. Wie kann es in einer Familie so eine Kluft geben? Die Antwort ist einfach: Erwachsene erschaffen ihre Welt, Kinder finden ihre vor.1 Eva Kollisch Was allen Führern ihre Macht verleiht, ist nicht so sehr die Tatsache, dass sie uns ein besseres Leben versprechen, sondern vor allem, dass sie uns von dem inneren Kampf befreien, von dem Widerspruch zwischen Liebe und Hass. Sie liefern uns Feinde, die wir töten und uns dafür noch lieben können.2 Arno Gruen Gewalt kann ungeheuer anziehend wirken – wenn man sie ausübt und nicht erleidet.3 Sven Felix Kellerhoff Denn der Eifer, in der Vergangenheit auf der Seite der Gerechten gewesen sein zu wollen, ergibt nur einen Show-Effekt. Er erzeugt eitle, also un-ethische Rhetorik.4 Kurt Flasch Lâ qaula lil-mayyit (Tote haben nichts zu sagen) Spruch aus der traditionellen Schia
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KOLLISCH, Eva, Der Boden unter meinen Füßen, S. 13. GRUEN, Arno, Verratene Liebe – Falsche Götter (Stuttgart 2019), S. 67. KELLERHOFF, Sven Felix, Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder (Stuttgart 2017), S. 77. FLASCH, Kurt, Der Teufel und seine Engel. Die neue Biographie (München 2016), S. 61.
Erster Teil Vorspiel und Einleitung Der Anschluss und die Quellen …
Kapitel 1 Unterwandert Oder: Von der infiltrierten Kurstadt und ihren blutigen Flecken
Am 11. März 1938 um 20 Uhr vernahm der damals 16-jährige Hans Meissner die ihm wohlbekannte und gleichermaßen als fad wie korrekt empfundene Stimme Schuschniggs zum letzten Mal. Der Bundeskanzler sprach von Gewalt, der man weichen wolle, vom Widerstand, den man nicht leisten dürfe, und von Gott, der beschützen solle. Hans‘ um drei Jahre jüngerer Bruder, Heimo Meissner, politisch kaum interessiert, lernte währenddessen griechische Vokabeln für die am nächsten Tag stattfindende Schularbeit auswendig und nahm die Rede wenn überhaupt nur am Rande wahr. Das änderte sich schlagartig, als nach der Ansprache des Bundeskanzlers das Horst Wessel-Lied erklang – es war doch verboten! Der Irritation folgte die Begeisterung. Morgen sei schulfrei, verkündete der Radiosprecher. Somit war die Schularbeit Geschichte, genauso wie die erste österreichische Republik. Nach 1945 erinnerte sich Hans Meissner, dass der Anschluss für ihn ein plötzliches Ereignis gewesen war, hörbar an den nun ganz anderen Inhalten, die aus den Lautsprechern drangen. Als ob jemand, einfach so, einen anderen Radiosender eingestellt hätte.1 Eine dreiviertel Stunde später gab Hitler den Einmarschbefehl. Der Einmarsch gestaltete sich aus militärischer Perspektive gewaltlos. Als sich Göring in Nürnberg für den Angriffskrieg gegen Österreich verantworten musste, äußerte er amüsiert, dass er einen Angriffskrieg stets mit Bomben assoziierte, damals in der Ostmark seien aber Blumen geflogen. Ganz so blumig war es nicht. Gewalt gab es in rauen Mengen – vor dem Anschluss, während des Anschlusses und danach. Illegale Nationalsozialisten gingen in die Offensive. Bezirkshauptmannschaften, Gemeindeämter und Einrichtungen der Vaterländischen Front wurden besetzt. 50.000 bis 70.000 Österreicher wurden in den ersten sechs Wochen eingekerkert.2 Manche für Tage, andere für Wochen, Monate oder Jahre. Unter den Opfergruppen fanden sich unterschiedliche Menschen, Milieus und Gruppierungen. Von Rechten, Linken, Liberalen und Konservativen bis zu den quantitativen Hauptopfergruppen wie Juden, führenden Akteuren des Ständestaates, Homosexuellen, „Zigeunern“ und allen an1 2
Vgl. WIESER, Christoph, Baden 1938. Anschluss Gleichtritt Volksabstimmung (Baden 1998), S. 35 und 38. Vgl. BAUER, Kurt, Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1933–1945 (Frankfurt am Main 2017), S. 71 und HAAS, Hans, Der „Anschluss“. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH, Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 26–54.
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Erster Teil Vorspiel und Einleitung
deren, die als Feinde angesehen wurden – als Feinde des deutschen Volkes, aufgrund ihrer politischen und/oder religiösen Überzeugungen sowie einer konstruierten Rassenideologie. Wie überall in Österreich war der Anschluss in Baden kein alltägliches Ereignis. Der nicht mehr so junge Franz Schmid, der führende Nationalsozialist in Baden und für die nächsten sieben Jahre Bürgermeister der Stadt, kletterte mit seinen 61 Jahren direkt aus der Versenkung der Illegalität auf den Brunnen am Hauptplatz und hielt eine Brandrede. Er sprach nun nicht mehr zu den Badenern und Badenerinnen, sondern zu Volksgenossen und Volksgenossinnen. Während seiner Philippika stiegen Hakenkreuzflaggen gen Himmel, gleichzeitig fielen Kruckenkreuzflaggen zu Boden. Polizisten mit Hakenkreuzarmbinden flankierten das Geschehen. Während Schmid eine glorreiche Zukunft unter der Swastika prophezeite, erließ er sicherheitshalber eine Order, die es den Bankinstituten verbot, mehr als 200 Schilling pro Tag und Person auszuzahlen. Wenig später wurde die Grenze auf 1000 Schilling angehoben. Trotz der Anschluss-Euphorie – einen etwaigen Bankenrun von „NS-Skeptikern“ wollte man von Anfang an unterbinden.3 Aber wo blieb der am 6. März 1938 beim Badener Bezirksappell der Vaterländischen Front angekündigte Widerstand des freien, unabhängigen und auf ständischer Grundlage errichteten Österreichs? Kämpferisch wurden an diesem Tag die Wehrverbände des Ständestaates beschworen – jene Wehrverbände, die dieses Regime selbst aufgelöst hatte. Das Juliabkommen von 1936, dieser Friede mit dem Deutschen Reich, wurde als fauler Friede gebrandmarkt, und höhnisch lachte man über die böhmisch klingenden Nachnamen so mancher Nationalsozialisten, dieser angeblichen Urgermanen. Viel Raum für Polemik. Die Nazis, doch nicht alle so nordisch! Offenbar werde die eigene Rassenlehre nicht so ernst genommen! Um die braune Mordpest, wie man die NS-Bewegung hier und da titulierte, auszumerzen, wurde selbst der zuvor verhasste Sozialist zum potentiellen Verbündeten des Ständestaates erklärt. Nahm Schuschnigg auf Bundesebene Kontakte zur SDAP auf, so war es in Baden Hofrat Ernst Zeiner, ehemaliger Abgeordneter zum Reichsrat unter Kaiser Franz Josef, Vizebürgermeister der Kurstadt und Direktor des Badener Gymnasiums, der das jahrelange Anbiedern an die Nationalsozialisten nun scharf geißelte und stattdessen auf die rote Karte setzte. Sogar von freien Wahlen war die Rede. All die Wortspenden waren verbrämt mit Worten wie Ehre, Stolz, Treue, Freiheit und der Phrase „Rot Weiß Rot bis in den Tod“.4 All das Heroische blieb Theorie. Wer hätte es letztendlich in die Tat umsetzen sollen? Wer hätte Widerstand leisten sollen? Schließlich hatte Schuschnigg bereits klare Worte gefunden. Kein Widerstand, keine Gewalt, Gott schütze uns. Der Regimewechsel in Baden lief (fast) problemlos über die Bühne. Ein Teil der Badener Polizei hatte nur darauf ge3 4
Vgl. BZ Nr. 23 v. 19.03.1938, S. 1. Vgl. WOLKERSTORFER, Otto, Baden 1939. Das Tor zur Zerstörung. Der Alltag im Nationalsozialismus (Baden 1999), S. 33 und ZGIERSKI, Dominik, Die Kurstadt unter dem Kruckenkreuz. Gemeindepolitik in Baden während der österreichischen Diktatur 1933–1938 (Baden 2015), S. 150.
Kapitel 1 Unterwandert
wartet, endlich die Hakenkreuzarmbinde über den Oberarm zu ziehen, um endlich seine wahre Gesinnung offen ausleben zu dürfen, die den meisten der anderen Kollegen nicht unbekannt war. Alois Klinger, Chef der Stadtpolizei von Baden vor dem Anschluss, hatte an die 50 Polizeibeamte unter seinem Kommando. Laut ihm waren neun davon Illegale.5 Führende Nationalsozialisten innerhalb der Badener Sicherheitskräfte waren Rayonsinspektor Josef Heitzer und Rayonsinspektor Karl Pfeiffer. Beide handelten in den Jahren davor eidbrüchig und dienstwidrig. Beide verrieten und sabotierten zahlreiche Polizeiaktionen, die gegen illegal agierende Nationalsozialisten gerichtet waren. Zu dieser Truppe von Verrätern vor 1938 (nach 1938 waren es Widerstandskämpfer und Helden) gehörten noch die Polizisten Alois Dorfmeister und Georg Koch. Nach dem Anschluss wurden sie außerordentlich befördert und in der Badener Zeitung lobend hervorgehoben.6 Schützenhilfe und damit wertvolle Informationen erhielten die Badener Nationalsozialisten ebenso aus der Bezirkshauptmannschaft. Dort hatte sich Josef Dandl vom Kanzleigehilfen zum Regierungsinspektor hochgearbeitet. Seit 1935 stand er im ideologischen Sold der NSDAP. Seine Sympathien für die NS-Bewegung führten zu seiner Versetzung unter dem damaligen Bezirkshauptmann Adolf Pilz. Dandl ließ sich nicht beirren. Er unterstützte die SS finanziell und warnte so gut es ging stadtbekannte Badener Nationalsozialisten vor bevorstehenden Hausdurchsuchungen und sonstigen Ermittlungen. Er war nicht der Einzige in der Bezirkshauptmannschaft Baden, der der NS-Bewegung entgegenarbeitete.7 Dann gab es noch die ganz unverdächtigen NS-Sympathisanten wie den Badener Gemischtwarenhändler Karl Schwertführer, Parteimitglied seit 1924. In seinem Geschäft verkehrten örtliche Sicherheitsorgane. Arglos unterhielt sich der Geschäftstreibende mit dem Freund und Helfer, und durch geschicktes Fragen und die Leichtsinnigkeit des Gegenübers konnte Schwertführer so manch nützliche Information herauslocken. In einigen Fällen musste er gar nicht sonderlich nachbohren. Teilweise wurde gezielt etwas so nebenbei fallen gelassen. Seine Fähigkeiten brachten ihm einen Blockleiterposten, den er höchstwahrscheinlich ambitioniert nachging, bis zu seiner Einberufung. Er fiel im Februar 1941.8 Die Unterwanderung der Badener Sicherheitskräfte war ein offenes Geheimnis. Die Ehefrauen führender Nationalsozialisten in Baden beschrieben nach dem Anschluss genüsslich, wie hilflos und lasch fallweise die Ermittlungen vonstattengegangen waren. Als es zwischen 1933 und 1938 wieder einmal zu einer Streuaktion von Hakenkreuzen kam, diesmal beginnend vom Rudolfshof bis zum Kurparkeingang hinunter, trieb die Badener Polizei routinemäßig sämtliche stadtbekannte Nationalsozialisten zusammen, um den braunen Dreck wegzuräumen. Zeitgleich wurden die Wohnungen der Putzkolonne durchsucht. Neben Strenge und Schikane gab es durchaus wohlwollende Hausdurchsuchungen, wie es 5 6 7 8
Vgl. StA B, Neues Biographisches Archiv: Klinger Alois. Vgl. BZ Nr. 37 v. 07.05.1938, S. 3. Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten und Registrierungslisten: Dandl Josef (geb. 1894). Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Schwertführer Karl (1899–1941).
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Erster Teil Vorspiel und Einleitung
Hermine Turba-Sieber in Erinnerung verblieb. Ein Kriminalbeamter betrat ihr Haus, verkündete den Beginn der Hausdurchsuchung, nahm Platz beim Esstisch und hielt mit den anwesenden Damen bei Kaffee und Kuchen ein nettes Plauderstündchen. Danach blickte er auf seine Uhr, erhob sich und sagte: Die Hausdurchsuchung ist ergebnislos verlaufen – es ist Zeit das ich gehe.9 In den Gefängnissen sah es nicht besser aus bzw. für Nationalsozialisten sah es nicht immer so schlecht aus. Die Eingekerkerten konnten sich unter anderem auf den ehemaligen Gefängnismeister Alois Ernst und seine bevorzugte Behandlung verlassen. Als ehemaliger Gefängnismeister dankten ihm die neuen Herren nach 1938, hatte er doch die politischen Gemaßregelten der Bewegung in jeder Weise gefördert und unterstützt.10 Wie die Polizei waren die Wehrverbände des Ständestaates nicht gefeit vor Verrat und Unterwanderung. Als sich nach dem Anschluss ein Fackelzug formierte und losmarschierte, traf er am Wilhelmsring auf eine Abteilung der Ostmärkischen Sturmscharen, einem jener Wehrverbände des Ständestaates, die es eigentlich nicht mehr geben durfte. Seelenruhig zogen die beiden Kolonnen aneinander vorbei. Es war eine Kostprobe des groß angekündigten vaterländischen Widerstandes.11 Einer der Infiltranten war Johann Tonko. Seit 1922 stand er dem Nationalsozialismus nahe, war laut eigener Aussage Mitbegründer der NSDAP-Ortsgruppe Gumpoldskirchen und bis 1928 NSDAP-Gemeinderat. Dann trat er der Ortsgruppe Baden bei und erhielt die Mitgliedsnummer 82.769. Als im Juni 1933 das Betätigungsverbot über die NSDAP ausgesprochen wurde, zahlte Johann Tonko zwar keine Mitgliedsbeiträge mehr, doch spendete über das Maß des Mitgliedsbeitrags hinaus. Richtig konspirativ wurde es, als er gemeinsam mit seinem NS-Kameraden Emil Pfeiffer und dem Wissen Franz Schmids die Heimwehr infiltrierte.12 Und siehe da, 1936 wurde die Heimwehr aufgelöst. Für Tonko hieß es: Mission erfüllt! Guter Mann, dachte sich die örtliche NSDAP, der noch dazu einen lupenreinen Stammbaum bis zum Jahre 1760 nachweisen konnte. Doch nach dem Anschluss sorgte Trunkenheit dafür, dass seine Parteiarbeit und Disziplin stark nachließen. Johann Tonko sollte dahingehend kein Einzelfall bleiben – aber dazu später mehr.13 Betroffen waren nicht nur die Wehrverbände, sondern auch das Herzstück des Ständestaates, die faschistisch ausgerichtete und einzig verbliebene Partei/Bewegung, die „Vaterländische Front“ (VF). Durch das Beitreten ganzer Vereine, Verbände und Betriebe gliederte das Dollfuß/Schuschnigg-Regime selbst eigenhändig zahlreiche Nationalsozialisten und Sympathisanten in ihre Reihen ein. In Baden war es unter anderem Erwin Haller, Filialleiter einer Versicherung in Baden, der bereits 1931 der NSDAP beitrat, 1937 der VF und dort sogar den Posten eines Amtsleiters ergatterte – sprich ein Mitglied mit Funktion. 9 10 11 12 13
StA B, GB 052/Parteiformationen I; Fasz. III NSF/DFW; Erinnerungen an die Kampfzeit – Hermine Turba-Sieber (geb. 1906). StA B, GB 052/Personalakten: Ernst Alois (geb. 1900). Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 33. Emil Pfeiffer (geb. 1889). Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Tonko Johann (geb. 1891).
Kapitel 1 Unterwandert
Diese nutzte er nach bestem NS-Wissen und Gewissen, warnte NS-Anhänger vor anstehenden Verhaftungen und produzierte nebenbei in der Werkstätte seines Vaters ungestört Böller.14 Nicht viel anders agierte Viktor Liffka. Zwischen 1933 und dem Anschluss war er Bezirksführer des vaterländischen Gewerkschaftsbundes und Freiheitsbundes. Seine gewerkschaftliche Agenda nutzte er dahingehend, gegen in Haft befindliche Nationalsozialisten, bei dem damaligen Sicherheitsdirektor, Strafverfahren einzustellen oder mildere Strafausmaße zu erwirken. In einigen Fällen hat er sogar die Enthaftung durchgesetzt.15 Polizei, Verwaltung, Justiz – die Nationalsozialisten hatten in Baden überall ihre Leute. Nicht zu vergessen die Post. Eine Hochburg nationalistischer Aktivitäten, ob legal oder illegal, sowie Kaderschmiede bzw. Garant für zukünftige NS-Funktionen. Postdirektor Hans Hermann wurde Kreisleiter, Postbeamter Emil Pfeiffer kam im Rathaus unter und Franz Schmid wurde Bürgermeister. Als nach dem Betätigungsverbot der NSDAP 1933 die führenden Nationalsozialisten in Baden hinter Gitter oder grundsätzlich von der Bildfläche verschwanden, hielt Postamtmann Theodor Cappe weiterhin die Stellung. Aus Sicherheitsgründen stellte er die Mitgliedsbeitragszahlung ein. Es war ein formidabler Deal. Seine Informationen und sein konspiratives Treiben waren weitaus mehr wert als die paar läppischen Schillinge. Anfragen von Seiten der Sicherheitsorgane, ob es denn noch Nationalsozialisten bei der Post gäbe, wurden ohne Absprache mit seinem Vorgesetzten mit Nein beantwortet. Seine Dienste wurden mit der „Arisierung“ einer Wohnung am Kaiser Franz Josef-Ring 16 honoriert.16 Die jüdischen Bewohner, die Eheleute Olga und Wilhelm Mandl, wurden 1944 in Auschwitz ermordet.17 Während Theodor Cappe bei der Post seine Gesinnungsgenossen deckte, war es im Casino (einem Gemeindebetrieb) Alois Zänger, der schützend seine Hände über solche legte. Als Obmann der Vertrauensmänner und Amtswalter der Vaterländischen Front soll er sich sogar geweigert haben, dem Bezirksleiter der VF in Baden, Rudolf Woisetschläger, eine Liste der illegalen Nationalsozialisten auszuhändigen.18 So ein Verhalten war nichts anderes als Verrat und war eigentlich nicht vorgesehen. So dachten zumindest der damals 15 Jahre alte Viktor Wallner samt gleichaltrigen Gleichgesinnten. Als Jugendführer der Studentenkongregation wusste er in den Tagen vor dem Anschluss, dass die Existenz Österreichs auf dem Spiel stand. Schon zuvor hatte er neugierig beobachtet, welche Personen im Hotel „Stadt Wien“ am Hauptplatz bei einer illegalen NS-Veranstaltung zusammen finden würden. Am 11. März beabsichtigte er mit vaterländisch gesinnten Altersgenossen, die Schuschnigg-Abstimmung über das freie, unabhängige, selbstständige und auf
14 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Haller Erwin (geb. 1911). 15 StA B, GB 052/Polit. Beurteilung: Liffka Viktor (geb. 1892) – NSDAP Ortsgruppe Baden-Stadt an Kreisleitung (04.05.1939). 16 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Cappe Theodor (1885–1964) – Aussage vor dem Kreisgericht (26.02.1939). 17 Wilhelm Mandl (1892–1944), Olga Mandl (1890–1944). 18 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Zänger Alois (geb. 1907) – Bericht (31.05.1938).
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Erster Teil Vorspiel und Einleitung
ständischer Grundlage aufgebaute Österreich mittels Flugblättern zu bewerben. In der Braitnerstraße nahm die Aktion ihren Anfang, die Flugblätter wurden verstreut und verteilt. Doch plötzlich machte die Schuschnigg-Rede vom „Wir weichen der Gewalt“ die Runde. Die propagandistische Aktion bzw. der Widerstandsakt für das unabhängige, freie usw. Österreich war beendet. Viktor Wallner eilte nach Hause. Am nächsten Tag erblickte er von seinem Fenster aus einen Wachmann mit Hakenkreuzarmbinde. Ihm stockte der Atem, er befürchtete das Schlimmste. Doch der Wachmann ging nur am Haus vorbei und nicht hinein.19 Zum Widerstand bereit war genauso der nicht wesentlich ältere Alois Brusatti. Als Freiwilliger im Infanterie Regiment 4 (Hoch- und Deutschmeister) war er in Wien stationiert. Plötzlich wurde es ernst. Eine Verlegung an die deutsch-österreichische Grenze stand bevor, scharfe Munition war bereits verteilt. Gebunden an seinen Eid, waren er und all seine Kameraden bereit, gegen die deutsche Wehrmacht zu marschieren. Man wartete nur noch auf den Anpfiff. Doch die Stimmen aus dem Radio verhießen nichts Gutes. Die Situation verschlechterte sich zusehends für jenes Österreich, auf das er seinen Eid abgelegt hatte.20 Hier haben Sie, liebe Leser und liebe Leserinnen, übrigens die Antwort auf die weiter oben gestellte Frage, wer denn Widerstand hätte leisten sollen. Es wären zumeist ebenjene Jahrgänge gewesen. Jugendliche und junge Männer, die nichts besaßen außer ihren Idealismus und damit nichts zu verlieren hatten außer ihr Leben. Doch gehen wir noch einmal ein paar Stunden zurück. Die neunjährige Gertrud Maurer schrieb, nicht unweit des Pfarrplatzes wohnend, ihre Erinnerungen nieder, an eine dort zusammen gerottete Menschenmenge und ein nicht zuzuordnendes Geschrei und Geplärr. War der Mob für oder gegen den Anschluss? Es war für sie nicht herauszuhören. Wobei viel entscheidender war, ob die Mutter, auf die sie und der Vater warteten, sich durch die Menschenmenge durchwühlen würde. Was Gertrud Maurer noch beschäftigte, waren all die Hakenkreuzflaggen. Wo haben die Leute bloß die Hakenkreuzflaggen her, dachte sich die Neunjährige. Die waren doch schließlich verboten! Die Swastika war ihr nicht fremd. Einmal, nach einer illegalen NS-Streuaktion im Kurpark, hatte sie zahlreiche in einem Leiterwagerl aufgesammelt und nach Hause gebracht. Die Oma hatte unwirsch reagiert und das Sammelgut sogleich den Flammen übergeben.21 Vielleicht hätte Gertrud Maurer die Frage nach dem Ursprung der Hakenkreuzflaggen Justizinspektor Friedrich Heinz beantworten können. Am 11. März hisste er die Hakenkreuzflagge vom Balkon des Badener Rathauses. Die Flagge war offensichtlich griffbereit bei der Hand gewesen. Als Gerichtsbeamter hatte er zudem leichten Zugang zum Balkon und als eifriger Förderer der NSDAP, Mitglied eben dieser seit 1933, war es vermutlich nicht schwer, solch ein Ding aufzutreiben. Fast hätte ihm diese Tat eine Anzeige eingebracht. Seinem Vorgesetzten Richard Frank, Gerichtsvorsteher im Amtsgericht, missfiel die Aktion, deren 19 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 30 – Viktor Wallner (1922–2012). 20 Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 12. 21 Vgl. MAURER Rudolf, Privatarchiv, Das 1000-jährige Reich I, S. 3 und WIESER, Baden 1938, S. 31.
Kapitel 1 Unterwandert
zufälliger Zeuge er wurde, zutiefst. Er stellte Friedrich Heinz zur Rede und drohte mit Konsequenzen. Dass die Uhren nun anders liefen, bekam Richard Frank nicht mit. Er verpasste den Anschluss – er weilte derweilen im Kino. Von Richard Frank werden wir noch lesen.22 Nicht ganz von jeglicher Information abgeschnitten war Oberleutnant Richard Müller. Am 10. März 1938 wurde er zum Bezirksmilizadjutanten ernannt. Ganze acht Frontmilizionäre standen unter seinem Kommando. Um zwölf Uhr wurden die Jägermiliz und die Standmiliz ausgehoben. Am nächsten Tag, dem 11. März 1938, stand die Frontmiliz unter Waffen, verteilt im Bezirkskommando (Hötzdorfplatz 12a) und dem Hildegardheim. In welcher Stärke die Frontmiliz (ein Zusammenschluss aus sämtlichen zuvor aufgelösten Wehrverbänden) an diesem Tag auftrat, geben die Aussagen Müllers nicht her. Das Ortsmilizkommando bestand jedenfalls aus knapp 260 Milizionären.23 Um sechs Uhr abends stellte Müllers Vorgesetzter, Bezirksmilizkommandant Oberstleutnant Guido Kaiser, der hiesigen Gendarmerie seine Frontmiliz-Einheiten zu Verfügung.24 Doch gekämpft wurde nicht. Richard Müller in der Retrospektive: Nach 7 Uhr abends gab ich über Auftrag Kaisers an alle unterstehenden Dienststellen den Befehl zur Übergabe der Waffen an die SA weiter.25 Richard Müller war für die NSDAP kein Unbekannter. Er war früher selbst Parteimitglied und Obmann einer NS-Zelle innerhalb der Krankenkasse gewesen. Bis zum Verbot der Partei war er national bis nationalsozialistisch eingestellt, deckte Parteigenossen, spendete heimlich, ging als einziger Krankenkassenbeamter bei bekannten Nationalsozialisten einkaufen, und seine Frau versorgte den wegen NS-politischer Delikte siebenmal eingesperrten Franz Böheimer nicht nur mit Mehlspeisen, sondern ebenso mit den neuesten Dollfuß-Witzen und sonstigen Nachrichten bezüglich bevorstehender Aktionen gegen NS-Anhänger.26 Dermaßen gut infiltriert war es kein Wunder, dass die Machtübernahme in Baden fast reibungslos und fast ohne Widerstand über die Bühne lief. Fast, weil sechs abgefeuerte Schüsse aus einer Pistole am Abend des 11. März die „Anschluss-Ruhe“ störten. Der 22-jährige Student Rainer v. Kloss, Angehöriger der Frontmiliz, war der Einzige, der von der Waffe Gebrauch machte. Vor der Bezirkshauptmannschaft Baden (heute Bezirksgericht und Bundespolizei) fuhr ein LKW mit ca. zehn Milizionären vorbei, verfolgt von einigen stadtbekannten Nationalsozialisten. Sie forderten den Fahrer auf, stehen zu bleiben. Im dem Augenblick feuerte Rainer v. Kloss in Richtung der Verfolger. Es folgte eine Anzeige, eine Anklage, aber ein mildes Urteil, ein zu mildes in den Augen der SA. 15 Tage Gefängnis, 30 Schilling Strafe.27 Obwohl der die Verhandlung gegen Rainer v. Kloss führende Richter wenig später wegen staatsfeindlicher Betätigung bereits entlassen wurde, als CV‘ler sprach man ihm ohnehin jegliche Objektivität ab, blieb es in den Augen der SA ein Schand22 23 24 25 26 27
Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Heinz Friedrich (geb. 1902). Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 137. Guido Kaiser (1879–1956). StA B, GB 052/Personalakten: Müller Richard (geb. 1898) – Aussage (08.11.1938). Vgl. ebd. Franz Böheimer (geb. 1912) Aussage (03.11.1938). Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Kloss, Rainer v. (geb. 1916).
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Erster Teil Vorspiel und Einleitung
urteil sondergleichen. Wir ersuchen um Neuaufnahme des Verfahrens und strengste Bestrafung des Täters, da die Verwandtschaft zu habsburgischen Hoheit bestimmt kein Milderungsgrund ist, umsomehr als ganz Baden über das Urteil lacht und die SA als blamiert dasteht. Wie es in ähnlichen Fall den SA Leuten gegangen wäre, darüber glauben wir nicht sprechen zu müssen.28 Kloss‘ Mutter war eine Habsburgerin – dazu später mehr. * Es war eine Machtübernahme von oben, unten und außen. Die Ortsgruppen übernahmen die Macht in den Ortschaften, die neue Regierung in Wien übernahm den Bund, und von Deutschland kommend ergoss sich die deutsche Wehrmacht über die offenen Grenzen. Man träumte von einem Großdeutschen Reich und von den wirtschaftlichen Ressourcen, den Goldreserven und militärstrategisch neuen Basen. Der Ständestaat löste sich innerhalb kurzer Zeit restlos auf. Die Menschen verschwanden zwar nicht, aber von irgendwelchen Ständen, einem Ständestaat oder Sonstigem war nichts mehr zu hören. Der 16-jährige Hans Meissner wusste damals nicht wirklich, was es mit diesen Ständen des Ständestaates so richtig auf sich hatte. Er nahm an, dass das nicht einmal die Regierung wusste. Ein Regime, dem man auf weite Entfernung den Eifer ansah, es dem Mussolini und auch dem Hitler nachzumachen. Also Uniformen, Marschdisziplin beim sonntägigen Messebesuch, vormilitärische Erziehung. Aber nicht zu sehr.29 Das alles war passé, die österreichische „Spielerei“ mit dem Faschismus. Jetzt kam der Richtige. Arthur Seyß-Inquart, der seine Jugendjahre in Baden verbracht hatte, empfing die einmarschierenden deutschen Truppen als neuer Bundeskanzler. Am 13. März wurde das „Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ in der letzten Ministerratssitzung in Österreich beschlossen – sie dauerte fünf Minuten. Auf einmal war Seyß-Inquart nicht mehr Bundeskanzler, sondern nur mehr Reichstatthalter, und das nicht mehr von einer Bundesregierung, sondern einer Landesregierung. Einen Tag zuvor, am 12. März 1938, hatte der eigentliche neue Landeshauptmann in Niederösterreich, Gauleiter und Landeshauptmann Roman Jäger, sämtliche Mitglieder der alten niederösterreichischen Landesregierung entlassen und durch „Alte Kämpfer“ ersetzt. Dem Land folgten die Bezirke und die drei landesunmittelbaren Städte. In den Bezirken, 22 an der Zahl, wurden vorerst nur fünf neue Bezirkshauptmänner eingesetzt. Erst Anfang 1939 waren alle Bezirkshauptmänner Parteimitglieder oder Anwärter.30 Während die österreichischen Nationalsozialisten nun dachten, sie würden mit den Parteigenossen aus dem Altreich Politik auf Augenhöhe betreiben, wurden sie alsbald eines 28 StA B, GB 052/Personalakten: Rosensteiner Franz (geb. 1896) – Gedächtnisprotokoll s.d. 29 WIESER, Baden 1938, S. 35. 30 Vgl. JAGSCHITZ, Gerhard, Von der „Bewegung“ zum Apparat. In: TÁLOS, Emmerich, HANISCH, Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 88– 122, hier 109.
Kapitel 1 Unterwandert
Besseren belehrt. Die neuen Herren in Land und Gau, sei es Seyß-Inquart im deutschen Land Österreich oder Roman Jäger im Gau Niederösterreich, konnten sich nicht allzu lange ihrer neuen Machtstellung erfreuen. Der Gauleiter der Saarpfalz, Josef Bürckel, wurde als „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich“ eingesetzt und beschnitt damit zahlreiche Kompetenzen von Seyß-Inquart. Zuständig für den Anschluss waren ebenso das Reichsministerium für Inneres sowie weitere Behörden mit Sitz in Berlin. Der kühle administrative Vorgang – Absetzung/Neubesetzung – wurde mit allerlei Methoden vorangetrieben: Zuckerbrot und Peitsche, umfangreiche Propaganda, massiver Terror. Es herrschte eine Pogromstimmung vor, die von der Theorie jederzeit in die Praxis umschlagen konnte und es auch tat.31 Das führte dazu, dass in manchen Orten die NSDAP veranlasst war, gegen ihre eigenen Mitglieder vorzugehen. Die Büchse der Pandora war geöffnet. Es wurden Kräfte freigesetzt, die nicht mehr so leicht unter Kontrolle gebracht werden konnten. Gehen wir nun genauer auf diese Gewalt ein und vergessen dabei nicht die Gleichzeitigkeit von Jubel, Euphorie, Gewalt, Angst, Hoffnung auf ein neues Leben bzw. Hoffnung, dass die Gewalt bald vorbeigehen würde. Sehen wir uns anhand von Baden an, wie Menschen in provisorischen Lagern wie dem Rathauskeller gefoltert, wie jüdische Wohnungen und Häuser geplündert, wie diese Gewaltorgien in der Kurstadt Wirklichkeit wurden. Die Opfergruppen der Anschlusszeit (Tage und Wochen) waren hauptsächlich Juden und Vertreter des Ständestaates und Menschen, die zuvor Nationalsozialisten denunziert und sonst wie schikaniert hatten. Es waren vor allem diese Personen, die in ihren NS-Beurteilungen den Stempel eines gehässigen Gegners erhielten. Als Quelle für die Gewaltorgien in den ersten Anschlusstagen dienen Gerichtsakten nach 1945. Darin sind zahlreiche Polizeiakten, Verhörprotokolle, Zeugenaussagen und vieles mehr zusammengetragen worden. Darin lesen wir von all den Verbrechen der Anschlusstage – so wurden von den radikalen Anhängern der NSDAP und ihrer Gliederungen […] förmlich Hetzjagden (Pogrome) durchgeführt, wobei die Juden als wie das Schlachtvieh auf den großen Lastautos durch die Stadt gefahren wurden.32 Aber wir haben nicht nur Schriftgut zur Verfügung. Die Gewalt gegenüber jüdischen Mitbürgern in Baden ist durch zwei Fotografien eingefangen worden. Es sind zwei Fotos, die bereits zahlreich präsentiert und publiziert wurden und die für den interessierten Badener nichts Neues darstellen – es sind zwei Darstellungen von einer sogenannten Reibpartie 31 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 76 und MULLEY, Klaus-Dieter, Niederdonau: Niederösterreich im „Dritten Reich“ 1938–1945. In: EMINGER, Stefan, LANGTHALER, Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik (Wien, Köln Weimar 2008), S. 73–103, hier 75f und TÁLOS, Emmerich, Die Etablierung der Reichsgaue der „Ostmark“ sowie SELIGER, Maren, NS-Herrschaft in Wien und Niederösterreich, beide in: TÁLOS, Emmerich, HANISCH, Ernst et. al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 237–259, hier 238 und 253 und S. 55–72, hier 58f. 32 StA B, GB 052/Personalakten: Grundgeyer Hans (1896–1968) – Stadtpolizei Baden an Landesgericht Linz s.d.
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(Juden mussten die Straßen reiben). Es sind zwei Szenen, einmal sieht man das Geschehen eher zerstreut, auf dem anderen Foto stehen die Personen näher beieinander. Neu ist hingegen der Akt zu den Fotos, entstanden nach 1945, der die Entstehungsgeschichte schildert. Die Zeugenaussagen stammen von Ludwig Reisz (einem der Opfer) und dem Radiotechniker und KZ-Überlebenden Heinz Klisowski. Die Aufnahme wurde durch den Badener Photographen Rudolf Novotny erstellt. Die Opfer, es sind vier jüdische Männer, wurden von dem Gendarmen Emmerich Haberl abgeholt. Beaufsichtigt wurden sie dann unter anderem durch den Kaufmann SA-Sturmführer Hans Grundgeyer, den Obsthändler SS-Unterscharführer Josef Schmidt und den arbeitslosen SS-Mann Arnold Hrusa. Alle drei sind auf den Bildern zu sehen. Alle drei waren überzeugte und radikale Nationalsozialisten.33 Die Opfer sind Rudolf Ungar, Hersch/Hirsch Eisner, einer der beiden Söhne des Frauenarztes Dr. Marcus Steinsberg – entweder Friedrich Steinsberg (geb. 1908) oder Erich Steinsberg – und der besagte Ludwig Reisz;34 Letzterer ein Kriegsveteran und ausgezeichnet mit einer Tapferkeitsmedaille. Als tschechischer Staatsbürger wies Reisz damals seinen Pass vor, im Glauben, dadurch der Gewalt zu entkommen. Doch die Täter ließen sich davon nicht beirren. Neben ihrem Sadismus gehörte Zynismus genauso zu ihrem Wesen. Sinngemäß erwiderten sie auf seine Handlung: Wegen dem bisschen Straßenreiben werde die Tschechoslowakei dem Großdeutschen Reich schon nicht den Krieg erklären.35 Nicht weniger zynisch ging es bei seinem Verhör zu, als die NS-Schergen von ihm, als Mitglied der jüdischen Frontkämpfer-Vereinigung, wissen wollte, wo jene die Waffen versteckt hatten. Als Ludwig Reisz erwiderte, man sei ein reiner Kameradschaftsverband, soll SS-Unterscharführer Adolf Holzer entgegnet haben: Wir haben auch behauptet das wir keine Waffen haben, trotzdem haben wir welche verborgen gehabt.36 Auf den Reibpartie-Fotos, es gibt zwei Einstellungen, sehen wir, wie die vier Männer den Pfarrplatz mit Laugenessenz reinigen mussten. Ein Teil der Zuschauer wird im Akt namentlich genannt – wobei man sich nicht bei allen sicher war. Sicher ist nur, dass Ludwig Reisz die Ätznarben nie mehr loswurde. Unter vielen Augenpaaren schrubbten die vielen Badener Opfer die Straßen der Kurstadt. Eines der Augenpaare gehörte Gertrud Maurer, die an jenem Tag mit ihrer Mutter zum Kurpark unterwegs war. Sie trafen am Pfarrplatz auf Frauen, die mit Kübeln und Reibbürsten in ihren Händen den Kirchenplatz aufwuschen. Als Gertruds Mutter darunter eine gute Bekannte erblickte, sprach sie sie an. Die Angesprochene gab sich bedeckt. Sie riet, davon lieber Abstand zu nehmen, dadurch könnte man ihr und sich selbst wahrscheinlich 33 Ludwig Reisz (geb. 1895), Rudolf Novotny (1886–1972), Emmerich Haberl (geb. 1910). 34 Rudolf Ungar (geb. 1908), Hersch/Hirsch Eisner (geb. 1880), Dr. Marcus Steinsberg (1876– 1939), Friedrich Steinsberg (geb. 1908), Erich Steinsberg (geb. 1911). 35 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Grundgeyer Hans – Stadtpolizei Baden an Landesgericht Linz s.d. 36 StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Holzer Adolf (1896–1976) – Aussage Reisz (13.03.1947).
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Unannehmlichkeiten ersparen.37 Die neunjährige Tochter fragte nach, wie das Gesehene zu deuten sei. Die Mutter versuchte es ihr zu erklären, eigentlich lauter feine Damen. Die Nazis aber wollten nicht, dass Juden neben Deutschen wohnten, und versuchten daher, sie mit allen möglichen Schikanen hinauszuekeln.38 Von weiteren „Reibpartien“ berichtete der Badener Buchautor Kornelius Fleischmann. Ecke Annagasse und Antonsgasse wurde er Zeuge, wie Cilli Rausnitz und ihre Tochter Jenny Rausnitz, beide vom koscheren Restaurants Rausnitz, zwei Kruckenkreuze unter Tränen von der Straße schrubben mussten. Beiden gelang die Flucht nach Shanghai.39 Um die 20 bis 30 Personen standen rundherum, eher still, erinnerte sich Cornelius Fleischmann. Nur ein paar höhnten und gaben im schönsten Dialekt von sich: Daß aa amoi wißts, wos orwaten haaßt … u.ä.40 Die gleichen Szenen spielten sich Ecke Neustiftgasse/Wassergasse ab. Jüdische Männer und Frauen mit Reibbürsten schrubbten die Pflastersteine, Wasser holten sie mit Kübeln aus dem Mühlbach.41 Hilfe war keine zu erwarten, zu groß war die Angst gleich mitmachen zu müssen. Widerstand fand in Form von Passivität statt, man wohnte dem Treiben nicht bei, man war kein Schaulustiger, man wollte dieses abscheuliche Spektakel nicht mit ansehen und ging vorbei – vielleicht nur ein kurzer Blick aus dem Augenwinkel. Das diese Aktionen nicht jedermanns Sache waren, war dem NS-Regime klar. Für Ablenkung musste gesorgt werden. Während die jüdischen Mitbürger gedemütigt wurden, rollten zur gleichen Zeit die Gulaschkanonen durch die Straßen. Ein genialer PR-Schachzug. Für Alt und Jung, vor allem für die Hungrigen.42 Für die Gewalt in Baden waren zahlreiche Akteure verantwortlich. Als Organisator auf Kreisebene finden wir Kreisleiter Franz Eckel. Er war allerdings bei weitem nicht der Einzige, der massive Gewalt anwendete bzw. anwenden ließ. In Baden fand sich dahingehend eine Gruppe von Männern zusammen, die für ihre Formation die Bezeichnung „Exekutivkomitee“ auserkoren – man kann durchaus von einer sadistischen Terrorgruppe sprechen. Zu diesen Männern gehörten stadtbekannte Nationalsozialisten, die sich bereits durch zahlreiche terroristische Aktionen einen Namen gemacht hatten. Es war eine Truppe aus verschiedenen Einheiten der SS, SA, Polizei, Hilfspolizei usw. Eine Hierarchie oder sonstige Struktur war nicht eindeutig ersichtlich, keine klaren Aufgabenbereiche, keine geregelten Befugnisse. Die „Mitgliedschaft“ war temporär, je nach Selbstbezeichnung bzw. Fremdwahrnehmung. An führender Stelle, so die Aussagen mehrerer Zeugen, stand Rudolf Schwabl – auf den wir noch gesondert eingehen werden.43 Brutalität, Illegalität, Skrupellosigkeit war das gewünschte Persönlichkeitsprofil, um bei dieser Truppe mitmachen zu 37 38 39 40 41
Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 32. MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 9. Cilli Rausnitz (geb. 1872), Jenny Rausnitz (1910–1988). WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 39 – Kornelius Fleischmann (1923–2018). Vgl. WOLKERSTORFER, Otto, Baden 1940. Das erste Kriegsjahr. Die innere Front (Baden 2000), S. 44. 42 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 89. 43 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf (1894–1955).
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dürfen. Man brauchte Charaktere, die nicht davor zurückschreckten, andere Menschen mit Dachau oder sonstigen KZ-Lagern zu bedrohen. Es waren Menschen, die fähig waren, andere Menschen zu berauben, mit Fäusten, Fußtritten und Ruten zu traktieren, sie in provisorische Lager und Gefängnisse zu verschleppen, einzupferchen und dort nach Herzenslust zu foltern. Zu ihnen gehörten der Kraftfahrer SA-Truppführer Franz Rosensteiner, 1932 der NSDAP und SA beigetreten, mit dem Rufnahmen „Strolch“ und „Der Wilde“ – Nomen est Omen bei 15 Vorstrafen. Er durfte aufgrund seiner Aktivitäten das Haus von Elise Kuhn in der Schlossgasse 10 um 7.700 RM arisieren. Elise Kuhn wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und ermordet.44 Weitere Exekutivkomitee-Kumpane waren SA-Truppführer Robert Hilgarth, Illegaler, SA-Mitglied seit 1933, Parteimitglied seit 1938.45 Der Schlosser Theodor Nachtnebel, Parteimitglied seit 1932, SA seit 1933, Illegaler, von 1935 bis 1938 Angehöriger der österreichischen Legion.46 SA-Sturmführer Heinrich Bozek, Parteibeitritt 1933, Illegaler und Propagandaführer im Bezirk, Ariseur, Sprengstoffattentäter, mehrmals verhaftet und in Wöllersdorf interniert und dadurch wohlverdienter Blutordensträger. Dermaßen hoch dekoriert, wies er selbst nach dem Anschluss keinerlei Hemmungen auf, im alkoholisierten Zustand auf reguläre Polizeieinheiten loszugehen.47 Einer, der das Sagen hatte, war SAStandartenführer Otto Strohmayer – auch zu ihm später mehr. Gemeinsam mit den oben Genannten fuhren sie motorisiert plündernd und raubend durch Stadt und Bezirk. Als nächstes haben wir SS-Rottenführer Erwin Osel. Seit 1932 bei der SS und Illegaler.48 Der Fleischhauer SA-Scharführer Karl Wiskocil, HJ seit 1923, seit 1934 SA und NSDAPMitglied, Illegaler, Alter Kämpfer und Ariseur. Er war Hausbesorger in der Marchetstraße 2 von Dr. Anton Attems. Dieser Mann, der uns später noch sehr oft über den Weg laufen wird, gehörte zu den „Edelnazis“ der Kurstadt. Als Graf zur Welt gekommen, schlug er die juristische Laufbahn ein, war Mitglied des NS-Rechtswahrerbundes (NSRB), Rechtsberater der NSDAP in Stadt und Kreis und alter Parteigenosse. Zuständig für Enteignungen jüdischer Menschen, wurden zahlreichen „Arisierungen“ und Liquidierungen über seinen Schreibtisch abgewickelt. Zu seinen Waffen gehörten sein juristisches Fachwissen und die Feder, mit der er Unterschriften setzte, die zur wirtschaftlichen bis hin zur physischen Vernichtung reichten.49 Beide Männer, Attems und Wiskocil, bildeten ein kongeniales Team. Der Hausbesorger und Fleischhauer übernahm für den Grafen die Drecksarbeit und profitierte dafür mit „Arisierungs-Insiderwissen“. So arisierte Wiskocil 1938 die Wohnung von
44 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Rosensteiner Franz (geb, 1896) und NS-Karteikarten groß und www.jewishhistorybaden.com/people (12.10.2019). 45 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Hilgarth Robert (1905–1977). 46 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Nachtnebel Theodor (geb. 1909). 47 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Bozek Heinrich (1905–1984). 48 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Osel Erwin (1911–1994). 49 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Attems Anton (geb. 1899).
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Siegfried Teltscher am Rainer Ring 2, beschlagnahmte eine größere Menge an Schmuck und Bargeld und er arisierte zusätzlich noch die Fleischhauerei Schabes, ebenso Rainer Ring 2 und zwar auf ganz brutale Art und Weise und selbst mit Umgehung der bei den Arisierungen üblichen Formalitäten […].50 Den Opfern, dem Ehepaar Friedrich Schabes und Regina Schabes, sowie ihren Kindern Joseph, Lotte und Alfred gelang vorerst die Flucht nach Belgien, wo sie allerdings nach dem Einmarsch der Wehrmacht getrennt und nach Frankreich deportiert wurden.51 Vater und Sohn Josef kamen in zwei verschiedene Konzentrationslager, während sich der Rest der Familie in Antwerpen verstecken konnte. Bis auf die Tochter, Lotte, die wegen einer Infektion und der mangelnden medizinischen Versorgung 1940 ihr Leben lassen musste, gelang dem Rest der Familie die Flucht über die Schweiz nach Portugal und dann in die USA.52 Weitere Mitglieder des Exekutivkomitees waren der öffentlich belobte und ausgezeichnete Bahnbeamte SA-Haupttruppführer Franz Küttlas. Parteigenosse seit 1922 bis 1927, danach wieder 1932 der NSDAP und gleichzeitig der SA beigetreten, Illegaler mit Hafterfahrungen in den Jahren 1934/35, Waffenmeister der SA und SA Dienstführer in den Anschlusstagen.53 Markthelfer SS-Unterscharführer Josef Schmidt, Spitzname „G’schnellter“, seit 1935 bei der NSDAP und SS, 1937 in Wöllersdorf interniert, SS-Ehrenwinkelträger, tobte er sich zuerst in Baden aus, ließ sich dabei ablichten (Reibpartie-Fotos), danach wechselte er als Wache ins KZ Gusen. Laut eigener Aussage sei er dort bloß Kraftwagenlenker gewesen, mit Unterbrechungen von 1940 bis 1942. Es liegt eine Dienstzeitbescheinigung aus Gusen vom Februar 1943 vor, ausgestellt vom Führer der 3. Kompanie KLM/Gusen.54 Der ebenso am Reibpartie-Foto verewigte SA-Sturmführer Hans Grundgeyer war der nächste im Bunde. Soldat im Ersten Weltkrieg, trat er 1933 der NSDAP bei, wurde nach dem Anschluss Blockleiter sowie Ratsherr (Gemeinderat) und trat der NS-Volkswohlfahrt (NSV), dem Deutschen Roten Kreuz (DRK), dem Reichskriegerbund, dem Reichskolonialbund bei und galt in jeder Beziehung als tadelloser und vollkommen einwandfreier Parteigenosse, ob nun politisch oder moralisch.55 Von ähnlicher Gewaltbereitschaft war Herbert Eywo, Partei- und SA-Mitglied seit 1932, Illegaler, mit dem Ruf eines Böller- und Bombenwerfers und in der Kreisleitung als Kreisamtsleiter sowie Kreishauptstellenleiter tätig. Er war beteiligt an der Sprengung der Klosettanlage am heutigen Kaiser Franz-Ring, bei der Teile der Anlage über die Kirche bis in die Gärten in der Antonsgasse geschleudert wurden. Nach dem Anschluss stahl er mit 50 StA B, GB 052/Personalakten: Wiskocil Karl (1909–1984) – Amtsbericht Klinger (16.06.1946) und GB 054/Registrierungslisten. 51 Friedrich Schabes (geb. 1890), Regina Schabes (geb. 1896), Joseph (geb. 1922), Lotte (geb. 1920), Alfred (geb. 1926), Siegfried Teltscher (geb.1875). Die Geburtsdaten weichen je nach Quelle um ein Jahr plus-minus ab. 52 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/city (10.04.2023). 53 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Küttlas Franz (1900–1976). 54 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Schmidt Josef (geb. 1911). 55 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Grundgeyer Hans (1896–1968).
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gleichgesinnten Kameraden das Auto des Hauptgruppenleiters der Vaterländischen Front und späteren Bürgermeisters Badens Julius Hahn, um damit das brennende Anhalterlager Wöllersdorf zu bestaunen und im Bezirk Baden jüdische Geschäfte auszuplündern.56 Davon betroffen waren das Kaufhaus Lichtblau in Teesdorf sowie das Schuhgeschäft von Fritz Bischitz in Oberwaltersdorf.57 Betrachten wir die Altersstruktur des Exekutivkomitees, so gehörten die Teilnehmer zumeist der zweiten Generation von Nationalsozialisten an. Während die erste Generation (vor 1900 geboren) zumeist bürgerlich sozialisiert war (Bauern, Gewerbetreibende, Lehrer, Gemeindebedienstete usw.), gehörten die Jahrgänge nach 1900 mehr dem proletarischem Milieu an (Landarbeiter, Hilfsarbeiter usw.). Sie agierten weitaus aktionistischer und gewalttätiger.58 * Die Gewalt durfte schon am Abend des 11. März ihren Lauf nehmen. Um acht Uhr abends saßen acht Männer im Cafe Ebruster – Männer, die sich dem Exekutivkomitee zugehörig fühlten. Dann kam ein Anruf. Sie erhielten die Order, bei der Stadtpolizei zu erscheinen. Dort angekommen, erwartete sie der Polizeibeamte Karl Pfeiffer und wies auf eine bevorstehende Hausdurchsuchung hin. Josef Tilp, ehemaliger Bürgerschuldirektor, ein entschiedener Gegner der NS-Bewegung, der NS-Sympathisanten mit Anzeigen bedachte, stand in Verdacht, Waffen zu besitzen. Bei diesem Verdacht handelte es sich um eine Tatsache, er hatte schließlich einen gültigen Waffenpass. Mehrere Wagen fuhren vor seinem Haus in der Habsburgerstraße 52 vor. An die fünfzehn Personen sollen an der Hausdurchsuchung beteiligt gewesen sein. SS, SA, Polizisten, Hilfspolizisten und sonstige Personen, die sich hierzu für befugt hielten, darunter die üblichen Verdächtigen. Die registrierten Waffen wurden sichergestellt. Josef Tilp musste auf die Polizeistation mitkommen. Das Opfer schilderte nach 1945 eingehend den gesamten Tathergang. Während ich mich ankleidete, schlugen sie mich mit Stahlruten in’s Gesicht, während ich mich beim Anziehen der Socken und Schuhe bückte, damit ich nicht sehen konnte, wer es tat. Nachdem ich mich angezogen hatte, versuchten sie mich über die Stiege hinabzustoßen und im Hofe niederzuwerfen, was ihnen aber nicht gelang. Dabei wurden mir der Kragen und die Krawatte heruntergerissen und auf der Straße weggeworfen. Sie wurden beim Heurigen-Habres in der Habsburgerstraße 60 als Siegestrophäen herumgezeigt. […] Während der Fahrt wurde mir vom Wiskocil fortwährend der Revolver an die Schläfe gehalten. Auf der Polizei angekommen, musste der damalige Stadtarzt Dr. Otto Mayer gerufen werden, der mich behandelte, da 56 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Eywo Herbert (geb. 1912). 57 Fritz Bischitz (geb. 1904). 58 Vgl. PFEFFERLE Roman, Politische Kultur in Niederösterreich: Kontinuitäten und Brüche. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik (Wien/Köln/Weimar 2008), S. 337–371, hier 377f.
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ich stark blutete, Hemd und Kleider waren besudelt.59 Seine Ehefrau, Friederike Tilp60, musste mit ansehen, wie mein Mann unter allerlei Geschimpf und Schmähungen beim Anziehen der Schuhe von 3 Männern mit Stahlruten derart geschlagen wurde, dass er von Mund und Nase blutete und im Gesicht Spuren der Misshandlungen aufwies.61 Danach, ihr Mann war bereits verschleppt, stellte sie zu Hause fest, dass Schmuck geraubt worden war. In dieser Zeit fielen bei manchen Menschen sämtliche Schranken. Mitglieder des Exekutivkomitees drangen am 15. März nachts in die Wohnung von Edmund Wendl und Rosa Wendl ein. Zuerst wollte man den Opfern einreden, dass man für den Fuhrmann eine Fuhre hätte und er herauskommen solle. Glauben schenkte er dem Gesagten nicht, die Tür blieb verschlossen. Doch die Nachbarin von oben warf den Tätern den Haustürschlüssel zu. Die Bande stürmte in die Wohnung und begann augenblicklich, auf das Ehepaar Wendl einzuschlagen. Obwohl ich noch im Nachthemd war, so misshandelten Hilgarth Robert und seine Komplizen mich derart, dass mir die Zähne im Oberkiefer abgesprengt und im Unterkiefer links mehrere Zähne ausgeschlagen wurden. Ebenso wurden meiner Ehefrau Rosa Wendl mehrere Zähne ausgeschlagen. Dabei tat sich Robert Hilgarth besonders hervor. Er hat mich, als ich bereits auf dem Boden lag, in bestialischer Weise mit den Füßen ins Gesicht getreten und war hauptschuldtragend an den schweren Verletzungen. Das Martyrium hatte erst begonnen. Anschließend wurde er ins Rathaus verschleppt, wurde gezwungen, sich auszuziehen, und sodann im Polizeiarrest unmenschlich misshandelt, so dass ich am ganzen Körper ganz blau und grün war und mich gar nicht rühren konnte. […] woselbst ich mit Ochsenziemern etc. derart misshandelt wurde, so dass ich meinen Verstand, bzw. Gedächtnis verloren hatte. […] Als ich nach einigen Tagen aus dem Polizeiarrest entlassen wurde, so musste ich infolge einer Erpressung vor dem Polizeiinspektor Josef Heitzer etc. im Amtszimmer Nr. 28, einen Akt unterschreiben, dass ich im Rathaus etc. nicht misshandelt wurde, ansonsten komme ich nicht mehr lebend aus dem Rathaus hinaus.62 Wendl war ein bekennender Kommunist und Gegner der Nationalsozialisten. Doch das alleine war nicht der Grund für diese Aktion, so seine Vermutung nach 1945. Er nahm an, dass einfache Rachemotive dahintersteckten. In den 30er Jahren führte eine Aussage seinerseits dazu, dass die Nationalsozialisten Josef Schmidt und Franz Rosensteiner in Wöllersdorf landeten. Nach dem Anschluss war es mit dem sichergestellten Aktenmaterial für die SS- und SAMänner ein Leichtes, festzustellen, wessen Aussagen sie Wöllersdorf zu verdanken hatten. Robert Hilgarth gab nach 1945 zu Protokoll, wie er in die Polizeidienststelle marschierte, seinen Polizeiakt verlangte und die dienstführenden Polizisten Johann Ullmann und Franz
59 StA B, GB 052/Personalakten Schwabl Rudolf – Josef Tilp (1874–1957) Aussage (14.01.1946). 60 Laut Meldezettel wurde Friederike Tilp 1880 geboren, laut dem Grabstein am Helenenfriedhof finden sich jedoch folgende Lebensdaten: 1877–1966. 61 StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf – Friederike Tilp Aussage (02.06.1946). 62 Ebd. – Edmund Wendl (geb. 1910) Aussage (15.02.1946), Rosa Wendl (geb. 1911) und auch in den Personalakten von Hilgarth Robert.
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Kopetzky ihm ohne Umschweife die verlangten Unterlagen aushändigten.63 An die Aktion bei Wendl konnte er sich noch erinnern. Doch von Folter wusste er nichts mehr. Nur ein paar Ohrfeigen sollen gefallen sein, nachdem es zu einem Streitgespräch gekommen war – aber nicht mit ihm. Er selbst hätte nichts getan. Und außerdem: Bei der Einvernahme durch die Kriminalpolizei war ich nicht mehr anwesend und habe ich mich schon vorher nach Hause begeben.64 Rache war auch bei dem ehemaligen Krankenkassendirektor Johann Lang im Spiel. 1934 beobachtete er, wie bei der Krankenkasse eine Hakenkreuzflagge gehisst wurde. Den Ausführenden, wiederum Robert Hilgarth, stellte er gleich zur Rede. Die Rache erfolgte nach dem Anschluss. Robert Hilgarth und Franz Rosensteiner stürmten die Wohnung von Johann Lang, beschimpften, bedrohten und verschleppten ihn in den Rathauskeller, wo er verhört und misshandelt wurde. Dazu sein Schwager Hermann Pöhnl: Abschließend bemerke ich, dass mein Schwager seit Juli 1938 tot ist und zwar derselbe an den Folgen der Aufregung und Schikanen verstorben.65 Am selben Tag, dem 14. März 1938, als Edmund Wendl verschleppt und gefoltert wurde, sollte es Dr. Franz Rottenberg nicht besser ergehen.66 Jüdischer Abstammung, aber katholisch getauft – was für das NS-Regime bedeutungslos war –, Direktor der Kreditanstalt in Wien und wohnhaft in Baden, Elisabethstraße 45, zählte er in den Augen der Nationalsozialisten zu dem Archetypen eines Geldjuden. Bei der Hausdurchsuchung, durchgeführt durch die Gendarmerie und vier SA-Männer, wurden ungefähr eine halbe Million Schilling (die Geldmengen variieren in den Aufzeichnungen) sowie Gold und Silber (angeblich fünf Kilo) beschlagnahmt. Die Hausdurchsuchung erfolgte aufgrund einer Anzeige des Gärtners Franz Moidl, der sich auf diesem Umwege aufgrund schlechter Behandlungen durch seinen Dienstherren an diesem rächen wollte. Es ist anzunehmen, dass das NS-Regime auch so an die Tür Rottenbergs geklopft hätte. Rottenberg musste mitkommen. Laut den Ermittlungen Alois Klingers (Chef der Polizei vor 1938 und nach 1945) wurde das Opfer auf einen LKW verladen, zuerst in die Bahngasse 14 zur Gendarmerie-Postenkanzlei gebracht, um ein Protokoll aufzunehmen, um danach ins Bezirksgericht überstellt zu werden. An der Straßenkreuzung Wasser-, Breyer- und Grabengasse erhielt der so Eskortierte von einem der 3 Gendarmen einen derartigen Stoß in den Rücken, so dass er vom rasenden Auto kopfüber auf das Straßenpflaster stürzte und beinahe den Tod gefunden hätte. Es wurde ihm dabei der rechte Arm dreimal gebrochen. Trotz den fürchterlichen Schmerzen wurde der Schwerverletzte in den Arrest des Bezirksgerichtes Baden eingeliefert […]. Der gerufene Stadtarzt Dr. Theodor Leyerer untersuchte ihn oberflächlich und erklärte, dem Rottenberg fehle nicht viel und der Vorfall lasse sich mit der Verabreichung von einem Aspirin aus der Welt schaffen. Herr Hofrat Dr. Rottenberg musste weiter unter großen Qualen in seiner Zelle verbleiben und letztere mit 63 Johann Ullmann (geb. 1883), Franz Kopetzky (geb. 1883), Johann Lang (1881–1938), Hermann Pöhnl (geb. 1898). 64 StA B, GB 052/Personalakten: Hilgarth Robert – Aussage (31.10.1945). 65 Ebd. – Hermann Pöhnl (geb. 1898) Aussage (06.08.1945). 66 Franz Rottenberg (geb. 1880).
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einem Schwerverbrecher teilen, welcher sich menschenfreundlicher zeigte.67 24 Stunden später war er frei. Seine Freiheit – von Freiheit zu schreiben mag zwar zynisch klingen, aber Dachau war eine angedrohte Option – erlangte er durch die Zahlung von 50.000 Schilling an den Wiener SA-Führer Hermann Reschny. Zurück in seiner Villa wurde er vom Arzt Theodor Leyerer aufgesucht, der erst dann den dreifachen Armbruch konstatierte.68 Die angeführten Opfer waren bei weitem nicht die einzigen, die brutale Gewalt über sich ergehen lassen mussten. In der Zeit vom 12. März bis zum 10. April wurde an die 70 Personen aufgrund ihrer politischen Einstellung, rassistischer Klassifizierung oder gewöhnlicher Racheaktionen verhaftet, verschleppt, bedroht und misshandelt. Darunter, auch wenn sich ein paar Namen wiederholen, waren Bürgermeister Josef Kollmann (geb. 1868), Gymnasiumdirektor Otto Sulzenbacher (geb. 1881), Oberstleutnant Richard Kiefhaber-Marzloff (geb. 1880), Sparkassendirektor Rudolf Woisetschläger (geb. 1886), Schlossermeister Rudolf Stricker (geb. 1882), Professor Dr. Franz Rottenberg (geb. 1880), Bauarbeiter Friedrich Weigl (geb. 1900), Angestellter Josef Dorbetz (geb. 1896), Sekretär Johann Hallenstein (geb. 1905), Beamter Gustav Dem (geb. 1902), Steuerbeamter Friedrich Modena (geb. 1902), Kaufmann Ludwig Reisz (geb. 1895), Schuldirektor Josef Tilp (geb. 1874), Gärtnergehilfe Johann Gleichweit (geb. 1900), Vizebürgermeister Dr. Julius Hahn (geb. 1890), Professor Josef Lewandowski (geb. 1884), Maurer Franz Dobner (geb. 1891), Maurerpolier Franz Klinger (geb. 1893), Hilfsarbeiter Ernst Leeb (geb. 1899), Student Rainer v. Kloss (geb. 1916), Kaufmann Anton Schilcher (geb. 1872), Angestellter Alexander Todorovic (geb. 1901), Professor Dr. Erich Christl (geb. 1902), Dachdeckermeister Alois Beck (geb. 1886), Oberlehrer Ferdinand Wohlschlager (geb. 1887), Justizminister Adolf Pilz (geb. 1877), Stadtpolier Anton Ploss (geb. 1890), Richter Dr. Wilhelm Malaniuk (geb. 1906), Radiomechaniker Otto Totzauer (1905–1977), Beamter Franz Cap (1898–1956), Postdirektor Heinrich Rosenfeld (geb. 1882), Buchalter Franz Graf (geb. 1895), Franz Satre (geb. 1901), Angestellter Franz Opavsky (geb. 1880), Croupier Karl Uhlik (geb. 1904), Schneider Franz Ehrenhauser (geb. 1910), Kaufmann August Peischl (geb. 1909), Fritz Stambach (geb. 1880), Beamter Gustav Pillhofer (geb. 1907), Kanzleigehilfe Friedrich Steiner (geb. 1904), Staatsanwalt Dr. Ernst Frieders (1882–1946), Rittmeister a.D. Ernst Morgenstern (geb. 1890), Anstreicher Franz Blank (geb. 1889), Kaufmann Armin Koller (geb. 1893), Pensionist Ignaz Fekete (geb. 1860), Pensionist Viktor Domenego (geb. 1875), Fuhrwerksunternehmer Georg Gehrer (geb. 1884), Kaufmann Erich Lemberger (geb. 1914), Kaufmann Ignaz Rado (1883), Arzt Dr. Oskar Sgalitzer (geb. 1887), Sekretär Johann Weingrill (geb. 1894), Hilfsarbeiter Franz Malina (geb. 1903), Kaufmann Günther Franz (geb. 1900), Franz Pavelka (geb. 1897), Sensenschmied Friedrich Aberl (geb. 1911), Lehrer Johann Tomenendal (1905–1981), Direktor Johann Lang (geb. 1881), Beamter Fritz Wendl (geb. 1895), Hilfs67 StA B, GB 052/Personalakten: Moidl Franz (geb. 1891) – Niederschrift Alois Klinger (27.08.1945). 68 Theodor Leyerer (1904–1991).
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arbeiter Karl Klima (geb. 1898), Sekretär Leopold Fischer (geb. 1903).69 Süffisant wurde dieses Treiben in einem Brief unter Freunden wiedergegeben: Der liebe dicke Kollmann, ehem. Bürgermeister von Baden, ist auch mit ein paar Ohrfeigen von Pg. Schmidt (Post) ins Gefängnis befördert worden. Die Kittchen sind jetzt voll von Schwarzen Brüdern, die jetzt Zeit genug haben, über ihre Schandtaten nachzudenken.70 Wen, wann und weshalb es zu verhaften galt, das wussten die örtlichen Akteure ganz genau. Eine zentrale Figur spielte dabei SS-Stabsscharführer Michael Stenzenberger, Rufname „Motzl“, ein Hilfsarbeiter, der es zum Badener Ratsherrn brachte. 1926 trat er der HJ, SA und SS bei, drei Jahre später der NSDAP und erhielt die Mitgliedsnummer 86.775. Er betätigte sich illegal und führte zeitweise den illegalen SS-Sturm Baden, der aus drei Trupps bestand. 1937 wurden er und weitere SS-Kameraden verhaftet. In ihrem Besitz befanden sich vier Gewehre, vier Pistolen, drei Revolver, dazu Munition, fünf Handgranaten und sonstige Ausrüstungsgegenstände. Und nicht zu vergessen, die von ihm selbst erstellte „Schwarzen- und Geiselliste“, mit Namen all jener Personen, die nach der Machtübernahme sogleich kaltgestellt werden sollten. Für diese Art von „Vorarbeit“ und die folgende Verhaftung und Einkerkerung erhielt Michael Stenzenberger 1939 den Blutorden Nr. 1800 verliehen. Eine wunderbare Auszeichnung für den mittlerweile in Dachau Dienst versehenden „Motzl“, der nun Mitglied der 5. SS-Totenkopf-Standarte war.71 Das Foltern gehörte zum Alltag der Anschlusstage. Die SS- und SA-Männer gingen in den Kerkern ein und aus. Ihre Besuche hinterließen blutige Spuren, wie sich Josef Tilp selbst überzeugen und erinnern konnte, nachdem man ihn am 21. März 1938 erneut verschleppt hatte, um irgendein Geständnis aus ihm herauszupressen. Als dies nicht gelang, führten sie mich in das Gefängnis des Bezirksgerichtes Baden, wo ich in einem Kellerlokal untergebracht wurde, in welchem ich noch die Spuren einer Blutlache sah. Sie hatten tagsvorher daselbst einen Häftling blutig geschlagen.72 Das Opfer hieß Alexander Todorovic. Am 20. März 1938 wurde er von dem Drogeristen und SA-Truppführer Alois Schwabl, Illegaler, seit 1935 bei der SA, seit 1938 bei der NSDAP, und dem Anstreicher SA-Obertruppführer Karl Grüner, seit 1932 bei der SA, und zwei weiteren ihm unbekannten SA-Männern in den Rathauskeller verschleppt, am nächsten Tag in eine Dunkelzelle im Keller gebracht und nach ca. einer Stunde ließ der Gefangenenmeister Maurer den mir persönlich bekannten Rudolf Schwabl mit 2 mir unbekannten Zivilisten in die Dunkelzelle eintreten, worauf ich von den Vorgenannten derart mit Schlagwaffen (Stahlruten, Stecken) und den Fäusten derart unmenschlich geschlagen und empfindlich misshandelt wurde, so dass ich blutüberströmt und bewusstlos auf
69 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf und GB 052/Verfolgung II; Fasz. I; Mappe I. 70 StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Mayer Ernst (geb. 1910) – Brief (März 1938). 71 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Stenzenberger Michael (geb. 1908) und GB 052/Allgemein I; Fasz. II; Ehrenzeichen und Blutorden. 72 StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf –Josef Tilp Aussage (14.01.1946).
Kapitel 1 Unterwandert
den Zementboden der Zelle 9 gestürzt bin, woselbst ich längere Zeit besinnungslos in meiner Blutlache gelegen bin. Als gegen Mittag die Frau des Gefangenenmeisters Katharina Maurer mir eine Suppe bringen wollte, weil ich vom Keller in die Einzelzelle Nr. 7 förmlich heraufgeschleppt worden bin, konnte ich diese nicht essen, weil ich infolge der sadistischen Misshandlungen ganz verschwollen war. Bei diesen qualvollen Misshandlungen durch die förmlichen Folterknechte war Rudolf Schwabl als wie ein Exekutivdespot zugegen und hat diese Unmenschen gegen mich noch angefeuert.73 Weshalb er verschleppt und gefoltert wurde, konnte Alexander Todorovic nicht in Erfahrung bringen. Seine ihm zugefügten Verletzungen wurden als Sturz von der Stiege vermerkt. Ein Teil der verschleppten und eingekerkerten Menschen kam bald danach wieder frei. Man dachte, dass Adolf Hitler Baden die Aufwartung machen würde. Vielleicht wollte man keine überfüllten Arrestzellen präsentieren. Doch als der Besuch des Führers nicht in Erfüllung ging, wurden viele der Freigelassenen erneut inhaftiert. Alois Klinger resümierte nach 1945: In der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren die Nichtparteigenossen an ihrem Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentume etc. fortwährend bedroht und nicht in der Lage, wirksam gegen diese Quälereien, Misshandlungen, etc. Hilfe zu finden, weil ihnen ja die Abgabe in die berüchtigten K.Z.-Lager und das Todeslos bevorgestanden sind, weshalb die von der NSDAP und ihren Gliederungen Verfolgten ganz einfach alles Unmenschliche über sich ergehen lassen mussten.74 Einigen Opfern blieb besonders die Kellerarrestzelle 9 schmerzlich im Gedächtnis. * Die Gewalt geschah in Kellern und auf der Straße, im Verborgenen und unter aller Augen. Julius Bronsoler führte ein Herrenbekleidungsgeschäft Ecke Neustiftgasse/Wassergasse. Am Anschlusstag war er mit ein paar Bekannten beim Heurigen verabredet. Keiner glaubte an sein Kommen, doch er kam. Die Stimmung war angespannt. Er beabsichtigte zu fliehen. Sein Auto wollte er verschenken. Er bat, man solle ein Auge auf seine Frau und sein neugeborenes Kind haben. Währenddessen wollte er einen sicheren Zufluchtsort ausfindig machen. Zurück bei seiner Wohnung angekommen, waren die Nationalsozialisten schon dort, man kannte sich vom Sehen. Sie beschlagnahmten das Auto. Tags darauf war Julius Bronsoler weg. Ein halbes Jahr später auch die Frau und das Kind. Man munkelte, sie wären in Palästina. Sicher war man sich nicht. 75 Wie so oft. Was blieb, waren vorerst Gerüchte. Faktenbasierter war das Vorgehen gegen das Ehepaar Rudolf und Hedwig Starnberg, Betreiber des Hotels „Bellevue“ in Baden. Nach den Nürnberger Rassegesetzten war sie Arierin und er Jude – der jedoch seit 40 Jahren konfessionslos war. Unmittelbar nach dem 73 Ebd. – Alexander Todorovic (1901–1971) Aussage (15.05.1946), Alois Schwabl (1912–1977), Karl Grüner (1913–1943). 74 StA B, GB 052/Personalakten: Wiskocil Karl – Amtsbericht Alois Klinger (16.11.1946). 75 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 43 – Julius Bronsoler (geb. 1907).
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Anschluss kam es bei der Familie zu einer Hotel- und Hausdurchsuchung in der Welzergasse 31–33. Der Mann wurde sofort mitgenommen und in ein Dunkelverlies eingekerkert. Am nächsten Tag wartete bereits Rudolf Schwabl auf ihn und machte dem Opfer unmissverständlich klar, dass der einzige Ausweg aus der Haft darin bestand, auf die Konzession für das Hotel Bellevue zu verzichten. Doch das Opfer konnte keine Konzession zurücklegen, da sie nicht ihm gehörte, sondern seiner arischen Ehefrau. So musste die Gattin bei der Polizei erscheinen. Für Rudolf Starnberg war das eine glatte Erpressung, und bei dieser Erpressung und diesem Rechtsbruch leistete der vom Beschuldigten [Rudolf Schwabl] herbeigerufene Badener Rechtsanwalt Dr. Arthur Mayer den schändlichen Beistand, indem Letzterer im Amtsraum der Kriminalpolizei die Niederlegungsurkunde verfasste, welche von meiner Frau unterfertigt und vom Beschuldigten entgegengenommen wurde, worauf ich aus der Haft entlassen wurde.76 Ortsgruppenleiter Alexander Lohner äußerte sich persönlich zu diesem Fall und unterstrich, dass das Hotel die übelsten sanitären Zustände habe und deswegen geschlossen werden müsste. Der Wortwahl und Argumentation dieses Schriftstückes werden wir noch des Öfteren begegnen. Es ist als Schande zu empfinden, dass heute noch eine Villa in der schönsten Lage Badens von einem derartigen Judenpack bewohnt wird. Blockleiter Hans Martinek konnte dem nur beipflichten. Viele Räume sind unbenutzbar, weil es hineinregnet, der Dachstuhl ist ganz hin. Eine echte jüdische Wirtschaft.77 Die plötzliche uniformierte Präsenz des NS-Regimes erregte nicht nur Freude bei den Badenern, sondern auch Verunsicherung. Bei Veranstaltungen und Aufmärschen war man nichts anderes gewohnt, als dass Uniformierte aufmarschierten und präsent waren. Aber nun standen sie vor Geschäften, vor jüdischen Geschäften bzw. vor Geschäften, die von Juden geführt wurden. Die Badener Zeitung war um Aufklärung bemüht und brachte sogleich arische Alternativen. Sollte man dennoch zu Juden einkaufen gehen, brauche man sich nicht wundern, wenn man auf die SS und SA treffe.78 Der Aggressor musste sich nicht versteckten. Ganz im Gegenteil, martialisch postierten sich SS oder SA oder sonstige Personen, die die Neigung dazu verspürten. Die Kundschaft wurde verschreckt. Das Uhrengeschäft am Rainer-Ring 5 wurde von zwei SS-Leuten flankiert. Ein Betreten ohne gesehen zu werden war unmöglich.79 Wie so ein Aufeinandertreffen mit der SA und SS aussehen konnte, davon durfte sich der 21-jährige Hans Joachim Schreiber sehr zu seinem Leidwesen überzeugen. Als er im April 1938 das Geschäft von Jakob Schönmann verließ, wurde er augenblicklich von der SA aufgegriffen. Ehe er es sich versah, stülpte man ihm eine Tafel über die Brust mit der Aufschrift „Ich bin das größte Schwein und kauf bei Juden ein“. Darüber empört, zerriss er die Tafel, was bei seinen Angreifern, laut eigener Formulierung, schlecht ankam. Ich wurde 76 StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf – Rudolf Starnberg (geb. 1878) Aussage (30.07.1946). 77 StA B, GB 052/Personalakten: Starnberg Hedwig (geb. 1882) – Bericht Ortsgruppe Baden-Stadt (30.01.1940) 78 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 29. 79 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 40.
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geschlagen, von der wütenden Volksmenge angespuckt, mein Anzug wurde mit zerrissen und außerdem wurde ich gefesselt. In die Wachstube (Rathausgasse) gezerrt, erhielt er vor Ort gleich zu Anfang einen Fußtritt durch den Polizeibeamten Karl Pfeiffer, um anschließend Rudolf Schwabl vorgeführt zu werden. Der lachte zynisch und sagte: „Jetzt haben wir wieder einen erwischt.“ Schwabl ließ mich dann 3–4 Putzfrauen unter Gelächter vorführen, die alle auf mich mit ihren schmutzigen und nassen Fetzen wütend einschlugen. Nachdem dieser Akt vorbei war, musste ich noch einmal mit der besagten Tafel trotz heftiger Gegenwehr durch die Stadt gehen, u. zwar von der Rathausgasse weg, durch die Pfarrgasse bis zum Kirchenplatz mehrmals hin- und hergehen. Was sich dabei abspielte, ist in Worten nicht zu schildern.80 Solch menschenverachtende Spießrutenläufe waren bei weitem kein Einzelfall. Eine an die 20 Jahre alte Badenerin hatte das gleiche Schicksal zu erleiden. Sie wurde mit ebenso einer Tafel, flankiert von zwei Polizisten, verfolgt von einem johlenden Mob und mit Schamesröte im Gesicht, durch die Straßen der Kurstadt getrieben.81 Auch dem Kaufmann Anton Schilcher sollte so etwas wiederfahren. Besonders zynisch in seinem Fall, es liegt eine Anfrage von Seiten der SA an die Kreisleitung vor, das verbrecherische Treiben rechtlich abzusichern – Ordnung musste sein. Wir ersuchen die Kreisleitung uns zu bewilligen, selben mit der Tafel „Ich bin im Ort das größte Schwein und kaufe nur bei Juden ein“ in den Straßen Badens herumführen zu dürfen.82 Sprachlosigkeit, die Unfähigkeit, das Geschehene in Worte zu fassen, um es wiederzugeben, wie es Hans Joachim Schreiber ausdrückte, erlebte auch die in Baden geborene Jüdin Gisela Dollinger.83 Nach dem Anschluss musste sie ihr Haus mit einer Hakenkreuzflagge ausstatten. Sie fragte bei der Polizei nach, ob sie dies tatsächlich tun müsse. Die Polizei verneinte. Es sei schließlich ein jüdisches Dach, das könnte offenbar die Hakenkreuzflagge entehren. Gisela Dollinger sollte hierauf die Flagge der SA zurückgeben. Bei der Rückgabe bekam sie eine Ohrfeige – einfach so, weil es halt jetzt möglich war. Auf die weiteren Demütigungen und Schikanen wollte sie nach 1945 nicht eingehen. Zu unschöne Dinge seien damals passiert, so die formulierte Sprachlosigkeit, die über Jahrzehnte anhielt und manchmal nie durchbrochen werden konnte.84 Öffentlichkeitswirksam war auch das Vorgehen gegen Georg Gehrer, der von fünf SAMännern abgeholt und demonstrativ von der Roseggerstraße Richtung Rathaus getrieben wurde. Dabei wurde das Opfer bedroht und verhöhnt, sei es durch die SA-Männer oder von zufällig über den Weg laufenden Passanten. Man warf ihm vor, als Obmann der Fuhrwerkunternehmer Geld unterschlagen zu haben. Bewiesen konnte nichts werden, es kam nicht einmal zu einer Anklage. Das Ganze dauerte dennoch 36 Stunden – 36 Stunden in 80 StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf; Mappe I – Hans Joachim Schreiber (1917–1987) Aussage (30.07.1946). 81 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 43 – Erinnerung von Dr. Roswitha Hipp (geb. 1929). 82 StA B, GB 231/Frührapporte 1932–1946; Fasz. I; SA an Kreisleitung (13.04.1938). 83 Gisela Dollinger (geb. 1902). 84 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023) – Gisela Dollinger (geb. 1902).
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einem Polizeiarrest in den Umbruchtagen des März 1938. Initiiert wurde die Aktion vom Stadtkämmerer Hans Löw, der im März 1938 der Disziplinierungskommission angehörte, jene Institution, die die Beamtenschaft der Gemeinde und sonstige Angestellte nach ihrer Gesinnung überprüfte und bei Verfehlungen die Strafen exekutierte.85 Zu den Misshandlungen schrieb Alois Klinger nach 1945 allgemein: Der allseits bekannte Illegale und Exekutivdespot Rudolf Schwabl, welcher ein Hauptvertrauensmann des Bg,. Schmid Franz infolge des von letzterem inne gehabten illegalen Hilfswerks war, hatte u.a. auch die Schlüssel zu den Arrestzellen in seiner Verwahrung und ließ außer den obigen SA-Männern noch den SS-Sturm 5/89 Standarte Holzweber (Karl Höfle jun. […], den bereits verstorbenen Karl Hruscha etc.) in die Arrestzellen, welchen dortselbst nach Dachauerart sich wie Sadisten an Edmund Wendl etc. durch Zuhauen mit Ochsenziemern ihre Tapferkeit ausgetobt haben.86 Fallweise war es reines Glück, dass die Opfer mit ihrem Leben davon gekommen sind. Die qualvolle Misshandlung des Neumayer Josef (am 1.2.1907 in Baden geboren, in Tribuswinkel wohnhaft gewesen) welcher am 5.4.1938, in den Arresten des Bez. Ger. Baden derart geschlagen wurde, so dass er sofort in Spitalsbehandlung übergeben werden musste.87 Diese Dachauer Art, dieses Bedrohen von anderen Menschen, ihnen nach Lust und Laune Gewalt anzutun und das ohne jegliche Konsequenzen, versinnbildlicht, dass die Gewalt dieser Tage in der Kurstadt dem Alltag in einem KZ glich. In einem Punkt hatte sich Klinger jedoch geirrt. Ganz ohne Konsequenzen war das Treiben des Exekutivkomitees nicht. Die Zügellosigkeit der Gewalt begann der Kreisleitung Kopfschmerzen zu bereiten. Grund des Schmerzes war die Zügellosigkeit – nicht die Gewalt per se. Als immer wieder Berichte einlangten, wonach bei den sogenannten Beschlagnahmungen, sprich Plünderungen und Raubüberfällen, so manche Güter in die Tasche der Plünderer und Räuber wanderten und damit der arischen „Volksgemeinschaft“ entzogen oder Sachwerte grundlos demoliert wurden, geriet die Obrigkeit unter Zugzwang. Man musste eingestehen (natürlich intern inklusive der Beifügung „Vertraulich!“), dass es sich durchwegs um fragwürdige Elemente handele, die nie für eine Disziplin zu haben waren...88 Man wollte auf keinen Fall den Eindruck eines zügellosen Willkürregimes erwecken. Vielmehr war deutsche Disziplin an den Tag zu legen. Eines der „Opfer“ war das bereits erwähnte Exekutivkomitee-Mitglied Herbert Eywo. Seine Zügellosigkeit und das nicht akkurate Abliefern der Beute brachten ihm ein Parteiverfahren ein. Welche Rolle er dann weiter spielte, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Jedenfalls holte er dieses Parteiverfahren von 1938 nach der Vernichtung des NS-Regimes hervor, um sich von den NS-Registrierungslisten streichen zu lassen. Er gab an, dass er danach keinen Kontakt mehr zur NSDAP gepflegt habe und damit als ausgeschlossen galt. Klinger formulierte es 85 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Löw Hans (geb. 1895) – Georg Gehrer (1884–1946). 86 StA B, GB 052/Personalakten: Rosensteiner Franz – Amtsbericht Klinger (12.05.1946). 87 StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf, Mappe I – Klinger an Staatsanwaltschaft (30.07.1946). 88 StA B, GB 052/Personalakten: Eywo Herbert – Kreisleitung an SA-Standarte 84 (24.06.1938).
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nach 1945 leicht zynisch: Also wieder ein neuer Märtyrer seiner von ihm maßlos betriebenen illegalen Politik.89 * Bestätigt wurden die Gewaltexzesse nicht nur von den Opfern und teilweise von den Tätern selbst – die sich nach 1945 zumeist gegenseitig beschuldigten, dazu in den späteren Kapiteln mehr –, sondern auch vom erwähnten Gefängnismeister und Aufseher über das Gefangenenhaus beim Bezirksgericht Baden, Johann Maurer. Da die Polizeiarreste überfüllt waren, brachten die SA und SS die politischen Gefangenen in das gerichtliche Gefangenenhaus. Ich kann mich erinnern, dass zu dieser Zeit der nachmalige Kaffeehausbesitzer Rudolf Schwabl aus Baden, angeblich über Anordnung des damaligen Bürgermeisters Schmid als obersten Polizeichef der Stadtpolizei in Baden, die Machtbefugnis über sämtliche Polizeihäftlinge über hatte. Schwabl kam zu dieser Zeit fast täglich in das Gefangenenhaus. Er nahm mit Hilfe der SS und SA Leute, Eskorten von Polizeihäftlingen vom Polizeiarrest Baden in das gerichtliche Gefangenenhaus und umgekehrt vor. Hierbei geschah es, dass an verschiedenen Polizeihäftlingen seitens der SS-Leute Misshandlungen begangen wurden.90 Laut eigener Aussage, die von anderen Häftlingen bestätigt wurde, urgierte er bei seinen Vorgesetzten gegen die brutalen Übergriffe und erwirkte, dass die SS und SA aus dem gerichtlichen Gefangenenhaus entfernt wurden. Die Martyrien in den Kellern des Rathauses, des Gerichtes oder an anderen Orten „endeten“ am 9. April 1938 – einen Tag vor der Abstimmung. Da erschien Bürgermeister Franz Schmid und hielt eine Rede. Er gewährte den Geschundenen die Freiheit, unter der Voraussetzung, dass sie am nächsten Tag für den Anschluss stimmten. Schmid war Bürgermeister, Chef der Ortspolizei und SA-Standartenführer (am Papier). Er sah die Gefangenen. Er wusste, was in den Kellern passierte. Für Alois Klinger stand er an der Spitze des ganzen Treibens und trug letztendlich die Verantwortung. Franz Schmid war von seinem Habitus her kein Gewalttäter. Er brauchte es nicht zu sein. Dafür hatte er schließlich das von ihm personell bestückte Exekutivkomitee – seine Männer fürs Grobe. Dabei hätte es ja gar nicht so kommen müssen. Denn Schmid selbst schrieb in der ersten Ausgabe der Badener Zeitung: Die S.S., S.A., politische Leitung, Frauenschaft und Jugend haben den Beweis erbracht, dass wir Nationalsozialisten die Macht nicht deshalb ergriffen haben, um Rache zu üben.91 Der Bezirkshauptmann von Baden, Carl Rupprecht v. Virtsolog, hatte dem nichts hinzuzufügen. Die Machtergreifung und der Umbruch haben sich in mustergültiger Ruhe und Ordnung vollzogen.92 89 90 91 92
Ebd. – Klinger an Bezirksgericht (12.08.1946). Ebd. – Aussage Johann Maurer (geb. 1895). BZ Nr. 22 v. 16.03.1938, S. 1. Amts-Blatt der Bezirkshauptmannschaft Baden 64. Jahrgang. 1938, S. 23. Aufliegend im StA B, Z4/1938/1939.
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Was nun folgte, auf die Gewalt der ersten Tage, war ein grundlegender Umbau des politischen und sozialen Gefüges der Kurstadt. Doch bevor wir näher und umfangreicher darauf eingehen, möchte ich nach diesem In-medias-res-Einstieg für einen Moment innehalten und eine Art Vorwort bringen sowie die von mir verwendeten Quellen vorstellen.
Kapitel 2 Gebrauchsanweisung für dieses Buch…
Ich bin mir sicher, dass nicht jeder Freude mit diesem Buch haben wird. Das wird unterschiedliche Gründe haben. Vielleicht wird es mit meinem Zugang zu dieser Thematik zusammenhängen, mit meinem Schreibstil, meiner Ausdrucksweise oder damit, dass ich überhaupt zu diesem Thema etwas schreibe. Ganz nach dem Motto: Nicht schon wieder was über Nazis! Oder: Jetzt ist es aber mal genug mit dem Thema! Das mag alles zutreffen, und es sind für mich vollkommen legitime Meinungen, dennoch interessiert mich die Thematik, ich verspürte das Interesse und die Lust, dieses Buch zu schreiben, und ich kann Ihnen versprechen, dass Sie Inhalte zu lesen bekommen, die Sie sicher noch nicht gelesen haben. Aus dem ganz einfachen Grund, weil die von mir verwendeten Quellen zuvor noch nie ausgearbeitet und publiziert wurden. Sie werden in diesem Buch auf zahlreiche Namen stoßen. Es werden Personen dabei sein, die Sie – vor allem als Einheimischer – kennen/kannten, manchmal flüchtig, manchmal etwas besser, manchmal sehr gut. Das ist ein Kennzeichen der Lokalgeschichte. Es geht hier nicht um Staatsoberhäupter, Generäle, Minister und sonstige Personen, mit denen die allermeisten Menschen im Alltag nie in Kontakt treten werden. Es geht um Menschen, die zumeist auf der gleichen gesellschaftlichen Ebene angesiedelt sind. Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde, Bekannte, Verwandte usw. Wenn jene nun in solch einer Publikation auftauchen, kann es unangenehm sein. Angst und Zorn sind in solchen Fällen normal. Der für solche Publikationen vorgegebene Datenschutz wurde von mir eingehalten. Andererseits, wie bereits im ersten Teil erwähnt, es passierte nicht im Verborgenen. Sei es Leid oder Freude, es fand draußen statt. Für Zeitzeugen wären die meisten Sachverhalte nichts Neues. Man wusste, wer bei welcher Partei war, vor allem da es eine braune Parteiuniform gab. Der Nationalsozialismus setzte auf die öffentliche Inszenierung. Seien es Paraden und Aufmärsche oder die „Reibpartien“. Selbst das Deportieren, das Verschleppen und Verjagen geschah nicht im Verborgenen. Man sah schließlich, dass diese Menschen nicht mehr da waren. Man sah, dass nun andere Menschen in die Häuser und Wohnungen zogen. Die Täter hatten kein Problem damit, ihre Taten öffentlich zu vollziehen und sich anschließend beim Heurigen einer Nachbesprechung nach mehreren Achterln hinzugeben – vor zahlreichen Augen- und Ohrenzeugen. So einiges konnte man auch der Badener Zeitung entnehmen. Vor allem nach 1945. Die Berichterstattung über diverse Gerichtsprozesse und Aufforderungen, sich als Zeugen zu melden, auszusagen, sich daran zu beteiligen, waren für jedermann einlesbar. Hierbei ist es mir sehr wichtig, zu betonen, dass ich Sippenhaftung zutiefst verachte und dementsprechend aus meiner Sicht die nachfolgenden Generationen keine, absolut gar keine Verantwortung für die Taten der vorherigen Generation tragen. Gleichzeitig haben
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die nachfolgenden Generationen kein Anrecht auf eine Verheimlichung der Taten der vorherigen Generationen. Wenn zum Beispiel eine Person sich dazu entschlossen hat, einen anderen Menschen vor zahlreichen Zusehern auf der Straße zu schlagen und sich dabei fotografieren zu lassen, war es seine bewusste Entscheidung. Dieser Mensch wollte einem anderen Menschen in aller Öffentlichkeit Gewalt antun, und er wollte dabei gesehen werden. Das „respektiere“ ich, indem ich es öffentliche mache – ganz nach seiner damaligen Intention. Meinen Schreibstil und meine Ausdrucksweise kann ich als populärwissenschaftlich bezeichnen. Ich habe keine Scheu, überspitzt zu formulieren, mich polemisch auszudrücken oder es alltagssprachlich zu umschreiben – solches wird zumeist unter Anführungszeichen gesetzt. Ferner werden NS-Begrifflichkeiten unter Anführungszeichen gesetzt, bzw. es wird klar und deutlich sein, dass es sich um NS-Begrifflichkeiten handelt. Ich werde von diesen auch reichlich Gebrauch machen/machen müssen. Für mich sind diese umstrittenen, belasteten, problematischen „Wörter“ an erster Stelle „Wörter“ und sonst „nix“. Nur weil ich sie verwende, heißt es nicht, dass ich mich mit der Ideologie dahinter identifiziere. Nicht unwichtig finde ich, bei dem Wort „Jude“ innezuhalten. Bei dem Begriff „Jude“ bzw. der Zuschreibung „Jude“ wird mir nichts anders übrig bleiben, als mich der Klassifizierung der Nationalsozialisten zu bedienen. Wenn nun ein Mensch aufgrund der Zuschreibung der Nationalsozialisten als Jude bezeichnet und aufgrund dessen Opfer wurde, werde ich diese NS-Klassifizierung beibehalten müssen. Dass sich die betroffenen Menschen als Juden gesehen haben, wird in vielen Fällen zutreffen, jedoch nicht in allen. In so manchem Meldezettel lesen wir als Religionsbekenntnis röm.-kath., evangelisch oder konfessionslos. Allerdings war diese Tatsache für die Nationalsozialisten irrelevant. Es war eine Fremdbezeichnung, die mit der Selbstwahrnehmung nicht immer identisch war. Auf diese Tatsache werde ich nicht immer eingehen können, deswegen bitte ich Sie, es stets im Hinterkopf zu behalten. Der Einfachheit halber werde ich weiters von jüdischen Geschäften, jüdischen Wohnungen, Häusern, Villen usw. schreiben, und zwar wohlwissend, dass es per se so etwas wie jüdische Immobilien nicht gibt, dass keine Eigenarten vorliegen, wenn Menschen jüdischen Glaubens eine Wohnung oder Haus besitzen bzw. darin leben. Ein weiteres Thema betrifft die gendergerechte Sprache. Ich bevorzuge das klassische generische Maskulinum, in dem ich beide biologischen Geschlechter sowie all die sozialen Geschlechter mitmeine. Ich empfinde das Binnen-I oder Schrägstriche „/“ Sternchen „*“ oder Unterstriche „_“ als den Lesefluss störend. Genauso möchte ich Wortungeheuer wie BürgerInnenkrieg oder BürgerInnenmeisterInnen vermeiden. Bei der expliziten Verwendung der männlichen und weiblichen Form kommt es zu einem für mich unnötigen Wortüberschuss, besonders bei Aufzählungen. Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen, Parteianwärter und Parteianwärterinnen, Kommunisten und Kommunistinnen, Bauern und Bäuerinnen, Täter und Täterinnen, Geschäftsinhaber und Geschäftsinhaberinnen, Fremd- und Zwangsarbeiter und Fremd- und Zwangsarbeiterinnen usw. Das bedeutet nicht, dass ich nicht auf Geschlechterrollen, Bilder oder Stereotypen eingehe. Dieser spannende Themenkomplex wird des Öfteren einfließen – inhaltlich und nicht bloß oberflächlich.
Kapitel 2 Gebrauchsanweisung für dieses Buch…
Mir liegt besonders an der Lesbarkeit und einer „lockeren“ Wissensvermittlung, Informationsweitergabe und vor allem Unterhaltung. Um es polemisch auszudrücken, dieses Buch ist in keiner „akademisch-elitären Herrschaftssprache“ verfasst. Mein Publikum sind die Menschen, die sich für regionale Geschichte und die Stadtgeschichte Badens interessieren und zumeist schon Vorwissen aufweisen. Somit bleibt mir nichts anders übrig, als Ihnen, lieber Leser oder liebe Leserin, da der Spaßfaktor bei diesem Themenbereich sich doch in Grenzen hält, eben nicht „viel Spaß“ beim Lesen zu wünschen, aber zumindest eine informative Unterhaltung/Zeitvertreib mit Neuigkeitswert.
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… und die Quellen
Um eine Geschichte der Zeit/Ereignisse zwischen 1938 und 1945 zu schreiben, steht einem eine schon lange nicht mehr überschaubare Fülle an Literatur zur Verfügung. Die große Geschichte können wir in zahlreichen Standardwerken nachlesen, seien es Monographien oder Sammelbände. All die verschiedenen Aspekte, sei es der Krieg, der Holocaust, Hitler, die NSDAP usw. wurden auf zigtausenden Seiten erzählt, erklärt und analysiert. Brechen wir es auf Österreich bzw. auf die Ostmark herunter, so gibt es hier genauso eine unüberschaubare Zahl an Literatur, und auch die einzelnen Bundesländer haben schon längst zu diesem Zeitabschnitt Umfangreiches publiziert. Je weiter wir hinuntergehen, sprich auf die Stadt-, Gemeinde- und Dorfebene, desto weniger wird es – die Betonung liegt auf weniger. Als ich mich dazu entschlossen habe, über Baden zu schreiben, war ich bei weitem nicht der Erste. Der Nationalsozialismus wurde in verschiedensten lokalhistorischen Publikationen angerissen/angesprochen. Dezidiert und ausschließlich mit dieser Zeit sowie für ein breiteres Publikum zugänglich, war die Reihe „Baden 1938 bis 1945“, erschienen zwischen 1998 und 2006. Jede Ausgabe widmete sich einem Jahr. Der erste Band stammt von Christoph Wieser, die restlichen sieben von Otto Wolkerstorfer. Pionierarbeit zum Thema Juden und Holocaust haben Hans Meissner sowie Kornelius Fleischmann mit „Die Juden von Baden und ihr Friedhof“ aus dem Jahr 2002, Thomas E. Schärf (heute Elie Rosen) mit „Jüdisches Leben in Baden. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“ aus dem Jahre 2005 und die Macher und Betreiber der Homepage www.jewishhistorybaden.com geleistet. Die hierbei verwendeten Quellen und deren Auswertung waren für meine Arbeit sehr hilfreich. In der Reihe „Baden 1938–1945“ wurden sowohl die Badener Zeitung, die Ratsprotokolle als auch zahlreiche Zeitzeugenberichte eingebunden. Die Homepage www.jewishhistorybaden.com basiert unter anderem auf der Auswertung von 377 Vermögensanmeldungen Badener Juden. Die bestehenden Publikationen und die daraus resultierenden Darstellungen und Ergebnisse wurden von mir in dieses Buch eingearbeitet und durch weitere Quellen ergänzt. Quellenbestände aus der Zeit 1938 bis 1945 im Stadtarchiv Baden umfassen unter anderem den Schriftverkehr zwischen einzelnen NS-Hierarchien wie den Blöcken, Zellen und Ortsgruppen sowie der Kreisleitung. Es findet sich Aktenmaterial zu einzelnen NSDAPGliederungen wie der SA, der NS-Frauenschaft, NS-Kraftfahrkorps usw. Hinzu kommt Aktenmaterial, produziert durch das Rathaus, einzelne Abteilungen, die Bezirkshauptmannschaft usw. Ferner forschte ich im Niederösterreichischen Landesarchiv (NÖLA). Hier waren es vor allem die Akten der Bezirkshauptmannschaft Baden zwischen 1938 und 1945, Kreisgerichtsakten zwischen 1938 und 1945 sowie einzelne Kartons und Faszikel zu unterschiedlichen Themen wie Casino, Krankenhaus, Kursanatorien usw., die ich auswertete. Ein entscheidender Quellenfundus sind vier umfangreiche Quellenbestände, die im Stadtarchiv Baden aufliegen: Politische Beurteilungen, Personalakten, Registrierungslis-
… und die Quellen
ten (jene Anträge, um nach 1945 von NS-Registrierungslisten gestrichen zu werden) und die Ermittlungsakten nach 1945, die mit Entnazifizierung beschriftet sind. Stellenweise überschneiden sich die Akteninhalte, eine exakte Trennung gibt es nicht. Das Quellenkorpus besteht aus dutzenden Kartons, die größtenteils alphabetisch geordnet sind. Es sind wunderbare Quellen, sie bieten einen Einblick in die Persönlichkeit zahlreicher Badener. Sie bestehen aus Selbstzeugnissen sowie Stellungnahmen und Einschätzungen anderer Personen. Es sind politische Beurteilungen durch verschiedene Behörden; Aufnahmebögen, Gerichtsakten, Lebensläufe, Briefe, Schriftverkehr usw. Manche Akten legen Zeugnis über ein Menschenleben ab, das in der Monarchie seinen Anfang nahm und bis in die Besatzungszeit reichte. Es sind Zusammenschlüsse verschiedener schriftlicher Quellen, die über die Menschen erstellt und dann zu Akten zusammengefasst wurden. Manchmal sind es sehr umfangreiche Konvolute, manchmal steht uns nur ein Blatt Papier zur Verfügung. Widmen wir uns zuerst den Beurteilungsbögen. Dabei ist stets Vorsicht angebracht. Denn der Hauptzeitraum der Entstehung ist 1933 bis 1945 und darüber hinaus, d.h. Ständestaat – Nationalsozialismus – Besatzungszeit. Die getätigten Aussagen der Betroffenen wie auch die politischen Beurteilungen/Verurteilungen/Erklärungen (sei es vom Ständestaat, den Nationalsozialisten, der Besatzungsmächte bzw. der betroffenen Personen selbst) sind hochgradig subjektiv, und sie sind nach der politischen Ideologie ausgerichtet. Zum Teil haben wir es mit ähnlichen Narrativen zu tun. Nach dem Anschluss 1938 gaben Personen an, der Vaterländischen Front aus beruflichen Gründen bzw. aus Zwang beigetreten zu sein. Nach dem Einmarsch der Sowjets gaben Personen an, der NSDAP aus beruflichen Gründen bzw. aus Zwang beigetreten zu sein. Nach dem Anschluss 1938 gaben Personen an, dass sie schon immer Nationalsozialisten gewesen seien, zwar nicht Parteimitglieder, dass sie aber mit der Partei bzw. mit der nationalsozialistischen Bewegung sympathisiert hätten. Als Beweis führten sie getätigte Spenden an, irgendwelche Aussagen beim Heurigen, welche auf ihre nationalsozialistische Einstellung schließen lassen sollten und die sie zusätzlich durch die Nennung von Parteimitgliedern, die ihre Aussagen bestätigen würden, zu untermauern suchten. Ein Beispiel dieser wiederkehrenden Argumentation und Darstellung waren die Schilderungen des Ferdinand Koschitz nach 1945. Niemals habe er der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehört. Bei genauerer Recherche fiel ihm dann doch ein, 1935 eine Aufnahmeerklärung abgegeben zu haben. 1939 habe er dann irgendeine rote Karte erhalten (der Parteiausweis war rot). Plötzlich fielen ihm weitere Details aus seinem Leben ein. Ende 1938 oder 1939 sei er der SS beigetreten, SS-Rottenführer geworden und vollständigkeitshalber dämmerte es ihm noch, dass er 1943 der Waffen-SS beigetreten sei.1 Ins selbe Horn stieß Johann Hecht im Jahre 1947. Niemals sei er bei der SS gewesen. Doch dann fanden sich seine eigenen schriftlichen Ergüsse aus dem Jahre 1938, in denen er sich einer niedrigen Mitgliedernummer rühmte, seine Leistungen für den Nationalsozialismus auflistete, damit prahlte, bei welchen Formationen er nicht überall dabei gewesen 1
Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Koschitz Ferdinand (geb. 1906).
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Erster Teil Vorspiel und Einleitung
wäre (NSDAP, SS, NSBO), obendrein Mitarbeiter bei der Kreisleitung, und als Joker hatte er noch eine Inhaftierung in Wöllersdorf vorzuweisen. Dem NS-Regime gab er noch mit auf den Weg: Ich wurde während meiner 20-jährigen Dienstzeit wegen meiner nationalen Tätigkeit stets von Rot und Schwarz verfolgt, gehemmt und zurückgestellt und hoffe nun auf eine gerechte Besserstellung. Konfrontiert mit seinen eigenen Aussagen, trat er nach 1945 die Flucht nach vorne an. Er gab zu, gelogen zu haben – 1947, aber vor allem 1938. In Wirklichkeit sei er alles andere als ein überzeugter Nationalsozialist gewesen, er habe einfach nur gut leben wollen. Als Blockleiter machte ich nie einen Unterschied zwischen Pg. und Volksgenossen. […] Ich verpönte stets die Lüge! Als aber neben verdienten Pg. viele unmögliche Pg. als A.K. bestätigt und befördert wurden, versuchte auch ich mit der Dichtung und etwas Wahrheit dasselbe Ziel zu erreichen.2 Die politischen Beurteilungen wurden aus unterschiedlichen Gründen angefertigt: bei dem Wunsch, der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen beizutreten, einen BlockwartPosten auszuüben oder dem Ansuchen um ein Ehestandsdarlehen. Personen wurden überprüft, wenn sie bei der Gemeinde arbeiteten oder für die Gemeinde arbeiten wollten, wenn sie nach Baden zogen, wenn sie eine Immobilie arisieren wollten, ein Geschäft führen, aus welchen Gründen auch immer verdächtig waren usw. Die Beurteilungen entstanden zumeist auf der untersten Ebene der Parteihierarchie. Vom Blockleiter ging es über den Zellenleiter an den Ortsgruppenführer, dann zum Kreisleiter. Neben den üblichen Kategorien wie Name, Alter, Beruf usw. waren die entscheidenden Fragen: Ist er Arier? Ist er Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen? Von großer Bedeutung war ebenso, wie sich der zu Beurteilende vor dem Anschluss verhalten hatte. Bei den Hiesigen wurden die Nachbarn befragt, bei Zugereisten nahmen die zuständigen Stellen vor Ort mit den zuständigen Stellen der zuvor bewohnten Gemeinde Kontakt auf. Wie war sein Verhalten in der Systemzeit – so die Bezeichnung der Nationalsozialisten für die österreichische Diktatur zwischen 1933 und 1938. Die Skalierung reichte von: „War er gehässig gegnerisch gegenüber dem Nationalsozialismus?“ bis hin zu: „War er sympathisierend gegenüber dem Nationalsozialismus?“. Weitere Fragen waren: Ist er ein Trinker? Wie sind seine wirtschaftlichen Verhältnisse? Ist er wirtschaftlich? Originell waren so manche Antworten, so auf die letzte Frage, wo es bei Josef Rothaler hieß: für einen Maurer sehr nett gekleidet.3 Die Beurteilungen mussten von zwei einwandfreien Parteigenossen bestätigt werden. Die Fragebögen konnten mal knapp, mal sehr umfangreich gestaltet sein. So wollte man wissen, ob der Betreffende Leser einer NS-Zeitung war. Wie viel er bei Sammlungen gespendet hatte. War er geberfreudig? Kaufte er bei Juden ein? Wie war seine Familie zu bewerten? War er Mitglied anderer Parteien? Wenn ja, wann? Warum? Aus Überzeugung? Aus beruflichen Gründen? Aus Zwang? Dahingehend machten die Nationalsozialisten Unterschiede. Es war entscheidend, ob jemand in solchen Fällen gehässig gegen Nationalsozialisten gehandelt hatte. War dem nicht so, war eine andere Parteimitgliedschaft oftmals sekundär. 2 3
StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Hecht Johann (geb. 1901). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Rothaler Josef (geb. 1912).
… und die Quellen
So störte es nicht, dass Josef Kragler vor dem Jahre 1933 Kommunist gewesen war, der laut eigener Aussage in Ungarn an der Seite von Bela Kun und dessen Räterepublik gekämpft hatte und dies offenbar mit Fotos belegen konnte. Der Kommunismus sollte ihn von der Arbeitslosigkeit erlösen. Danach war es der Nationalsozialismus, der ihn erlösen sollte. Er trat der NSDAP, der SA und der NS-Volkswohlfahrt (NSV) bei. Er galt als pflichtbewusst, politisch vollkommen einwandfrei und geberfreudig, allerdings brutal, wenn es darum ginge, seine eigenen Interessen zu verfolgen, er mache nicht einmal vor Volksgenossen halt – so Kreis und Ortsgruppe. So ein Verhalten ließ zu wünschen übrig, konnte aber in den Augen der NS-Ideologie seiner einstigen Sozialisation zugeordnet werden. In dieser Hinsicht ist sein Verhalten als nicht nationalsozialistisch, sondern kommunistisch anzusprechen. Ansonsten gilt er als polit. verlässlich.4 Ähnlich wurde der gutmütige, strebsame und charakterlich einwandfreie Polier Karl Koppelhuber eingestuft. Obwohl er von 1910 bis 1930 Mitglied bei der SDAP, von 1934 bis 1937 bei der VF gewesen war und sich erst 1942 der NSDAP angeschlossen hatte.5 Die Beurteilungen durch die Block- und Zellenleiter erfolgten zumeist geheim – im Auftrag der Ortsgruppenleitung. Einspruch gab es somit keinen. Die Betroffenen wussten in vielen Fällen nicht, dass sie überprüft wurden, doch sie mussten es annehmen, wenn sie z.B. einen Posten bei der Gemeinde anstrebten. Schlampereien bei den Überprüfungen konnten passieren. Den Beurteilenden wurde mitgeteilt, wer sie beurteilte. Ein anderer fand den Fragebogen in seinem Postkasten und wandte sich prompt an die Kreisleitung, wie er die Fragen zu beantworten hätte. Die Kreisleitung wandte sich umgehend an die betreffenden Zellen- und Blockleiter und erinnerte eindringlich, dass die Person niemals wissen dürfe, dass sie überprüft werde. Gemahnt wurde, ohne persönliche Vorbehalte zu beurteilen, da von diesen Überprüfungen das Wohl einer ganzen Familie abhängen könne – man verlangte vollkommene Objektivität beim Ausspionieren und Bespitzeln.6 An die Informationen gelangte der Blockleiter mittels Gesprächen mit Nachbarn, Arbeitskollegen und Freunden, oder er suchte die betroffene Person unter falschem Vorwand persönlich auf. So konnte er dann von Angesicht zu Angesicht urteilen: Erscheinungsbild eher schlapp, Haltung ebenso, spricht sehr oberflächlich, kann nicht aufhören, wirkt trotzdem irgendwie bemüht. Nicht immer musste er seinen Informanten aufsuchen, so Einiges wurde ihm zugetragen. Beliebt machte er sich dadurch nicht, und die Lust, sein Umfeld auszuspionieren, war nicht jedermanns Sache. Vor allem als der Krieg sich der Kapitulation zuneigte, schwand die Lust am Bespitzeln merklich.7 Vieles, was so ein Blockleiter zu hören bekam, fußte auf Klatsch und Tratsch. Gerede, das nebenbei aufgeschnappt wurde, vom Hörensagen, über Dritte erzählt bekommen, manchmal hatte es nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun – darauf bauten oftmals die Informationen auf, aus denen die Blockleiter 4 5 6 7
StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Kragler Josef (geb. 1898). Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Koppelhuber Karl (geb. 1890). Vgl. StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Verfolgung. Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 315f.
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eine Beurteilung bilden mussten. Menschliche Niederträchtigkeiten wie Neid und Missgunst mischten sich hinzu und formten jene Hinweise, die voller Gehässigkeit den Behörden zugesteckt wurden. Die Familie wurde immer großzügig von der NSV unterstützt, obwohl die Notlage der Familie nicht groß sein kann, da wie aus den Berichten hervorgeht […] verschiedene teure nicht lebenswichtige Gegenstände, wie Radioapparat, Fahrräder angeschafft wurden.8 Zugleich galt die Devise: Stets ist darauf hinzuweisen, dass die politische Beurteilung frei von persönlichem Einflüssen abzugeben ist. Oft hängt von einer solchen Beschreibung das Wohl und Weh einer Familie ab und hat daher die Erhebung gründlichst durchgeführt zu werden.9 Diese Quellen bieten einen Einblick in zahlreiche Nachbarschaftsstreitigkeiten oder Familienkonflikte, in denen sich Menschen gegenseitig vernaderten und bespitzelten. Spannungen, die in manchen Fällen seit Jahrzehnten schwelten, konnten nun mit anderen bzw. neuen Mitteln entladen werden. Anzeigen wegen Ruhestörung oder Dreck, oder weil die Thujen ins eigene Grundstück ragten, konnten mit der Zeit um weitere Facetten ausgeweitet werden. Als 1933 die NSDAP und KP verboten wurde, konnte man den Nachbarn zusätzlich als Nazi und Kommunist denunzieren. Als ein Jahr später die SDAP verboten wurde, konnte man den Nachbarn als Nazi, Kommunist und zusätzlich als Sozialisten denunzieren. Nach dem Anschluss konnte man den Nachbarn weiterhin als Sozialisten oder Kommunisten denunzieren, neu hinzu kam Systemmann und/oder Jude. Um ihre Ergebenheit gegenüber der NS-Bewegung auszudrücken, schreckten Menschen nicht davor zurück, Familienfehden preiszugeben. So wurde mitgeteilt, dass man sich geweigerte hatte, Taufpate für Neffen oder Nichten zu sein, da diese nicht im nationalsozialistischen Sinn erzogen wurden oder weil sie nicht bei den deutschnationalen, sondern bei den christlichsozialen Turnern waren. Intime Details wie Ehebrüche, Liebschaften, Kuckuckskinder und sonstige Delikatessen fanden Einzug in allerlei Berichte. Es kursierten die aberwitzigsten Gerüchte und Geschichten, und man grübelte unter anderem, ob der eine Mann, der da ständig ein- und ausging, der Neue, der Liebhaber oder in Wirklichkeit wieder der Alte sei. Frauen standen hierbei unter spezieller moralischer Beobachtung, inklusive jeweiliger Geschlechterstereotypen. Elfriede K. galt als lügnerisch, streitsüchtig und führt leichten Lebenswandel.10 Und bei Maria Pürringer lesen wir, Umfragen in der Nachbarschaft haben ergeben, dass sie ein Verhältnis mit einem verheirateten Manne hat, doch konnte bis heute nicht festgestellt werden, ob dieser geschieden ist oder noch mit seiner Frauen zusammenlebt.11 Auf Mann-Frau-Rollenbilder werde ich gesondert eingehen. Die Lebensgeschichten zahlreicher Badener standen nun auf dem Prüfstand. Ähnliche Lebensläufe ergaben nicht automatisch ein ähnliches Beurteilungsergebnis. Pragmatis8
StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Hasenöhrl Josefine (geb. 1908) und Hasenöhrl Karl (geb. 1903). 9 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. II Korrespondenz; November 1938 – Schreiben an Zellen- und Blockleiter. 10 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: K. Elfriede (geb. 1916). 11 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Pürringer Maria (geb. 1890).
… und die Quellen
mus und Opportunismus der zu Beurteilenden konnten positiv als auch negativ durch die Nationalsozialisten ausgelegt werden. Man konnte durchaus Verständnis aufbringen und sich bei der Beurteilung kulant geben, wie im Fall von Dr. Bruno Kohl. Ein vaterländisch gesinnter Angestellter bei den Bundesbahnen, der Nationalsozialisten als Nazibuben und Bombenattentäter bezeichnet hatte und dessen Schwägerin mit dem Juden Dr. Berger verheiratet war. Das waren die Fakten/Vorwürfe, die auf dem Tisch lagen. Die NS-Stellen konnten diese nun verschieden handhaben. Bei Bruno Kohl wählte man folgende Herangehensweise: Bezüglich seiner anti-nationalsozialistischen Aussagen zeigte man Nachsicht. Als Angestellter der Bundesbahnen war er nun einmal mit zahlreichen Sprengstoffanschlägen konfrontiert gewesen. Dass er dadurch auf die NS-Bewegung „nicht gut zu sprechen war“, war nachvollziehbar. Er war eben ein betriebstreuer Mann. Und bezüglich seiner Schwägerin? Was konnte er dafür, dass die Schwester seiner Frau einen Juden geheiratet hatte? Jedenfalls sahen die Nationalsozialisten keinen Grund, ihm das Leben schwer zu machen.12 Verständnis hatten die NS-Behörden auch mit Anton Hanczl. Politisch war er zwar einwandfrei, aber moralisch gab es einige Makel in Form von mehreren Haftstrafen. Allerdings zeigte er Reue, und auf die schiefe Bahn sei der Mann wohl aufgrund falscher Erziehung bzw. einer erblichen Belastung gelangt, für die er schließlich keine Verantwortung trage, denn wir lesen: der Vater Trinker, die Mutter Tschechin.13 Nicht immer hatten es die zuständigen Stellen so leicht, eine Beurteilung zu fällen. Manche Badener waren politisch schwer zu knacken, sie waren politisch indifferent bzw. es war sowohl in politischer als auch in moralischer Hinsicht weder etwas Positives noch etwas Negatives bekannt. Dabei handelte es sich um durch und durch unpolitische Personen oder verschlossene Charaktere. Als es darum ging, Josef Walter zu beurteilen, hatte der Blockleiter bzw. wer auch immer seine liebe Not. Der zu Beurteilende lebte sehr zurückgezogen, und so musste der Blockleiter ausgiebig vom Konjunktiv Gebrauch machen und sich Formulierungen bedienen wie: ich glaube, man vermutet, die Leute sagen, es gab da Gerüchte usw. Umgemünzt auf Josef Walter, er solle kommunistisch eingestellt gewesen sein, dann wahrscheinlich bei der VF, vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen, nach dem Umbruch kurz bei der SA, angeblich aufgrund eines Fußleidens ausgetreten.14 Die politischen Beurteilungen zogen sich in einigen Fällen über Wochen und Monate hin und konnten bei einer Person mehrmals durchgeführt werden. Ärgerlich war es, wenn die neue Beurteilung der vorherigen diametral gegenüberstand. Denn nun musste nicht nur die zu beurteilende Person abermals beurteilt werden, sondern es musste genauso eruiert werden, wieso es zu diesen Unterschieden kam. Wer hatte die erste Beurteilung vorgenommen? Ging alles mit rechten Dingen zu? Wir dürfen nicht vergessen, vieles beruhte auf Klatsch und Tratsch, auf persönlichen Befindlichkeiten und nachbarschaftlichen Streitereien. 12 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Kohl Bruno (1897–1964) – obwohl es sich um Personalakten handelt, finden sich hier ebenso Politische Beurteilungen. 13 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Hanczl Anton (geb. 1915). 14 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Walter Josef (geb. 1910).
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So reagierte Kreispersonalamtsleiter Dr. Anton Stumpf 1942 etwas pampig bei der abermaligen Beurteilung von Karl Bauer. Denn die Beurteilungen würden, obwohl nur ein Jahr auseinanderliegend, einander vollkommen widersprechen, da das Verhalten Bauers sowohl in der Systemzeit als auch in der Gegenwart einmal als gehässig gegnerisch zur NSDAP, das andere Mal aber als sympathisierend bezeichnet wird.15 Die Causa beschäftigte die NSDAP vom März 1940 bis zum März 1942. Es gab drei verschiedene Beurteilungen von drei verschiedenen Zellenleitern, einem fragenden und ungeduldigen Kreispersonalamtsleiter und letztendlich einem Kreisleiter, der Bauer als nicht unbedingt politisch zuverlässig einstufte, aber eine Auszeichnung mit dem Ehrenzeichen für die deutsche Volkspflege schien ihm für diesen vertretbar zu sein. Offenbar war das der Grund des ganzen Unternehmens – ob Bauer würdig war, diese Auszeichnung überreicht zu bekommen. Bei dem nächsten Quellenbestand handelt es sich um Personalakten bzw. sind die Kartons in dieser Weise beschriftet und alphabetisch geordnet. Oft haben wir Überschneidungen mit den politischen Beurteilungen und Ermittlungsakten von nach 1945. Ein Unterschied ist aber, dass hier vermehrt Personalakten von Badenern und in Baden stationierten Soldaten oder Soldaten, die sich hier auf Kur oder im Lazarett befanden, zu finden sind. Zu den prominentesten gehört Kurt Waldheim. Dem Akt können wir entnehmen, dass er von November 1942 bis März 1943 auf Studienurlaub in Baden weilte. Im Dezember 1942 wurde er zum Oberleutnant der Reserve befördert. Wegen einer Verleihung des Sturmabzeichens legte er in schriftlicher Form seine militärische Karriere dar. Im Juni 1941 Angriff gegen die Nordbrücke der Zitadelle von Brest Litowsk. Ein Monat später Angriff auf Zapole und ein Gegenangriff in Olczany. Mit dem Kugelschreiber wurde dazugeschrieben, dass sämtliche Angriffe an vorderster Front mit der Waffe in der Hand erfolgt seien. Gemeldet war Kurt Waldheim seit September 1940 in Baden. Im Jänner 1941 wurde er zum Leutnant befördert. Gewohnt hatte er bei seinen Eltern in der Eichwaldgasse 23. In seiner Beurteilung vom November 1938 wird seine schnelle Auffassungsgabe hervorgehoben, sein Charakter als anständig bezeichnet, sein Auftreten als stramm und seine Leistungen als Truppenführer als sehr gut eingestuft. Drei Jahre später schien er sich ebenso nichts zu Schulden kommen lassen, ein tadelloser Charakter, einwandfreier Lebenswandel, sehr anständige Persönlichkeit.16 Der nächste Quellenbestand umfasst die Anträge zur Streichung von den NS-Registrierungslisten – ebenso alphabetisch geordnet. Hier schildern Betroffene, weshalb sie der Meinung sind, sie sollten nicht mehr als Nationalsozialisten kategorisiert werden. Es sind Quellen, die mit Vorsicht zu genießen sind, da auch hier einem die Subjektivität förmlich ins Auge springt. Allerdings bieten sie einen wunderbaren Einblick in die Selbstwahrnehmung und Analyse des Parteibeitritts zumeist „einfacher“ Parteimitglieder. Die Betroffenen legen ihre Gründe dar und hoffen auf Bestätigung durch die vier Prüfer der Kommission. Als Vorsitzender fungierte Dr. Franz Emberger. Für die ÖVP saß Julius Hahn in der Kom15 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Bauer Karl (geb. 1907). 16 StA B, GB 052/Personalakten: Waldheim Kurt (1918–2007).
… und die Quellen
mission, für die SPÖ Dr. Walter Rosna und als Vertreter der KPÖ finden wir Hans Mayer.17 Sie entschieden, ob dem Ansuchen stattgegeben oder der Antrag abgelehnt wurde. In den allermeisten Fällen wurden die Anträge einstimmig abgelehnt oder angenommen. Einzig bei einer Handvoll Ansuchen entschied der Vertreter der KPÖ gegen die Streichung. Betroffen davon waren zumeist Sicherheitsbeamte. Die Aussagen der Antragsteller werden manchmal mit Bestätigungen anderer Personen unterlegt: Familie, Arbeitskollegen, Opfer des Nationalsozialismus oder Freunde. Verschiedene Behörden nehmen Stellung, wie Parteien, Firmen (Arbeitgeber) oder Widerstandsorganisationen. Es kam immer darauf an, warum jemand der NSDAP beigetreten war, ob er eine Funktion ausgeübt hatte und wie engagiert er gewesen war. Auf die verschiedenen Gründe werde ich in einem eigenen Kapitel näher eingehen. Hier sei nur auf das Quellenkorpus näher eingegangen und welchen Wert es für uns hat. Heinrich Brammen, aus Westfalen stammend, schildert, wie er als Techniker in einer Motorsportschule samt dem gesamten Personal bei der NSDAP angemeldet wurde. Er erhielt zuerst eine Parteianwärter (PA)-Karte. 1939 wurde er eingezogen, kam 1940 nach Baden in die Flak-Artillerieschule V, bis er im November 1940 für die Rüstung freigestellt wurde. Seine Beiträge zahlte er von 1937 bis 1939, dann wieder von November 1940 bis Mai 1941. Weiters versicherte er, keine Funktion innerhalb der NSDAP ausgeübt zu haben, stattdessen sei er gerügt worden, das Parteiabzeichen nicht zu tragen. Im Juni 1942 heiratete er die Tochter des Friedhofsverwalters Josef Buchgraber, Maria Buchgraber, und wurde Vater von zwei Kindern. Seiner Darstellung schenkte die Kommission Glauben und seinem Antrag um Streichung wurde stattgegeben.18 In anderen Fällen, in denen ähnliche Argumente vorgebracht wurden, wurde der Antrag negativ beschieden. Als ein Beispiel von vielen sei Dr. Ilse Breindl angeführt. Sie wurde als Leiterin im niederösterreichischen Kinderkrankenhaus in Baden eingestellt und war zugleich von 1938 bis 1945 Professorin im Mädchen-Realgymnasium (heute Gymnasium Frauengasse). Solch ein Posten verlangte die Parteimitgliedschaft. Sie sagte aus, ansonsten keine Funktion innerhalb der Partei ausgeübt, sich nicht bereichert zu haben oder gehässig aufgetreten zu sein, sondern eher durch politisches Desinteresse aufgefallen zu sein. Ihr Antrag wurde abgelehnt.19 Es sind nur zwei von zahlreichen Beispielen. Weshalb einem Antrag stattgegeben wurde und dem anderen nicht, ist nicht immer ersichtlich. Oftmals wurden Personen gestrichen, die aufgrund ihrer Stellung, Posten bzw. ihres Arbeitsplatzes grundsätzlich automatisch in die NSDAP übernommen wurden bzw., um ihr Einkommen nicht zu verlieren, beitreten mussten. 17 Franz Emberger (geb. 1891), Walter Rosna (1911–2001), zu Hans Mayer konnten keine Lebensdaten eruiert werden. 18 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Brammen Heinrich (1913–1969) – Josef Buchgraber (1893–1953), Maria Buchgraber (1921–2007). 19 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Breindl Ilse (geb. 1896) und Festschrift zur 50-Jahrfeier 1902–1952 des Mädchen Realgymnasiums, S. 23; Aufliegend im Stadtarchiv Baden.
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Josef Fahnler, Beamter bei der Sparkasse Baden, erzählte, wie von Seiten seines Dienstgebers moralischer Druck ausgeübt worden war, der NSDAP beizutreten und sogar Funktionen zu übernehmen. Mitte 1939 wurde er Parteianwärter, eine Funktion innerhalb der Partei lehnte er ab. Weder strebte er die Block- noch Zellenleitung an. Säumig war er genauso beim Tragen des Parteiabzeichens. Rügen und Beanstandungen von Seiten der NSDAP waren die Konsequenz. Von Bereicherung oder der Ausnutzung seiner Parteimitgliedschaft konnte keine Rede sein, hier hatte er ein stichhaltiges Argument: Habe jetzt im Jahre 1945 genau dieselbe Arbeit zu verrichten wie im Jahre 1938 bei gleicher Bezahlung.20 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Ähnlich verlief es für den Juristen und Teilnehmer des Ersten Weltkrieges, Oberleutnant der Reserve Dr. Alois Fauland, Angestellter bei der Firma Böhler in Kapfenberg als Industriejurist, zuletzt als Werksekretär. Als Gegner der NS-Bewegung bekannt, erfolgte nach dem Anschluss seine Versetzung nach Sosonowice (Polen) zu einer Tochterfirma – zuvor kam es zu Schmähungen und Drohungen. Um weiteren Schikanen zu entgehen, beschloss er im Sommer 1938, der NSDAP beizutreten. Aus politischen Gründen wurde er zuerst abgelehnt und erst beim zweiten Versuch als Parteianwärter zugelassen. Zurück in Österreich bzw. der Ostmark wurde er in den Metallwerken A.G. in Enzesfeld tätig, wo ihm von Anfang an klargemacht wurde, dass man über ihn als Antinazi und Schwarzen Bescheid wisse, und Landrat Wohlrab wollte nicht einmal einer Betriebsfeier beiwohnen, an der solche Systemgegner wie er ebenso teilnehmen. Schließlich war er 1931 Kommandant der Heimwehr in Kapfenberg gewesen und 1932 Bürgermeisterstellvertreter. Zugleich hieß es, dass er 1933 mit der NS-Bewegung in Verbindung gestanden, er gesuchten Nationalsozialisten bei der Flucht geholfen und 1937 Dr. Anton Rintelen im Spital besucht hatte. Weitere Überprüfungen waren erforderlich. Klar hingegen war, dass er, sofern es in seiner Macht stand, sich für Verfolgte einsetzte, für Personen, die mit dem KZ bedroht wurden oder bereits im KZ waren. Seine Aussagen wurden durch mehrere eidesstaatliche Erklärungen bestätigt, die das Gericht für einwandfrei erachtete. Für ihn setzten sich nicht nur jene ein, denen er geholfen hatte, selbst Parteimitglieder bezeugten seine NS-Antihaltung und das Misstrauen, das man ihm gegenüber hegte.21 Doch auch bei solchen Lebensläufen kam es nicht automatisch zu einer Streichung von den Registrierungslisten. Viktor Hofbauer, Postdirektor a.D., trat zwar 1932 der NSDAP bei. Er wollte seinem Freund, dem späteren Bürgermeister Franz Schmid, einen Gefallen tun. Nach dem NSDAP-Verbot 1933 trat er wieder aus und unterließ jegliche Betätigung. Erst nach dem Anschluss wurde er von Schmid reaktiviert. Doch nun hielt er Abstand zur NSDAP. Stattdessen pflegte er weiterhin Kontakte zu Juden und brach diese erst ab, als das Tragen des Judensterns schlagend wurde. Als Hausverwalter in der Grabengasse 20 machte er ferner Witze über das NS-Regime, geißelte die NS-Methoden, verurteilte den Personenkult um Hitler, verweigerte den Hitlergruß und tolerierte das Hören von Feindsendern. All 20 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Fahnler Josef (geb. 1890). 21 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten und GB 052/Personalakten: Fauland Alois (geb. 1896).
… und die Quellen
seine Aussagen wurden von den Zinsparteien bestätigt, wie auch von Joachim Scendzer, einem Juden, der 1939 in Wien als Postamtsdirektor entlassen wurde und nur dank seiner „Mischehe“ überlebte. Wohlwissend, dass er als Feind angesehen wurde, verkehrte Viktor Hofbauer regelmäßig mit ihm und ließ ihn gar während der Kursaisonen 1938 und 1939 mal offiziell, mal inoffiziell bei ihm wohnen. Dennoch wurde sein Antrag abgelehnt.22 Bei den allermeisten Antragsstellern handelte es sich um „kleine NS-Fische“. Überzeugte Nationalsozialisten wussten von Anfang an, dass ihrem Antrag nicht stattgegeben werden würde. Manche, auch langjährige Parteimitglieder, probierten es trotzdem. Eduard Fischer, der der NSDAP 1931 beigetreten war und sich zwischen 1933 und 1938 illegal betätigt hatte, das Prädikat „Alter Kämpfer“ erhielt und von 1938 bis 1944 Ortsgruppenleiter Baden-Weikersdorf, probierte es genauso wie Heinrich Gerischer, der 1932 und Friedrich Glanner, der 1934 der NSDAP beigetreten war. Als Gründe nannte man Zerwürfnisse mit der Bezirksführung oder Gefälligkeiten, die man Regimefeinden und Verfolgten gewährt oder hier und da ein Auge bei defätistischen Aussagen zugedrückt hatte. Gefruchtet hat dies bei jenen drei Männern nicht.23 Aber auch hier gibt es nicht immer ein eindeutiges Muster. So wurde Gabriele Mayer von den Registrierungslisten gestrichen, obwohl sie 1939 um die Parteimitgliedschaft angesucht hatte und das Haus Rainer-Ring 6 arisiert hatte. Sie konnte allerdings glaubhaft versichern, dass nichts davon politisch motiviert gewesen sei, sondern rein ökonomisch. Da ihr Kürschnerbetrieb in eben dem Haus Rainer-Ring 6 einen großen jüdischen Kundenstock aufwies, galt er nach der NS-Machtübernahme als „verjudet“ und war damit von Boykottaufrufen betroffen – bei gleichzeitigem Wegbrechen der bisherigen jüdischen Kundschaft. Um dem zu entkommen, suchte sie um Parteimitgliedschaft an, die ihr jedoch nie gewährt wurde. Und was die „Arisierung“ anbelangte, so griff sie deswegen zu, damit das Haus nicht in die Hände überzeugter Nationalsozialisten gelange. Dass sie selbst keine gewesen sei, erklärte sie mit ihrer Beziehung zu Franz Cap, einem Sozialisten, der im März 1938 in die Rathauskeller verschleppt wurde. Ferner unterstützte sie finanziell die Jüdin Gertrude Douda, Ehefrau des Richters Dr. Franz Douda, der aufgrund seiner jüdischen Ehefrau im November 1938 in den Ruhestand versetzt, 1946 wieder aktiviert und 1949 zum Ersten Staatsanwalt ernannt wurde.24 Hilfe erfuhr noch die Familie Oedenburger, die ursprünglichen Besitzer des Hauses Rainer-Ring 6. Laut Gabriele Mayer ließ sie Sarah Oedenburger ein Jahr weiterhin dort wohnen, ohne Zins zu verlangen, bis zu jenem Zeitpunkt, als der Druck durch die Kreisleitung zu groß wurde. Laut Meldezettel wohnte dort
22 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hofbauer Viktor (geb. 1878). 23 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten:Fischer Eduard (1887–1969), Gerischer Heinrich (1901–1983), Glanner Friedrich (1902–1966). 24 Gertrude Douda (1907–1994), Franz Douda (1905–1983). Vgl. ENDERLE-BURCEL Gertrude, Karriere von Richtern und Staatsanwälten. 1938 bis 1945 und in der Nachkriegszeit (BRGÖ 2017 Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs) abgerufen auf www.austriaca.at/0xc1aa5576 0x00361dd9.pdf (10.04.2023).
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Erster Teil Vorspiel und Einleitung
nie eine Sarah Oedenburger; es kann jedoch sein, dass mit Sarah der diskriminierende Zusatzname gemeint ist und es sich dabei wahrscheinlich um Barbara Oedenburger handeln könnte. Sie wäre demnach die Mutter von Moritz Oedenburger, der mit seiner Frau Rosa Oedenburger 1942 nach Izbica deportiert und ermordet wurden.25 Seiner Mutter wiederfuhr im selben Jahr das gleiche Schicksal, nur eben in Theresienstadt. Sein Vater, Gustav Oedenburger, starb im Jänner 1940, dessen zweite Ehefrau, Helene Oedenburger, wurde 1942 in Maly Trostinec ermordet. Weitere Familienmitglieder waren Leopold Oedenburger, seine Frau Rosa Oedenburger, ihre Tochter Gerda Oedenburger – sie alle wurden ebenso deportiert und ermordet. Noch unbekannt sind die Schicksale von Grete Oedenburger, Terza Oedenburger und Alice Oedenburger.26 Gabriele Mayer wurde nie Parteimitglied. Sie blieb von 1939 bis 1945 Parteianwärterin. Ihre Kontakte zu Juden brachten ihr wiederholt Strafandrohungen seitens der Kreisleitung ein. Ihre beiden Söhne wurden eingezogen. Benno Mayer wurde zweimal schwer verwundet. Der Jüngere, Heinrich Mayer, fiel 1942 in Stalingrad.27 Zuletzt seien noch die Kartons mit Entnazifizierung-Ermittlungsakten erwähnt, die aufgrund ihrer Bezeichnung selbsterklärend sind. Hier wurde umfangreiches Material während der Besatzungszeit zur NS-Zeit gesammelt und ausgewertet – hauptsächlich durch die Abteilung Politische Polizei Baden. Es finden sich wiederum Überschneidungen mit den anderen Quellenbeständen, vor allem Personalakten und Registrierungslisten. * Quellenkritik ist in solchen Fällen das Maß aller Dinge. Dass nicht alles der Wahrheit entspricht, steht außer Frage. Selbst Zeugenaussagen und Entlassungsbriefe können ausgeschmückt sein oder sonst irgendwie nicht die Realität widerspiegeln. Das wusste der Polizeibeamte Alois Klinger nach 1945 nur allzu gut, und jetzt versuchen sie dies alles abzuleugnen, damit sie nicht als Belastete eingestuft bleiben, wobei sie nur wieder Illegale […] als Zeugen anführen oder sich entweder auf Tote oder Abwesende berufen wollen.28 Mir liegt es fern, all diese Aussagen als Lug und Trug zu abzutun, doch es ist Tatsache, dass Menschen in Extremsituationen es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen – einst und jetzt. Da konnte es passieren, dass man sich nicht an alles erinnern konnte, dass wichtige Doku25 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/people sowie die Opferdatenbanken vom DÖW und yadvashem.org (10.04.2023). 26 Barbara Oedenburger (geb. 1859), Moritz Oedenburger (geb. 1876), Rosa Oedenburger (geb. 1882 oder 1884), Gustav Oedenburger (1853–1940), Helene Oedenburger (1878–1942), Leopold Oedenburger (geb. 1889), Rosa Oedenburger (1898), Gerda Oedenburger (geb. 1927). Grete Oedenburger (geb. 1922), Terza Oedenburger (geb. 1880), Alice Oedenburger (geb. 1904). 27 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Mayer Gabriele (1894–1970) – Benno Mayer (1915– 2002), Heinrich Mayer (1920–1942). 28 StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Heinz Friedrich (geb. 1902) – Klinger an BH-Baden (08.05.1948).
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mente „verloren gingen“, dass alles ganz anders war; Raum und Zeit kommen durcheinander, ein Datum wird unkorrekt wiedergegeben, ein falsches Alter angegeben und vieles mehr. Manche Schilderungen ähneln sich sehr und sind recht häufig, besonders jene, wonach man angeblich nichts gesehen hätte. Solche Schilderungen widersprechen zahlreichen Tatsachen und manchmal dem ganz gewöhnlichen Hausverstand. Die menschliche Komponente darf nicht außer Acht gelassen werden, nämlich der Wille zu überleben, zu leben und möglichst gut zu leben. Dass dabei das achte Gebot oftmals auf der Strecke bleibt, ist genauso menschlich. Ich nehme mich nicht aus der Schusslinie, das eine oder andere Mal selbst einem meiner Protagonisten dieser Zeit und seiner Aussage auf den Leim gegangen zu sein. Deswegen liegt es auch an Ihnen, liebe Leserin oder lieber Leser, stets im Hinterkopf zu behalten, dass so manch ehrbarer Mensch in Zeiten, wie sie damals herrschten, es mit der Wahrheit womöglich nicht ganz so genau nahm und sich somit der Spezies Mensch konform verhielt. Ich empfehle da einen Ausgleich zwischen totaler Skepsis und ungesunder Naivität. Nun noch etwas technische Natur. Bei der Handhabe akademischer Titel finden diese bei der ersten Erwähnung ihren Platz, danach nicht mehr. Doch auch hier kann es passieren, dass sich Fehler einschleichen. Das gilt vor allem für diverse Titel, Funktions- und Postenbezeichnungen. Manchmal ist jemand als Leiter einer Behörde geführt, dann wieder als Direktor, Amtsführer oder Dienstleiter usw. Eine weitere Unsicherheit sind die verschiedensten Dienstgrade bei der NSDAP und ihren Gliederungen – auch hier sind die Quellen manchmal ziemlich uneins. Mit der Zeit wurden Menschen befördert oder degradiert, oder Funktionen wurden unbenannt oder zusammengelegt. Und das NS-System war nicht arm an Titeln, Rängen sowie ständigen Neuschöpfungen. Wichtig ist zudem, dass nicht immer klar ist, wer nun Parteigenosse PG war oder Parteianwärter PA. Ein Buchstabe machte einen bedeutenden Unterschied. Zwischen 1938 und 1945 betonten Betroffene vor allem das G nach dem P, nach 1945 hingegen eher das A. Bei Grammatik- und Rechtschreibfehlern in direkten Zitaten erspare ich mir und Ihnen das akademische [sic!] – ganz nach dem Motto: Die Lesbarkeit geht vor. Bei Flüchtigkeitsfehlern habe ich es mir herausgenommen, jene zu korrigieren – dies betrifft fallweise auch die alte Rechtschreibung. Eine von mir immer wieder verwendete flapsige Formulierung ist „nach 1945“. Damit ist immer die Zeit nach Kriegsende in Europa 1945 gemeint. Des Weiteren muss erwähnt werden, dass die Akten alles andere als vollständig bezeichnet werden können. Manchmal sind sie es, und wir haben ein umfangreiches Konvolut zur Verfügung, manchmal nicht. Manchmal brechen sie in der Mitte ab, oder es fehlt der Anfang, oder wir haben nur das „Ergebnis“, aber nicht die Vorgeschichte. Außerdem wurde während meiner Recherchearbeit das Archiv teilweise umsortiert. Es kann sein, dass sich veraltete Kartonbezeichnungen in den Fußnoten wiederfinden. Die Quelle an sich ist dadurch nicht verloren. In den Fußnoten trenne ich Archiv, Karton, Faszikel, Mappe usw. durch einen Strichpunkt. Beifügungen sind durch einen Gedankenstrich getrennt. Da meine unheimlich kreativen Überschriften meist wenig aussagekräftig in Bezug auf den Inhalt sind, gibt es im Anhang einen Index, wo die unterschiedlichen Themenbereiche eindeutig herausgelesen werden können.
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Erwähnt werden muss noch, dass manche Namen in den Akten eine unterschiedliche Schreibweise aufweisen. Ein c wird zu einem k, manchmal hat die Person zwei f oder m in ihrem Namen, dann wieder eines, und die letzten Buchstaben kommen auch manchmal durcheinander. Nicht immer konnte ich den Vornamen einer Person eruieren. Auffallend ist, dass bei jüdischen Namen die Behörden keinen großen Wert auf die richtige Schreibweise legten. Aus einem Herschl wird ein Hersch oder Hersz, oder man vergisst das e, und es kommt ein Hrschl raus. Oder ob eine Frau Rosa oder Rose hieß, schien fallweise Geschmackssache zu sein. Der Klassiker sind dann noch die beiden Varianten an Vornamen wie Hans/Johann, Sepp/Josef, Lilli/Elisabeth, Resi/Therese usw. Bei der Lektüre so mancher Meldezettel wird man mit einer wahrlichen Schmierage konfrontiert. Und dass so mancher Staatsdiener auf Gemeindeebene in den 20er und 30er Jahren im Meldeamt den Umgang mit den Geburtsdaten nicht ganz akkurat nahm, soll auch vorgekommen sein. Anhand eines Beispiels sollen die Tücken dargestellt werden, die einem bei der Recherche begegnen können, die aber zugleich die damalige Zeit wunderbar repräsentieren – Chaos und Leid auf unterschiedlichen Ebenen. Und zugleich wie zeitraubend es sein kann, wenn man (ich) sich in Details verirrt und vom Hundertsten ins Tausende kommt. Es geht um jenen Mann, der als Zeuge der beiden Reibpartie-Fotos auftrat, Heinz Klisowski, der Theresienstadt und Auschwitz überlebt hatte und danach nach Baden zurückkehrte. Werfen wir einen Blick ins Meldezettelarchiv, so gibt es dort keinen Heinz Klisowski, genauso wenig im Adressbuch der Kurstadt Baden von 1933/34. Googeln wir nach ihm, unter den Schlagworten „Heinz Klisowski Baden“, so erscheint an dritter Stelle der Handels-Compas 1958, wo wir auf den Eintrag Klisowski H.L. Ing., Baden 347 stoßen und an erster Stelle eine Worddatei der Internetseite www.judeninkrems.at Hier lesen wir von einem Klisowsky Heinz Ludwig, geb. 3. September 1907 in Lemberg, verheiratet mit Elisabeth Klisowski, letzte Wohnadresse Eichwaldgasse 16 und in der Spalte „deportiert“ steht zu lesen: 25. Mai 1943 Theresienstadt. Mit der Adresse, Eichwaldgasse 16, nahm ich nun das Adressbuch zur Hand und fand im Häuserkataster als Hausbesitzer Adele Ingwer, Josef und Anna Luft – im Adressteil wurden alle drei Namen bestätigt. Nun ging es wieder zurück ins Meldezettelarchiv, und ich fand Josef Luft (geb. 1882), verheiratet mit Anna Luft (geb. 1883), und deren zwei Kinder Marie (geb. 1910) und Edwin (geb. 1918), als auch Adele Ingwer, geborene Luft (geb. 1868), verwitwet seit 1929, und ihren Sohn Heinrich, geboren am 4. September 1907. Als Religionsbekenntnis war bei allen mosaisch angegeben. Außer beim Meldezettel ihres Sohnes Heinrich – der hier Heinrich Heinz Ludwig Ingwer heißt, von Beruf Ingenieur ist und diesmal am 3. September 1907 in Lemberg das Licht der Welt erblickte. Als Religionsbekenntnis konfessionslos eingetragen, darunter nachträglich dazugeschrieben: „mosaisch“, und daneben mittels Stempel hinzugefügt: „Ausländer“. Durch Zufall stieß ich in einem anderen Akt im Badener Stadtarchiv auf folgenden Eintrag: Laut Angaben des Ing. und Radiotechnikers Heinz Klisowski (am 3.9.1907 in Lemberg geboren, dermalen österr. Staatsbürger) welcher nach seinen Adoptiveltern Ladislaus und Adele Ingwer in Baden allseits bekannt ist und dermalen im eigenen Hause in Baden, Eich-
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waldgasse Nr. 16 wohnt […].29 Bestätigt wird eine Adoption auch durch einen weiteren Akt aus dem Jahre 1948. Hierbei geht es um die Anklage gegen Paula Meisel, welche nach dem Anschluss die Chance ergriffen hatte, unter Ausnützung des NS-Apparates sich ihres Geschäftsteilhabers, Heinz Klisowsky, zu entledigen da der Genannte von jüdischen Zieheltern adoptiert war, und sie ihn als Juden und polnischen Staatsbürger ansah.30 Aber, um bei dem ersten Zitat zu bleiben, einen Ladislaus Ingwer gibt es weder in den Meldezetteln noch im Adressbuch 1933/34, dafür einen Isak Ingwer (1853–1929) in den Meldezetteln und im Adressbuch von 1929 stoßen wir auf: „Ingwer Isaak und Adele“ sowie auf einen „Ingwer Heinz, Ing.“ unter der Adresse „Eichwaldgasse 16“. Als nächstes bieten sich die Opferdatenbanken von Yadvashem und dem DÖW an. Und hier wird es erneut konfus. Während bei Yadvashem ein Heinrich Ludwig Ingwer (geb. 1907) aus Baden in Auschwitz ermordet wurde, so überlebte in der DÖW-Opferdatenbank ein Heinrich Ingwer, geboren am 3. September 1907, den Holocaust. Neben einem Foto haben wir noch einen Auszug aus dem Tagesbericht der Gestapo, wonach er der außereheliche Sohn einer Jüdin wäre, sein Vater sei unbekannt. Dass er sich als „Mischling I. Grades“ bezeichnet hatte – für das NS-Regime war er „Volljude“ – führte zu seiner Verhaftung am 27. April 1943, am 25. Mai 1943 kam er nach Theresienstadt und am 28. September 1944 nach Auschwitz. Fassen wir bis jetzt zusammen, so haben wir einen Heinrich Ingwer und einen Heinz Klisowski, die sich in den meisten Quellen das gleiche Geburtsdatum, jedoch nicht Namen teilen – von fluiden v‘s und w’s sowie i‘s oder y‘s am Schluss sehe ich grundsätzlich ab. Etwas Licht erbrachte mir der Zufall. In den Vermögensanmeldungen und dem Arisierungsakt (aufliegend in NÖLA) zur Eichwaldgasse 16 – hier ist übrigens Adele Ingwer 1864 zur Welt gekommen, während in den Meldezettel 1868 eingetragen ist – erfahren wir, dass das Haus zur Hälfte ihr und ihrem Bruder Josef Luft samt Ehefrau Anna gehörte. Letztere wendeten sich im Zuge der „Arisierungen“ am 17. März 1939 von Lemberg aus an die Kreisleitung Baden und erklärten, dass sie als polnische Staatsbürger nicht zum Verkauf ihres Besitzes in Baden gezwungen werden könnten. Außerdem hatten sie mit der Verwaltung ihres Besitzes eine Arierin Namens Stanislawa Klisowska beauftragt. Für mich hieß es wieder zurück zu dem Meldezettel und dem Adressbuch. In jenem von 1933/34 findet sich keine Stanislawa Klisowska, dafür in dem von 1929 – eine Wirtschafterin, Eichwaldgasse 16. Laut Meldezettel ist sie 1879 in Schlesien, in Krapkowice geboren, ledig, römisch-katholisch und deutsche Reichsangehörige. In den Spalten „Name des Dienstgebers“ steht Adele Ingwer, und bei Diensteigenschaft ist zu lesen: „Mädchen für alles“. Fassen wir nochmals zusammen, so sieht es aus, als hätte dieses „Mädchen für alles“ Heinrich Ingwer „adoptiert“ und er seinen Namen zu Heinz Klisowski geändert. Werfen wir abermals einen Blick auf das erste Zitat, so lesen wir aber von einem jedoch nicht existenten Ladislaus Ingwer als Adoptivvater und Adele Ingwer als Adoptivmutter. Ein Ladislaus kann mitunter durch eine Arztklaue zu einer Stanislawa mutieren und vice versa. 29 StA B, GB 052/Personalakten: Cappe Theodor – Amtsbericht Klinger (30.08.1948). 30 StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Meisel Paula (geb. 1890).
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Das könnte zutreffen, aber es könnte auch sein, dass Heinz Klisowski als Heinz Klisowski auf die Welt kam und erst nach der Adoption durch Isak und Adele Ingwer eine Namensänderung vorgenommen wurde. Warum? Vielleicht, das ist aber alles nur Spekulation meinerseits, war der Genannte das Produkt einer Affäre zwischen dem Hausherren Isak Ingwer und der Wirtschafterin Stanislawa Klisowska, der dann durch die Ingwers adoptiert wurde, um Schein und Ehre zu wahren – die Ehre in all ihren Schattierungen wird uns übrigens noch oft begegnen. Wie gesagt, alles Spekulationen, die sich, sobald diese Zeilen durch Wissende gelesen, sofort in Luft auflösen könnten. Seine Mutter oder Adoptivmutter, Adele Ingwer, war laut Meldezettel am 24. Mai 1941 verstorben – sie scheint in den Holocaust-Opferdatenbanken nicht auf. Wann es zur möglichen Adoption und Namensänderung (und erneuten Namensänderung) kam, ist nicht bekannt. Bei seiner Verhaftung 1943 hieß er noch Heinrich Ingwer, während er in den Badener Ermittlungsakten nach 1945 als Heinz Klisowski bezeichnet wird, der, laut dem oberen Zitat, in Baden allseits bekannt war Gestorben ist Heinz Klisowski am 25. März 1959. Auf dem Partezettel finden wir Stanislawa Klisowska als Mutter, Elisabeth Klisowska als Gattin, Leopoldine Walzhofer als Schwiegermutter und als Adresse Eichwaldgasse 16. Doch laut Bestattungsakt ist er nicht in Baden gestorben, sondern in Kierling Gugging. Wenn wir seinen Namen auf der Homepage des Stadtpfarrfriedhofs bei der Verstorbenensuche eingeben, so teilt er sich das Grab weder mit seiner Ehefrau noch Mutter/Adoptivmutter, sondern mit Adele Rothaler (1907– 1986) und Friedrich Rothaler (gest. 1972). Zumindest wenn wir das digitale Suchergebnis betrachten, denn vor Ort findet sich am Grabstein keiner dieser Namen, sondern eine Anna Garherr, geboren 1931. * Bevor es weitergeht, möchte ich einige Personen vorstellen, die als Quelle dienten und jedem weiteren Historiker weiterhin dienen werden, da sie zahlreiche Augenzeugenberichte hinterlassen haben oder an der Schaffung von Quellen beteiligt waren. Sie wurden bereits angesprochen und werden uns weiterhin begleiten. Da ich auf ihre Ausführungen im Laufe des Buches immer wieder zurückgreifen werde, möchte ich etwas näher auf sie eingehen. Dabei geht es auch darum, sie als Quelle einzuordnen, um als Leser ihre Sichtweisen besser nachvollziehen zu können. Denn sie alle sind Menschen, die in einer außergewöhnlichen Zeit lebten, welche ihren Blickwinkel dementsprechend beeinflusste. Beginnen möchte ich mit einem Mann, dessen Karriere 1907 als BezirksgendarmerieKommandant in Baden begann, Alois Klinger (1875–1955). In Tattenitz (Mähren) geboren, wurde er nach dem Ersten Weltkrieg Kommandant der Stadtpolizei Baden. Während seiner Führung durchlebte die Kurstadt diverse Unruhen von politisch linker und rechter Seite – wobei die rechte deutlich überwog. Bedingt durch das Erstarken der NSDAP trat Klinger immer mehr in Erscheinung, auch medial. Die Lokalmedien lobten ihn stets für seine gute Arbeit. Sympathie brachte ihm eine Aktion 1934, als er mit gezücktem Säbel
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bei einer NS-Kundgebung durch die Straßen stürmte und „Halt oder ich schieße!“ rief.31 Klinger war maßgeblich an der Verfolgung und Aufklärung terroristischer NS-Aktionen beteiligt. Böllerwürfe und Sprengstoffanschläge nahmen nach dem Parteiverbot der NSDAP deutlich zu. Betrachten wir die im Stadtarchiv vorliegenden Polizeiakten zwischen 1933 und 1938, die sich den unterschiedlichen Vergehen/Verbrechen dieser Zeit widmen, so finden wir 233 Fälle. Bei 105 Fällen ist es schwer möglich, einen politischen Hintergrund zu erkennen, während 104 auf das Konto der Nationalsozialisten gingen. Nur 13 waren kommunistisch motiviert, der Rest sozialistisch und unpolitisch.32 Um dem Nationalsozialismus zu begegnen, zückte Klinger nicht nur den Säbel. Gemeinsam mit seinem Kollegen Ludwig Gerstorfer hatte er ein Spitzelsystem innerhalb der Badener NS-Organisationen aufgebaut, durch das sie immer wieder zu Informationen gelangten und dadurch Verhaftungen generierten. Im Casino bot sich Dr. Karl Knotz an, der für seine Informationen und Denunziationen bezahlt wurde. Als vaterländisch und monarchistisch und damit gegenüber der NS-Bewegung gegnerisch eingestellt, fiel ihm diese Arbeit sicher nicht schwer. Die Nationalsozialisten bezeichneten das Spitzelwesen als „System Klinger“. Fatalerweise schafften es weder Klinger noch Gerstorfer, die Zahlungsbestätigungen ihrer Informanten nach dem Anschluss rechtzeitig zu vernichten. Stattdessen fielen sie den neuen Herren in die Hände.33 Neben den Terrorattacken musste Klinger genauso gegen Nationalsozialisten und Sympathisanten in den eigenen Reihen vorgehen. Hierbei soll er laut den „Opfern“ nach 1938 energisch durchgegriffen haben. Da es jedoch zu keinen Säuberungen bei den Sicherheitskräften in Baden zwischen 1933 und 1938 kam, wird das geschilderte energische Durchgreifen Klingers eher dem NS-Opfermythos entsprechen als den Tatsachen. Wenngleich Klinger nun aus Machtlosigkeit oder realpolitischem Kalkül die in den eigenen Reihen agierenden Nationalsozialisten nicht verdrängte, verhasst war er trotzdem. Er war einer der Ersten, die sogleich nach dem Anschluss verhaftet wurden. Zum Gaudium führender Nationalsozialisten wurde er aus seiner Wohnung geholt, im Rathaus eingekerkert und nach 38 Dienstjahren ohne Ruhegehalt entlassen. Dabei, so Klinger nach 1945, hätte es auch anders laufen können. Während der Verbotszeit war Franz Schmid an ihn herangetreten und hatte versucht, ihn auf seine Seite zu ziehen. Klinger lehnte ab. Was dann folgte, bezeichnet er als nervenaufzehrende Zeit voller seelischer Demütigungen und der ständigen Angst, in ein KZ deportiert zu werden. Hervorgetan hat sich hier allen voran Kreisamtsleiter Hans Gotz, dessen Drohungen dazu führten, dass Klinger sein Amtsund Dienstgeheimnis brach.34 Dies bewahrte ihn als ausgesprochen gehässigen Gegner des Nationalsozialismus – so das NS-Verdikt –, zumindest vor einer Deportation nach Dachau. 31 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 31. 32 Vgl. ANDREASCH Clemens, Illegale politische Aktivitäten in Baden und Bezirk Baden 1933 – 1938 (Baden 2014), S. 33. 33 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Knotz Karl (1877–1943). 34 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef und Gotz Hans.
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Dass Schmid Klinger auf seine Seite ziehen wollte, ist ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Schmid war ein wichtiges Zahnrad, ein alter Kämpfer und Illegaler, aber kein radikaler Nationalsozialist. Er wusste, dass Klinger ein Experte auf seinem Gebiet war. Sein Fachwissen hätte nützlich sein können. Interessant für Klingers weitere Lebensjahre unter dem Hakenkreuz war die Beurteilung von Johann Pribyl im Dezember 1939. Der Genannte stand im Verdacht, dem System Klinger angehört zu haben. Jedes Mal, so angebliche Zeugen, nachdem er mit Klinger zusammengetroffen sei, sei es bei stadtbekannten Nationalsozialisten zu Hausdurchsuchungen gekommen, bei denen dann die Handschellen klickten. Das Parteigericht wollte die Vorwürfe klären und beabsichtigte Klinger vorzuladen – wozu es letztlich nicht kam. Es sei sinnlos, argumentierte man, denn Klinger werde sowieso alles abstreiten.35 Diese Rechtfertigung für die Nicht-Vorladung wirkt recht überraschend. Schließlich haben wir es mit einem Regime zu tun, das nur zu gut wusste, wie man Menschen zum Reden bringen konnte. Nach 1945 war Klinger erneut in Amt und Würden. Wenn man so will, er machte dort weiter, wo er 1938 aufgehört hatte, er ermittelte gegen Nationalsozialisten. Er fertigte etliche Berichte an und leitete zahlreiche Ermittlungen ein. Die durch ihn fabrizierten Akten sind eine wunderbare Quelle der Zeit von 1938 bis 1945 wie auch der folgenden Jahre. Ihm verdanken wir das vierte wichtigen Quellenkorpus zur NS-Zeit in Baden. Es sind Ermittlungsakten und Empfehlungen für übergeordnete Stellen, basierend auf persönlichen Beurteilungen und Zeitzeugenberichten. Dass Klingers Charakterstudien der Badener Nationalsozialisten teilweise Objektivität vermissen lassen und teilweise Emotionen beinhalten, verwundert in Anbetracht all der Ereignisse und persönlicher Erlebnisse nicht. Er bezeichnete führende Nationalsozialisten in Baden als „Unmenschen und Verbrecher, die allesamt nach Sibirien gehören.“ Stellenweise fügte er hinter den Namen in Klammer hinzu: Dieb, Krimineller, Zuhälter, Homo. Seine Ausdrucksweise war nicht unbedingt politisch korrekt. Neben begangenen Straftaten ergänzte er seine Berichte durch weitere persönliche Details, wie bei dem Polizeibeamten August Ecker. Obwohl der Obengenannte keine illegale Mitgliedsnummer hatte, so hat er sich gegen die Nichtparteigenossen gehässig gezeigt und war für Wein, Alkohol und Frauen zugänglich und hat über die Verhältnisse eines Exekutivorganes gelebt.36 Die Arbeit nach 1945 war alles andere als einfach. Aufgrund des Mangels an fast sämtlichen Gütern verfasste er die ersten Berichte auf braunem Backpapier. Ein anderes Problem bestand darin, dass zahlreiche Akten zerstört worden waren, sei es durch gezielte Vernichtung oder durch Bombentreffer. Ein wohlbekanntes Problem kam hinzu: Selbst nach 1945 kämpfte er mit NS-Sympathisanten in den eigenen Reihen, die die Ermittlungsarbeit sabotierten, indem sie belastete Akten verschwinden ließen oder nicht weiterverfolgten. Während Klinger mit seiner Arbeit und dem hierbei erstellten Schriftgut für zahlreiche 35 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Pribyl Johann (geb. 1888). 36 StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Ecker August (geb. 1896).
… und die Quellen
Quellen sorgte, waren es bei Ernst Röschl (1922–2013) zusätzlich seine Erinnerungen, sprich die Oral History von 1933 bis 1955 – gesammelt im Badener Stadtarchiv und teilweise publiziert in der 1939–1945-Reihe von Otto Wolkerstorfer. Ernst Röschl schilderte das Jahr 1938 wie so viele als ein prägendes und entscheidendes Erlebnis. Das Entscheidendste, weil die eigene Existenz bedrohend, war der Umstand, dass er laut den Nürnberger Rassegesetzen als „Halbjude“ eingestuft wurde. Seine katholische Mutter, Franziska Röschl (1895–1988), war zwar 1917 getauft worden, doch aus rassischer NS-Perspektive war und blieb sie Jüdin. Sein Vater, Robert Röschl (1887–1959), Arier, Kriegsteilnehmer und nun Major in Rente, führte damit eine damals sogenannte Mischehe. Der Schock für den Sohn war groß, denn er hegte Sympathien für die NS-Bewegung. Er hatte Kontakte zur HJ und zu anderen Nationalsozialisten. Im Jahre 1937 machte er bei einer illegalen Streuaktion mit. Das bestätigte 1940 unter anderem ein ehemaliger Lehrer aus Mödling als auch Ortsgruppenleiter Maximilian Rothaler.37 Röschl brachte seine „Illegalität“ 1944 selbst ins Spiel, als er von einem Onkel und Parteimitglied mit der Gestapo bedroht wurde. Seine „Sympathien“ für die NS-Bewegung fußten zum Teil auf seinem jugendlichen Alter und später dem Wunsch, zu überleben. Aber auch an Widerstand im Jahre 1938 hatte er gedacht – das jugendliche Alter machte es möglich. Ernst Röschl als „Mischling“ schien für die meisten Badener Nationalsozialisten nicht unbedingt ein rotes Tuch gewesen zu sein. Nach 1945 sagte Maximilian Rothaler aus, Ernst Röschl hin und wieder einen Gefallen getan zu haben, indem er dessen NS-Affinität vor diversen NS-Stellen bezeugte. Die Familie Röschl pflegte er als anständig zu bezeichnen, er war sich jedoch sicher, dass sie irgendwann Probleme bekommen würden. Kompliziert wurde es 1942, als er seine Frau, die ebenso Halbjüdin war, kennenlernte. Zu heiraten war ihnen verboten, was sie nicht daran hinderte, ein Kind in die Welt zu setzen.38 Die von Maximilian Rothaler zu erwarteten Probleme für die Familie Röschl, die lebensgefährlich waren, traten im Februar 1945 ein. Ernst Röschl und seine Mutter wurden verhaftet. Es wurde behauptet, er hätte eine Liste mit führenden Nationalsozialisten erstellt, um sie nach dem Einmarsch der Sowjets ebenjenen auszuhändigen. Die Hausdurchsuchung verlief ergebnislos. Vier Personen standen hinter der Behauptung. Nach 1945 konnte sich keiner mehr daran erinnern. Für die Gestapo in Wiener Neustadt, wo Ernst Röschl inhaftiert wurde, war diese Tatsache nicht von Belang. Sie machte ihm deutlich, dass er demnächst durch den Schornstein aufsteigen werde. Nachdem am 26. März 1945 Wiener Neustadt einem heftigen Bombardement ausgesetzt war, wurde er ins KZ Oberlanzendorf verlegt. Wenig später sollte es weiter nach Mauthausen gehen, doch war die Rote Armee bereits zu weit vorgedrungen. Aus Oberlanzendorf wurde er am 1. April 1945 entlassen. Schleunigst suchte er das Weite, genauso die dort stationierte SS.39 37 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Röschl Fam. und Oral History 1938–1955, Ernst Röschl. 38 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 41 und StA B, Neues Biographisches Archiv: Röschl Ernst. 39 Vgl. DÖW, Ernst Röschl, abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/archive (10.04.2023).
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Erster Teil Vorspiel und Einleitung
Laut eigener Aussage wurde er, nachdem er in Baden zurück war, von Josef Kollmann zum provisorischen Polizeikommandanten ernannt bzw. zum Leiter der politischen Abteilung. Ihm verdanken wir nicht nur seine Erinnerungen, sondern die nach 1945 erstellten Berichte und Beurteilungen zahlreicher Parteigenossen und NS-Anhänger. Seine Beschreibungen und Expertisen zeichnen sich dadurch aus, dass er trotz seines Status‘ als „Halbjude“ und den erlittenen Schikanen und lebensgefährlichen Bedrohungen differenzierte Charakteristiken über so manchen Badener Nationalsozialisten erstellte. So versicherte Ernst Röschl den ermittelnden Stellen nach 1945 die Ahnungslosigkeit und Naivität von Hubert Fischbach, der der NSDAP und der SS beitreten wollte. Politisch vollkommen desinteressiert und naiv, wollte der Mann einzig und allein seinen neunjährigen Sohn und die kränkelnde Ehefrau erhalten können.40 Robert Röschl, der Vater von Ernst Röschl, hatte sich wiederum für den Parteigenossen Georg Szedenik eingesetzt. Dieser hatte, als Röschls Ehefrau und sein Sohn in Haft waren, sie mit Wäsche und Kleidungsstücken unterstützt und sich auch sonst vollkommen korrekt ihnen gegenüber verhalten sowie unverhohlen Kritik am NS-Regime geübt. Auch der getaufte „Mischling“ Robert Lipschitz verwies auf sein Wohlwollen und bestätigte ferner, dass Georg Szedenik politisch als unverlässlich angesehen wurde.41 In beiden Fällen reichte es nicht aus, dass die Betroffenen von den Registrierungslisten gestrichen wurden. Eine wohlwollende Beurteilung stellte Ernst Röschl zudem dem prominentesten Badener Nationalsozialisten aus, Bürgermeister Franz Schmid. Vielleicht lag es an seiner eigenen NS-Sympathie, damals als er blutjunge fünfzehn Jahre alt war. Oder daran, dass ihm nicht jeder Nationalsozialist feindlich gesonnen war und seine Deportation einforderte; wie Maximilian Rothaler, bei dem er sich nach 1945 mit einer milden Beurteilung revanchierte. Eine weitere Quelle haben wir ganz am Anfang kennengelernt: Hans Meissner (1922– 2012). Jener junge Mann, der sich an die fad korrekte Stimme Schuschniggs erinnern konnte. Denn in einem anderen Bericht fasste er den Anschluss wie folgt zusammen: Am 11. März 1938 – ich war 15 – erlebte ich den Szenenwechsel schon halb im Bett. Schuschniggs verabschiedender Gottesbezug, sehr bewegend, obwohl mir sein Regime völlig fremd und „daneben“ erschienen war, eine Operettenversion des Originalfaschismus, des italienischen wie auch des deutschen. Dann mitten hinein in Haydns Gott-erhalte-Variationen, plötzlich ungewohnte Nazi-Kampflieder. Ich kann sie nur als barbarisch bezeichnen, eine Grundstimmung erzeugend, die bis 1945 angehalten hat.42 Nach der Volksschule besuchte Hans Meissner das Badener Gymnasium Biondekgasse. Dort entdeckte er seine Leidenschaft für Geschichte durch die Vortragsweise des Professors Josef Kraupp. Die Liebe zur Philosophie weckte sein Großvater mütterlicherseits, Franz 40 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Fischbach Hubert (geb. 1908). 41 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Szedenik Georg (geb. 1912) – Robert Lipschitz (1910– 1998). 42 StA B; Oral History 1933–1955; Hans Meissner, Matura-RAD-Studium, S. 1.
… und die Quellen
Martin. Jener war von 1902 bis 1920 Bürgerschuldirektor in Baden und wurde in dieser Zeit mehrmals als „Liberaler“ (die Anführungszeichen verwendete Hans Meissner selbst) in den Gemeindeausschuss gewählt, zuletzt noch 1919. Im Februar 1940 absolvierte er die Matura. Da er studieren wollte, musste er den Reichsarbeitsdienst RAD hinter sich bringen. Drei Semester bzw. Trimester durfte er die Universität besuchen, dann kam die Einberufung. Der Krieg brachte ihn bis in den Kaukasus. Seine Sichtweise empfinde ich deswegen als interessant, weil er zu einer Minderheit gehörte. Er war Protestant, zumindest auf dem Papier, in einer bürgerlich-katholischen Stadt. Er kannte die Milieus in Baden, wusste um die Aufteilung nach politischen Lagern. Mit dem Proletariat hatte er wenig am Hut, außer dem Wunsch nach dem Anschluss. Bei den Katholiken war hier auch durch den extremen oder auch nur fremdartigen Klerikalismus der Ständestaatzeit keine Tür offen. Was ich von der Messe mitbekam, erschien mir – damals, wie ich betone – als düster, todesnahe, spätantik und durch den Marien- und Heiligenkult beinahe als polytheistisch-heidnisch. Hinsichtlich der eigenen Konfession war für ihn der Religionsunterricht infolge didaktischer Mängel geradezu eine Erziehung zum Atheismus. Das einzig Positive daran war, man zehrte von dem Gefühl, ungefähr derselben Religion anzugehören wie Goethe und den meisten deutschen Geistesgrößen, die ich verehrte.43 Dass eine solche Formulierung nicht nur die Jahrzehnte später verfassten Erinnerungen eines erwachsenen Mannes waren, beweist sein Kriegstagebuch, aus dem wir noch genügend Auszüge serviert bekommen werden. Daneben schuf er noch Schriften zu seinen Jugend-, Schul- und Studentenzeiten und nach 1945 einige Publikationen zur Regionalgeschichte – unter anderem über den jüdischen Friedhof in Baden oder eine Biographie über den Badener Bürgermeister Josef Kollmann. Ein weiterer Kriegsteilnehmer war Alois Brusatti (1919–2008). Nicht nur die Fronterfahrung teilte er mit Hans Meissner, sondern auch einen deutschliberalen/deutschnationalen Familienhintergrund. Sein gleichnamiger Großvater, Alois Brusatti (1850–1932), war ein Deutschnationaler, der 1904 in den Gemeinderat gewählt wurde und ein Jahr später den Vizebürgermeisterposten innehatte. Nach dem Untergang der Monarchie wechselte er zu den Christlichsozialen, und während Josef Kollmann 1926 das Finanzministerium führte, übernahm er das Bürgermeisteramt. Sein gleichnamiger Vater, Alois Brusatti (1877–1939), war Gastwirt, Hotelier, seit 1923 im Direktorium der Sparkasse und seit 1932 Direktor. Diesen Posten behielt er bis 1938.44 Auf seine Absetzung und den baldigen Tod werden wir noch zu sprechen kommen, bzw. sein Sohn Alois Brusatti wird darüber berichten. Geboren 1919, war dieser, anders als Hans Meissner, eher dem Sport als der Kunst zugeneigt, auch wenn er Opern und Theater nicht verschmähte. Nur die Schule war nicht so seines. Was die beiden wiederum teilten, war der Anschlusswunsch. Bei Hans war es vordergründig eine historische Logik, Österreich war deutsches Land, bei Alois spielten mehrere Fak43 Ebd. S. 5. 44 Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti (Familie), S. 20–29.
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Erster Teil Vorspiel und Einleitung
toren bzw. Identitäten eine Rolle – nationale Größe, Patriotismus, Monarchismus, Militarismus, das Alte Reich und Österreich als das bessere Deutschland.45 Letztendlich sollten beide nicht den sich erwünschten Anschluss bekommen – erneut eine Gemeinsamkeit. Unterschiedlich war wiederum der Zugang zum Militär. Während Hans Meissner wesentlich lieber an der Universität geblieben wäre, um weiterhin unter anderem Geschichte zu studieren, diente Alois Brusatti bereits als Freiwilliger und war im März 1938 bereit, gegen die deutsche Wehrmacht anzukämpfen, weil es der Eid verlangte. Doch dann, wie er nach 1945 schrieb: Ich war eingerückt und erlebte die Übernahme in die deutsche Wehrmacht mit Begeisterung, wie es meinem damaligen großdeutschen Weltbild entsprach […] Für uns zählte nur die Vereinigung des Deutschen Reiches mit Österreich, alles andere, wie Diktatur, Verfolgung und alle die später erst bekannten Greul standen uns fern – oder wir glaubten nicht daran, bzw. wir schoben sie von uns gedanklich weg.46 Als Frontsoldat wird er uns noch oft begegnen, aber nicht nur das. Weder für die Front im Westen, noch die im Osten, war Gertrud Maurer, geborene Hauer (geb. 1929) vorgesehen. Ihrem Geschlecht sollte die Heimatfront gehören. Wir trafen auf sie bereits im Kapitel zuvor. Sie war jenes neunjährige Mädchen, das sich wunderte, wo all die verbotenen Hakenkreuzflaggen auf einmal herkamen. Sie war jenes Mädchen, das gemeinsam mit ihrer Mutter Julia Hauer (1899–1968) Zeugin der „Reibpartien“ wurde. Sie wurde Zeugin, wie die Begeisterung über den Anschluss die Menschen erfasste. Die Leute auf der Straße waren anders als sonst. Sie hatten freudige Gesichter, sprachen lebhaft miteinander, und immer wieder hörte man das Wort „der Führer“.47 Und sie nahm wahr, wie die ersten Zweifel aufkamen. Der Anschluss sowie die folgenden Jahre aus Sicht einer Neunjährigen sind vor allem deswegen interessant, da Gertrud Maurer ein umfangreiches Zeitzeugenbericht-Konvolut erstellt hat. Zur Verfügung gestellt hat es mir ihr leider viel zu früh verstorbener Sohn Dr. Rudolf Maurer (1954–2020) – danke Dolfi dafür. Gertrud Maurer beschreibt ihre Zeit in der Schule und die Welt des bzw. ihres BDM. Sie hatte ebenso ihr Ohr ganz dicht an ihrem erwachsenen Umfeld. Sie sah die Veränderungen, hinterfragte, verstand sicher nicht alles, aber sie legte sich ihre eigenen Versionen zurecht. Der Anschluss war demnach historisch zu deuten. Früher hatten sich Österreich und Ungarn zusammengeschlossen und nun eben Österreich und Deutschland – klingt logisch.48 Du kannst stolz darauf sein, dass du diese Zeit miterleben kannst, waren in etwa die Worte ihres Vaters, August Hauer (1898–1977), nach dem Anschluss. Als Großdeutscher eine Selbstverständlichkeit. Als Gymnasialprofessor in Wiener Neustadt der NSDAP beizutreten, war ebenso selbstverständlich. Wie würde das bloß aussehen, wenn er als einziger im Lehrerkollegium dies nicht getan hätte, entgegnete er damals seiner skeptischen Schwester. Seine Tochter 45 46 47 48
Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 9. Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti (Familie), S. 35f. MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 5. Vgl. ebd. S. 3.
… und die Quellen
Gertrud war mit Stolz erfüllt, dass der Vater sie so ins Vertrauen zog. Als sie später mit ihrer zweijährigen Schwester Nora spielte, wiederholte sie die Worte des Vaters. Sie sprach von Stolz und einer großen Zeit. Der Zweijährigen war das gleichgültig. Gertrud Maurer wird uns noch viel erzählen.49 Ich könnte „ewig“ noch so weitermachen. Uns liegen auch Zeitzeugenberichte über die Verfolgung der Badener Juden vor. Die Opfer beschreiben ihr Leid, die Flucht und den Verlust ihrer Angehörigen. Hier sei auf Eva Kollisch (geb. 1925) und Karl Pfeifer (geb. 1928) verwiesen, die Bücher darüber verfassten, in denen sie auf ihre Kindheit in Baden eingingen. Hunderte Personen „gingen über meinen Schreibtisch“. Es sind sehr viele Protagonisten, die Interessantes hinterlassen, erzählt oder aufgeschrieben haben. Es werden noch viele Menschen zu Wort kommen dürfen, und über ihre Taten werden wir lesen. Nach dem ich Sie, liebe Leserin oder lieber Leser, nun etliche Seiten mit Vorwort und Quellen und meinen Meinungen und Zugängen beschäftigt habe, wenden wir uns wieder den Ereignissen nach dem Anschluss 1938 in Baden zu.
49 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 32–34.
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Zweiter Teil Transformation und Konsolidierung Aufbruch – Gleichschaltung – Vertreibung – Vernichtung Baden zwischen dem Anschluss und dem Kriegsbeginn …
Kapitel 3 Euphorie und Volkswille Oder: Wie sich die Kurstadt über den Anschluss freute und für ihn votierte
Während im Keller des Rathauses Menschen Martyrien erlitten, verkündete Schmid ein paar Stockwerke darüber, als neuer Bürgermeister (ernannt von der Landesregierung), beseelt von der Phrase „Gemeinnutz statt Eigennutz“, zuerst einmal drei Tage schulfrei, beginnend am Montag, den 14. März 1938. Kinder und Jugendliche sollten Gelegenheit bekommen, in sich zu gehen, um diesen geschichtsträchtigen Tag des Anschlusses verarbeiten zu können. Für den 13-jährigen Heimo Meissner und viele andere war dies eine überaus erfreuliche Entscheidung des neuen Stadtoberhauptes. Als zusätzlich das Gerücht gestreut wurde, demnächst werde der Führer der Kurstadt seine Aufwartung machen (es war jenes Gerücht, das die Arrestzellen kurzzeitig leeren ließ), sollte er, Heimo Meissner, einer der Auserwählten sein, denen die Ehre zuteilwerden sollte, Spalier stehen zu dürfen. Die Ehrfurcht war groß, doch dann fiel ihm ein, dass er weder eine Uniform noch einen Gürtel, geschweige denn einen Schulterriemen sein Eigen nennen konnte. Um letzteren wenigstens vorweisen zu können, zweckentfremdete er die Hundeleine.1 Der Führer kam nicht, er kam nie. Bereits 1920 hatte er in Baden erscheinen sollen, wobei damals nicht „Der Führer“ angekündigt worden war, sondern ein Arbeiterführer aus München namens Adolf Hittler (mit zwei L). Eine Entzündung im Hals hatte diesen Hittler lahmgelegt, und der Besuch war ins Wasser gefallen.2 Achtzehn Jahre später marschierten seine Anhänger kreuz und quer durch Baden. Reden und Umzüge säumten die Anschlusstage. Alles, was mit Nationalsozialismus zu tun hatte, wurde aufgeboten: SS, SA, NSKK, HJ, BDM, DAF, NSF und NSV. Kolonnen schlängelten sich durch die Straßen. Am Krankenhaus vorbei Richtung Bahnhof, von dort zum Josefsplatz, dann durch die ehemalige Gemeinde Weikersdorf hinweg weiter bis zur Isabellestraße, von dort hinunter zum Strandbad, anschließend entlang der Marchetstraße durch die Villengegend zurück ins Zentrum. Für ortsunkundige Leser, Baden wurde von West nach Ost und von Süd nach Nord abmarschiert. Flaggen, Fahnen, Gesang, Sprechchöre, Stechschritt, Jubel, so gestaltete sich das Rahmenprogramm. Endlich Aufbruch, endlich bessere Zeiten – so die Hoffnung vieler. Der Großvater von Gertrud Maurer zeigte sich op1 2
Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 3 und S. 38. Vgl. BZ Nr. 22 v. 18.03.1942, S. 2.
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Zweiter Teil Transformation und Konsolidierung
timistisch/realistisch. Endlich raus aus dem Elend? Das Fragezeichen trübte ein wenig die Stimmung. Trieb man da den Teufel nicht mit dem Beelzebub aus?3 Nicht anders die Eltern des damals 15-jährigen Raimar Wieser.4 Sie klagten vor dem Anschluss über ein Leben in einem Staat, den niemand wollte. Der Wunsch, wieder Großmacht zu werden, saß tief. Wieso es nicht mit Hitler probieren? Wieso nicht ein bisschen Optimismus? Sicher besser als dieses ständige ostmärkische Sudern. Ihrem Sohn Raimar war Politik weitaus weniger wichtig. Als Mitglied der Marianischen Kongregation fühlte er sich zwar dem christlichbürgerlichen Milieu verbunden, doch Mathematik und Griechisch bereiteten ihm mehr Kopfzerbrechen. Erstaunt war er nur, dass so mancher Kamerad aus der Marianischen Kongregation im Geheimen der HJ angehört hatte.5 Doch nun war die Geheimniskrämerei endgültig vorbei. Der Anschluss wurde augenscheinlich zelebriert. Häuser und Wohnungen waren zu schmücken. Als arischer Part einer „Mischehe“ kam Robert Röschel der Aufforderung ordnungsgemäß nach. Unauffällig bleiben, bis zu einem gewissem Grad mitmachen, sich integrieren, waren nachvollziehbare Aktionen für Menschen, die nicht dem Idealbild der neuen Machthaber entsprachen. Und die Ehe mit einer Jüdin entsprach eben nicht dem arischen Idealbild einer Verbindung zwischen Mann und Frau. Für manche Nationalsozialisten war Röschls Beflaggung eine plumpe Anbiederung. Für den im selben Haus wohnenden Finanzbeamten Franz Hain grenzte es an Blasphemie, wenn ein jüdisch versippter Volksgenosse sich anmaßte, NSHoheitszeichen als Zierde zu verwenden – ähnlich wie bei der Jüdin Gisela Dollinger im ersten Teil des Buches. Die Schutzpolizei (Schupo) wurde verständigt, der Schmuck musste weg.6 Die Swastika war schon längst zu einer Ikone mutiert. Man schuldete ihr Ehrfurcht und Demut – Attribute die Juden per se abgesprochen wurden. Überschwänglich daher die Formulierung der Badener Zeitung, als die erste Hakenkreuzflagge am Mercedeshof durch Parteigenossin Therese Schmid gehisst wurde, entrollte die Volksgenossin mit klopfendem Herzen das Tuch, welches nun von einem der höchsten Gebäude unserer Stadt im Frühlingswinde flattert.7 Das Anschluss-Brimborium konnte sich sehen lassen. Die Jubelrufe, die Paraden und Festreden, der tausendfache Deutsche-Gruß, diese entgegengestreckten rechten Arme, die Blumen, welche auf die Straßen geworfen und sogleich von den Stiefeln der einmarschierenden Wehrmachtssoldaten zertreten wurden, waren eindeutige Zeichen der Zustimmung. Aber; so ein Zeremoniell, wie bombastisch es auch aufgezogen ist, hat einen großen Nachteil. Es sind Augenblicke und Augenblicke sind vergänglich. Es brauchte etwas Handfesteres. Das Ja-Wort zum Nationalsozialismus, das Ja zu Hitler, das Ja zum Anschluss bedurfte einer Legitimation. Die NS-Revolution verlangte nach einer Verschriftlichung, sie 3 4 5 6 7
Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 31. Raimar Wieser (1923–2009). Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 32. Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Hain Franz (geb. 1903). BZ Nr. 23 v. 19.03.1938, S. 3.
Kapitel 3 Euphorie und Volkswille
musste einen notariellen Charakter erhalten oder noch besser, einen plebiszitären. Schwarz auf weiß musste sich der Wille des Volkes manifestieren. Eine Abstimmung musste her. Welch Schicksalsfügung für die neuen Machthaber, dass Schuschniggs anberaumte Volksabstimmung über ein freies, unabhängiges usw. Österreich noch jungfräulich und unbenutzt darauf wartete, exekutiert zu werden. Man brauchte nur zuzugreifen und das für den 13. März 1938 angesetzte Plebiszit auf den 10. April 1938 zu verlegen und für die eigenen Zwecke zu pervertieren. Dass jegliche Grundlagen einer normalen Wahl ad absurdum geführt wurden, war allen Beteiligten von Anfang an klar – Schuschniggs Variante wäre nicht unbedingt anders über die Bühne gegangen. Das Votum stand von Anfang an fest. Man hätte sich die Mühen auch sparen können. Doch das Ausschmückungsreferat in der Weichselgasse 15 unter der Führung des Kreisausschmückungsreferent und Ratsherrn Rudolf Schemel lief auf Hochtouren. Es erfolgte ein Aufruf zur Großbeflaggung und Großausschmückung. Aus dem gesamten Reich trudelten Broschüren und Kostenvoranschläge diverser Fahnenfabrikanten ein. Beigelegt waren Merkblätter. Der Schmuck hat reich, jedoch nicht überladen zu sein. Jeder Kitsch ist zu vermeiden. Zur Gewährleistung eines künstlerisch wertvollen Gesamtbildes sind Architekten und Künstler heranzuziehen.8 Wie lang und breit die Fahnen, Flaggen, Wimpel und Sonstiges sein mussten, war klar geregelt. Wollten Geschäftstreibende Führerbilder in ihrer Auslage ausstellen, so ausschließlich würdige und die Führerbilder durften auf keinen Fall mit den Waren vermischt werden. Amtsgebäude waren ausschließlich mit der klassischen Hakenkreuzflagge zu versehen, während Private noch die rot-weiß-rot Flagge mit dem mittigen Hakenkreuz verwenden durften. Sollten sich Volksgenossen keine Flaggen leisten können, so wurden ihnen welche zu Verfügung gestellt. Und wenn die Volkgenossen am 10. April Reisig streuen wollten, so lag ein Einvernehmen mit der Forstverwaltung bereits auf dem Tisch. Ferner gab es Tipps und Tricks von Seiten der Kreisleitung, wie man Hakenkreuzflaggen herstellen konnte. Wenig überraschend bestand der erste Schritt darin, zuerst das weiße Band aus den österreichischen Rot-Weiß-Rot-Flaggen zu entfernen.9 Darüber war Gertrud Maurer besonders empört, dass die rot-weiß-rote Fahne nicht nur zerschnitten, sondern zudem verboten wurde. Dabei, so dachte sie an den Geschichteunterricht zurück, gehe diese Flagge doch auf den fünften Leopold aus dem Geschlecht der Babenberger zurück. Der mit dem Beinamen „der Tugendhafte“ geschmückte Leopold hatte sich schließlich so tugendhaft durch die Reihen der ungläubigen „Muselmannen“ hindurch gemetzelt, dass sein blutdurchtränkter Waffenrock, wo einzig nach der Abnahme des Gürtels die Stelle weiß geblieben war, der Fahne Pate stand. Durften die das überhaupt verbieten, fragte sich die Neunjährige.10 Ob viele Menschen in jenen Tagen an den Babenberger Leopold V. dachten? Unzählige Fahnen, Flaggen, Banner und sonstiges Werbematerial mussten auf alle Fälle – Leopold hin und her – für diesen Freudentag, den 10. April 1938 bereitgestellt werden. Alte, kranke und 8 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1938 – Merkblatt (22.03.1938). 9 BZ Nr. 26 v. 30.03.1938, S. 2. 10 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 3.
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Zweiter Teil Transformation und Konsolidierung
behinderte Menschen wurden notfalls mit Autobussen von ihren Heimen abgeholt und zur Wahlurne kutschiert. Dafür waren sie gut genug. Ein paar Jahre später wurden Menschen mit Behinderung ebenfalls mit Autobussen abgeholt, allerdings nicht zu einer Wahlurne, sondern um in Tötungsanstalten verfrachtet und dort ermordet zu werden, und ihre sterblichen Überreste landeten nicht einmal in Urnen. Genauso wie auf Bundesebene, wo sich die Größen des sozialistischen und christlichsozialen Lagers, Karl Renner und Josef Innitzer, für den Anschluss aussprachen, passierte gleiches in der Provinz. Bei den Christlichsozialen war die Zustimmung zum Anschluss die Auflage, die Arrestzellen vorübergehend verlassen zu dürfen. Bei den Sozialisten bemühte man den ehemaligen SDAP Gemeinderat Ludwig Werba.11 Für die Badener Zeitung verfasste er einige Absätze, in denen er auf die vergangenen roten Kämpfe einging: Revolution 1918 und Bürgerkrieg 1934. Leid und Elend, doch 1938: Nicht Revolution, nicht Bürgerkrieg, nur freudiges Lächeln im sorgendurchfurchten Antlitz eines Volkes.[…] Erhoben wir 1918 die geballte Faust zum Gruße „Freiheit“, so senken wird diese nach zwanzig Jahren, öffnen sie der Arbeit, denn Arbeitsfreiheit wird uns geschenkt. Er griff die NS-Propaganda der Befreiung auf und appellierte an die Genossen, die nie ihre politische Gesinnung seit 1918 gewechselt haben, nun jetzt die Augen zu öffnen. […] ein nationaler Staat sozialistischer Prägungsart verwirklicht unser Hoffen, unsre Sehnsucht.12 Vor solch schwülstigen Phrasen blieben auch die Badener Weinhauer nicht verschont. Strahlende Frühlingssonne überflutet die rebenbestandenen Hänge und Hügel des Weingebietes an der Südbahn von Wien über Baden bis Vöslau. Dann folgte der Teil, wo die Ausbeutung und Erniedrigung der Bauern durch den Ständestaat abgearbeitet wurde – selbstverständlich in Kombination mit antisemitischer Hetze. So erging es dem Großteil der Weinbauernschaft dieses Gebietes, bis schließlich Hof und Weingarten mit Darlehen, die samt und sonders aus jüdischen Händen stammten, belastet wurden. Das Ergebnis: deutsches Volksgut geriet in die Hand volksfremder Ausbeuter.13 Nicht viel anders, nur eben auf ihre Klientel ausgelegt, formulierte es die evangelische als auch die katholische Kirche in Baden.14 Selbst jene, die nicht wahlberechtigt waren, wurden nicht außer Acht gelassen. Jugend Adolf Hitlers! Obwohl du bei dieser Wahl nicht mitstimmen kannst, bist du doch mit deinem Herzen an ihr beteiligt.15 Bis zum 9. April wurden im gesamten Kreis 75 Veranstaltungen in 38 Ortschaften abgehalten. Letztendlich half alles nichts. In Baden gab es keine 100 Prozent für den Anschluss, somit keine hundertprozentige Führergemeinde. Selbst Schmids Reisetätigkeit brachte nicht die gewünschte Totalität. Sein Reisepensum war enorm. Er predigte von Teesdorf bis Großau, von Berndorf bis Traiskirchen. Keine 100 % Ja-Stimmen, aber immerhin eine 11 12 13 14
Ludwig Werba (1884–1945). BZ Nr. 27 v. 02.04.1938, S. 2. BZ Nr. 28 v. 06.04.1938, S. 6. Vgl. MAUERER Rudolf, Baden. St. Stephan 1312–2012 (Baden 2012), S. 347 und BZ Nr. 27 v. 02.04.1938, S. 3. 15 BZ Nr. 29 v. 09.04.1938, S. 8.
Kapitel 3 Euphorie und Volkswille
hundertprozentige Wahlbeteiligung. 15.903 Badener waren stimmberechtigt, 15.903 gaben ihre Stimme ab. Davon stimmten 15.837 mit Ja ab. Das machte einen Prozentsatz von 99,78 aus. Die restlichen 66 teilten sich in 31 ungültige Stimmen und 35 Nein-Stimmen. Laut der Badener Zeitung lag dies an irgendwelchen Fehlern beim Ausfüllen.16 Unter ordentlichen Verhältnissen wären es sicher viel mehr Nein-Stimmen geworden. Der spätere Schwiegervater „unserer“ Gertrud Maurer, Rudolf Maurer, Amtsrat im Finanzamt und gewesener Oberleutnant der k. u. k. Armee, monarchistisch eingestellt, hätte nur allzu gerne mit Nein gestimmt.17 Doch die „Wahlaufseher“ sprachen ihn direkt an. Er, der Herr Oberleutnant, müsse sich als aufrechter Patriot doch nicht anstellen, er könne gleich hier, vor ihren Augen, den übergroßen Ja-Kreis ankreuzen. Der Oberleutnant dachte an seine drei Söhne. Diese liebäugelten mit einer Karriere beim Heer oder beabsichtigten, ein Studium zu beginnen. Und so stimmte er dem Anschluss an das Großdeutsche Reich zu. Nicht anders erging es Gertrud Maurers Vater August Hauer. Er wurde mit „Herr Professor“ angesprochen, der Wahlzettel wurde ihm in die Hand gedrückt und zwecks Zeitersparnis vorgeschlagen, gleich hier und jetzt den Anschluss zu bestätigen – ganz unbürokratisch versteht sich. Zurück zu Hause hatten seine Mutter, seine Schwester und eine Tante ebenso mit Ja abgestimmt, doch die Tante war pikiert, dass sie nicht einmal an die Urne gelassen wurde. Resignation lag in der Luft, erinnerte sich Gertrud Maurer. Was hätte es gebracht, mit Nein abzustimmen? Die Mehrheit wäre ohnehin dafür. Lohnte es sich da, ein Risiko einzugehen? Sollte man es sich schon nach mehr als einem Monat mit dem neuen Machthaber verscherzen? Der Vater meinte noch zu seiner neunjährigen Tochter, dass sie stolz darauf sein könne, diese Zeit miterleben zu dürfen. Jetzt würde es aufwärtsgehen. Österreich war nun wieder Teil eines großen Reiches.18 Endlich aufwärts, endlich Größe, das waren für den Fachlehrer Johann Axmann ausschlaggebende Gründe, mit Ja abzustimmen. Nach vollzogenem Anschluss stimmte ich, wie 99 % aller Österreicher mit „Ja“, weil ich mir ein unangetastetes Österreich im deutschen Staatenbunde, ein Österr. ohne Arbeitslose und ohne hungernde und frierende Kinder, ein Österr. in einem großen Zollgebiet mit schönen wirtschaftlichen Aussichten usw. erhoffte.19 Bald merkte er, dass dem nicht so sein würde. Aber so eine Abstimmung war letztendlich auch nichts Greifbares. Das neue Zeitalter musste im öffentlichen Raum sichtbar werden, und zwar nicht nur durch marschierende Massen, sondern in Stein gemeißelt für die Ewigkeit. Straßen und Plätze erhielten neue Namen. Das NS-Regime wollte sich in Stein meißeln lassen bzw. vorerst in Emaille. Am 26. April 1938 wurden beim „Emaillierwerk Josef Hölzl“ in Wien 21 neue Hausnummern und vier 16 Vgl. BZ Nr. 30 v. 13.04.1938, S. 1 und vgl. WIESER, Baden 1938.S.5ff. Niederösterreichweit gab es 1491 Nein-Stimmen. 1104 waren ungültig. Vgl. MULLEY Klaus-Dieter, Niederdonau: Niederösterreich im „Dritten Reich“ 1938–1945. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1 (Wien/Köln/Weimar 2008): Politik, S. 73– 103, hier 76f. 17 Rudolf Maurer (1881–1944). 18 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 34. 19 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Axmann Johann (1890–1979).
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neue Straßentafeln bestellt – oval, flach, weiß innen, verbrämt mit roten Eichenlaubgirlanden, erstklassig feueremailliert, vollkommen lichtecht und wetterbeständig. Eine geschmackvolle Anordnung des Textes „Adolf Hitler-Platz“ wurde vorausgesetzt, sowie die Gruppierung der Hausnummern 1 bis 21. Der Kostenvoranschlag betrug 20,5 Schilling pro Straßenschild, und die Hausnummerntafeln gab es für jeweils 3,5 Schilling, Lieferzeit 10 Tage.20 Straßen oder Plätze, die nach Personen benannt waren, die als antinationalsozialistisch und/oder artfremd klassifiziert wurden, mussten verschwinden. Die „Moritz-Ruhe“, eine 1852 dem Dichter und Freund der Stadt Baden, Moritz Gottlieb Saphir gewidmete Tafel im Kurpark, wurde 1938 devastiert. Dass Saphir zum Christentum konvertiert war, spielte keine Rolle. Genauso erging es der Gedenktafel des Pianisten, Komponisten und Musikpädagogen Alfred Grünfeld. Ebenso im Kurpark angebracht, fiel sie der Zerstörungswut des Nationalsozialismus zum Opfer. Dafür wurde hinter dem Beethoventempel zum Führergeburtstag eine Hitler-Eiche gepflanzt. Der Baum maß drei Meter und stammte aus Tulln. Gefällt wurde er durch die sowjetische Besatzungsmacht. Die beiden Gedenktafeln wurden in den 90er Jahren wieder angebracht.21 Als nächstes kamen die immateriellen Werte an die Reihe. Verschiedene Bräuche und Feiertage wurden umfunktioniert, umbenannt, umideologisiert oder verboten. Der 1. Mai oder die Fronleichnamsprozession waren propagandistische Machtdemonstrationen von Rot und Schwarz, die das braune Regime so nicht hinnehmen konnte. Allerdings, sofort verbieten war nicht ratsam. Schikane war das probate Mittel, sowie das Anbieten von Alternativen. Plötzlich standen neue Feiertage im Kalender. Der 19. November war der „Tag der deutschen Hausmusik“, der 30. Januar „Tag der Machtergreifung“, 21. Dezember „Wintersonnenwende“ oder „Deutsche Weihnachten“ usw.22 Wie richtig deutsch es nun sein musste, wurde Gertrud Maurer gleich zu Stundenbeginn in der Volksschule klar. Statt des Morgengebets grüßte man mit einem strammen „Heil Hitler“. Im Alltag musste die Alltagssprache von Fremdwörtern gesäubert werden. Aus dem Trottoir wurde der Gehsteig, und wenn es nicht anders ging, so sollten diese Lehnwörter wenigstens deutsch geschrieben werden – Broche wurde zu Brosche und Façon zu Fasson.23 * Franz Schmid als neuer starker Mann der Kurstadt hatte Großes vor, sogar sehr Großes, wie wir noch sehen werden. Obwohl keine hundertprozentige Führergemeinde, konnte er
20 Vgl. StA B, GB 341/Hochbau II; Fasz. III Bauwesen allg.; 1938/39. 21 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023) und WIESER, Baden 1938, S. 8. 22 Vgl. RAUCHENSTEINER Manfried, Unter Beobachtung. Österreich seit 1918 (Wien/Köln/ Weimar 2017), S. 183f und PFEFFERLE Roman, Politische Kultur in Niederösterreich: Kontinuitäten und Brüche. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik, S. 337–371. 23 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S.23–25.
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zufrieden sein. Über 99 Prozent legitimierten den Anschluss, und nun hieß es, endlich an die Arbeit zu gehen. Bei solchen Formulierungen schwang immer mit, dass das vorherige Regime nie gearbeitet hätte. Schmid sah sich als Erbe eines morschen Gebildes, das sich Ständestaat nannte. Die Nationalsozialisten bezeichneten den Ständestaat als Systemregime bzw. die Systemzeit. Was von ihr und ihrem Badener Vertreter, Josef Kollmann, zurückgelassen wurde, spotte jeder Beschreibung: Wenn man bedenkt, wie sich der Lügenschlamm gleich einem Lavastrom über unser schönes deutsches Land ergoss, dann erfüllt einen tiefer Abscheu über diese verflossene und versunkene „vaterländische“ Epoche. Und erst die Verbrechen am Individuum! Unter österreichischem Mensch verstanden sie einen rückgratlosen Schleicher, mit Briefträgerhosen und einem Amtsappel. So wollten sie ihn haben: willenlos, weich, furchtsam, mit einem Wort entdeutscht!24 Es galt, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die Genetik des Ostmärkers zu korrigieren. Weg vom verweichlichten Österreicher und hin zum strammen und aufrechten Deutschen. Das hieß zu allererst: Arbeiten! Schon in der Gemeinderatssitzung vom 22. März 1938 wurde festgelegt: Arbeit schaffen durch städtische Bauaufträge, wie dem Bau der Haidhofstraße, einem Spitalsumbau, dem Ausbau der Begräbnishalle und weitere Modernisierungsmaßnahmen, die sämtliche Schulen, Bäder und sonstige Kureinrichtungen betreffen sollten.25 Deswegen appellierte Schmid an seine Badener: Die Bevölkerung Badens aber muss sich dessen eingedenk sein, dass nur Manneszucht und Unterordnung unter den gemeinsamen Willen die Voraussetzung jeder wirksamen Aufbauarbeit bedeuten.26 Etwas weniger martialisch formulierte es der Kreispropagandaleiter: Es ist ja so schön, jetzt für unseren Führer in Österreich zu arbeiten.27 Ganz oben auf der Agenda stand die Verschuldung. An Schmids Seite stand Kammeramtsrat Rudolf Sigmund, ein Mann, der schon dem vorherigen Regime die finanzpolitischen Leviten gelesen, doch kein Gehör gefunden und resigniert das Handtuch geworfen hatte.28 Rosig stand es um die Finanzen nicht. Damit es auch jeder hören konnte, wurde Schmids Rede über die Verschuldung der Stadt am 28. Mai 1938, die er im Hotel „Stadt Wien“ hielt, mittels Lautsprechern am Hauptplatz davor und im Stadttheater übertragen. Katastrophale Finanzlage, niederschmetternd, heftige Empörung über die Gewissen- und Verantwortungslosigkeit, überall Zerstörung und Verfall, Sorglosigkeit und Großmannssucht. Das Resultat dieser Misswirtschaft sei ein Schuldenstand von mehr als 12.900.000 RM. Doch Schmid stand seinen Mann, als Soldat des Nationalsozialismus übernehme ich die Verantwortung.29
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BZ Nr. 47 v. 11.06.1938, S. 1. Vgl. BZ Nr. 25 v. 26.03.1938, S. 1. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; März 1938. BZ Nr. 28 v. 06.04.1938, S. 6. Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 144 – Rudolf Sigmund (geb. 1890). Nr. 44 v. 01.06.1938, S. 1.
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Als erstes also einmal die Schulden tilgen, die die Systemzeit hinterlassen hatte und mit all der Freunderlwirtschaft Kollmanns aufräumen. Dabei sollte es nicht bleiben. Man war nicht gekommen, um bloß zu verwalten, Ordnung zu schaffen und Schulden abzubauen. Der Nationalsozialismus war zu Höherem berufen. Die Schwerpunkte der künftigen Gemeindepolitik waren dieselben Ziele wie die Jahre zuvor, nur unter anderen ideologischen und politischen Gegebenheiten. „Großdeutschlands größter Schwefelkurort“ titelte ein Werbeplakat. Es waren dieselben Ziele und Wunschvorstellungen, die seit dem Zusammenbruch der Monarchie die Kurstadt antrieben: endlich wieder ein Weltkurort zu werden. Es waren Reminiszenzen an ein verklärtes Biedermeier, an den Historismus, der in Baden Prachtbauten entstehen ließ, an Kaiser und Monarchie – nur jetzt in braunem Gewand. Das war ein ganz entscheidender Punkt. Der Kreispropagandaleiter machte klar: Rot-weißrot war einmal und kommt niemals wieder.30 Es war eine eindeutige Botschaft für alle Österreich-Patrioten. Für braune Großkurstadtpläne benötigte man eine Stadtführung und Verwaltung sowie eine Stadtbevölkerung, die auf Linie war. Treue, Loyalität und Disziplin wurden riesig geschrieben – schließlich ging es um nichts Geringeres als zu „Großdeutschlands größtem Schwefelkurort“ emporzusteigen. Es begann die Gleichschaltung, das „Auf-Linie-Bringen“. Es war die Zeit der Beurteilungsbögen und Ariernachweise. Wer ist einer von uns? Wer ist Jude? Wer hat was getan? Wer muss bestraft und wer belohnt werden? Jedes Amt, jede Dienststelle, jeder Posten wurde durchleuchtet. Unliebsame und andersgesinnte oder als rassisch minderwertig eingestufte Personen wurden gerügt, versetzt, vertrieben, suspendiert, entlassen, zwangspensioniert, bedroht und weiteren Schikanen ausgesetzt. Es war das Säubern, Reinigen und Disziplinieren, um im Jargon der damaligen Zeit zu bleiben. Kollmann fasste es in seine Worte: Zu den Macht- und Schreckensmitteln der Nationalsozialisten gehörten Konzentrationslager, Gestapo und Kerker. Alle missliebigen Personen, die nicht auf diese Weise unschädlich gemacht werden konnten, wurden für den moralischen Tod vorgemerkt. Sie wurden durch Presse und Angriffe so schlechtgemacht, dass sie das Vertrauen in der Bevölkerung verloren. So war es auch in Baden.31 Die örtlichen NS-Stellen hatten viel Arbeit vor sich. Zuständig für die Disziplinaruntersuchungen waren unter anderem Ortsgruppenleiter Maximilian Rothaler und Rechtsanwalt Anton Attems. Dass das Arbeitspensum enorm war, beweist ein Schreiben vom Juni 1938, adressiert an Bürgermeister Schmid. Jener drängte zur Eile, Rothaler und Attems gaben ihr Bestes, doch offenbar türmten sich unerledigte Aktenstapel auf ihren Schreibtischen. Attems versicherte, ich konnte mich persönlich überzeugen, dass das herbeigeschaffte Material ein so umfangreiches ist, dass ich den Herren keinerlei Vorwurf machen konnte, die Sache nicht entsprechend betrieben zu haben. […] Ich bitte daher, sehr geehrter Herr Bürgermeister, sich in Anbetracht dieser Tatsachen noch etwas gedulden zu wollen, da diese, immerhin schwierige Angelegenheit doch nur mit entsprechender Gründlichkeit durchgeführt werden kann. Wir haben 30 BZ Nr. 28 v. 06.04.1938, S. 6. 31 KOLLMANN Josef, Der Prozess Kollmann. Ein misslungener Anschlag der Nationalsozialisten im Spiegel der stenographischen Protokolle (Baden 1946), S. 3.
Kapitel 3 Euphorie und Volkswille
vereinbart, die Sache keinesfalls auf die lange Bank zu schieben, sondern sobald es eben möglich ist, durchzuführen.32 Bei den zu erbringenden Ariernachweisen war das Arbeitspensum nicht weniger enorm und erforderte zeitaufwendige Recherchen. Die zu beschaffenden Akten und Informationen reichten bisweilen weit ins 18. Jahrhundert zurück. Pfarrämter und ihre Pfarrmatriken mussten durchforstet werden. Teilweise kamen Anfragen aus allen Teilen der Ostmark.33 Für Gertrud Maurer wiederum war es eine spannende Ahnenforschung. So ein „Großer Ariernachweis“ war für sie einfach nur aufregend und beeindruckend zugleich. Schließlich reichte er in die Zeit Goethes, Beethovens und Napoleons zurück.34 Die Recherche sowie das Zusammenstellen sämtlicher benötigter Akten und Urkunden bargen ebenso ihre Tücken. Die meisten Jahrgänge stammten aus einer Zeit, als die Ostmark noch Österreich-Ungarn hieß und sich über weite Teile Mittel- und Osteuropas erstreckte, von Istrien bis Galizien, von Böhmen bis Siebenbürgen. Nun befanden sich diese Gebiete nicht mehr unter dem schwarz-goldenen Banner der Habsburgermonarchie. Wie gelangte man jetzt an die benötigten Informationen, ob die Großmutter eh keine Jüdin gewesen war? Schwierigkeiten gab es zuhauf, doch die Badener Zeitung stand mit Rat zu Seite. Sie erinnerte daran, das Rückporto nicht zu vergessen, ausreichend Angaben anzugeben und vor allem die richtige Pfarre anzuschreiben. Und dann gäbe es noch gewisse Form- und Benimmregeln, die einzuhalten wären. Grundsätzlich antworten alle, auch die tschechischen Pfarreien, auf Anfragen. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass die äußere Form des Schreibens eine nicht unwesentliche Rolle spielt und dass Höflichkeit nicht schadet.35 Trotz des bürokratischen Aufwands herrschte alles in allem Aufbruchsstimmung und gute Laune. Launig dankte Schmid im Juni 1938 seinem Ratsherrn Hans Lang (wohnhaft in der Elisabethstraße) für die Grüße aus dem Burgenland und dafür, dass er eine Vermählung zwischen Waldviertler-Geselchtem und Burgenländer Weine noch gestern mittags vorgenommen habe. Und weil die Stimmung so ausgelassen war, beendete Schmid sein Schreiben mit: HEIL BURGENLAND! HEIL WALDVIERTEL! HEIL ELISABETHSTRASSE, HEIL HITLER.36
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StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian; Mappe III – Attems an Schmid (03.06.1938). Vgl. StA B, GB 310/Ortsbewohner und Bevölkerungsbewegung 1938–2016. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 38. BZ Nr. 62 v. 03.08.1938, S. 5. StA B, Personalakten Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1938.
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Dass nach dem Anschluss alles neu werden musste, von der Gesellschaft bis zum einzelnen Individuum, war ein nationalsozialistischer Wunschtraum. Der Elitenaustausch war radikal, keine Frage, anderseits hatten selbst manche Kreisamts- sowie Gauamtsleiter (politisches Verwaltungspersonal) keine NSDAP-Parteikarte.1 Je weiter man die Hierarchie herunter blickte, desto „vielfältiger“ wurde der politisch-ideologische Hintergrund einzelner Personen. Anna Gruber arbeitete nach einer längeren Zeit der Arbeitslosigkeit als Maschinenschreiberin bei der Kreisleitung, anfänglich ganz ohne Parteimitglied zu sein. Dafür war sie Ehefrau des stadtbekannten Sozialisten Hans Gruber und verkehrte freundschaftlich mit stadtbekannten Juden wie Siegfried Justitz (SDAP-Gemeinderat) und Rudolf Starnberg, die bei ihr ein- und ausgingen. Das war kein Geheimnis, aber der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in der Kreisleitung zwang dazu, über solche Details hinwegsehen. Doch das Misstrauen war ihr sicher. Um die Wogen zu glätten, trat sie der NSDAP bei. Anzeigen wegen Kleinigkeiten und sonstige Denunziationen sowie Hausdurchsuchungen blieben ihr dennoch nicht erspart. Vorsichtshalber hatte sie zuvor Schriften und Bücher ihres Mannes im Keller vergraben.2 Seine berufliche Erfahrung bewahrte ebenso den seit 1928 bei der Stadtgemeinde tätigen Beamten Karl Mohl vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes, auch wenn er Maßregelung und berufliche Degradierung hinnehmen musste. Als ehemaliger Marineberufssoldat, bekennender Monarchist, Mitglied der CSP und der Vaterländischen Front sowie von 1933 bis 1938 Leiter der polizeilichen Meldestelle hätte es auch viel schlimmer kommen können. Dennoch konnte er offensichtlich mit seiner Qualifikation, Angepasstheit und dem Umstand, dass er niemals gehässig gegen die NS-Bewegung vorgegangen war, punkten. 1940 wurde er zum Standesbeamten ernannt und das, ohne Parteimitglied zu sein. Das 1
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Vgl. JAGSCHITZ Gerhard, Von der „Bewegung“ zum Apparat. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et. al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 88– 122, hier 109. Ihrem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Gruber Anna (geb. 1914) und Meldezettel Gruber Hans (geb. 1906).
Kapitel 4 Von neuen und alten Namen
wiederum erregte großen Unmut bei sich das Ja-Wort gebenden Parteigenossen mit ihren Genossinnen. Stadtrat Emil Pfeiffer, als sein unmittelbarerer Vorgesetzter, „riet“ ihm deswegen, der Partei beizutreten, was auch geschah.3 Beide Fälle (Gruber und Mohl) weisen auf einen Aspekt hin, der uns immer wieder unterkommen wird – der personelle Mangel an NS-Fachkräften. Aber gehen wir der Reihe nach durch und betrachten einige Institutionen und Branchen in der Kurstadt, die von NS-Feinden gesäubert werden mussten.
Legislative Zu den ersten institutionellen Opfern der nationalsozialistischen Machtübernahme gehörte, wenig verwunderlich, das Rathaus. Jene Menschen, die an der letzten Gemeinderatssitzung vor dem Anschluss am 3. März 1938 teilgenommen hatten, wurden sofort entfernt. Betrachten wir die folgenden Namen, so werden uns einige bekannt vorkommen. Dem letzten Gemeinderat, bzw. seit 1934 hieß er Gemeindetag, gehörten folgenden Personen an: Bürgermeister: Josef Kollmann Bürgermeisterstellvertreter (vor 1934 Vizebürgermeister): Dr. Julius Hahn, Dr. Otto Sulzenbacher Gemeinderäte (vor 1934 Stadträte): Alois Berger, Alois Beck, Georg Gehrer, Robert Schmidt, Adalbert Seyk sen., Anton Schilcher Gemeindevertreter (vor 1934 Gemeinderäte): Friedrich Bernhofer, Johann Buchhart, Leopold Breinschmidt, Josef Dengler, Alexander Eisler, Leopold Fahnler, Dr. Karl Höld, Richard Kurtics, Dr. Wilhelm Malaniuk, Fritz Modena, Josef Prechtl, Richard Putz, Vilma Schlick-Bolfras, Franz Schwabl, Franz Schreiber, Rudolf Stricker, Dr. Franz Trenner, Rudolf Woisetschläger, Dr. Heinrich Doblhoff-Dier, Dr. Franz Eckert, Julius Janisch, Karl Pazeller Nach dem Anschluss hatte Franz Schmid keine Zeit zu verlieren. Bereits in der Badener Zeitung vom 19. März 1938 stellte er die neue provisorische Stadtführung vor. Die meisten der neuen Gemeindemitglieder werden uns noch begegnen bzw. sind uns bereits begegnet.4 Abteilung I (Finanzen): Rudolf Krpetz, Hans Löw Abteilung II (Rechtssachen) Hans Grundgeyer, Dr. Anton Attems Abteilung III. (Bausachen): Eduard Fischer, Dr. Alois Breyer Bäderdirektorium: Dr. Edmund Hess, Franz Terndl Beleuchtungsausschuss: Josef Brandstetter, Karl Eichholzer 3 4
Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Mohl Karl (geb. 1886). Vgl. BZ Nr. 23 v. 19.03.1938, S. 1.
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Fürsorgeausschuss: Max Rothaler, Emmerich Kochwasser Krankenhausauschuss: Dr. Walter Reiffenstuhl, Emil Pfeiffer Ziegelwerk: Dr. Alois Breyer, Karl Bergauer Theaterkomitee: Prof. Dr. Josef Kraupp, Dr. Hans Lang Revisionsausschuss: Ing. Alois Zirps, Hans Gotz
Exekutive Neben dem Rathaus, sprich der Politik und Verwaltung, bildete der Sicherheitsapparat eine zentrale Stütze des Machterhalts und der Machtausübung. Da der Nationalsozialismus Gewalt als ein probates Mittel seiner Herrschaft betrachtete, war es immens wichtig, eine loyale Exekutive hinter sich zu scharen. Die neuen Ordnungshüter wurden am 16. März am Bahnhof vereidigt, in Anwesenheit von Schmid, zahlreichen Parteifunktionären, Bezirkshauptmann Carl Rupprecht von Virtsolog, einer Ehren-Hundertschaft der Schutzpolizei (Schupo) und einem SS-Sturmbannzug. Die Vereidigung auf den Führer nahm Major Richard Treßler vor. Am selben Tag schworen die Beamten und Angestellten der Stadt Baden im Rathaus Adolf Hitler die Treue. Reden über die herausragende Bedeutung dieser Tage durch den neuen Bürgermeister rundeten das Geschehen ab, Schmid war in seinem Element.5 Nachdem das Schicksal des Polizeichefs von Baden, Alois Klinger, bereits in Kapitel 2 besprochen wurde, wenden wir uns seinen Nachfolgern bzw. jenen Männern zu, die nun das Sagen innerhalb der Badener Sicherheitskräfte hatten. Einer von ihnen war Josef Heitzer aus Gaaden. Im Jahre 1919 trat er in den Dienst der Stadtpolizei ein, 1935 in den der SS und NSDAP – wobei er geistig schon davor im nationalsozialistischen Denken fest verankert war. Nicht umsonst durfte die NS-Siegrune sein Äußeres zieren. Heitzers Treiben, wenn es darum ging die Synagogen zu plündern und devastieren, sind in Baden durch seine Anwesenheit auf mehreren Fotos gut dokumentiert. Er ging schnell ans Werk. Neun Polizisten wurden sogleich bestraft und/oder entlassen. Neben Alois Klinger waren es Ludwig Gerstorfer (1886–1943), Ludwig Hübl (geb. 1878), Johann Decker (geb. 1884), Karl Zeugswetter (geb. 1886), Rudolf Faltin (geb. 1886), Alois Folie (geb. 1886), Rudolf Fekete (geb. 1890), Johann Schnötzinger (geb. 1906) und Josef Schlager (geb. 1890).6 Wenn wir uns zurückerinnern, die Stadtpolizei bestand aus 50 Polizeibeamten, von denen laut Alois Klinger neun Illegale waren. Die nun neun Entfernten schienen dem Ständestaat treu ergeben zu sein. Es blieben 32 übrig, die sich irgendwo dazwischen befanden. Josef Heitzer befand sich laut eigener Aussage vom Sommer 1942 bis Sommer 1943 in Russland, danach versah er seinen Dienst in Traiskirchen. Beim Einmarsch der Roten Ar5 6
Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 4. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Heitzer Josef (geb. 1897) – Stadtpolizei Baden Politische Abteilung an Landesgericht Wien (10.03.1949).
Kapitel 4 Von neuen und alten Namen
mee flüchtete er in den noch sicheren Westen. Als er nach Baden zurückkehrte, konnte er sich oftmals, trotz besten Wissens, an vieles nicht mehr erinnern. Die phrasenhaften Angaben (nach Art eines Münchhausen) des Josef Heitzer, dass er Anzeigen politischer Natur nie aufgenommen habe, entsprechen insofern nicht den Tatsachen, weil selbst unter dem wenigen Makulature, welches noch in der durch Brand zerstörten Kreisleitung in Baden zustande gebracht werden konnte, Josef Heitzer u.a. auch über die Juden […] ungünstig berichtet hat.7 Ein weiterer neuer starker Mann bei der Polizei in Baden war SS-Unterscharführer Dr. Karl Sammerhofer. Seit dem 1. Heumond 1938 (1. Juli 1938) verfügte er über das städtische Polizeiamt in der Funktion des Polizeichefs oder Leiter des Stadtpolizeiamtes Baden. Ihm unterstanden 36 Mann der Sicherheitswache, 6 Mann der Kriminalabteilung und das gesamte Meldeamt. Laut seinem Lebenslauf reicht seine nationalsozialistische Betätigung bis in seine Mittelschulzeit zurück. 1930 bis 1931 führte er in Traiskirchen eine NS-Schülerbund-Gruppe und übernahm nach einem Türkeiaufenthalt als Hofmeister die Führung des NS-Schülerbundes im Kreis Niederösterreich-Süd und im Burgenland und war fest verankert in der Burschenschaft „Herulia“. Zwischendurch gab er Unterricht in Englisch, Deutsch, Latein und promovierte 1938 zum Doktor beider Rechte. 1932 trat er der Partei und SS bei und übernahm zahlreiche Funktionen. In der illegalen Zeit führte er zeitweise einen SS-Trupp in Baden, betätigte sich im NS-Studentenbund, hatte Führungspositionen in Wien an der Universität und anschließend in Waidhofen. Nach dem Anschluss war er Referent für das Rasse- und Siedlungswesen und Vorsitzender-Stellvertreter des Parteikreisgerichtes. Ferner gehörte er zu jenen Menschen, die für Arisierungsmaßnamen im Kreis zuständig waren – ein, wie es die Badener Zeitung formulierte, verantwortungsvolles Amt.8 Da alle guten Dinge drei sind, wäre noch SS-Obersturmführer Alfred Gutschke vorzustellen. Geboren in Peine bei Hannover, wies der Mann bei seinem Dienstantritt in Baden 25 Jahre Diensterfahrung auf. Er war Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, der mit dem Waffenstillstand von Compiègne jedoch nicht die Flinte ins Korn warf, sondern sich einem Freikorps anschloss und an zahlreichen Kämpfen rund um Schlesien bis 1921 teilnahm. Es war ein Mensch, „der nie aus dem Krieg zurückkam“. Danach war er bei der staatlichen Polizeiverwaltung Gleiwitz-Hindenburg-Beuthen in Oberschlesien angestellt. Sein Einsatzgebiet umfasste mehrere Städte entlang der deutsch-polnischen Grenze. 1932 trat er der NSDAP bei. Am 1. Februar 1940 übernahm er die Leitung der Badener Schutzpolizeidienstabteilung.9 Als Reichsdeutscher gehörte er zu jenem Typ, der den Ostmärkern schon noch das Arbeiten und vor allem Zucht und Ordnung beibringen würde. Einer der Badener Polizisten beschrieb wie folgt seinen Polizeialltag: Täglich gab es Beleidigungen, Demütigungen, Herabsetzungen und Lästerungen gegen uns Österreicher. Wir alten BadenerPolizisten waren bei diesem Menschen vom ersten Tag an unbeliebt. Er hätte uns am liebsten in 7 8 9
Ebd. – Stadtpolizei Baden Politische Abteilung an Staatsanwaltschaft (16.12.1947) Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Sammerhofer Karl (1913–1980) und BZ Nr. 55 v.09.07.1938, S. 3. StA B, NS-Karteikarten groß: Alfred Gutschke (1896–1946) und BZ Nr. 14 v. 17.02.1940, S. 1.
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alle Windrichtungen verschickt.10 Mit Kriegsende geriet Alfred Gutschke in russische Kriegsgefangenschaft und starb im Mai 1946 im sowjetischen Lager Lebedjan am Don an einer Lungenentzündung. Dieser erlesenen Truppe wären weitere Polizisten nur allzu gerne beigetreten. Einer von ihnen war Wachmann Hans Schnötzinger, der zu den Entlassenen gehörte. Bitterlich beklagte er sich nach dem Anschluss bei SS-Untersturmführer Hans Zisser über seine Entfernung und dass er fortwährend schikaniert werde, weil er vor dem 11. März 1938 gegen Nationalsozialisten ermittelt hatte, aber weil ich den gegebenen Befehlen gehorchen musste, meine Pflicht als Polizist erfüllte, aber als Mensch habe ich mich benommen, korrekt und in einer kameradschaftlichen Weise habe ich die politischen Häftlinge betreut. In seinen Augen war er kein Täter, er war das Opfer. Wir jungen Polizisten wurden überall vorgeschoben und mussten gegen Menschen Anzeigen erstatten, die wir niemals gesehen haben, […] als Werkzeug, als Mittel zum Zweck wurden wir verwendet, und unsere Vorgesetzten haben sich zum Großteil aus der Schlinge gezogen, die Drahtzieher haben sich jeder Verpflichtung entbunden, und wir müssen heute so schwer büßen dafür.11 Und Schmid teilte er mit: 29 Nächte habe ich vor Kränkung, seelischem Schmerz und Aufregung nicht schlafen können und habe dadurch gesundheitlichen Schaden erlitten […].12 Er persönlich hätte außerdem nie eine Anzeige erstattet, sondern nur die Fälle bearbeitet. Alois Klinger als sein Vorgesetzter hätte teilweise sogar die Anklagen verschärft. Ihm selbst sei dann nichts weiter übriggeblieben, als seine Unterschrift darunterzusetzen – Vorschrift sei Vorschrift. Aber in Wirklichkeit, so Hans Schnötziger, hätte er zahlreiche Nationalsozialisten und Sympathisanten gedeckt, für die NS-Bewegung gespendet und die SA vor bevorstehenden Hausdurchsuchungen informiert sowie Ermittlungsarbeiten sabotiert. Er listete zahlreiche Namen von NS-Sympathisanten auf, Geschäftstreibende und Wirte, denen er auf diese Weise geholfen und damit ihre Existenzen gerettet und seine eigene Existenz aufs Spiel gesetzt hatte. Insgesamt wären es 120 illegale Nationalsozialisten, die ihm nun Dank schulden würden, weil er sie vor dem Kerker und dem Anhaltelager bewahrt hätte. Für jene Polizisten, die der NS-Bewegung nicht verbunden waren, hieß es stillzuhalten. Johann Hofians schilderte nach 1945, dass bei seinem Dienstantritt 1929 als Probewachmann sein Berufsethos besagt hätte, jeden Menschen gleich zu behandeln und der Politik keinen Raum zu geben. Nach dem Anschluss waren solche Vorsätze obsolet. Er bekam sogleich mit, wie ein Teil seiner Kollegen verhört, bedroht, schikaniert oder entlassen wurde. Zu jenen dazugehören wollte er sicherlich nicht. Aktiven Widerstand leisten? Ich habe im Jahre 1936/37 ein Wohnhaus gebaut. Eigenkapital hatte ich nicht. Der Bau war nur durch das Entgegenkommen der Stadtgemeinde Baden unter Führung des Herrn Bürgermeisters Kollmann und des Herrn Kammeramtsrates Sigmund möglich geworden. […] Ich musste dann 1938 aber 10 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hofians Johann (1901–1983) – Aussage (27.06.1945). 11 StA B, GB 052/Personalakten: Schnötzinger Johann (geb. 1906) – Schnötzinger an Zisser (27.09.1938). 12 Ebd. – Schnötzinger an Schmid (15.11.1938).
Kapitel 4 Von neuen und alten Namen
bangen, dass mir dieser Kredit gekündigt oder ich gar entlassen werde.13 Um weiterhin regelmäßig seinen Lohn ausbezahlt zu bekommen, trat er der NSDAP bei. Eine gewisse Zeit ging dies gut. Probleme tauchten erst auf, als der Reichsdeutsche und den Ostmärkern feindlich gesonnene Alfred Gutschke das Kommando übernahm. Im Jahre 1943 stand für Hofians der Beitritt der SS im Raum, den er letztlich ablehnte. Er selbst bezeichnete sich als gezwungener Mitläufer. Seinen Ausführungen nach 1945 wurde Glauben geschenkt – bloß Hans Mayer von der KPÖ war skeptisch – und sein Name verschwand von den Registrierungslisten. Ebenso gestrichen wurde der Polizist Othmar Höfner, der seinen Dienst seit 1919 bei der Stadtgemeinde versah. Bis 1934 war er sozialistisch organisiert und damit innerhalb der Polizei in Baden ein Exot. Danach trat er der Vaterländischen Front bei. Nach dem Anschluss, nun hatte er schon für Frau und Kind zu sorgen, bewarb er sich bei der NSDAP. Nicht nur aufgrund wirtschaftlicher Sorgen, wie er es schrieb, habe ich mich um die Aufnahme in die NSDAP beworben, umso mehr, als ich nicht wie früher während der Zeit meiner Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei als Einzelgänger herumgehen wollte.14 Im Inneren soll er NS-Gegner geblieben sein, der den ihm aufgezwungenen Blockwartposten nach kurzer Zeit zurücklegte, sich zu keiner Parteiarbeit überreden ließ und der gegen politisch Andersdenkende nie gehässig auftrat. Für den Gendarmeriebeamten Franz Reich waren es seine Ermittlungen zu nationalsozialistischen Terrorakten der 30er Jahre inklusive der folgenden mehrjährigen Haftstrafen für die Verurteilten, die es ratsam erschienen ließen, sich der NSDAP anzunähern. 1939 füllte er einen Beitrittsbogen aus. Parteimitglied wurde er nie, dafür Parteianwärter bis zum Ende des NS-Regimes 1945.15 Beim Kriminalbeamten Franz Kopetzky klappte es hingegen 1942. Aus dem PA wurde nach vier Jahren Bewährungszeit ein PG. Seine Dienste für das NS-Regime brachten ihm nach 1945 jedoch den vorzeitigen Ruhestand. Das Vertrauen der neuen Machthaber genoss er nicht mehr.16 Die Sicherheitskräfte waren das A und O des Unterdrückungsapparates, Loyalität und absoluter Gehorsam standen über allem. Um das sicherzustellen, mussten die „offiziellen“ Sicherheitskräfte wie Ordnungspolizei (Schutzpolizei, Gendarmerie) und Sicherheitspolizei (Geheime Staatspolizei, Kriminalpolizei) polizeiliche Rechte mit der SA und SS teilen.17 Wie oben erwähnt, liefen im Juli 1938 gegen acht oder neun Polizeibeamte (die Quellen 13 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hofians Johann – Aussage (27.06.1945). 14 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Höfner Othmar (1895–1993) – Höfner an Kollmann (15.09.1945). 15 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Reich Franz (geb. 1883). 16 Vgl. StA B, NSDAP Karteikarten groß: Kopetzky Franz (geb. 1883) und GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf – Stadtpolizei Baden Kriminal-Abteilung an Landesgericht Wien (01.11.1948). 17 Vgl. NEUGEBAUER Wolfgang, Der NS-Terrorapparat. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et. al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 721–743, hier 727f.
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sind hier nicht eindeutig) Disziplinaruntersuchungen, zudem wurden ihre Gehälter um ein Drittel gekürzt. Für den eingefleischten SA-Standartenführer Otto Strohmayer war das immer noch zu wenig. Pikiert wandte er sich an Schmid als den Chef der Badener Polizei und sprach vom großen Unwillen, der sich der Reihen der Braunhemden bemächtigt hätte. Jeder anständige SA-Mann muss zumindest staunen, wenn er diese Systemstützen von gestern heute im Ehrenkleid der deutschen Polizei öffentlichen Dienst machen sieht. Und nicht zu vergessen, die Grußpflicht der Polizei gegenüber der SA. In diesem Zusammenhang möchte ich auf Fälle aufmerksam machen, wo Pol.-Beamte in Baden auf den Gruß scheinbar vergessen.18 Schmid antwortete und verwies auf die laufenden Verfahren. Wenn Strohmayer weitere Anklagepunkte hätte, so Schmid, könne er diese ruhig vorbringen. Und bezüglich der Grußpflicht, die gelte nur für den Rang des SA-Standartenführers aufwärts. Dennoch war das sicher für viele Polizeibeamte eine wahrliche Schmach. Die symbolische Demütigung in Bezug auf die Grußpflicht wurde nur durch die Tatsache übertroffen, dass es der SA oblag, über jeden Polizisten einen Bericht zu erstellen. Wie stand er in der Verbotszeit zur NS-Bewegung? War er gehässig? Wandte er Gewalt an? Besonders brisant war, dass von den 147 SA-Männern in Baden (Juli 1938) 36 vorbestraft waren. Diese Männer urteilten nun über die Polizei.19 Neben Otto Strohmayer waren noch Polizeichef Karl Sammerhofer und Exekutivkomitee-Mitglieder wie Leopold Mayer und Michael Stenzenberger federführend bei der Schikane von nicht eidbrüchigen Polizisten der Stadt Baden. Noch dazu wurde die SA im September 1939 als Hilfspolizei installiert. Das Schwergewicht der Streifen ist hauptsächlich, dem lichtscheuen Gesindel, wie: Vagabunden, Zigeuner etc., Einhalt zu bieten, ferner Beobachtungen bei boshafter Beschädigung fremden Eigentums, Lärmplage zur Nachtzeit etc. 32 Mann und zwei SA-Führer sollten, vor allem in den Nachtstunden zwischen 20 Uhr und 5 Uhr früh, den regulären Sicherheitskräften assistieren bzw. ihnen die Arbeit abnehmen. Dass der SA ihr Ruf vorauseilte und es mit der Disziplin nicht weit her war, musste mehrmals betont werden: Die SA-Leute waren ausschließlich Hilfspolizisten, und die Streifen haben sich bei ihren Einschreitungen in höflicher Form zu benehmen, und wenn eine Entscheidung nicht getroffen werden kann, so ist hiervon die Schutzpolizei zu verständigen. Während der Streife ist es den Männern streng untersagt, Gaststätten, Cafehäuser, Heurigenschänken etc. aufzusuchen.20 Ehre, Strammheit und Würde waren sowieso Grundvoraussetzungen. Ein anschauliches Beispiel bezüglich der Selbsterhaltung eines Polizisten in Baden und seiner lieben Not mit der NS-Zeit bietet der Fall Georg Koch. Aus Salzburg stammend, übersiedelte er 1929 nach Baden und trat der Stadtpolizei bei. Mit dem Ständestaat, den Heimwehren und dergleichen konnte er nichts anfangen. Ich war Nationalsozialist und dachte mir, dass es eine andere Lösung nicht geben könne, nachdem in der Nachkriegszeit alle politischen Parteien versagten, bzw. keine einen wirklichen Ausweg aus den drückenden wirt18 StA B, GB 052/Personalakten Schmid Franz; Fasz. II; Mappe 1938. 19 Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. I SA; Vorstrafen. 20 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1939.
Kapitel 4 Von neuen und alten Namen
schaftlichen Verhältnissen fand. Das ist eine Tatsache, die ich nicht bestreiten kann.21 So Georg Koch 1946. Sein „Kontaktmann“ zur verbotenen NSDAP war sein Nachbar Anton Magloth.22 Von ihm bezog er illegale Schriften und zahlte dafür mehr als den geforderten Preis. Nach dem Anschluss, obwohl Sympathisant, geriet er ins Visier von Josef Heitzer, der nichts unversucht gelassen haben soll, um ihn zu schikanieren. Anschwärzungen beim Bürgermeister als dem Chef der Badener Stadtpolizei sowie der SA und SS oder das Liebäugeln, ihn (Koch) in die burgenländische Provinz abzuschieben, sollen Kochs polizeilicher Alltag gewesen sein. Dabei plagte Koch bereits damals das Heimweh nach seinen salzburgischen Gauen, der Westen war sein Ziel und nicht das pannonische Grenzland. Um gegenzusteuern, suchte er Anton Magloth auf, der ihm einen NSKK-Beitritt aus dem Jahre 1937 bescheinigte. Somit geriet Koch in den Dunstkreis von Illegalität. Wenig später wurde aus dem NSKK-Beitritt 1937 auf „wunderbare Weise“ ein NSDAP-Beitritt 1937. So weit, so nachvollziehbar aus der Sicht eines Polizisten, der weiterhin ungestört seinen Dienst zu verrichten gedachte, wenn denn nicht Klinger und seine Ermittlungen nach 1945 gewesen wären bzw. noch einfacher die Badener Zeitung. Denn dort lesen wir – blättern Sie, liebe Leser, einfach zum Kapitel 1 zurück – dass Georg Koch einer der vier Polizisten war, die nach dem Anschluss für ihre Verdienste rund um die NS-Bewegung ausgezeichnet wurden. Kochs Erklärungen nach 1945, wonach er sich dem NS-Regime anbiedern musste, um nicht seinen Posten zu verlieren oder sonstige Repressalien zu erleiden, werden von mehreren Schriftstücken konterkariert, die Ende 1938 abgetippt wurden. Darin heiß es: Er sei ein pflichteifriger, nüchterner und wahrheitsliebender Beamter, der sowohl im Außendienst als auch im Kanzleidienst seine Pflichten zu meiner vollsten Zufriedenheit versieht und noch niemals irgend einen Anlass zu einer Klage gegeben hat. Ry. I. Koch ist langjähriger Anhänger unserer Bewegung und war bereits in der Systemzeit illegales Mitglied der NSDAP. Da sich Koch durch die Übernahme zur Gestapo seinen Wirkungskreis vergrößern und damit auch sein Fortkommen verbessern könnte, wird das Ansuchen wärmsten befürwortet.23 Zu den Befürwortern gehörten sowohl Bürgermeister Schmid als auch Josef Heitzer. Letzterer bestätigte nach 1945, dass Koch alles andere als ein Illegaler war, und die ihm von Koch vorgelegte Bestätigung, illegales Mitglied des NSKK gewesen zu sein, war mehr als durchsichtig. Zumal er [Koch] und Anton Magloth Freunde waren und Magloth als Fahrer von Bürgermeister Schmid und Landrat Wohlrab über geeignete Kontakte verfügte, um gewisse Beitrittsdaten-Spielereien vornehmen zu können. Nach 1945 bezeichnete Koch all seine Angaben 1938 als Notlügen. Jetzt aber, nach 1945, sage er die Wahrheit. Wobei er treffend eingestand: Es wurde so viel aufgeschnitten und gelogen, dass im Vergleich meine Behauptungen sehr bescheiden waren. Allerdings – wenn man jetzt eine Parallele zwischen meinem damaligen Verhalten ziehen will, so kann ich dies nicht 21 StA B, GB 052/Personalakten: Koch Georg (geb. 1902) – Rechtfertigungen (19.03.1946). 22 Anton Magloth (geb. 1897). 23 StA B, GB 052/Personalakten: Koch Georg (geb. 1902) – Stadtgemeinde Baden an die Reichstatthalterei, Staatssekretariat für das Sicherheitswesen und Höhere SS-Polizeiführer (17.11.1938).
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verhindern, da mein Schreiben, dass ich nach Baden richtete, bis heute nicht beantwortet wurde. Georg Koch war Ende 1939 zurück in Salzburg und soll dort freiwillig aus politischen Gründen aus der NSDAP ausgetreten sein. Seine Rechtfertigungen nach 1945 haben zwar Hand und Fuß, doch die Ähnlichkeiten zu Rechtfertigungen anderer Personen in vergleichbarer Situation war frappierend. Kurze Zeit nach dem Umbruche begann ich langsam einzusehen, dass meine politische Ansicht ein großer Irrtum war. Gewiss war ich in der Judenfrage für den status quo – ich war aber nicht dafür, dass von arbeitsscheuen Strolchen, die sich in der SA zusammenfanden, Judenwohnungen geplündert wurden und überhaupt in jeder Weise Ungerechtigkeit geübt wurde. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel an Aussagen und Gegenaussagen. Dass er kein radikaler Nationalsozialist war, dem widersprachen mehrere Zeugen. Ständig soll er den SA-Ehrenwinkel getragen haben. Seine Erklärung hierfür: Ich habe auf meiner Bluse diesen Winkel annähen lassen und ihn nur getragen, wenn ich zur Gestapo gegangen bin und in der Sache meines wegen Hochverrates inhaftierten Bruders oder wegen meiner ebenfalls politisch sitzenden Tante vorzusprechen. Ich musste dort versuchen, damit etwas Eindruck zu erwecken, damit ich wenigstens vorgelassen werde.24 Kochs Annäherung an die NSDAP hatte nicht nur mit seiner Gesinnung und der Angst, finanzielle, berufliche und soziale Nachteile auszufassen, zu tun, sondern ebenso mit der Angst vor Rache. Hierbei können wir durchaus eine indirekte Bestätigung seitens Klingers herauslesen. Wir erinnern uns, die SA (bei der ein Viertel der Mitglieder vorbestraft war) war für die Beurteilung von Polizisten zuständig. Bei einigen Mitgliedern war die kriminelle Energie besonders ausgeprägt. Anton Freisinger stach vor allem hervor, ein alkoholkranker und krimineller Zuhälter mit 15 Vorstrafen – nach 1945 war er laut Klinger aufgrund seines moralischen und politischen Vorlebens etc. ein förml. Schulbeispiel, für einen Gemeinschädlichen, welcher immer die h.o. Gerichte und Behörden, bis zu seiner am 3.1.1941 erfolgten Abreise aus Baden nach Graz etc. beschäftigt hat.25 Kochs Vorgehen gegen Freisinger stammte aus dem Jahre 1934. Der Angeklagte Freisinger wurde beschuldigt, die Prostituierte Hermine K. misshandelt zu haben. Um die Situation ins Reine zu bringen, beabsichtigte die Stadtgemeinde zunächst, die an diversen Geschlechtskrankheiten erkrankte Frau in ihre Heimatgemeinde Landegg abzuschieben. Daraufhin hatte Freisinger allerdings einen Compagnon bei der Hand, August Schelle, der die besagte Dame zu ehelichen hatte. Durch die Scheinehe wollte Freisinger, wie es dem Akt zu entnehmen ist, seine Melkkuh nicht verlieren. Freisinger gehörte einem Milieu an, das von Alkoholexzessen, Prostitution, Vergewaltigung, Erpressung und Arbeitslosigkeit geprägt war. Während Freisinger 15 Vorstrafen aufzuweisen hatte, brachte es sein Stiefbruder Ferdinand Haidner auf 19 und ein anderer Stiefbruder und Exekutivkomitee-Mitglied Franz Rosensteiner auf immerhin 14.26 Dies war ein Milieu, aus dem sich später ein Teil der SA rekrutierte. Es 24 Ebd. – Rechtfertigungen (19.03.1946). 25 Ebd. – Klinger an Landesgericht Graz (10.02.1949). 26 Anton Freisinger (geb. 1901), Hermine K. (1905–1992), August Schelle (1903–1974), Ferdi-
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war ein Sammelsurium an Kriminellen und Hooligans, mit Rufnamen wie Spargel, Wilder Storch, Mopsi, der Wilde – hinter denen altbekannte NS-Anhänger wie Nachtnebel, Karras, Verosta, Terzer, Hildegart und dergleichen steckten. Wozu diese Menschen fähig waren, hatten sie zur Genüge öffentlichkeitswirksam unter Beweis gestellt. Einen Polizisten zu lynchen, der gegen sie ermittelt hatte und dem sie mehrere Monate oder Jahre Wöllersdorf verdankten, war ihnen durchaus zuzutrauen. So war es überaus verständlich und ratsam, dass die Badener Polizisten, auch jene, die dem Nationalsozialismus distanziert gegenüberstanden, mit der SA und SS anstandslos zusammenarbeiteten. Wenn diese in den Wachstuben auftauchten und nach Akten verlangten, wurden jene ohne Widerrede ausgehändigt. Welche Einstellung und Verhaltensweisen manche SA- und SS-Männer den gewöhnlichen Sicherheitskräften gegenüber an den Tag legten, darauf werden wir später noch eingehen. Abschließend zum Fall Koch sei erwähnt, dass er sich laut eigener Aussage in Salzburg als Nationalsozialist registriert hatte und zugleich um Entregistrierung ansuchte. Parteimitglied sei er schließlich nie gewesen, nur eine Pseudo-NSKK-Mitglied. Die Streichung von den Registrierungslisten erfolgte im Februar 1948. Ebenso nicht ganz durchsichtig sind die Viten von Dr. Friedrich Breker und Dr. Charles Hermann Krebs. Ihre Fälle sind aufgrund ganz spezieller Parameter von Interesse. Widersprüche und Undurchsichtigkeit kennzeichnen nicht nur ihren Charakter, sondern das berufliche Anforderungsprofil. Beide Männer gehörten dem „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ (SD) an, auch Himmlerpolizei genannt, ein Geheimdienst, der Teil der NSDAP bzw. SS war. An der SD-Spitze in Berlin finden wir Männer wie Reinhard Heydrich und Ernst Kaltenbrunner. Ihr Aufgabenbereich kann mit Terror umschrieben werden. Terror gegen jeden, selbst gegen die eigenen Reihen, gegen politische und rassische Feinde sowieso. Klingers Analyse nach 1945 bringt es ungeschminkt ans Tageslicht: Vor den beiden Obergenannten, welche mit dem ehemal. Polizei-Chef von Baden namens Alfred Gutschke, SS.Obersturmfhr. etc. sehr intim verkehrt haben, hat die ganze Stadt (Bürgermeister Schmid, und seine Mitarbeiter etc.) und die Behörden samt den Einwohnern unter der n.s. Gewaltherrschaft förmlich gezittert.27 Die Tätigkeit des gebürtigen Esseners Friedrich Breker wurde auf den nach 1945 erstellten NSDAP-Karteikarten mit dem Wort „geheim“ versehen.28 Sein Personalakt ist nicht weniger geheimnisvoll. Hinweise, wonach wir es mit einem SD-Mann zu tun haben, fehlen weitgehend. Dafür haben wir Schriften über die deutsche Kolonialpolitik und Eingeborenenpolitik, einen Aufsatz über „Mazzini, der Revolutionär und Vorkämpfer um die Einheit Italiens“, einen über Hyder Ali (ein südindischer Feldherr, der im 18. Jahrhundert gegen die East India Company Kriege geführt hatte), Tabellen über deutsche Importwaren, Einladungen Goebbels (Dr. Breker möge doch an der Uraufführung des Films „Ohm Krüger“ im April 1941 im Ufa-Palast teilnehmen), Visitenkarten Brekers, wonach der Mann „Dinand Haidner (geb. 1898). 27 StA B, GB 052/Personalakten: Heitzer Josef – Klinger an Landesgericht Wien (10.03.1949). 28 Vgl. StA B; NSDAP Karteikarten groß: Friedrich Breker (geb. 1910).
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rektor der Profilti-Polygonn-Filmaktengesellschaften Niederlande Außenstelle Berlin“ war, sowie etliche ausgeschnittene Zeitungsartikel, die wiederum auf A4-Papier geklebt sind, die den Briefkopf „Friedrich J. B. Breker Direktor der Tobis Filmdistribution N.V. Berlin/ Amsterdam“ tragen. Dass Breker aber weit mehr als ein historisch interessierter Cineast zu sein schien, ergeben eine Handvoll Briefe, in denen er um Aufnahmegeräte, Projektoren, Stehlampen, Deckenleuchten und Kochplatten ansuchte. Letztere schienen bei einem Luftangriff zerstört worden zu sein. Thema war die Feindfilmauswertung. Seine „Brieffreunde“ waren unter anderem SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei Dr. Wilhelm Harster, Befehlshaber der Sicherheitspolizei und SD in den Niederlanden und Italien, verantwortlich für die Deportation zehntausender Juden; SS-Sturmbannführer Ernst Turowski, Leiter des Referates Wissenschaft im Sicherheitshauptamt (RSHA), stationiert in Verona; weiters finden wir noch einen Dr. Jung und einen Herrn Rademacher. Womöglich handelt es sich dabei um Dr. Karl Jung, einen SS-Oberführer, Mitglied der Deutschen Akademie und Stellvertreter des Reichsleiters Franz von Epp im Kolonialpolitischen Amt der NSDAP, und SS-Obersturmführer Franz Rademacher, einen NS-Diplomaten und Leiter des „Judenreferates“ im Auswärtigen Amt und Teilnehmer von Folgetreffen der Wannseekonferenz.29 Nicht weniger geheimnisumwoben war sein SS-Kamerad Krebs, ein General, zugleich Sonderbeauftragter der Gestapo und Chef ebendieser in Baden.30 Über ihn schrieb Klinger im Juni 1948: Der angebliche Dr. Charles Hermann Krebs hat mir leider schon sehr viele unnötige Vielschreiberei verursacht, und sein Akt bildet schon ein ganzes Buch. Krebs bildete infolge seines Vorlebens und seiner Simulationen für Ärzte, Richter, Staatsanwälte etc. ein förmliches Rätsel.31 Zwischen dem kurörtlichen Gezittere und dem großen Rätselraten lag ein Mann, der laut diversen Fremd- und Eigenaussagen ein SS-General, ein Dr., ein Hochstapler, SD-Agent, Heiratsschwindler, Widerstandskämpfer, Faschist, Antifaschist, Aufschneider, Mussolini-Befreier, Verwechslungs-Opfer, Intimfreund Himmlers, Simulant, Ariseur, Gewalttäter, NS-Opfer, Südtiroler Rückwanderer, Schwerkriegsversehrter und damit haftuntauglich – inklusive ärztlicher Atteste, die ihm Epilepsie und Schließmuskelversagen attestierten – gewesen sein soll. Demnach war es nur logisch, dass der damals angefertigte Personalakt im Badener Stadtarchiv mit „Akte über den angeblichen Dr. Charles Hermann Krebs!“ betitelt wurde. Neben den verschiedenen Hilfskräften, bestehend aus SA, SS und SD, erhielten die Badener Sicherheitskräfte auch eine etwas kuriose Verstärkung. Das Landesgendarmeriekommando für Niederösterreich beehrte sich, dem Herrn Landeshauptmann für Niederösterreich am 2. April 1938 mitzuteilen, dass in Baden eine Kriminalhundestation errichtet werde. Der Kriminalhund „Cläri von Königshügel“ steht unter Führung des Patrouillenleiters Rudolf Schleifers des Postens Baden.32 29 30 31 32
Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Breker Friedrich. Vgl. StA B; NSDAP-Karteikarten groß: Hans Krebs (geb. 1908). StA B, GB 052/Personalakten: Krebs Hermann – Klinger an Dr. Oldy Orobko (02.06.1948). NÖLA, Errichtung einer Kriminalstation, K89.
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Justitia Neben der loyalen Exekutive bedurfte es genauso einer loyalen Judikative. Die Nationalsozialisten in Baden hatten auf diesem Gebiet allerdings ein Problem – mangelnde Reserven an qualifiziertem Personal. Während man die Sicherheitskräfte mit SA-Schlägern und sonstigen Soziopathen aufstocken konnte, bedurfte das Justizwesen eines doch intellektuelleren Eignungsprofils. Man kam nicht umhin, auf die Eliten aus CSP bzw. des Ständestaates zurückzugreifen. Dass das nicht allen schmeckte, beweist eine Brandrede Kreisleiter Ponstingls im Oktober 1939. Er sah das Ansehen der NSDAP in Gefahr, denn das würde bei unserem Gegner den Anschein erwecken, wir „trottelhaften“ Nationalsozialisten bedürfen nur zu sehr der geistigen Stütze der schwarzen Clique.33 Der, um den es ging, war Dr. Richard Frank, ein in Baden tätiger Richter. Für Ponstingl streng klerikal, katholisch-konservativ, christlichsozial, CV-Mitglied, ein Mann der Vaterländischen Front und jemand, der beste Verbindungen nach Heiligenkreuz pflegte. Nach dem Anschluss wurde er strafversetzt. Es kam zu Verhören durch die Gestapo. Der Druck kam von der Kreisleitung. Doch die erhoffte Deklassierung Franks traf nicht ein. Ganz im Gegenteil. Aufgrund der Fürsprache mehrerer Kollegen konnte er weiteren Schikanen entgehen. Ponstingl schäumte. Ich selber musste noch Mitte Juni 1938 feststellen, dass dem Dr. Frank der Deutschen Gruß ein fremder Begriff war, dass erst auf meine Veranlassung Führerbilder in die Räume des Gerichtes kamen und dass das ganze Gericht noch Systemgeist atmete. Dass Personen wie Frank weiterhin auf einflussreichen Posten saßen und gar als NS-Anhänger bezeichnet wurden, muss geradezu als frivol bezeichnet werden. […] Die Behauptung, Dr. Frank biete volle Gewähr, dass er seinen Beruf im Geiste unserer Weltanschauung ausüben werde, schlägt der Wahrheit ins Gesicht; eine solche Behauptung mag vielleicht von Leuten inspiriert sein, die Weidmannskameraden des Dr. Frank und vielleicht ab und zu seine Gäste sind.34 Woher sie auch immer kamen, Frank selbst hatte so einiges „richtig“ gemacht. Er verhielt sich anfänglich zurückhaltend, ließ die Stimmung abkühlen, wartete auf seinen Moment, um dann vorstellig zu werden. Gleich mit der Tür ins Haus zu platzen (Parteimitgliedschaft), wäre zu überstürzt, aber für den Anfang reichte auch die SA-Reiterstandarte. Dazu ein paar Spenden an die SS, und schon winkte die Eintragung als förderndes SSMitglied. Er konnte ferner nachweisen, gegenüber der NS-Bewegung niemals gehässig gehandelt zu haben. Er hielt sich streng an das Gesetz. Sein Vorgehen war nicht politisch oder ideologisch motiviert, sondern mit dem jeweils geltenden Gesetz konform. Er war dermaßen objektiv und unpolitisch, dass sich der damalige bei den Nationalsozialisten verhasste Bezirkshauptmann Adolf Pilz darüber beschwert haben soll. Aber nicht nur Pilz. Der Druck, strenger zu ahnden, kam ebenso von dessen Nachfolger Rupprecht und Bürgermeister Kollmann. Doch auch hier soll ihnen Frank eine Absage erteilt haben. Ein Konflikt mit Pilz und Kollmann war übrigens nach 1938 Gold wert – besonders wenn er von 33 StA B, GB 052/Personalakten: Frank Richard (geb. 1893) – Ponstingl an Gauleitung (11.10.1939). 34 Ebd.
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Nationalsozialisten bestätigt wurde. Franks fachliche Kompetenz war unbestritten, zumal bezeugt durch seine Fürsprecher. Doch Frank hatte noch mehr zu bieten: seine deutsche Sozialisation im Sudentenland und damit zusammenhängend seinen Kampf um das durch die Tschechen bedrohte Deutschtum, für das er sein eigenes Blut vergossen haben soll. Zu guter Letzt brachte er seinen Kriegseinsatz und seine Verwundung im Ersten Weltkrieg ins Spiel. Resümierend und sich auf den NS-Heiland berufend kam er zum Schluss: Ich kann nicht glauben, dass es den Intentionen des Führers entspricht, wenn ein Mann, dessen Jugend im Sudetenland und auf Prags streitbarem Boden stets kämpferisches und urdeutsches Erleben war, der im Weltkrieg als Frontsoldat seine Pflicht erfüllt, lange und schwer gelitten u. geblutet hat, der als Richter und Gerichtsvorsteher hervorragend qualifiziert ist und von seiner vorgesetzten Dienstbehörde wiederholt als der beste Gerichtsvorsteher des Sprengels bezeichnet wurde, durch eine Versetzung politisch disqualifiziert und hierdurch außerdem wirtschaftlich und gesundheitlich schwer geschädigt wird. Einzig seine Religiosität barg einen Makel, aber nicht für den Führer oder anderen maßgebende Persönlichkeiten, wie er es selbstsicher annahm. Er meinte Andere. Ich gebe zu, dass einem Teil der primitiveren Bevölkerungsschicht die Fähigkeit mangelt, den Unterschied zwischen Religionsausübung und zwischen politisch-konfessioneller Betätigung zu erfassen […].35 Eigentlich war das der Fehdehandschuh direkt ins Gesicht zahlreicher SA-Männer. Für andere Köpfe des NS-Regimes war Frank aber ein Mensch, der gültige Gesetze achtete und der den Rechtsweg einhielt. Mit so jemandem konnte man arbeiten. Einzig, man muss ihm nur die passenden Gesetze bereitstellen und ihm den wahren Rechtsweg weisen. Frank ging es hier nicht um die Parteimitgliedschaft, noch nicht. Zuerst einmal wollte er seinen Posten behalten und Schikanen vermeiden. Das sollte ihm auch gelingen. Dass er des Weiteren über einen erstaunlichen Rückhalt, und das als NichtParteimitglied, verfügte, davon mussten sich die Parteimitglieder Hans Gotz und Wilhelm Hentschl überzeugen, die anfänglich die neuen starken Männer in der Badener Justiz waren – so zumindest empfanden sie es. Wilhelm Hentschl, Justizsekretär in Baden, seit 1933 bei der NSDAP, ab 1934 bei der SS, Illegaler, Kreiskassenleiter sowie beteiligt am Raub jüdischen Vermögens, verstand es, anderen Juristen das Leben schwer zu machen. Hans Gotz, Parteigenosse seit 1921 oder 1922 oder 1926 (je nach Quelle), war Kreisamtsleiter, Parteirichter im Kreis, sowie besoldeter Gerichtsbeamter und Gemeinderat. Aufgrund seiner Verdienste für die NS-Bewegung durfte er die Wohnung der Apothekerfamilie Haberfeld am Hauptplatz 13 arisieren. Er war es, der Alois Klinger mit Dachau drohte und ihn dadurch dazu brachte, den Amtseid als Polizist zu brechen. Nach 1945 als Ellenbogenmensch und radikaler Nationalsozialist bezeichnet, hatte er obendrein durch seine Funktion Zugang und Einblick in alle möglichen juristischen und administrativen Vorgänge. Mittels Gerüchten, mangelnden und wenig stichhaltigen Beweismitteln, dafür mit einer ordentlichen Portion Skrupellosigkeit, begann er gegen Volksgenossen, Parteimitglieder und selbst Vorgesetzte zu ermitteln. Mit dabei stets Wilhelm Hentschl, dessen Disziplinlosigkeit gegenüber seinem Vorgesetzten Richard 35 Ebd. – Frank an die Reichsstatthalterei (15.04.1939).
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Frank einen umfangreichen Akt entstehen ließ. Gotz und Hentschl hatten Frank regimefeindliche Äußerungen in den Mund gelegt, die zu einer Untersuchung seitens der Gestapo führten, die allerdings im Sand verlief. Frank konnte nichts nachgewiesen werden. Ferner drängten sie Frank, Weisungen des Oberlandesgerichts Wien zu umgehen. Damit hatten beide offenbar den Bogen überspannt. So ein Verhalten durfte nicht toleriert werden. Die NSDAP wollte mit solchen Lügen, Falschaussagen und Diffamierungen plötzlich nicht in Verbindung gebracht werden. Wir dürfen nicht vergessen, das NS-Regime wollte ein Rechtsstaat sein und kein barbarisches Willkürregime. Für Kreisleiter Gärdtner waren Gotz und Hentschl von einem ungesunden Geltungsbedürfnis befallen und er riet ihnen, aus dem Beamtendienst auszutreten. Hentschel wurde nach Hollabrunn versetzt und die Dienststrafkammer des Oberlandesgerichts Wien verurteilte ihn wegen Dienstvergehens zu einer Gehaltskürzung für eineinhalb Jahren. An sich war Hentschl ein überzeugter und engagiert Nationalsozialist, abgesehen von einer mitunter zu Tage tretenden Unüberlegtheit in seinen Reden und Handlungen (mangelnde Erfassung der Tragweite seiner Äußerungen) und einer gewissen Brutalität im Durchsetzen seiner Ziele […].36 Für Gotz hatte es sogar ein psychologisches Nachspiel. Sein Geisteszustand stand zur Debatte, er musste ihn untersuchen lassen. Der Badener Amtsarzt Dr. Robert Fischer verneinte dessen Zurechnungsfähigkeit, scheute sich jedoch, aufgrund Gotz’ früherer Verdienste, dies schriftlich in seinem Gutachten festzuhalten. Das Präsidium des Landesgerichts Wiener Neustadt war da nicht so zimperlich. Dort nannte man ihn geistig minderwertig, ja an der Grenze der Verantwortlichkeit für seine Äußerungen […].37 Gotz war gezwungen, seine Ämter niederzulegen. 1941 wurde er pensioniert. Wenig später fand er sich als Bürgermeister seines Heimatortes Töstitz wieder. Bis 1944 blieb er es. Das Ende des Krieges erlebte er im Landkreis von Znaim in der Kartenstelle. Dass sein Geisteszustand tatsächlich nicht der Norm entsprach, beweist seine Überzeugung, kein Parteimitglied gewesen zu sein und sich niemals illegal betätigt zu haben. Deswegen suchte er auch nach 1945 nicht um Streichung von den NS-Registrierungslisten an. Als Nicht-Nationalsozialist weshalb auch! Für ihn ungünstig, etliche Akten belegten, wie er sich mit seinen illegalen Aktionen brüstete, Gelder verschickte, NS-Kameraden zur Flucht verhalf und dabei großspurig angab: Seit 1921 stehe ich in den Reihen unserer Bewegung. Keine Sekunde wurde ich wankelmütig 38 Doch zurück zu Richard Frank. Zwei Parteigenossen aus der Kreisleitung hatten gegen das Nichtparteimitglied Frank den Kürzeren gezogen. Frank blieb weiterhin im Dienst. Nun war es aber an der Zeit, doch noch bei der NSDAP vorstellig zu werden. Wer weiß, ob er den nächsten Angriff genauso abwehren würde können. Letztendlich wurde nichts daraus. Im Juni 1944 wurde sein Antrag endgültig abgewiesen. Es war die falsche Antwort auf die 36 StA B, GB 052/Personalakten: Hentschl Wilhelm (1898–1979) – Anschuldigungsschrift (01.11.1940). 37 StA B, GB 052/Personalakten: Gotz Hans (geb. 1881) – Präsidium des Landesgerichts Wiener Neustadt an Kreisleitung (12.10.1940). 38 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Gotz Hans – Gotz an Kreisleitung (13.08.1939).
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Gretchenfrage, die das Parteibuch in nicht greifbare Ferne rückte. Er blieb konfessionell gebunden. Das wollte er nicht ablegen. Anders als Ponstingl verhielt sich dessen Nachfolger Gärdtner „korrekter“ wenn auch distanzier gegenüber Frank. Franks Äußerung, dass er Politik und Religion zu trennen wusste, daran hatte Gärdtner keine Zweifel. Für ihn war Frank ein österreichischer Beamter alter Schule. Doch ein Nationalsozialist war er nicht. Wäre die NSDAP eine Vereinigung gutgesinnter Staatsbürger, so bestünde gegen die Aufnahme Dr. Franks kein Bedenken, da aber die Partei ein Führerorden sein soll, ist in ihr für Dr. Frank meines Erachtens kein Platz.39 Vielleicht war es auch ein aus heutiger Sicht „schmunzelwertes“ Malheur, das Frank 1943 unterlief, das ihn letztendlich die Parteimitgliedschaft kostete. Bei einem Appell wurde das Deutschlandlied angestimmt. Und da passierte es. Frank verwechselte den Text, was leicht passieren konnte, da die Melodie dieselbe war. Statt einem kraftvollen „Deutschland, Deutschland über alles…“, erklang „Gott erhalte, Gott beschütze…“. Franks fachliche Kompetenz, seine zwar tief verwurzelte konservativ-christliche Einstellung, aber sein ideologiefreier und unpolitischer sowie stets korrekter und sich penibel an das Gesetz haltendes Berufs- und Arbeitsethos, seine zahlreichen Befürworter, angefangen vom ehemaligen Vizebürgermeister Julius Hahn bis zum erst kürzlich verstorbenen Abt von Heiligenkreuz Dr. Gregor Pöck, mit dem er bis zuletzt innig befreundet war und dass der Abt mir diese tiefe und warme Zuneigung nicht geschenkt hätte, wenn er meine politische Einstellung nicht gekannt hätte.40 Dermaßen abgesichert konnte er unbehelligt und entspannt der Zweiten Republik entgegen sehen. Seine Spenden an die SS, seine Mitgliedschaft bei der SA-Reiterstandarte waren im Angesicht der Taten anderer geschichtlicher Flugsand. Parteimitglied war er auch nie gewesen – dafür ein Parteianwärter am Abstellgleis. Demnach hatte sein Name eigentlich nichts auf den Registrierungslisten verloren. Bis auf den Vertreter der KPÖ stimmten alle Kommissionsmitglieder für seine Streichung von den Registrierungslisten. Ein nicht gehässiges Vorgehen gegen Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1938 und eine fachliche Kompetenz, der selbst der politische Gegner Respekt zollen musste, verschaffte so manchem Juristen ein „normales“ Leben unter dem Hakenkreuz. Einer von ihnen war der Jurist Dr. Wilhelm Malaniuk.41 Dabei hatte er aus NS-Sicht so einiges am vaterländischen Kerbholz. Als Bezirksrichter in Baden war er zudem Gemeinderat, Angehöriger der Sturmscharen und Bezirkspropagandaleiter der Vaterländischen Front. Er war überhaupt einer der aktivsten VF-Funktionäre im Bezirk und der Stadt. Sein Eifer und sein richtiger Riecher zeichneten ihn aus. Bereits 1932 sah er weder die Sozialisten oder den Marxismus und schon gar nicht die Großdeutsche Volkspartei als den Hauptgegner der CSP, sondern die Nationalsozialisten. Er plädierte für einen starken Ausbau der Propaganda, für eine massive Stärkung der Jugendarbeit (sie sollte nicht linken oder rechten Extremisten überlassen werden) und eine Straffung und Zentralisierung der Christlichsozialen Partei. Zu lange, 39 StA B, GB 052/Personalakten: Frank Richard – Aussage Kreisleiter Gärdtner (28. Juli 1944). 40 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Frank Richard – Frank an Kollmann (18.07.1945). 41 Wilhelm Malaniuk (1906–1965).
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seiner Meinung nach, hätte sich die CSP auf ihre Vorfeldorganisationen (Vereine, Kirche, Kammern) verlassen, anstatt aus sich heraus Führungspersönlichkeiten zu schmieden. Ein autoritärer Ständestaat, faschistoid verbrämt – damit konnte er durchaus etwas anfangen.42 So war es kein Wunder, dass er zu den ersten gehörte, die eingekerkert wurden und ihre Posten verloren. Maßgebend hierfür waren zwei Brüder, Eduard Kainz und Dr. Ernst Kainz.43 Beide betätigten sich illegal; Letzterer war Mitglied der SS und Jurist und nach dem Anschluss zur besonderen Verwendung herangezogen, als es darum ging, die „Arisierung“ jüdischer Geschäfte voranzutreiben sowie Vermögen und Besitz der Vaterländischen Front in Baden zu liquideren. Dabei kam er automatisch mit Wilhelm Malaniuk in Berührung, und er soll aus rein persönlichen Motiven gegen ihn vorgegangen sein. Dabei scheute er sich nicht, seinen Konkurrenten/Kontrahenten bei Josef Bürckel anzuschwärzen – Malaniuk hätte gehässig gegen Nationalsozialisten geurteilt. Den Posten des Staatsanwaltes beim Oberlandesgericht Wien war Malaniuk los. Und nicht nur das. Die Kainz-Brüder sorgten dafür, dass Malaniuk ohne jedweden Ruhegehalt, aus dem Staatsdienst im Jahre 1938 entlassen und ihm sogar der Anspruch auf die Ausübung einer Rechtsanwaltskanzlei unmöglich gemacht wurde.44 Es folgte eine „Stillhaltephase“. Im November 1939 meldete sich Malaniuk wieder zu Wort. Er suchte um die Wiederaufnahme in den Staatsdienst an. Seine Beurteilungen ähnelten sich. Malaniuk wurde für seine mustergültige Objektivität gelobt. Selbst Hans Gotz, der ansonsten zahlreichen Juristen das Leben schwermachte, streute ihm Rosen, und das, obwohl Malaniuk vor dem Anschluss in der Gerichtshierarchie über ihm stand. Er beschrieb Malaniuk als einen großen Streber, dieses Strebertum sich jedoch auf keinen anderen Menschen schädlich auswirkte. Dass er ein sogenannter „Schwarzer“ war, steht wohl außer Zweifel, doch kann Dr. Malaniuk während seiner Tätigkeit beim Amtsgericht in Baden nicht vorgeworfen werden, dass er gegen die NSDAP feindlich eingestellt gewesen wäre. Gotz nahm Malaniuk regelrecht in Schutz, im Vorzuwerfen, er wäre ein Nazifresser gewesen, sei vollkommen aus der Luft gegriffen. Ich hatte wohl Zeit genug, die Seele dieses Menschen kennenzulernen, und habe sie auch gründlich beobachtet. Ich muss sagen, dass meine Kameraden dem Dr. Malaniuk bitteres Unrecht zufügen.45 Malaniuk hatte aus seiner Vergangenheit kein Geheimnis gemacht. Seine politische Laufbahn hatte er der Gauleitung offengelegt, was positiv vermerkt wurde. Was Malaniuk noch sehr zu Gute kam, war seine oppositionelle Haltung zum ehemaligen Bürgermeister Josef Kollmann, inklusive einem Konflikt 1937, der vollkommen eskalierte.46 Dieser Konflikt umfasste verschiedene Facetten. Wir haben auf der einen Seite Kollmann, geboren 1868, seit 1913 bis 1938 im Badener Gemeinderat tätig, davon 19 Jahre 42 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 21f. 43 StA B, NS-Karteikarten groß: Kainz Ernst (1908–2009) und Kainz Eduard (geb. 1903). 44 StA B, GB 052/Personalakten: Kainz Ernst – Klinger an Gendarmeriepostenkommando Erpfendorf (24.11.1946). 45 StA B, GB 052/Personalakten: Malaniuk Wilhelm – Bericht Gotz (12.10.1938). 46 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 145f.
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Bürgermeister, mit nur einer Unterbrechung 1926, als er Finanzminister war (all die anderen Funktionen und Mitgliedschaften lasse ich weg), ein „gestandener“ christlichsozialer, konservativer Politiker, der im Privaten ein Wäsche- und Leinengeschäft führte und mit seiner Cousine verheiratet war (mit päpstlicher Dispens). Auf der anderen Seite Wilhelm Malaniuk, geboren 1906, Akademiker, Jurist und angetan von Ständen und Faschismus, der Mitte der 30er Jahre begann, Kollmann öffentlich zu belehren, wie eine Stadt zu verwalten sei bzw. wie Politik grundsätzlich in diesen neuen Zeiten funktionieren würde. Kollmann reagierte auf so etwas leicht „allergisch“. Ende 1937 kulminierte der Konflikt dermaßen, dass Kollmann in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung verkündete, Malaniuk aus den vertraulichen Sitzungen auszuschließen. Dennoch muss gesagt werden, dass es für Malaniuk auch ganz anders hätte ausgehen können. Mit SS-Rottenführer Ernst Kainz hatte er einen nicht zu unterschätzenden Feind. Dessen Verdienste für die NS-Bewegung wurden mit der „Arisierung“ eines Textilgeschäftes Rainer-Ring 6 belohnt. Zudem wurde er als Jurist, nach der Besetzung der Tschechoslowakei, zum Leiter der Vermögens-Verkehrsstelle in Südmähren mit Sitz in Misslitz (heute Miroslav) eingesetzt. Zum Drüberstreuen gab es noch eine Marmeladenfabrik oben drauf. 47 Letzten Endes überlebte Malaniuk und blieb für das NS-Regime eine politisch indifferente Person. Der Angefragte gibt sich unendliche Mühe, seine politische Vergangenheit zu verwischen, und ist bestrebt, so rasch als möglich auch in der heutigen Zeit (wie in der Systemzeit) sich hervorzutun. Er will sich eingliedern in die NS Bewegung, doch ist es derzeit nicht erwiesen, ob diese Absicht eine restlos ehrliche ist.48 Kreisamtsleiter Kurt Haun schlug deswegen vor, ihn beim Landesgericht Wiener Neustadt wieder einzusetzen, dort herrschte offenbar ein straffes NS-Juristenregime, da hierdurch die Gewähr gegeben sei, dass Dr. Malaniuk die entsprechende Führung habe.49 1940 rückte Wilhelm Malaniuk ein und blieb bei der Wehrmacht bis zur Kapitulation des Deutschen Reiches. Politisch Malaniuk sehr ähnlich sah die Vita Dr. Friedrich Woskas, Richter am Badener Bezirksgericht aus: CV-Mitglied, Heimwehrmann und Angehöriger der Ostmärkischen Sturmscharen. Schon bald nach dem Umbruch deuteten ihm maßgebende Juristen des Oberlandesgerichts Wien, wie der Vizepräsident des obersten Landesgerichts, Dr. Paul Lux, und der Personalbearbeiter im Ministerium, Richter Dr. Herbert Schlenz, an, dass für Leute meines Schlages im n.s. Staat kein Platz sei und ich nun die Folgen meiner feindseligen Einstellung gegen den Nationalsozialismus tragen müsse.50 Prompt folgte die Dienstenthebung, genau in der Zeit, als seine Frau das erste Kind gebar. Als Alternative stellte man ihm frei, ein Gesuch um Versetzung in den dauerenden Ruhestand einzubringen – mit 31 Jahren! Um der Misere irgendwie zu entkommen, war der erste Schritt das NSKK, wo er gemein47 48 49 50
Vgl. StA B, GB 052/Personalakten Dr. Ernst Kainz – Amtsbericht Klinger (20.06.1946). StA B, GB 052/Personalakten: Malaniuk Wilhelm – Politische Beurteilung (28.10.1939). Ebd. - Haun an Gauleitung (29.11.1939). Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Woska Friedrich (geb. 1907).
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sam mit anderen Leidensgenossen beitrat. Der erste Erfolg war, dass er ohne Geld den Führerschein erwarb. Dann aber folgte tatsächlich im Jänner 1939 die disziplinäre Entlassung aus politischen Gründen. Fünf Monate später wurde er eingezogen und rüstete genau sechs Jahre später ab. Laut eigenen Angaben wurde er wiederholt zurückgesetzt und verfolgt, und dennoch trat er stets als überzeugter Österreicher auf. Obwohl nur ein paar Monate beim NSKK aktiv, ließ er sich nach 1945 pflichtbewusst als Nationalsozialist registrieren. Es musste nicht ausschließlich die politische Einstellung gewesen sein, die dem NS-Regime sauer aufstieß. Ein aufbrausendes Auftreten und Verhalten, eine schroffe, rüde, streitsüchtige, hinterhältige, zynische und rachsüchtige Art konnten genauso der bisherigen Juristenkarriere ein schlagartiges Ende versetzen. All diese Eigenschaften wurden Dr. Rudolf Schandl zugeschrieben. Anfänglich stand der Genannte nicht einmal unter dem schlechtesten Stern. Zellenleiter Ludwig Lackinger schrieb gar von einem Sympathisanten der NS-Bewegung, der sogar deswegen bei der Postenbesetzung zum Gerichtsvorsteher in Baden ins Hintertreffen geriet – stattdessen wurde es Richard Frank. Schandl selbst gab im Juni 1938 an, nie eine Veranstaltung der Vaterländischen Front besucht, keine Leiterfunktion innerhalb der VF angenommen, sein Haus nie beflaggt, an keinen Aufmärschen und Prozessionen und nicht einmal am Traugottesdienst für den ermordeten Bundeskanzler Dollfuß teilgenommen zu haben. Doch die Kreisleitung schenkte ihm keinen Glauben, und die Beurteilung Lackingers wurde gekippt. Wilhelm Hentschel kam zum Zug. LGR Schandl hat als Richter und Vorgesetzter mit allen seinen Berufskollegen und Untergebenen schon Streit gehabt, da er ein tratschhafter und unaufrichtiger Mensch ist, der nur jene Leute vorzieht, die ihm möglichst viel zutragen. Alle anderen hingegen verfolgt er mit seinem Hass und er ist in dieser Beziehung geradezu erfinderisch. Er bevorzuge Juden, hätte jüdische Anwälte stundenlange Monologe führen lassen, pflege Umgang mit Ultraschwarzen, hatte dafür nationalgesinnte Personen gemieden, meide den Deutschen-Gruß, angeblich wären aus seinem Mund sogar die Worte gefallen. „mit den Nationalen endlich aufzuräumen“. Als Zwangsverwalter des Bades in Bad Vöslau wären die sozialistischen Angestellten ungehindert auf ihren Posten von ihm belassen worden, und seine konträre Einstellung zum Schuschnigg-Regime wäre einzig seiner nicht-Berufung zum Gerichtsvorsteher in Baden geschuldet. Dann fielen noch Bezeichnungen wie Buckelmacher und Ohrenblässer. Und als ob das nicht genug wäre, eine Affäre zu einer Justizsekretärin befand sich auch noch im Anklage-Potpourri. Im Mai 1943 wollte Dr. Julius Clemens Schuster den 1938 pensionierten Rudolf Schandl etwas unter die Arme greifen und brach für ihn eine Lanze, wonach jener ein tüchtiger Richter gewesen wäre, streng aber gerecht, Verständnis für menschlichen Schwächen aufbringend, allen voran gegenüber den ärmeren Bevölkerungsschichten, sowie offen seine nationale Gesinnung und seine Gegnerschaft zum System-Regime bekundend. Allerding musste Schuster einräumen: Er war kein schmiegsamer Mensch und hat seine Meinung, wenn er sie als richtig erkannt hatte, rücksichtslos vertreten, und zwar gegen jedermann.51 51 StA B, GB 052/Personalakten: Schandl Rudolf (1879–1948).
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Bleiben wir bei Schandls Fürsprecher, Dr. Julius Clemens Schuster, dessen NS-Freundeskreis anfänglich ebenso überschaubar zu sein schien. Als Freiberuflicher und gleichzeitig für die Rechtsanwaltskanzlei von Dr. Ernst Bausek tätig – das Einkommen reichte laut ihm gerade, um die Familie durchzubringen – suchte er nach 1938 um die Parteimitgliedschaft an. Definitiv wurde er 1942 PG – rückdatiert auf 1940.52 Dass er bereits im Sommer 1938 vorstellig wurde, lag nicht nur an dem wegbrechenden Kundenstamm und daran, dass er laut eigener Aussage im Gegensatz zu anderen Kollegen über keine finanziellen Reserven verfügte, um auf Zeit zu spielen. Sondern auch daran, dass er in jüngster Vergangenheit, die nur ein paar Monate zurücklag, als Anwalt von Rainer Kloss auftrat – jenem jungen Mann, der beim Anschluss in Baden auf die SA feuerte. Das recht milde Urteil von 15 Tagen Gefängnis und 30 Schilling Strafe, gegen die der SA-Sturm Sturm lief, ging teilweise auf seine Kappe. Liest man seine Ausführungen, so haben wir eindeutige Parallelen zu anderen Juristen. Wie auch immer seine innere Überzeugung ausgesehen haben mag, von der er stets das Unpolitische hervorhob, das Vertrauen der Machthaber hatte er sich mit den Jahren erworben bzw. er profitierte von deren Pragmatismus. Da das Personal der Kreisleitung durch die Einrückungsbefehle ausgedünnt wurde, rückte er in die Kreisverwaltung als Kreisrechtsberater nach. Als Rechtsanwalt Anton Attems eingezogen wurde, übernahm Schuster noch dessen Funktion als Kreiswalter des NS-Rechtswahrerbundes (NSRB) sowie dessen Ratsherrnposten im Gemeinderat. Sein Wink auf seinen schlechten Gesundheitszustand war diesmal nicht von Erfolg gekrönt. Beim Blockwartposten hatte es noch geklappt. In seinen neuen Funktionen bemühte er sich laut eigener Aussage, den Einfluss der NSDAP auf die Gerichte zu minimieren. Der Vorwurf nach 1945, dass er ein überzeugter Nationalsozialist gewesen wäre, bei all den übernommenen Ämtern wenig überraschend, versuchte er mit folgender Aussage zu entkräften: Zu der Zeit, als ich diese Ämter erhielt, waren alle Nazianwälte eingerückt. […] Da ich politisch ein unbeschriebenes Blatt war, war ich ja für die NSDAP tragbar.53 Des Weiteren zählte er mehrere Prozesse auf, in denen er Juden in „Mischehen“ vertrat oder Volksgenossen, die gegen Parteigenossen und selbst Blutordensträger prozessierten. Und er gehörte zu den Wenigen aus der Kreisleitung, die beim Einmarsch der Sowjets nicht gen Westen flüchteten, sondern in Baden blieben. Da er ein reines Gewissen hätte, hatte er nicht um sein Leben gefürchtet. Ähnlich verlief die NS-Karriere des Rechtsanwaltes Dr. Hans Bousek, Neffe des Ernst Bausek (kein Rechtschreibfehler), der nach 1945 dessen Rechtsanwaltskanzlei übernahm. Zuerst suchte er die Nähe des NSKKs, danach die der NSDAP. Im Dezember 1938 bewarb er sich, Anfang 1940 wurde er aufgenommen, erhielt eine Nummer weit über die achte Million und durfte danach als Kreisredner, wie er es formulierte, Vorträge belehrender Art halten. Politik soll dabei keine Rolle gespielt haben. Er kam auf fünf bis zehn Vorträge, dann, im Gegensatz zu seinem Rechtsanwaltskollegen Julius Clemens Schuster, kam 1940 52 Ernst Bausek (1902–1944). 53 StA B, GB 052/Personalakten: Schuster Julius Clemens (geb. 1892).
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die Einberufung. Sein Militärdienst endete erst 1945. 1947 durfte er wieder den Beruf als Rechtsanwalt ausüben.54 Weitaus gefestigter, was die juristische NS-Weltanschauung anbelangte, war der im Kapitel 1 erwähnte Graf Dr. Anton Attems. Er war nicht nur Jurist, sondern genauso politisch im Badener Gemeinderat als Ratsherr aktiv. Kommend aus einer Großgrund- und Industriellenfamilie, Absolvent der militärischen Akademie in Wiener Neustadt und der Universität Innsbruck, rüstete er nach dem Ersten Weltkrieg als Leutnant ab, um sich, nach seiner Promotion 1922, der Strafverteidigung zu widmen bzw. sich der industriellen Belange seiner 1925 geehelichten Gattin in der Tschechoslowakei anzunehmen. Bis zum Jahre 1932 war er Mitglied des österreichischen Heimatschutzes. 1933 wurde er Rechtsberater der NSDAP-Ortsgruppe Baden. Seine Mitgliedszahlungen endeten 1933, um 1935 wieder aufgenommen zu werden. Er war überzeugter Illegaler, der nach dem Anschluss neben der Ortsgruppe auch dem Kreis sein juristisches Fachwissen zur Verfügung stellte. Mit Kriegsbeginn wurde er einberufen, versah Dienst als Reserveoffizier im Hinterland, mit Unterbrechung bedingt durch UK-Stellungen. Seit Mai 1941 fungierte er als Standortoffizier in Laxenburg und Transportführer für Panzerwagen in die Kriegsgebiete. Charakterlich einwandfreier, besonders wohlerzogener, gebildeter und gepflegter Offizier von gutem Aussehen und tadellosen Umgangsformen […]. Bei aller Noblesse ist Hptm. Attems ausgesprochen kameradschaftlich und daher besonders beliebt.55 Einziges Manko, er wurde als weich und ohne Tatendrang beschrieben. Hier wieder schließt sich der Kreis, denn für die Tat (Gewalt) hatte der anständige, vornehme und taktvolle, mit sehr gewandten Umgangsformen, gute Gesellschafter – wie es in einer anderen Beurteilung hieß – seinen Hausbesorger, den Fleischhauer Karl Wiskocil. Wir haben es im Justizwesen mit einer privilegierten Schicht, einer beruflichen Elite zu tun, die aufgrund ihres Renommees und Wissens nicht so leicht austauschbar war. Bei der nächsten Institution kann ebenso von einer Elite gesprochen werden, einer Bildungselite.
Schola Ein dem Nationalsozialismus ergebener Sicherheitsapparat war für die NS-Gegenwart unabdingbar. Um der NS-Zukunft mittels Indoktrinierung habhaft zu werden, bedurfte es der Kontrolle über die Schulen bzw. über deren Insassen. Im ewigen Kreislauf des völkischen Lebens wächst uns von Jahr zu Jahr ein neuer Geburtenjahrgang zu, entwächst zur gleicher Zeit immer der Jahrgang des Sechsjährigen zum Teil der elterlichen Obhut und wird der großen Erziehungsmacht Schule überantwortet.56 54 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen und GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Bousek Hans (geb. 1908). 55 StA B, GB 052/Personalakten: Attems Anton – Beurteilungsnotizen (02.11.1943). 56 BZ Nr. 22 v. 18.03.1942, S. 1.
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Die NS-Ideologie war in Punkto Schule und Lehre ziemlich eindeutig. Nicht das Vermitteln von Wissen stand im Fokus, sondern Charakterbildung und Charakterformung, um dadurch den nationalsozialistischen Menschen zu erschaffen. Den Individualismus galt es zu überwinden, das Volk, das deutsche Volk, wurde zur zentralen Identität, ausgerichtet auf das Großdeutsche Reich, das wiederum von einem Führer angeführt wurde.57 Um das zu vollbringen, bedurfte es neuer Unterrichtsmaterialien und Lehrinhalte. In der „Staatlichen Oberschule für Jungen und des Staatsgymnasiums“ (heute Gymnasium Biondekgasse) stand im Jahresbericht 1939, dass an die 1000 Bücher der Systemzeit ausgeschieden wurden. Ein Jahr später brüstete man sich damit, dass rund 4000 Kilo veralteter Werke dem Altpapier zugeführt worden seien. Zynisch merkte man an, dort seien sie besser aufgehoben.58 Der Maturant Herbert Krüger erinnerte sich an zahlreiche neue Inhalte besonders im Geschichtsunterricht. Ich hatte mich damals gefragt, warum ich sieben Jahre ein Wissen mir erwarb, das im achten Jahr plötzlich anders verstanden werden musste.59 Vorgetragen wurde das Ganze von zum Teil neuen wie auch alten Lehrern, die nun offen ihre NS-Affinität ausleben und die nun offen NS-Inhalte verkünden durften. In Erinnerung blieb ihm noch Sport und Musik (an erster Stelle Marsch- und Militärmusik) und dass er alles brav und artig nachgeplappert hatte. Wichtig war die Matura. Hans Meissner blieben genauso die neuen Inhalte inklusiv neuen didaktischen Zugängen im Gedächtnis. Sein Deutschlehrer, der in Uniform unterrichtete, erzählte nach dem Kriegsausbrauch von Erschießungen von Zivilisten in Polen und davon, wie die Opfer ihr eigenes Grab schaufeln mussten. Bei der Deutsch-Matura 1940 durfte er dann über die Deutschen und ihr scharfes Schwert schreiben.60 Und für Gertrud Maurer gab es kaum ein Fach – höchstens Mathematik, Englisch und Turnen ausgenommen – in dem nicht auf die Kriegsereignisse eingegangen wurde.61 Gelehrt wurde deutsche Qualität. Das Deutschtum, egal ob es jetzt passte oder nicht, das Germanische musste überall irgendwie mit eingebaut werden, selbst wenn es an Absurdität nicht zu überbieten war. Dass der Himalaya der höchste Berg der Welt ist, das war klar, das musste ein jeder wissen, aber haften, fesseln, packen wird der Stoff nur, wenn gleichzeitig der Kampf deutscher Bergsteiger um seine Gipfel, die Heldentaten deutscher Pioniere und der Vorstellung vom ewigem Schnee und gewaltiger Höhe verbunden werden.62 57 Vgl. PFEFFERLE Roman, Politische Kultur in Niederösterreich: Kontinuitäten und Brüche. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1 (Wien/Köln/Weimar 2008): Politik, S. 337–371 und DACHS Herbert, Schule in der „Ostmark“. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 446–467. 58 Vgl. GAMAUF Rudolf: Bitte, damals habe ich gefehlt. BG und BRG Baden, Biondekgasse. Eine Schule im Zeitgeschehen von 1861 bis 1988 (Baden 1988), S. 234f 59 WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 36 – Herbert Krüger (1919–2004). 60 Vgl. StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 6. 61 MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 49. 62 BZ Nr. 5 v. 18.01.1939, S. 5.
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Da die Schule mit dem Bilden und Formen des nationalsozialistischen Menschen eine große Verantwortung innehatte, bedurfte es neben neuem Unterrichtsmaterial auch neuen Menschenmaterials. Eine ausgiebige Säuberung jener Lehrer setzte ein, denen aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen die Formung der Schüler nach dem NS-Ebenbild nicht zugetraut wurde bzw. auf keinen Fall überlassen werden durfte. Fast alle Direktoren österreichweit wurden abgelöst.63 Der Leiter der Helenenschule in Baden, Viktor Schenk, stand nach dem Anschluss unter Aufsicht von Franz Lehner-Wohlfahrt, einem NS-Sympathisanten, der nur allzu gerne schon vor dem Anschluss der NSDAP beigetreten wäre und der nun zielstrebig versuchte, Schenk von seinem Posten zu verdrängen. Viktor Schenk wurde am 1. Juni 1938 vom Dienst enthoben und zwangspensioniert.64 Letztendlich wurde Ratsherr Dr. Hans Lang Schulaufseher der Helenenschule. Die restlichen Unterstufen kamen ebenso an verdiente Parteigenossen und Ratsherren. Die Pfarrschule an Hans Grundgeyer, die Leesdorfer Schule an Johann Gotz und in der Valerie Schule wurde Rudolf Schemel eingesetzt.65 In den Badener Gymnasien blieb ebenso kein Stein auf dem anderen, was die Führungsposten betraf. Dr. Otto Sulzenbacher, Direktor des „Bundesgymnasium und Realschule“ von 1925 bis 1938 (heute Biondekgasse), Bezirksschulrat, führendes Mitglied im Verband Österreichischer Mittelschullehrer und Mitglied des Landesschulrates, politisch bei der CSP aktiv, von 1924 bis 1934 Badener Gemeinderat und ab 1934 bis 1938 Mitglied des Bundeskulturrates (einem beratenden „Gremium“ des Ständestaates) – dass so jemand entfernt werden musste, stand außer Frage.66 Zusätzlich hatte er sich die Feindschaft Schmids zugezogen, der ihn als einen hinterhältigen und unhonorigen politischen Widersacher verunglimpfte. Einige Lehrer und sonstige Gegner Sulzenbachers sprangen auf den Zug auf und sprachen von einem Spitzelsystem, das jener aufgebaut hätte, um nationalsozialistische Lehrer und Schüler zu diskriminieren und einzuschüchtern. Sein Nachfolger scharrte bereits in den Startlöchern, Karl Groiss – manchmal auch Carl Groiß geschrieben. Seine Sozialisation begann am bischöflichen Seminar in Linz. Danach war er in Graz Couleur-Student der katholischen Studentenverbindung „Karolina“. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte ein Gesinnungswandel Richtung Sozialismus, der bis in die 30er Jahre anhalten sollte, um dann durch den Nationalismus ergänzt zu werden. Nach 63 Vgl. DACHS Herbert, Schule in der „Ostmark“. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 446–467 und PFEFFERLE Roman, Politische Kultur in Niederösterreich: Kontinuitäten und Brüche. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1 (Wien Köln Weimar 2008): Politik, S. 337–371. 64 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Lehner-Wohlfahrt Franz (1890–1990) und StA B, Neues Biographisches Archiv: Schenk Viktor (1885–1962). 65 BZ Nr. 25 v. 26.03.1938, S. 3. 66 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 64 und MAURER Rudolf, WELLENHOFER Sonja, S wie „Schädling“. Neue Dokumente zur Verfolgung unerwünschter Bevölkerungsgruppen in Stadt und Bezirk Baden 1938–1945 (Baden 2008), S. 48–57 – Otto Sulzenbacher (1881–1966).
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Baden kam der gebürtige oberösterreichische Ulrichsberger 1912 und trat als Griechischund Lateinlehrer seinen Dienst im Gymnasium Biondekgasse an. 1932 trat er der NSDAP bei, er war Kreisredner, SA-Truppführer und Hauptstellenleiter im Amt für Erziehung und Unterricht der Kreisleitung Baden sowie Illegaler, der durch seine unverblümten Aussagen während des Unterrichts keinen Hehl daraus machte. Im Konferenzzimmer hingegen stritt er stets alles ab. Dermaßen in der Materie, schien nach dem Anschluss die Zeit gekommen, um mittels Ellbogentechnik den Direktorenposten einzunehmen. Laut Sulzenbacher tauchte Groiss am 16. März 1938 in der Direktion auf, drohte mit Verhaftung, wenn er (Sulzenbacher) nicht sogleich den Direktorposten räume. Irgendeine Ermächtigung dahingehend hatte Groiss nicht vorzuweisen. Es folgte eine gründliche Hausdurchsuchung durch die Gestapo. Gefunden wurde nichts. Sicherheitshalber musste Sulzenbacher einen Revers unterzeichnen, nichts Nachteiliges über ihn [Groiss] irgendwem gegenüber zu sagen und mich jedes dienstlichen oder außerdienstlichen Versuches, wieder in meine Stelle als Direktor eingesetzt zu werden, zu enthalten. Die Gestapomänner führten mich sodann im Auto zu ihm in seine Privatwohnung u. teilten ihm in meiner Gegenwart mit, dass ich diesen Revers unterzeichnet habe.67 Die Schikanen nahmen damit kein Ende. Sulzenbacher wurde auf Betreiben seines Nachfolgers suspendiert, Bezüge wurden ihm gekürzt und der Eintrag auf eine „schwarze Liste“, worauf sich sämtliche Personen wiederfanden, welche als Illoyale abstempelt waren, war so sicher wie das Amen im Gebet. Grundsätzlicher Rufmord und das Beschlagnahmen des Radioapparates sowie der Schreibmaschine waren ohnehin Usus. Dass Groiss massiv dahingehend intrigierte, konnte Sulzenbacher 1940 in Erfahrung bringen, als ihm eine ihm gewogene Beamtin Einblick in seinen Akt gewährte. Sulzenbacher hatte anfänglich die Idee, gerichtlich gegen seine Entfernung vorzugehen, doch sein Anwalt riet ihm davon ab. Zu gewinnen gäbe es nichts. Dafür wäre die Deportation nach Dachau in greifbare Nähe gerückt. In seiner neuen Position ging Groiss gleich daran, das Gymnasium Biondekgasse mit eigenhändig verfassten Beurteilungen zu säubern. Christlich-konservativ-vaterländisch eingestellte Professoren wie Dr. Erich Christl, Franz Thiel, Franz Schwarzmann, Josef Hlavati und Johann Tomenendal waren die ersten, die gehen mussten. Sulzenbacher sprach von drei Entlassungen ohne Pension, mehreren „normalen“ Pensionierungen und sechs bis sieben Zwangsversetzungen.68 Zu den betroffenen Professoren aus der Biondekgasse gehörte ferner Leopold Leutgeb.69 Religionslehrer in beiden Badener Gymnasien, Kaplan, Politiker der CSP, Mitglied im Nationalrat, war er genauso wie Sulzenbacher ein ausgewiesener Gegner der NS-Bewegung. Unter gekürzten Bezügen wurde er entlassen und begab sich in die innere Emigration.70 Etwas besser erwischte es Dr. Ernst Holler. Kommend aus Mährisch Trübau, unterrichtete 67 StA B, GB 052/Personalakten: Groiss Karl (geb. 1885) – Otto Sulzenbacher Aussage (03.05.1946). 68 Erich Christl (geb. 1902), Franz Thiel (geb. 1884), Franz Schwarzmann (geb. 1885), Josef Hlavati (1885–1968) 69 Leopold Leutgeb (1891–1948). 70 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 30 und WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 35.
Kapitel 4 Von neuen und alten Namen
er seit 1928 bis 1938 in Baden, danach von 1938 bis 1945 in Wiener Neustadt. Ob es sich um eine Strafversetzung handelte, ist schwer zu sagen. Nach 1945 wurde er jedenfalls Direktor des heutigen Gymnasiums Frauengasse.71 Dermaßen gesäubert, durfte sich das Gymnasium Biondekgasse des Besuchs Arthur Seyß-Inquarts erfreuen, der seiner ehemaligen Schule am 20. März 1938 die Aufwartung machte. 1908 war er nach Baden gezogen, da sein Vater nach seiner Pensionierung 1908 eben jene in der Kurstadt zu verbringen gedachte. Ende 1916 zog die Familie nach Wien. Für die 7. und 8. Klasse reichte es aber aus. Obendrein schloss Arthur Seyß-Inquart Letztere mit Vorzug ab, bevor er sich für Recht an der Universität Wien immatrikulierte. Ansonsten weiß man noch, dass er in Baden auf sportlichem und musikalischem Gebiet brillierte, sich Gedanken zu Politik machte und sich der Liebe zum deutschen Volk verschrieben hatte. Am selben Tag besuchte Seyß-Inquart noch seine in Baden lebende Schwester. Drei Tage später wurde es in Baden wiederum prominent, diesmal besuchte Heinrich Himmler die Kurstadt.72 Hans Meissner beschrieb seinen Lateinlehrer und Direktor Groiss als Choleriker und Ziel zahlreicher Witze (hinterrücks versteht sich), der kaum in der Klasse zu sehen war. Darunter litten, so Hans Meissner, massiv seine Lateinkenntnisse. Ähnliches hatte Sulzenbacher wahrgenommen. Groiss‘ Radikalität wurde gemildert höchstens durch die Unfähigkeit des Direktors und durch seine Inkonsequenz, die ihn bald jedes Ansehens bei Lehrern und Schülern beraubte und trotz oder gerade wegen seines ununterbrochenen Brüllens und Polterns zu einer komischen Figur machte.73 Groiss blieb bis Weihnachten 1944 Direktor (1938/39 war er noch Leiter). Für das 2. Semester 1944/45 übernahm Dr. Josef Lewandowski die Leitung.74 Nach dem Krieg wurde Groiss der Prozess gemacht. Hans Meissner war damals zugegen. Doch die Verhandlung fand wegen Prozessuntauglichkeit des Angeklagten nicht statt. Wenig später wurde Groiss amnestiert, zog in seinen Heimatort Linz und wurde Zeitungsverkäufer am Bahnhof.75 Betrachten wir die Anzahl der Lehrer, die 1938/39 die Schule verließen, waren es 16 Personen. Es müssen nicht bei allen Betroffenen politische Gründe ausschlaggebend gewesen sein. Werfen wir einen Blick auf jene, die 1945 die Schule verließen, und während der NSZeit eingestellt wurden, so sind es acht Personen. Auch hier gilt, es musste nicht bei allen einen politischen Hintergrund gegeben haben.76 71 Vgl. Festschrift anlässlich der beendeten Generalsanierung der beiden Gebäude des Bundesgymnasiums für Mädchen und des wirtschaftskundlichen Bundesrealgymnasiums für Mädchen in Baden, S. 34; Aufliegend im Stadtarchiv Baden – Ernst Holler (1889–1952). 72 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 4 und Badener Zuckerln Nr. 34, Arthur Seyß-Inquart – Jugendjahre in Baden 73 StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 2f. 74 Vgl. GAMAUF Rudolf: Bitte, damals habe ich gefehlt. BG und BRG Baden, Biondekgasse. Eine Schule im Zeitgeschehen von 1861 bis 1988 (Baden 1988), S. 12. 75 Vgl. StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 2f. 76 Vgl. GAMAUF: Bitte, damals habe ich gefehlt, S. 14–27.
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Fast identisch sind die Zahlen im zweiten Badener Gymnasium, der heutigen Frauengasse, damals Mädchen-Realgymnasium, nach 1939 Staatliche Oberschule für Mädchen. 17 Lehrpersonen verließen die Schule 1938/39. Nach 1945 waren es sechs Personen.77 Einen Wechsel an der Spitze gab es ebenso. Dr. Margarete Halledauer, die den Posten erst 1937 von der langjährigen Direktorin Else Buberl (Amtszeit von 1919 bis 1937) übernommen hatte, wurde durch den in Unternanowitz bei Nikolsburg geborenen Josef bzw., je nach Quelle, Sepp Ringler ersetzt. Ein österreichischer Berufsoffizier, der nach dem Krieg nicht vom Krieg lassen konnte und das Kommando einer deutsch-nationalen Volkswehr in Südmähren übernahm. Laut eigener Aussage befehligte er einen Einfall in ein bereits von Tschechen besetztes Gebiet (Grußbach), was zu Protesten von Seiten der roten Regierung in Wien führte – zu der er wenig überraschend in schärfster Opposition stand. Von November 1918 bis Mai 1919 war der Tscheche sein Feind, danach bis September 1919 der Bolschewik, gegen den er bei Ebenfurth an der Leitha Gewehr bei Fuß stand. Zwischendurch sammelte er Männer und Ausrüstung für die Baltenarmee und sonstige Freikorps, die in Osteuropa ihr Unwesen trieben. Ende 1919 wurde er in Brünn verhaftet und entging nur mit Glück dem Todesurteil. Nach Österreich bzw. dem Rest, der davon übriggeblieben war, zurückgekehrt, schlug er sich rastlos durch sämtliche Wehrverbände, die die ungeliebte Republik zu bieten hatte. Im zivilen Leben arbeitete er als Zeichenlehrer. Seine NS-Karriere startete er 1931 in Perchtoldsdorf bei der örtlichen NSDAP und SA, die bei der SS 1933. Er wurde SS-Ausbildner der SS-Standarte 9 und brachte es zum SS-Obersturmführer. Bei solch einer Vita war die Illegalität eine Selbstverständlichkeit. Bevor er nach Baden kam, war er in der Realschule Wiener Neustadt tätig. Seinen Lehrerkollegen galt er als radikaler Parteigenosse. 1945 spielte er noch eine als Hauptmann beim Volkssturm auffallende Rolle – wie es den Ermittlungsakten zu entnehmen ist.78 Als NS-weltanschaulicher Schulungsredner war er nicht nur gymnasialer Podiumsgast – wo er als einziger Schulleiter und entgegen dem nationalsozialistischen Schulgesetz den NS-weltanschaulichen Unterricht obligatorisch einführte – sondern im gesamten Kreis Baden. Die Schülerin Margarethe Dietrich erinnerte sich noch allzu gut, wie der neue Direktor in schwarzer SS-Uniform die Schülerinnen antreten ließ und ihnen regelmäßig die neuesten Wehrmachtsberichte verkündete. Nicht minder in Erinnerung blieb ihr sein Hass, den er vor allem gegenüber jüdischen und adeligen Schülerinnen hegte.79 Ein anderes Bild von Sepp Ringler zeichnete seine Tochter Liselotte Pavelka. Mit großen Idealismus und persönlichem Einsatz gelang es ihm, die Mitarbeit aller Lehrkräfte, auch der anfangs widerstrebenden, zu gewinnen. Er stellte immer Fachwissen und gute pädagogische Fähigkeiten über 77 Vgl. Festschrift zur 50 Jahrfeier 1902–1952 des Mädchen Realgymnasiums; aufliegend im Stadtarchiv Baden 78 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Ringler Josef (1887–1970) und MAUERER, MAURER, Gestapo – Vertraulich!, S. 60. 79 Vgl. WOLKERSTORFER Otto, Baden 1942. Wir sparen für den Krieg Der Krieg rückt näher (Baden 2003), S. 47 und WIESER, Baden 1938, S 4 – Margarethe Dietrich (1925–2018).
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etwa politisch divergierende Ansichten. Charakterliche Festigkeit schätzte er über alles.80 Laut ihr setzte er sich für eine humane Behandlung der französischen und belgischen Kriegsgefangenen ein, sowie jüdischer Zwangsarbeiterinnen in der Frauengasse. All die Taten und seine Aufopferung für den Luftschutz gegen Ende des Krieges wurden laut seiner Tochter nicht honoriert. Auf die Auszahlung seiner Pension musste er zehn Jahre lang warten. * Die entlassenen Professoren, die in vielen Fällen treue Dollfuß- und Schuschnigg-Anhänger waren, taten dann Einiges, um dem neuen Regime doch noch irgendwie ihre Loyalität zu beweisen – was nicht immer fruchtete. Erich Christl, ein Mann des Ständestaats und seit 1925 Professor an der Biondekgasse, wusste um seine Situation und so wurde er am 12. März 1938 von Hans Meissner mit einem Hakenkreuzanstecker gesichtet. Seiner Verschleppung in den Rathauskeller und der Entlassung konnte er dadurch nicht entgehen. Er landete bei einer Versicherungsgesellschaft und dann als Unteroffizier im Wehrmeldeamt in der Christallnigg-Gasse in Baden. Nach 1945 war er erneut Gymnasialprofessor in der Biondekgasse und blieb es bis 1967.81 Während Christl es mittels Hakenkreuzanstecker versuchte, griff Dr. Karl Janiczek zur NSKK-Mitgliedschaft. Geboren in Kirchberg am Wagram, wurde er, laut eigener Aussage, beeinflusst durch seinen Vater, welcher Kommandant der dortigen Ortswehr war, ein christlichsozial-österreichisch gesinnter Mensch, der selbstverständlich 1933 der Vaterländischen Front freiwillig beitrat. 1935 war er in der Bezirksführung der VF tätig, hielt Schulungsabende und übernahm das Kulturreferat für den gesamten Bezirk. Der Anschluss brachte, wie er es formulierte, die schwersten Erschütterungen über die Familie. Der Vater wurde verhaftet, er selbst verlor seine Anstellung als Hilfslehrer in Krems, bis man ihn gnädigerweise nach Wiener Neustadt strafversetzte. Im April 1939 fand er eine Anstellung im Badener Gymnasium Frauengasse. Der ein Monat zuvor getätigte Beitritt zum NSKK brachte ihm allerdings nicht die gewünschte Ruhe. Nur ein Jahr später wurde er eingezogen und blieb bis zum Schluss Wehrmachtssoldat. Dass so jemand von den Registrierungslisten gestrichen wurde, war beinahe Formsache. Noch dazu hatte er unverhofft dutzende Befürworter bzw. Befürworterinnen. Alle 8 Klassen des Mädchenrealgymnasiums in Baden, Frauengasse 3, wollen die hiesige Kommandantur ersuchen, Herrn Professor Janitchek an der Schule zu belassen, da er zu den tüchtigsten Lehrkräften zählt.82 Der Bittbrief wurde von sämtlichen Schülerinnen unterzeichnet. Versuche der Loyalitätsbekundung gegenüber dem NS-Staat wie Hakenkreuz-Anstecker und Beitrittsansuchen haben sich andere Professoren gänzlich sparen können. Ähnlich wie Sulzenbacher, konnte auch Georg Resnitschek nichts gegen seine Entfernung ausrichten. Geboren in Zlabern bei Neudorf (Bezirk Mistelbach), wurde er nach seiner Lehreraus80 Festschrift 1902–1982 BG und BRG Baden Frauengasse, S. 40; Aufliegend im Stadtarchiv Baden. 81 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 35f. 82 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Janiczek Karl (geb. 1911).
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bildung 1905 zum provisorischen Lehrer an der Valerie-Volksschule in Baden und 1908 definitiv gestellt. Nachdem er zwischendurch in Traiskirchen unterrichtet hatte, wurde er 1930 zum Hauptschuldirektor der Knaben Volks- und Hauptschule Baden ernannt. Politisch war er stellvertretender Bezirksleiter der Vaterländischen Front und galt den Nationalsozialisten als radikaler Austrofaschist, der sogar vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierte. Nicht nur dass er überaus gehässig gegen NS-Anhänger vorgegangen sei, als Schuldirektor soll er Kinder nationalsozialistischer Eltern schwer misshandelt haben – ob das der Wahrheit entsprach, war irrelevant, die braune Vergeltung war ihm sicher. Ferner fand sich seine Unterschrift auf Dokumenten, die bei manchen Nationalsozialisten zu Arbeitslosigkeit, Schulverweisen oder Kerkerstrafen geführt hatten. Die Rache musste nicht sogleich exekutiert werden, sie konnte über Jahre in die Länge gezogen werden. Zuerst einmal kam es zu einer Maßregelung, dann zu einer Enthebung vom Schuldienst und einer zwangsweisen Versetzung in den Ruhestand. Die Kürzung seiner Pension konnte nur durch den Einsatz des Invalidenverbandes verhindert werden – der Betroffene war Invalide. Georg Resnitschek blieb unter Beobachtung, und wir werden ihn „in sieben Jahren“ wiedersehen, bei den sinnlosen Schanzarbeiten im Osten, wo er als Invalide die sowjetische Übermacht hätte aufhalten sollen.83 Als Direktor ersetzte ihn Parteigenosse Karl Steidl.84 Im Gegensatz zum christlich/konservativ eingestellten Lehrpersonal hatten es die national/großdeutsch ausgerichteten Lehrer – deren Zahl nicht gering war – wesentlich einfacher, sich zu integrieren. Schulen und Universitäten galten als Hort des Nationalismus in all seinen Facetten. Zu den deutschnational eingestellten Lehrern gehörte Karl Klose. Zuerst Lehrer in Teesdorf und Klausen-Leopoldsdorf, kämpfte er 1915 an der russischen und italienischen Front, rüstete 1916 als Soldat ab, um erneut als Lehrer seinen Dienst zu versehen – diesmal in Baden in der Valerie-Schule (heute Volksschule Uetzgasse). Seine Welt war deutsch, der Deutsche Turnerbund, der Kyffhäuser-Bund, der Krieg und der Militarismus. Er verfasste Artikel für Soldatenzeitungen, als Historiker hielt er Vorträge zur Lokal- und Militärgeschichte, und während des Ständestaates war er Propagandareferent. All das waren durchaus Schnittpunkte mit dem Nationalsozialismus, und die Wege kreuzten sich tatsächlich – wenn auch nur für kurze Zeit. 1932 trat er der NSDAP bei, ein Jahr später wieder aus. Nach 1945 gab er an, niemals bei der NSDAP gewesen zu sein. Das entsprach nicht der Wahrheit, aber registrierungspflichtig war er dennoch nicht, da er nach dem Anschluss, im Gegensatz zu vielen anderen, seine NS-Kontakte ruhen ließ. Definitiv Mitglied war er berufsbedingt beim NS-Lehrerbund.85 Ebenso national und deutsch ausgerichtet war Robert Leitner unterwegs. Zeichenlehrer und akademischer Maler, seit 1922 Professor im Gymnasium Biondekgasse, machte er keinen Hehl aus seiner völkischen Ein83 Vgl. GB 052/Personalakten: Resnitschek Georg (1886–1963) und Festschrift BG/BRG Baden Biondekgasse 1863–2013, S. 289 und StA B, Neues biographisches Archiv: Resnitschek Georg. 84 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Steidl Karl (geb. 1889). 85 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Klose Karl (1890–1977) und ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 45.
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stellung. Als Mitglied der Reichkunstkammer, Anhänger Schönereres und der „Los von Rom-Bewegung“ – aus der Kirche war er längst ausgetreten – konnte er dem Anschluss gelassen entgegensehen bzw. ihn freudig begrüßen. Da er 1932 der NSDAP beigetreten war, illegal tätig im NS-Lehrerbund, beabsichtigte er, nach dem Anschluss einen Altherrenbund für verdiente NSDAP-Mitglieder aus den Reihen der Hochschülerschaft zu gründen. Mitglieder des CV wären unerwünscht.86 Anders als das männliche Lehrpersonal, das in weiten Teilen national ausgerichtet war, war das weibliche Lehrpersonal in Baden eher christlich und konservativ und damit dem bundesweiten Trend entsprechend. Beispielgebend war in Baden die Mädchen Volks- und Hauptschule am Pfarrplatz. Dem neuen Direktor Franz Dolleczek, geboren in St. Veit a.d. Gelsen, der Anna Egger ersetzte, wurden die Daumen gedrückt.87 Nachdem 80 % der weiblichen Lehrkräfte besonders fest bei der christlichsozialen Lehrergewerkschaft waren und sich in die neue Zeit noch nicht recht eingefunden haben, hat Dir. Dolleczek einen schweren Standpunkt.88 Um den neuen Direktor, der seit 1937 Parteimitglied und Illegaler war, bei seinem „schweren Einstieg“ etwas unter die Arme zu greifen, war es das Mindeste, ihn das Haus Witzmanngasse 5 arisieren zu lassen. Die Machtverschiebungen und Hierarchieumkehrungen machten nicht nur aus den zuvor diskriminierten nationalsozialistischen Lehrern eine neue Elite, sondern auch die zuvor gescholtenen nationalsozialistisch eingestellten Schüler stiegen in der Hierarchie deutlich auf. Jene, die illegal tätig gewesen waren und dadurch allerlei Schikanen hatten erdulden müssen, waren jetzt die neuen Helden und hatten nun das Sagen. Das äußerte sich nicht nur innerhalb der Klassengemeinschaft, sondern auch gegenüber dem Lehrpersonal. Die Zahlen für das Gymnasium Biondekgasse 1938 sprechen nur von 20 Studenten, die der Illegalität frönten. Bei einer Schülerzahl von 527 waren das nur vier Prozent, aber diese vier Prozent gehörten nun zur Elite.89 Der aus einer jüdisch-orthodoxen Familie stammende Joseph Schabes erinnerte sich, als er nach dem Anschluss eine Zeitlang noch die Schule besuchen durfte, an ein großes aufgemaltes Hakenkreuz auf der Tafel. Eingeschüchtert schrieben manche Lehrer über mehrere Unterrichtsstunden hindurch neben, seitlich, unter oder oberhalb des Hakenkreuzes. Zu groß war die Angst, es zu entfernen. Einzig der Deutschlehrer argumentierte, er brauche mehr Platz, um unterrichten zu können, und bat, die Tafel zu löschen. Er war auch der einzige Lehrer, der Schabes danach fragte, wie es ihm mit dieser neuen politischen Situation gehe.90 An verschreckte und um 180 Grad gedrehte Lehrer erinnerte sich genauso Friedrich Schimpf, als er 1939 maturierte. Lehrer, die zuvor eindeutig christlichsozial eingestellt 86 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Leitner Robert (geb. 1888) und Neues biographisches Archiv: Leitner Robert. 87 Anna Egger (geb. 1894). 88 StA B, GB 052/Personalakten: Dolleczek Franz (1886–1968). 89 Vgl. GAMAUF: Bitte, damals habe ich gefehlt, S. 232. 90 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023).
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gewesen waren, predigten nun aus „Mein Kampf“.91 Gleiches berichtet Hans Meissner. Die Kruckenkreuz-Abzeichen des Ständestaates im Knopfloch mutierten bei einigen Professoren innerhalb von zwei Tagen zur Swastika.92 Die Veränderungen jener Tage waren für junge Menschen sichtbar. Hertha Kobale war 1939 Schülerin der 2. Klasse der städtischen kaufmännischen Wirtschaftsschule in der Biondekgasse. Sie merkte, wie Lehrer ausgetauscht wurden und jüdische Schüler verschwanden. Doch weitaus bewegender für sie waren die Ausflüge, die Klassenfahrten nach Deutschland, die Aufbruchsstimmung, mehr Geld in der Familie, mehr Waren in den Geschäften. Vor allem aber der BDM und das Uniforme. Für viele war es eine Ehre, deren Uniform zu tragen. Auch ich konnte mich dem nicht entziehen. […] Das Badener Stadtbild war belebt, neue Marschlieder drangen an unser Ohr, und das bunte Bild der Uniformen erfreute die jungen Mädchenherzen. […] Es sah, wenn auch trügerisch, nach einer guten Zukunft aus.93
Hospital Vom Schulwesen, das den jungen deutschen Volksgeist formen sollte, kommen wir zum Gesundheitswesen, dem die Fitness des deutschen Volkskörpers oberste Maxime war. Ähnlich den Sicherheitsorganen, Justizbeamten und der Professorenschaft wies die Ärzteschaft genauso über Sympathisanten der NS-Bewegung auf. Dieser Männer rückten nun in die vorderen Ränge auf, wenn sie es nicht ohnehin schon waren. Zu ihnen gehörten Dr. Gustav Adamek, Primarius des Rath’schen Krankenhauses (Badener Krankenhaus). Er war seit 1933 NSDAP-Mitglied, Mitglied der SS und als solches illegaler Standartenarzt der Standarte 4 Wien gewesen.94 Ihm zur Seite stand Dr. Walter Leiss, Partei- und SA-Mitglied seit 1935, illegaler Kämpfer und Ortsgruppenorganisationsleiter.95 Auch außerhalb des Krankenhauses gab es genug NS-affine bis überzeugte Nationalsozialisten. Dr. Walter Reiffenstuhl sen., Großdeutscher, Mitglied bei der Burschenschaft „Olympia“, Parteimitglied seit 1934, SS-Rottenführer und Angehöriger der SS-Sanitätsstaffel. Sein Sohn, Dr. Walter Reiffenstuhl jun., schloss sich bereits mit 17 dem NS-nahen steirischen Heimatschutz an, seit 1932 der NSDAP, er war illegal aktiv und hatte die Funktionen eines NSKK-Staffelarztes sowie HJ-Bann-Arztes inne. Als jemand, der als ruhig, ernsthaft und gewissenhaft charakterisiert wurde, nicht ohne Sinn für Humor, war er 1940 ideal, um bei der Luftwaffe zum Sanitätsoffizier ernannt zu werden.96 Ein weiterer Illegaler 91 92 93 94
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 41. Vgl. StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 2. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 49. Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. III; NS-Ärztebund und NSDAP-Karteikarten groß: Adamek Gustav (geb. 1898). 95 Vgl. StA B, NSDAP-Karteikarten groß: Leiss Walter (geb. 1914). 96 Vgl. StA B, NSDAP-Karteikarten groß sowie GB 052/Personalakten: Reiffenstuhl Walter jun. (1910–1985) und GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Reiffenstuhl Walter sen. (1880–
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war Dr. Georg Roth. Seit 1931 bei der NSDAP und SA, alter Parteigenosse, der es zum SAStandartenführer brachte und in Baden als Stadtarzt ordinierte. Zuvor war er Sturmbannarzt in der Ramsau und NSDAP-Ortsgruppenleiter. 1933 flüchtete er nach Deutschland in die Österreichische Legion.97 Die wohl erfolgreichste Karriere im Badener Gesundheitswesen absolvierte der Kurarzt Dr. Edmund Hess. Er war 1933 der NSDAP beigetreten und hatte sich rasch einen Namen gemacht. Auf seine Illegalität folgte am 13. März 1938 die Bestellung zum Kreisärzteführer. Weitere Funktionen waren Kreisamtsleiter für Volksgesundheit, Kreisamtsleiter für Volkstumsfragen, Kreisbeauftragter für Rassenpolitik und die Kreisobmannschaft des NS-Ärztebundes.98 In der Kreisleitung kam ebenso Dr. Alfred Müllschitzky unter. Er trat 1933 der NSDAP bei, im April nach dem Anschluss der SA, wo er zum SA-Obersturmführer aufstieg und sich vom Block- zum Zellenleiter hocharbeitete, um, genauso wie Edmund Hess, als Kreisbeauftragter für Rassenpolitik zum Zuge zu kommen.99 Die aus NS-Sicht beeindruckenden Karrieren der oben Genannten konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in der Ärzteschaft zu Engpässen an NS-ideologisch gefestigtem Personal kam. Wie im Justizwesen oder der Lehrerschaft war es nicht möglich, diese Misere durch dumpfe SA-Schläger auszugleichen. Das NS-Regime musste vorerst Kompromisse eingehen – die Betonung liegt bei vorerst. Bei Personen wie dem seit 1938 im Badener Krankenhaus tätigen Dr. Walter Fürst war es nicht so herausfordernd. Der Mann war zwar Mitglied bei der Vaterländischen Front gewesen, allerdings erzwungenermaßen, sowie Mitglied beim Heimatschutz, hier allerdings bei der NS-affinen steirischen Linie. Der Beitritt am 1. Jänner 1940 zur NSDAP, dem NSKK – der DAF und der NSV hatte er schon angehört – war dann nur mehr kosmetischer Natur.100 Andere Mediziner hatten es da schon wesentlich schwerer. Denn sobald akkurate NSKandidaten in Sicht waren, begann die Schikane. Gerüchte und Verleumdungen aller Art waren die ersten probaten Mittel. Über den Neurologen und Anstaltsleiter des Peter- und Sauerhofs Dr. Egon Fries hörte man plötzlich, dass er Patienten zwar zuvorkommend behandle, jedoch gegenüber seinem Personal total asozial auftrete. Ausschlaggebend für die Angriffe gegen seine Person war seine, bedingt durch seine Ehegattin, jüdische Versippung – um die Wortwahl der Zeit zu gebrauchen. Am 1. März 1939 wurde er in den Ruhestand versetzt.101 Ihn beerbte Dr. Max Mayer. Ein guter Nationalsozialist, wie es hieß, seit Mai 1938 Parteimitglied, gerecht, gewissenhaft, tadelloses Vorleben, nur etwas 1951). 97 Vgl. StA B, NSDAP-Karteikarten groß: Roth Georg (geb. 1900). 98 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten Nachträge: Hess Edmund (geb. 1892) und BZ Nr. 53 v. 02.07.1938, S. 4. 99 Vgl. StA B, NSDAP-Karteikarten groß: Müllschitzky Alfred (geb. 1912). 100 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Fürst Walter (geb. 1912) und GB 052/Parteiform. III; Fasz. III; NS-Ärztebund. 101 Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. III; NS-Ärztebund Egon Fries (geb. 1878) und NÖLA; AZ 354 Kuranstalt Sauerhof Peterhof, K1128.
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nervös. Wahrscheinlich, so die Vermutung, aufgrund seiner Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg.102 Vergleichbar mit Egon Fries sah die Sache bei Dr. Heinrich Nothnagel aus, Internist, Chefarzt des Heereskurlazarettes am Semmering. Nicht nur, dass er mit einer radikalen NSGegnerin verheiratet war (dazu im Kapitel 13 mehr), war er vor dem Anschluss Arzt beim Heimatschutz gewesen, freiwilliges Mitglied der Vaterländischen Front und bekannt dafür, sich abfällig über die NS-Bewegung zu äußern. Ein Karriereknick war unvermeidlich. Um weiterhin seinen Beruf ausüben zu können, wandte er Gleiches, wie zahlreiche Polizisten, Juristen und Professoren von zuvor an. Er kokettierte zuerst mit diversen NSDAP-Gliederungen und angeschlossenen Verbänden wie dem NSKK und der NS-Volkswohlfahrt – bei beiden wurde er Mitglied. Mit der Zeit betrachteten ihn die neuen Herren durchaus wohlwollender. 1939 war er politisch bedenklich, 1940 war sein Verhalten dem NS-Staat gegenüber schon bejahend – mehr aber auch nicht. Für die Parteimitgliedschaft reichte es nicht. Das rote Büchlein sollte er nie erlangen.103 Zugänglicher wiederum zeigte sich die NSDAP gegenüber dem Gemeindearzt für Alland, Heiligenkreuz und Raisenmarkt, Dr. Franz Gruber, obwohl der Mann so einige Anti-NS Einstellungen mitbrachte. Er war ein Schwarzer, vaterländisch gesinnt, katholischer Corps-Student und regelmäßiger Kirchenbesucher. Dennoch durfte er der NSDAP beitreten – als Datum kommen je nach Quelle 1941, 1942 und 1943 in Frage.104 Klar sah die Sache bei Dr. Richard Christoph aus. Seine Pension und Stellung als Amtsarzt nicht gefährden wollend, agierte der NS-Sympathisant vor dem Anschluss überaus zurückhaltend bezüglich seiner politischen Gesinnung, aber er hatte, wo er nur halbwegs konnte, in seiner Eigenschaft als Amtsarzt, Nationalsozialisten für haftunfähig erklärt. Unterzeichneter selbst [Maximilian Rothaler] erwirkte von demselben mehrmals einen Strafaufschub, trotz hierfür keinerlei Handhaben geboten war.105 Seine Wohnung stellte der Arzt dem offenen und freien Sprechen (sprich der NS-Propaganda) zu Verfügung. Öffentlich gab er sich unpolitisch. Nach dem Anschluss fand er Zeugen für seine konspirative Vorgehensweise, und obendrein konnte er Differenzen mit dem ehemaligen Bezirkshauptmann Adolf Pilz ins Feld führen, der für die hiesigen Nationalsozialisten mehr als nur ein rotes Tuch war. Ihn als Feind gehabt zu haben, war ein Garant für braunes Wohlwollen – zu Adolf Pilz später mehr. Trotzdem sollte sich Dr. Richard Christoph nicht mehr allzu lange seines Postens als Amtsarzt erfreuen. Im Anschlussjahr wurde er in den Ruhestand entlassen und durch Dr. Robert Fischer ersetzt. Der Mann war der Prototyp eines NS-Arztes, der die Rassenleh-
102 Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. III; NS-Ärztebund Max Mayer (geb.1887) und BZ Nr. 53 v. 02.07.1938, S. 4. 103 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Nothnagel Heinrich (1889–1975) und NSDAP-Karteikarten groß. 104 Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. III; NS-Ärztebund und GB 052/Personalakten: Gruber Franz (1909–1985). 105 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Christoph Richard (geb. 1872).
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re, Eugenik und sonstige sozialdarwinistischen Ideologien hochleben ließ. Von ihm werden wir noch so Einiges hören.106 Während Ärzte, die politisch als belastet eingestuft oder mit einer Jüdin verheiratet waren, um ihre Anstellungen, Karrieren, Einkommen und Reputation bangen mussten, verloren Ärzte, die als Juden klassifiziert wurden, zuerst ihre Kassenzulassungen und dann ihre Approbationen. Da der Volksgesundheit in der NS-Ideologie eine essentielle Bedeutung zugesprochen wurde, war es nur selbstverständlich, dass jüdische Ärzte bei einem arischen Körper niemals Hand anlegen durften. Neben der rechtlichen Zurücksetzung hagelte es genauso antisemitische Hasstiraden. Es war eine übliche Vorgehensweise, um Menschen, die sich beruflich nichts zu Schulden kommen ließen, zu diskreditieren. In einem Schreiben der Gauleitung vom Mai 1938 an die Kreisleitung finden wir Dr. Theodor Fischer, HNO-Arzt Dr. Eduard Ehrlich, Dr. Bruno Koch (geb. 1882), Internist Dr. Otto Lichtwitz, Kinderarzt Dr. Fritz Wengraf (1888–1963), Zahnärztin Dr. Eva Deutsch-Fischer, Radiologe Dr. Wilhelm Rosenbaum (geb. 1894), Augenarzt Dr. Josef Taussig (geb. 1873) und Dr. Hugo Steinsberg – wobei es sich bei Letzterem vielleicht um Dr. Markus Steinsberg handeln könnte, da ein Hugo Steinsberg in den Meldezetteln nicht aufscheint. Sie alle sollten augenblicklich als Kassenärzte enthoben und ihre Praxen mittels Boykotten lahmgelegt werden.107 In Baden hatten so einige jüdische Ärzte praktiziert. Augenarzt Dr. Josef Taussig (geb. 1873), Allgemeinmediziner Dr. Siegfried Lackenbacher (geb. 1880), Allgemeinmediziner Dr. Samuel Deutsch (1884–1940), Allgemeinmediziner und Kurarzt Dr. Siegmund Taussig (geb. 1862), die Dermatologen Dr. Rudolf Lackenbacher (geb. 1895) und Dr. Siegfried Justitz (geb.1865) oder der ärztliche Administrator des Sanatoriums Esplanade, Dr. Oskar Sgalitzer (geb. 1887). Über das Schicksal einiger Betroffener ist Folgendes bekannt: Samuel Deutsch durfte, nachdem ihm seine Kassenzulassung entzogen worden war, nur mehr Juden behandeln. Nicht anders bei Rudolf Lackenbacher. Beiden Ärzten samt Familien gelang die Flucht. Samuel Deutsch mit seinen beiden Kindern nach Palästina, Rudolf Lackenbacher und seiner Ehefrau in die USA, ihr Sohn wiederum nach Palästina. Josef und Siegmund Taussig gelangten nach Südafrika. Fritz Wengraf hielt sich angeblich in Frankreich versteckt. Siegfried Justitz wurde hingegen – wann genau, geht aus den Quellen nicht hervor – von der SS ermordet.108 Niederdonau konnte zufrieden sein und resümierte: Die Verjudung des Berufes der Spitalärzte war in Niederösterreich bei weitem nicht so weit fortgeschritten wie in Wien. Sie ist übrigens auch in Niederdonau inzwischen vollständig beseitigt worden.109 106 Vgl. Amts-Blatt der Bezirkshauptmannschaft Baden 64. Jahrgang. 1938, S. 89. Aufliegend im StA B, Z4/1938/1939. 107 MAURER Rudolf, WELLENHOFER Sonja, S wie „Schädling“. Neue Dokumente zur Verfolgung unerwünschter Bevölkerungsgruppen in Stadt und Bezirk Baden 1938–1945 (Baden 2008), S. 13. 108 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Heitzer Josef und www.jewishhistorybaden.com (10.04.2023). 109 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; März 1939 – Pressedienst der Landeshauptmannschaft Niederdonau „Großzügiger Aufbau des Krankenhauswesens in Niederdonau“.
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Gesäubert wurde nicht nur unter den Göttern in Weiß, die Verwaltung kam ebenso an die Reihe. Im Rath’schen Krankenhaus folgte am 1. Juli 1938 Paul Axmann jun. dem bisherigen und seit 1895 für die Stadtgemeinde tätigen Spitalsverwalter Anton Ernstthaler nach, der aufgrund der erreichten Altersgrenze in den Ruhestand wechselte. Paul Axmann jun. war seit 1910 als Spitalsbeamter im Dienste der Kurstadt. 1915 musste er einrücken und kam nach dem Krieg erneut als Spitalsbeamter nach Baden.110 Bei der Badener Gebietskrankenkasse übernahm Hugo Kühn die Führung. Seine berufliche Qualifikation als Krankenkassenbeamter begann 1926 bei der Genossenschafts-Krankenkasse in Kornneuburg. Seine politische Qualifikation, die ihm erlaubte, Anfang April 1938 kommissarisch zum Leiter der Badener Bezirkskrankenkasse ernannt zu werden, begann vor dem Anschluss in der Illegalität. Als solcher war er Mitglied des Untersuchungsausschusses, dessen Ziel es war, missliebige Krankenkassenbeamte zu entfernen. Von diesem Recht hatte er laut Ermittlungen nach 1945 als herrschsüchtiger und fanatischer Nationalsozialist reichlich Gebrauch gemacht.111 Sein unmittelbarerer Vorgänger als Aufsichtsorgan schien von anderem Gemüt gewesen zu sein. Für kurze Zeit stand Alois Schwabl sen. an der Spitze der Gebietskrankenkasse. Seine politische Sozialisation lag anfänglich bei den sozialistischen Weinhauern. Nach Ausschaltung des linken Lagers wurde er schwarz und vaterländisch. Nach dem Anschluss kam er, protegiert durch seinen Bruder Leopold Schwabl, zur Gebietskrankenkasse – dieser war dort seit 25 Jahren tätig. Laut den NSDAP-Karteikarten war er in der Verbotszeit ein Unterstützer der SS und SA und tolerierte ihr Treiben in seiner Weinschenke – gar ein Illegaler soll er gewesen sein.112 Dem widersprach jedoch seine baldige Entlassung aus der Gebietskrankenkasse, da er eben kein Illegaler gewesen war und nicht einmal Parteimitglied – der Aufsichtsorganposten war nur Illegalen vorbehalten. Was aber schwer wog, er stand verfolgten Menschen, sei es aus rassischen oder politischen Gründen, helfend zur Seite. Er selbst nannte die jüdische Zahnärztin Eva Fischer-Deutsch, den „Mischling“ Ernst Röschl sowie vaterländisch gesinnte Badener wie Josef Dengler als auch Kommunisten wie Richard Sofer – nach 1945 Vizebürgermeister von Baden. Bestätigung erfuhren seine Angaben nach 1945 durch den politisch Verfolgten Josef Hayer, den er vor der Verhaftung bewahrte, sowie durch zwei Mitarbeiterinnen der Gebietskrankenkasse.113 Nach seiner Enthebung suchte Alois Schwabl, der, wie er sagte, als Roter verschrien war, um die NSDAP-Mitgliedschaft an und erhielt diese 1939 – rückdatiert auf Mai 1938. Sein parteipolitischer Arbeitseifer war überschaubar und Ende 1944 wurde er zu Schanzarbeiten ins Burgenland abbestellt. Gestrichen von den Registrierungslisten wurde er nicht. Er arisierte die Immobilie Wienerstraße 23 des Berthold Breuer.114 Laut ihm nur deswegen, weil er zuvor seine Wohnung in der Beethovengasse 6 habe räumen müssen. Und er versicherte: 110 111 112 113 114
BZ Nr. 57 v. 16.07.1938, S. 4 – Paul Axmann jun. (geb. 1889), Anton Ernstthaler (1877–1941). Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Kühn Hugo (geb. 1895). Leopold Schwabl (geb. 1897). Josef Hayer (geb. 1885). Berthold Breuer (geb. 1897).
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Wenn das Haus heute an den Wiedergutmachungsfond oder den jüdischen Eigentümer zurückfällt, so bekommen dieselben einen wesentlich verbesserten Besitz, weil ich ca. 6000 RM für bauliche Herrichtung des Hauses und Neuaufbau eines Stalles verausgabt habe.115 Unter den oben Genannten, denen Alois Schwabl unterstützend zur Seite stand, befand sich ein Mann, der von den Nationalisten das Prädikat „berüchtigt“ zugeschrieben bekam und bereits Erwähnung fand, Bundesrat, Landesführer des Niederösterreichischen Freiheitsbundes (bewaffneter Arm der Christlichen Arbeiterschaft) sowie Funktionär in der durch den Ständestaat geschaffenen „Einheitsgewerkschaft“, Josef Dengler. Im Jahre 1934 wurde er Regierungskommissär der Badener Gebietskrankenkasse, 1936 deren Obmann und 1937 bis zum Anschluss war er Mitglied des Gemeindetages in Baden. Das NS-Regime bezeichnete ihn als fanatischen Nazigegner und NS-Hasser. 1941 berichtete die Ortsgruppe Baden-Leesdorf, dass Josef Dengler am Tag des Anschlusses die Arbeiter mit Waffen und sogar einem Maschinengewehr ausgerüstet hätte, um militärischen Widerstand zu leisten (der Wahrheitsgehalt solcher Aussagen ist natürlich mit Vorsicht zu genießen). Durch seine Position im Vorgänger-Regime geriet auch sein Sohn Johann Dengler in Sippenhaftung.116 Dadurch, dass der Vater eingekerkert wurde – als Systembonze verschrien gehörte er zu den ersten Opfern des Exekutivkomitees – stand der Sohn fast mittellos da, und gleichzeitig kurz vor dem Studienabschluss. Noch dazu war er Führer der christlichen Arbeiterjugend, Mitglied der Kongregation und als solcher bekennender NS-Gegner, der laut seiner Beurteilung gegen NS-Anhänger gehetzt und bis kurz vor dem Anschluss NS-feindliche Plakate verteilt hatte. So blieb ihm nichts anders übrig, als beschwichtigend zu erklären: Er sei vom SchuschniggSystem vollkommen überzeugt, doch wird er sich bemühen, sich der neuen Zeit anzupassen. Er wäre auch gewillt mitzuarbeiten.117 Offenbar fruchtete dies nicht. Die Familie Dengler musste Baden verlassen. Obendrein war die bereits verstorbene Mutter, Marie Dengler (1891–1935) laut der Nürnberger Rassegesetze Halbjüdin gewesen.118 Wie groß der Hass auf die Familie Dengler gewesen sein muss, war selbst für Menschen in deren Umgebung spürbar. Bei der Krankenpflegerin Margarete Koczan, Angehörige des Christlichen Frauenvereines, war es die bloße Freundschaft zu Josef Dengler, die ihr eine negative Beurteilung einbrachte.119 Wir dürfen nicht vergessen, Freundschaften und Bekanntschaften zu wem auch immer konnten jedem angedichtet und vor allem ausgeschmückt werden. Flüchtige und beruflich bedingte Bekanntschaften, ja zum Teil belanglose Gespräche und Zufallstreffen auf der Straße, konnten aus falschen Mündern zu allerlei gefährlichen Gerüchten aufgebauscht werden.
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StA B, GB 054/Registrierungslisten: Schwabl Alois sen. (1887–1962) – Gesuch (07.09.1945). Johann Dengler (1921–2011). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Dengler Josef (1894–1976). Marie Dengler (1891–1935). Laut seinem Wikipedia-Artikel, wurde Josef Dengler von der Gestapo überwacht, was ihn nicht daran hinderte 1942 Mitglied einer Wiederstandgruppe in Niederösterreich zu werden. 119 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Koczan Margarete (geb. 1900).
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Mammon Während das Rath’sche Krankenhaus als Institution lagerübergreifend als etwas Positives gesehen wurde, traf das auf einen anderen Gemeindebetrieb so gar nicht zu: das Casino. Die Spielbank in Baden wirkte sich nach Meinung vieler weder positiv für den Geist noch für den Körper aus. Im Jahre 1913, als Kollmann noch nicht das Sagen in der Stadt hatte, war für ihn ein Casino ein Habitat für Kriminelle, ein Ort, der anständige Menschen und Familien ins Verderben ziehe und den Kurort deklassieren würde. Als alleiniger Vertreter der Christlichsozialen Partei im Badener Gemeinderat stemmte er sich gegen die deutschliberale und deutschnationale Majorität. Dreißig Jahre später, Kollmann war Bürgermeister, begrüßte er die Errichtung einer Spielbank in seiner Kurstadt, während Franz Schmid, als alleiniger Vertreter der NSDAP und als einziger Gemeinderat, dem Vorhaben aufgrund moralischer Einwände seine Zustimmung verweigerte. Dort würde sich, wie er es formulierte, nur eine bestimmte Rasse breitmachen und sonstige „Cohnsorten“, die ohnehin bei solchen Geschäften immer ihre Finger im Spiel hätten. Sein stark betontes Nein bei der Abstimmung, wie es dem Gemeinderatsprotokoll zu entnehmen ist, brachte das einstimmigkeitsbedürftige Projekt zu Fall.120 Fünf Jahre später sah es dann ganz anders aus. Schmuddelig, kriminell oder lasterhaft, davon keine Spur, keine Bedenken. Die Spielbank gehörte jetzt zu den Aushängeschildern des Kurortes. Vor dem Anschluss war die Spielbank im Besitz einer privaten Aktiengesellschaft. Danach wurde sie Gauleiter Hugo Jury zu Verfügung gestellt. Die A.G. wurde liquidiert bzw. sie stand anfänglich unter kommissarischer Verwaltung von Robert Hammer. Später wurde das Casino in den Besitz eines neu gegründeten öffentlich-rechtlichen Fonds überführt, von dem das Reich, aber hauptsächlich der Gau die monetären Gewinne abschöpften. Verwaltet wurde der Fonds durch ein Kuratorium, an dessen Spitze Gauhauptmann Dr. Sepp Mayer thronte.121 Dermaßen gut aufgestellt, lockte die Spielbank schon zuvor begehrliche Blicke einiger NS-Stellen auf sich. Im September 1939 warf die SS ein Auge auf das Glücksspiel in Baden. Aus den Reihen von Ernst Kaltenbrunner kam der Vorschlag, Himmler möge Gauleiter Hugo Jury die Weisung erteilen, Lizenzverteilungen für das Glücksspiel an die Auflage zu binden, dass die Überschüsse der Spielbank an die SS ausbezahlt werden sollten, die sie wiederum an den Verein Lebensborn weiterleiten würde. Die als „zu weit gegangen“ beschriebene Aktion wurde dahingehend modifiziert, dass Jury angewiesen wurde, unter zukünftig günstigen Bedingungen Fördergelder aus dem Casino bereitzustellen.122 Das große Geld 120 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 63 und MEISSNER Hans, Josef Kollmann, Bürgermeister von Baden (Baden 2000), S. 193. 121 Vgl. NÖLA; Casino – Baden I, K2. f.77ff – Robert Hammer (geb. 1869). 122 Vgl. JAGSCHITZ Gerhard, Von der „Bewegung“ zum Apparat. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 88– 122, hier 95.
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durch diverse finanzrechtliche Verrenkungen witterte nicht nur die SS. Das Badener Rathaus rieb sich schon die Hände bzw. hielt jene auf. In der vertraulichen Gemeinderatssitzung vom 23. September 1939 klärte Franz Schmid seine Ratsherren über diesen rechtlichöffentlichen Casino-Fonds auf. Konzessionsinhaber war die Reichsstatthalterei unter Hugo Jury. Der Staat erhalte von den Bruttoeinnahmen 25 %, Gau und Stadt Baden jeweils 50 % vom Reingewinn. Die Gemeinde war angewiesen, das Geld in kulturelle und kurörtliche Zwecke zu investieren. Allerdings, so Schmid, waren die Verwendungszwecke „Kunst und Kultur“ dehnbare Begriffe, sodass durchaus ein weiter Rahmen bestand. Ein Jahr später, in einer erneut vertraulichen Gemeinderatsitzung vom 16. Februar 1940, musste Schmid auf Anfrage eingestehen, dass die veranschlagten Einnahmen aus dem Casino-Fonds nicht den erwarteten 600.000 RM entsprachen. Stattdessen wurden es 20.000 RM.123 Kreativ war nicht nur die Politik im Umgang mit der Spielbank. Innerhalb der Institution griffen einige Protagonisten auf ebenso äußerst ausgefallene Ideen zurück, um sich der neuen Zeit anzupassen bzw. anzubiedern. Dass nach dem Anschluss plötzlich „viele schon immer mit der NS-Bewegung sympathisierten“, war den neuen Machthabern nur allzu vertraut. Um nicht dahingehend in Verdacht zu geraten, beschloss der Betriebsobmann der Casino A.G. Adolf Köfer, die „Illegale NS-Betriebszelle Casino Baden“, bestehend aus 23 Personen, zu gründen. Die illegale Zelle war allerdings so geheim, dass die meisten, selbst die Mitglieder, von ihrer Existenz nichts wussten, was nicht verwundert, da die Gründung erst nach dem Anschluss erfolgte. Da Zeit ohnehin relativ ist, wurde das Gründungsdatum einfach zurückdatiert, und schon war die „Illegale NS-Betriebszelle Casino Baden“ eine konspirative Vereinigung, die der NS-Bewegung während der Verbotszeit bereits zugearbeitet hatte, aus der Taufe gehoben – Schilda lässt grüßen. Der Schwindel flog rasch auf, und die angeblichen NS-Maulwürfe mussten sich von neuem bzw. überhaupt erst ordentlich anmelden.124 Wahrscheinlich lag dies unter anderem daran, dass der Hauptprotagonist Adolf Köfer kein Unbekannter war. Er war der Typ Mensch, der mit allen Wassern gewaschen war und dem trotzdem bzw. aufgrund dessen eine formidable NS-Karriere nicht abgesprochen werden kann. Er studierte von 1919 bis 1923 in Wien, war Korrespondent der Western A.G., tätig im Management, Leiter der Exportabteilung, dann Generalvertreter der Firma „Van Berkel’s patent“, bis er 1934 ins Casino Baden wechselte und sich vom Croupier zum Betriebsobmann und Direktor hocharbeitete. Er war nach dem Anschluss für einen kommissarischen Aufsichtsposten vorgesehen, doch dann folgten die Kreation der NS-Betriebszelle und deren baldiger Zusammenbruch. Zu allem Überfluss tauchten Ungereimtheiten in seinem Lebenslauf auf. Bereits 1921 soll er der NSDAP beigetreten sein, da sein Bruder NSDAP-Gemeinderat in Fürstenfeld gewesen sein soll. Nachdem der Bruder im selben Jahr verstarb, versandete offenbar auch der Kontakt zur NSDAP. Erst 1933 war 123 Vgl. StA B, Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 126. u. 182. 124 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Köfer Adolf (geb. 1898), Mappe III – BH-Baden an Sicherheitsdirektion NÖ (06.11.1945).
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Adolf Köfer wieder aktiv, oder trat der Partei erst bei. Ihn verschlug es erst einmal nach Salzburg.125 Im Jahre 1936 kam er wieder in Kontakt mit der NSDAP, ebenso mit der SA, wo er zum Oberscharführer aufstieg. Nebenbei war er 1931 Freimaurer bei der Loge „Eintracht“. Allerdings nur kurz und nur wegen der faszinierenden Rituale und Bräuche, wie er selbst aussagte. Außerdem sei sein damaliger Vorgesetzter Freimaurer gewesen. Mit diesem hieß es sich gut stellen. Dem NS-Regime versicherte er, dass es in der Loge „Eintracht“ keine Juden gegeben hätte, sondern ausschließlich Nationalsozialisten, und er dort nur vier Vorträge technischer und kommerzieller Natur mit anhörte.126 Mitglied war Köfer noch bei der Deutschen Arbeiterfront (DAF), dem Deutschen Roten Kreuz (DRK), dem Kyffhäuser Bund, und er war Kreisbeauftragter des Kolonialbundes. Trotzdem oder deswegen wurde seine Aufnahme in die NSDAP 1941 abgelehnt – obwohl er angeblich bereits 1921 beigetreten war – oder doch 1936, wie es auf seiner NSDAP-Karteikarte geschrieben steht? Auch wenn ich nun vorgreife, die Vita dieses Mannes birgt eine gewisse Faszination (wie für ihn die Rituale der Freimaurer). Deswegen wollen wir noch etwas bei ihm bleiben und seinen Schilderungen folgen (und hoffen, dass sie einigermaßen stimmen). An der Casino-Führung, die sowieso nur provisorisch war – fallweise wird er als Direktor bezeichnet –, konnte er sich nicht lange erfreuen. Als Oberleutnant im Ersten Weltkrieg wurde er im August 1939 nach Polen abbestellt. Zwei Jahre später war er in Frankreich und kümmerte sich um Kriegsgefangene in einem Kriegsgefangenenlager drei Kilometer außerhalb der Stadt Angouleme. Ein Jahr später finden wir ihn in Bourges und Toulouse bei der Rüstungskontrollinspektion. Auch sonst schien er weit gereist zu sein bzw. hatte das Potential zu weiteren Außendiensten. Seine militärische Beurteilung 1942 kann sich sehen lassen. Stattliche Figur, aufrechter und anständiger Charakter, ruhiges Temperament, gute gesellschaftliche und militärische Umgangsformen, fleißig und passioniert bei der Aufgabe. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse, Französisch und Englisch, wurde er von der Deutschen Waffenstillstandskommission in Paris zur Verwendung in Casablanca, Algerien, Tunesien und Ägypten vorgeschlagen. Angeblich konnte er auch Holländisch und Malaysisch. Während seiner Arbeit im Kriegsgefangenenlager erstellte er einen umfangreichen Bericht. Er zählte – um seine Wortwahl zu verwenden – 6.526 farbige Kriegsgefangene bestehend aus Senegalesen, Martiniquesen, Tunesiern, Algeriern und Marokkanern. Aufgeteilt waren die Kriegsgefangenen auf 26 Baracken, das machte 170 bis 230 Mann pro Baracke. Die Unterkünfte bezeichnete er als ziemlich beengt, aber die Gefangenen hätten sich nicht beschwert, nicht einmal über die schlechte Luft. Er nahm an, dass die Farbigen dies gewohnt seien. Als unhygienisch empfand er die Küchenbaracke, die zu nahe an den Aborten errichtet worden war. Zufrieden äußerte er sich über die Wachtürme und den Stacheldraht. Ein Entkommen war nicht möglich – theoretisch. Da die Gefangenen außerhalb des Lagers Zwangsarbeit verrichten mussten, gelang immer wieder jemandem die Flucht. Wie die 125 Vgl. ebd. Mappe I – Polit. Beurteilung (15.06.1939). 126 Vgl. ebd. Mappe I – Ortsgruppe Baden III an Kreisleitung (12.10.1938) und Mappe II – Nachweis der Abstammung von deutschem oder artverwandtem Blut (12.10.1938).
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Ausreißer dies anstellten, konnte er sich nicht erklären. Er vermutete, dass durch die Nähe der Demarkationslinie, die nur 20 km entfernt war, der Reiz groß und die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges höher waren als das Risiko, erwischt zu werden. Ansonsten lobte er die Disziplin der Männer. Sie standen stramm, waren ordentlich, gut genährt, machten alles sauber und wiesen eine sehr gute Grußfreundlichkeit auf. Köfer war überzeugt, aus diesen Kriegsgefangenen lassen sich bestimmt schon jetzt, während der Gefangenschaft, gute Soldaten für die deutschen Kolonien heranbilden.127 Von ähnlichem Kaliber war Kurt Wiesend, Casinomitarbeiter und Angehöriger der ominösen Illegalen Betriebszelle. Dass er Mitglied war, erfuhr er, als ihn Köfer nach dem Anschluss zu sich rufen ließ und er auf einer Liste mit den besagten 23 Namen seinen eigenen wiederfand. Der Idee nicht ganz abgeneigt, leistete Kurt Wiesend sicherheitshalber eine Nachzahlung an die NSDAP, ohne Parteimitglied zu sein, wie er behauptete. Als der Schwindel mit der illegalen Betriebszelle aufflog, musste er sich ordnungsgemäß bewerben. Betrachten wir Kurt Wiesend etwas genauer, war er Adolf Köfer offenbar nicht unähnlich. Denn die Recherche der Exekutive unmittelbar nach 1945 ergab, dass er schon 1937 der Partei beigetreten war und 1938 der SA. Das Undurchsichtige an dem Ganzen sind wiederum die Beitrittsdaten, beide jeweils am 1.1. des Jahres. Sei‘s drum. Er war Parteigenosse, der interessiert das Parteiabzeichen trägt, sonst aber nichts für die Bewegung zu leisten pflegt. Bei Versammlungen und Veranstaltungen ist er nicht zu sehen. Er ist im Allgemeinen als politisch interessenslos zu bezeichnen.128 Trotzdem wurde er 1941 stellvertretender Direktor. 1942 avancierte er sogar zum Betriebsdirektor. Ein karrieretechnischer Höhenflug, mag man meinen, doch dem war nicht so. Unterwegs gab es eine Verkettung „unglücklicher“ Ereignisse, samt einstweiligem Parteiausschlusse, einem zweijährigen Parteigerichtsverfahren und letztendlich dem Verlust der Wehrwürdigkeit. Aber alles der Reihe nach. 1940 kam man dahinter, dass Kurt Wiesend vergessen hatte, anzugeben, zwischen 1930 und 1932 Mitglied bei der Schlaraffia in Berndorf gewesen zu sein. Im selben Jahr der nächste Fauxpas. Im Casino wurde eine Führerrede übertragen. Anstatt den Spielbetrieb zu unterbrechen, unterbrach Wiesend die Führerrede, indem er das Radio abstellte. Der Spielbetrieb ging munter weiter, sehr zur Freude der Hasardeure. Für die NSDAP hatte es hingegen etwas Blasphemisches, die Worte des Führers abzuwürgen und dies obendrein für das Glücksspiel. Des Weiteren ließ sein Arbeitseifer für die NSDAP weiterhin zu wünschen übrig. Ein Jahr später, 1942, gab Wiesend sogar zu verstehen: Ich bin selbstverständlich gerne bereit, eine aktive Mitarbeit im Rahmen der mir zu Verfügung stehenden Freizeit zu leisten, die aber leider nur sehr gering bemessen ist. Er führte als Grund den Personalmangel im Casino an. Aufgrund der Einrückungsbefehle 1942 mussten viele erfahrene Mitarbeiter das Haus verlassen, sodass seine Präsenz unverzichtbar geworden war. Zumal der Ersatz hauptsächlich aus unqualifizier127 Ebd. Mappe II – Bericht über meine Kommandierung zum Frontstalag 184 (12.02.1941– 20.02.1941) 128 StA B, GB 052/Personalakten: Wiesend Kurt (geb. 1899); Mappe II – Ortgruppe Baden Weikersdorf an Kreisleitung (10.12.1940).
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ten Fremdarbeitern bestand, zumeist Italienern. Des Weiteren habe er die Nacht ohnehin schon zum Tag gemacht, schlafe nur wenige Stunden und außerdem habe er noch Familie. Wenn auf meine aktive Mitarbeit Wert gelegt wird, so bin ich, wie schon erwähnt, gerne bereit dazu, nur bitte ich diese Mitarbeit derart zu bemessen, dass die den geschilderten Verhältnissen Rechnung trägt.129 Ende November 1943 musste er einrücken. Einen Monat später war bereits seine Dienstfähigkeit in absehbarere Zeit, aufgrund ärztlicher Befunde, nicht mehr zu erwarten. Seine Karriere bei der Wehrmacht war dermaßen von kurzer Dauer, dass nicht einmal eine militärische Beurteilung zustande kam. Zwischendurch hatte es noch einen Todesfall in der Familie gegeben, der einen zweiwöchigen Sonderurlaub veranschlagte. Laut nicht wohlgesonnenen Kameraden, die ihrem Unmut mittels anonymer Anzeige kundtaten, trat er seinen Wehrdienst mit folgender Annahme an, na werden wir halt dees Gwandl anziehen, aber werden ja sehen auf wie lang. Und richtig, er ist seit einiger Zeit schon wieder daheim und hat also richtig dees Gwandl schon wieder ausgezogen. Unser Führer und alle anständigen Menschen nennen das das Ehrenkleid der deutschen Männer, er nennt es so!!!130 Nach 1945 wurde die „Illegale Betriebszelle Casino Baden“ sowie das personelle Umfeld als eine Ansammlung von obskuren und widerlichen Figuren, Maulhelden und Angebern bezeichnet, die noch eine Woche vor dem Anschluss als CV-Leute aufgetreten seien, sich als Gegner der NS-Bewegung stilisiert und für ein freies und unabhängiges Österreich votiert hatten. Er war bis zum Umbruch Kameradschaftsführer der Weltkriegskämpfer im Kasino und wurde es recht übel vermerkt, dass er bei der Enthüllung des Heldendenkmals vor der Pfarrkirche kurz vor dem Umbruch noch eine Rede hielt, die für die Regierung war und beim Umbruch sich als „Illegaler“ entpuppte.131 Im Dunstkreis solcher Schildbürgerstreiche wie der Illegalen Casino-NS-Betriebszelle bewegten sich zahlreiche Mitarbeiter der Spielbank. Franz J. Hagl nutzte den Machtwechsel, um sich als Opfer des Ständestaates darzustellen. Aus politischen Gründen, so seine Erzählung, sei er aus dem Casino entfernt worden. Dass er den Posten allerdings Kollmann zu verdanken hatte, ließ er vorerst unerwähnt, genauso den Grund seiner Entlassung, die keinerlei politische Gründe zu Folge hatte. Die dienstliche Beschreibung Hagls war die denkbar schlechteste. Und seine plötzlichen Sympathien für den Nationalsozialismus dürften darin zu finden sein, dass er jetzt versucht, in irgendeiner Art in den Casino Betrieb eingestellt zu werden.132 Einen pragmatischen Zugang zum Nationalsozialismus hatte ebenso der Croupier Ludwig Bubik. Anfang der 30er Jahre verkehrte er als Arbeitsloser (kein Parteimitglied) in NS129 Ebd. – Köfer an Ortsgruppe Baden Weikersdorf (08.05.1942). 130 Ebd. Mappe I – Anonyme Anzeige (16.03.1944). 131 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Adolf Köferm Mappe III – Casino-Verwaltung an BH-Baden (10.09.1945). 132 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Hagl Franz (geb. 1903) – Ortsgruppe Baden-Stadt an Kreisleitung (24.11.1938).
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Kreisen. 1933 bekam er dank der NSDAP Arbeit. Interessiert absolvierte er einen Sanitätskurs, während, langsam aber doch, sein Interesse am Nationalsozialismus stetig abnahm. Zum einen wurde die NSDAP verboten, zum anderen fand er eine lukrative Anstellung als Croupier. Etwas brenzlig wurde es nach dem Anschluss, doch Adolf Köfer gab Rückendeckung, und Bubik frischte seine alten NS-Kontakte wieder auf. Und siehe da, in seinem Akt war plötzlich zu lesen, dass er 1933 der NSDAP beigetreten war – wovon die Kreisleitung offenbar nie etwas mitbekommen hatte, denn in ihren Aufzeichnungen tauchte er nirgendwo auf. Allerdings „rächte“ sich nun der Sanitätskurs. 1940 rückte er als Sanitätsfeldwebel ein. Nach 1945 schilderte er, dass er im Heeresstandortlazarett I in Wien XIII stationiert war. Neben dem Dienst am Patienten oblag ihm, Hinterbliebene zu verständigen, Röntgenapparate zu bedienen und Desinfektionen durchzuführen. An Hinrichtungen von Soldaten, offenbar wurde er das gefragt, hatte er nicht teilgenommen.133 Von Pragmatismus war auch sein Arbeitskollege Arthur Lindner beseelt. Aufgrund seiner Arbeitslosigkeit 1933 kurzzeitiges Mitglied bei der NSDAP, orientiere er sich nach dem Parteiverbot neu. Er wurde Amtswalter bei der Vaterländischen Front – also ein Mitglied mit Funktion. Nach dem Anschluss zeigte er wieder mehr Interesse für den Nationalsozialismus. Doch die NSDAP durchschaute das Spiel. Arthur Lindner blieb bis zum bitteren Ende bloß Parteianwärter.134 Dass Lindner kein Nationalsozialist war und jegliche Mitarbeit verweigerte, bestätigte nach 1945 der Buchhalter der österr. Casino A.G. Herbert Zucker.135 Seinen Zuspruch erhielt auch Adolf Köfer, in Bezug auf dessen „illegale NSCasino-Betriebszelle“ bzw. sonstiges Treiben während der Anschlusszeit. Es wurden sofort beim Umbruch alle Saisonbetriebe gesperrt, und der Besuch selbst ging durch den Ausfall des zahlreichen jüdischen Publikums stark zurück. So war auf jeden Fall eine große Anzahl von Angestellten überzählig gewesen, und ein Abbau wäre jedenfalls gekommen, was ja auch dann im Herbst zutraf, wo er gezwungen war 80–100 Angestellte zu entlassen. (auch Pg.) Dass die NSBO bemüht war, diese Maßnahmen soweit wie möglich hinauszuschieben und auf die „Nichtarier und Untragbaren“ abzuwälzen, ist in der damaligen Situation und den damaligen Umständen vollkommen begreiflich.136 Bei dem Casino-Mitarbeiter Hans Loibl war es ein gewisser Josef Marek, der dessen unideologisches Wesen herausstrich.137 Loibls Beitritt war genauso einzig und alleine dem beruflichem Selbsterhalt geschuldet und mit Marek als politischem Leiter der Casino A.G. und Vertrauensmann der KPÖ hatte er einen gewichtigen Fürsprecher an seiner Seite.138 So kollegial ging es im Casino nicht immer zu. Die Angst, eine sichere Anstellung bei der 133 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Bubik Ludwig (geb. 1899) und NSDAP-Karteikarten groß. 134 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten und GB 052/Polit. Beurteilungen: Lindner Arthur (geb. 1894). 135 Herbert Zucker (geb. 1911). 136 StA B, GB 052/Personalakten: Adolf Köfer, Mappe III – Zucker Bericht (04.09.1948). 137 Josef Marek (geb. 1906). 138 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten und GB 052/Polit. Beurteilungen: Loibl Hans (geb. 1905).
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Glücksspielbranche zu verlieren, führte zu internen Streitereien und Machtkämpfen, die seitenlange Protokolle entstehen ließen mit Beschwerden, Anschwärzungen, Verleumdungen und Dementis. Kollegen bezichtigten sich gegenseitig der Veruntreuung, Spielsucht, der Sauferei, mangelnder Integrität, und so manche Frauengeschichte aus alten Tagen wurde herausgekramt. Peinlich war, dass die örtliche NSDAP und die Stadt Baden in manche dieser Skandale und Skandälchen involviert waren. Als die Spielbank 1944 ihre Pforten schließen musste, kam es deswegen zu unschönen Szenen – dazu aber viel später mehr.
Mammon II Wir bleiben beim schnöden Mammon und wechseln von der Spielbank ins Bankwesen. Während wir vor dem Anschluss in den Ausschuss-, Kuratorien- und Funktionärsetagen der Badener Banken Namen wie: Carl Rupprecht von Virtsolog, Josef Kollmann, Julius Hahn, Alois Breyer, Anton Schilcher, Josef Dengler usw. wiederfinden, also die Crème de la Crème der hiesigen CSP-Lokalprominenz, waren es nach dem Anschluss Namen wie: Franz Schmid, Josef Wohlrab, Anton Attems, Hans Ponstingl, Josef Mikulovsky (NS-Bürgermeister von Traiskirchen), Hans Lang usw., also die Crème de la Crème der hiesigen NSDAP-Lokalprominenz. 139 Kontinuitäten gab es wiederum hauptsächlich im Verwaltungspersonal. Leopold Stolzenthaler war und blieb Rechnungsprüfer. Erneut schlagend wurde hier das Problem „Facharbeitermangel“. Dies ermöglichte es genauso Personen aus den hinteren Reihen, vorzutreten, auch wenn die politische Gesinnung noch unter Beweis gestellt werden musste. Einer mit Ambitionen war Wilhelm Bukovec, Sekretär des entfernten Sparkassendirektors Alois Brusatti, der nun auf die Nachfolge pochte. Der junge Mann, darin waren sich die Nationalsozialisten in Baden einig, war einer der fähigsten Beamten der Sparkasse gewesen. Sein Wissen werde sicherlich, so hoffte Bürgermeister Franz Schmid, Einblick in dunkle Machenschaften Brusattis geben. Wilhelm Bukovec galt als der NSDAP nahe, aber nicht nahe genug. Sein Ansuchen um Parteibeitritt wurde abgelehnt. Daraufhin meldete er sich beim NSKK und machte auf eigene Kosten in seiner Urlaubszeit einen sechswöchigen Kurs im Altreich. Letztendlich schnitt er sich ins eigene Fleisch, denn es war sein Eifer, der Misstrauen weckte. In seiner Beurteilung vom Juli 1941 stand geschrieben: Obwohl jung an Jahren, hätte er es verstanden, im Mai 1938 sich auf einen Direktorposten zu setzen und versuchte dies auch mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln.140 Sein Ehrgeiz wurde im Juli 1941 als blind, unzähmbar und unstillbar charakterisiert. Das widersprach der nationalsozialistischen Ideologie. Denn dort wurde in erster Linie die Unterordnung des Einzelnen unter den Willen des Führers, des Volkes oder in diesem Fall unter den der Be139 Vgl. 69. Verwaltungsbericht. 1937, S. 15. Aufliegend im StA B; Per 31/1927–1938 und 70. Geschäftsbericht 1938. Aufliegend im StA B; Per 31/1927–1938. 140 StA B, GB 052/Personalakten: Bukovec Wilhelm (geb. 1911) – Polit. Beurteilung (11.07.1941).
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triebsgemeinschaft gefordert. Bukovec wurde nicht Direktor, er wurde zur Wehrmacht eingezogen. Doch Schmid gab nicht auf und schrieb: Bei entsprechender starker Führung und Leitung könnte aus B. ein sehr brauchbarer Mensch werden.141 Ein Rückschlag für Bukovec. Doch wahrlich tragisch endete Alois Brusatti, ein lokales Urgestein, seit 1932 Direktor der Sparkasse und Gründer weiterer vier Filialen.142 Sein gleichnamiger Sohn Alois Brusatti beschreibt seinen Vater als aktiv und erfolgreich sowie als jemanden, der unbürokratische finanzielle Hilfestellungen leistete. Auf diese Weise hätte er Schulen, karitative Einrichtungen, die Stadt Baden inklusive der Politik, d.h. die Vaterländische Front, gefördert. Mit „unbürokratisch“ war gemeint, dass das Prinzip der doppelten Buchführung nicht immer eingehalten wurde. Dafür sollte er einen sehr hohen Preis bezahlen. In dem ihm gemachten Prozess sagte Brusatti aus, dass er am 14. März von Schmid seines Amtes enthoben worden sei. Erfahren hatte er dies zuerst von seinem provisorischem Nachfolger Karl Kohlert.143 Erst als er ins Rathaus eilte, machte es Schmid offiziell. Brusatti wurde „beurlaubt“ bzw. unter Hausarrest gestellt. Zuvor begab er sich noch einmal ins Büro, packte seine Sachen und übergab die Schlüssel der Direktionskasse und des Mauertresors an seinen designierten Nachfolger. Was er alles mitnahm, daran konnte er sich aufgrund seiner Aufregung nicht mehr erinnern. Anschließend suchte er die Zweigstelle am Karlsplatz auf und leerte dort den Safe unter der Aufsicht des Sparkassenbeamten Rudolf Dürr.144 Anschließend begab er sich nach Hause.145 Am nächsten Tag ließ er morgens Kohlert rufen, übergab ihm Goldmünzen und Einlagebücher – wobei ihn auch hier sein Gedächtnis im Stich ließ. Am selben Tag erhielt er unangekündigten Besuch, Rudolf Krpetz und Hans Löw, die neuen Herren der Sparkasse Badens. Ihr Auftreten war aggressiv. Sie äußerten haltlose Anschuldigungen, schreckten vor Drohungen nicht zurück und nötigten Brusatti, ein soeben getipptes Dokument zu unterschreiben, wonach er für alle finanziellen Schäden, die er der Sparkasse zugefügt hätte, die persönliche Haftung mit seinem Eigenkapital zu übernehmen hatte. Eingeschüchtert wie er war, unterschrieb er. Wenig später, am 26. April 1938, wurde er ins Rathaus geladen, dort fünf Stunden lang von zwei Kriminalbeamten verhört, anschließend verhaftet, nur mit dem Nötigsten versorgt – er benötigte dringend Medikamente, da er zuckerkrank war – und für drei Wochen in Wiener Neustadt eingekerkert. Die Anklage lautete: Verdacht der Veruntreuung zum Nachteil der Sparkasse Baden. Es ging um stille Reserven, um Darlehen, die unsauber vergeben wurden, Guthaben, von denen keiner etwas wusste, statutenwidrig verschobene Gelder und eingelagerte Wert141 142 143 144 145
Ebd. – Schmid an Kreisleitung (07.05.1940). Alois Brusatti (1877–1939). Karl Kohlert (geb. 1868). Rudolf Dürr (geb. 1885). Vgl. NÖLA, KG Wr. Neustadt 30 VR-1938, 401-E; Brusatti und Kollmann – Niederschrift (26.03.1938) S. 7f.
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papiere, die an Wert verloren hatten. Hier rächte sich die „unkomplizierte“ Herangehensweise. Die Anklage bestand aus 30 Einzelanzeigen. Darunter waren Anschuldigungen der Veruntreuung in Bezug auf vorgenommene Reparaturen, die nicht ordentlich verrechnet worden seien. Es handelte sich fallweise um Beträge von 100 Schilling oder Spesenabrechnungen, wie die durch die Bank finanzierten Fahrkarten nach Paris für seine und Kollmanns Ehefrau. Thema waren genauso Gelder, die Mitte der 1920er Jahre angelegt worden waren und sich dann durch die Wirtschaftskrise 1929 in Luft aufgelöst hatten. Als ihm vorgeworfen wurde, dass er Geld der Sparkasse noch immer bei sich zu Hause hätte, bestritt er das nicht. Den Verwahrungsort nenne ich deshalb nicht, weil ich vorher mit meinem Rechtsanwalt sprechen will und weil ich befürchte, dass mir mein ganzes privates Barvermögen, welches sich am gleichen Orte befindet, beschlagnahmt wird.146 Der Prozess war von Anfang an eine politische Farce. All die Anschuldigungen zu widerlegen, war unmöglich. Die geladenen Zeugen, hauptsächlich Sparkassenbeamte und Josef Kollmann, wussten wenig, nichts oder konnten sich nicht erinnern. Das meiste war laut ihnen ordnungsgemäß abgelaufen. Wirklich grobe Fahrlässigkeit oder gar kriminelle Energien konnten Alois Brusatti nicht nachgewiesen werden. Die Sachlage schien aus politischer Anklagesicht so dürftig, dass ihm nicht einmal etwas Ernsthaftes untergeschoben werden konnte. Prozess und Haft dauerten bis in den Februar 1939. Er verbüßte sie allerdings nicht im Gefängnis, sondern im Inquisitenspital des Landesgerichts Wien. In einem ärztlichen Gutachten wurde eindeutig diagnostiziert: Der Untersuchende ist als schwer krank zu betrachten. Da ein rascher Eintritt eines allgemeinen Vergiftungszustandes befürchtet werden muss, empfiehlt sich seine Abgabe in eine Krankenanstalt […].147 Alois Brusatti litt an Ohnmachtsanfällen, kämpfte mit Angina pectoris, und aufgrund seiner Zuckerkrankheit drohte eine Säurevergiftung. Er bat über seinen Anwalt Dr. Erich Führer um Haftentlassung. Ich glaube jedoch, dass in Anbetracht meines Alters und meines bisher genossenen Ansehens von einer Verabredungsgefahr und einer Beeinflussung von Zeugen keine Rede sein kann. Ich erkläre hiermit, dass ich mir keiner Schuld bewusst bin. Meine Vermögenslage ist überdies eine derart gute gewesen, dass man mir Veruntreuung von Beträgen, die zu meinem Vermögen in gar keinem Verhältnis stehen, nicht zumuten kann.148 Alois Brusatti war ein vermögender und angesehener Mann gewesen – mit Betonung auf gewesen. Als ihn sein gleichnamiger Sohn in Wiener Neustadt das letzte Mal besuchte, war sein Vater allerdings nur mehr ein Schatten seiner selbst, ein Wrack. Er hatte 20 Kilo verloren. Für Brusatti jun., als Offizier der Wehrmacht, war es regelrecht verstörend, mit anzusehen, wie demütig sich sein eigener Vater gegenüber dem Wachpersonal verhielt. Brusatti sen. starb am 26. September 1939. Die Badener Zeitung schrieb von einem Herzschlag.149 Jahrzehnte nach den Ereignissen schrieb Alois Brusatti jun. über seinen Vater: Er hielt sich 146 147 148 149
Ebd. – Niederschrift S. 18. Ebd. – Gerichtsärztlicher Befund und Gutachten (04.07.1938). Ebd. – Brusatti an Kreisgericht Wr. Neustadt, Ansuchen um Enthaftung (30.07.1938). Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 34 und BZ Nr. 79 v. 04.10.1939, S. 2.
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von Politik fern, wurde aber naturgemäß weiter von der herrschenden Partei, besonders seit 1934 von der dominierenden Vaterländischen Front ausgenützt, musste spenden – leider manchmal ohne Beleg. Die Ereignisse vom März 1938 trafen ihn vollkommen unvorbereitet…. Er war politisch naiv. Bürgerlich-liberal und verstand nicht mehr die Zeit….150 Neuer Vereinsvorsteher in der neuen Zeit der Sparkasse Baden wurde Franz Schmid – einstimmig am 19. Mai 1938 von der Hauptversammlung gewählt. Die neuen Mitglieder der Hauptversammlung waren zuvor auf Vorschlag des Kreisleiters Franz Eckels einvernehmlich mit dem kommissarischen Beauftragten der Sparkassen Österreichs Dr. Hans Stigleitner bestellt worden. Schmid sprach sogleich davon, in Anlehnung an die Zeit davor: Dass ich hierbei auf Sauberkeit, auf Ordnung und Disziplin unter allen Umständen dringen werde, ist wohl selbstverständlich. Bescheiden wie er war, musste er eines festhalten: Ich habe mich zu dieser neuen Stellung nicht gedrängt und habe vielmehr lange gezögert, diese Aufgabe noch auf meine Schultern zu nehmen.151 Neuer Direktor der Sparkasse Baden wurde mit dem 1. August 1938 der Gemeinderat Rudolf Krpetz, Absolvent einer technischen Hochschule in Wien, Offizier vieler Fronten des Ersten Weltkrieges, der als Oberleutnant abrüstete und nach dem Abrüsten das Bankwesen für sich entdeckte. Er avancierte zum Leiter der Badener Filiale des Wiener Bankhauses Rheinhardt. 1933 trat er der NSDAP bei und soll der erste Badener gewesen sein, der eine Haftstrafe durch den Ständestaat ausfasste. Nach dem Anschluss wurde er zum Finanzreferenten der Stadtgemeinde berufen und war federführend an der Liquidierung seines ehemaligen Arbeitgebers (des Bankhauses Rheinhardt) beteiligt.152 Eine Zeitlang soll es mit der Finanzgebarung durchaus aufwärtsgegangen sein – zumindest ist das den Geschäftsberichten zu entnehmen. Allerdings passte der Inhalt nicht ganz zur Aufmachung. Während drinnen Licht am Horizont erstrahlte, schrumpften die Geschäftsberichte rein äußerlich von A4 auf A5, und die Seitenzahlen nahmen ebenso drastisch ab. Waren es 1939 noch 19 Seiten, wies jener von 1943 nur 6 auf – Deckblatt inklusive.
Die vierte Gewalt Während also die Blattgröße und Anzahl bei den Geschäftsberichten der Sparkasse Baden abnahmen, traf das vorerst sicher nicht auf unseren nächsten Klienten zu. Hier war Opulenz das Maß aller Dinge. Es geht um die NS-Propaganda in den Medien, genauer gesagt um die Zeitungspresse und damit um ihr Badener Sprachrohr: die gleichgeschaltete Badener Zeitung. Sie durfte weiterhin erscheinen und unter ihrem Namen. Dem „Badener Volksblatt“, der Parteizeitung der CSP in Baden, wurde beides schon bald verwehrt. Dass die diktierten Inhalte 150 Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti (Familie), S. 29. 151 BZ Nr. 41 v. 21.05.1938, S. 2. 152 Vgl. BZ Nr. 69 v. 27.08.1938, S. 4 und NSDAP Karteikarten groß: Krpetz Rudolf (1889–1969).
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abgedruckt und die Umbenennung in „Sonntagsglocke“ und die Verpflichtung, sich nur mehr religiös-erbaulichen Inhalten zu widmen, anstandslos umgesetzt wurden, änderte nichts am baldigen Verschwinden der seit 1902 erscheinenden christlichsozialen Parteizeitung. Werfen wir einen Blick in die ersten Ausgaben beider Lokalmedien nach dem Anschluss, so jubilierte in beiden das deutsch-arische Herz. Alle sind begeistert, alle sind glücklich, jeder stellt sich in den Dienst der neuen Zeit und frohlockt über die Heimkehr der Ostmark ins Großdeutsche Reich. Im Hintergrund herrschte Angst und Schrecken. Kritische Journalisten (sprich normale Journalisten) wurden entfernt bzw. sie passten sich an. Diesbezüglich hatte der Ständestaat bereits „gute“ Vorarbeit geleistet. Die kritische Presse war schon vor dem Anschluss finanziell und personell ruiniert. Ältere Semester bzw. erwachsene Menschen kannten zudem noch die Berichterstattung zwischen den Jahren 1914 bis 1918, in denen die Zensur ebenso ihr Unwesen getrieben hatte. Was Propagandaminister Joseph Goebbels seit fünf Jahren in Deutschland vollbrachte, wurde auf die Ostmark ausgeweitet. Sein Zugang war simpel. Das Volk war primitiver als oftmals angenommen. Deswegen: Das Wesen der Propaganda ist deshalb unentwegt die Einfachheit und die Wiederholung.153 Eines durfte die mediale Berichterstattung allerdings nicht werden, nämlich langweilig. Deswegen favorisierte er eine wohldosierte Mischung aus Hetze, Informationen, Angstmache und Unterhaltung.154 Hans Meissner schrieb rückblickend, nach seiner „Mein Kampf“-Lektüre, dass es der propagandistische Aspekt war, den er besonders mit Schaudern herauslas. Was mich daran erschreckte, war nicht der Anschlussgedanke, den ich an sich – die Nazis ausgeklammert – als vertretbar, weil geschichtslogisch empfand, sondern die These, dass man mit Hilfe der staatlichen Propaganda jede beliebige von der Regierung erwünschte Stimmung im Volk erzeugen könne und werde.155 Um Goebbels‘ medienpolitisches Quartett (Hetze, Informationen, Angstmache und Unterhaltung) umzusetzen, brauchte es die richtigen Leute. Während im Mediengeschäft manche nicht mehr mitmachen durften, wollten andere unbedingt dabei sein. Der Berndorfer Anton Rauch sen., Herausgeber der „Neuen Badener Nachrichten“ und des „Triestingtaler Wochenblatts“, großdeutsch und nationalistisch ausgerichtet – zuvor fischte er im roten Teich – sah sich und sein Medium unter dem Hakenkreuz schon in lichte Höhen aufsteigen. Die Berndorfer Ortsgruppe musste den angehenden Medienmogul jedoch ein bisschen einbremsen. Anton Rauch bemühte sich, einmal so und einmal so zu schreiben. Eine reine parteimäßige Einstellung seines Blattes kann man nicht sagen, da sein Bestreben immer dahin ging, ohne Rücksicht auf eine Partei, möglichst viele Abnehmer für sein Blatt zu gewinnen. Rauch verfolgte nach dem Anschluss zwei Ziele. Erstens, er wollte Parteimitglied werden. Diesem Vorhaben begegnete die NSDAP mit ein wenig Zynismus. Er ist seit 1.1.1940 Parteianwärter und bemüht sich selbstverständlich, 150 % Nationalsozialist zu sein. 153 LONGERICH Peter, Goebbels. Eine Biographie (München 2012), S. 503, hier zitiert nach: Geobbels‘ Tagebücher 29. Januar 1942. 154 Vgl. LONGERICH, Goebbels, S. 220. 155 StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 1.
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Zweitens wollte er sein Wochenblatt als amtliches NS-Mitteilungsblatt führen dürfen. Die Recherche über ihn und sein Medium gestalteten sich nicht sonderlich herausfordernd. Man musste nur seine bisherigen Ausgaben lesen, schließlich erschienen die „Neuen Badener Nachrichten“ seit 1936. Als jemand, so die Beurteilung, der danach trachtete, Massen an Lesern zu erreichen, versuchte er sich als Aufdecker-Journalist. Dabei wurden Berichte aufgebauscht und Ereignisse dramatisiert, Szenarien ausgeschmückt und Skandale hineininterpretiert, wo es keine gab. Die Richtigstellungen und Entschuldigungen erfolgten meist in den Folgeausgaben. Und auch nach dem Anschluss schien er nicht aus seiner Haut herauszukönnen. Nach Angaben des Ortsgruppenleiters Pg. Bachheimer macht er auch heute noch dem S.D. falsche und zumindest stark übertriebene Berichte.156 Doch unabhängig von Gerüchten zu seiner Person oder den Gerüchten in seinem Blatt, die Tatsache, dass sein Verlag hoch verschuldet war und die Auflage seiner Wochenzeitung 660 Stück betrug, wog sehr viel schwerer, um nicht auf ihn und sein Ruhmesblatt zu setzen. Finanziell gefestigter und mit einer viel größeren Reichweite war die Badener Zeitung ausgestattet. Sie schluckte im April 1939 das Triestingtaler Wochenblatt von Anton Rauch. Der neue Mann an der Spitze hieß Franz Laval. Er war zuvor für die Beethovengemeinde in Baden tätig gewesen und hatte Artikel zu Kunst und Kultur verfasst. Nach dem Anschluss übernahm er vorerst provisorisch den Posten des Hauptschriftführers, blieb es länger als erwartet, da sich offenbar sonst niemand fand und er gute Arbeit leistete. Laut eigener Aussage nach 1945 hatte er nie einen politischen Artikel verfasst und war stets bemüht gewesen, Hetze gegenüber Vertretern der früheren Stadtführung so gering wie möglich zu halten. Parteimitglied war er erst 1943 geworden. Seine Distanz zum Nationalsozialismus bestätigte unter anderem Ernst Röschl, der ihn als eine Marionette des Regimes bezeichnete.157 * Die Badener Zeitung war das propagandistische Sprachrohr schlechthin im Bezirk Baden. Die „Badener Zeitung“, bald sechzig Jahre alt, stellt sich mit jugendlicher Begeisterung in den Dienst des großen deutschen Vaterlandes.158 Das, was Gau und Kreis von sich gaben, wurde abgedruckt. Der abrupt erzwungene Gesinnungswechsel war ebenso aus dem Badener Volksblatt herauszulesen. Eine Ausgabe vor dem Anschluss durfte kein Österreicher und kein Katholik bei der Abstimmung für ein freies, deutsches, christliches, unabhängiges, soziales Österreich fehlen. Eine Ausgabe darauf stand in großen Frakturlettern: Großdeutschland – die Ostmark ist heimgekehrt.159 156 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Rauch Anton sen. 157 Seine Antrag auf Streichung wurde stattgegeben vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Laval Franz (geb. 1886) und WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 35 und BZ Nr. 26 v. 01.04.1939, S. 5. 158 BZ Nr. 22 v. 16.03.1938, S. 1. 159 Vgl. MAUERER, St. Stephan, S. 346.
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Der Alltag wurde grundsätzlich in den gleichgeschalteten Medien nicht mehr repräsentiert und analysiert. So etwas fand nur mehr am Stammtisch statt, wo wiederum das Spitzelwesen ein reiches Betätigungsfeld vorfand. Die Zuträger leisteten hervorragende Arbeit. Das NS-Regime war gut im Bilde. Wenn über Tatsachen gesprochen wurde, die nicht geleugnet werden konnten (Kriegsalltag, Frontverläufe, Gütermangel usw.), und diese Tatsachen dennoch keinen Eingang in die Medien fanden, brauchte es eine ausgeklügelte Argumentation. So wurde erklärt, dass in der öffentlichen Berichterstattung die gleichen Verhaltensweisen vorherrschen würden wie im normalen Leben. Dort würde schließlich auch nicht über alles öffentlich debattiert, sondern es bliebe in den eigenen vier Wänden. Das journalistische Geschwurbel erreichte nach den Novemberpogromen 1938 seinen ersten Höhepunkt. Da man bis auf eine kurze Einschaltung des Kreisleiters – irgendwelche Aktionen gegen Juden seien zu unterlassen – ansonsten nichts darüber berichtete, weder in der folgenden Ausgabe noch in den weiteren, sah man sich offenbar veranlasst, am 23. November 1938 das Thema „Nationalsozialismus und Presse“ als Aufhänger zu nehmen. Der Verfasser, Gaupresseamtsleiter Hans Schopper, gab sich „wahrlich“ Mühe um „klärende“ Worte. Das Präludium bildete eine Rückschau auf die seit Jahrzehnten durch Juden vergiftete Presselandschaft. Solchen Inhalten folgten dann doch etwas verklausulierte Botschaften. Dem deutschen Volke in der Ostmark blieb damals als einziges Besitztum die Wahrheit. Zutiefst erkannten wir, dass Wahrheit und nationalsozialistische Presse für immer zusammengehören. Die Presse, die wir wollen, entstand aus der Wahrheit, so wie die Wahrheit aus der Tat. Zwischendurch schwadroniert er über Verantwortung und einen planvollen Aufbau des Nationalsozialismus mittels des geschriebenen Wortes. Die nationalsozialistische Presse ist keine Märchentante, sondern ein Arbeitsbote. […] So wie daher im Umfange nationalistischer Staatsführung nichts am unrechten Orte geschieht, gibt es im nationalsozialistischen Staat keine Presse, die am unrechten Orte stünde, ob es sich nun um das Fachblatt, das Tagblatt oder das Kreisblatt handelt. Und zu guter Letzt eine Art Aufforderung, mitzumachen – oder auch nicht: Die Zeit ist reif geworden für die Presse, und die Presse ist reif geworden für die Zeit. Wer seine Zeit nicht versäumen will, schließe sich seiner Presse an.160 Wenn solche „Analysen“ nicht den gewünschten Erfolg brachten, konnte man immer noch Drohungen ausstoßen. Als der Krieg länger andauerte als erwartet und versprochen, war die Fragestellung, „wie lange er noch gehen werde“, nicht angebracht bzw. sogar schädlich, und wer sich schädlich verhielt, war in den NS-Augen ein Schädling. Nachfragen und Hinterfragen kosteten nur Energie und Anstrengung, und diese sollten vielmehr auf den Sieg fokussiert sein.161 Das NS-Regime machte sich in perfekter Manier den menschlichen Hang zur selektiven Wahrnehmung zunutze. […] Über Rückschläge und Probleme wurde einfach nicht berichtet, und Meldungen aus dem Ausland wurden in einer ideologisch aufgeheizten Atmosphäre ohnedies nicht geglaubt, und obendrein in einer dem Re-
160 BZ Nr. 94 v. 23.11.1938, S. 1. 161 Vgl. LONGERICH, Goebbels. Eine Biographie (München 2012), S. 497.
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gime genehmen Art interpretiert und weitergegeben.162 Die selektive Wahrnehmung und Erinnerung sehen wir anhand der Beschwerden während der NS-Herrschaft. 1938 und 1939 mokierten sich viele, dass die Deutschen im Altreich immer noch mehr verdienten als die Österreicher in der Ostmark. Nach 1945 waren solche Beschwerden weitgehend in Vergessenheit geraten, stattdessen rückten die ordentliche Beschäftigungspolitik der NS-Zeit in den Vordergrund. Simpel musste die Berichterstattung in Bezug auf die Vermittlung der NS-Ideologie sein. Um die Floskel „Gemeinnutz statt Eigennutz“ mit Inhalten zu füllen, bedurfte es einiger Erläuterungen. Weshalb war nun die Gemeinschaft (in diesem Fall die arische „Volksgemeinschaft“) mehr wert als der Einzelne (der Führer ausgenommen)? Die Erklärung war einfach gehalten: Das Gemeinschaftsdenken war germanisch, der Individualismus jüdisch.163 Kreationen dieser Art finden wir unzählige Male. Sei es geschrieben oder durch die Volksempfänger transportiert. Jeder Haushalt konnte sich „informieren“. Und wenn es pompöser ausfallen sollte, wurden die Reden Hitlers oder Goebbels‘ im Stadttheater oder sonstigen Institutionen übertragen. Es waren immer Massen an Zuhörern, die den Worten lauschten, so zumindest die nachträgliche Berichterstattung. Wobei auch davor, vor dem Anschluss, je nach Parteizeitung und herrschendem Regime – wenn die eigenen Leute, ob schwarz, rot oder blau, öffentlich vor dem Volk predigten, sollen es immer Massen an Arbeitern, Bauern oder Bürgern gewesen sein, die verzückt an den Lippen der Redner hingen.
Circulus Nachdem wir uns der Badener Zeitung gewidmet haben, dem Medium für den Bezirk Baden, wenden wir uns jetzt noch der Verwaltung eben dieses Bezirks zu – der Bezirkshauptmannschaft. Wenig verwunderlich musste diese ebenso umgefärbt bzw. mussten alte Rechnungen beglichen werden. Pilz Adolf ist ein gehässiger Gegner der Partei u. des Staats, außerdem ein asozialer Mensch sondergleichen. […] ein brutaler, rücksichtsloser Gegner und besonderer Günstling der Systemgrößen. Eindeutiger konnte die Beurteilung nicht ausfallen. Schmid selbst schrieb von ungeheurer und unmenschlicher Verfolgung, als der berüchtigte Bezirkshauptmann Pilz und nachmalige Justizminister sein unrühmliches Regiment führte.164 Dr. Adolf Pilz, Rechtswissenschaftler, Richter und Politiker, war von 1924 bis 1934 Bezirkshauptmann von Baden. Im April 1939 errechnete die NSDAP-Ortsgruppe Baden, dass während der Verbotszeit von 1933 bis 1938 (Februar) […] von der Bezirkshauptmannschaft Baden für das Stadtgebiet Baden insgesamt Strafen im gesamten Ausmaße von 21,5 Jah162 RAUCHENSTEINER, Unter Beobachtung, S. 180. 163 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 21. 164 Schmids Bericht über die illegalen Tätigkeiten der NSDAP in Baden von 1933–1938, DÖW, abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/archiv (10.04.2023).
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ren für politische Delikte gegenüber Nationalsozialisten, verhängt [wurden].165 Dass Pilz seit 1934 nicht mehr Bezirkshauptmann war, störte bei diesen Berechnungen nicht im Geringsten. Von 1934 bis 1936 war er am Bundesgerichtshof tätig und von 1936 bis 1938 Justizminister. Für die Nationalsozialisten war er ein Scharfmacher sondergleichen. Sein Hass ging so weit, dass er nicht davor zurückschreckte, Nationalsozialisten eingekerkert zu lassen, die in den Genuss der Juli-Amnestie 1936 gekommen waren. Ausgerechnet gegen sieben Badener, die ihre Entlastungsbögen in der Hand hielten, erhob er Einspruch. Statt Freiheit fassten sie Freiheitsstrafen von 5 bis 6 Jahren aus. So etwas durfte nicht ungesühnt bleiben. Da ich annehme, dass diese Schweinerei bereits durch die SA behandelt wird, habe ich mir keine weiteren schriftlichen Unterlagen für eine Anzeige verschafft.166 Genauso wenig hätte sich Pilz gescheut, NS-Anhänger ohne jegliche Beweise einzukerkern. Eines soll ihn nur angetrieben haben, möglichst viele Exempel zu statuieren. Neben Anschuldigungen dieser Art tauchten Schilderungen auf, wonach Adolf Pilz vor jedem Weihnachtsfest sämtliche Dienstboten seines Hauses gekündigt hätte, um sich die Weihnachtsgeschenke zu ersparen. Neben einem solchen Sammelsurium an Gehässigkeiten ließ man es sich auch nicht nehmen, seiner Ehefrau Auguste Pilz jüdische Wurzeln anzudichten.167 Sicher war man sich nicht, aber „Man wird es ja noch sagen dürfen!“ dürfte die Überlegung dahinter gewesen sein. Sie wäre die Tochter des angeblich jüdischen Großgrund- und Schlossbesitzers Oskar Willheim aus Oberwaltersdorf. Antisemitische Klischees gepaart mit gewöhnlichen Unterstellungen und abstrusen Gerüchten war schon längst Tür und Tor geöffnet worden. Sie waren die Würze aller tätlichen Übergriffe, die viele Menschen erleiden mussten. Adolf Pilz wurde verhaftet, verhört und ohne Pension entlassen. Sein Nachfolger als Bezirkshauptmann von Baden 1934 gehört aus meiner Sicht zu einer der interessantesten lokalen Persönlichkeiten, Carl Rupprecht von Virtsolog. Kreispersonalamtsleiter Kurt Haun bezeichnete ihn im März 1939 als gehässigen Gegner der NS-Bewegung und emsigen Vertreter des Ständestaats. Dabei hatte Carl Rupprecht von Virtsolog den Anschluss begrüßt – im Sinne von Willkommen geheißen –, ihm eine mustergültige Ruhe und Ordnung attestiert, war Gast einiger Angelobungen, Vereidigungen und andere Festivitäten unter dem Banner des Hakenkreuzes, und nachdem am 10. April 1938 das Votum für das Aufgehen im deutschen Großen Brudervolk dermaßen eingeschlagen hatte, war er heilfroh gewesen, weil nun ist und bleibt für alle Zukunft Österreich nach seinem freien Willen ein Teil des großen deutschen Reiches!168 Im Mai 1938 hatte er sogar die Ehre, die Nummer 2 des Dritten Reiches in der Kurstadt in Empfang zu nehmen, Hermann Göring. Erst am 1. Juli 1938 verabschiedete er sich von seinem Posten. Das Amtsblatt sprach von einer Berufung in die Landeshauptmannschaft Niederdonau. Er dankte allen für die gewis165 166 167 168
StA B, GB 052/Personalakten: Pilz Adolf (1877–1947) – Ortsgruppe Baden-Stadt (14.04.1939). Ebd. – Bericht über Pilz (05.10.1938). Auguste Pilz (geb. 1887). Amts-Blatt der Bezirkshauptmannschaft Baden 64. Jahrgang. 1938, S. 29. Aufliegend im StA B, Z4/1938/1939.
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senhafte Mitarbeit, hoffte, dass er selbst als guter Verwalter in Erinnerung bleiben würde, die Härten soweit es möglich abgemildert hätte, da er nie vorgehabt hätte, irgendeinem Volksgenossen zu schaden, und verabschiedete sich mit: Ich glaube, die meisten haben mein reines Wollen stets erkannt. […] Möge dem Bezirk eine glückliche Zukunft beschieden sein. Heil Hitler!169 Das mit der Berufung in die Landeshauptmannschaft Niederdonau sollte dann doch nicht so reibungslos erfolgen. Er wurde zuerst mit gekürzten Bezügen in den Ruhestand geschickt. Es vergingen ein paar Monate, und im März 1939 wollte Kreisleiter Hans Ponstingl in Erfahrung bringen, ob Rupprecht von Virtsolog in einer Vertrauensstelle zumutbar wäre. Er sollte es sein – auch wenn es Kreispersonalamtsleiter Kurt Haun differenzierter sah. Schon zuvor hatte sich so mancher anständige Nationalsozialist (wieder einmal) gefragt, wie es möglich sein konnte, dass so ein Nazifresser weiterhin in Amt und Würden weilte. Er galt vielen als Wendehals bzw. als Paradebeispiel eines österreichischen Beamten – im despektierlichen Sinne. Jedem Vorgesetzten und jedem politischen System schien er treu ergeben zu sein bzw. er war es auch. Seine Karriere begann unter Kaiser Franz Josef in der Monarchie. Nach deren Zusammenbruch diente er der parlamentarischen Demokratie. Nach deren Zusammenbruch wiederum diente er dem Ständestaat. Zuständig für die Verfolgung von Nationalsozialisten und Sozialisten, genoss er das Vertrauen der als ultraklerikal beschriebenen Landeshauptmannschaft Niederösterreich. Charakterlich war Rupprecht für Haun mehr als nur nicht tragbar. Ihm war kein Mittel zu schlecht, seine Einstellung zum Systemstaat zu dokumentieren. Als evangelischer Religionszugehöriger schämte er sich nicht, bei sämtlichen Propagandazügen der katholischen Kirche aktiv teilzunehmen. Dies allein schon stellt ihn in das richtige Licht. Aus einem anderen Licht betrachtet: gelebte Ökumene. Doch der Kreispersonalamtsleiter schien diese Sicht nicht zu teilen. Selbst am Anschlusstag weigerte sich Rupprecht, beklagte Haun, mit Nationalsozialisten zu verhandeln oder die Frontmiliz zu entwaffnen. Unter allen möglichen Ausreden und Ausflüchten erklärte er, hierfür nicht zuständig zu sein. Eisern wartete er auf Befehl von oben. Erst als die Frontmiliz von sich aus die Waffen an die SA aushändigte, lenkte er ein. Für Haun stand außer Frage, dass Rupprecht in keiner Weise für eine Vertrauensstellung geeignet erscheint und eine solche Einstellung von der Partei mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln verhindert werden müsste.170 Doch Hauns Unkenrufe fanden kein Gehör. Zuerst kam Rupprecht ins Landesamt Baden und danach in die Reichstatthalterei Niederdonau. Ein paar Jahre später, 1943, gab es keinen Anlass mehr zur Klage, und sein Verhalten sowie die Einstellung zum NS-Staat und zur NSDAP waren positiv. Carl Rupprecht von Virtsolog ist erneut ein vortreffliches Beispiel für den akuten Mangel an erfahrenem Verwaltungsfachpersonal des NS-Regimes. Trotz seiner bezeugten Gehässigkeit gegenüber der NS-Bewegung waren die neuen Badener Machthaber auf seine fachliche Kompetenz angewiesen – wenn auch nur für ein paar Monate. 169 Ebd. S. 51. 170 StA B, GB 052/Personalakten: Rupprecht v. Virtsolog Carl (1888–1958) – Haun an Landrat Josef Wohlrab (16.03.1939).
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Vergleichbares sehen wir bei seinem Stellvertreter Dr. Richard Kremla. Bis 1934 war er zehn Jahre lang für die Bezirkshauptmannschaft Tulln tätig gewesen, bevor er nach Klosterneuburg kam und ein Jahr später in Baden als Regierungsoberkommissär Verwendung fand. Der NS-Bewegung distanziert bis feindlich gegenüberstehend, verlor er nach dem Anschluss seinen Posten, blieb allerdings Beamter in der Bezirkshauptmannschaft. Es hieß, dass Menschen, die dem NS-Regime nicht geheuer waren und dennoch etwas von der Bezirkshauptmannschaft brauchten, sich stets an Richard Kremla wandten. So wandte sich Robert Röschl 1940 an ihn, damit seine jüdische Ehefrau auch außerhalb der für Juden bestimmten Einkaufszeiten Einkäufe erledigten durfte. Richard Kremla leitete das Anliegen weiter und erinnerte an die Verdienste des arischen Ehemannes im Ersten Weltkrieg, um dem Ansuchen mehr Gewicht zu verleihen. Es wurde tatsächlich genehmigt – wenn auch nicht bedingt durch Robert Röschls Kriegseinsatz.171 Ansonsten haben wir eindeutige Parallelen zu Rupprecht von Virtsolog. Ideologisch war Kremla mit Vorsicht zu genießen, aber als Fachmann konnte er offensichtlich brillieren. 1940 trat er der NSDAP bei. Im Mai 1942 übernahm er die Leitung des Landrats in Wiener Neustadt für den eingerückten Landrat Ferdinand Pauler. Im September erfolgten die Ernennung zum Oberregierungsrat und die Versetzung in die Reichstatthalterei Niederdonau.172 Rupprechts Nachfolger als Badener Bezirkshauptmann wurde im Juli 1938 der bisherige Bezirkshauptmann von Krems, Dr. Johann Schauer. Lange verblieb er nicht auf diesem Posten, zumal dieser umbenannt wurde und mit ihm die Behörde und das zu verwaltende Gebiet. Der Bezirkshauptmann wurde zum Landrat, die Bezirkshauptmannschaft hieß ebenso Landrat und der Bezirk Baden wandelte sich zum Landkreis Baden.173 An der Spitze stand nun Josef Wohlrab. In Wien geboren, in Salzburg aufgewachsen, wo er eine technische Hochschule besucht hatte, heiratete er 1914 und rückte im selben Jahr als Leutnant ein. Als Oberleutnant der Reserve nach dem Krieg entlassen, wurde er Anfang der 20er Jahre Leiter der Invalidenämter in Salzburg Stadt und Land, war Angehöriger des Freikorps Oberland, trat 1922 der DNSAP und 1923 der SA bei. Im selben Jahr leitete er die Aufnahmestelle für politische NS-Flüchtlinge des gescheiterten Hitlerputsches 1923. 1926 trat er der NSDAP (Hitlerbewegung) bei, war mit elf weiteren Nationalsozialisten Mitbegründer der NSDAP-Ortsgruppe Salzburg und stieg zum Gauführer der SA des Landes Salzburg auf. Des Weiteren war er als Kreispropagandaleiter tätig und von 1932 bis zum Betätigungsverbot der NSDAP Gaugeschäftsführer und Gauamtsleiter (Kassenwart). 1933 wurde er verhaftet, nach nur sechs Tagen gegen ein Gelöbnis freigelassen, was er sogleich dafür nutzte, sich ins Altreich abzusetzen, um von dort weiterhin, nun in der illegalen 171 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Röschl Fam. – Kremla an Kreisleitung (22.10.1940). 172 Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten K-R bis 1945, Richard Kremla und StA B, NSDAP Karteikarten groß: Kremla Richard (1892–1953) und MAUERER Rudolf, MAURER Johanna, Gestapo – Vertraulich! Die heimliche Kirchenverfolgung im Bezirk Baden 1938–1944 (Baden 2012), S. 39. 173 Vgl. BZ Nr. 97 v. 03.12.1938, S. 3.
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Salzburger Gauleitung, mitzuarbeiten. Hier war er zuständig für das NS-Flüchtlingswerk, war Abteilungsleiter der Darlehensabteilung und der Heimkehrer- und Überprüfungsstelle. Nach dem Anschluss war er zuerst in der Reichstatthalterei Wien in der Abteilung von Staatskommissar Dr. Otto Wächter tätig – einem SS-Gruppenführer und Gouverneur des Distrikts Krakau und später Galiziens. Ab Juli 1938 wurde er dem stellvertretenden Gauleiter, SS-Oberführer Karl Scharizer, zugeteilt – Baldur von Schirachs Stellvertreter –, der für das Siedlungswesen in der Ostmark zuständig war. Allzu lange weilte Wohlrab nicht in Wien. Den Landkreis Baden übernahm er provisorisch am 1. August 1938. Definitiv wurde er Landrat am 19. September 1939. Für die angefallenen Transport- und Reisekosten von München nach Wien bzw. Baden verlangte er entschädigt zu werden, denn finanziell hätte ihn der Umzug, wie er es niederschrieb, schwer geschädigt. Einen Teil der Kosten in der Höhe von 605,90 RM hatte die NSDAP bereits bezahlt. Aber 350 RM waren offen und warteten darauf, aus der Parteikasse beglichen zu werden. Die finanzielle „Talsohle“ des Badener Landrats war spätestens im März 1941 überwunden. Gauleiter und Stiftungsherr des Casino-Fonds Hugo Jury ernannte ihn zum Kurator der Badener Spielbank.174 Wohlrabs Zuständigkeitsbereich war dem des Kreisleiters ähnlich, bzw. ihre Kompetenzen überschnitten sich und/oder veränderten sich mehrmals – ein Markenzeichen des Nationalsozialismus. Zuständig für Juden und Kriegsgefangene, war er mitverantwortlich für deren Unterbringung und Behandlung. Unter seiner siebenjährigen Patronanz fanden all die bekannten Gewalttaten statt, angefangen von Deportationen über Folter bis hin zu Mord und Exekutionen. Ferner arbeitete er eng mit den Kreisleitern, der SS und der Gestapo in Wiener Neustadt zusammen. Gemeinsam mit Kreisleiter Gärdtner und Konsorten organisierte er die sinnlosen Verteidigungsbemühungen gegen Ende des Krieges, wobei er selbst rechtzeitig Richtung Westen floh. Neben seiner NSDAP-Mitgliedsnummer 50.028, den zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen, den Lobeshymnen aus Berlin, besaß er die Erlaubnis Hitlers, die Uniform eines Gauamtsleiters ein Leben lang tragen zu dürfen – eine NS-Ehre durch und durch. Alois Klinger hingegen fasste Wohlrabs Wesen ganz anders auf. Man muss sich als Österreicher selbst für den in Wien geborenen Josef Wohlrab schämen.175 Aus demselben Holz dürfte Wohlrabs Stellvertreter geschnitzt gewesen sein, SS-Oberscharführer Dr. Herbert Friedl. Seit 1931 oder 1932 NSDAP Mitglied, Illegaler, Häftling in Kaisersteinbruch, Angehöriger der Waffen-SS und Vorstand bzw. Chef der Badener Gestapo und politisch unbedingt zuverlässig. Deswegen war seine Ernennung 1940 zum Regierungsassessor wohl nur eine Formsache.176 174 Vgl. SAFRANEK Hans, Militante NS-Aktivisten mit Rückzugsbasis: Salzburger bei der Österreichischen Legion. In: KRAMML Peter F., HANISCH Ernst (Hgg.): Hoffnung und Verzweiflung in der Stadt Salzburg 1938/39. Vorgeschichte-Fakten-Folgen (Salzburg 2010), S. 124–161, hier S. 155f und NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten S-Z bis 1945, Josef Wohlrab. 175 StA B, GB 052/Personalakten: Wohlrab Josef (1888–1970) – Alois Klinger Aussage (20.05.1947). 176 Vgl. Amts-Blatt der Bezirkshauptmannschaft Baden 64. Jahrgang. 1938, S. 73. Aufliegend im StA B unter Z4/1938/1939 und Polit. Beurteilungen: Friedl Herbert (geb. 1908) und NSDAP-Karteikarten groß.
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Es gäbe noch genügend weitere Institutionen, Branchen, Abteilungen usw., wo es zu personellen Veränderungen kam oder Kontinuitäten vorherrschten. Ich möchte im Folgenden auf einen weiteren Aspekt eingehen, der die Anschlusszeit mitprägte und bei der Gleichschaltung eine wichtige Rolle spielte, wenn es darum ging, Posten und Funktionen neu zu besetzen.
Kapitel 5 Idealismus Oder: Von Blütezeiten, Erweckungserlebnissen und Wiedergutmachungen
Bei den vielen oben genannten Beispielen hatten wir es mit Menschen zu tun, die durch ihre berufliche Kompetenz und den Mangel an qualifiziertem Personal für die neuen Machthaber trotz ihrer nicht unbedingten politischen Zuverlässigkeit von enormer Wichtigkeit waren, um die Verwaltung aufrechtzuerhalten. Ihr Verhältnis zur NSDAP blieb indifferent bzw. von Pragmatismus und Opportunismus gekennzeichnet. Solche Personen taten oftmals nur das Nötigste, um ihren Status quo zu erhalten und hielten sich dezent im Hintergrund. Eine Karriere unter dem Hakenkreuz strebten sie nicht an. Auf der anderen Seite gab es jene, die weitaus offensiver auftraten, wobei sie bezüglich ihrer Vergangenheit zahlreiche Überschneidungen mit den Erstgenannten aufwiesen. Der NS-Bewegung gegenüber gleichgültig bis feindlich eingestellt gewesen, stellten sie plötzlich nach dem 11. März 1938 fest, dass da schon immer eine NS-Affinität in ihnen geschlummert hatte, die nun vollends geweckt wurde. Die Beliebtheitswerte der NSDAP schnellten nach dem Anschluss in die Höhe. Plötzlich sah sich die Partei mit zahlreichen Parteianwärtern konfrontiert. Dass der Gesinnungswandel nicht auf einer spontanen NS-Erleuchtung basierte, war den alten Parteigenossen sehr wohl bewusst. Der Terminus technicus für diese Art Parteianwärter war Märzveilchen. Es waren Menschen, die ausgerechnet nach dem Anschluss auf wundersame Weise plötzlich nationalsozialistisch gesinnt in ihrer ganzen braunen Pracht aufblühten. Neben Märzveilchen gab es noch die Bezeichnungen Konjunkturritter, Hemdwechsler und Farbkasteln. Blicken wir zwanzig Jahre zurück in das Jahr 1918, als die Monarchie „den Bach runter ging“, so stoßen wir auch hier auf Menschen, die plötzlich schon immer Republikaner und Demokraten gewesen sein wollten. Ein Spottname dafür war: Novemberdemokraten. Aber zurück zu den Märzveilchen. Formulierungen wie die folgende fanden sich des Öfteren für diesen Typ Anwärter in den Beurteilungsbögen: Ob dies aber seiner wahren Gesinnung entspricht oder ob ihn auch jetzt noch materielle Interessen bestimmen, lässt sich nicht entscheiden. Die vorläufige Conclusio: Gleichwohl steht fest, dass Steigner kein Mann ist, der sich unbekümmert um die wirtschaftlichen Folgen zu einer Weltanschauung bekennt und an ihr festhält.1 Bei dem Genannten handelte es sich um den Gastwirt Heinrich Steigner. Vor 1933 1
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machte er keinen Hehl aus seiner Sympathie für die NSDAP und stellte Räumlichkeiten für Parteiveranstaltungen zur Verfügung. Nach dem Parteiverbot agierte er zurückhaltender und nach dem Juliputsch 1934 drohte er sogar, dass er Nationalsozialisten mit eigenen Händen erwürgen wolle. Mit dem Ständestaat kam er infolgedessen ganz gut zurecht. Nach dem Anschluss erwuchsen dann wieder die braunen Sympathien. Ein hohes Ansehen genossen diese Personen nicht. Vor allem dann, wenn sie ihren Gesinnungswechsel zu plump darboten bzw. schon früher mit politischer Flexibilität geglänzt hatten. Otto Zazel engagierte sich von 1918 bis 1934 bei der SDAP und liebäugelte ab 1934 mit der Heimwehr. Selbst nach dem Anschluss habe dieser sich ebenso um die Bewegung nie gekümmert. Als vor einigen Wochen eine Trafik ausgeschrieben wurde, für die sich Zazel sehr interessierte, hat er seine nat. soz. Gesinnung entdeckt. Er war nie ein Freund der Arbeit und ist nur Egoist. Charakterlich und gesinnungsmäßig ist er als minderwertig zu bezeichnen.2 Es musste nicht einmal der Fall sein, dass die Genannten der NSDAP beizutreten gedachten, um politisch als Wendehälse gebrandmarkt zu werden. Franz Schreiber, anfänglich rot sozialisiert, wechselte dann zu tiefschwarz, wurde Mitglied der Vaterländischen Front und des Freiheitsbundes (der bewaffnete Arm der christlichsozialen Arbeiterschaft), stieg dort zum Kompanieführer auf und trat jeweils im Februar 1934 als auch im Juli 1934 in Aktion, um mit geschultertem Gewehr zuerst die sozialistischen und danach die nationalsozialistischen Putschgelüste in die Schranken zu weisen. Das Urteil nach dem Anschluss konnte eindeutiger nicht ausfallen, der Genannte war politisch unverlässlich und für die Bewegung untragbar. Es ist auch von ihm nicht zu erwarten, dass er sich für unsere Bewegung restlos einsetzt.3 Bei August Scherz konnte man sich gar ein wenig Ironie nicht verkneifen. Über seine frühere Parteizugehörigkeit wäre zu sagen, dass er superrot und in der Systemzeit vaterländisch eingestellt war.4 Doch nicht immer war es von vornherein ein Ausschließungsgrund, wenn Menschen einen fluiden Zugang zu politischen Inhalten aufwiesen. Ähnliche Lebensläufe wie die oben beschriebenen konnten auch ganz gelassen zur Kenntnis genommen werden. Der in Baden wohnhafte Rudolf Tripin galt als klerikal, war von Beruf Postassessor, von 1924 bis 1938 Mitglied der Männerkongregation, zugleich von 1930 bis 1933 bei der SDAP und 1933 bis 1938 beim Kartellverband der kath. Studentenverbindungen. Nach dem Anschluss war er Mitglied bei der NS-Volkswohlfahrt (NSV), dem Reichsbund der Deutschen Beamten (RDB), dem NS-Rechtswahrerbund (NSRB), dem Reichskolonialbund (RKB), dem Reichsluftschutzbund (RLB) sowie beim „Verein für deutsche Kulturbeziehungen im Ausland“ (VDA). Besonderes Interesse erweckte seine dreijährige Mitgliedschaft bei den Sozialisten. Er war doch ein Klerikaler! Darauf angesprochen, stand in der Beurteilung vom November 1941 zu lesen: Seine Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei und zu allen übrigen Organisationen diente nur zu dem Zweck, rascher vorwärts zu kommen. Dies ist ihm 2 3 4
Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Zazel Otto (geb. 1890). Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Schreiber Franz (geb. 1900). Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Scherz August (geb. 1880).
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auch gelungen.5 Für das NS-System war er dennoch tragbar. Einzig höhere Posten sollten ihm verwehrt sein. Von einem minderwertigen Charakter ist in seinem Fall nichts zu lesen. Die NSDAP musste sich nicht nur eines Zustroms an Menschen erwehren, deren politische Einstellung einem Fähnchen im Wind glich. Der „Angriff“ von außen und damit die Gefahr, dass die NSDAP von innen durch solche Elemente zersetzt werden könnte, konnte aber nur von Erfolg gekrönt sein, wenn es bereits innerhalb der eigenen Reihen charakterlich defizitäre Parteigenossen gäbe. Und die neuen Machthaber wussten um ihre Pappenheimer. Josef Bürckel holte nicht umsonst an die 120 Kreisleiter aus dem Altreich. Beratenden Dienst sollten sie erweisen, aber ebenso kontrollieren und den Brüdern aus der Ostmark auf die Finger schauen. Das Misstrauen war nicht unbegründet. Schließlich wussten Bürckel und Konsorten nur zu gut, dass sich Geschichte wiederholt. Während sich die Ostmark mit ihren Märzveilchen 1938 herumschlagen musste, blühten jene im Altreich schon vor fünf Jahren auf. Zuerst im Jänner 1933, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, und abermals im März 1933 nach der Reichstagswahl. Trotz des gleichen Monats hießen sie im Altreich nicht Märzveilchen, sondern Märzgefallene. NS-Eiferer schäumten auch dort über die Flut an plötzlichen Sympathisanten. Für die „echten“ Nationalsozialisten waren es gesinnungslose Elemente, die den wahren Kampf nicht kannten und nicht einmal wussten, worum es ging.6 „Belastete“ Individuen – aus Sicht des NS-Staates –, die dennoch ein Stück vom braunen Kuchen abbekommen wollten, versuchten zuerst bei alten Bekannten oder Familienmitgliedern vorstellig zu werden, wenn jene Parteimitglieder waren. Man konnte vorfühlen, wie die eigenen Chancen standen, was man machen könnte und was nicht. Die Gegenseite zeigte sich nicht abgeneigt, oftmals kooperativ. Schließlich wurden die Bittsteller dadurch zu Schuldnern, von denen man Loyalität erwarten durfte. Und da das neue Regime Mitarbeiter brauchte, konnten von Fall zu Fall ein oder beide Augen zugedrückt werden. In manchen Fällen machten alte Parteigenossen noch weitaus mehr. Der Badener Kaufmann Fritz Ferdinand Stellbogen konnte sich nach dem Anschluss einer niedrigen Parteinummer erfreuen. Politik spielte eher eine untergeordnete Rolle, ausschlaggebend war ein Freundschaftakt. Einem alten Bekannten, dem Ortsgruppenleiter Mayringer von Am Hang (Mauer bei Wien), sei gedankt. Er schmuggelte Fritz Ferdinand Stellbogen bei der SS ein, machte aus ihm einen Illegalen und von dort war es nur mehr ein Katzensprung zur NSDAP-Parteimitgliedschaft. Dem Glückspilz konnte er dann ausrichten, dass das mit der SS und mit der Partei in Ordnung sei, da er die Sache geschaukelt und gerebelt habe.7 Damit war Fritz Ferdinand Stellbogen am Papier ein Illegaler sowie SS- und NSDAP-Mitglied. Nach 1945 musste er diesbezüglich Rede und Antwort stehen. 5 6
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StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Tripin Rudolf (geb. 1903). Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 276, 285 und BAUER, Die dunklen Jahre, S. 129 und THAMER Hans-Ullrich, Die NSDAP. Von der Gründung bis zum Ende des Dritten Reiches (München 2020), S. 74. Vgl. StA B, GB 052 Polit. Beurteilungen. Stellbogen Fritz Ferdinand (geb. 1898).
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Widersprüchlich und undurchsichtig war die Einstellung von Karl Stöhr, Eichamtsleiter in Baden. Einerseits wird er als zuverlässiger Nationalsozialist beschrieben, andererseits als ein Mann der Systemzeit, ein Freund Kollmanns, der für die Schwarzen Spitzeldienste geleistet hatte. Wenn wir ihn selbst zu Wort kommen lassen, kommt genauso wenig Licht ins Dunkle. Im Juni 1939 beschrieb er sich wie folgt: Ich selbst bin bei alten illegalen Pg. seit der Verbotszeit, ja sogar bis 1924 wegen meiner nationalen Einstellung bekannt und erliegen bei der Ortsgruppe Baden Stadt eidesstattliche Erklärungen von 8 Pg. sowie eine Bestätigung des Pg. Schmid Bürgermeister von Baden über meine Einstellung während der Verbotszeit. Im April 1947 klang dies alles etwas anders. Im Mai 1938 wurde ich als Vorstand der Eichämtergruppe Baden […] wegen meiner antinationalsozialistischen Einstellung und durch meine Besuche bei den Donnerstagrunden, sowie meine Beziehungen mit Führern der Christlichsozialenpartei denunziert und […] meines Amtsleiterpostens enthoben.8 Als letztes Beispiel sei noch der Fall Richard Müller erwähnt – jener Mann, der am Anschlusstag als Frontmilizkommandant Dienst führte. Nach seiner kurzeitigen Karriere bei der NSDAP, die mit dem Verbot 1933 ein jähes Ende nahm, fand er seine neue Heimat beim Freiheitsbund, gefolgt von der Frontmiliz. Seine Verbindung zur NS-Bewegung brach er jedoch nicht vollständig ab, er und seine Frau betätigten sich illegal. Allerdings machte ihn sein aktiver Dienst an der Waffe auf Seiten der Frontmiliz zu einem Verräter. Nach dem Anschluss wurde er trotz seiner Illegalität von seinem Beamtenposten aus der Krankenkasse entfernt. Für die einen gehörte Richard Müller zu jenen Leuten, die in erster Linie ausschließlich das Wohlergehen ihres eigenen Ichs kennen. Er war zuerst Sozialdemokrat, später Nationalsozialist, und zuletzt hielt er es mit dem System nach außen hin, innerlich war er weder das eine noch das andere jemals gewesen. Im Beruf und in der Öffentlichkeit unterließ er nichts, um den Schwarzen seine Loyalität und Ergebenheit zu bezeugen. Nationalsozialisten gegenüber zeigte er sich als Nationalsozialist und gab Spenden, um auch dem Eventualitätsfalle Rechnung zu tragen.9 Andere sahen es anders. Ich kenne den Müller stets als nationalen Menschen und bin erstaunt, dass man solche Leute um Brot und Verdienst bringt. […] Wäre Fr. Müller und auch ihr Mann nicht eines Sinnes mit mir gewesen, so würde ich wahrscheinlich einmal öfters im Arrest gewesen sein.10 Sein Antrag auf Wiederaufnahme in die Partei wurde durch das Kreisgereicht im Jänner 1940 – trotz beantragtem Selbstreinigungsverfahren – abgelehnt. Seine Entfernung aus der Krankenkasse bezeichnete man als hart, aber: In unserer Bewegung jedoch hat er wegen schweren Charaktermängeln keinen Platz.11 Seine Charakterisierung ist fast schon ein Schulbeispiel an menschlichen Wirrungen zwischen 1938 und 1945 in Österreich. So sind durchwegs die Aussagen von alten Kämpfern der NSDAP., die Müller in der Systemzeit teilweise unterstützte und denen er auch Spenden gelegentlich von Sammlungen zukommen ließ, sowie 8 9 10 11
StA B, GB 052/Personalakten: Stöhr Karl (geb. 1891). StA B, GB 052/Personalakten: Müller Richard – Bericht Gauleitung (09.12.1938). Ebd. – Franz Böheimer (geb. 1912) Aussage (03.11.1938). Ebd. – Bericht Gauleitung (09.12.1938).
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illegale Flugblätter und Schriften abnahm, sehr günstig und stellen Müller zweifellos als Nationalsozialisten hin. Dagegen sind jedoch die Aussagen der Parteigenossen, die im gleichen Amte angestellt waren nur gegen Müller gerichtet und heben seine betont vaterländische Betätigung und Verkehr mit Systemgrößen hervor. […] Nach Erwägung sämtlicher Zeugenaussagen ergibt sich, dass Müller außer Zweifel der Bewegung nahegestanden hat, für diese auch Opfer brachte, jedoch umgekehrt eine Rückendeckung im gegnerischen Lager suchte. Diese Charakterstudie mündete am Schluss, wenn man so will, ins Klischeehaft-Österreichische ab. Müller dürfte ein Mensch sein, der besondere Freude daran fand, eine Uniform tragen zu dürfen, weshalb er auch dieser Formation und später auch der Miliz beitrat.12 * Das Verhalten gegenüber den Märzveilchen war vielfältig. Als Märzveilchen tituliert oder selbst nur in Verbindung gebracht zu werden, galt als massive Beleidigung. Bei der Hochzeit eines Kameraden machte Josef Holler in Richtung Alois Schwabl sen. genau solch eine Andeutung. Ja, wir kennen die Nazi von den 11. auf den 12. März. Von denen sind sie auch einer.13 Das Parteigericht wurde eingeschaltet um die Ehre Schwabls wiederherzustellen. Letztendlich genügte eine persönliche Aussprache, und der Gekränkte zog die Anklage zurück. Franz Schmid gab sich dahingehend kulanter. Besonders über Mitgliedschaften bei der Vaterländischen Front sah er großzügig hinweg, da eine reine Mitgliedschaft tatsächlich noch nichts aussagte. Erstens waren es oft erzwungene Gruppenbeitritte ganzer Vereine, Kammern, Gliederungen gewesen und zweitens hatte Schmid Verständnis, dass Menschen dadurch einen Arbeitsplatz finden oder nicht verlieren wollten. Er hatte kein Problem damit, wohlwollende Schreiben in diesen Causae auszusetzen.14 In anderen Fällen war man nicht so großzügig. Als ein Badener Geschäftsmann, dessen christlichsoziale Gesinnung außer Frage stand, durch Bestechung den Status eines Illegalen ergattern wollte, griff die NSDAP zu einem öffentlichkeitswirksamen und abschreckenden Exempel. Der Betroffene wurde gezwungen, in seinem Schaufenster zu sitzen, mit einer Tafel in der Hand, an der jeder Vorbeikommende sein Vergehen ablesen konnte.15 Gertrud Maurer wohnte gleich vis a vis. Ganz verstand sie das nicht und fragte nach. Ihre Mutter sah das Inhumane, der Vater sah es als ein Zeichen, dass die Partei aufrichtig, ehrlich und unbestechlich sei.16 Wie auch immer der Umgang mit solchen Parteigenossen war, eines war gewiss, egal ob in Deutschland 1933 oder in Österreich 1938, die Märzveilchen und Konjunkturritter wussten um ihren Ruf. Ferner wusste es die NSDAP, die Betroffenen wussten, dass die 12 13 14 15 16
Ebd. – NSDAP-Kreisgerichtsbeschluss (24.01.1940). Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Holler Josef (geb. 1900). Vgl. StA B, Personalakten Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz 1938 und 1939. Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 32. MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 8.
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NSDAP es wusste und die NSDAP wusste, dass die Betroffenen es wussten. Den Makel, ein Märzveilchen zu sein, abzuschütteln, war ein primäres Ziel ebendieser. Es galt, seine Loyalität und Treue unter Beweis zu stellen. Man musste nationalsozialistischer werden als die Nationalsozialisten. Um den neuen Machthabern Zuverlässigkeit und Ergebenheit vor Augen zu führen, bot es sich unter anderem an, Gegnern der NS-Bewegung das Leben möglichst schwer zu machen. Vermehrte Anzeigen, Denunziation und Gewaltanwendung waren beliebte Akte, um seine nationalsozialistische Gesinnung öffentlich zur Schau zu stellen. Das konnte auch dazu führen, dass sich die alten Kämpfer nun etwas zurücknehmen konnten.17 Ferdinand Gerl war einer von denen, die sich beweisen mussten. Im Ständestaat marschierte er bei Umzügen in seiner österreichischen Fähnrichuniform mit und legte ein, wie es im Akt niedergeschrieben wurde, unsoziales Verhalten an den Tag. Nach dem Anschluss dann der Wandel. Sein Verhalten nach dem Umbruch hat sich insofern geändert, als er seinen Kameraden gegenüber ein sozialeres Benehmen an den Tag legte und bei der eingeleiteten Judenaktion in verdienstvoller Weise teilnahm.18 Obwohl sein Verhalten nun in einem weitaus günstigeren Licht erstrahlte, war trotzdem Vorsicht geboten. Vergleichbare Loyalitätsbekundung „musste“ auch der ehemalige Sozialist Franz Werner hinlegen. Er schikanierte Juden, denunzierte Volksgenossen und ging eigenhändig gegen Ende des Krieges mit gezogener Waffe gegen jene vor, die vor den anrückenden Sowjets flüchten wollten. Aber wen wundert‘s schließlich, hieß es über ihn, als er 1919 bei den Daimler-Werken Betriebsrat wurde: Sozialismus war für ihn immer nur ein Mittel zum Selbstzweck. […] Vom Jahre 1934 ab wurde er gut „vaterländisch“. Seine Charaktereigenschaften werden mit großmaulig und hinterlistig bezeichnet. Man könnte für ihn fast den Ausdruck „Kreatur“ gebrauchen.19 In die Offensive ging auch Franz Duchan, der als Offizier bei der Heimwehr nach dem gescheiterten Juliputsch 1934 großspurig verkündete, NS-Anhänger aufzuknüpfen oder solange zu treten, bis ihnen die Gedärme aus dem Leib quellen würden. Nach dem Anschluss versuchte er, seine gegnerische Einstellung zur NSDAP dadurch wettzumachen, dass er sich, wo es nur irgendwie möglich war, als Mitglied aufnehmen ließ. Über seine derzeitige Einstellung der NSDAP gegenüber muss in erster Linie betont werden, dass Duhan nach außen hin sich als verbissener Nationalsozialist aufzuspielen versucht [...].20 Noch verbissener legte sich wohl nur noch Dr. Karl Zeller ins Zeug, Sohn des in Baden lebenden Komponisten Carl Zeller (1842–1898). Finanziell abgesichert durch die Tantiemen väterlicher Werke konnte er es sich erlauben, seinen richterlichen Vorbereitungsdienst abzubrechen, die Leitung der Buchhandlung seines Schwagers zurückzulegen und sich nur mehr der Schriftstellerei zu widmen. Bis zum Anschluss war er christlichsozial eingestellt, 17 Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 307. 18 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Gerl Ferdinand (geb. 1898). 19 StA B, GB 052/Personalakten: Werner Franz (geb. 1887); Mappe I – Kreisleitung an Gauleitung (27.01.1939) 20 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Duchan Franz (geb. 1882)
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danach machte es „klick“. Das Klicken ist deutlich in der Anklageschrift 1948 zu hören, lesen wir deswegen etwas hinein. In der neuen Zeit erkannte er ein reiches Betätigungsfeld für seinen Geltungsdrang […]. Wiewohl seine Aufnahme in die Partei zweimal abgelehnt worden war, vermochte er durch angebliche Machenschaften endlich sogar eine Parteimitgliedsnummer aus dem Ostmarkblock (6.169.097) zu gewinnen. Er wurde […] Geschäftsleiter des Kreiswirtschaftsamtes der Kreisleitung Baden und später Mitarbeiter des Gauwirtschaftsamtes in der Sparte Land- und Forstwirtschaft. Beide Funktionen übte er ehrenamtlich aus. Da er aber Funktionär der Hoheitsverwaltung der NSDAP war, legte er sich eine Phantasieuniform zurecht, zu der er die Tellerkappe der politischen Leiter der Partei trug und anfangs auch Sporen. Er war als ein eifriger Mitarbeiter bekannt, Antisemit und Du-Freund des Landrates Wohlrab von Baden. […] Sein Geltungsdrang ließ ihn in Ämtern der Partei arbeiten, von denen er nichts verstehen konnte, wie seine Stellung im Forstwesen beweist. Sein politischer Wandel glich einem radikalen Erweckungserlebnis. Mit seiner christlichsozialen Vergangenheit hatte er radikal gebrochen. Freunde und Bekannte erkannten ihn nicht wieder. Jemand, der alle Brücken hinter sich abgerissen hatte, war nun dem Neuen auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Das bedeutete, dass er auch aus Parteidisziplin das System stützen musste, wenn es, seiner Meinung nach, bedroht war oder dessen Anordnungen nicht befolgt wurden.21 Und dies wiederum bedeutete, andere Menschen zu denunzieren, sie auf Linie zu bringen, dafür zu sorgen, dass sie bei Zuwiderhandeln hinter Gitter landeten, in der Psychiatrie oder dem KZ. * Alle die vorgebrachten Behauptungen, dass man schon immer der NS-Bewegung nahegestanden habe, mussten nach ihrem Wahrheitsgehalt untersucht werden. Es waren nicht nur Märzveilchen, die Schreib- und Recherchearbeit verursachten. Allein durch das Verbot der NSDAP bzw. des Betätigungsverbotes der Partei 1933 war nach dem Anschluss nicht ganz klar, wer nun Mitglied war und wer nicht bzw. nicht mehr. Was sollte mit jenen Parteimitgliedern passieren, die es bis 1933 waren, dann nicht mehr und es 1938 wieder werden wollten? Musste man sich neu bewerben? Theoretisch ja. Bekam man seine alte Parteinummer? Vielleicht. Jedenfalls war dieses Feld ein wunderbarer Nährboden für allerlei Freunderlwirtschaft, Nepotismus und jegliche Form von Schindluder. Aber es gab noch eine weitere Gruppe, die kostbare Zeit in Anspruch nehmen konnte. Es waren jene Anhänger der NS-Bewegung, die zwischen 1933 und 1938 aufgrund begangener Straftaten eingekerkert bzw. aus Österreich zu tausenden geflüchteten waren und sich im Deutschen Reich der „Österreichischen Legion“ angeschlossen hatten und am liebsten heute statt morgen in der Ostmark einmarschiert wären. Zu ihnen gehörte beispielsweise August Hiden, Partei- und SA-Mitglied sowie Banngeldverwalter der HJ. 1934 floh er über Jugoslawien per Schiff ins Altreich, nachdem er zu den Putschisten vom Juli 1934 gehört 21 StA B, GB 052/Personalakten: Dr. Zeller Karl (geb. 1876) – Anklageschrift (12.08.1948).
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hatte. In der Österreichischen Legion blieb er bis 1938.22 Er war einer von 116 Legionären aus dem Bezirk Baden und einer von 44 aus der Stadt Baden.23 Menschen wie er trugen heißbegehrte „Titel“ wie Alter Kämpfer, Illegaler oder Blutordenträger – allesamt Personen, die vor dem Verbot 1933 der Partei beigetreten waren, sich illegal betätigt hatten und dafür verfolgt und eingekerkert worden waren. Solche Menschen durften sich einiger Privilegien erfreuen bzw. auf Wiedergutmachung pochen, für die Verluste, die sie durch Haft, Flucht und Exil erlitten hatten. Dabei ging es um finanzielle Entschädigung, einen gut bezahlten Arbeitsplatz oder eine lukrative Immobile mittels „Arisierung“. Dass die Zugehörigkeit zu diesem erlesenen Kreis höchst attraktiv erschien, lockte wiederrum zahlreiche Charaktere an, deren Integrität Mängel aufwies. Denn alleine Parteimitglied zu sein, reichte nicht aus. Alter Kämpfer oder Illegaler zu sein, war meistens deckungsgleich mit dem Besitz einer niedrigen Mitgliedsnummer. Für viele ehemalige Nationalsozialisten, die 1933 ausgetreten waren, begann nun der Kampf um ihre alte Parteinummer. Hinzu kamen Personen, die irgendwann zwischen 1933 und 1938 irgendwo in der Stadt ein Hakenkreuz hingeschmiert hatten oder in den vier Jahren einen Obolus geleistet hatten und dadurch überzeugt waren, einen Platz an der braunen Sonne für sich beanspruchen zu können. Im April 1938 gab die Badener Zeitung deutlich zu verstehen: Es wird ausdrücklich betont, dass es sich dabei nur um solche Personen handelt, welche die Mitgliedsbeiträge für die NSDAP fortlaufend bezahlt haben, nicht aber um jene, die gelegentlich Spenden gaben.24 Neben den zum Teil sehr plumpen und durchschaubaren Versuchen als Illegaler oder Alter Kämpfer aufzuscheinen, erreichten die NSDAP Schreiben, die die Martyrien der durch den Ständestaat verfolgten Nationalsozialisten zum Thema hatten. Adressaten waren die Ortsgruppen, der Kreis oder die Gauleitung. Zu lesen war von Geschäftsboykotten gegenüber anständigen Nationalsozialisten, die nur ihrer Gesinnung gefolgt waren, von Konzessionsverlusten, Geldeinbußen, Kündigungen, Demütigungen und sonstigen Gewalterfahrungen. Es wären besonders Juden gewesen, die einen ausgebeutet und bisweilen um sämtlicher Güter, das Einkommen, das Erbe oder das gesamte Obdach gebracht hätten. Damit stand für die Antragsteller außer Frage, bei „Arisierungen“ musste man bevorzugt behandelt werden. Solchen Schilderungen waren oftmals Empfehlungsschreiben und Bestätigungen anderer Parteimitglieder beigelegt, um dem Geschriebenen mehr Gewicht zu verleihen. Mit der Zusage einer fixen „Arisierung“ war das NS-Regime eher zurückhaltend. Die Zahl an geraubten Häusern, Wohnungen und Geschäften war begrenzt. Anders sah es bei monetärer Entschädigung aus. Walter Lederer trat 1932 der Partei bei und war ein Jahr später Teilnehmer einer NS-Kundgebung in Baden, die außer Kontrolle geriet und bei der sogar ein Schuss abgefeuert wurde. Die Anklage stand schon fest, doch der Beschuldigte 22 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Hiden August (1910–1982) und NSDAP-Karteikarten groß. 23 Vgl. SAFRANEK Hans, Wer waren die niederösterreichischen Nationalsozialisten. Biographische Studien zu NSDAP-Kreisleitern, SA und SS (St. Pölten 2020), S. 19 u. 21. 24 BZ Nr. 35 v. 30.04.1938, S. 2.
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konnte fliehen – heim ins Reich und ab zur Legion. Nach dem Anschluss gab es für ihn 594 RM Wiedergutmachung.25 Mehr erhielt der Croupier Hans Halmar. Im Jahr 1932 schloss er sich der NSDAP an, 1934 der SS und 1937 erfolgte die Flucht ins Großdeutsche Reich. Er bekam 1.500 RM Wiedergutmachung, einen Posten als Kriminalbeamter in Wien, und in der SS stieg er zum Oberscharführer auf.26 Ein weiterer Mann, der auf Wiedergutmachung drängte, war Theodor Nachtnebel (Exekutivkomitee). Wegen illegaler Aktionen saß er 1934 sechs Wochen in Haft. Ein Jahr später gelang ihm die Flucht zur Legion. 1938 stellte er einen Entschädigungsantrag bei der Kreisleitung, der von dort an die Wiedergutmachungsstelle der Gauleitung weitergereicht wurde. Errechnet wurde ein wöchentlicher Einkommensverlust von 67,5 Schilling, das machte bei der angegebenen Haftdauer nach Adam Riese 1.620 Schilling aus, in Reichsmark waren es 1080. Hinzu kam die Entlohnung für den Dienst in der Legion, jeweils 50 Pfenning pro Tag. Hochgerechnet auf drei Jahre, kam eine weitere Summe von 1.000 RM hinzu. Sein Antrag wurde von der Ortsgruppe wärmstens befürwortet.27 Auch wenn das Geld locker saß, Krösus war man keiner. Beim Thema Wiedergutmachung war die NSDAP auf Genauigkeit bedacht. Als Josef Stockhammer 30.000 RM Wiedergutmachung verlangte, reagierte die Partei irritiert. Der Genannte war zwar Nationalsozialist, allerdings war er zwischen 1934 und 1938 keinen einzigen Tag hinter Gittern gewesen. Einzig im Jahre1933 hatte er eine kurze Haftstrafe verbuchen müssen. Josef Stockhammer nannte als Grund für die geforderte Summe die horrenden Geschäftseinbußen während der Systemzeit. Die NSDAP sah es differenzierter. Für sie befand sich sein Betrieb ohnehin am absteigenden Ast. Außerdem hatte der Antragssteller einen gewissen Ruf. Ferner ist Pg. Stockhammer als fleißiger Heurigen Schenker-Besucher bekannt, welches Vergnügen immerhin mit Geld verbunden ist, noch dazu, wenn schlechter Geschäftsgang beklagt wird. Die Wiedergutmachungssumme wurde auf 5.000 RM reduziert. Denn, so die zuständigen Stellen vorausschauend: Welche Summen müsste unsere Kämpfer der Bewegung erstellen, die jahrelang in Kerkern schmachteten.28 Aber auch seriöse und integere Nationalsozialisten mussten damit rechnen, dass ihre angegebene Illegalität einer Überprüfung unterzogen werden würde. So wie bei Hans Meissner sen., Vater von „unserem“ Hans Meissner. Der Senior war insgeheim ein illegaler Parteigenosse, aber zugleich Funktionär der Vaterländischen Front. Dies musste nach dem Anschluss geklärt werden, selbst seine Familie hatte von ersterem nichts gewusst. Es war eine Überraschung, als der Vater sie ein paar Tage nach dem Anschluss am Mittagstisch damit konfrontierte. Zeichen dahingehend hatte es allerdings genug gegeben. Hans 25 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Lederer Walter (geb. 1907). 26 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Halmar Hans (geb. 1914) 27 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Nachtnebel Theodor – Kreisleitung an Wiedergutmachungsstelle (22.11.1939) 28 StA B, GB 052/Personalakten: Stockhammer Josef (geb. 1881) – Kreiskassenleitung an Kreisleiter Ponstingl (11.04.1939)
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Meissner jun. war Hitlers „Mein Kampf“ nicht unbekannt. Das Buch war in Österreich verboten, doch in der Aktentasche seines Vaters war es zugegen – aus der es der Sohn regelmäßig „ausborgte“. Auch Äußerungen des Vaters nach einem Theaterbesuch, als er empört feststellte, dass sie die einzigen Arier waren, unterstrich eine Nähe zu NS-Gedankengut. Anderseits, der familiäre Hintergrund war protestantisch und großdeutsch. Antisemitismus, Nationalismus, Anschlusswünsche und Großreichfantasien waren in diesem Milieu nichts Außergewöhnliches. Am Mittagstisch erklärte der Senior, von einem Bürokollegen unter dem Vorwand einer Spende für den Alpenverein in Wirklichkeit in die NSDAP eingetragen worden zu sein. Damals, so Meissner jun., bestand kein Grund, es ihm nicht zu glauben. Die Skepsis kam später – und das berechtigt. Sein Vater war Verkaufsleiter in der Oetker-Fabrik, NS-Anhänger, sowie ab 1937 illegaler Parteigenosse. Als es darum gegangen war, einen Amtswalter der Vaterländischen Front bei der Oetker zu installieren, um dort (im wahrsten Sinne des Wortes) nach den Rechten zu sehen, war der Betriebsführer Dr. Walter König an ihn herangetreten und hatte ihn gebeten, diese Aufgabe zu übernehmen.29 Für König gehörte Meissner sen., der Mitglied der Deutschen Turner und des Deutschen Volksgesangsvereins war, zu jenen Menschen, deren völkische Gesinnung einwandfrei feststand und von welchen angenommen werden konnte, dass sie alle Bemühungen von außen her, die Gefolgschaft der Firma Oetker auch innerlich für die Ziele und Zwecke der VF zu gewinnen, passiven Widerstand entgegensetzen werden. Um eine weitere Lanze für Meissners deutsche Gesinnung zu brechen, fügte Walter König hinzu: Er hat sich begreiflicherweise, wie jeder anständige Mensch dagegen gewehrt, schließlich aber eingesehen, dass es immer noch ein kleineres Uebel ist, wenn schon jemand nach außen hin eine Funktion übernehmen muss, dann soll das ein Mann sein, auf den man sich verlassen kann.30 Meissner sen. gehorchte und wurde Amtswalter der Vaterländischen Front innerhalb der Oetker-Fabrik. Während seiner, wenn auch kurzen, Amtszeit, war kein einziger Nationalsozialist aufgeflogen. Dabei wies der Betrieb bei einer Belegschaft von 60 bis 70 Mitarbeitern eine illegale NS-Zelle mit 18 Mitgliedern auf. Wie in anderen Fällen auch, geriet nach dem Anschluss als erstes seine Amtswalterschaft bei der VF in den Fokus. Erst im Juni 1939 wurde Meissner sen., nachdem das Kreisgericht sich seiner Illegalität versichert hatte, ohne Wenn und Aber offizielles Parteimitglied. Dass die Illegalität zwischen 1938 und 1945 von Vor-, aber nach 1945 von Nachteil war, musste dann auch Meissner sen. erfahren. Der Junior erinnerte sich daran, wie ihn sein Vater nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches nach Wien schickte, um jenen Arbeitskollegen zu treffen, der den Senior so hinterrücks in die NSDAP eingeschleust hätte. Jener verwahrte einen Geldbetrag, eine dringend benötigte Finanzspritze für den nun in Kärnten mittellos dastehenden Meissner sen. Dass der Vater den Sohn schickte und nicht selbst hinfuhr, lag daran, dass der Arbeitskollege in der russischen Zone wohnte und als 29 Walter König (geb. 1897) 30 StA B, GB 052/Personalakten: Meissner Hans (geb. 1889) – König an Partei-Kreisgericht (06.05.1939)
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Illegaler scheute Meissner sen. das Gebiet wie der Teufel das Weihwasser. Als Meissner jun. den Mann traf, gab er Jahre später wohl mit einem Lächeln zu Papier, war es eine Pointe, die mehr als tausend Worte einer Milieustudie ersetzt: […] Der [Arbeitskollege des Vaters] war inzwischen zu einem Mitglied der Widerstandsbewegung mutiert!31 * Liebe Leser, liebe Leserin, es gäbe noch so einige Märzveilchen und Illegale, und wir werden noch oft genug auf sie stoßen. Ich begnüge mich mit dem Vorgebrachten und hoffe, ein ausreichendes Panorama an Aktionen und Reaktion nach dem Anschluss gegeben zu haben. Wollen wir nun etwas weiter in der Zeit gehen. Das Jahr 1938 bzw. das NS-Jahr1938 hatte schließlich erst begonnen.
31 StA B; Oraly History 1933–1955, Hans Meissner Matura RAD Studium, S.2
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Kapitel 6 Der erste Sommer unter dem Hakenkreuz oder: Von der Kunst, Trauben zu pressen, Arbeit zu schaffen, Beethoven zu ehren und das Ganze unter einen Hut zu bringen
Selbst wenn nicht alles nach Wunsch lief, nicht jeder Posten neu besetzt werden konnte, man sich mit Märzveilchen, Konjunkturrittern und sonstigen Farbkastln abmühen musste – die Gleichschaltung passierte. Dass sich vereinzelt jemand gegen seine Entlassung oder Zwangspensionierung auflehnte, war vernachlässigbar. Zu den wenigen Ausnahmen (die die Quellen hergeben) gehörte die Hebamme Hedwig Grier aus dem Zitaheim in Baden. Sie setzte sich gegen ihre Entfernung im Sommer 1938 zur Wehr und schaltete ihren Rechtsanwalt, Dr. Oskar Stöger ein. Vor dem Anschluss hatte sie Hitler als einen Verbrecher, Homosexuellen und als Schwein bezeichnet. Nach dem Anschluss wurde sie denunziert und gekündigt. Sie legte Beschwerde ein und dies gleich bei Josef Bürckel höchstpersönlich. Zeugen wurden geladen und vernommen. Das Hebammen-Gremium und der Anstaltsleiter Dr. Walter Reiffenstuhl sen. sprachen sich für sie aus. Sie sahen in ihr ein Opfer böswilliger Denunziationen. Das eingeschaltete Hebammen-Gremium verlangte sogar, dass die Denunzianten bestraft werden sollten, anstatt ihre verdiente Arbeitskollegin. Ihr Fall beschäftigte die Kriminalpolizei, die Gestapo, die Kreisleitung und die Gauleitung vom Juli 1938 bis zum August 1939. Nicht wissend wie man vorgehen sollte, verwiesen die gerade damit beschäftigten Stellen auf die jeweils nächsthöhere Stelle, um sich aus der Affäre zu ziehen. Zuletzt lesen wir davon, dass Gauleiter Hugo Jury den Fall zur Chefsache erklärte.1 Aber wie gesagt, das waren Streiflichter am Horizont. Wegen so etwas ließen sich die neuen Machthaber nicht aufhalten, jedenfalls nicht Badens Bürgermeister Franz Schmid. Seine Ankündigungen, Versprechungen und salbungsvollen Worte vom März und April, sollten in den folgenden Monaten nicht verstummen. In einer Rede vom 28. Mai waren die gleichen Ansätze zu finden. Um dem zu entsprechen, brauchte es massive Investitionen, einen massiven Ausbau der gesamten Kuragenda und die Forcierung einer ausgeklügelten Werbekampagne. Die NSDAP-Unterorganisation der Deutschen Arbeiterfront (DAF) Kraft durch Freude (KdF) plakatierte: „Auch du kannst reisen“. Also ab in den Zug, und los ging’s Richtung Baden! Egal, ob aus dem Altreich oder der Ostmark. Für die Gäste spielte am Bahnhof die NS-Musikapelle auf, selbst wenn es nur der Berliner Kleingärtner-Verein 1
Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Grier Hedwig (geb. 1892)
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war, der der Kurstadt einen Besuch abstattete. Es war eine Aufbruchsstimmung. Alle mussten mithelfen. Die Volksgenossinnen und Volksgenossen wurden in die Pflicht genommen. Ordnung und Sauberkeit waren Programm. Der Kurort könne nur im neuen Glanz erstrahlen, wenn endlich der Hundekot vom Trottoir verschwinde. Die Stadtverwaltung ging mit gutem Beispiel voran und modernisierte den stinkenden Pferdemistwagen.2 Endlich Aufschwung! Zuvor, so die NS-Erzählung, herrschte Misswirtschaft und Verjudung. Schuld daran, wenig überraschend, waren Kollmann und seine schwarzen Handlanger. Verkommen waren nicht nur die Finanzen, das Stadtbild und die Bäder, sondern ebenso die Heurigen. Nun galt es, die von Kollmann ausgestellten Privilegien abzubauen und seine installierten Kreaturen auszusieben. Bis zu Kollmanns Machtergreifung, so die NS-Erzählung weiter, erfreute sich die Kurstadt eines florierenden und blühenden Heurigenwesens. Doch dann seien Kollmann und seinesgleichen gekommen. Aus den beschaulichen Heurigenbetrieben seien unter seiner Ägide Vergnügungsetablissements entstanden, die buchhalterisch jedoch weiterhin wie kleine Heurigen gehandhabt wurden. Das steuerliche Schindluder wäre nicht zu bremsen, die Kellner und Musiker wären nicht angemeldet, Krankenkassenbeiträge nicht bezahlt, Sperrstunden würden ignoriert und die traditionelle Bewirtung über Bord geworfen. Nicht genug damit, verabreichten prominente Heurige gebratenes und gebackenes Fleisch und Geflügel, selbst schwarzer Kaffee wurde verabreicht.3 Zustände solcher Art durften nicht toleriert werden. Landrat Josef Wohlrab forderte ein hartes Durchgreifen. Und dann erst die Kunst und Kultur! Hier fielen wieder Schlagworte wie verjudet und entartet – dem sollte endlich ein Riegel vorgeschoben werden. Das Deutsche sei zu kurz gekommen, schändlich wurde es vernachlässigt. Damit war nun endgültig Schluss. Vor dem Anschluss konnten die Badener als letztes Stück „Die versunkene Glocke“ von Gerhard Hauptmann sehen. Am 13. März sollte der „Zarewitsch“ aufgeführt werden, was nicht geschah. Das Theaterkomitee wurde neu besetzt. Stadtarchivar Dr. Josef Kraupp und der akademische Maler und Ratsherr Dr. Hans Lang gaben nun den Ton an. Hans Lang war seit 1932 Parteimitglied, nach dem Anschluss wurde er zum Ratsherrn ernannt und als Kreiskulturleiter war er zuständig für Volkstumsfragen. Aufgrund seiner Prominenz innerhalb der NSDAP Baden war es ihm möglich, das Haus Uetzgasse 20 zu arisieren.4 Auf so eine lange NS-Parteikarriere und NS-Verbundenheit konnte Josef Kraupp nicht zurückgreifen. In Baden geboren, hatte er sämtliche Schulen in der Stadt absolviert und sein Studium 1911/12 mit dem Doktor der Philosophie und den Lehramtsprüfungen für Geschichte und Geographie beendet. In den nächsten Jahren unterrichtete er in Wien und Krems bis er 1922 ans Badener Gymnasium Biondekgasse kam und blieb. Seine praktischwissenschaftlichen Meriten erwarb er sich als Mitarbeiter des Stadtarchivs, dessen ehren2 3 4
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939.11f. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1938 – Gedächtnisprotokoll Karl Harner (14.12.1938) Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Lang Hans (geb. 1898) und NS-Karteikarten groß
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amtlicher Leiter er 1926 wurde. Josef Kraupp war Bildungsbürger und Großdeutscher, ideologisch fanden sich Überschneidungen mit dem Nationalsozialismus, aber auch genug Antipathien. 1935 hatte er die Urania in Baden auf vaterländischen Kurs gebracht. Nichts sprach offenbar dagegen, dass er das gleiche nach dem Anschluss beim Theater vollführe, diesmal halt auf NS-Kurs. Ausschlaggebend, dass er sich dem NS-Regime anschloss, war laut ihm letztendlich die Liebe zu historisch-wissenschaftlicher Arbeit. Als Verfasser zahlreicher Publikationen zur Regionalgeschichte, wollte er darauf auf keinen Fall verzichten – er wurde 1940 Parteianwärter – auch wenn das bedeutete, gewagte Theorien zu stützen und von sich zu geben. So oblag es ihm, im Oktober 1940 den Einmarsch und die Niederringung Frankreichs aus der historischen Perspektive zu legitimieren. Hierfür blickte er rassisch verklärt Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück, in eine Zeit, wo angeblich anständige reinrassige Ostfranken von marodierenden westfränkischen Mischlingen überfallen wurden. Ein ewiger Abwehrkampf, der nun endlich durch des Führers militärischen Genius siegreich beigelegt werden konnte. Sein Eifer und seine Effizienz in Sachen Badener Kunst, Kultur und Geschichte verschaffte ihm ferner 1943 die Funktion eines Kreisbeauftragten, verantwortlich für das Badener NS-Archiv. Seine Ehefrau Josefine Kraupp leitete in der Kreisleitung die Presseabteilung. Im selben Jahr erfolgte aber auch eine Vorladung zum Landesschulrat. Ihm wurde vorgeworfen, einen reaktionären Geschichtsunterricht zu betreiben. Hans Meissner bezeichnete ihn als hochgeschätzten Professor, dessen Geschichtsvorträge unvergesslich für ihn waren. Des Weiteren erinnerte er sich, dass als ein jüdischer Mitschüler ganz vorne in der Klasse hingesetzt wurde und auf dessen Bank „Ghetto“ geschrieben stand, Kraupp der einzige Professor mit Schneid gewesen war, der das abgestellt hatte. Alle anderen Professoren, sofern sie nicht eingefleischte Nationalsozialisten waren, grüßten mit einem mehr oder weniger strammen Heil Hitler und sahen großzügig/ ängstlich über solche Demütigungen jüdischer Schüler hinweg. Nach 1945 wurde seiner unpolitischen Liebeserklärung an die Geschichtswissenschaft als Motivation, dem NS-Regime zu dienen, kein Glauben geschenkt – sein Name und der seiner Frau blieben auf den Registrierungslisten.5 Aber dafür winkte nach 1945 bzw. nach 1955 das Ehrenbürgerrecht der Stadt Baden. Das erste Stück der neuen Ära war „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller. Dieses Stück, so die braune Interpretation, thematisiere die Freiheitsliebe eines unterdrückten Volkes.6 Immer dann, wenn tiefste Unterdrückung oder jubelndes Aufbrausen das Herz des Deutschen zu schnellen Schlägen treibt, sucht er Trost oder beglückende Bestätigung seiner Volkesliebe in dem unsterblichen Werke Schillers, im „Wilhelm Tell“.7 Das passte wunderbar ins Programm, 5
6 7
Vgl. StA B, GB 054/ Registrierungslisten: Kraupp Josef (1886–1971), Josefine Kraupp (1888– 1973) und Oral History 1933–1955, Meissner Hans Matura-RAD-Studium, S. 2 und StA B, NSDAP Karteikarten groß und ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 46 und BZ Nr. 83 v. 16.10.1940, S. 1. Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 22. BZ Nr. 26 v. 30. März 1938, S. 7.
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denn die Ostmärker waren doch schließlich von einem gewalttätigen Regime unterdrückt worden und erst der Anschluss brachte die ersehnte Freiheit. Die so befreite deutsche Kunst weckte das arische Dichterherz zahlreicher Volksgenossen. Deutsches Herz, genieß die Wonne, Denn zu Ende ist dein Leid! Aufgegangen ist die Sonne Einer neuen, großen Zeit.8
Die Badener Zeitung konnte sich der lyrischen Ergüsse ihrer NS-affinen Leser nicht mehr erwehren. Unter der Überschrift „Habt Erbarmen!“ wandte sich der Schriftleiter Franz Laval an die Lokallyriker und gab sich zuerst versöhnlich. Er wisse, dass so eine Befreiungsepoche Dichter auf das Parkett locke, aber auch rudelweise Nichtdichter, mit Erzeugnissen zweifelhafter Qualität. Lediglich die Erwägung, dass ja alle diese Erzeugnisse gut gemeint sind, hält ihn davon ab, in direkter persönlicher Korrespondenz den Literaturlieferanten seine Meinung zu sagen.9 Seine „Warnung“ fußte darauf, dass dutzende Kontaktaufnahmen, Bitten und Vorsprachen, die literarischen Ergüsse zu veröffentlichen, ihn nicht nur in seinem Büro erreichten, sondern genauso auf der Straße und selbst vor der eigenen Haustür. Der Machtwechsel brachte teilweise einen Wechsel in der Badener Kunst- und Kulturszene. Der Nationalsozialismus war alles andere als kunstfeindlich per se. In Baden konnten einige Künstler weiterhin ihren künstlerischen Tätigkeiten nachgehen und erhielten Anerkennung und Aufträge. Man musste sich nur anpassen, oder um es in den Worten von Jaro Schmied zu sagen, einem Geigenvirtuosen der regelmäßig die Kurstadt bespielte und 1934 sein Debüt als Konzertmeister gab: Es begann für mich eine neue Epoche. Ich machte mir Gedanken, wie wird es weitergehen. Auch politisch hat eine neue Ära begonnen und das Ende ist bekannt. Aber es ist das Los der Künstler, ständig etwas Neues zu beginnen und wieder von vorne anfangen zu müssen.10 Jaro Schmied wurde nach dem Anschluss Konzertmeister und Solist an der Radio-Verkehrs-AG (RAVAG) und von 1940 bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches 1. Konzertmeister an der Wiener städtischen Oper (Wiener Volksoper). Sein musikalischer Einsatz in der Kurstadt, den die Badener Zeitung stets mit Lob versah, bestand nicht einzig im Bespielen der Gaubühne. Italiens Kriegseintritt wurde von ihm ebenso musikalisch untermalt. Dabei, so erinnerte sich Ernst Röschl, steckte man Jaro Schmied in eine schlecht sitzende SA-Uniform und ließ ihn einen SA-Musikzug anführen, der mit Pauken und Trompeten durch den Kurpark paradierte.11 Für Ernst Röschl war Jaro Schmied alles andere als ein Nationalsozialist, auch wenn sich dieser 1940 bei der NSDAP 8 BZ Nr. 25 v. 26.03.1938, S. 3. 9 BZ Nr. 33 v. 23.04.1938, S. 4. 10 StA B, Neues Biographisches Archiv: Schmied Jaro – Seine Welt ist die Musik, S. 11, Interview Gerhard Jagodic zu Schmieds 90. Geburtstag. 11 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 40.
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bewarb. Nach drei Jahren wurde er überhaupt erst Parteianwärter, das rote Parteibuch sollte nie sein eigen werden. Laut Zeugenaussagen klappte der Beitritt deswegen nicht, weil er zu jüdisch aussah. Aber für die Schulung des SA-Musikzugs reichte das „bisschen Nordische“ offenbar alle Male.12 Er selbst erzählte, dass er von den Badener Juden als einer der ihren angesehen wurde, weil er so gut Geige spielte. Denn angeblich können Juden von allen „Völkern“ dieser Erde am besten Geige spielen – so etwas nennt man übrigens positiven Antisemitismus. Ein „besonderes“ Verhältnis zum Nationalsozialismus pflegte der akademischer Maler und Graphiker Franz Bilko.13 Laut dem Fragebogen vom Mai 1938 war er im Mai 1933 der NSDAP und 1937 dem SA-Turnerbund beigetreten. Hier gab er an, in der illegalen Zeit NS-Zeitschriften gelesen und weiterverbreitet zu haben. Dem Nationalsozialismus zugearbeitet habe er durch seine Aktivitäten im Deutschen Turnverein und dem „Bund Deutscher Maler Österreichs“, einer nationalsozialistisch ausgerichteten Künstlervereinigung, deren Mitbegründer er war und die von der Berliner Reichskunstkammer als einzige Vertretung österreichischer Künstler anerkannt wurde. Dermaßen politisch auf Linie sollen er und das Geschäft seiner Frau von Juden und vaterländisch Gesinnten boykottiert worden sein. Die Ortsgruppen- und Kreisleitung war anderer Meinung. Nicht einmal von sympathisiert konnte in der Systemzeit die Rede sein, denn Sympathisanten malten keine Dollfuss-Eiche und präsentieren sie auf einer vaterländischen Kunstausstellung. Hauptanklägerin war rein zufällig die Ehefrau eines ebenso akademischen Malers – zu ihr später mehr. Nach 1945 hatte auch Bilko eine andere Meinung zu seinen Angaben von vor 1938. Erst im Sommer 1938 habe er sich um die Mitgliedschaft beworben und sei im September 1944 aufgenommen worden. Der SA trat er erst im April 1938 bei. Bezüglich seiner Illegalität brachte er pragmatisch-opportunistische Rechtfertigungen: Ich habe während der Verbotszeit lediglich dem Deutschen Turnerbund angehört und habe diese Mitgliedschaft, wie dies von vielen anderen Turnern gemacht worden ist, als illegale Dienstzeit angegeben.14 Je nach Fragebogen werden seine Angaben bestätigt/verneint – nicht einmal das Geburtsdatum ist auf allen das Gleiche. Die Gerichte nach 1945 sahen in seiner SA-Mitgliedschaft bloß die Hoffnung auf Kunstförderung – die Gerichte nach 1938 hatten es übrigens ähnlich gesehen, was seine Mitgliedschaft bei der Vaterländischen Front anbelangte. Förderung erhielt Bilko tatsächlich. Als Mitarbeiter der Kreisleitung im Rassepolitischen Amt war er für die Ausstellung von Ariernachweisen zuständig und hielt einschlägige Vorträge auf Veranstaltungen über Sippenforschung und die Nürnberger-Rassegesetze.15
12 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Schmid Jaro (1906–2006) und BZ Nr. 102 v. 23.12.1939, S. 2. 13 Sein Antrag wurde abgelehnt. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Bilko Franz (1894–1968) und NSDAP-Karteikarten groß. 14 StA B, GB 052/Personalakten: Bilko Franz – Aussage (25.10.1945). 15 Vgl. BZ Nr. 47 v. 11.06.1938, S. 5.
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Des Weiteren wurde ihm die Ehre zuteil, dass eines seiner Werke, „Die Frühlingsblume aus dem Wienerwald“, in den Besitz des Führers gelangte.16 Eine Danksagung war schon auf dem Weg, doch da wurde sein Höhenflug abrupt beendet. Grund waren Plakate, die nicht unbedingt den künstlerisch-faschistoiden Zeitgeist trafen. Kreisleiter Ponstingl schrieb entsetzt im Februar 1939 an die Gauleitung: Anlässlich eines geplanten NSKK-Festes in Blumau hat er derartig „lustige“ Zeichnungen gemalt, dass ich mich genötigt sah, ihn sofort seines Amtes zu entlassen. Solche Zeichnungen, durch die die Bewegung derart lächerlich gemacht und heruntergesetzt wird, darf kein deutscher Maler, selbst auf Weisung hin, anfertigen. Die Zeichnungen würden in jeder Bolschewikenausstellung einen würdigen Platz einnehmen.17 Die Gauleitung verlangte Kostproben dieser lustigen Zeichnungen, während der „Beauftragte aller Institutionen für bildende Kunst“, Leopold Blauensteiner, Bilkos geradezu schulbeispielhafte deutsche Kunstauffassung hervorhob und nicht verstehen konnte, wie dieser Künstler überhaupt in den Verdacht einer feindlichen Haltung kommen konnte.18 Auf den Fall Bilko wurde selbst die Führerkanzlei aufmerksam. Trotz Fürsprache unterschiedlicher Stellen war der Posten in der Kreisleitung in weite Ferne gerückt. Dafür wurde im August 1939 die Wehrmacht bei ihm vorstellig. Für Bilko ein gewisses Déjà-vu. Denn auch im Ersten Weltkrieg war er von Anfang an dabei. Nur dass er im zweiten nicht wie im ersten im August 1919 aus britischer Gefangenschaft entlassen wurde, sondern im Oktober 1945 aus US-amerikanischer Gefangenschaft. Bilkos Verhältnis zum Nationalsozialismus kann man als indifferent bezeichnen und damit genauso jenes von Karl Cizek. Vom Fach wie Bilko, ein akademischer Maler, war er vor dem Anschluss bei der Vaterländischen Front als Gruppenleiter tätig, umgab sich in Baden mit den Vaterländischen, während er in Wien in der NSDAP aktiv mitarbeitete und sie finanziell unterstützte. Diese zwiespältige Haltung brachte ihm Lob und Tadel ein. Er galt politisch als nicht verlässlich, jedoch bemüht, geberfreudig und mit dem Ziel vor Augen, der Partei näher zu kommen. Belohnt wurde sein Gesinnungswandel mit einigen Vernissagen. Seine Ergebenheit zum NS-Regime bewies Karl Cizek bei dessen Zusammenbruch. Er beging Suizid.19 Neue Leute an der Spitze der Badener Kunst- und Kulturbetriebe sowie geänderte und der Zeit angepasste Spielpläne waren nicht die einzigen Neuerungen. Aus dem Stadttheater entstand die „Gaubühne Niederdonau“. Sie konnte sich eines ständigen Theaterensembles erfreuen – das nicht über den Winter entlassen werden musste. Diese himmelschreiende Kulturschande, für die Kollmann verantwortlich war, wurde damit getilgt. Die Finanzierung der Gaubühne oblag einem Zweckverband aus lokaler Politik und Industrie. Intendant wurde der durch Gauleiter Hugo Jury eingesetzt Karl Kroll. Ihm unterstanden die Personalfragen und er bestimmte Verwaltung und Ensemble. Am 1. Oktober stand das 16 17 18 19
Vgl. BZ Nr. 62 v. 03.08.1938, S. 4. StA B, GB 052/Personalakten: Bilko Franz – Kreisleitung an Gauleitung (20.02.1939). Ebd. – Leopold Blauensteiner Aussage (07.03.1939). Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Cizel Karl (1886–1945).
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Personal fest. Oberspielleiter wurde Josef Hübner, erster Kapellmeister für Oper und Operette Gustav Witt, zweiter Emil Häuser, Josef Hauschulz (geb. 1891) war Spielleiter für Schauspiel und Josef Stelzer für Operette. Betrachtet man die Stücke, die bis zum Jahresende aufgeführt wurden und liest man nur die Namen, ohne auf die Inhalte zu schauen, so hafteten einigen Titeln etwas Prophetisches an: „Volk in Not“, „Die große Chance“, „Alle gegen einen“, „Lauf ins Glück“ oder „Wienerblut“.20 Doch solche Gedankengänge sind Spielereien Nachgeborener wie mir. Damals hieß es nach der ersten Aufführung: Und mit unserer Freude seien die Worte des Helden aus dem Eröffnungsstück der Gaubühne mit auf den Weg gegeben: „Auf! Die Losung heißt; Weiter!“21 Es ging weiter mit dem Beethovenfest und dem Traubenfest. Beide Festivitäten sollten Höhepunkt des Anschlussjahres 1938 werden. Dass die Planung für das Beethovenfest auf 1937 zurückging, mag ein wenig am Image der totalen Neuerung gekratzt haben. Das Beethovenfest war gar als eine Verlängerung und Ergänzung – wahrscheinlich auch Konkurrenz – zu den Salzburger Festspielen konzipiert. Eingebunden waren Journalisten aus dem In- und Ausland. Podien für Beethovens Kompositionen wären in Baden das Stadttheater, der Sauerhof, Schloss Gutenbrunn und die Pfarrkirche St. Stephan gewesen. Die Patronage umfasste Bundespräsident, Bundeskanzler, Unterrichtminister, Justizminister und weitere führende Persönlichkeiten des Ständestaates. Die Planungen waren weit fortgeschritten. Nach dem Anschluss wollten die neuen Stadtherren auf solch ein Event nicht verzichten. Man änderte die Patronage und statt der angedachten Internationalität fokussierte man sich auf das Großdeutsche Reich. Das Beethovenfest dauerte vom 3. bis zum 11. September. In dieser Zeit war jede andere Veranstaltung untersagt, selbst Parteiveranstaltungen. Pikanterweise musste vor dem Fest das Prometheus-Deckenfresko des Beethoventempels gereinigt werden. Lausbuben hatten 1933 ausgelassene Eier mit brauner Farbe dagegen geschleudert. 1938 war klar, das waren bestimmt Kommunisten – denn bekanntlich ist ja Braun die Farbe des Kommunismus.22 Erwartungsgemäß gestaltete sich das Beethovenfest prächtig, anmutig, bombastisch und vor allem deutsch. Denn das durfte nicht fehlen. Ein Germanismus musste immer und überall auf Biegen und Brechen hinein und heraus interpretiert werden. Oder wären die Seufzer einer Mondscheinsonate nicht die Seufzer deutscher Seele, der Sturmeseifer des letzten Satzes der Fünften nicht Freiheitstaumel deutschen Willens?23 Zuvor wurde noch klar die Grenze gezogen zwischen wahrer Kunst (also deutscher Kunst) und entarteter Kunst (also jüdischer Kunst). Und historische Persönlichkeiten wie Luther, Bach, Kant, Schiller, Goethe usw. bekamen ebenso ihre fünf Minuten. Auf das Beethovenfest folgte das Fest der Traube, ebenso ein Projekt, das unter Kollmann Gestalt angenommen hatte – ausgeführt unter Schmid. 2000 Jahre ostmärkische 20 21 22 23
Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 23f. BZ Nr. 86 vom 28.10.1938, S. 2. Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 19f. BZ Nr. 72 v. 07.09.1938, S. 3.
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Weinbaukultur wurde mit allerlei Veranstaltungen zelebriert und illustriert durch Plakate von Franz Bilko. Höhepunkt war ein Umzug am 11. September 1938. Mehrere Festwagen zogen durch die Straßen Badens. Den Anfang machte Gott Probus flankiert von tanzenden Römerinnen, gefolgt von mittelalterlichen Marktrichtern, raubenden Söldnern und Kindern in Barock- sowie Rokokokostümen – „typische“ Weinbau-Motive. Schlusslicht bildeten übrigens die Badener Weinhauer. 13.000 Menschen bestaunten das Spektakel. Die Wochenschau berichtete darüber. Gasthäuser und Weinschenken waren zum Bersten gefüllt. Beide Feste waren kulturelle Höhepunkte des Jahres – um den Duktus der NS-Berichterstattung beizubehalten. Einziger Wehrmutstropfen: der Parteitag in Nürnberg, der zeitgleich stattfand. Irgendjemand musste Baden in Nürnberg vertreten. Gegen den Nürnberger Parteitag hatten selbst Beethoven und die 2000 Jahre ostmärkische Weinbaukultur das Nachsehen. 455 Partei- und Volksgenossen konnten bei den Badener Spektakeln nicht dabei sein, sie weilten in Nürnberg, einer der fünf Führerstädte.24 * Bei so viel Trubel, Aufbruch und Remmidemmi, musste dennoch kühler Kopf bewahrt werden. Der Landrat interessierte sich nicht nur für Beethoven und Trauben. August 1938 musste die Kurstadt Zahlen und Fakten vorlegen und Schmid lieferte. Das Stadtgebiet umfasste 27 km². Laut letzter Volkszählung lebten in Baden 22.195 Menschen. Hinzu kamen 30.000 Kurgäste in der Sommersaison. Die militärische Lage sah wie folgt aus: Das Flakregiment Nr. 25 wies eine Mannschaftsstärke von 100 Offizieren und 3000 Soldaten auf. Hinzu kamen das Wehrkommando, das Kommando des Reichsarbeitsdienstes, die Bauleitung der Kaserne, die Luftwaffe und die verschiedenen Parteiformationen. Untergebracht war diese Personengruppe in privaten und öffentlichen Gebäuden. Wie einst Kollmann, der das militärische Fassungsvermögen der Kurstadt angeben hatte müssen – er tat es widerwillig – war nun Schmid an der Reihe, der Wehrmacht indirekt über den Landrat auszurichten, welche Kapazitäten die Kurstadt diesbezüglich hätte. Im Winter waren die Kurhotels gesperrt, somit boten sie Platz für weitere Soldaten. Von Oktober bis März gäbe es Platz für 150 weitere Offiziere, 2000 Soldaten und 300 Pferde. Diese wären auf der Trabrennbahn untergebracht. In Notfällen boten sich zusätzlich sechs Turnsäle und Großgasthöfe an, für weitere 500 Mann. Die Wasserversorgung war gesichert und durch die zwölf Tankstellen in Baden, mit einem Fassungsvermögen von 57.000 Litern, würde man nicht auf dem Trockenen sitzen.25 Um hier vorzugreifen, Schmids Angaben sollten mit den kommenden Kriegsjahren um ein Vielfaches überschritten werden. Wir werden sehen, er wird sich redlich bemühen, den Anteil der Militärs gering zu halten, um die Kurstadt als Kurstadt bestehen bleiben zu lassen. Letztendlich mutierte sie zu einer 24 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 22. 25 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allg.; 1938 – Schmid an BH-Baden (14.08.1938).
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einzigen riesigen Lazarettstadt. Schmid hatte diesbezüglich mit derselben Thematik wie sein Vorgänger Kollmann zu kämpfen. Jeglicher Zuzug von Uniformierten war Kollmann ein Graus. Militärs, Wehrverbände, Milizen, Bewaffnete allgemein, das passte nicht zu einer Kurstadt – zu seiner Kurstadt. Auf Anfragen in Bezug auf Einquartierungen reagierte Kollmann oftmals patzig. In einer vertraulichen Gemeinderatssitzung bezeichnete er das ständige Fragen nach Lokalitäten und Quartieren als quälend. Wenn sich etwas fand, dann musste dafür bezahlt werden. Zehn Schilling Anerkennungszins mussten die Deutschen Turner und die Ostmärkischen Sturmscharen für die Räumlichkeiten im Batzenhäusl entrichten. Beleuchtung und Heizung kosteten extra. Seine mangelnde Kooperation mit den Wehrverbänden und dann mit der Frontmiliz war kein Geheimnis und führte zu so mancher Klage und Beschwerde. Das Ganze endete in einem offen ausgetragenen Streit mit dem „Heimatschützer“, dem Medium der Wehrverbände. Während der Heimatschützer Kollmann Feigheit und Verrat vorwarf, warf Kollmann der Gegenseite Verlogenheit und Nutzlosigkeit vor.26 Es ist anzunehmen, dass Schmid ähnlich dachte. Im Frühjahr 1939 beschwerte er sich beim „Standortältesten der Garnison Baden“ über das Benehmen einiger Soldaten.27 Über den Stadtgartendirektor war ihm zu Ohren gekommen, dass die Bänke im Kurpark durch Militärpersonen oft nicht wiederzugebender Art beschmutzt werden; weiters werden trotz Verbotes im Park oft Blumen abgerissen. Gegen diesen Unfug einschreitende Parkwächter erhalten grobe und ungebührliche Antworten, das Blumenabreißen wird sogar in Anwesenheit des Parkwächters fortgesetzt.28 Hinzu kamen das Singen von Marschliedern vor nullachthundert, neuerdings Schießübungen im Helenental und der Unfug, mit Propellermaschinen im Tiefflug über Baden hinwegzudonnern. All das war Gift für Kur und Gast. Aber so wie sein Vorgänger zu agieren, wäre für Schmid unmöglich gewesen. Schmid war nicht Kollmann und der Nationalsozialismus war nicht der Ständestaat. Vor dem Krieg hatte Schmid sicher größeren Spielraum. Danach, das werden wir noch sehen, musste er wohl oder übel zu allem Ja und Amen sagen. * Die Kur sollte ins Hintertreffen geraten. Die Ankündigungen vom Großen Kurort sollten sich nicht bewahrheiten. Welche Blase jedoch wesentlich schneller platzte, war die vom Sozialismus im Nationalsozialismus. Die Stadtgemeinde – manche wandten sich gleich an Josef Bürckel – wurde überflutet mit Bittbriefen und Ansuchen um Kinderbeihilfen und sonstigen finanziellen Unterstützungen. Betroffene schrieben durchgehend von unglaublicher Not und schierem Mangel – weder Arbeit, noch Einkommen, noch Kleidung, noch 26 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 136–139. 27 Standortältester: Zumeist der diensthöchste und/oder dienstälteste Offizier, fungiert als Bindeglied zwischen militärischen und zivilen Behörden an ihm zugewiesenen Standort. 28 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I; Korrespondenz. 1939 – Schmid an Standortältesten (05.04.1939).
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Schuhe, dafür eine Schar an Kindern. Wiederkehrend die Schilderungen, wonach man von der Systemregierung schikaniert worden war, von Juden ausgebeutet wurde und schon immer Anhänger der NS-Bewegung war.29 Für sozial schwache Volksgenossen brachte der Anschluss merkbare, sichtbare und unmittelbare Verbesserungen – öffentliche Ausspeisungen, Gulaschkanonen am Badener Hauptplatz, Kleiderspenden und die Zusicherung eines sicheren Arbeitsplatzes. Klasse, Religion, Stand, all das wäre überwunden, frohlockte die NS-Propaganda. Im Vordergrund stand die „Volksgemeinschaft“, deren Zugehörigkeit durch Rasse und Blut determiniert war – Juden und „Zigeuner“ hatten keinen Platz. Aber auch Volksgenossen mussten sich alsbald überzeugen, dass der NS-Staat kein Schlaraffenland war. Mit seinen Sorgen und Nöten muss der Mensch selbst fertig werden. Oder sollen wir ein Volk von Bettlern und Befürsorgten werden? Erst wenn die letzten Anstrengungen gemacht sind und keine Selbsthilfe möglich ist, dann führt der Weg zur staatlichen Fürsorge […].30 Für Erwachsene bestand die Verpflichtung zur Lohnarbeit. Es gab klare Hierarchien. Die Fürsorge bedachte höherwertige Bedürftige mit höheren Beträgen, während niedere Bedürftige weniger bekamen. Wer nun unterstützungswürdig war und wer nicht, um das zu eruieren, bedurfte es der Einschätzungen der Blockwarte bzw. gewöhnlicher Nachbarn.31 Diese hatten einer großen Einfluss auf die Zuschreibung von asozial, minderwertig oder gemeinschaftsunfähig. Zu beachten war, dass die Gemeinschaftsfähigkeit nicht mit der politischen Haltung gleichzusetzen war. Pointiert durch die Aussage: Äußerlich tadelloses Verhalten, innerlich wurmstichig.32 Aussortiert werden sollten Arbeitsscheue, Arbeitsunfähige, Trinker, Menschen, die sich hemmungslos vermehrten, da der minderwertige Nachwuchs eine Gefahr für die kommenden gesunden Generationen darstellte. Eine weitere Definition war dem Merkblatt zur Erfassung der Gemeinschaftsunfähigen zu entnehmen, herausgegeben vom Gauamt für Rassenpolitik Niederdonau. Gemeinschaftsunfähig sind Personen, die aufgrund einer anlagebedingten und daher nicht besserungsfähigen Geisteshaltung nicht in der Lage sind, den Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft an ihr persönliches, soziales und völkisches Verhalten zu genügen.33 Neben der „offiziellen“ Fürsorge gab es Unterstützung durch NSDAP-Gliederungen wie der Deutschen Arbeiterfront (DAF) oder der NS-Volkswohlfahrt (NSV). Letztere war eine Art soziale Anlaufstelle für Volksgenossen, die im Kreis Baden von SA-Sturmhauptführer Hermann Janisch als Kreisamtsleiter geführt wurde. Seine soziale Ader musste der gelernte 29 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. I Ehestandsdarlehen u. Kinderbeihilfen. 30 BZ Nr. 2 v. 07.01.1939, S. 3. 31 Vgl. MELINZ Gerhard, Jenseits des Reichtums. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst et.al. (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 2 (Wien/Köln/Weimar 2008): Wirtschaft, S. 469–506 und vgl. TÁLOS Emmerich, Sozialpolitik in der „Ostmark“. Angleichung und Konsequenzen. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 376–408 und vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 141. 32 StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge; Mappe IV – Vortrag über Fragen des Asozialenproblems. 33 Ebd. – Merkblatt zur Erfassung der Gemeinschaftsunfähigen.
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Maschinenschlosser wohl irgendwann 1932/33 mit dem Beitritt zur NSDAP und SA sowie seiner Illegalität, seiner in Summe 23-monatigen Haftstrafen und dem dadurch wohlverdienten Blutorden entdeckt haben.34 Wie alle Organisationen des Nationalsozialismus war selbst die NSV als Sozialeinrichtung, einem militärischem Duktus unterworfen. Komm zu uns, Volksgenosse, komm zu uns, Arbeiter der Stirn und Faust, werde Kamerad im Kampf gegen Not und Elend, im Kampfe für Deinen Kameraden!35 Sozialpolitisch spielten ebenso die zahlreichen Sammlungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Gemeinschaftsgefühl bzw. die „Volksgemeinschaft“ sollte gestärkt und mit der schändlichen Vergangenheit gebrochen werden: Wer kannte vor dem Krieg das Wort Opfer? In einer Zeit wirtschaftlicher Blüte, bürgerlicher Behäbigkeit und liberalistischer Geisteshaltung herrschte selbstherrlich das Ich.36 Die Straßensammlungen und Spendenaktionen waren ein fixer Bestandteil der neuen Zeit und eines jeden Jahres während der NS-Herrschaft. Es waren Rituale, die von sämtlichen NS-Gruppierungen vollzogen wurden. SA, NSKK, NSV, dann die HJ und der BDM, zwischendurch die SS oder das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Bisweilen gingen die Blockwarte von Tür zu Tür, nahmen Spenden entgegen und notierten im Idealfall akribisch, wer großzügig und wer knausrig war. Um dies sichtbar zu machen, gab es verschiedenste Abzeichen für besonders spendable Volksgenossen. Im Kreis kamen Summen von 20.000 bis 30.000 RM zusammen. Die publizierten Sammlungsergebnisse – sofern sie der Wahrheit entsprachen – waren beeindruckendes Ergebnis der erwünschten und werdenden arischen „Volksgemeinschaft“. Am Jahresende begann das Winterhilfswerk (WHW) aktiv zu werden. Eine der kreativen Ideen war der Eintopf-Sonntag. An diesem Tag gab es nur Eintopf und das dadurch ersparte Geld, das man sonst für die anderen Speisen ausgegeben hätte, kam bedürftigen Volksgenossen zugute.37 Nicht nur mit Gulasch, Geld- und Sachspenden machte sich der Nationalsozialismus beliebt. Österreich litt unter Arbeitslosigkeit, während das Altreich unter Arbeitskräftemangel litt. Bauerarbeiter aus der Ostmark wurden ans Altreich vermittelt. Im November 1940 meldete Kreisleiter Gärdtner der Gauleitung, dass aus dem Landkreis insgesamt 156 Männer zwecks Arbeit ins Altreich auswanderten. Die meisten, 75 an der Zahl, kamen aus Pottendorf, 25 aus Ebreichsdorf, 14 aus Unterwaltersdorf, elf aus Klausen-Leopoldsdorf, zehn kamen aus Teesdorf und neun aus Schönau. 23 Ortsgruppen meldete keine Arbeitsmigranten. Baden zählte dazu.38 Vielleicht dachten sich viele, weshalb die Heimat verlassen, wenn vor der Haustüre eine Großbaustelle für Arbeitsplätze sorgte? Denn Kurstadt hin oder her, die Einquartierung von Soldaten und der Bau einer 34 35 36 37 38
Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen und GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Hermann Janisch (geb. 1906) und NSDAP-Karteikarten groß. BZ Nr. 44 v. 01.06.1938, S. 3. BZ Nr. 43 v. 28.05.1938, S. 3. Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 26. Vgl. StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. II; Trafiken und Bauarbeiter.
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Kaserne gehörten, wenn auch nicht im Sinne Badens, zu den dringlichsten Aufgaben Berlins. Der erste Soldat traf bereits am 14. März 1938 in Baden ein. Es war der 23-jährige Gefreite Ludwig Roth. Allerdings war sein Zielort keine Militärbaracke, sondern das Rath’sche Krankenhaus – nachdem er sich Schienbein und Unterarm bei einem Unfall gebrochen hatte. Ursprünglich wäre als erste Formation eine bayerische Flakabteilung in Baden einquartiert worden. Stattdessen erschien eine andere Batterie mit 52 Mann und nur wenige Tage später das Gardeschützenbataillon 2.39 Bereits im März war eine ganze Garnison geplant. Allerlei Veranstaltungen wurden organisiert, auf denen Schmid als Hausherr unzählige Hände verschiedener Militärs aus dem Altreich und der Ostmark schütteln konnte, während jene sich über die ihnen dargebotene Bühne erfreuten, wo sie Badens zukünftige militaristische Herrlichkeit predigten. Auch die Söhne dieses Landes, sagte Menzel, werden in kürzester Zeit den Ehrenrock der deutschen Wehrmacht tragen und in deutschen Garnisonen in innigstem Kontakt mit den übrigen Stämmen unseres Volkes treten können.40 Baden sollte von Anbeginn der NS-Herrschaft fast keinen einzigen Tag mehr soldatenfrei werden. Der Bau einer Kaserne war unumgänglich. Zuvor wurden Schulen, Turnsäle, die Weilburg, Parkanlagen zweckentfremdet – die Baracken schossen wie Pilze aus dem Boden. Neben den dadurch geschaffenen Arbeitsplätzen wurden die örtlichen Betriebe mit eingebunden. Es herrschte so etwas wie „Fahr nicht fort, kauf im Ort“. Die riesige Baustelle war ein Magnet für Unternehmer, Gewerbetreibende und Handwerker und wir werden noch sehen, dass das mit ein Grund war, bei der NSDAP vorstellig zu werden. Das ca. 25 Hektar große Areal, auf dem die Kaserne entstehen sollte, wurde dem ehemaligen Freiherrn und ehemaligem Gemeindevertreter Dr. Heinrich Doblhoff-Dier durch die Stadtgemeinde Baden abgekauft. Der Preis belief sich auf 65.000 RM. Der dem ehemaligen Besitzer entstandene Ernteausfall wurde entschädigt. Die Gemeinde verkaufte das Gelände anschließend weiter an den Reichsfiskus der Luftfahrt. Reichsmarschall Göring persönlich inspizierte das Bauvorhaben. Überschwänglich beschrieben die lokalen Medien den Besuch und die Rundreise durch den Landkreis Baden. Alles war prächtig, selbst die Blumensträuße wurden als „prächtige Gewinde“ bezeichnet. Die lokalen Politgrößen strömten herbei und man übertraf sich damit, den Stellvertreter des Führers mit Ehrentiteln zu bezeichnen: Herr Marschall des Reiches, Eure Exzellenz, Herr Generalfeldmarschall – die Badener Zeitung vom 18. Mai 1938 wusste nicht, wie sie das Ding beim Namen nennen sollte. Mit offenem Verdeck, wie den Fotos zu entnehmen ist, und einem offenen Ohr für die kleinen Leute verteilte Göring mildtätige Gaben und zeigte sich tief betroffen von der Armut in dem geplanten größten Schwefelkurort Großdeutschlands. Besonders empört war er von den Barackensiedlungen in der Vöslauerstraße und pochte auf die Beseitigung dieser Kulturschande – weil eben nicht würdig des angehenden größten Schwefelkurorts in Groß-
39 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 9. 40 BZ Nr. 25 v. 26.03.1938, S. 1.
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deutschland.41 Der Bau (Erdarbeiten) der Flak-Kaserne wurde am 4. Mai 1938 in Angriff genommen. Im Dezember 1938 fanden 1234 Personen eine Arbeitsstelle. Bis 1940 wurden weitere Bauten wie Exerzierplätze, Wirtschaftsgebäude, diverse Hallen und Werkstätten errichtet.42 Um den militärischen Bauboom ja nicht abzuwürgen, ersuchte das Luftkommando im September 1938 die Stadtgemeinde, die Lieferkapazitäten von Ziegelsteinen für die kommenden Jahre zu eruieren. Die Luftwaffe hatte ein Auge auf die gesamte Jahresproduktion 1939 geworfen. Baden mit seinem Ziegelwerk preschte mit 4,5 Millionen Mauerziegeln vor. Allerdings könne man der Luftwaffe nur mit 2,7 Millionen Ziegeln dienen, den Rest bräuchte man selber. Es galt die von Göring angesprochene Bauschande zu beseitigen. Aber die auf Lager befindlichen 300.000 Ziegel so Schmid, könne man jederzeit gegen den vereinbarten Preis von 40 RM pro Tausend ab Werk abholen lassen.43 So mancher Badener fühlte sich sicherlich an die Zeit des Armeeoberkommandos (AOK) in Baden zwischen 1917 und 1918 erinnert. Damals wurde die selbst nach dem Kriegsausbruch des Ersten Weltkriegs prosperierende Kurstadt zum militärischen Sperrbezirk erklärt – der Kurbetrieb brach vollkommen zusammen. Zahlreiche Gebäude waren durch das AOK besetzt. Die Wirkung der anfänglichen Gastgeschenke des Militärs in Form von Waggons voller Lebensmittel verpuffte schneller als erwartet.44 Nun, zwanzig Jahre später, sollte die Kaserne nicht das einzige militärische Projekt in Baden werden. Die Einquartierung von Soldaten, die Umwandlung von Kurbetrieben in Lazarette war nur mehr eine Frage der Zeit. Dabei sollte es nicht bleiben. Neubauten waren ebenso anberaumt. Im April 1939 wurde gar ein neues Luftwaffenlazarett am Mitterberg angedacht, gleich unterhalb des Rudolfshofs (nie ausgeführt). Bedenken gab es von Seiten der Stadtgemeinde nur architektonischer Natur. Der gefertigte [Bürgermeister Schmid] erhebt gegen die Errichtung eines Lazarettes für das Luftgaukommando XVII auf den Grundstücken am Mitterberg laut Situationsplan in einem offenem Baugebiet in villenartiger oder gekuppelter Bauweise, welche Art der Objekte sich der Umgebung anpassen, sofern sie nicht als Baracken ausgeführt werden, keine Einwände.45 Es gab Arbeit, volle Läden, die Löhne stiegen, Hoffnung keimte und man war endlich wieder Großmacht. Die Welt, in der sie jetzt lebte, kam ihr vor wie aus frisch geputztem Messing, wenn es hell und blank in der Sonne spiegelt.46 Das war die Welt der neunjährigen Gertrud Maurer. In den Geschäften gab es fertige Kleider, sprich „von der Stange“. Sie sah 41 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 10–13. 42 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 27. 43 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. III Luftschutz/Luftwaffe; 1938 – Schmid an Luftgaukommando (15.10.1938). 44 Vgl. MAURER Rudolf, Baden 1917/1918. Eine historische Kollage. In: RAUCHENSTEINER Manfried (Hg.): Baden Zentrum der Macht 1917–1918. Kaiser Karl I und das Armeeoberkommando (Wien 2018), S. 95–113. 45 StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. III Luftschutz7Luftwaffe; 1939 – Schmid an Landesstelle für Raumordnung (15.04.1939). 46 MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 30.
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keine Bettler und Hausierer mehr auf den Straßen. Stattdessen gab es anderes zu entdecken. Jedes Mal, wenn sie in die Stadt ging, wurde irgendwo eine Fassade neu gestrichen, Bauarbeiten wurden durchgeführt, Ausbesserungen vorgenommen oder Dächer neu gedeckt. Durch das neue Geld, die Reichsmark, von dem es nun auch mehr gab, konnten ihre Oma und ihre Mutter jeweils eine Bedienerin anstellen. Und da ihre Mutter Sprachlehrerin war, stieg die Zahl der Schüler, da umso mehr Geld in Sprachkurse investiert werden konnte.47 Doch Obacht, das alles entfaltete seine Wirkung einzig und alleine in der Welt der Volksgenossen und ihrer „Volksgemeinschaft“. Auf die Menschen, die als Schädlinge klassifiziert wurden, werden wir noch umfangreich eingehen. Doch was war diese „Volksgemeinschaft“? Was besagte sie? Wer gehörte dazu? Die NS-Rassenideologie und sonstige Pseudowissenschaften dieser Richtung waren nicht allen zugänglich und verständlich. Allerdings mangelte es den Angehörigen der „Volksgemeinschaft“ nicht nur am Wissen über sie, sondern auch an Gemeinschaftssinn zueinander. Die Bespitzelung und Denunziation begann unmittelbar nach dem Anschluss. Märzveilchen, die sich beweisen mussten, NS-Fanatiker, deren Hass auf einer psychischen Störung oder einer wohldurchdachten und kühlen Aktion beruhte, sowie ganz „normale“ Menschen gingen dazu über, andere Menschen bei Behörden wegen unterschiedlichster Dinge anzuzeigen und zu denunzieren. Die Polizei musste oftmals gar nicht ausrücken und selbst Nachforschungen anstellen, die Menschen kamen zu ihnen und erzählten, verdächtigten und beschuldigten. Selbst Himmler sollte das Deutsche Reich im Laufe der Zeit als Quatschnest bezeichnen und dass er stellenweise schwer damit zurechtkam, Hochachtung vor Menschen zu haben, die einander ständig denunzierten. Die angeblich omnipräsente Gestapo wäre niemals imstande gewesen, solch eine Kontrolle auszuüben ohne ihre zahlreichen Helfer und Helfershelfer aus allen gesellschaftlichen Schichten, gleichgültig welchen Alters, Geschlechts, Bildungsstands und sonstigem. Diese Menschen, deren genaue Zahl unbekannt ist und variabel war, bildeten ein wesentliches Rückgrat des NS-Überwachungsstaates.48 Aus den Akten geht hervor, dass es unterschiedliche Typen von Block- oder Zellenleitern sowie einfachen Volksgenossen gab, die, mal mehr, mal weniger, ihren Mitmenschen mittels Denunziation das Leben schwer machten. Einige waren besonders eifrig bzw. vielleicht sind die Akten der anderen nicht mehr auffindbar. 1938 tat sich vor allem der Zellenleiter Ludwig Lackinger hervor.49 Beamter von Beruf, trat er im Mai 1938 der NSDAP bei und im Oktober selben Jahres fiel ihm der in der Palffygasse wohnende Spanier Rudolf Kowarik durch ein sehr verdächtiges Verhalten auf. Lackingers Recherche ergab, dass der Verdächtige 1895 zur Welt gekommen war, Privatlehrer von Beruf war und früh aus dem Haus ging und spät abends wieder zurückkehrte. Des Weiteren hatte Kowarik in den letzten zwei Jahren acht Mal die Bleibe gewechselt. Außerdem treffe er sich mit Juden, unter anderem mit der Tochter des ehemaligen 47 Vgl. ebd. S. 31. 48 Vgl. LONGERICH Peter, Heinrich Himmler. Biographie (München 2010), S.219 und BAUER, Die dunklen Jahre, S. 328. 49 Vgl. StA B, NS-Karteikarten groß: Lackinger Ludwig (geb. 1901).
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SDAP Gemeinderats Siegfried Justitz – aus dem Sozialisten machte der Zellenleiter sicherheitshalber noch einen Kommunisten. Obendrein war dessen Tochter mit einem Juden verheiratet, der in der Tschechoslowakei lebte. Dann sei ihm noch zu Ohren gekommen, dass der Spanier eine Dame aus Paris beherbergte. Für Lackinger tat sich da eine konspirative Achse auf: Madrid – Prag – Paris. Wie weit seine Ermittlungen wasserdicht waren, ist mit Vorsicht zu genießen, denn schon beim Namen des Verdächtigen war man sich unsicher. Hieß er Rudolf Kowarik oder Rudolf Kowarek? Der Verdächtige entzog sich 1939 dem Verdacht durch Suizid.50 Ordentliches Denunzieren musste gelernt sein. Das mag jetzt eine flapsige Formulierung meinerseits sein, aber im Kern trifft es den Punkt. Die NS-Behörden waren über anonyme oder fehlerhafte Eingaben alles andere als erfreut. Und als Denunziant hatte man es fallweise nicht leicht, den Überblick zu behalten. Alois Klinger war der verhasste Polizeichef von Baden, Franz Klinger ein radikaler Sozialdemokrat und Gewerkschaftler und Karl Klinger, ein einwandfreies SA-Mitglied – da konnten einem Fehler unterlaufen.51 Die Block- und Zellenleiter, denen durch normale Volksgenossen alles Mögliche zugetragen wurde, erhielten ebenso Order von oben. Die Ortsgruppe verlangte nach Namen. Man war auf der Suche nach „Asozialen“, politischen Gegnern und politisch Unzuverlässigen. Die Zahl der Kommunisten nahm dadurch rapide zu und ebenso die Zahl jener Menschen, die als „für Juden besonders eingenommen“ bezeichnet wurden. Alte Rechnungen aus der Zeit vor der NS-Machtübernahme konnten mittels Anschwärzung ebenso beglichen bzw. aus Sicht der Denunzianten Fehlentscheidungen korrigiert werden. Hier war es Josef Zwierschütz, der auf den Zug aufsprang, Besitzer des Hotels Zwierschütz – oder besser „gewesener Besitzer“ denn in den 30er Jahren war die Immobilie zwangsversteigert worden. Schuld waren nicht womöglich finanzielle Verfehlungen seinerseits oder die wirtschaftliche Krise der 30er Jahre als Ganzes, sondern es war Sparkassendirektor Alois Brusatti, der ihn ins Unglück gestürzt hatte. Er warf ihm vor, eine falsche Schätzung vorgenommen und das Hotel seinen Günstlingen dadurch zugeschanzt zu haben. Im April 1938 schrieb Zwierschütz der NSDAP: Ich bitte daher, die Herren der NSDAP, auch dieses schändliche Werk des Herrn Brusatti, welches es nach original jüdischem Muster vollbrachte […].52 Neben dem „nach jüdischem Muster“ sah er Brusattis Vorgehen als „in bolschewistischer Manier“. Josef Zwierschütz war nicht der Einzige, der die NS-Machtübernahme für Schuldentilgung oder das Vermeiden von Nachzahlungen sowie Gerichtsprozesskorrekturen zu gebrauchen gedachte. Ähnliches wird uns bei den „Arisierungen“ noch zur Genüge begegnen. Anzeigen bei der Polizei oder sonstigen Stellen waren eine Möglichkeit der Denunziation. Es ging allerdings subtiler und zugleich öffentlichkeitwirksamer. In einem „Leserbrief“ in der Badener Zeitung wurde eine Badenerin aufgefordert ihre Wäsche nicht mehr aus dem Fenster zu hängen, den Teppich nicht auf der Straße klop50 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Verfolgung und Meldezettel. 51 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Klinger Franz (geb. 1893) und Klinger Karl (1909). 52 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Zwierschütz Josef (geb. 1880).
Kapitel 6 Der erste Sommer unter dem Hakenkreuz
fen zu lassen und ihren Bediensteten endlich Manieren beizubringen. Denn das bisher an den Tag gelegte Verhalten wäre unwürdig, undeutsch und sabotiere das Ziel der Kurstadt, Großdeutschlands größter Schwefelkurort zu werden. Gerichtet war das Schreiben an eine Sehr geehrte gnädige Frau und gezeichnet mit Handküssen von Ihrem unguten Zeitgenossen.53 Ließ man sich dies alles gefallen? Vereinzelter Widerstand war vorhanden. Aber wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass es aufwärtsging! War es da sinnvoll, Widerstand zu leisten? Am 18. März 1938 wurde eine Hakenkreuzflagge vom Bezirksaltersheim in der Wienerstraße entwendet.54 Widerstand? Gegenwehr? Weshalb haben die Österreicher nicht geschossen, brach es neugierig aus Heimo Meissner am Mittagstisch hervor. Sein älterer Bruder Hans unterließ solche Fragen, da er die Reaktion des Vaters vorhersehen konnte. Deutsche schießen nicht auf Deutsche!, brauste der Vater auf. Sein Bruder Heimo musste sofort das Zimmer verlassen, weil er sich der Tränen schämte.55 Die Nein-Stimmen bei der Pseudo-Volksabstimmung waren ein kleiner Akt des Widerstandes von Mutigen bzw. Leichtsinnigen. Es waren symbolische Gesten, mit denen man nicht viel gewinnen konnte, dafür viel verlieren. Tags darauf kam es vielleicht zu einem erneuten Widerstandakt. Eine weitere Hakenkreuzfahne wurde in der Isabellastraße 35 gestohlen. Wert war sie damals 15 Schilling.56 Aber das war Minderheitenprogramm, unbedeutend, darum bräuchten wir uns eigentlich nicht zu kümmern. Anderseits: Die Anfänge der NSDAP in Baden, der Trägerin des Nationalsozialismus, begannen genauso unbedeutend und ausgehend von einer vernachlässigbaren Minderheit, die verlacht und verspottet wurde. An deren Spitze stand Franz Schmid, der schon etliche Male Erwähnung fand. Wollen wir uns ihm jetzt etwas genauer widmen und ebenso dem Werden der Badener NSDAP.
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BZ Nr. 51 v. 25.06.1938, S. 1. Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 3. StA B; Oraly History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 2. Vgl. StA B, GB 231/Frührapporte 1932–1946 – Frührapport (12.04.1938).
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Kapitel 7 Nr. 52.294 und seine NSDAP Oder: Wie ein Mann die Thermenregion braun einzufärben gedachte
Der Nationalsozialismus sprach alle gesellschaftlichen Schichten an. In den Augen der Gegner war dieses zersplitterte Wählerpotenzial ein gewaltiger Nachteil. Eine so vielfältige Wählerschicht könnte niemals in eine große Volksbewegung münden. Eine Annahme, die sich bitter rächen sollte. Der Nationalsozialismus schwärmte von einer sozialen „Volksgemeinschaft“ ohne Klassen- und Standesunterschiede. Wie diese „Volksgemeinschaft“ aussehen sollte, bewies die NSDAP in den 30ern zur Genüge – unabhängig ob in Deutschland oder Österreich. In Deutschland forderte allein der Wahlkampf Juli 1932 über hundert Tote und weitere 1500 Verletzte. Die NSDAP strebte keine Regierungsverantwortung an, sie wollte Macht, die totale Macht.1 Betrachten wir die Situation in Österreich, genauer gesagt in Baden, so treffen wir auf eine Minderheit und darin auf einen Mann, der wiederum zu einer Minderheit innerhalb der NSDAP gehörte. Jemand, der den radikalen und brutalen Weg in gewissen Zügen ablehnte und stattdessen Regierungsverantwortung zu übernehmen bereit war – Franz Schmid. Eine fünfstellige Mitgliedsnummer im Parteibuch der NSDAP ist mehr als ein arithmetischer Begriff, ist mehr als eine bloße Reihungsziffer. Diese Nummern unter „Hundertausend“ sind Ehrenzeichen. Sie heben ihren Träger unter der Millionenmasse der übrigen heraus. Denn sie bedeuten die Zugehörigkeit zur Bewegung von der Geburtsstunde des Nationalsozialismus an. Überschwänglich fuhr der Schreiber fort. Diese „unter Hunderttausender“, waren die Allerersten, die ihr ganzes Sein, ihre Kraft und ihr Leben der Idee des Nationalsozialismus verschrieben hätten und sie hatten den Glauben zu einer Zeit schon, als man sie und ihre Idee verlachte und verhöhnte. Diese ersten Hundertausend hatten das unbeirrbare, durch nichts zu erschütternde Vertrauen in den Sieg.2 Ehrerbietige Schreiben trudelten nach dem Anschluss in Scharen ein. Dort wurde Schmid fast schon angepriesen, als ein gerechter und aufrichtiger Stadtvater, als jemand, dem das Wohl seiner Stadtkinder genauso wie das des gesamten Volkes am Herzen lag.3
1 2 3
Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 137, 159 und 248. StA B, GB 052/Personalakten Schmid Franz: Fasz. II Korrespondenz; 1938 – Parteibuch-Nummer 52.294. StA B, GB 011/Stadtrichter u. Bürgermeister 1920–1945; Amtskorrespondenz – Marie Dunz an Schmid (01.07.1938).
Kapitel 7 Nr. 52.294 und seine NSDAP
Solch Komplimenten gegenüber war Schmid empfänglich, und er scheute sich auch selbst nicht, sich gekonnt in Szene zu setzen. Ich habe durch volle 37 Jahre in Ehren gedient, und wenn ich dann später infolge meiner politischen Betätigung von einer entarteten Regierung als Verräter verfolgt und in den Kerker gebracht wurde, so zeichnet mich das heute besonders aus.4 Schmid war kein Unbekannter. Seine Parteigenossen in Baden wussten, was sie ihm alles zu verdanken hatten. Nach seiner Inthronisation als Bürgermeister, war es nur logisch, dass der Zweiundfünfzigtausendste der alten Hitlergarde Franz Schmid heißt, dann darf wohl auch Baden ein klein wenig stolz sein, gerade einen solchen bevorzugten und treuen Vorkämpfer der nationalsozialistischen Idee als Bürgermeister zu haben.5 Als 1940 sein zweijähriges Dienstjubiläum zelebriert wurde, ergoss sich die altbekannte Lobhudelei. Emil Pfeiffer verkündete im Namen sämtlicher Mitarbeiter für seine rastlose und aufopferungsvolle Arbeit im Interesse von Baden und damit zugleich auch im Interesse von Führer, Volk und Reich den herzlichsten Dank zu sagen. Er wisse, dass der Bürgermeister die Stadt einer besseren Zukunft entgegenführen werde […]. Hans Lang dankte ebenfalls im Name aller Badener dem Bürgermeister für seine selbstlose Arbeit und gibt ihm die Versicherung, dass die Ratsherren ihre ganze Kraft einsetzen und auch weiterhin seine treuen Mitarbeiter bleiben werden. Und auch Kreisleiterstellvertreter Rudolf Witzmann hielt sich in keinster Weise zurück, den Jubilar und dessen Leistungen gebührend zu würdigen. In dieser Gedenkstunde müsse auch er kurz des Bürgermeisters als jenes Mannes gedenken, der immer zu Stelle gewesen sei, der schon vor zehn, zwölf und mehr Jahren hinausgezogen sei als Redner, als Prediger für die Idee unseres Führers und dem es zum Großteil zu danken sei, wenn unsere Heimat schon frühzeitig für diese Idee gewonnen worden sei.6 Die einsetzende Hagiographie zu Lebzeiten des Betroffenen ist der Badener Zeitung wiederkehrend zu entnehmen. Hans Wohlschlager, der einen Artikel über Schmid verfasste, machte von Anfang an klar: Der folgende Artikel erhebt keinen Anspruch auf journalistische Wertung.7 Wir lesen von schwersten Kämpfen, schikanösestem Verhalten, von unzähligen Schikanen in Form von Disziplinar- und Verwaltungsverfahren, aber auch von Arbeitsfreude, Arbeitskraft und Selbstlosigkeit. Und erst das Schlusswort: Unser Franz Schmid als Mensch? Bei seiner hohen Bescheidenheit wird es einige Zeit dauern, bis er mir diesen Artikel verzeihen wird. Ich konnte es ihm aber nicht ersparen und schließe nun schleunigst mit den besten Glückwünschen für ihn, aber auch für uns, dass wir ihn haben.8 Selbst Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später schwärmten Zuhörer seiner Vorträge, wie Walter Hofer im März 1942, der Schmid in den 30ern bei einer Veranstaltung am Podium erlebte hatte, wie sie von 4 5 6 7 8
BZ Nr. 23 v. 19.03.1938, S. 2. StA B, GB 052/Personalakten Schmid Franz: Fasz. II Korrespondenz; 1938 – Parteibuch-Nummer 52.294. Ebd. 1940 – Niederschrift Festsitzung (13.03.1940). BZ Nr. 22 v. 16.03.1938, S. 1. BZ Nr. 22 v. 16.03.1938, S. 2.
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dessen Inbrunst und Voraussicht regelrecht erfasst wurden, obwohl damals konnten wir noch nicht die tiefste Bedeutung Ihrer Worte verstehen, aber eines wussten wir, nämlich, dass wir nur dort hin gehören, wo das deutsche Volk steht u. wo ein Adolf Hitler uns führt.9 Schmid erscheint hier fast schon als Prophet, der die Menschenwerdung des braunen Gottes aus Braunau verkündete. Große Worte, reichlich Pathos, bei gleichzeitiger vornehmer Zurückhaltung. Als nach dem Anschluss sein Porträt in einer Auslage ausgestellt werden sollte, fühlte sich Schmid zwar geschmeichelt, doch gab er zu bedenken, dass an diesem Tag nur einer im Vordergrund stehen dürfe und das war der Führer.10 Seine eigenen Verdienste musste er nicht unter Beweis stellen, diese standen ohnehin außer Frage. Deswegen reagierte er leicht verschnupft, als im Sommer 1938 Nazigranden wie Goebbels und Hess durch die Ostmark tourten und er bei diesen triumphalen Fahrten nicht mit einbezogen war. Er wandte sich an Gauleiter Hugo Jury und merkte an: Jedenfalls würde ich mich freuen, wenn man sich gelegentlich einmal auch eines alten Kämpfers und eines kleinen Bürgermeisters der Stadt- und Kurgemeinde erinnern würde und bei derartigen Fahrten meiner gedenken würde. Ich will nicht aufdringlich sein, glaube aber nun aus meiner bescheidenen Reserve doch ein wenig herauszutreten zu müssen um zu bitten, auch mich bei Fahrten oder Ehrungen „Illegaler“ teilhaftig werden zu lassen.11 Wenn wir einen Moment innehalten, drängt sich doch förmlich die Frage auf, auf was hinaus er eigentlich gerade für sich in Anspruch nahm, sich auf eine Stufe mit NS-Größen wie Goebbels oder Hess zu stellen? * Franz Schmid wurde am 15. Oktober 1877 in Hof (Bezirk Bruck an der Leitha) geboren. Er trat 1895 in den Postdienst ein, 1911 übersiedelte er nach Baden und 1919 begann seine politische Karriere. Angeblich war er bereits 1912 bei einer Vorläufergruppierung der NSDAP dabei. Jedenfalls war er keine Parteibuchleiche. Auf einer Tagung auf der Wasserburg bei St. Pölten im April 1942 referierte er ausführlich über seinen politischen Werdegang.12 Glaubt man seinen Ausführungen, so war dieser Mann einer der führenden Player, der die NSDAP in Baden und Umgebung sowie im Land Niederösterreich und zeitweise sogar österreichweit mitgestaltete. In Baden hatte sich Schmid 1919 zuerst dem „Unpolitischen Wirtschaftsbund“ angeschlossen – er rangierte an letzter Stelle der Kandidatenliste. Für einen Mann seines Formates war das natürlich ein No-Go, und im selben Jahr gründete er die Ortsgruppe der
9 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Hofer Walter (geb. 1910). 10 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 5. 11 StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1938 – Schmid an Gauleiter Jury (25.06.1938). 12 Vgl. ebd. 1942 – Bericht Schmid (22.04.1942).
Kapitel 7 Nr. 52.294 und seine NSDAP
NSDAP in Baden (bzw. deren Vorgängerpartei DNSAP).13 Frühere NS-Prominenz wie Walter Riehl wurden eingeladen, um über Partei und Programm Auskunft zu geben. Einer seiner ersten Wegbegleiter war der Elektriker Josef Brandstetter. Die Ortsgruppe wurde im Gasthaus Auer in der Uetzgasse gegründet. Obmann wurde der Betriebsleiter der WienBadener Lokalbahnen, Dr. Paul Behn. Schmid selbst trat als Redner auf und war bei der Gründung weiterer Ortsgruppen federführend: Kritzendorf, Pressbaum, Wiener Neustadt, Pottschach, Berndorf sowie der Stützpunkte in Felixdorf, Leobersdorf, Erlach, Ebreichsdorf, Pottendorf, Ebenfurth, Gloggnitz, Perchtoldsdorf, Mödling, Liesing, Neunkirchen, Ternitz, Winzendorf, Traiskirchen und Bruck a. d. Leitha – die nach einiger Zeit zu Ortsgruppen umgewandelt wurden. Die Ortsgruppen brauchten eine gemeinsame Koordinierung. Es kam zur Gründung der Kreisleitung „Viertel unter dem Wiener Wald“ in der Badener Gastwirtschaft „Schubert“ (Annagasse 6). Bei so einem Organisationstalent wie Schmid es aufwies, war es nur selbstverständlich, dass er zum Vorsitzenden der Kreisleitung ernannt wurde. Den Vorsitz als Kreisobmann sollte er bis 1926 innehaben.14 Vom Deutschtum überzeugt, nahm Schmid Kontakt zur Großdeutschen Volkspartei (GDVP) auf, um das nationale Lager nicht unnötig zu zersplittern. So kam es, dass sich die NSDAP terminlich an den anderen national und völkisch gesinnten Vereinen/Parteien orientierte, um sich nicht gegenseitig die Anhänger streitig zu machen. Man besuchte dieselben Veranstaltungen, teilte dieselben Lokalitäten, doch zu wirklichen Fusionen kam es nicht. Schmids Nationalsozialisten blieben eine der vielen damals vorhandenen nationalen und völkischen Gruppierungen. Entgegen seinem Vorhaben war und blieb das politische rechtsrechte Terrain zersplittert. Für Schmid ein untragbarer Zustand.15 Am 1. Reichsparteitag für Österreich in Salzburg (1920) gehörte er zu den Teilnehmern und im selben Jahr stellte er sich der Wahl für ein Nationalratsmandat. Das Werbe- und Wahllokal war in seiner Privatwohnung (Allandgasse 5) untergebracht. Ein schwerer Weg, es war nicht leicht, sinnierte er bei einem Vortrag 1942. Zudem stossten wir immer auf den Widerstand der roten und schwarzen Parteisekretäre und der rot-schwarzen bezahlten Kreaturen. Im Hintergrund stand die Judenfratze, die uns die verhetzten Volksgenossen als Knüppelparade des Weltjudentums entgegenstellte.16 Trotz übersichtlicher Zahlen was Parteimitglieder, Wähler und Veranstaltungsbesucher anbelangte, mussten von Veranstaltung zu Veranstaltung langsam aber doch immer größere Lokalitäten angemietet werden. Es hielt sich alles noch im kleinen Rahmen, aber die Badener NSDAP bespielte in den Anfangsjahren sämtliche Säle der Kurstadt, ob es nun der Kurhaussaal war oder das Hotel „Stadt Wien“. Der
13 Vgl. ZGIERSKI Dominik, Jesus, Marx und Nibelungen. Die politische Lagermentalität der Ersten Republik in Baden bei Wien (Baden 2013), S. 19. 14 Vgl. BZ Nr. 47 v. 14.06.1944, S. 1. 15 Vgl. ZGIERSKI, Jesus, Marx und Nibelungen, S. 37 und WIESER Christoph, Badens braune Vergangenheit. Der Weg zur Macht (Baden 2004), S. 37. 16 StA B, GB 052/Personalakten Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942 – Bericht Schmid (22.04.1942).
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nächste Coup gelang 1923, als Schmid fast schon als Ein-Mann-Show den „Weckruf“ aus der Taufe hob. Am 1. August 1923 erschien die erste Ausgabe der NS-Lokalzeitung. Der Weckruf erschien alle zwei Wochen bis 1925. Schmid als Kreisobmann wollte damit seinen Einflussbereich medial-ideologisch abdecken. Die Verbreitung des nationalen Sozialismus stand auf der Agenda, das Schaffen von Arbeit und als Dogma „Gemeinnutz statt Eigennutz“.17 Was ihn und die NS-Bewegung daran hinderte, das stand ebenso bereits in der ersten Ausgabe des Weckrufs, der Terror der Judentruppe alias Republikanischer Schutzbund. Stolz erzählte der damals 65-Jährige von Saalschlachten und sonstigen Ausschreitungen. Doch die Gefahr kam nicht nur von außen. Die Parteispaltung hing wie das Damoklesschwert über dem nationalistischen und völkischen Lager, egal, ob in Deutschland oder in Österreich. 1924 spaltete sich von der DNSAP der Deutschsoziale Verein unter dem bisherigen Parteichef Walter Riehl ab. Die DNSAP übernahm der Werkzeugmacher Karl Schulz. Des einen Leid, des anderen Freud – Rot (SDAP), Schwarz (CSP) und Blau (GDVP) frohlockten über die Atomisierung des ohnehin zersplitterten braunen Spektrums. Die Bedeutungslosigkeit mache die DNSAP nicht einmal hassenswert, klagten führende Nationalsozialisten. Dafür gab es im selben Jahr (1924) eine erfreuliche Premiere aus Sicht der Badener Nationalsozialisten. Erstmals durften sie zwei Vertreter ihrer Partei in den Badener Gemeinderat entsenden – Franz Schmid und den Schlosser Robert Michalek.18 Vollständigkeitshalber seien noch die restlichen Wahlwerber genannt, da einige von ihnen zur alten Garde der Badener NSDAP gehören sollten: Gewerbetreibender Alexander Paleczek (geb. 1883), Gerichtsbeamter Johann Gotz (geb. 1881), Magazineur Johann Spitzer (geb. 1876), Lehrer Götz Fink (geb. 1864), Bäckergehilfe Fritz Kraupa (geb. 1890), Schuhmacher Franz Pfleger (geb. 1889), Steueramtsdirektor Ferdinand Schütz (geb. 1879), Tagelöhner Josef Grabner (geb. 1871), Hausfrau Hermine Jahnel (geb. 1875), Professor Dr. Franz Walter (geb. 1885), Postangestellter Josef Zöchling (geb. 1879), Musiker Hans Holfelder (geb. 1879), Weinhauer Karl Mayer (geb. 1867), Pensionistin Sophie Holfelder (geb. 1878), Bundesbeamter Dr. Franz Ortmann (geb. 1891), Stationsvorstand Karl Edelbauer (geb. 1878), Bundesbahnbeamter Ignaz Tauscher (geb. 1887).19 Doch die Freude währte nur kurz – wenn wir wieder auf die NSDAP im Gesamten blicken. Sie zeichnete sich durch Misswirtschaft und eine politische Bedeutungslosigkeit aus. Als ob das nicht genug wäre, kam es zu weiteren Unstimmigkeiten. Dem neuen Parteiführer Karl Schulz wurde ein zu moderates Vorgehen vorgeworfen. Der Mittelschullehrer Richard Suchenwirth pilgerte daraufhin nach München und vollzog den Kniefall vor dem neuen Superstar des rechtsextremen Lagers, Adolf Hitler. Bedingungslos unterstellte er sich dem kommenden Führer und mit ihm zahlreiche Kreise und Ortsgruppen. So kam es, wie es kommen musste – im August 1926 der nächste Bruch. Der radikalere Suchenwirth-Flü-
17 Vgl. Weckruf v. 01.08.1923, S. 1. 18 Robert Michalek (1884–1966). 19 Vgl. Weckruf v. Mitte November 1924, S. 1.
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gel setzte sich durch. Karl Schulz trat ab.20 Auf dem Parteitag in Passau war der Kreis Baden mit dem Bundesbeamten Ignaz Tauscher vertreten. Die Kreisparteitagung stellt am Anfang ihrer Entschließung den unersichtlichen Willen aller versammelter Ortsgruppenmänner fest, mit allen Kräften und mit bestem Wissen und Gewissen mitzuhelfen, die nationalsozialistischen Ideen sobald wie möglich zur Herrschaft zu bringen. […] Die Tagung sieht nur einen Weg, der gangbar ist, den Weg zu Hitler.21 Zwei Wochen später wurde Gesagtes bestätigt, ein jeder von uns muss mithelfen die nationalsozialistischen Ideen raschest herrschend zu machen. Jeder Tag ohne wirkliche Arbeit ist nicht nur verloren, sondern auch Gewinn unserer Feinde. Wir haben genug des hässlichen Bruderstreits, denken wir doch endlich an wirkliche Arbeit! Persönliche Gehässigkeit, demagogische Phrase ist uns nichts, alles dagegen ist uns die Einheit im Willen und in der Tat und in der Führung zu unserem Endziel. Was sich in Wien auftut, das ist die verzweifelte Anstrengung des gekränkten Führers HITLER – Schulz, beide Diener der nationalsozialistischen Idee, beide berufen, aber nur einer auserwählt – HITLER! Wir folgen ihm und nur ihm. 22 Zwei oder drei Ortsgruppen im Viertel unter dem Wienerwald verblieben bei Schulz. Die damaligen Streitereien und Querelen bezeichnete Schmid als unschön. Im Jahr des „internen Anschlusses“ war er Kreisleiter bzw. Kreisobmann. Ende des Jahres 1926 übernahm Konrad Hawel aus Mödling den Kreis. Drei Jahre später, 1929, war Schmid erneut Kreisleiter für das Viertel unter dem Wienerwald. Konrad Hawel musste den Posten abgeben. Er konnte offenbar mit Geld nicht umgehen.23 In seiner ersten Gemeinderatsperiode (1924–1929) beackerte Schmid lokalpolitische Themen wie Stadttheater, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot. Sein politisches Agieren war das eines „normalen“ Oppositionellen. Seine Einwände waren oftmals „gewöhnlich“, sprich eine speziell nationalsozialistische Ausrichtung war kaum erkennbar – das betraf sämtliche Parteien im Gemeinderat. Der Gemeinderat war kein Ort, um die großen parteipolitischen Ideologien umzusetzen. Themen wie Kanalsanierung, Straßenbau und Beleuchtung, Neu-Parzellierungen oder Debatten über die Sanierung von Kureinrichtungen wiesen selten eine erkennbare christlichsoziale, nationalistische, konservative, sozialistische oder sonstige Ideologie auf. Nach den geschlagenen Gemeinderatswahlen 1929 verpasste die NSDAP um eine Handvoll Stimmen das zweite Mandat. Robert Michalek musste den Hut nehmen, es verlieb nur noch Franz Schmid als alleiniger Vertreter der NSDAP. Und für ihn war klar, das Wahlergebnis roch nach Schiebung, Betrug und Verschwörung.24 Dennoch machte Schmid weiter wie bisher, Oppositionspolitik im Gemeinderat, während er als Kreisleiter die NS-Strukturen erweiterte. Bis Anfang der 30er begann die NSDAP zu wachsen, fallweise exponentiell, besonders in den 31er- und den NS-goldenen 32er-Jahren. Just in dem Moment verlor Schmid im Februar 1932 seinen Kreisleiter-Posten 20 21 22 23 24
Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 122. StA B, GB 052/Personalakten: Tauscher Ignaz (1887–1946) – Entschließung (22.04.1926). Ebd. – Rundbrief an alle Ortsgruppen (07.09.1926). StA B, Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942 – Bericht Schmid (22.04.1942). Vgl. ZGIERSKI, Jesus, Marx und Nibelungen, S. 54.
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erneut. Nach einer, wie er schreibt, eingehenden Aussprache mit Gauleiter Josef Leopold wurde Schmid zum Geschäftsführer ernannt und im Kreis folgte ihm Walter Rentmeister. In etwa der selben Zeit wurden weitere Kreisleitungen gegründet, sodass es 1932 vier davon in Niederösterreich gab. Wenig später wurden die Bezirksleitungen eingeführt und später zu Kreisleitungen unbenannt.25 Trotz des Verlustes des Kreisleiterpostens wurde Schmid mit etwas viel Besserem entschädigt. Bei der niederösterreichischen Landtagswahl im April 1932 schoss die NSDAP von 0,5 Prozent auf 14,1 Prozent. Schmid wurde NSDAP-Landtagsabgeordneter – einer von acht. Die Lokalpresse, die ihn bereits abgeschrieben hatte, hatte wieder was zu berichten. Von Schrei- und Schimpfeskapaden der NSDAP-Mandatare war zu lesen. Jene brachten zwar Leben in den Landtag, doch letztendlich galt die NSDAP als sinnlose Erfindung, die nichts Gehaltvolles zu bieten hätte. Angespornt von dem Wahlerfolg auf Landtagsebene, witterte Schmid Oberwasser und radikalisierte sich verbal im Badener Gemeinderat. CSP, SDAP und die Lokalblätter reagierten mit Hohn und Spott. Schmid wurde als bedauernswerter Mann bezeichnet, ein Komödiant, gar als Schande für den Kurort, dem man das „Demagogerln“ noch austreiben werde. Im Gemeinderat hieß es „Alle gegen einen“. CSP, SDAP und GDVP, souffliert von der Galerie im Sitzungssaal, ließen es sich nicht nehmen, Schmid bei jeder Gelegenheit bloßzustellen. Für Unverständnis und vor allem Wut sorgten Krawallaktionen junger NS-Aktivisten. Nicht minder schädlich waren Gerüchte und sonstige Horrorgeschichten, wonach Frauen im Kurpark von Juden oder „Zigeunern“ vergewaltigt würden. Das mondäne und ruhige Kurortflair war sakrosankt. Dieser Aspekt bildete den kleinsten politischen gemeinsamen Nenner der Badener Parteien. Die Ruhe und Erholung, das Wohl und die Genesung der Kurgäste sicherten schließlich das wirtschaftliche Überleben. Störaktionen jeglicher Art, wie Schlägereien, antisemitische Schmieraktionen und das Anpöbeln jüdischer Kurgäste, wofür die jungen NS-Anhänger bekannt waren, trafen den finanziellen Nerv der Stadt. Für das sozialistische Lokalmedium „Badener Wacht“ (BW) war das eine vorhersehbare Entwicklung gewesen. Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit waren (und sind) wunderbare Nährböden für so etwas wie die NSDAP. Die CSP hingegen fokussierte sich auf die Gottlosigkeit, die der Sozialismus salonfähig gemacht habe. CSP und SDAP schoben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu, wer nun die Verantwortung für das Erstarken der NSDAP trage. Zugleich bezichtigten die beiden Parteien einander, dass die jeweils andere insgeheim mit der NSDAP paktiere. Trotz Streiterei war eines unumstößlich: Die Aktionen der NS-Jugend gingen auf das Konto von Franz Schmid – hier herrschte Einigkeit. Er war der Hetzer, Anstifter und Initiator. Ob dem tatsächlich so war, interessierte niemanden. Schmid, das muss dazugesagt werden, war in dieser Zeit ein wunderbarer Sündenbock für alles.26 Ihm selbst konnte das ziemlich egal sein. Die NSDAP war im Aufwind. Er war Landtagsabgeordneter und Gauamtsleiter 25 Vgl. StA B, Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942 – Bericht Schmid (22.04.1942). 26 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 22–29 u. 63–65.
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der Abteilung II (Finanzen und Personalwesen).27 Wirklich lange konnte er sich an diesem Karrieresprung nicht erfreuen. Am 19.Juni 1933 wurde ein Betätigungsverbot über die NSDAP ausgesprochen. Die Böller, Bomben und Granatenwürfe hatten ein nicht mehr hinnehmbares Ausmaß angenommen. Dennoch konnte er zufrieden sein. 1933 schrieb er einer Besucherin aus Berlin: Wir haben seit dem Vorjahr, ganz besonders nach den n.ö. Landtagswahlen von 24. April 1932, unsere Mitgliederzahl fast verdreifacht, was für einen judenverseuchten Kurort immerhin ein schweres Stück Arbeit bedeutet.28
Schiller, Gasteiner und die Tante Marie Mit großer Freude wurde im Juni 1933 das NSDAP-Betätigungsverbot im Badener Gemeinderat aufgenommen. Schmid verlor sein Landtags- und Gemeinderatsmandat. Was sich in diesen Tagen abgespielt hatte, darüber gab Schmid in mehreren Berichten Auskunft. Jene, die er im November 1938 nach Aufforderung der Gauleitung verfasste, hätten laut ihm weitaus umfangreicher sein können, doch war er zu diesem Zeitpunkt mit kaum zu bewältigenden Arbeiten überlastet […].29 Binnen 5 Tagen musste der Haushaltsplan stehen, aber Folgendes hatte sich zugetragen. Als Landtagsabgeordneter und Leiter der Abteiling II (Finanzkartei, Personalwesen) hatte er bereits Tage vor dem Verbot, Material vernichten lassen. Selbst die Schreibmaschinen wurden in Sicherheit gebracht und die Räume versiegelt. Dann klickten die Handschellen. Er sowie die Landtagsabgeordneten Sepp Autried, Dr. Konrad Höfinger, Rudolf Saliger und Emmo Langer wurden im Landesgericht I Wien eingekerkert. Walter Rentmeister und SA-Führer Karl Straßmayr flohen ins Altreich. Für Schmid und einen Teil seiner Kameraden winkte nach dreiwöchiger Haft erneut die Freiheit. Einzig Rudolf Saliger blieb länger in Haft und Landesrat Josef Leopold wurde in Wöllersdorf interniert. Nach Schmids Entlassung nahm er Kontakt zu der Exil-Gauleitung Niederösterreichs in München auf. Er kümmerte sich zuerst um die Schulden der Partei und das erfolgreich, wie er überaus selbstbewusst ausführte: Trotz Verbotes gelang es mir mit den Gläubigern N. Österreichs einen Ausgleich zu schließen und somit die Ehrenschulden honorig zu beseitigen.30 Ehre, Anstand und Handschlagqualität – so sah Schmid den Nationalsozialisten bzw. sich selbst. Doch zuvor gewährte man dem alten NS-Recken einen Triumphzug. Seine Rückkehr aus der Haft wurde in Baden zu einer imposanten Machtdemonstration der kleinen aber gut organisierten NS-Gemeinschaft. Ihrem Widerstandskämpfer und
27 Vgl. StA B, Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942 – Bericht Schmid (22.04.1942). 28 StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. III; Ermittlungen nach 1945 – Schmid an L. Goebel-Hellköter, geb. Westerheide. 29 Schmids Bericht über die illegalen Tätigkeiten der NSDAP in Baden von 1933 – 1938, DÖW, abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/archiv (10.04.2023). 30 Ebd.
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Märtyrer wurde ein fulminanter Empfang am Badener Bahnhof beschert. Josef Brandstetter konnte an die 400 bis 500 NS-Sympathisanten mobilisieren, die mit Autos und Motorrädern den Freigelassenen in Empfang nahmen und unter lautstarkem „Sieg Heil“- und „Heil Hitler“-Rufen durch die Stadt zum „Bürgerhof“ in die Breyerstraße 4 geleiteten. Ihnen standen anfänglich fünf Sicherheitsorgane gegenüber. Erst später wurde Verstärkung gerufen. Es kam zu Handgreiflichkeiten und dem Einsatz der Dienstwaffe.31 Die Zahl von 400 bis 500 NS-Anhängern war einerseits ein deutlich hörbares Säbelrasseln. Anderseits, wenn wir der Aussage des Ortsgruppenleiters Maximilian Rothaler nach 1945 Glauben schenken wollen – das Gericht tat es –, bestand der harte NS-Kern in Baden nach dem Verbot aus ca. 30 Nationalsozialisten, alle anderen fielen während der Verbotszeit ab und stellten jegliche Tätigkeit und Bezahlung von Mitgliedsbeiträgen ein.32 Aber die 30 reichten aus. Es war eine verschworene, aufopferungsbereite, rücksichtslose und gewaltbereite Clique. Erneut waren es überwiegend junge Männer, die mit Böllern und Sprengstoff um sich warfen, Hakenkreuze an Wände schmierten oder an prominenten, gut sichtbaren Orten Holzswastika entzündeten. Weniger aktionistisch agierten Menschen wie Hermine Stöhr, die zwar jegliche offiziellen Beitragszahlungen an die NSDAP unterlassen hatte, jedoch in Form von Spenden den Geldfluss nicht ganz zum Erliegen brachte. Außerdem sorgte sie in ihrer Gastwirtschaft in der Vöslauerstraße für die kostenlose Verköstigung bedürftiger Parteigenossen und stellte der deutschnationalen Verbindung „Herulia“, die mittlerweile ausschließlich aus SS-Mitgliedern bestand, ein privates Séparée zu Verfügung.33 Raum und Speis bei Hermine Stöhr, wer etwas für den NS-Geist suchte, suchte den Buchhändler Dr. Carl Zweymüller auf. Als Illegaler hatte er sich während der Verbotszeit um die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankengutes durch Vertrieb unerlaubter und besonders im Buchhandel nicht erhältlicher Bücher nationalsozial. Inhalts große Verdienste erworben.34 Die Stadtführung gab ihr Bestes um die Terroristen im Zaun zu halten. Es wurde begonnen, die Amtstuben von NS-Sympathisanten zu säubern. Eidesstattliche Erklärungen und Distanzierungen gegenüber der NSDAP trudelten bei den zuständigen Stellen ein. Verwaltungspersonal, Ärzte, Lehrer, Gemeindemitarbeiter – ein jeder wurde überprüft, vorgeladen, verhört und bei Bedarf gemaßregelt, eingeschüchtert oder entfernt. Endlich war der NS-Spuk vorbei, so die Badener Lokalblätter einstimmig. Die NSDAP, so der weitere Tenor der Berichterstattung, wäre ohnehin nur ein Sammelbecken für Kranke und Halbnarren gewesen. Schmid wurde eine sachliche Gemeindepolitik durchaus nicht abgesprochen, wenn er denn nicht dem Größenwahn verfallen wäre. Doch das Verbot führte nicht zum Verschwinden der NSDAP-Anhänger. Der Spuk ging nicht vorüber. 31 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 66–70. 32 Sein Einspruch wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Ortmann Franz (geb. 1890) – Gerichtsurteil (28.09.1948). 33 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Stöhr Hermine (geb. 1897). 34 StA B, GB 052/Personalakten: Zweymüller Carl (geb. 1905).
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Die lokalen Medien wie das christlichsoziale Badener Volksblatt (BVB) und die sozialistische Badener Wacht (BW) schrieben einerseits von Lausbuben und Bubenstreichen, andererseits von Terroristen und einer Mörderbande. Nur nicht die altliberale/nationalliberale Badener Zeitung. Hier dominierte weiterhin der lieblich biedermeierliche und selige Kurort. Wenn ohnehin die anderen darüber berichteten, so der Duktus, wieso sollte man in dieselbe Kerbe schlagen. Man wollte keine Werbung für die NSDAP schalten, stattdessen zeigte man die schönen Seiten der Kurstadt und lud zu einer Zeitreise ein, zu den guten alten Römern, die bereits hier in Baden (römisch: Aquae) die warmen Schwefelquellen nutzten und genossen – um anschließend den Limes zu überschreiten und Germanen abzuschlachten. Die Herangehensweise der Badener Zeitung, der NSDAP keine Bühne zu bieten, war zwar nachvollziehbar, doch Schmieraktionen, das Streuen und Entzünden von Hakenkreuzen, Böllerwürfe und Sprengstoffanschläge, die nun die Kurstadt heimsuchten, wurden damit nicht unterbunden. Die örtlichen Sicherheitskräfte griffen stellenweise hart durch, teils agierten sie lasch, was damit zusammenhing, dass sie unterwandert waren (siehe Kapitel 1). Dass die NS-Terroristen nicht in der Gunst vieler Badener standen, beweisen Anzeigen und Spitzeldienste von Seiten der Bevölkerung. Oftmals waren es Gerüchte, deren Informationsgehalt sich in Grenzen hielt. Man beobachtete, wie bekannte Nationalsozialisten miteinander tuschelten, nebeneinander in der Badener Bahn saßen, gemeinsam spazierten und erstattete Meldung. Die Behörden wie auch Kollmann wurden zeitweise mit Beobachtungen und Verdächtigungen regelrecht überschüttet. Zugleich waren die NS-Widerstandskämpfer ebenso organsiert und durch ihr eigenes Spitzelwesen bestens im Bilde. Zahlreiche Böller- und Bombenanschläge konnten daher niemals aufgeklärt werden.35 Eine weitere Eskalationsstufe bildete der gescheiterte Julipusch 1934. In Baden blieb es weitgehend friedlich. Die Wehrverbände und die Exekutive zeigten Präsenz. Genauso wie im Juni 1933 kam es erneut zu einer Säuberungswelle. Unverlässliche Elemente (Menschen) mussten sofort entfernt, gekündigt und mit gekürzten Bezügen entlassen werden. Pensionsansprüche gingen verloren und im Gemeinderat verkündete Bürgermeisterstellvertreter Julius Hahn, dass die Zügel nun sehr viel enger angezogen würden, für NSDAP-Sympathisanten gäbe es endgültig keinen Platz mehr.36 Für Schmid klickten wieder einmal die Handschellen. Diesmal war es ein vierwöchiger Hausarrest. Für ihn war der gescheiterte Juliputsch eine geschichtliche Episode unserer Bewegung […]. Und der Putsch an sich eine Belagerung des Bundeskanzleramtes und die Beseitigung Dollfuss […].37 Schmid konnte nichts nachgewiesen werden. Bundeskanzler zu ermorden, das war nicht seins. Er setze auf den „evolutionären“ Weg und war damit der ideale Mann für Anton 35 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 71–75 und S. 105f. 36 Vgl. ebd. S. 107f. 37 DÖW: Schmid Bericht über die illegalen Tätigkeiten der NSDAP in Baden von 1933 – 1938, abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/archiv (09.05.2021). Bericht an die Gauleitung (21.11.1938).
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Reinthaller und dessen „Nationale Aktion“, ein Versuch die nationalistischen Kräfte mit dem Ständestaat zu versöhnen. Von Anton Reinthaller nach Wien geladen, wurde er als Vertrauensmann dieser Nationalen Aktion auserkoren. Schmids Bereitschaft zu einem Ausgleich, zu einer Kooperation mit dem Ständestaat, brachte ihm Kritik aus den eigenen Reihen ein. Radikale Kräfte innerhalb der NSDAP misstrauten und kritisierten solch eine deeskalierende Politik. Im September 1934 verfasste Schmid gleich zwei Rundschreiben, in der er als Vertrauensmann der Nationalen Aktion nicht nur eine legale und offene Kommunikation innerhalb der Organisation erläuterte, er mahnte, die Amtswalter der „Nationalen Aktion“ haben sich in keine illegalen Tätigkeiten einzulassen. Weil: der „Nationalen Aktion“ werden böswilligerweise illegale Tendenzen angelastet. Er kreidete das Vorgehen von Provokateuren an, wetterte gegen Putschgelüste und forderte stattdessen ein gutes Einvernehmen mit den Behörden auf rein administrativer Basis und auch gegen das Denunziantentum ist in Flugblättern Stellung zu nehmen, wobei auf die moralische Schädigung hingewiesen werden soll. Ein Appell ist an das gesunde Volksgewissen zu richten, damit die Befriedungsaktion eintritt.38 Dieser kooperativen Minderheit innerhalb der NSDAP, die mit dem Ständestaat auszukommen bzw. zusammenzuarbeiten trachtete – wie ernst gemeint das war sei dahingestellt – gehörte noch der in Baden wohnhafte und spätere Aufsichtsrat und Präsident der Casino A.G. Robert Hammer an. Er war Mitglied beim „Deutschen Club“ und dem „Deutschen Volksbund“.39 Das waren „Vereine“ deutschnationaler bzw. nationalsozialistischer Kräfte, mit denen das Ständestaatregime gedachte, jenes Milieu zu bändigen, spalten oder gar zu zerschlagen. Doch diese Taktik ging nicht auf. Die ausgestreckte vaterländische Hand, egal ob die versöhnliche oder die gestrenge, wurde vom Gegenüber für eigene Zwecke modifiziert – als geschützter Raum für illegale Aktion aller Art. So kam für Anton Reinthallers „Wolf im Schafspelz-Aktion“ im Oktober 1934 bereits das Aus. Die österreichische Regierung zog die Reißleine, da schnell klar wurde, dass die rechts-rechten Kräfte das Illegale nicht lassen konnten. Selbst Franz Schmid, dessen Distanz zur Gewalt und seine Präferenz einer legalen Machtergreifung auf der Hand lagen, konnte dem Konspirativen nicht abschwören. Während der legalen „Nationalen Aktion“ hielt er über illegale Kanäle den Kontakt zum illegalen Landesleiter Josef Leopold aufrecht.40 Und nachdem Reinthaller mit seiner Aktion gescheitert war, begann für Schmid erst recht die Untergrundarbeit. Im Oktober 1934 übernahm Schmid das illegale NS-Hilfswerk für Niederösterreich. Verfolgte und eingekerkerte Parteigenossen sowie deren Familien erfuhren juristischen Beistand sowie finanzielle Unterstützung. Solch eine Organisation verlangte System. Schmid legte sich den Decknamen „Schiller“ zu, seine Ehefrau Marie Schmid trat als
38 StA, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. I; Nationale Aktion. 39 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Hammer Robert (geb. 1869). 40 Vgl. DÖW: Schmid Bericht über die illegalen Tätigkeiten der NSDAP in Baden von 1933–1938, abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/archiv (10.04.2023). Bericht an die Gauleitung (21.11.1938).
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Tante Mitzi in Erscheinung.41 Von August 1934 bis Dezember 1935 berief Schmid als Geldübernehmer für das Viertel unter dem Wienerwald seinen alten Spezi Josef Brandstetter, für das Viertel ober dem Wienerwald Emmo Langer (1891–1949), im Viertel unter dem Manhartsberg saß Konrad Hametter (1898–1941) und dem Viertel ober dem Manhartsberg nahm sich Theodor Holezius an. Schmid schrieb von verlässlichen und einsatzbereiten Parteigenossen der politischen und getarnten NSDAP Organisationen. Doch die Verlässlichkeit wurde brüchig, als die Exekutive 1935 Zähne zeigte. Zwei bis drei Parteigenossen, deren Name ich nicht nenne, verloren bei ihrer Inhaftnahme wahrscheinlich die Nerven und verrieten bei ihrer Einvernahme den Kripo-Beamten, dass „Schiller“ der Pg. Franz Schmid in Baden sei.42 Verständnisvolle oder gar versöhnliche Worte? Wie auch immer. Siebeneinhalb Monate Untersuchungshaft im Kreisgericht Wiener Neustadt und der Verlust seines Ruhegehaltes brachten ihm die verlorenen Nerven seiner verlässlichen Parteigenossen ein. Aber Hilfe nahte und zwar 1936 aus einer ganz anderen politischen Richtung. Das JuliAbkommen 1936 bildete die Makroebene, auf der Mikroebene war es der Badener Bürgermeisterstellvertreter Julius Hahn, der für Schmid ein gutes Wort einlegte. Für ihn war sein ehemals politischer Gegner im Badener Gemeinderat ein politischer Idealist. Jemand, der in Opposition zur Gewaltpolitik der eigenen Partei stand. Jemand, auf dessen Wort Verlass war und der sich nie von anderen Gefühlen als rein ideellen bei all seinen Bestrebungen hat leiten lassen. Rührige bzw. verschrobene Worte fand Hahn ebenso für den Mitangeklagten Josef Brandstetter. Auch er ist ein durchaus aufrechter und ehrlicher Mensch, der nur aus reinem Idealismus dann später in diese Richtung gedrängt wurde, als ihm die Gesundung Österreichs zu wenig rasch vor sich ging. Trotz seiner Bedenken, nicht dass jemand auf die Idee käme, er [Hahn] sympathisiere mit der NS-Bewegung, unterstützte er das Amnestieansuchen. Dies umso mehr, als ich beide Gesuchswerber aus eigener Anschauung durch Jahre hindurch kenne und selbst von der Aufrichtigkeit ihrer Worte überzeugt bin, wenn diese nun Reue bekennen.43 Ob Hahn nun Schmids Charme erlegen, ob es Naivität war oder die beiden eine über die politischen Lager reichende Männerfreundschaft verband – möglich ist alles. Die Beziehung der beiden wird noch Thema werden. Nach seiner Enthaftung schien Schmid unberührt weiterzumachen. Schiller war Geschichte, Gasteiner als neuer Deckname war aus der Taufe gehoben. Und als solcher stieg Schmid Ende 1936 vom Leiter des niederösterreichischen NS-Hilfswerks zum Leiter des gesamt ostmärkischen NS-Hilfswerks auf. Er begann von neuem Personal zu rekrutieren, Kontakte mit Berlin zu knüpfen und Gelder zu verschicken. Österreich wurde in drei Gruppen unterteilt: Gruppe Süd (Burgenland, Steiermark, Kärnten), Gruppe West (Salzburg, Tirol, Vorarlberg) und Gruppe Ost (Wien, Niederösterreich, Oberösterreich). 41 Marie Schmid (geb. 1885). 42 StA B, Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942 – Bericht Schmid (22.04.1942). 43 StA B, Personalakten Franz Schmid Franz; Fasz. I; Mappe Verfahren 1936 und Illegalität – Hahn an Sicherheitsdirektion NÖ (25.05.1936).
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In den Bundesländern, wobei Schmid von Gauen sprach, operierten folgende Mitarbeiter: Wien: Anton Langer, Deckname „Stifter“ Niederösterreich: Eduard Buhl, Deckname „Fuchs“ Oberösterreich: Hans Eisenkolb, Deckname „Ortner“ Steiermark: Ludwig Leinich jun., Deckname „Leitner“ Kärnten: Hermann Stenowetz, Deckname „Lackner“ und „Fercher“ Burgenland: Franz Rehling, Deckname „Reinhardt“ Salzburg, Tirol und Vorarlberg: Leopold Schaschko, Deckname „M/5“ All diese Männer waren führend in der NSDAP-Österreich aktiv und sollten es nach dem Anschluss weiterhin sein. In Berlin hießen Schmids Ansprechpartner SS-Gruppenführer Alfred Rodenbücher (1900–1979) und SS-Oberführer Hanns Albin Rauter (1895– 1949).44 Beide waren für das Flüchtlingshilfswerk der NSDAP tätig und beide stiegen während des Kriegs zu Höheren SS- und Polizeiführern auf. Schmid verfügte, laut eigener Aussage, monatlich über ein Budget von 200.000 Schilling, das mittels eines geheimen Schlüssels an bedürftige und eingekerkerte NS-Genossen verteilt wurde und er versicherte, dass das soziale Element immer maßgebend war.45 Maßgebend war zugleich, dass das Geld stets knapp und das Schindluder nicht weit war. Schmid war darauf bedacht, dass die zu Unterstützenden einer genauen Prüfung unterzogen wurden. Passten sie nicht ins Unterstützungsprofil, versagte Schmid die Hilfsgelder oder deren vollständige Auszahlung. So passiert bei der Witwe eines SA-Mannes, da sie in seinen Augen gewisse Defizite an den Tag legte. Wie die Erhebungen ergaben, verkehrt die Frau seit einiger Zeit mit nicht gut beleumdeten Kommunisten. Die Frau ist nebenbei bemerkt moralisch nicht ganz einwandfrei. Zahlen wir also den gesamten Betrag auf einmal aus, so ist die Möglichkeit gegeben, dass die Frau mit einem Male in den schönsten Kleidern herumgeht oder sonst in den Gasthäusern ihre Kommune-Verehrer frei hält, was unter allen Umständen auffällt.46 Rasch musste er erkennen, dass das nationalsozialistische Ehrgefühl nicht bei allen Parteigenossen sonderlich ausgeprägt war. Plötzlich erinnerten sich einige an illegale Aktionen oder entdeckten auf einmal die Lust am konspirativen Treiben – sofern es einen finanziellen Zuschuss gäbe. Andere wiederum sahen die Hilfsgelder als eine Art Pensionsaufstockung für ihren Ruheaufenthalt im Altreich. Dorthin zurück gezogen/geflüchtet, im Glauben, genug für die NS-Bewegung geleistet zu haben, nahmen sie für sich in Anspruch, sich in ihrem bisherigen illegalen Ruhm sonnen zu können. Und dann finanztechnisch kam noch der „normale“ Schwund hinzu, d.h. irgendwie und irgendwo versickerte ein Teil des Geldes auf Nimmerwiedersehen. Für Schmid war das nicht vereinbar mit dem Spruch „Gemeinnutz statt Eigennutz“ und einem wahren nationalsozialistischen Ethos. Die Inter44 Vgl. StA B, Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942 – Bericht Schmid (22.04.1942) 45 Ebd. 46 StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. I; Illegales Hilfswerk.
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pretationsflexibilität dahingehend wird uns noch öfters über den Weg laufen. Je länger der Krieg dauerte, desto feinstofflicher wurde dieses Ethos. Um etwas vorzugreifen, als es hieß Sowjet ante portas, türmten Schmid und seinesgleichen Richtung Westen. Die Reisespesen wurden wahrscheinlich aus der mitgenommenen Stadtkasse beglichen. Aber zurück zu Franz Schmid der illegalen Zeit. Mit dem Juli-Abkommen 1936 kehrte in Österreich und damit auch in Baden gewisse Ruhe ein. Die Terroranschläge gingen deutlich zurück, die Haftanstalten leerten sich und der Infiltration des Ständestaates durch NS-Anhänger wurde Tür und Tor geöffnet. Schmids angestrebte Evolution nahm ihren Lauf. Doch seine wahrliche Erlösung sollte erst März 1938 erfolgen. Erlösend war nicht nur der in Erfüllung gehende Wunschtraum vom Anschluss und dem Großdeutschen Reich. All das, was er die Jahre zuvor nur Eingeschworenen mitteilen durfte und vor den Behörden leugnen musste, all seine Heldentaten aus illegaler Zeit, durfte er jetzt in die Welt hinausposaunen. Aus der Anklageschrift 1936 geht eindeutig hervor, dass Schmid als Mastermind hinter den Hilfsaktionen gesehen wurde, dessen Treiben auf eine gewaltsame Veränderung der Regierungsform und auf die Vergrößerung der Gefahr einer Empörung oder eines Bürgerkrieges in Inneren angelegt war.47 Ob Schmid tatsächlich über solche Macht und solchen Einfluss verfügte sei wieder einmal dahingestellt, aber allein, dass man ihm so etwas zuschrieb, schmeichelte sicherlich seinem Ego. Zugegeben hatte er nichts – zumindest nicht zwischen 1933 und 1938. Erst dann brach der Damm der Zurückhaltung in sich zusammen. Schmid preschte nicht gleich nach dem Anschluss in die Redaktionsstube der Badener Zeitung. Die ersten hagiographischen Schriften verfassten andere, aber es war anzunehmen, dass er sich selbst auch ein Denkmal setzen würde. Die gleichgeschaltete Badener Zeitung wird nicht lange gezögert haben, seine Geschichten aus der Illegalität in ihr journalistisches Portfolio aufzunehmen. Im März 1939 vertraute er sich dem alleinigen medialen Sprachrohr im Kreis Baden an. Einem Agententhriller gleich, schilderte Schmid, wie er als alter Haudegen mit falschen Identitäten die Behörden an der Nase herumgeführt hatte. Als Tante Marie hatte er Postkarten verschickt, in denen zu lesen war, dass sie dem braven kleinen Pepi demnächst Zuckerln schicken würde … Und meine Freunde wussten, dass es sich um geheime Besprechungen oder um Geldsendungen handle. Seinen Postkarten war genauso zu entnehmen, dass das Wetter in Baden mal unsicher und mal schön war und auch hier wussten seine Freunde was gespielt wurde. Trotz der großen Verantwortung auf seinen Schultern, das Räderwerk unserer illegalen Organisation funktionierte wie geölt. Selbst der lange Arm des Gesetzes lockte dem abgebrühten Untergrundkämpfer nur ein müdes Lächeln hervor. Keck formulierte er, im Dezember 1935 wurde ich zur Abwechslung wieder eingesperrt. Eine Zeit die immer wieder aufregende Tage und Wochen mit sich brachte. Bespitzelungen, Aktentaschen voller Geld, Geldübergaben durch Kuriere, deren Namen er nie herausfand, Lederhosen und Trauerge47 StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. I; Verfahren 1936 und Illegalität – Anklageschrift (23.05.1936).
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wand – es ging nichts ohne Verkleidung – das waren die kleinen heiteren Seiten des illegalen Kampfes. Dass er bitter ernst war und so schwere Opfer kostete, wissen wir alle.48 Schmids Aufstieg bis zum Anschluss 1938 war aus NS-Sicht überaus respektabel. Als überzeugter Nationalsozialist, dem moderaten Flügel angehörend, „bereicherte“ er den Nationalsozialismus in Österreich. Als ein Aushängeschild einer annehmbaren NSDAP war er dadurch Ansprechperson für all jene, die davon ausgingen, den Nationalsozialismus zähmen bzw. ihn in die Regierungsarbeit einbinden zu können. War das alles nur taktisches Kalkül oder war Schmid selbst davon beseelt? Die Frage wird uns noch beschäftigen. Ich selbst habe während der Recherche oft vernommen, dass Schmid kein Radikaler war und ein bereits verstorbener Zeitzeuge charakterisierte Schmid als eine honorige Persönlichkeit – bis auf die Sache mit dem Nationalsozialismus… Fassen wir zusammen: Schmid war von Anfang an dabei. Er blieb dabei, selbst als die NSDAP bzw. das gesamte nationalistisch/völkische Milieu in Österreich alles andere als geschlossen auftrat, sich stattdessen in kleinste Grüppchen zersplitterte, misstrauisch beäugte und sich gegenseitig kannibalisierte. In der NSDAP bzw. anfänglich in der DNSAP selbst sah es nicht besser aus. Intrigen, Misswirtschaft und über Jahre desaströse Wahlergebnisse. Als es bergauf ging, erfolgte das Parteiverbot. Es blieb chaotisch. Man agierte illegal und halblegal. Eine eindeutige Grenze zwischen Parteigenossen und Sympathisanten bestand nicht. Die hierarchischen Verhältnisse waren nicht klar. Wer hatte das Sagen bzw. wer hatte mehr zu sagen? Die nach Deutschland Geflüchteten? Die in der Illegalität Agierenden? Oder der Anschlussmacher der sogenannten Kärntner Gruppe? Immer wieder mischte sich obendrein Hitler ein, der mal die eine Gruppierung, mal eine andere unterstützte.49 Wie auch immer, Schmid agierte stets im nationalsozialistischen Sinne und arbeitete damit Hitler zugearbeitet. Obwohl gemäßigt eingestellt, unterstützte er wissentlich Schlägernaturen, Böllerwerfer und Bombenleger. Oder nennen wir es beim Namen, es waren Terroristen. Schmid machte es möglich, dass diese Menschen ihr blutiges Handwerk umsetzen konnten. Und das war nur der Anfang. Aber mit Rowdys und Hooligans ist kein Staat zu machen bzw. eine Partei straff zu organisieren. Werfen wir deswegen einen kurzen Blick auf die Organisationsstruktur. Es geht um das parteipolitische NS-Herrschafts- und Verwaltungssystem auf Bezirks- und Gemeindeebene sowie deren führende Akteure.
48 BZ Nr. 20 v. 11.03.1939, S. 3. 49 Vgl. JAGSCHITZ, Von der „Bewegung“ zum Apparat, S. 88–122.
Kapitel 8 Provinz Hierarchien und ihre Kaiser Oder: Ein kurzer Abriss über lokale Organisationsstrukturen, NS-Gliederungen und Aufgabenbereiche
Die Kreisleitung war jene parteipolitische Ebene, die zwischen der Gauleitung und den NSDAP-Ortsgruppen angesiedelt war. Heute wäre es die Bezirksleitung der Partei XY. Untergebracht war die Kreisleitung Baden in der Strasserngasse 6. Wofür die Kreisleitung zuständig war, erschließt sich durch das Organigramm, abgedruckt in der Badener Zeitung vom 2. Juli 1938 siehe Anhang: Kreisleitung Baden. An der Spitze der Kreisleitung stand der Kreisleiter. Für den Kreis Baden sind mehrere überliefert. Wobei schon hier die Probleme anfangen, die im gesamten NS-Herrschaftsund Verwaltungsgefüge immer wieder anzutreffen sind: Wann, wie lange und ob überhaupt bzw. auf welche Art wer den Posten innehatte. Die Angaben beziehen sich manchmal die Ernennung oder die Bestellung, manchmal auf die Definitivstellung. Weiters übten einige Personen das Amt provisorisch, kommissarisch, in Vertretung (i.V.) oder als mit der Leitung betraut (m.d.L.b.) aus. Hier kommt der Umstand hinzu, dass zwischen 1938 und 1945 das Provisorische und Kommissarische meist unter den Teppich gekehrt wurde und der Betroffene als definitiver Kreisleiter auftrat, während nach 1945 die iV’s und mdLb’s extra und mit Vehemenz hervorgehoben wurden. Nach 1945 hätte man dann nur im Auftrag anderer oder in deren Namen gehandelt, wurde nie richtig bestätigt, ernannt, eingesetzt, hätte nur eingeschränkte Rechte gehabt, wäre Platzhalter oder eigentlich gar nicht zuständig gewesen. Dasselbe gilt für die im Anschluss an die Kreisleiter kurz skizzierten Ortsgruppenleiter von Baden bzw. für „sämtliche“ Funktionäre der NSDAP nach 1945. Diesbezüglich werden Sie oder sind Sie bereits als aufmerksame Leser auf Widersprüche gestoßen. Deswegen ist die folgende Auflistung ein nicht zu umgehendes Provisorium: Andreas Hanak: August 1931 – September 1932 Heinrich Sieber: Oktober 1932 – Sommer 1934 Thomas Tamussino, Ing. Stiglitz, Ferdinand Ulz: 1934 – 1938 Franz Eckel: Anschluss – 3. Juni 1938 Hans Ponstingl: Juni 1938 – Oktober 1940 oder 6. November 1942 Nobert Kernstock: 1939/40 Rudolf Witzmann: 1940/1941 Camillo Gärdtner: 3. April, 13. oder 23. Juli. 1940 – 17.2.1941
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Franz Hajda/Haida/Hayda: Jänner 1941/12. November 1941 – 1943 bzw. 19. Mai 1942 Hans Hermann: Mai 1942 – 5. November 1943 Camillo Gärdtner: November1/Dezember 1943 bis Kriegsende.
Der Legale und die vier Illegalen Im Fokus sollen im Folgenden die Kreisleiter ab dem Anschluss 1938 behandelt werden. Vollständigkeitshalber sollen noch jene davor erwähnt werden. Der erste Kreisleiter für Baden, nachdem der Kreis Viertel unter dem Wienerwald aufgelöst und die Bezirksleitung gegründet wurde, war der Beamte Andreas Hanak aus Wien. Er trat 1930 der NSDAP bei und wies die Mitgliedsnummer 364.357 auf. Bei seiner Ernennung im August 1931 wurde er noch als Bezirksleiter tituliert. Nach Ende seiner Amtszeit im September 1932 beteiligte er sich als SA-Mitglied in Aflenz am Juliputsch 1934. Später wechselte er zur SS und stieg zum SS-Oberscharführer auf.2 Als Kreisleiter in Baden folgte ihm Heinrich Sieber nach. Seit 1932 Parteimitglied, SASturmführer, Kreisschulungsleiter, führte er von Oktober 1932 bis zu seiner Verhaftung im Sommer 1934 die Kreisleitung. Er fiel Juli 1941.3 Die folgenden Kreisleiter werden in einer Skizzierung Schmids der illegalen Zeit nur namentlich aufgelistet, ihre Amtszeiten fehlen.4 Demnach folgte auf Heinrich Sieber der Mödlinger Thomas Tamussino, dann ein Ing. Stiglitz und danach Ferdinand Ulz, der spätere Kreisleiter von Wiener Neustadt.5
Franz Eckel 1899 in Wien geboren, in Oeynhausen gemeldet, von Beruf Buchhalter, konnte Franz Eckel auf eine sehenswerte NS-Karriere zurückblicken, bevor er im März 1938 zum Kreisleiter von Baden ernannt wurde. Er war ein Illegaler, war in Wöllersdorf interniert und damit berechtigterweise NSDAP-Ehrenzeichenträger. Unter ihm kam es zu Dutzenden willkürlichen Festnahmen politisch Andersgesinnter sowie zu all den Terroraktionen gegen die jüdische Bevölkerung Badens. Von seinen organisatorischen Fähigkeiten überzeugt, legte Eckel sich den Beinamen Säuberungsagitator zu. Weshalb ein so „talentierter“ Parteigenosse im 1 2 3 4 5
Vgl. BZ Nr. 92 v. 20.11.1943, S. 1. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Hanak Andreas (geb. 1896) und NSDAP-Karteikarten groß. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942 – Bericht Schmid (22.04.1942) und NSDAP-Karteikarten groß: Sieber Heinrich (geb. 1910). Schmids Bericht über die illegalen Tätigkeiten der NSDAP in Baden von 1933–1938, DÖW, abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/archiv (10.04.2023) Vgl. SAFRANEK Hans, Wer waren die niederösterreichischen Nationalsozialisten? Biographische Studien zu NSDAP-Kreisleitern, SA und SS (St. Pölten 2020), S. 95–97 – Ferdinand Ulz (geb. 1888).
Kapitel 8 Provinz Hierarchien und ihre Kaiser
Juni 1938 bereits von seiner Funktion als Kreisleiter entfernt wurde, geht aus den Quellen nicht eindeutig hervor. Einer seiner Nachfolger, Camillo Gärtner, hegte den Verdacht, dass die Gauleitung Eckel als einen aufbrausenden unbeherrschten Charakter darstellte, der wahrscheinlich auch deshalb nicht Kreisleiter blieb. Auch sein unmittelbarerer Nachfolger Hans Ponstingl schien Gleiches verspürt zu haben, denn die geplante Ernennung zum Stabsleiter der Kreisbauernschaft und später zum Mitglied des Vorstandes konnte ich aus sachlichen Gründen nicht unterstützen. Um dennoch den verdienten Parteigenossen bei der Stange zu halten, plante er, Eckel in einem größeren Industriebetrieb in maßgebender Position zu installieren. Denn Eckels Qualitäten brächten Ordnung und Kontrolle, denn die Herren Industriellen brechen ja allzu gern aus der Herde der n.s. Gemeinschaft.6 Eckel wurde Finanzkontroller im Bezirk und Kurator über das Schloss in Schönau an der Triesting. In den Jahren 1942 bis 1943 verschlug es ihn als Wirtschaftssonderführer im Rang eines Leutnants auf eine Kolchose in der Ukraine. 1943 soll er aus gesundheitlichen Gründen entlassen worden sein.
Hans Ponstingl Der 1910 in Jennersdorf geborene Hans Ponstingl studierte Jus an der Universität Graz, promovierte 1935 und begann seine juristische Laufbahn am Bezirksgericht Jennersdorf. Anfänglich verspürte er durchaus Sympathien für Dollfuß und die geplante Ständeverfassung, die er in einem Leitartikel erläuterte und für gut beschied. Doch dann verschob sich sein politischer Kompass bzw., da er schon 1931 Parteimitglied geworden war, steuerte er den ursprünglichen Kurs wieder an.7 Der Akt über ihn im Stadtarchiv Baden ist relativ übersichtlich, ausführlicher fällt hier die Kurzbiographie des Historikers Hans Safranek aus. Ponstingl war Mitbegründer der Ortsgruppe Jennersdorf und wurde nach dem Betätigungsverbot der NSDAP-Propagandaleiter. Die illegale Zeit verbrachte er in Jennersdorf, an deren Ende er eine Geldstrafe und ein Woche Haft vorzuweisen hatte – nicht unbedingt DIE illegale NS-Karriere. Bevor er zum Kreisleiter in Baden ernannt wurde, war er von März bis Mai 1938 bei der burgenländischen Landeshauptmannschaft im höheren Verwaltungsdienst beschäftigt. In der Badener Zeitung vom 4. Juni 1938 lesen wir, dass Reichskommissar Bürckel nach Vorschlag des Gauleiters Jury die einzelnen Kreis- und Gauamtsleiter kommissarisch bestellte, darunter Hans Ponstingl.8 Wie lange er Kreisleiter blieb, darüber gibt es unterschiedliche Aussagen. Laut eigener Aussage endete seine Tätigkeit im Oktober 1940. Laut einem Schreiben der Stadtpolizei Baden von 1947 war er Kreisleiter bis zum 6. November
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StA B, GB 052/Personalakten: Eckel Franz. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Ponstingl Hans – Gendarmeriekommando Jennersdorf an Landesgericht Wien (11.09.1947). Vgl. BZ Nr. 45/46 v. 04.06.1938, S. 3.
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1942.9 Dazwischen war er mehrmals abwesend. Von März bis September 1940 war er eingerückt und wurde interimistisch von Camillo Gärtner vertreten. Laut Badener Zeitung gab Gärdtner den Kreisleiter im September 1940 an Ponstingl wieder ab.10 Allerdings war Ponstingl nach seiner Rückkehr nicht mehr allzu lange Kreisleiter vor Ort. Denn die BZ schrieb schon am 19. Oktober 1940, dass Kreisleiter Ponstingl mit sofortiger Wirksamkeit für zwei Monate zur Dienstleistung in den Stab des Stellvertreters des Führers nach München berufen.11 Gärdtner wurde erneut Kreisleiter. Nach 1945 setzte sich Ponstingl in die Steiermark ab, lebte dort unbehelligt 2,5 Jahre, bis er 1947 verhaftet und zu 10 Jahren Haft verurteilt wurde. 1950 erfolgte die Begnadigung durch den Bundespräsidenten.12 Es ist anzunehmen, dass es für Alois Klinger sicher ein Fehl- und Schandurteil gewesen war, den Ponstingl war eine zentral-lokale Figur, denn in seiner inne gehabten Stellung als Kreisleiter in dem durch Kriegsindustrie stark und dicht bewohnten Kreis Baden, hatte Dr. Ponstingl infolge des Dienstbetriebes und des prompt wirkenden Nachrichtendienstes bestimmt Kenntnis von dem Tun und Treiben dieser Unmenschen, welche viele Menschenleben am Gewissen haben und daher auch nicht geschont werden sollten, weil sie das Vaterland und die Nichtfaschisten durch ihre Politik und ausgerichtete Planwirtschaft in den Abgrund und in das Elend hinein gewirtschaftet haben, was sie jetzt aber alle diese prominenten Parteibonzen nicht wahrhaben wollen.13
Hans Hermann Ein gutes Beispiel für widersprüchliche Einschätzungen, Aussagen, Deutungen und Interpretationen sowie Gedächtnislücken bei gleichzeitiger detailverliebter Pedanterie und dem Bestreben, die Wahrheit darzulegen, bieten die Akten zu Hans Hermann, größtenteils erstellt nach 1945. In Baden 1900 geboren, trat der Postbeamte Hans Hermann 1919 der NSDAP bei. Und hier erfolgte der erste Einspruch des Angeklagten. Im Übrigen gab es 1919 noch keine NSDAP. Diese besteht in Österreich erst seit 1926. Wo er recht hatte, hatte er recht. Also war er eben bei der DNSAP – wobei, es hätte auch eine andere nationalistisch/völkische Gruppierung sein können. Es wird Sie jetzt, liebe Leser, nach der bisherigen Lektüre nicht überraschen, dass solche Details nach dem Anschluss 1938 keine Rolle spielten. Da war es schlicht und ergreifend die NSDAP. Erst nach 1945 wurde von den Betroffenen penibel auf solche Details geschaut. Aber zurück zu Hermann. Franz Schmid bestätigte 1941, dass sein Arbeitskollege bei der Post Mitbegründer und 9 10 11 12 13
Vgl. SAFRANEK, Niederösterreichische Nationalsozialisten, S. 73f. Vgl. BZ Nr. 77 v. 25.09.1940, S. 1 und BZ Nr.78 v. 28.09.1940, S. 1. BZ Nr. 84 v. 19.10.1940, S. 1. Vgl. SAFRANEK, Niederösterreichische Nationalsozialisten, S. 74. StA B, GB 052/Personalakten: Ponstingl Hans – Klinger an Landesgericht Wien (21.09.1947).
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erster Führer des damaligen Saalschutzes war – dem Vorgänger der hiesigen SA. Bei dieser stieg er zum Hauptsturmführer auf und bei der Post nach 1933 zum illegalen Betriebszellenleiter. Nach dem Anschluss ging die Karriere rasant nach oben. Er häufte ein Ehrenzeichen und eine Erinnerungsmedaille nach der anderen an, wurde Ortsgruppenleiter von BadenLeesdorf, Kreisorganisationsleiter, Kreisstabsamtsleiter und schließlich Kreisleiter. Hier legte er erneut Einspruch ein. Kreisorganisationsleiter sei er nie gewesen, sondern Kreispersonalamtsleiter. „Echter“ Kreisleiter ebenso wenig, nur berufener Kreisleiter (d.h. stellvertretend und nicht ernannt) von Mai 1942 bis zum 16. November 1943 – einmal für Kreisleiter Camillo Gärdtner in Baden, das andere Mal ab Februar 1944 für den Kreisleiter von Waidhofen a.d. Thaya und in Brünn, Wilhelm Hanisch, als jener im Lazarett lag.14 Um seinen Einsprüchen mehr Substanz zu verschaffen, folgten weitere Ausführungen seinerseits, die selbst Kenner der Materie wohl zweimal haben lesen müssen. Abschließend führe ich noch an, dass die Dienststellung eines Kreisleiters mit dem Anfangs-Dienstrang eines Hauptabschnittsleiters verbunden war, während ich nachweislich am 20.4.1944 in meiner damaligen Eigenschaft als Kreishauptamtsleiter (Stabsamtsleiter) erst zum Ob. Abschnittsleiter ernannt wurde.15 Trotz dieser Opulenz an Worten, die allesamt mit -leiter endeten, besaß Hermann die Mitgliedsnummer 51.957, war Illegaler, Alter Kämpfer, Träger des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP sowie der Dienstauszeichnungen von Bronze bis Gold. Des Weiteren geht aus zahlreichen Akten und der Badener Zeitung hervor, dass er Kreisleiter war, sich als solcher bezeichnete und als solcher bezeichnet wurde. Im Mai 1942 schrieb Schmid: Deine Berufung zum Kreisleiter unseres vielgestaltigen und schönen Kreises Baden, gibt mir willkommenen Anlass, Dir, lieber Berufsgenosse, Ratsherr und Kreisleiter meine aufrichtigen Wünsche zu übermitteln. So klar die Sache auch ausgesehen haben mag, aber auch Hermann fand Fürsprecher, aus ungewohnter Richtung. Das jüdische Ehepaar Richard und Rosa Marcus endete ihre Erklärung mit: Er war ein durchaus anständiger und aufrechter Mensch – und zwar gleichbleibend – und können wir ihm in jeder Hinsicht das beste Zeugnis ausstellen. Das Ehepaar wohnte damals neben der Post, in angenehmer Nachbarschaft zu dem Postbeamten Hans Hermann, ein freundlicher und zuvorkommender Mensch, von dessen Parteimitgliedschaft sie erst am Tag des Anschlusses erfahren haben sollen. Er bot ihnen von selbst seine Hilfe an und erklärte uns, wir könnten jederzeit auf ihn rechnen. Während seiner Zeit als Kreisleiter hielt er seine schützende Hand über das Ehepaar Marcus, sodass wir mit dem bloßen Schrecken davonkamen. Wir haben nur ihm zu verdanken, dass wir nicht vor den Volksgerichtshof gestellt und – wie es in vielen ähnlichen Fällen geschehen ist – zum Tode verurteilt wurden. Wir können mit Recht sagen, dass wir Hermann unser Leben verdanken.16 Ihre Deportation im Juli 1942 nach Theresienstadt, während seiner Amtszeit als Kreisleiter, konnte er dennoch nicht verhindern, genauso nicht die Ermordung anderer Juden, für die er sich angeblich eingesetzt habe. Fürsprache erhielt er noch von Dr. Hannes Kopf, dem katholischen und 14 Wilhelm Hanisch (geb. 1890). 15 StA B, GB 052/Personalakten: Hermann Hans (geb. 1900) – Aussage (22.10.1947). 16 Ebd. – Richard Marcus (geb. 1895) und Rosa Marcus (geb. 1895) Erklärung (15.02.1947).
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antinationalsozialistisch eingestellten Chefarzt im Krankenhaus Baden, der 1938 seinen Posten verlor, aber nicht die Gunst Hermanns. Hans Hermann bemühte sich „redlich“ über Jahre hinweg um die Niederschlagung seines Verfahrens, da er doch infolge schwerer Erkrankung an Lungen-Tbc, sowie Herz- und Kreislaufstörungen ernster Art, nach kurzer russischer – längerer amerik. Kriegsgefangenschaft und langer Haft im Land. Ger. Linz, sowie im Internierungslager Glassenbach, bin ich sowohl von den amerik. Behörden als auch weiter von den österr. Behörden als dauernd haftunfähig auf freien Fuß gesetzt worden.17 Die Sache schien 1950 gut auszusehen, doch stand seinem Gesuch ausgerechnet ein in Baden abgefasster Polizeibericht entgegen – Verfasser wieder einmal Alois Klinger. Für ihn war Hans Hermann nichts anderes als ein fanatischer Nationalsozialist. Erneut war Hermann bemüht, die Wahrheit von der Lüge zu trennen. Er wandte sich an Julius Hahn, Chef der Badener ÖVP, obwohl jener ihn, wie Hermann selbst schrieb, persönlich gar nicht kannte. In Bezug auf seine Rolle als Ortsgruppenleiter während der Novemberpogrome rechtfertigte sich Hermann lapidar, Befehl war Befehl und es hätte wohl keinen Ortsgruppenleiter gegeben, der sich dieser ausdrücklichen Anordnung der Reichsleitung widersetzen konnte. Aber zumindest hätte er dafür gesorgt, dass unter seiner Leitung die Maßnahmen menschenmöglichst human u. formmäßig höflich und korrekt durchgeführt wurden, was wohl nicht überall der Fall gewesen sein dürfte. Sein Menschenmöglichstes hätte er ferner getan, um zahlreichen Verfolgten zu helfen: Juden, „Mischlingen“, politisch Unliebsamen. Und selbst dem Adressaten seines Briefes, Julius Hahn, hätte er geholfen, indem er ihm eine positive Beurteilung bescherte. Ob es Hahn genauso sah ist fraglich. Jene Zeilen Hermanns sind violett unterstrichen und mit einem großen Fragezeichen versehen. Des Weiteren bat der ehemalige Kreisleiter, meinen Fall besonders in Hinblick auf die Ergebnisse im Jahre 1939 objektiv zu überprüfen und event. eine Abänderung des Polizeiberichtes zu befürworten, so dass ich wenigstens ab 1950 in die Lage komme, aus der gerichtlichen Verfolgung eines Automatik-Deliktes wegen auszuscheiden. Auch diese Zeilen waren teilweise violett unterstrichen. Wieso er Hahn anschrieb? Vielleicht wusste er um die gute Beziehung zwischen Hahn und Schmid und hoffte, Ähnliches zu erfahren. Oder er sah es ganz nüchtern, sprich parteipolitisch. Zur näheren Illustrierung darf ich noch hinzufügen, dass ich sowohl von der Bez Ltg. RIED als auch der Land Leitg. LINZ d. ÖVP jede Unterstützung pol. Art in Aussicht gestellt bekam.18
Camillo Gärdtner Der 1913 in Neu-Isenburg (Hessen) geborene Camillo Gärdtner verbrachte einen Teil seiner seine Kindheit in Siebenbürgen und dem Banat. Der Grund: Sein Vater war Ingenieur und diente als Batteriekommandant in der Österreichischen Armee. In seinem Lebenslauf geht Camillo Gärdtner recht ausführlich auf seine Kindheit ein und gibt Auskunft über 17 Ebd. – Hermann an Hahn (27.06.1950). 18 Ebd.
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die Beziehung zu seinen Eltern. Nach Wien zurückgekehrt, begingen meine Eltern die große Dummheit mir Privatunterricht erteilen zu lassen, wohl deshalb weil die Volksschule „zu wenig fein“ war. Ich wurde verhätschelt und aufgepäppelt – und war auch danach: ewig krank. Erst als der Vater ein Technisches Büro und eine Werkstätte in Langenlois gründete, schickten sie den Sohn in eine reguläre Volksschule und danach in die Oberrealschule Krems. Dort war ich einer der größten Lauser und Anstifter von argen Streichen. Das Jungsein, das mir bis dahin vorenthalten blieb, verlangte jetzt sein Recht. Ich war im Deutschen Turnerbund und lernte dort ein feines Jungenleben kennen. Danach folgten Jahre der Arbeit im Betrieb seines Vaters und anschließend das Studium als Werkstudent an der Technisch-gewerblichen Bundeslehranstalt in Wien, Höhere Abteilung für Elektrotechnik. 1927 kam er mit der NS-Bewegung in Kontakt und das gleich in der Höhle der Löwen – München. Er war begeistert, wollte den Anschluss, wurde aber abgewiesen. Er war zu jung. Und als ein oder zwei Jahre später in Langenlois eine HJGruppe auftauchte, trat er wiederum nicht bei, weil ihr Führer der erbärmlichste Scheich aus dem Ort war. 1930 gründete er mit Gleichgesinnten eine eigene Gruppe, und von da an ging es steil bergauf. Ortsgruppenleiter, Rollkommandoführer, Beitritt zur Motor-SA, Gauschulungs- und Presseleiter, Jugendredner. Und es blieb nicht nur beim Reden. Saal- und Straßenschlachten, egal ob in Bruck, Ottakring oder Simmering, in den Mariensälen oder dem Karl Marx Hof, die Fäuste flogen und die Messer wurden gezückt. 1932 wurde er zum Landesjugendredner ernannt und gründete in einem früher knallroten Dorf eine SA-Schar, führte diese längere Zeit neben meiner anderen vielen Arbeit für die NSDAP (Zellenleiter, Redner, HJ, DJ) […]. Er beschrieb sich als guten Schüler, der passable Zeugnisse lieferte und der diverse NS-Schulungen mit Erfolg bestand. Doch dadurch gab es die ernsthaftesten Zusammenstöße mit meinem Vater, der großer Heimwehrführer war und überzeugter Monarchist. Er wurde vor die Wahl gestellt, der NS-Bewegung oder dem Elternhaus den Rücken zu kehren. Er entschied sich für Letzteres. Ich zog [Jänner 1933] ins HJ-Heim in der alten Kremser Burg, wo ich von den anderen Jungen, die auch fast alle von zu Hause oder aus der Lehre geflogen waren, kameradschaftlich aufgenommen wurde. Und der Vater? Mein Vater und ich haben uns seither weder gesehen, noch haben wir uns geschrieben, wir haben beide kein Verlangen mehr nach einander.19 Jetzt konnte ihn nichts mehr halten. Die Brücken zum Elternhaus waren abgebrochen, obendrein begann sich die Polizei für ihn zu interessieren. Nachts passierte er die Grenze ins sichere Altreich, eine Anstellung als Hilfspolizist sollte es werden, doch es kam anders. Er kam nach Thüringen und machte Karriere als HJ-Jungbannführer verschiedener HJ-Banne, wurde im Oktober 1938 Kreisamtsleiter und von April bis Herbst 1939 Nachwuchsführer in der Parteikanzlei. Von dort wurde er nach Mittepolen kommandiert, wo er als Sonderbeauftragter des NSV in sieben Kreisen die deutschstämmige Bevölkerung erfasste und betreute und zugleich auch sozialpolitisch überwachende Aufgaben im Fremdvölkischen-Fürsorgewesen durchzuführen hatte.20 19 StA B, GB 052/Personalakten: Gärdtner Camillo; Mappe I – Lebenslauf 1936. 20 Ebd. – Lebensbeschreibung s.d.
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Das war der Werdegang jenes Mannes, der dann je nach Quelle im April oder Juli 1940 als Kreisleiter seinen Dienst in der Strasserngasse 6 aufnehmen sollte. Gärdtner war ein Mann des Regimes, er war durch und durch Nationalsozialist. Er war Kriegsfreiwilliger, Frontsoldat, kämpfte am Balkan und in der Sowjetunion. Seine Beurteilung von Februar 1943: Offener, gerader Charakter, mit ruhigem, ausgeglichenem Wesen, äußerst pflichteifrig und ehrgeizig, sehr zäh und ausdauernd. Ausgeprägte Willenskraft und hervorragende soldatische Einstellung. Als Führer im Einsatz besonders bewährt. Geistig äußerst rege und weit über den Durchschnitt, körperlich von großer und stattlicher Figur. Die Beurteilung vom Mai 1943 konnte dem nur beipflichten, der Mann war für die Offizierslaufbahn überaus geeignet. Dass Gärdtner tatsächlich die Eigenschaft „zäh“ zugeschrieben wurde, verdeutlicht der Vergleich mit der Beurteilung vom Juli 1941. Geist und Charakter waren zwar seit eh und je sehr rege, anständig und ausgereift, aber Punkt 3.) körperliche Veranlagung: durch Armverletzung behindert, wirkt deshalb unbeholfen und Punkt 5.) b) Gefechtsdienst in der Front: eifrig, aber behindert.21 Eine Verletzung aus der Saal- und Straßenschlacht-Zeit verpfuschte ihm die Beurteilung. Aber er musste diesbezüglich nicht makellos sein, denn er verfügte über ganz andere Qualitäten, die ihm als letztem Kreisleiter von Baden äußerst zugutekamen. Als der Krieg schon seinem Ende zuging, kamen er und alle anderen Kreisleiter in den „Genuss“ eines deutlichen Machtzuwachses. Ausgestattet mit allerlei Vollmachten, mutierten sie zu einer Art Verteidigungskommissare. Sie verfügten über Standgerichte und hielten grundsätzlich die oberste Gerichtsbarkeit in ihren Händen. Sie entschieden über Leben und Tod.22 Diese erweiterten Machtbefugnisse, schrieb Klinger, welche er sich zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft noch bedeutend zum Nachteil der Volksgenossen angemaßt hat, in seinem förmlichen Machtwahn nicht nur selbst Übergriffe zuschulden kommen lassen, sondern hat auch solche, wenn sie von seinen ihm unterstellten polit. Leitern verübt wurden, nicht nur geduldet, ja sogar durch Ansporn etc. gefördert. In den zahlreichen Rüstungsbetrieben des Triestingtales etc., woselbst viele Tausend von in- und ausländischen Arbeitsheloten frönen mussten, war schon der Name des Gärdtner förmlich gefürchtet, weil er sich bei den massenhaften Interventionen vonseiten der Gestapo niemals auf die Seite der Arbeiterschaft gestellt hat, sondern die Despotie der Exekutivorgane ganz einfach schalten und walten ließ, welche sich dortselbst förmlich ausgetobt haben.23 Einkerkerungen, Deportationen, Hinrichtungen, das alles spielte sich unter seiner lokalen Schirmherrschaft ab. Er stand in organisatorischer Verantwortung für all die Abwehrkämpfe, bei denen Jugendliche und alte Männer gegen sowjetische Armeen ins Feld geführt und wo sinnlose Wälle durch Arbeitssklaven aus In- und Ausland an der burgenländischen Grenze errichtet wurden. Hinzu kamen Panzersperren, Brückenköpfe und die geplanten Sprengungen der Badener Infrastruktur wie des Helenentunnels und des städtischen Wasserwerkes. Er selbst brachte sich rechtzeitig in Sicherheit – dazu sehr viel später viel mehr. 21 StA B, GB 052/Personalakten: Gärdtner Camillo; Mappe II – Militärische Beurteilung (05.07.1941). 22 Vgl. SAFRANEK, Niederösterreichische Nationalsozialisten, S. 8. 23 StA B, GB 052/Personalakten: Gärdtner Camillo; Mappe III – Klinger an Sicherheitsdirektion Salzburg (28.06.1946).
Kapitel 8 Provinz Hierarchien und ihre Kaiser
* Über die restlichen Kreisleiter, finden sich keine umfangreichen Akten im Badener Stadtarchiv. Über Franz Eckel erfahren wir noch, dass er 1947 in Graz in Haft war. Zu Franz Hajda/Hayda wäre noch zu sagen, dass er 1909 in Agard in Ungarn zur Welt kam. Seine Funktion als Kreisleiter endete am 19. Mai 1942. Er musste einrücken und gab bekannt, dass er 15 Monate lang Kreisleiter gewesen war. Rudolf Witzmann (geb. 1908), Bürgermeister von Bad Vöslau, war sowohl in der Kreisleitung als auch in der Ortsgruppe Bad Vöslau tätig. Er war zwischen 1940 und 1941 mit der Leitung der Kreisleitung betraut – also m.d.L.b. Genaueres, weil widersprüchlich zu den anderen Datierungen oben, kann derzeit nicht gesagt werden. Zu Norbert Kernstock fanden sich keine weiteren Akten in Baden, nur, dass er zwischen 1939 und 1941 Ponstingl vertreten hatte, ebenso als m.d.L.b.24
Ortsgruppen, Zellen und Blöcke Unterhalb der Kreisleitung befanden sich die Ortsgruppen. Die Ortsgruppen waren in Zellen unterteilt, diese wiederum in Blöcke. Die Anzahl variierte seit dem Bestehen bis hin zum Kriegsende 1945. Im Stadtarchiv befinden sich unterschiedliche Listen aus unterschiedlichen Zeiten oder sie liegen ohne Datierung vor. Des Weiteren kam es zu einer Aufteilung der ursprünglichen Ortsgruppe Baden in drei Ortsgruppen und in späterer Folge zu einer Aufnahme zweier weiterer Ortsgruppen im Zuge von Gemeindezusammenlegungen mit Pfaffstätten. Laut einer dieser Liste sine dato – es ist anzunehmen, sie repräsentiert die NS-Hochphase – war der Kreis-Baden wie folgt strukturiert. Es gab 34 Ortsgruppen, 221 Zellen und 1685 Blöcke. Eine genauere Aufteilung siehe Anhang: Ortsgruppen, Zellen und Blöcke im Kreis Baden.25 Für die Kurstadt galt: Baden-Stadt bzw. Baden I: 17 Zellen und 151 Blöcke Baden-Leesdorf bzw. Baden II: 11 Zellen und 106 Blöcke Baden-Weikersdorf bzw. Baden III: 15 Zellen und 137 Blöcke Baden-Pfaffstätten: 8 Zellen und 38 Blöcke Baden-Tribuswinkel: 4 Zellen und 26 Blöcke. Betrachten wir einzelne Blöcke, so waren die Blockleiter im Durschnitt für 20 bis 30 Haushalte zuständig. Als Beispiele die Ortgruppe Baden-Stadt/Baden I: Zelle 4, Block 2: Palffygasse 31 bis 42, Block 8: Mühlgasse 20 bis 29 (30 Haushalte) Oder: Baden-Weikersdorf/Baden III. Zelle 1, Block 1: Braitnerstraße 1,3,5 (20 Haushalte), Block 2: Braitnerstraße 7,9,11,13 (23 Haushalte) 24 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung II; Fasz. II, Erfassung der NS-Funktionäre und BZ Nr. 41/42 v. 23.05.1942, S. 2 und BZ Nr. 68 v. 26.08.1939, S. 4. 25 Vgl. StA B, GB 052/Kreisleitung; Fasz. I; Personallisten Kreisverwaltung u. Ortsgruppen.
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Zelle 2, Block 7: Weichselgasse 5,7,11 (22 Haushalte) usw…26 Jede Ortsgruppe hatte einen Ortsgruppenleiter, jede Zelle einen Zellenleiter, jeder Block einen Blockleiter, auch Blockwart genannt. In den vorliegenden Listen im Stadtarchiv finden sich sämtliche Namen aller Zellen und Blockleiter. Sie alle anzuführen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deswegen beschränke ich mich hier auf die jeweiligen Ortsgruppenleiter, was ohnehin ziemlich trocken ist, aber vollständigkeitshalber erwähnt werden sollte. Gegründet wurde die NSDAP-Ortsgruppe Baden im Mai 1919. Erster Ortsgruppenleiter war der Betriebsleiter der Wiener Lokalbahnen, Paul Behn (geb. 1875). Abgelöst wurde er vom Bahnvorstand Karl Edelbauer (geb. 1878). Es folgten Ignaz Tauscher, Fritz Brunner und bis zum Betätigungsverbot der NSDAP 1933 Julius Uhl (geb. 1900). In der Verbotszeit übernahm Franz Ebner (geb. 1903), gefolgt von Franz Blechinger und ab Mai 1936 bis zum Anschluss 1938 war es der Bau-, Zimmer- und Tischlermeister Eduard Fischer (1887–1969), der der Ortsgruppe vorstand.27 Nach dem Anschluss wurde die Ortsgruppe Baden in drei Ortsgruppen aufgeteilt. Es hat den Anschein, dass in dieser Umstrukturierungsphase eine übergeordnete Ortsgruppe weiterhin bestand, die gelegentlich als Hauptortsgruppe bezeichnet wurde. Wann genau die Umstrukturierung abgeschlossen war, kann aus den vorliegenden Quellen nicht erschlossen werden. Die drei Ortsgruppen werden in der BZ im Sommer 1938 das erste Mal erwähnt, während die Hauptortsgruppe in der medialen Versenkung verschwindet. Bis dahin lag deren Führung in den Händen des bisherigen Ortsgruppenleiters Eduard Fischer und in jenen von Maximilian Rothaler, der in der BZ fallweise als Hauptortsgruppenleiter bezeichnet wurde.28 Der Mann ist uns schon begegnet. Seit 1921 war er im NS-Geschäft, als er der SA beitrat und 1927 der NSDAP. Seine Mitgliedsnummer 53.443 konnte sich sehen lassen und ermöglichte eine Parteikarriere wie aus dem NS-Bilderbuch. Kreisgeschäftsführer für das Viertel unter dem Wienerwald, Kassenwart, Ortspropagandaleiter, Ortsgruppenleiter, in der SA brachte er es zum Sturmführer und nach dem Anschluss zu eben jenem Hauptortsgruppenleiter. Nach der Dreiteilung wurde er Ortsgruppenleiter von Baden-Stadt. Seine Stellung machte es möglich, eine Leiterposition in einer Textilfabrik in Iglau zu ergattern bzw. je nach Quelle, wurde er im Oktober 1939 von Gauleiter Hugo Jury dort eingesetzt/versetzt. Nach 1945 hörte sich das so an: Wegen angeblich ungeschickter Behandlung der Volks- und Parteigenossen, wurde er über Wunsch Dr. Jury von der Leitung der Ortsgruppe enthoben und nach Iglau abgeschoben, weil er der Gauleitung unbequem wurde.29 – auch hier gilt: dazu viel später mehr. Auf Maximilian Rothaler folgte in der Ortsgruppe Baden-Stadt Hans Hermann (der spätere Kreisleiter). Ihm wiederum folgte im September 1940 für wenige Tage der Alte 26 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. II Mitgliederlisten Ortsgruppen und Stadtverwaltung; Baden I. 27 Vgl. BZ Nr. 47 v. 14.06.1944, S. 1. 28 Vgl. BZ Nr. 40 v. 18.05.1938, S. 1. 29 StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian (1899–1966); Mappe III und NSDAP-Karteikarten groß.
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Kämpfer und Illegale Bahnbeamte Alexander Lohner, bis Friedrich von Reinöhl die Ortsgruppe im selben Monat übernahm.30 Reinöhl war zuvor Ortsgruppenleiter der Ortsgruppe Baden-Leesdorf gewesen. Seit 1938 bei der Partei und SS, wurde er zum Ratsherrn ernannt und zum Leiter des Archivwesens.31 Nach Reinöhls Wechsel zur Ortsgruppe Baden-Stadt übernahm der Kaufmann Karl Tschögl die Ortsgruppe Baden-Leesdorf. 1931 der Partei beigetreten, war er vor seiner Ernennung zum Ortsgruppenleiter Blockwart und Kreisredner gewesen.32 Ihm folgte, nach seiner Einberufung im Februar 1941, der Lehrer, Ratsherr und Zellenleiter Josef Jäger.33 Drei Jahre blieb er Ortsgruppenleiter, bis, laut eigener Aussage, es im Februar 1944 zu mehreren internen Unstimmigkeiten gekommen war, die er mit schärfster Kritik begegnete und er dadurch von seiner Funktion enthoben wurde. Nun durfte der bisherige Kreispropagandaleiter Karl Zanetti sein Glück versuchen, die Ortsgruppe Baden-Leesdorf wieder auf Vordermann zu bringen. 1933 der NSDAP beigetreten, wurde er nach dem Anschluss zum Leiter des NS-Lehrerbundes ernannt, dessen Leitung der bis März 1943 inne hatte. Ortsgruppenleiter von Leesdorf blieb er bis zum 15. März 1945 –an jenem Tag wurde die drei-Teilung wieder aufgehoben und es gab wieder nur mehr eine zentrale Ortsgruppenleitung gab.34 In Baden-Weikersdorf scheint der frühere illegale Ortsgruppenleiter Eduard Fischer lange Zeit das Sagen gehabt zu haben. Er war seit 1931 Parteimitglied, tätig ebenso im Rathaus als Ratsherr sowie im Kreis, bei der NS-Fürsorge, dem Bezirksstraßenausschuss, der Werbung und der Führung der Geschäftsbücher.35 Eine Auflistung der restlichen Ortsgruppenleiter im Kreis Baden, siehe Anhang: Ortsgruppenleiter Kreis Baden. * Die Funktionsträger der NSDAP wurden als Politische Leiter bezeichnet. Sie waren auf Hitler vereidigt, sie galten als politische Beauftragte, als Prediger und Soldaten des Führers. Ausdrücklich wurde darauf bestanden, dass politische Leiter nicht mit Beamten oder Bürokraten gleichgesetzt werden sollten. Es war eine bewusste Abgrenzung zu zwei „Berufsbezeichnungen“, die negativ konnotiert waren, da sie zu sehr an das alte System erinnerten, an die Republik und das Parlament. Laut NS-Ideologie haftete dem Beamten und Bürokraten etwas Undeutsches an. Die politischen Leiter waren aufgeteilt in Hoheitsträger und norma30 Vgl. BZ Nr.71 v. 04.09.1940, S. 2 und BZ Nr.72 v. 07.09.1940, S. 1 – Alexander Lohner (geb. 1903). 31 Vgl. StA B, NS-Karteikarten groß: Reinöhl Fritz (geb. 1889). 32 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Karl Tschögl (1903–1987) und BZ Nr. 74 v. 14.09.1940, S. 2. 33 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Jäger Josef (geb. 1883). 34 StA B, GB 052/Personalakten: Zanetti Karl (geb. 1900). 35 Vgl. GB 052/Allgemein I; Fasz. II Mitgliederlisten Ortsgruppen/Stadtverwaltung und GB 052/ Personalakten sowie NS-Karteikarten groß: Fischer Eduard (geb. 1887) und GB 054/Entnazifizierung I; Fasz. III.
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le Politische Leiter. Den Hoheitsträgern oblag die Leitung eines Gebietes und sie vertraten die Partei nach innen und nach außen. Die restlichen Politischen Leiter hatten die Pflicht, sie dabei zu unterstützen.36 In welcher Position die Ortsgruppen zu den Zellen und umgekehrt standen, entnehmen wir unter anderem einem Schreiben vom 17. Juli 1939. Darin listen die Ortsgruppenleiter auf, was sie von den Zellenleitern erwarteten. Gemeinsam mit den Blockleitern oblag es den Zellenleitern, Anwesenheitslisten bei Parteiveranstaltungen zu führen, Anmeldebögen für Schulungen und Kandidatenlisten wie für etwaige Auszeichnungen zu erstellen und sonstige Fragen schriftlich auszuarbeiten sowie ausgefüllte Bögen an die Ortsgruppen weiterzuleiten. Fragen waren: Wer ist tauglich für den Ernteeinsatz? Wer möchte bei der Sammlung XY teilnehmen und wer an Aufmärschen? Wenn keine geeigneten Kandidaten präsentiert werden konnten, musste eine Leermeldung abgegeben werden. Eine wichtige Rolle spielten die Block- und Zellenleiter bei der Erfassung der jüdischen Bevölkerung Badens. Für die rasche Erledigung und die Richtigkeit sämtlicher Angaben waren sie persönlich verantwortlich und haftbar.37 Strenge, klare Hierarchien, eine stramme und aufrichtige Kameradschaft sowie Aspekte, die an mafiöse Strukturen erinnern, sollten den Zusammenhalt sichern. In einigen Zellen haben sich in letzter Zeit einige Kameraden-Blockleiter verehelicht, ohne dass der Zellenleiter die vereinbarte Meldung gemacht hat. Ich bitte dies nachzuholen.38 Neben solch paternalistischer Ausrichtung war die Außenwahrnehmung der politischen Leiter von großer Bedeutung. Integrität, der richtige Habitus und das richtige Outfit mussten passen. Im Dienst war man uniformiert, im Privaten in Zivil. Es war klar definiert, wie breit das Seidenband an der Hose sein musste, dass Handschuhe nicht in der Hand getragen werden und beim Betreten eines Lokals, nimmt er sofort die Mütze ab. Das Koppel wird abgeschnallt, der Mantel ausgezogen. […]. Auch der Uniformträger muss in Haltung und Aussehen einen soldatischen Ausdruck machen! (Haarschnitt, stets rasiert!). Die Verhaltensregeln besagten ferner, dass die politischen Leiter […] bis spätestens 1 Uhr nachts alle Gaststätten verlassen [mussten]. Die Hände sind insbesondere auf der Straße nicht in Hosen-, Rock-, oder Manteltaschen zu stecken. Es ist besonders auf anständigen Sitz der Mütze zu sehen. Schiefes Aufsetzen, sowie das Aufbringen von Kniffen an derselben ist verboten. Arm- in Armgehen auf der Straße in Uniform ist untersagt. Das Öffnen von Knöpfen bzw. das Öffnen des Dienstrockes in öffentlichen Gaststätten ist untersagt. Das Rauchen in Uniform auf der Straße ist zu unterlassen. Sofern Dienstbluse und Mantel getragen werden, ist der Mantel in jedem Fall hochzuschließen.
36 Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 301f. 37 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Verfolgung. 38 StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Korrespondenz – Dienstplan Juni 1939.
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Das Erscheinen im Dienstanzug auf der Straße ohne Kopfbedeckung oder ohne Koppel ist verboten. Das Essen auf der Straße im Dienstanzug ist verboten.39
Die linke und die rechte Hand des Teufels Die NSDAP galt als Trägerin des Nationalsozialismus. Doch es gab nicht nur die Partei als solche. Eng bis sehr eng verbunden waren deren Gliederungen, angeschlossene Verbände und betreute Verbände. Bei den Gliederungen möchte ich hier auf die SS und SA in Baden eingehen, da ich sie als die zentralen Terror-Elemente des NS-Staates ansehe. Die weiteren Gliederungen: NSKraftfahrkorps (NSKK), Hitler-Jugend (HJ), Bund deutscher Mädchen (BDM) und die NS-Frauenschaft (NSF) werden später im Rahmen anderer Kapitel vorgestellt.40 Ebenso einzelne angeschlossene Verbände, wie die Deutsche Arbeiterfront (DAF) und die NSVolkswohlfahrt (NSV), werden bzw. wurden bereits kurz erläutert. * Die SS in Baden hat ihr mediales Stelldichein in der Badener Zeitung vom 19. März 1938. Eine Kulturversammlung wurde im Zentral-Kino (Breyerstraße) beworben und allen Volksgenossen wurde der Besuch empfohlen.41 Organisatorisch unterstand die „Badener SS“ der SS-Standarte 89 „Holzweber“. Diese war in Sturmbanne unterteilt (für Baden der SSSturmbann II/89) und diese wiederum in mehrere Stürme (für Baden der SS-Sturm 5/89). Der SS-Sturm 5/89 hatte seinen Sitz in der Neustiftgasse 23. Laut Literatur bestanden die SS-Standarten aus 1000–3000 Personen, die Sturmbanne aus 250–660 und die Stürme aus 70–200 Mitgliedern. Wie der Mitgliedstand in Baden ausgesehen hat, geht aus den hiesigen Quellen nicht eindeutig hervor bzw. die Zahlen variieren – zwischen 30 und 50. Während wir laut einem Verzeichnis, das nach 1945 erstellte wurde, 33 Namen finden, bestand ein SS-Sturm im April 1940 aus an die 150 Mitgliedern (Details siehe Anhang: Statistik und Auswertung).42 Wer so richtig das Sagen hatte, geht aus den hiesigen Quellen ebenfalls nicht eindeutig hervor. Es gab zwar klare Hierarchien, doch die ständigen Wechsel an der Spitze sorgten für 39 Ebd. – Uniformvorschriften für die politischen Leiter. 40 Auf den NS Deutscher Studentenbund (NSDStB) und den NS Deutscher Dozentenbund (NSDDB) werde ich nicht eingehen, da diese beiden Gliederungen für Baden eher bedeutungslos waren. 41 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 18. 42 Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. II SS; Listen und StA B, GB 052/Personalakten: Entnazifizierung I; Fasz. II Ermittlungsergebnisse; Statistik u. Auswertungen – Verzeichnis der SSMitglieder.
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eine hohe Fluktuation beim Personal. Als Dr. Michael Biondeck nach dem Anschluss das SS-Heim in Baden aufsuchte, fiel sogleich auf, dass noch alles drunter und drüber ging und vor allem nicht festzustellen war, wer hier eigentlich maßgebend sei. Immerhin konnte man aber aus der ganzen Situation, insbesondere aus den Mitteilungen einer größeren Anzahl anderer Männer, die sich in ähnlicher Weise wie wir bereits früher eingefunden hatten, entnehmen, dass mangels bestimmter Vorschriften und Kompetenzen vorläufig jeder, der wie ich durch meinen Freund bzw. dessen Bekannten irgendwie eingeführt war, im Heim verkehren und dort auch sonst in beschränkter Weise mitmachen könne, wenn er sich nicht auffallend benahm.43 Letztendlich war es, salopp gesagt, auch wurscht, wer denn das Sagen hatte, denn der SS-Sturm in Baden hatte eine einfache Aufgabe: Feinde des NS-Regimes zu terrorisieren. Das Anforderungsprofil, um einen SS-Sturm oder SS-Sturmbann zu führen, war deswegen recht simpel. Mann musste Angst und Schrecken verbreiten. Führende Personen waren allesamt Illegale, die sich durch allerlei Gewaltverbrechen bereits einen Namen gemacht hatten – insbesondere als Mitglieder des Exekutivkomitees. Als Führer des Sturmbannes II/89 finden wie den in Kirchschlag geborenen Beamten SS-Sturmbannführer Heinz Riegler. Der NSDAP war er 1929 beigetreten, er war Illegaler, Blutordenträger und besaß damit Anspruch auf Entschädigung. Danach käme eine Wiedergutmachung meines Erachtens aus den Beschlagnahmungen der Vermögenswerte ehemaliger Systemgrößen (Juden usw.) in Frage.44 1940 soll Heinz Riegler die SS-Standarte 89 geführt zu haben, Anfang 1941 wurde er Sturmbannführer in der Slowakei, scheint dann aber wieder nach Baden zurückgekehrt zu sein. Kreisleiter Gärdtner hielt viel von diesem Mann, den er sich als Kreisleiter oder gar Gebietsführer für Niederdonau vorstellen konnte. Ein weiterer Führer des Sturmbannes II/89 war der bereits vorgestellte Sepp Ringler, Direktor des Gymnasiums Frauengasse. Er war zeitweise genauso Führer des SS-Sturmes 5/89. Hier finden wir weitere Männer, die uns bereits im ersten Teil des Buches als Mitglieder des Exekutivkomitees über den Weg gelaufen sind, wie Michael Stenzenberger oder Josef Heitzer. Weiters finden wir den Uhrmacher SS-Sturmführer Anton Ullrich (geb. 1903), Illegaler, Blutordenträger und Inspekteur des Sicherheitsdienstes SD oder SS-Sturmführer Leopold Mayer. Auch er hatte ein einschlägiges Strafregister vorzuweisen, das mit dem Blutorden honoriert wurde.45 Eine zentrale SS-Größe in Baden spielte SS-Untersturmführer Hans Zisser. Er gehörte zu den führenden und radikalen Nationalsozialisten. Kommend aus Möllersdorf, war der gelernte Industrie-Beamte Vorsitzender im Antisemitenbund Baden. Dass er erst im Mai 1938 der NSDAP und SS beitrat, täuscht nicht darüber hinweg, dass er im Geiste 43 StA B, GB 052/Personalakten: Biondeck Michael (1906-1985) – Biondeck an den Ausschuss der Rechtsanwaltskammer (19.03.1946). 44 StA B, GB 052/Personalakten: Riegler Heinz (geb. 1910) – Antrag auf Wiedergutmachung (06.08.1938). 45 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I, Fasz. II; Ehrenzeichen und Blutorden und GB/054 Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Mayer Leopold (geb. 1911).
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längst Nationalsozialist war und seit geraumer Zeit der NS-Bewegung zugearbeitete. Sein Engagement machte sich während der Novemberpogrome bezahlt. Er wurde vom Kreisleiter zum „Sonderbeauftragten für die Sicherstellung jüdischen Vermögens“ ernannt. Damit war er verantwortlich für Vertreibung, Beraubung und Hehlerei – im NS-Sprech hieß das Umsiedlung, Sicherstellung und Besitzveränderung. Von ihm werden wir noch einiges hören. Er selbst ist am 2. April 1945 in der Valeriestraße durch eine Fliegerbombe getötet worden.46 Interessant ist ferner der Werdegang des 1913 geborenen SS-Mitgliedes Karl Höfle jun. Er war bis 1931 Mitglied der HJ, anschließend der SA, von wo er 1934 zur SS überging. Er gehörte zu den Badener NS-Terroristen, die nicht davor zurückschreckten, Sprengstoffanschläge zu verüben. Polizeibekannt und mehrmals verhaftet, flüchtete er im Mai 1935 ins Altreich, um sich dort ideologisch weiter aufzumunitionieren. 1937 trat er der NSDAP bei. Seine Haft und Verhöre beschrieb er in einem Brief an Kurt Haun wie folgt: Ich glaube, es erübrigt sich, Dir den üblichen Hergang eines Verhöres in der illegalen Zeit durch die damalige Exekutive zu schildern, da Du ja selbst mit dem löblichen Verein sehr viel zu tun gehabt hast.47 Während er das schrieb, im Juli 1939, weilte er gerade als SS-Scharführer in Dachau. Während der Anschlusstage muss er kurzzeitig wieder in Baden gewesen sein, denn Edmund Wendl identifizierte ihn als einen der Täter, der ihn misshandelt hatte.48 In seinem Brief schrieb Karl Höfle von einem verräterischen Kameraden aus der illegalen Zeit und äußerte den Wunsch, wieder nach Baden zurückzukommen. Seine Dienstherren in der Gau München-Oberbayern, Kreisleitung Dachau, hätten ihn wahrscheinlich nur ungern ziehen lassen. Höfle war Kassenleiter und Geschäftsführer der Ortsgruppe SS „N“ (SSNachrichtendienst), und hatte stets gute Leistung erbracht. Er war außerdem Anwärter für eine der Ordensburgen (NS-Elite Kader-Ausbildungsstätten, die eine Mischung aus Burg, Kaserne, Kloster waren). Den Ausleselehrgang für die Gauschule (ebenso eine Elite-Ausbildungsstätte) hatte er ebenso bestanden. Die Kreisleitung Dachau war von ihm ganz angetan, ein begabter Mensch, wie sie schrieb, der jederzeit zu empfehlen war. Karl Höfle war von sich und seinen Taten für die NS-Bewegung auch selbst sehr überzeugt. Sein Antrag auf Wiedergutmachung hatte es in sich und schoss deutlich über das Ziel hinaus. Sein SS-Freund Kurt Haun, den Höfle mit „lieber Kurtl“ anzuschreiben pflegte, empfahl ihm deswegen im August 1939: Nachdem Du aber auf Grund Deiner wirklich einwandfreien und hervorragenden Tätigkeit für die NSDAP bestimmt finanzielle Opfer hast bringen müssen, würde ich Dir raten, einen etwas „gemäßigteren“ und mehr auf Tatsachen beruhenden Wiedergutmachungsantrag zu stellen, bei dem dann sicher eine Aussicht auf Erfolg besteht.49 Wie danach seine SS-Karriere weiterging, ist unbekannt. Gegen Ende des Krieges stieg 46
Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Zisser Hans (1901–1945) und GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrome; Mappe I 47 StA B, GB 052/Personalakten: Höfle Karl (geb. 1913) – Höfle an Haun (27.07.1939). 48 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf – Edmund Wendl Aussage (15.02.1946), 49 StA B, GB 052/Personalakten: Höfle Karl – Haun an Höfle (28.08.1939).
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er zum SS-Obergruppenführer auf und zum General der Polizei – allerdings nur, weil er mit einem Hermann Höfle (1898–1947) verwechselt wurde. Ironie der Geschichte: Karl Höfle fand sich nach 1945 erneut in Dachau wieder, aber diesmal nicht als Wache, sondern als Häftling der Besatzungsmächte.50 * Umfangreicher an Personal und zeitlich weitreichender in die Vergangenheit zurückreichend war die „Badener SA“. 1920 erschien sie noch als Saalschutz, der 1923 zur SA übergeführt wurde.51 Im Mai desselben Jahres fand auch gleich der erste Auftritt in Baden unter dem neuen Namen statt. 30 SA-Männer traten gegen eine Gruppe Kommunisten an.52 Um sich in der Struktur der Badener SA auszukennen, muss etwas ausgeholt werden. Als oberste Instanz der SA in der Ostmark fungierte die SA-Gruppe Donau. Angeführt durch den SA-Gruppenführer Hermann Reschny. Die SA-Gruppe Donau bestand aus drei Brigaden (89, 92 und 93). Für uns wichtig ist die Brigade 93, deren Sitz in der Marchetstraße 70 lag. Die Brigade 93 war wiederum in 5 Standarten unterteilt (1, 11, 21, 76, 84), eine Reiterstandarte 93 und die Reichsschule der SA. Sowohl die Standarte 84 als auch die Reiterstandarte 93 befanden sich in der Weilburgstraße 18.53 Gegründet wurde die für den Raum Baden entscheidende SA-Standarte durch den SABrigadeführer Franz Hanke, er war 1938 Führer der Standortbrigade 90 Wien-Ost und Stellvertreter des Obergruppenführers Herman Reschny. Auf ihn folgte SA-Brigadeführer Franz Rappel (geb. 1895). Danach kamen in der Verbotszeit SA-Standartenführer Rudolf Kremmel, Karl Stoy, Rolf Mildner und Otto Strohmayer – jener Mann, der bereits im ersten Kapitel von sich reden machte. In der Verbotszeit zählte die Standarte 2.800 Mann. Wie bei den SS-Standarten waren auch die SA-Standarten in mehrere Sturmbanne unterteilt, die wiederrum in mehrere Stürme zerfielen. Der für Baden entscheidende Sturmbann war der Sturmbann III, der geographisch Baden, Helenental, Siegenfeld, Sattelbach, Alland, Heiligenkreuz, Klausen-Leopoldsdorf umfasste und bis an St. Pölten heranreichte. Der Sturmbann III zerteilte sich wiederum in fünf Stürme. Die Namen der Stürme und deren Führer waren: SA-Truppführer Johann Grünn (12/84 Baden Ost), SA-Obertruppführer Karl Grüner (13/84 Baden West), SA-Truppführer Wilhelm Seehof (15R/84 Reservesturm), SA-Oberscharführer Moser (14/84 Anwärtersturm) und SA-Truppführer Habermann (16/84 Umgebung Baden).54
50 51 52 53
Vgl. Wikipedia: Hermann Höfle, abgerufen am 10.04.2023. Vgl. BZ Nr. 47 v. 14.06.1944, S. 1. Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 14. www.findbuch.at/files/content/adressbuecher/1941_dr_om_ksk/10__Die_NSDAP_in_der_ Ostmark.pdf (10.04.2023). Personalstruktur aus der Zeit Ponstingls. 54 Vgl. BZ Nr. 53 v. 02.07.1938, S. 1–3 und BZ Nr. 57 v. 16.07.1938, S. 4.
Kapitel 8 Provinz Hierarchien und ihre Kaiser
Wie auch bei der SS – die meisten SA-Mitglieder sind bereits im ersten Teil aufgetreten. Im Gegensatz zur SS, deren Mitgliederstand zwischen 30 und 50 Mitgliedern lag, haben wir es bei der SA zwischen 300 und 400 Mitgliedern zu tun (Details siehe Anhang: Statistik und Auswertung).55 All diese vorzustellen ist nicht möglich, deswegen möchte ich auf zwei SA-Männer eingehen, deren Bedeutung für Baden skizzieren sowie deren unterschiedlichen Werdegang. Zum einen SA-Sturmhauptführer Franz Blechinger. In Wien geboren, war er Sohn des k. u. k.-Offiziers Ferdinand Blechinger und Johanne Blechingers. Der militärischen Laufbahn nicht abgeneigt, absolvierte er die Militärakademie in Mödling. Von der Front scheint er nicht mehr viel gesehen zu haben. Viel mehr gründete er mit ein paar Offizierskameraden eine Fabrik für chemisch-technische Artikel am Attersee. 1932 wechselte er dann in die „Elin“-A.G. in Wien als kaufmännischer Leiter der Werbeabteilung. Im selben Jahr trat er der NSDAP bei, wurde illegaler SA-Führer, illegaler Ortsgruppenleiter von Baden, trat mehrmals „explosiv“ in Aktion, wofür er 8,5 Monate Haft ausfasste und dabei als Zellengenossen Franz Schmid kennenlernte. 8,5 Monate waren noch irgendwie zu verkraften, doch 1936 standen mittlerweile mehrere Jahre Kerker zu Buche. Da war die Flucht ins Altreich in die Arme der Legion Gebot der Stunde. Bis zu seiner Rückkehr nach Baden schulte er sich mittels diverser Führerkurse, um dann, am 1. Juli 1938, zum städtischen Bäderverwalter ernannt zu werden. Hier und nicht bei der SA sollte er sich seine zukünftigen Verdienste erwerben.56 Etwas anders verlief die SA-Karriere von SA-Standartenführer Otto Strohmayer. Er sollte der SA treu bleiben, jedoch nicht in Baden. Von seinem Wesen her war er einer, der, um es vorsichtig zu sagen, auch innerhalb des NS-Regimes aneckte. Aber alles der Reihe nach. Als Nationalsozialist der ersten Stunde (Parteibeitritt 1923, SA seit 1928) mit der Mitgliedsnummer 53.590, hatte er eine lange, illegale und gewalttätige NSDAP-Laufbahn hinter sich, unter anderem als Propagandaleiter des Viertels unter dem Wienerwald. Nach dem Anschluss, als führendes Mitglied des Exekutivkomitees, holte er sich das, was ihm zustand, zumindest nach seiner Interpretation und auf eine Weise, wie er es für angemessen hielt. Seine Gewalt richtete sich bei weitem nicht nur gegen NS-Gegner. Er ging auch gegen die eigenen Reihen vor. Dabei schlug er dermaßen über die Stränge, dass sein Verhalten sogar den Kreis gegen den Gau aufbrachte, dem man vorwarf, sich offenbar gegen Strohmayer und die SA nicht durchsetzen zu können. Als unerträglich, untragbar und skandalös wurden das Auftreten und Vorgehen dieses Mannes bezeichnet. Haltlose Anschuldigungen gegen NS-Musterbetriebe wie die Firma Oetker in Baden. Hausdurchsuchungen im betrunkenen Zustand. Das Bedrohen von verdienten Parteigenossen und politischen Leitern. Das Ignorieren von Sperrstunden. Ein Gustostückerl erlaubte er sich im Oktober 1938, als er seine Männer beauftragte, sich Munition zu beschaffen, um ein im 55 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Entnazifizierung I; Fasz. II Ermittlungsergebnisse; Statistik u. Auswertungen – Verzeichnis der SA-Mitglieder. 56 StA B, GB 052/Personalakten: Franz Blechinger (geb. 1898) und BZ Nr. 54 v. 06.07.1938, S. 2.
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Entstehen begriffenes sudentendeutsches Freikorps auszurüsten. Die Befehlsempfänger ließen sich nicht lange bitten, fuhren kurzerhand mit einem LKW beim Munitionsdepot der Hirtenberger Patronenfabrik vor und verschafften sich gewaltsam Zugang zur Munitionskammer. 12.000 Schuss Beute wären es geworden, wenn nicht zufällig zwei SS-Männer den Abtransport verhindert hätten. Kreisleiter Ponstingl war entsetzt, schließlich war die Patronenfabrik ein Heeresbetrieb. Sein Statement war eindeutig: Stellen Sie sich vor, welchen Skandal es gibt und welche Kreise es ziehen würde, wenn die Heeresstellen von diesem Vorfall Kenntnis erhielten. Die Partei im Allgemeinen und die SA im Besonderen würden auf das schwerste damit belastet werden.57 Zum Glück sah die Patronenfabrik von einer Anzeige ab. Erst im August 1939 wurde man Strohmayer los, er soll nun in Südmähren als Führer einer Standarte eingesetzt werden, um aus Baden zu verschwinden. Doch selbst das war „Aushilfskreisleiter“ Norbert Kernstock nicht genug bzw. passend. Er sprach Strohmayer seine Verdienste um die NS-Bewegung nicht ab, aber er ist jedoch durch sein Benehmen nicht mehr tragbar. Er soll in irgendeiner Schule oder einem Stab verwendet werden, darf jedoch nicht mit der Bevölkerung in Berührung kommen. Die Badener Zeitung wünschte ihm alles Gute und bezeichnete ihn als rastlosen Kämpfergeist – womit sie eindeutig zweideutig ins Schwarze traf. Wie auch immer sein späterer Werdegang war. Vom Täter erfolgte die Wandlung in Polen 1944 zum Mordopfer durch Partisanenhand.58 Nachdem Strohmayer nach Nikolsburg versetzt worden war, übernahm der in Landeck (Tirol) geborene Josef/Sepp Alois Groß die SA-Standarte 84. 1930 der NSDAP und ein Jahr später der SA beigetreten, war Groß Mitbegründer der Ortsgruppe Mitterndorf im Salzkammergut, stieg später zum Führer der SA-Jägerstandarte 9 im Ennstal auf, betätigte sich illegal und flüchtete 1933 in die Österreichische Legion. Dort wurde er bzw. bekleidete Funktionen wie: Führer des Alpinen Wehrsportlagers in Berchtesgaden, Sonderbeauftragter des Grenzdienstes im Altreich oder stellvertretender Lagerführer im SA-Lager Egmading bei München.59 * Ich habe bereits mehrmals formuliert, dass „nichts“ im Verborgenen geschah. Über Schmid und die NSDAP konnte man sich informieren. Man konnte es nachlesen und man sah die Politik dieser Partei. Ihre Taten/Verbrechen fanden öffentlich auf der Straße statt – nicht nur in Kellerverliesen. Dennoch schreckte es viele Menschen nicht davon ab, sich der NSDAP anzuschließen. Es waren nicht nur ideologische Überzeugungen, bei weitem nicht. Opportunismus und Pragmatismus waren und sind wunderbare Push- als auch Pull-Faktoren. Sehen wir uns im folgenden Kapitel ein paar davon an. 57 StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. I SA; Prozesse. 58 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Strohmayer Otto (1898–1944) und BZ Nr. 61 v. 02.08.1939, S. 2. 59 Vgl. GB 054/Entnazifizierung – Ermittlungsakten: Groß Josef/Sepp Alois (geb. 1896) und BZ Nr. 63 v. 09.08.1939, S. 2.
Kapitel 9 Die braune Verfärbung der Schwefelkinder Oder: Weshalb ich beschloss, mich dem NS-Regime anzuschließen
Wie viele Badener waren nun Nazis? Hans Meissner fächerte seine Klasse (6. Schulstufe Gymnasium) wie folgt auf: Die Hälfte war bei der Marianischen Kongregation – als Protestant war er nicht dabei. Ein Drittel seiner Mitschüler war bei der HJ, der Rest waren Liberale, Linke und Monarchisten.1 Eine vergleichbare Unterteilung nahm Ernst Röschl vor. Statt seiner Schulklasse wagte er eine Analyse der gesamten Stadtbevölkerung. 30 Prozent wären Nazis gewesen, 13 Prozent Juden oder „Mischlinge“, 10 Prozent Linke und der Rest gehörte zum konservativ-katholischem Milieu.2 Vergleichen wir diese beiden Einschätzungen mit den Wahlergebnissen der Ersten Republik in Baden. Die NSDAP hatte 1924 zwei und 1929 nur mehr einen Mandatar im Gemeinderat, der Rest gehörte zu zwei Dritteln dem national/bürgerlich/konservativen Milieu an und das übrige Drittel dem linken Spektrum. Bei der letzten Gemeinderatswahl 1929 kam die NSDAP auf nicht einmal fünf Prozent der Stimmen.3 Nach dem Anschluss 1938 verschoben sich die politischen Parameter zu Gunsten der NSDAP. Um etwas vorzugreifen, die nach 1945 erstellten Listen mit Parteimitgliedern kommen zu dem Ergebnis, dass ungefähr zehn Prozent der Badener Parteimitglieder waren. Das bedeutet nicht, dass die restlichen 90 Prozent dem Nationalsozialismus feindlich gegenüberstanden. NS-Affinität brauchte kein Parteibuch. Gleichzeitig waren die 10 Prozent Parteimitglieder keine durch und durch überzeugten Nationalsozialisten oder gar Parteifanatiker. Es gab genug Beschwerden von Seiten der lokalen NS-Führung, wie ideologisch ungefestigt die eigenen Reihen seien und dass es deswegen zu zahlreichen Verwarnungen und Ausschlüssen aus der NSDAP gekommen sei. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass die überwiegende Mehrheit der Badener Bevölkerung zwischen „dem“ Parteifanatiker und „dem“ Widerstandskämpfer zu verorten ist. Es war eine Koexistenz mit dem NS-Regime, die sehr unterschiedlich gestaltet war. Aber bleiben wir bei den zehn Prozent. Weshalb der Beitritt zur NSDAP? Bei fünf Prozent (siehe Wahlergebnis 1929) war es die politische Überzeugung. Weitere fünf Prozent 1 2 3
Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 35. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 43. Vgl. ZGIERSKI, Jesus, Marx und Nibelungen, S. 71.
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hatten 1929 noch die Großdeutsche Volkspartei (GDVP) gewählt. Hier gab es für die NSDAP Wählerstimmen zu holen. Waren das nun die zehn Prozent? So einfach ist es nicht. Nur weil man 1929 die NSDAP wählte, hieß es nicht, dass man durchgehend Nationalsozialist blieb. Die Resistenz bzw. Abgrenzung der beiden großen politischen Lager, christlichsozial und sozialistisch, gegenüber dem Nationalsozialismus ist nicht von der Hand zu weisen, doch bei weitem nicht zu hundert Prozent – die Nazis wussten zu ködern. Die politische Einstellung war und ist nicht in Stein gemeißelt. Um die Beweggründe für den Beitritt zur NSDAP in Erfahrung zu bringen, bieten sich die Ansuchen um die Streichung von den NS-Registrierungslisten nach 1945 an. Darin geben Betroffene oftmals ihre Gründe an, weshalb sie der NSDAP beigetreten waren. Dieser Aspekt darf nicht aus den Augen verloren werden. Die angegebenen Gründe stammen aus der Zeit nach 1945, es sind oft Rechtfertigungen und Beschwichtigungen, deren Ziel es war, nicht mehr als Nationalsozialist bzw. Parteimitglied zu gelten. Und es meldeten sich zumeist jene, wo eine Streichung im Bereich des Mach- und Vertretbaren war. Überzeugte und stadtbekannte Nationalsozialisten versuchten es in den allermeisten Fällen gar nicht erst. Im Folgenden habe ich die häufigsten Erklärungen in verschiedene Gruppen zusammengefasst, die einem bestimmten Argumentationsmuster folgen. Dabei kann es zu Überschneidungen kommen. * Meine Angaben auf dem Fragebogen [zur SA] beruhten nur auf Hausnummern, ich machte dieselben nur in der Hoffnung, nun endlich aus meinem Elend durch die NSDAP erlöst zu werden und damit ich eine Arbeit bekomme.4 Raus aus der elendigen Arbeitslosigkeit, dachte sich Hans Schirmböck nach dem Anschluss und nach sechs Jahren ohne Arbeit, fünf Kindern und einer kranken Mutter. Und es klappte. Er kam als Hilfsarbeiter in einem Sägewerk unter. Hier haben wir einen der am meisten hervorgebrachten Gründe. Fast eins zu eins klingt es bei Karl Lenardin. Grund für seinen Beitritt zu SA war meine 8 Jahre lange Arbeitslosigkeit und mein kleines Zimmer in den Baracken, welche ich durch 16 Jahre lang mit Frau und 2 Kindern bewohnte. Mir wurde damals Arbeit und Wohnung versprochen.5 Rudolf Hein brachte vor: Ich hatte nur vor Augen, den Posten zu erhalten, um nicht wieder arbeitslos zu werden, und habe aus diesem Grund mich bei der Partei einschreiben lassen.6 Und als der Architekt Dr. Alois Breyer erfuhr, dass die Gemeinde einen Bauchfachmann benötigte und sein Name kursierte – einziges Manko, er hatte keine Parteimitgliedschaft – war für ihn klar: Ich bin dieser Aufforderung, so wie es an meiner Stelle wohl jeder gemacht hätte, 4 5 6
StA B, GB 052/Personalakten: Schirmböck Hans (geb. 1909). Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054 Registrierungslisten: Lenardin Karl (geb. 1895). Seinem Antrag wurde anfänglich stattgegeben, jedoch 1948 revidiert, da er Karl Kwasniofsky denunziert hatte (siehe Kapitel 25 Gesindel). StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hein Rudolf (1907–1982).
Kapitel 9 Die braune Verfärbung der Schwefelkinder
nachgekommen, gewiss auch voll Freude, beim Aufbau eines neuen modernen Staatswesens als Fachmann mitarbeiten zu dürfen, doch dauerte die Illusion nur ganz kurze Zeit.7 Die Angst um den Arbeitsplatz oder der Wunsch nach einem Arbeitsplatz durchzog sämtliche gesellschaftliche Schichten und Berufsgruppen, vom Koch bis zum Beamten. Ich bin seit 1913 im Staatsdienst, habe der jeweiligen Regierung immer nach bestem Wissen und Gewissen gedient und hatte niemals eine Beanstandung.8 So Hermann Almer, Beamter (Justizaktuar) beim Bezirksgericht Baden. Der NSDAP war er bereits 1930 beigetreten und kurz vor deren Verbot wieder ausgetreten. Glücklicherweise – aus der Perspektive von 1938 – ging die Austrittserklärung nach dem Anschluss verloren, sodass er seit 1930 als Parteimitglied geführt wurde. Pech wiederum aus der Perspektive von 1945. Seit 1930 bei der NSDAP – das sah nicht gut aus. Doch hatte er erneut Glück. Mehrere Zeugen sagten in seinem Sinne für ihn aus – von einem Parteifanatiker könne in diesem Fall keine Rede sein. Den Nationalsozialismus hatte er anfänglich begrüßt, sich jedoch mit der Zeit immer mehr distanziert, bis er begann, ihn mit Kritik zu überziehen. Ferner blieb er der Kirche treu, und gegen Ende des Kriegs wurde er gar zu Schanzarbeiten herangezogen und das nicht als Kolonnenführer, sondern als gewöhnlicher Schanzer. Laut Arbeitskollegen hatte er sogar mit einem Austritt geliebäugelt – wenn nicht sein sicherer und gut dotierter Arbeitsplatz gewesen wäre. Es war ein Nicht-Entkommen-Können bzw. ein Nicht-Entkommen-Wollen. Attraktiv war auch der Posten eines Staatsbeamten im Parlament, den der in Baden wohnhafte Dr. Franz Petrasch innehatte. Als Stenograph und Betreuer des Parlamentsarchivs – seine Gattin Franziska Petrasch betrieb eine Lottokollektur in Baden – obendrein Villenbesitzer, finanziell abgesichert und gegenüber der NS-Bewegung gegnerisch eingestellt, erweckte die Familie Neid und Argwohn bei den nicht so gut betuchten NS-Parteigenossen. Der Druck stieg, und als davon die Rede war, die Lottokollektur seiner Ehefrau an bedürftige Volksgenossen abgeben zu müssen, da sie politisch als untragbar erschien, suchten er und sie Anfang 1941 um Parteimitgliedschaft an und wurden aufgenommen. Politische Überzeugung war keine dabei. Ihrem NS-Umfeld blieb das nicht verborgen. Als richtige Nazis galten sie den richtigen Nazis nicht.9 Vom Druck seitens des Regimes berichtete genauso der Maschinist Alois Wiedl, seit 1938 Betriebsobmann in der Badener Molkerei, zuvor bis 1934 Mitglied der sozialdemokratischen Gewerkschaft. Um seine Stelle weiterhin behalten zu können, musste er zumindest den Status eines Parteianwärters haben. Hilfreich war die NSDAP-Anwärterschaft zudem bei Konflikten mit dem Kreisobmann der Deutschen Arbeiterfront (DAF), Ernst Ziegler. Jener war dafür berüchtigt, dass er gerne mit Dachau drohte.10 7 8 9
Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Breyer Alois (geb. 1885). StA B, GB 052/Personalakten: Almer Hermann (1890–1958). Ihrem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Petrasch Franz (geb. 1902) und Petrasch Franziska (geb. 1894). 10 Sein Antrag wurde abgelehnt. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Wiedl Alois (geb. 1893).
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Während Arbeitnehmer um ihre Arbeitsplätze bangten, bangten Arbeitgeber um ihre Auftragsbücher und Kundenstöcke, und das zu Recht. Im April 1938 ermahnte Bezirkshauptmann Rupprecht alle Bürgermeister des Kreises, da Aufträge der öffentlichen Hand zum Teil noch immer an Unternehmungen gelangen, die seinerzeit der nationalen Erhebung feindlich gegenüberstanden, während die zur nationalen Erhebung seit jeher positiv eingestellten Unternehmen trotz Erfüllung aller vorgeschriebenen Bedingungen unberücksichtigt bleiben. Es entspricht einem Gebot der Billigkeit, dass die letztgenannten Unternehmen bei der Vergabe solcher Lieferungen und Arbeiten vorzugsweise berücksichtigt werden […].11 Schlossermeister Ernst Gemeinböck, zu dessen Kundenstamm unter anderem die „Napola“ in Traiskirchen zählte, war bestrebt, solche Großkunden auf keinen Fall zu verärgern. Ich war bei der Partei nie tätig, habe eigentlich keine Vorteile von der Partei gehabt, außer dass ich meine alten Kunden durch den Parteieintritt nicht verloren habe […].12 Bei Marianne Glanner war es der Zuschlag, die Flakkaserne beliefern zu dürfen, vorausgesetzt, sie trete der NSDAP bei. Als Geschäftsfrau des Kaufmannsladens in der Wassergasse 10 wusste sie trotz ihrer laut eigener Aussage unpolitischen Einstellung, was sie aus ökonomischer Perspektive zu tun hatte. Nach 1945 fügte sie hinzu, dass sie alleine mit einem kranken Kind das Geschäft hatte führen müssen, da der Mann eingerückt war.13 Ebenso als Homo oeconomicus agierte der Kaufmann für Kolonialwaren und Spezereien Rudolf Kresse. Die Großaufträge der Wehrmacht und die daraus zu erzielenden finanziellen Mehreinnahmen waren ein verlockender Faktor, der NSDAP beizutreten, um weiterhin schwarze Zahlen zu schreiben. Davor hatte er sehr gute Kontakte zu der schwarzen Stadtregierung gepflegt und war der NSDAP gleichgültig bis ablehnend gegenübergestanden.14 Dass es nur um die Aufträge ging und die NS-Ideologie irrelevant war, davon sprach auch Baumeister August Hübl. Der Kasernenbau und weitere teilweise utopische Bauprojekte, über die wir später noch reden werden, versprachen Einnahmen und sicherten zukünftige Arbeitsplätze. Solch logisch-ökonomischer Argumentation konnte sich die Kommission nach 1945 nicht verschließen, und so verschwand sein Name von den Registrierungslisten. Einzig der SPÖ-Vertreter Walter Rosna stimmte dagegen.15 Die Angst ging um, erinnerte sich Dr. Johann Rath. Sein Vater, Josef Rath, Tapeziermeister und Christlichsozialer, musste nicht nur um Aufträge bangen – er wurde gleich verhaftet. Und der Großvater, Hans Kugler, Pächter mehrerer Lokale, darunter des Batzenhäusls, wurde vor die Wahl gestellt: Parteibeitritt oder der mögliche Verlust sämtlicher Lokalitäten – Dachau stand auch auf dem Programm.16 Alles zu verlieren, davor fürchtete 11 StA B, GB 394/Bauamt IV; Fasz I Bauamtsagenden. 12 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Gemeinböck Ernst (geb. 1899). 13 Ihr Antrag wurde abgelehnt. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Glanner Marianne (geb. 1906). 14 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Kresse Rudolf (geb. 1894). 15 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hübl August (geb. 1902). 16 Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, HR Dr. Johann Rath (1929–2015), Josef Rath (1901– 1985).
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sich auch Josefine Cortella, Betreiberin der Pension Josefplatz 6. Sie wies einen großen jüdischen Kundenstamm auf, in den Augen der Nationalsozialisten war ihr Betrieb dadurch verjudet. Um einer Betriebswegnahme zuvorzukommen, meldete sie sich bei der NSDAP an.17 Gleiches bei Hermine Habermann, Betreiberin des Zentralkinos in der Breyerstraße. Sie fürchtete die Lichtspielberechtigung zu verlieren.18 War der Arbeitsplatz sicher und florierten die Einnahmen, konnte man sich den eigenen vier Wänden widmen – sofern man welche hatte. Der Wunsch, eine Wohnung zu ergattern, war ein weiteres oftmals vorgebrachtes Beitrittsmotiv. Hierbei konnte, wie so oft, allerlei Schindluder getrieben werden bzw. wurde dies nach 1945 behauptet. Aufgrund von massiven Problemen mit dem Vermieter und dem Wunsch nach einer neuen Bleibe hatte sich der Rauchfangkehrer Johann Streckl als Parteianwärter bezeichnet, allerdings war diese Angabe schon damals eine wissentlich unrichtige. Er wusste, im Dunstkreis der NSDAP war es unbürokratischer eine Wohnung zu erhalten und deswegen habe ich am 27. Mai 1939 beim Wohnungsamt Baden einen Dringlichkeitsbogen ausgefüllt und angegeben „Parteianwärter“ zu sein.19 Und bei der Angabe PA fragte man nicht so genau nach, wie wenn er behauptet hätte, er wäre Parteimitglied. Bestätigt wurden seine Angaben ferner durch den jeweiligen Block- und Zellenleiter – die kein einziges Mal einen Mitgliedsbeitrag bei ihm erhoben hatten. Ähnlich bei Ernst Leopold Mayer. Der weitgereiste Badener, der 1932 zum ersten Mal nach Paris auswanderte bzw. mit dem Fahrrad hinfuhr, 1934 erneut Frankreich besuchte, 1935 heiratete und nur acht Tage später mit seiner Angetrauten nach Kamerun auswanderte, um dort eine Kakao- und Bananenplantage zu betreiben, kam nach vier Jahren, zwei Kindern und einer Malariaerkrankung im April 1939 zurück nach Österreich. Zuerst wohnte er mit seiner Familie bei seinem Schwager in Wien unter sehr beengten Verhältnissen, wenig später dann in Baden bei seinen Eltern, wo ebenso nicht viel mehr Platz zu Verfügung stand. Eine größere Wohnung musste her. Auf Anraten seines Bekannten, SS-Sturmführers Walter von Gimborn, gab er 1939 an, bereits im Jahre 1931 der SS beigetreten zu sein – 1931 deswegen, weil er 1932 bereits in Paris weilte. Sicherheitshalber schrieb er noch in Klammer „beurlaubt“ hinzu. Prompt fand er sich in einer neuen Bleibe wieder. Der Schwindel flog nicht auf, zumal Walter von Gimborn für die SS-Karteikarten zuständig war. Lange konnte sich Ernst Leopold Mayer der Wohnung jedoch nicht erfreuen. Im Februar 1940 wurde er eingezogen, und wie es das Schicksal so wollte, kam er zuerst nach Frankreich, dann nach Russland und anschließend zum Afrikakorps, wo er im Mai1943 17 Ihr Antrag wurde abgelehnt. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Cortella Josefine (geb. 1895). 18 Ihr Antrag wurde abgelehnt. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Habermann Hermine (geb. 1884). 19 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Streckl Johann (1899–1948).
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in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet, jedoch im Oktober desselben Jahres im Zuge eines Sanitäter-Austausches freikam. Danach ging es wieder nach Frankreich, diesmal Arras. Im April 1944 war für ihn der Kampf vorbei. Eine Lungentuberkulose presste ihn ins Lazarettbett. Da nach 1945 seine erfundene SS-Mitgliedschaft Thema wurde, bat er die Behörden, sich in seinem Umfeld umzuhören. Er war überzeugt, es würde genug Personen geben, die seine SS-Mitgliedschaft als Papiertiger bezeugen würden. Nicht registriert habe ich mich, weil ich nie der Partei oder einer ihrer Gliederung angehört habe, sondern damals nur diese falschen Angaben machte, um einerseits eine Wohnung, andererseits Vorteile beim Wehrmeldeamt zu haben.20 Um die Argumentation, weshalb man der NSDAP beigetreten war, noch zu untermauern, konnte man die eigene Vergangenheit als Beitrittsgrund anführen. Das wäre zum Beispiel: eine frühere falsche Parteiangehörigkeit, das falsche Milieu, eine falsche Funktion, eine NS-feindliche Tat usw. All das konnten Gründe sein, sich nun mit der NSDAP gut zu stellen. Manchmal waren es bloß schnippische und spöttische Kommentare in Richtung NS-Bewegung, die jahrelang zurücklagen. Wenn man Pech hatte, blieben sie bei irgendwelchen Menschen in Erinnerung, die nach dem Anschluss etwas zu sagen hatten. So äußerte sich 1934 im Casino bei einer zwanglosen Unterhaltung der Angestellte Dr. Julius Tokay wie folgt: Wenn ein Österreicher Nazi ist, so kann er nur entweder Verbrecher oder ein Idiot sein.21 Jemand merkte es sich und jemand meldete es. Man riet ihm zum Parteibeitritt. Etwaige kommende Unannehmlichkeiten könnten dadurch abgefedert werden. Außerdem sprach sich sein, uns nicht ganz unbekannter, Vorgesetzter Adolf Köfer, wärmstens für einen Beitritt aus. Verwundert über das Erinnerungsvermögen der hiesigen Nationalsozialisten war auch der Tischler Karl Schwarzott. Nach dem Anschluss erhielt er eine Vorladung durch den Ortsgruppenleiter Maximilian Rothaler. Irgendwann in den 30er Jahren hätte man ihm eine NS-Parteizeitung verkaufen wollen, woraufhin er damals entgegnet hätte, ich hätte ohnehin genug Klosettpapier zu Hause.22 Diese Aussage wurde ihm Jahre später zum Verhängnis. Im Sommer 1938 wurde er vorgeladen und verhört, man wollte wissen, wie das so mit dem Klosettpapier denn gemeint gewesen wäre. Öffentliche Aufträge konnte er sich als Nicht-Parteimitglied ohnehin in die Haare schmieren. Jetzt standen zusätzlich die Sperre des Betriebes am Tapet und die Angst, in Dachau zu landen. Noch im selben Monat wurde er Parteianwärter und vier Jahre später definitives Parteimitglied. In anderen Fällen handelte es sich nicht nur um NS-feindliche Aussagen, sondern um handfeste Auseinandersetzungen. Fleischhauer Karl Hiedl aus Bad Vöslau löste bei seiner Militär-Stellung eine Schlägerei aus, nachdem er sich gegen Hitler ausgesprochen hatte. Es kam zu einem Prozess. Er wurde freigesprochen, doch war die Angst, fortwährend be20 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Mayer Ernst Leopold (geb. 1910). 21 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Tokay Julius (geb. 1890). 22 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Schwarzott Karl (geb. 1900).
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langt zu werden, groß. 1940 meldete er sich bei der NSDAP und wurde vier Jahre später aufgenommen. Dass er kein überzeugter Nationalsozialist war, konnte laut seiner Aussage selbst der alte und neue Bad Vöslauer Bürgermeister und rotes Urgestein Rudolf Frimmel bestätigen.23 Betreffend die eigene Vergangenheit war natürlich die politische Gesinnung essentiell. Grundsätzlich konnte die NSDAP dabei durchaus kulant reagieren. Franz Schmid selbst hatte ja immer wieder eine Mitgliedschaft bei der Vaterländischen Front nicht als Ausschlussgrund bezeichnet. So versuchte der Volksschullehrer und Leutnant der Frontmiliz im Ständestaat Max Fischer auf Anraten seiner Kollegen, sich der NSDAP anzunähern. Die Reaktion der NSDAP fiel jedoch eindeutig aus: Max Fischer ist untragbar! Doch im Februar 1939 erfuhr er unerwartet, dass er als Parteianwärter geführt wurde. Im selben Jahr musste er einrücken, die weitere Bearbeitung ruhte daraufhin. Als er 1943 aus dem Militärdienst ausschied, pflegte er keinen Kontakt mehr zur NSDAP. Nach 1945 beschieden ihm Lehrerkollegen wie Karl Klose und Georg Resnitschek, einen stets österreichischen Geist besessen zu haben.24 Ein weiterer Makel, der es ratsam machte, sich der NSDAP anzuschließen, war ein zuvor reichlich gepflegter Umgang mit Juden – Stichwort Verjudung. Dem Volksschullehrer Johann Huber wurde angekreidet, dass er als Erzieher bei der jüdisch orthodoxen Familie Haberfeld eine Anstellung gehabt hatte. Um weiterhin unterrichten zu dürfen, trat er der NSDAP bei und wurde Berater für Schul- und Erziehungsfragen in der Kreisleitung. Allerdings sagten mehrere Zeugen nach 1945 für ihn aus, dass er kein überzeugter Nationalsozialist gewesen sei, und die Funktion bei der Kreisleitung nur vertretungsweise für zwei Monate ausgeübt habe.25 Beim Oberkellner vom Cafe Schopf, Maximilian Jakob, war es nicht nur der Umgang mit Juden, sondern zusätzlich der Einsatz für Juden, der ihn in Bedrängnis brachte. Um einer „Arisierung“ des Caféhauses vorzubeugen, plante er eine Gemeinschaftsverwaltung durch die 18 Angestellten. Der Parteibeitritt zur NSDAP schien da unumgänglich. Seine Idee wurde jedoch dahingehend interpretiert, dass er nur den Juden helfen wollte. Als Rudolf Schwabl das Café arisierte, waren Maximilian Jakobs Pläne ohnehin obsolet. Dass er sich gegenüber Juden korrekt und loyal verhalten hatte, bezeugte nach 1945 Franziska Röschl.26 Die Überschneidungen der verschiedenen Rechtfertigungen und Erklärungen werden sehr deutlich, wenn wir uns ansehen, welche einzelnen Beweggründe in den Vordergrund gestellt wurden. Der Rechtfertigung (Angst um den Arbeitsplatz) konnte mit dem Hinweis auf die NS-feindliche Vergangenheit mehr Gewicht gegeben werden. Oder man rückte 23 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hiedl Karl (geb. 1898). 24 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, Registrierungslisten: Fischer Max (geb. 1891). 25 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Huber Johann (geb. 1888). 26 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Jakob Maximilian (geb. 1898).
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prekäre Familienverhältnisse in den Vordergrund. Hubert Fischbach war Funktionär bei der Vaterländischen Front und verantwortlich für einen neunjährigen Sohn und eine kränkelnde Ehefrau. Um nach dem Machtwechsel weiterhin die Familie unterhalten zu können, wandte er sich der SS zu. Als jedoch seine Vergangenheit bei der VF zum Vorschein kam, war sein Beitritt vom Tisch bzw. seine SS-Karriere dauerte ganze drei Wochen. So begab er sich zum NS-Kraftfahrkorps (NSKK), und 1940 suchte er bei der NSDAP um Aufnahme an. Als er 1942 eingezogen wurde, ruhte jegliche Parteiarbeit. Dass er kein überzeugter Nationalsozialist war, untermauerte er mit kleineren Sabotageakten und den sich absichtlich zugefügten Erfrierungen Anfang 1945. Fürsprecher hatte Hubert Fischbach in Georg Resnitschek und Ernst Röschl. Letzterer sagte aus, dass Fischbach gar nicht bewusst gewesen sei, was die SS überhaupt war.27 Josef Hofmüller erwähnte neben seinem Posten beim Finanzamt seine fünf Kinder, die er zu versorgen hatte.28 Ebenso fünf Kinder waren es bei der alleinerziehenden Friede Hubler. Dazu kamen noch zwei Enkelkinder, ein vermisster Sohn und zusätzlich nach 1945 ein vermisster Schwiegersohn.29 Ettore Valenta hatte sogar zehn Kinder und war der Einzige mit einem Einkommen. Als Arbeiter in Enzesfeld und selbstständiger Kunststeinerzeuger konnte er sich nach einem Parteibeitritt Aufträge erhoffen. Laut Aufzeichnungen blieb er aber bis 1945 Parteianwärter. Grund dafür war womöglich, dass alle seine sieben Söhne Sozialisten waren und drei davon sogar Bekanntschaft mit dem Gefängnis gemacht hatten. Nach 1945 waren vier Söhne vermisst und ein weiterer desertiert und von der SS gesucht.30 Es musste nicht immer ein Haufen Kinder sein. Manchmal reichte ein einziges. Der Badener Apotheker und Generalsekretär der pharmazeutischen Gehaltkasse Walter Geyer trat 1932 laut eigener Aussage aus beruflichen Gründen der NSDAP bei, 1933 wieder aus und 1938 wieder bei. Dazwischen war er aus beruflichen Gründen der Vaterländischen Front beigetreten, um seine Beamtenstellung bei der Pharmazeutischen Standesanstalt in Wien nicht zu gefährden. Er selbst bezeichnete sich als unpolitischen Menschen. Um nach dem Anschluss auf Nummer sicher zu gehen, trat er der Sanitäts-SA bei, und gute NS-Bekannte aus alten Tagen „beförderten“ ihn zum Illegalen. Ferner wollte er das Fortkommen seines Sohnes, Dr. Herbert Geyer, nicht gefährden, der kurz vor dem Abschluss seines Medizinstudiums stand. Jener konnte aber für sich selbst ganz gut sorgen. Unmittelbar nach dem Anschluss meldete er sich bei der SS.31 Zahlreiche Parallelen finden sich bei Dr. Michael Biondeck. Auch hier spielte der eigene Vater eine entscheidende Rolle, was die politische Einstellung des Sohnes anbelangte. Als
27 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Fischbach Hubert (geb. 1908). 28 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hofmüller Josef (geb. 1914). 29 Ihrem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hubler Friede (geb. 1887). 30 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. GB 054/Registrierungslisten. Valenta Ettore (geb. 1883). 31 Vgl. GB 052/Personalakten: Geyer Walter (geb. 1892) und Geyer Herbert (geb. 1916).
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Jurist mit der Ambition, eine eigene Anwaltskanzlei zu eröffnen, war es für Michael Biondeck 1936 von Vorteil, Mitglied der Vaterländischen Front zu sein. Der Vater, engagiertes Mitglied bei ebendieser, machte es nicht nur möglich, sondern verschaffte dem Sohnemann auch das Beitrittsdatum 1933. Nach dem Anschluss musste Michael Biondeck als Spross eines vaterländisch gesinnten Vaters so Einiges erklären. Dass er 1937 dem Rotary Club Baden und dem Rotary Club International beitrat, kam noch hinzu. Seine Existenz als Rechtsanwalt stand auf dem Spiel. Sein Heil fand er in mehreren Besuchen des SS-Heimes in Baden in einem Zeitraum von zwei Wochen und unter der Angabe, SS Anwärter zu sein.32 Eine ebenso vorgebrachte Erklärung nach 1945, weshalb man sich dem NS-Regime angeschlossen habe, war die Intention, von innen Widerstand zu leisten. Ähnlich dahingehend war die Argumentation: Lieber trete ich bei, um Schlimmeres zu verhindern, als irgendwelche überzeugten Nazis ans Ruder zu lassen. Josef Fischlmaier, der bis 1936 als Kanzleimitarbeiter beim Bundesheer angestellt war, danach zur Frontmiliz wechselte, anschließend arbeitslos wurde, nach dem Anschluss beim Reichsarbeitsdienst (RAD) erneut als Kanzleiangestellter auf Probe einen Posten fand, argumentierte genau in diese Richtung. Durch das Ansuchen um Parteimitgliedschaft im Dezember 1939 beabsichtigte er, seine Probeanstellung beim RAD abzusichern. Laut Eigen- und Fremdbeschreibung war er ein aufrechter Österreicher, dem NS-Regime feindlich gesonnen, der so viel Sand wie nur möglich ins NS-Getriebe zu streuen bereit war. So hat er den zum RAD eingezogenen Jahrgängen manche Erleichterung zur Freude der Eltern herbeigeführt, was naturgemäß nicht im Sinne der Parteiführung lag.33 Reichsarbeitsdienste wurden durch ihn zurückgestellt oder ganz abgewürgt. Dadurch, dass er für den Kreis Baden, Bruck und Eisenstadt zuständig war, hatte er ein weites Betätigungsfeld. Sein Vorgehen blieb nicht unentdeckt. Bei seinem Vorgesetzten denunziert, drohte ein Parteigerichtsverfahren, das einzig durch die Einberufung zur Wehrmacht im Oktober 1942 ins Wasser fiel. Parteimitglied ist er nie geworden, und aus dem Krieg kehrte er im Jänner 1946 zurück. Defätistisch agierte ebenso Willibald Hauer, Direktor der Korksteinfabrik Mödling. Bei einem Direktorposten brauchte man nicht lange überlegen, ob man der NSDAP beitreten sollte oder nicht. Willibald Hauer bewarb sich im Juni 1938. Doch verschwieg er bei der Anmeldung etwas ganz Wesentliches: Seine Exfrau Ruth Hauer, von der er sich 1937 hatte scheiden lassen, war Jüdin, und der gemeinsame Sohn dadurch „Halbjude“.34 Gerüchte, Anzeigen und Verleumdungen tauchten gleich nach dem Anschluss auf. Es hieß, die Sympathien, die Hauer für die NSDAP zeigt, entspringen größtenteils persönlichen Vorteilsmotiven. Manche charakterisierten ihn sogar als gehässig gegnerisch aus persönlichen Gründen […].35 32 Vgl. GB 052/Personalakten: Biondeck Michael. 33 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Fischlmaier Josef (geb. 1910). 34 Ruth Hauer (geb. 1900). 35 StA B, GB 052/Personalakten: Hauer Willibald (geb. 1892).
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Um seine Familie zu schützen, stellte er seinen Sohn im Betrieb ein, und auf seine Exfrau hatte er, sofern es in seiner Macht stand, stets ein Auge – sein Anwalt intervenierte mehrmals zu ihren Gunsten. Ruth Hauer schilderte aus eigener Initiative, wie sie am Ende ihrer Erklärung nach 1945 vermerkte, wie sie dank ihres Exmannes die NS-Zeit überlebte. Jener zahlte weiterhin Alimente, und zwar nicht auf ein Sperrkonto, wie es das NS-Gesetz vorschrieb. Ferner setzte er sich bei allen möglichen Behörden für sie ein, half ihr, ihre Wohnung zu behalten oder ein Spitalsbett zu ergattern, obwohl er damit viel riskierte. Infolge seiner Stellungnahme zu mir […] wurde er ständig angefeindet und musste Anzeigen und Untersuchungen am laufenden Band über sich ergehen lassen. Seine, wie es hieß, jüdische Versippung führte im August 1942 zur Annullierung seiner Parteianwartschaft. Er blieb jedoch Direktor und setzte sich weiterhin nicht nur für seine Familie ein, sondern genauso für die Belegschaft, von der er wusste, dass Teile dem Widerstand angehörten. Bestätigt wurde dies von gewichtigen Personen wie dem Kommunisten Rudolf Hautmann, dem durch die Besatzungsmächte 1945 eingesetzten Polizeichef von Wien.36 In seiner Eigenschaft hat er in seinem Betrieb alles getan, um Interessen der antifaschistischen Arbeiter zu wahren. Es ist kein Zufall, dass fast alle Nationalsozialisten des Betriebes an die Wehrmacht abgestellt wurden und die antifaschistischen Funktionäre des Betriebs geschützt wurden.37 Hauer sprach davon, dass er den Betrieb fast nazirein gemacht hätte. Sein Einsatz brachte ihm noch im Februar eine Anzeige wegen Wehrkraftzersetzung ein. Zu der Zeit hatte er schon längst das Interesse der Gestapo, des Gauwirtschaftsamtes und des Gauleiters Schirachs auf sich gezogen. Dass nichts passierte, war wohl dem Zusammenbruch des Dritten Reiches geschuldet. Verständlicherweise wurde seinem Antrag auf Streichung stattgegeben. Konspiratives führte auch der Fleischhauer Karl Bergauer im Schilde. Gewesener Frontsoldat, Gewerkschaftler, SDAP-Mitglied und Betriebsobmann bei den Firmen „Großschlächterei vormals Luther“ sowie der Firma „Falkner und Schleiss“ in Baden, trat er der NSDAP bei, um weiterhin Betriebsobmann bleiben zu können. Die Angst war groß, dass die DAF einen Mann aus ihren Reihen schicken würde, der NS-politisch gefestigter wäre als er. Die Belegschaft bestand aus 15 bis 20 Personen, und die beiden Inhaberinnen, Elsa Falkner und Rosa Schleiss, galten als sogenannte Mischlinge.38 Dass Karl Bergauer dem NS-Regime feindlich gegenüberstand – den Blockwartposten nahm er ebenso aus rein taktischen Gründen an – sollten zahlreiche Zeugen nach 1945 bestätigen. Zudem bot er seine Dienste der KPÖ Baden an, die ihn als Vertrauensmann akzeptierte.39 Die Absicht, mittels Parteimitgliedschaft Schlimmeres zu verhindern, konnte mit einem Österreich-Patriotismus bzw. einem Kampf um mehr Selbständigkeit gegenüber dem Altreich kombiniert und verstärkt werden. Dr. Hans Barnstedt, geschäftsführender Gesell36 37 38 39
Rudolf Hautmann (1907–1970). StA B, GB 054/Registrierungslisten: Willibald Hauer. Elsa Falkner (geb. 1891), Rosa Schleiss (geb. 1888). Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA, GB 054/Registrierungslisten: Bergauer Karl (geb. 1895).
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schafter der Firma Oetker in Baden, schilderte nach 1945, dass sein vordergründiges Ziel darin bestanden hätte, den Einfluss der reichsdeutschen Stammfirma zurückzudrängen. Um erfolgreich zu sein, musste mindestens die Parteimitgliedschaft angestrebt werden.40 Eigenständigkeit gegenüber dem Altreich war ebenfalls der von Adolf Fischer angegebene Grund für seinen Parteibeitritt. Mir blieb damals nur die Wahl der Partei, deren Gewaltmethoden mich nicht überzeugen konnten, durch den Übertritt in den Ruhestand auszuweichen oder die Parteimaske zum Vorteil der Staatsdruckerei aufzusetzen.41 Als Direktor der Staatsdruckerei schilderte er nach 1945 seitenlang, wie er gegen Berlin angekämpft habe, damit der Betrieb eigenständig bleibe und dass er bei seinen Mitarbeitern stets die Eignung vor das Parteibuch gestellt habe. Die Mitarbeiter lagen auch dem aus Wien zugezogenen Dr. Hubert Braunsperger, Vorsteher des Finanzamtes in Baden, besonders am Herzen. Er scheute sich nicht, NS-Gegner oder Menschen, die in NS-Ungnade gefallen waren, einzustellen und sie, soweit es die Situation zuließ, bei politischen und moralischen Vergehen zu decken. Dass ein Finanzamt-Vorsteher Parteimitglied sein musste, daran führte kein Weg vorbei. Gerissen hatte er sich nicht darum, weder um den Posten noch um die Parteimitgliedschaft. Er musste seine Wiener Wohnung aufgeben und nach Baden übersiedeln. Seine definitive Parteiaufnahme im Juli 1940 zog einen Rattenschwanz an ungeliebten Verpflichtungen nach sich, wie den Blockwartposten, den er erfolglos niederzulegen beabsichtigte. Des Weiteren machte er sich bei seinen Badener Parteigenossen nicht sonderlich beliebt, da er den relativ gewöhnlichen Standpunkt vertrat, dass jeder pünktlich seine Steuern zu zahlen hätte, besonders Parteimitglieder. Denn er meinte, dass gerade sie auch hinsichtlich der Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten mit gutem Beispiel vorangehen müssten und legte ihnen gegenüber bei der Gewährung allfälliger Steuerbegünstigungen einen besonders strengen Maßstab an.42 Gegen Kriegsende ignorierte er den Befehl, Steuerakten und sonstige Karteien im Finanzamt zu verbrennen. Als er zum Volkssturm abkommandiert wurde, vermied er es, eine Waffe ausgehändigt zu bekommen, und setzte sich nur wenige Tage später mit Gleichgesinnten nach Melk ab. Und dann gab es noch ganz originelle Gründe, wie es dazu kam, dass man in die Fänge der NSDAP geriet. Obwohl von 1931 bis 1933 Parteimitglied und ab 1938 erneut, war es nicht die ideologische Überzeugung, die Josef Spörk in die NSDAP trieb. Meine Bitte um Entregistrierung begründe ich mit dem Umstand, dass ich kein wahrer Nationalsozialist nach dem Dogma der NSDAP war und zu dieser nur geriet, da ich großes Interesse für die Segelfliegerei hatte und der damals bestandene Fliegerring, dessen Mitglied ich wurde, die Mitgliedschaft zur NSDAP bedingt hatte.43 40 Sein Antrag wurde abgelehnt. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Barnstedt Hans (geb. 1906). 41 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Fischer Adolf (1882–1947). 42 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Braunsperger Hubert (geb. 1893). 43 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Spörk Josef (geb. 1905).
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Bei dem Installateur Eduard Haslinger war es hingegen die Passion zur Musik. Im exakten Wortlaut: Nach uund langer 7 Järiger Arbeitslosigkeit und die Liebe zu Musick sowie ein Instrument zu besitzen, liesen mich dazu verleiten den Musickzug der S.A. beizutreten ohne Parteimitglied zu sein. Als er 1943 einrücken musste und 1944 im Lazarett landete, schrieb er erbost an einen lieben Bertl, dass es hier einzig Verdummungsliteratur gäbe, und verflucht sei diese Bande, die nicht nur diesen Krieg entfesselt haben, sondern auch in ihrem Wahne der Geschichte zu dienen und um verherrlicht zu werden den Mut sagen wir besser Grossmauligkeit, die Menschen wie Vieh in den Tod treiben, ohne auf das sogenannte Familienleben Rücksicht zu nehmen. Das alles in einem Kulturstaat.44 Ende April desertierte er und begab sich in USamerikanische Gefangenschaft.
Alternativen Sich gut zu stellen mit dem NS-Regime, schien vielen Badenern ratsam zu sein. Wie Sie gelesen haben, wurden unterschiedliche Motive genannt. Aber es musste nicht zwangsläufig gleich ein Parteibeitritt sein. Es gab gangbare Alternativen zur NSDAP. Das waren: das NS-Kraftfahrkorps (NSKK), die SA-Reiterstandarte und die Sanitäts-SA Dabei handelte es sich um Gliederungen der NSDAP bzw. Unterorganisationen der Gliederungen, die jedoch einen bestimmten Zweck hatten, der nicht vordergründig politisch sein musste bzw. ausgelegt werden musste. Das „nicht vordergründig“ bitte wirklich unter Anführungszeichen zu lesen und zu bedenken, dass im NS-Staat alles politisch war und die Träger des NS-Regimes die Aufgabe hatten, als vollkommen politisch-ideologische Wesen aufzutreten. Trotzdem kann man das NSKK und die beiden SA-Untergruppen nicht mit der NSDAP gleichsetzen. Es waren Organisationen für jene Personen, die beim NS-Regime dabei sein wollten/mussten, denen die Parteimitgliedschaft allerdings zu weit ging oder die (noch) nicht beitreten durften. Solche Menschen traten an den NSKK, die SA-Reiterstandarte oder die Sanitäts-SA heran. Diese Gliederungen konnten eine Art politisches Purgatorium darstellen. Hier konnte man seine Loyalität unter Beweis stellen, um dann vielleicht doch noch Parteimitglied zu werden. Oder man konnte untertauchen, unsichtbar werden, aus der Schusslinie gelangen, und wenn etwas sein sollte, konnte man jederzeit sagen: „Ich bin eh dabei“ oder nach 1945: „Aber ich war nur bei XY dabei“. Das NSKK bot allen Schichten Zugang, während die SA-Reiterstandarte den gehobenen Stand mehr ansprach und die Sanitäts-SA logischerweise bei Medizinern zum Tragen kam. Eine weitere Möglichkeit, um unterzutauchen, stellten besonders gegen Ende des Krieges die Freiwilligen Feuerwehren dar. Aufgrund der Bombardierungen und der dadurch entfachten Brände zögerten die Machthaber hier, hart durchzugreifen. Feuerwehrmänner, selbst bekanntermaßen NS-Gegner, waren zu dieser Zeit dennoch systemrelevant. Unruhe in die Truppe zu bringen, war nicht sonderlich ratsam. Schauen wir uns zuerst das NSKK an. 44
Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Haslinger Eduard (geb. 1906).
Kapitel 9 Die braune Verfärbung der Schwefelkinder
Zum Aufgabenbereich dieser Gliederung gehörte die Verkehrserziehung, Hilfestellungen im Verkehrswesen, Transportwesen, Logistik allgemein oder bei Paraden Fahrtendienste zu leisten, ob nun mit dem Auto oder dem Motorrad. Karl Holly, Croupier im Casino Baden, überwältigte die Angst, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, und da ich befürchtete, in die SS oder SA gepresst zu werden, wählte ich das kleinere Übel und meldete mich zum NSKK, um endlich Ruhe zu haben. […] Bis unmittelbar vor meinem Beitritt zum NSKK hatte ich von einer Existenz eines NSKK überhaupt keine Ahnung.45 Das NSKK als kleineres Übel oder die harmloseste Gliederung, wie es sein Arbeitskollege Friedrich Kraus formulierte.46 Nicht anders ein weiterer Arbeitskollege, Karl Bastiany. Unpolitisch, wie er sich beschrieb, doch gezwungen, dem NS-Regime anzugehören, brauchte er als Motorradbesitzer nicht lange zu überlegen, welcher Gliederung er beitreten würde.47 Sehr profan argumentierte genauso Franz Gehrer: Ich war nur ein leidenschaftlicher Motorradsportler und trat deshalb im Sommer 1938 dem NSKK bei.48 Von dort ging es dann weiter zur NSDAP, deren Mitglied er 1941 wurde. Naheliegend war der NSKK-Beitritt bei Ferdinand Hofer, Mitglied der Prüfungskommission für Kraftfahrzeuge. Wie er selbst sagte, um die Mitgliedschaft bei der NSDAP hatte er sich lange gedrückt. Um das NSKK kam er nicht herum. Fortbildungen und etwaige berufliche Examen waren an die Mitgliedschaft gebunden. Dass er kein überzeugter Nationalsozialist war, bestätigte nach 1945 Rudolf Frimmel – alter und neuer Bürgermeister von Bad Vöslau.49 Die Gründe für einen Eintritt in das NSKK konnten, wie bereits erwähnt, ganz profaner Natur sein – der Besitz eines Motorrades. Galt man noch zusätzlich als Gegner der NS-Bewegung, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man das Motorrad verlieren würde. Sei es durch eine behördlich angeordnete Konfiszierung oder aufgrund reiner Willkür irgendwelcher SA-Mitglieder, die Lust danach verspürten, Mitmenschen zu berauben. So fast geschehen bei August Swirak, bei dem nach dem Anschluss die SA auftauchte, um sein Motorrad zu „beschlagnahmen“. Allerdings mussten sie unverrichteter Dinge wieder abziehen, denn Swirak war NSKK-Mitglied – zumindest zu jenem Zeitpunkt. Wirklich lange dauerte seine Mitgliedschaft nicht. Seine Vergangenheit holte ihn ein. Mit 13 Jahren war er Mitglied beim Arbeiterturnverein und mit 15 Jahren spielte er beim Arbeiter-Fußballverein in Baden. Als der Verein 1934 verboten wurde, trat die Mannschaft geschlossen dem Sportclub Pfaffstätten bei, da dort die Mitgliedschaft bei der Vaterländischen Front nicht 45 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Holly Karl (1908– 1992). 46 Seinem Antrag wurde stattgegeben.Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten; Kraus Friedrich (geb. 1910). 47 Seinem Antrag wurde stattgegeben.Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Bastiany Karl (geb. 1913). 48 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Gehrer Franz (1907–1996). 49 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hofer Ferdinand (geb. 1902).
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zwingend erforderlich war. An sich war eine sozialistische Sozialisierung für die NSDAP per se kein Ausschließungsgrund, nur hatte Swirak neben dem Fußballspielen eine weitere „Leidenschaft“ – auf Nationalsozialisten einzudreschen. Handfesten Auseinandersetzungen schien er nicht unbedingt aus dem Weg zu gehen. 1933 passten er und Genossen gleichen Schlages einige Nationalsozialisten nach einem NS-Aufmarsch ab und verprügelten sie. 1934 passierte Ähnliches beim arglosen Spazierengehen in der Spiegelgasse, vorbei am Braunen-Haus (NS-Parteiheim). Ein SA-Mann blickte aus dem Fenster bzw., um einen pubertären Slang zu gebrauchen und Swiraks Perspektive einzunehmen, er sah deppert raus. Was Swirak, der offensichtlich ein impulsiver Zeitgenosse war, dermaßen provozierte, dass ihm nichts anders übrigblieb, als die Fäuste sprechen zu lassen. Kurzerhand zerschmetterte er den Fensterflügel am Kopf des Provokateurs. Als das alles publik wurde, wurde seine Mitgliedschaft beim NSKK für beendet erklärt, nur um ihn dann, ein paar Wochen später, wieder zurückzuholen. Der Personalmangel machte es mögliche.50 Gewalttätiges Verhalten war auch Otto Kozeluhas Motivation, beim NSKK den Beitrittsbogen auszufüllen. Von Beruf Gärtner, geriet er mit dem Betriebsobmann Eduard Schilk in Streit. Dabei wurde er handgreiflich und versetze seinem Gegner eine Ohrfeige. Da wenig überraschend die Entlassung drohte, er damit ohne Verdinestmöglichkeiten dagestanden wäre, er war jung verheiratet samt kleinem Kind, rieten ihm Kameraden, dem NSKK beizutreten – ein wohlweislich sehr guter Rat. Denn Eduard Schilk war ein Illegaler und eingefleischter Nationalsozialist. Nach 1945 wurde er als Folterknecht von Baden bezeichnet – zu ihm viel später mehr. Im Mai 1939 trat Otto Kozeluha dem NSKK bei, ein Jahr später musste er bereits einrücken.51 Das NSKK hatte nicht nur den Vorteil, dass man hier ganz gut untertauchen und die NS-Zeit durchtauchen konnte. Überaus nützlich erwies sich der Umstand, hier einen Führerschein zu erwerben. Albert Lounek trat dem NSKK bei, ohne einen Führerschein zu besitzen, geschweige ein Motorrad oder gar Auto.52 Ebenso ohne Auto bzw. ohne jemals eines gelenkt zu haben, dafür auf die Schlamperei der Parteiinstitutionen setzend, wurde der Friseurmeister Josef Mayer NSKK-Mitglied. Dem Beitritt gingen Überlegungen mit Freunden voran, wie man sich am besten vor der vormilitärischen Ausbildung drücken könnte. Vier Monate lang zahlte er Mitgliedsbeiträge, danach stellte er die Zahlungen ein und wartete ab. Nichts geschah. Parteiversammlungen besuchte er laut eigener Aussage keine. Für einen Sonntag hatte er die Ausrede, dass ich im Geschäft sein müsse, und geriet so offenbar alsbald in Vergessenheit, da sich niemand mehr um mich kümmerte.53Auf Schlamperei von Seiten des NSKK berief sich auch der Spengler
50 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten Nachträge: Swirak August (geb. 1911). 51 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten Nachträge: Kozeluha Otto (geb. 1919). 52 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Lounek Albert (geb. 1908). 53 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Mayer Josef (geb. 1909).
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Franz Hartl. Erst nach 1945 soll er mitbekommen haben, dass er beim NSKK Mitglied gewesen sei bzw. zwei Monatsbeiträge entrichtet haben solle. Weshalb, wie und warum, konnte er sich nicht erklären. Er hatte zwar ein Motorrad, hatte dieses pflichtbewusst beim NSKK gemeldet, jedoch stets eine Mitgliedschaft verweigert sowie vorgeschlagene Propagandafahrten stets abgelehnt. Politisch stand er der NSDAP fern. Als Mesner der Helenenkirche war er ideologisch eindeutig woanders zu Hause.54 Ein Beispiel für ein familiäres Handicap im NS-Staat, wo der NSKK-Beitritt „Linderungen“ verschaffen konnte, bietet der Fall Helmut Hahn. Die Zulassung zur Abschlussprüfung als Jurist stand auf dem Spiel. Als Angehöriger der Frontmiliz und Hilfspolizist während des Juliputschs 1934 und obendrein Sohn von Julius Hahn, dem Hauptgruppenleiter der Vaterländischen Front in Baden, sah es für Helmut Hahn wahrlich nicht rosig aus. Doch hier kam die „Achse Schmid-Hahn“ zum Tragen – bereits im Kapitel 7 angerissen. Der ehemalige Bürgermeisterstellvertreter Hahn konnte beim aktuellen Bürgermeister Schmid die Bitte vorbringen, seinem Sohn das Leben nicht schwerer zu machen, als es ohnehin schon war. Als Gegenleistung trat Helmut Hahn, der Motorradbesitzer war, passenderweise dem NSKK bei. Allerdings, mit dem Erhalt seines Doktordiploms im Mai 1940 erfolgte zeitgleich der Austritt aus dem NSKK.55 Trotz der teilweise skurrilen Fälle dürfen wir nicht vergessen, das NSKK war eine Gliederung der NSDAP und damit eine Stütze des NS-Staates. Angehörige des NSKK waren ebenso an allerlei Verbrechen des NS-Regimes beteiligt. Ein weiterer Punkt ist, dass das NSKK nur Volksgenossen offenstand. Als herausgefunden wurde, dass August Lehner „Mischling 2. Grades“ war (der Vater seiner Mutter war Jude), wurde er sogleich aus dem NSKK ausgeschlossen.56 Die nächste „Alternative“ zur NSDAP war die SA-Reiterstandarte. Die Gemeinsamkeiten zum NSKK, was die Beitrittsmotivationen anbelangt, sind frappierend. Der Jurist Dr. Meinhard Stuchlik trat bei, weil für die Berufsausbildung als Jurist nach dem Hochschulstudium eine Gerichtspraxis erforderlich ist und zur Zulassung zu dieser seit 1938 oder Anfang 1939 grundsätzlich die Zugehörigkeit zur NSDAP oder einer ihrer Gliederung gefordert wurde. Und weil diese sich von allen Gliederungen am wenigsten mit Politik beschäftigte und fast nur einen Sportverein darstellte.57 Bei Dr. Walter Lischka war es ebenso das Rechtswesen, das ihn indirekt zur SA-Reiterstandarte führte. Sein Gesuch um Zulassung zur Rechtsanwaltsprüfung wurde unter Versagung jedweder Rechtsmittel abgewiesen. Seine NS-feindliche Haltung lag dem zugrunde. Um guten Willen zu demonstrieren, suchte 54 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hartl Franz (geb. 1908). 55 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hahn Helmuth (1915–1997). 56 Nicht Registrierungspflichtig. Vgl. StA B, Registrierungslisten Nachträge: Lehner August (geb. 1903). 57 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Stuchlik Meinhard (geb. 1918).
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er sein Glück auf Erden auf dem Rücken von SA-Pferden und bediente sich bekannter Argumentation, wonach die SA-Reiterstandarte politisch fast gar nicht in Erscheinung trat und dessen Wirkungskreis sich nur in sportlicher Betätigung erschöpfte.58 Erinnert sei noch an den Bezirksrichter Richard Frank (Kapitel 4 Justitia) der ebenso Mitglied der SA-Reiterstandarte wurde und natürlich Kurt Waldheim. Als angehender Jurist und unwillig, der NSDAP beizutreten und damit mit demselben Problem wie die Herrschaften von zuvor konfrontiert, führte kein Weg an den NS-Pferden vorbei. Wobei es laut ihm nicht die SA-Reiterstandarte werden sollte. Ich tat dies beim NS-Reiterkorps, welche mir als sportliche Organisation noch am ehesten tragbar erschien. Ich erkläre hierzu, dass ich mich lediglich als Anwärter der SA-Reiterstandarte angemeldet, jedoch nie eine Bestätigung meiner Anwärterschaft erhalten habe, vielmehr bloß eine Bescheinigung über diese Anmeldung, welche von meinen Angehörigen in Unkenntnis der Sachlage als Mitgliedsausweis deklariert wurde.59 Zu guter Letzt sei noch die Sanitäts-SA erwähnt, wo wir auf beinahe identische Erklärungen stoßen. Dr. Otto Podobsky – seine Geschichte kann in einem Absatz zusammengefasst werden: Amtsbekannt ist auch, dass Dr. Podobsky, sowie mehrere seiner Studienkollegen, als Gegner des Nationalsozialismus und wegen ihrer positiven Einstellung zu ihrem Vaterland Österreich, gleich in den ersten Tagen der NS-Herrschaft nicht nur verhöhnt und beschimpft, sondern auch mit dem Ausschluss vom Studium bedroht wurden. Letzteres dürfte auch der Grund gewesen sein, dass Dr. Podobsky und einige seiner Studienkollegen um die Aufnahme in die Sanitäts-SA angesucht haben.60 Und bei Dr. Ferdinand Birkner sah es nicht anders aus. Von den Dienststellen an der Hochschule wurde mir wiederholt geraten, um Aufnahme in die NSDAP oder einer ihrer Gliederungen anzusuchen, falls ich Wert darauf legte, mein Studium fortzusetzen. Im Juni 1938 trat er den SA-Sanitätern bei, wo er bald darauf Erste-Hilfe-Kurse leitete. Sein Ansuchen um Parteimitgliedschaft erfolgte im September 1942, da er befürchten musste, meine unter großen Mühen erlangte berufliche Existenz im städtischen Krankenhaus Baden zu verlieren.61 Im März 1943 wurde er eingezogen. Parteimitglied ist er nie geworden. * Wir haben zahlreiche Beispiele gesehen, wie einzelne Volksgenossen zu Parteigenossen wurden, um weiterhin ein Leben zu führen, das ihnen nicht zum Nachteil werden sollte. Man wollte Arbeit, Posten, Aufträge, man wollte keinen Ärger haben und weiterhin gut leben. Hierbei ging es um Menschen, die nicht aus ideologischer Überzeugung der NSDAP beitraten bzw., ganz wichtig, die dies nach 1945 so darstellten. 58 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Lischka Walter (1909– 1992). 59 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Waldheim Kurt. 60 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Podobsky Otto (geb. 1918). 61 Ergebnis liegt nicht vor, da der Genannte 1945 nicht mehr in Baden weilte. StA B, GB 054/ Registrierungslisten: Birkner Ferdinand (geb. 1913).
Kapitel 9 Die braune Verfärbung der Schwefelkinder
Doch nun wollen wir zu jenen Menschen kommen, denen dies alles verwehrt war, weil sie in den Augen des Nationalsozialismus und vieler ihrer nationalsozialistischen Mitmenschen in Baden nicht als Menschen gesehen wurden. Juden und Menschen, denen ein Judentum zugeschrieben wurde, besaßen nicht die Möglichkeit, sich mit einem NSKK-Beitritt aus der Schusslinie zu nehmen. Sie konnten von Anfang an nicht auf Arbeit, Aufträge, Posten, keinen Ärger oder weiterhin auf ein gutes Leben hoffen. Sie konnten, wenn überhaupt, auf ein Überleben hoffen. Irgendwann schnappte ich mal während des Studiums einen Spruch auf, der für das folgende Kapitel passt. Ihr dürft nicht als Juden unter uns leben! Ihr dürft nicht unter uns leben! Ihr dürft nicht leben!
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Kapitel 10 Als Jude in Baden zwischen Anschluss und Novemberpogrom, zwischen Segregation und Vertreibung, Beraubung und Vernichtung Oder: Horror
Ausrauben und Vertreiben bis zum Jahre 1940, danach Konzentration in Ghettos, anschließend Deportation in Vernichtungslager. So kann vereinfacht die Politik der Nationalsozialisten gegenüber Menschen, die als Juden angesehen wurden, zusammengefasst werden. Das Vorgehen war mit administrativen und scheinrechtlichen Gesetzen, Vorlagen und Bestimmungen verbrämt. Eine brutale Vorgehensweise stand nicht im Widerspruch zum kreierten Schein der Rechtsstaatlichkeit. Hauptsache, das gesamte Prozedere war organisiert und durchstrukturiert.1 Antisemitismus, Antijudaismus, Judenhass, wie immer man dieses Denken, Fühlen, diesen Wahn bezeichnen mag, er war nichts Neues; die Nationalsozialisten hatten nichts Neues erfunden, er war seit Jahrtausenden präsent. Das NS-Regime radikalisierte ihn „bloß“ in einer bisher nicht dagewesenen Form. In unserem Fall spielt die „große“ Politik eine sekundäre Rolle – jedenfalls für den Rahmen der Darstellung. Wichtig ist, aufzuzeigen, dass die „große“ Politik dahingehend ganz klein gewesen wäre, ohne die Menschen vor Ort, die sie in die Tat umsetzten. Weder Hitler, noch Himmler, Goebbels oder sonst eine der NS-Granden wussten, wer in Baden Jude war. Sie waren angewiesen auf das Wissen und die Tat ganz gewöhnlicher und durchschnittlicher Menschen. Wer konnte Juden das Leben besser schwer machen als Mitbewohner am gleichen Ort? Eine banale Frage, die der Historiker Christian Gerlach hier stellt. Und weiter: Die aktive Rolle von Stadt-, Kreis- und Ortsverwaltungen zeigt, dass die Reichsregierung oder NS-Führung nicht alles im Detail vorschrieben und dass auch außerhalb der NSDAP ein nicht geringer Elan existierte.2 Und dieser Frage wollen wir uns nun widmen. Von dem ersten „NS-Elan“ der Anschlusstage konnten wir uns bereits ein Bild machen. Nachdem diese erste Gewaltwelle verebbt war, „beruhigte“ sich die Situation dahingehend, dass die offene Gewaltanwendung in den Hintergrund trat. Doch das Rauben ging weiter, aber statt der Fäuste dominierte 1 2
Vgl. FREUND, SAFRIAN, Die Verfolgung der österreichischen Juden, S. 767–794. GERLACH, Der Mord an den Europäischen Juden, S. 52.
Kapitel 10 Als Jude in Baden zwischen Anschluss und Novemberpogrom
nun die Feder. „Kaufverträge“ en masse gingen über die Schreibtische zahlreicher Badener Rechtsanwälte und Notare. Souffliert wurde das Konglomerat an Raub, Erpressung, Einschüchterung von ganz oben. Mit dem Anschluss ergoss sich eine Flut an diskriminierenden Gesetzen über die nun heimgekehrte Ostmark. Kündigungen, Geschäftsboykotte und Berufsverbote führten zum wirtschaftlichen Ruin. Der Staatsdienst, das Justiz- und Medizinwesen – sämtliche „gehobene“ Berufsgruppen waren für Juden nicht mehr praktizierbar. Dagegen Einspruch zu erheben, war sinnlos, weil nicht möglich, da das Recht auf Gerichtsprozesse verwehrt wurde.3 Im Mai 1938 informierte die Gauleitung die Kreisleitung Baden über die Enthebung der jüdischen Krankenkassenärzte und die Boykottierung jüdischer Arztpraxen. Ohne Ausnahmen und Sentimentalitäten wird ausdrücklich hinzugefügt: Bedenken irgendwelcher Art bestehen nicht, und es gibt auch bis auf weiteres keine Ausnahmen.4 Im Laufe des Jahres wurde unter anderem der Badener Notar und Apotheker Dr. Felix Baltinester von seinen Tätigkeiten enthoben.5 Im Juli berichtete die Badener Zeitung, dass vier jüdische Rechtsanwälte in Baden gestrichen wurden. Die Genannten waren die Doktoren Friedrich Kalman, Bernhard Klar, Viktor Richter, Samuel Spitzer.6 Mit dem Entzug der Approbation bzw. der Kündigungen gingen Beurteilungen einher. Josef Heitzer nahm sich im November 1938 die Ärzteschaft vor und brachte seine Recherchen im Stakkato-Stil wie folgt zu Protokoll: Josef Taussig, Jude, geb. 1873, Arzt in der Gebietskrankenkasse, mit Verbindungen zur SDAP, aber politisch nicht aktiv. Dr. Siegfried Lackenbacher, Jude, geb. 1880, SDAP-Verbindungen, verwitwet und Besitzer eines Hauses am Theaterplatz, hat für ein Kind zu sorgen. Dr. Samuel Deutsch, Jude, geb. 1884, Talmud-Jude, tätig in verschiedenen Krankenhäusern, verkehrt ebenfalls mit Sozialisten und sogar Kommunisten. Mit Kommunisten in Verbindung brachte er weiteres die Jüdin Marianne Fischer (geb. 1895), Villenbesitzerin der Schimmergasse 7, und den jüdischen Kurgast Ernst Kenedi. Hinter dessen Nierenbeckenentzündung vermutete Heitzer einen Schwindel. Stattdessen attestierte er ihm eine konspirative Zusammenarbeit mit Feinden der NS-Bewegung.7 Manchmal waren es auch ganz „banale“ Diskriminierungen. In der BZ-Ausgabe vom 6. Juli 1938 gab der Kreisleiter mit sofortiger Wirkung die Order aus, dass es Nicht-Ariern verboten sei, heimische Trachten zu tragen. Von den Badenern jüdischen Glaubens bzw. jüdischer Abstammung flohen einige unmittelbar nach dem Anschluss nach Wien. Sie hofften, in der Anonymität der Großstadt untertauchen zu können. Baden als Kleinstadt bot diese Möglichkeit nicht. Wer es sich leisten konnte, floh gar ins Ausland. Jene, die hierblieben, zogen sich vollkommen zurück. Das waren erprobte Strategien. Die jüdische Geschichte kannte zur Genüge Zeiten 3 4 5 6 7
Vgl. BAILER-GALANDA, JABLONER, Schlussbericht der Historikerkommission, S. 133. StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge. Vgl. www.jewishhistorybaden.com/time (12.10.2019). Vgl. BZ Nr. 53 v. 02.07.1938, S. 6. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Heitzer Josef – Berichte (12.11.1938).
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der Verfolgung und Vertreibung. Sich ruhig zu verhalten und gleichzeitig mit den Unterdrückern zu kooperieren, war oftmals von Erfolg gekrönt. Die vollkommene Vertreibung und Vernichtung jüdischer Gemeinden lag Jahrhunderte zurück, im längst vergangenen Spätmittelalter und der Neuzeit. Seitdem ging es langsam bergauf, um es sehr verkürzt darzustellen, und mit dem 19. Jahrhundert begann ohnehin eine Blütezeit des Judentums in Baden. Doch mit der Radikalität der Nationalsozialisten hatte „niemand“ gerechnet. Hätte damals jemand die kommenden Verbrechen prophezeit, er wäre als Spinner und Hysteriker verlacht worden. Und der Antisemitismus der Nationalsozialisten? War er nicht Warnung genug? Hans Meissner brachte es nach dem Schmökern von „Mein Kampf“ wunderbar auf den Punkt. Die vielen Seiten über die angeblich drohende Weltherrschaft der Juden waren dagegen kaum was Neues, nämlich nur die langatmige Wiederholung dessen, was ich von vielen Erwachsenen, darunter Lehrern, ohnehin immer wieder hörte […].8 Und wie sahen es Juden in Baden? Wie sämtliche Badener Juden es sahen, liegt selbstverständlich nicht vor, aber die Erinnerungen von Eva Kollisch und Karl Pfeifer liegen vor. Eva Kollisch stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie. Ihre Eltern Otto und Margarethe Kollisch verkehrten mit Juden und Nicht-Juden, wobei das nicht die ausschlaggebenden Kategorien waren. Bildung und Aufklärungen waren viel mehr die verbindenden Elemente. Bezüglich des Antisemitismus gab es eine weitere Gemeinsamkeit in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis: Worin sie sich alle einig waren in unserer kleinen Kurstadt Baden bei Wien in den frühen, mittleren und sogar späten 30er-Jahren, war, dass der Antisemitismus überschätzt wurde, dass man ihm Einhalt bieten konnte, dass an seiner Entstehung immer zwei Seiten beteiligt sein mussten.9 Ähnlich bei Karl Pfeifer. Er stammte aus einer nicht sonderlich religiösen jüdischen Familie, allerdings mit einem jüdisch-völkischen Bewusstsein, auf das man stolz war. Die Eltern hatten jüdische Freunde, er selbst jüdische Spielkameraden, und wäre er auf die Idee gekommen, sich taufen zu lassen, so wäre der Kontakt zu ihm höchstwahrscheinlich abgebrochen worden. Trotzdem wurde der bestehende Antisemitismus „relativ“ gesehen. Karl Pfeifer erinnerte sich an das Sprichwort mit der heißen Suppe und wann sie dann letztendlich gegessen wird. In Bezug auf den österreichischen Antisemitismus fiel des Öfteren das Adjektiv: gemütlich.10 Also alles halb so schlimm, weil eh gemütlich, wie es seine Eltern empfanden? Oder müsste man es von beiden Seiten betrachten – das berühmte „Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte“ – wenn es nach Eva Kollischs Eltern ging. Oder, eh nichts Neues, wenn wir Hans Meissner folgen? Wollen wir uns ein paar antisemitischen Klischees widmen und sie am Beispiel Badens abarbeiten. Da wären zum Beispiel das Gerede von der totalen jüdischen Überfremdung der Kurstadt oder das Bild des reichen, mächtigen und einflussreichen Juden. Und auch der gemütliche Antisemitismus innerhalb der lieblichen Biedermeierstadt soll nicht zu kurz kommen. 8 StA B, Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 1. 9 KOLLISCH, Der Boden unter meinen Füßen, S. 13. 10 Vgl. PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 13–15.
Kapitel 10 Als Jude in Baden zwischen Anschluss und Novemberpogrom
* In Baden ist der gesamte Hausbesitz zu 80 % in jüdischen Händen. Es ist absolut unmöglich gewesen, für die Standarte 84 entsprechende Räume zu finden, welche im Hause eines Ariers gelegen sind.11 Mit solchen Zuständen war die SA-Standarte nach dem Anschluss in Baden konfrontiert. Als im wahrsten Sinne des Wortes schlagfertige Stütze des NS-Regimes war die SA gezwungen, mit einer jüdischen Immobilie vorliebnehmen zu müssen. Man weiß gar nicht, ob das Vorwurfsvolle in dem SA-Schreiben an das Judentum gerichtet war oder an die arischen Volksgenossen, weil sie viel zu wenig in Immobilienbesitz investiert hätten. Die SA war da nicht alleine. Die Ortsgruppen und selbst die Kreisleitung und dann die in Baden einquartierten Militärs beschwerten sich lautstark, dass sie bei Juden untergebracht worden waren. Aber wie konnte es auch anders sein, wenn 80 Prozent des Hausbesitzes in Baden in jüdischer Hand war! Solch abstruse Prozentsätze und weitere Zahlenangaben kursierten im Schriftverkehr der NS-Stellen, egal, ob es nun ein Blockwart in Sprengel XY behauptete oder ein Reichsführer XY in Berlin. Alles war „verjudet“, die gesamte Kurstadt, das gesamte Reich! Aber was sagen die Fakten? Zuerst muss deutlich werden, dass die Zahl der in Baden wohnenden Juden nicht deckungsgleich ist mit den Mitgliedern der jüdischen Kultusgemeinde. Diese umfasste neben der Stadt Baden sowie den Bezirk Baden inklusive Gumpoldskirchen. Für die Stadt Baden repräsentativ ist die Volkszählung aus dem Jahre 1934. In dieser werden 1108 Menschen mit jüdischem Glauben gezählt. Das entsprach einem Bevölkerungsanteil von 5 Prozent.12 Eine andere Quelle war eine Meldung an die Gestapo vom 15. März 1938. Darin hieß es, die Kultusgemeinde umfasse 1821 Personen.13 Die Badener Kultusgemeinde bezifferte im Jahresbericht 1937 wiederum die Zahl ihrer Mitglieder bei um die 2400. Hierbei wurden die Zweit- und Wochenendwohnsitze mit einberechnet. Laut der Volkszählung vom 17. Mai 1939 gab es in Baden noch 242 Personen jüdischen Glaubens. Ein Jahr später nur mehr 42.14 Im Stadtarchiv Baden finden sich weitere Listen mit Zahlenangaben. Die Zahlen variieren und beziehen sich auf einzelne Ortsgruppen. Ebenso wichtig, manche Listen sind mit der Hand geschrieben, mit Notizen ergänzt, Korrekturen sind vorgenommen, Namen sind durchgestrichen, sie sind nicht vollständig, sei es, weil ein Teil fehlt, sei es, weil die Listen nicht fertiggestellt wurden, es fehlen Datierungen usw. Für die Erstellung der Listen waren teilweise die Blockleiter verantwortlich, denen zuvor Fragebögen ausgegeben wurden. Ortsgruppenleiters Maximilian Rothaler mahnte im August 1938: Unverzüglich nach Erhalt der Fragebögen haben die Blockleiter mit der Bearbeitung und Ausfüllung zu beginnen […]. Also nicht zu Hause liegen lassen. Die Dringlichkeit der Erledigung der Fragebögen soll jedem
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StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. I SA; SA-Standorte. Vgl. www.jewishhistorybaden.com/city (12.10.2019). Vgl. IKG Archiv Wien; Arisierungsakten; A/VIE/IKG/I-III/IKG/Baden/1/15. Vgl. http://www.jewishhistorybaden.com/time (10.04.2023).
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Blockleiter bewusst sein.15 Bezüglich jüdischer Geschäfte gab es im August 1938 im Kreis Baden noch 60–70 jüdische Geschäfte. Davon wurden 46 kommissarisch verwaltet.16 Von „80 Prozent jüdisch“ oder einer „Verjudung“ konnte keine Rede sein. Die von den NS-Stellen kolportierten Angaben waren maßlos übertriebener Schwachsinn, der nichts mit der Realität zu tun hatte. Doch Fakten sind bekanntlich sekundär, Emotionen dafür primär. Die hetzerischen Übertreibungen betrafen nicht nur die Stadt im Allgemeinen, sondern auch einzelne Lokalitäten. Franz Wiedhalm wurde als Judenfreund angesehen, und sein Caféhaus könnte er fast lediglich durch Judenbesuche aufrechterhalten, zu welchem Zwecke er auch vornehmlich jüdische Musiker beschäftigt hat. Der jüdische Einfluss schien sich auch seiner bemächtigt zu haben, denn er sei gegenüber der NS-Bewegung gegnerisch eingestellt gewesen, und ein antisemitisches Klischee bedienend hieß es, dass er in der Vergangenheit immer sehr zweideutige Geschäftsmethoden (Schuldenmachen, nicht Bezahlen, Gerichtsklagen etc.) angewendet hat.17 Absurde 95 % jüdischer Gäste soll das Hotel Sacher beherbergt haben. Die Betreiberin, Karoline Sacher – Detail am Rande, in den Quellen finden sich drei verschiedene Geburtsdaten: 1889, 1890, 1891 –, soll der NS-Bewegung gegenüber vollkommen gegnerisch eingestellt gewesen sein. Hinzu kam: Soziale Einstellung sehr gering. Eigennutz als Leitsatz. Inniges Freundschaftsverhältnis der Familie zu den Juden.18 Ihr Mann Carl Sacher, ein Offizier des Ersten Weltkrieges, wurde aus denselben Gründen angefeindet. Die Gestapo informierte die Abwehrstelle im Wehrkreis XVIII, dass der Genannte auch gegenwärtig noch eine jüdisch-liberalistische Einstellung an den Tag legt. Er ist egoistisch und unsozial eingestellt.19 Politisch war so jemand unzuverlässig, abwehrmäßig gab es ihm gegenüber große Bedenken. Die übertriebenen Prozentangaben sollten im Grunde missliebige Personen diskreditieren. Diesbezügliche Verleumdungen und Anzeigen kamen nicht selten von der Konkurrenz. Fast schon weinerlich wurde darüber lamentiert, dass der andere durch Judengeld reich geworden wäre und sich dabei sogar des jüdischen Wuchers schamlos bedient hätte. Bleiben wir beim Wucher und kommen dadurch zum nächsten antisemitischen Stereotyp, dem reichen und mächtigen Juden. Dieses Klischee wurde in Baden dadurch begünstigt, dass die Stadt nun einmal ein nobler Kurort war. Die Schwefelstadt war ein teures Pflaster, mit zahlreichen Vierteln und Straßenzügen voller Villen und sonstigen Prachtbauten. Während des jüdischen Laubhüttenfests waren die auf den Terrassen und Balkonen aufgebauten Laubhütten deutlich zu sehen – allen voran bei Villen mit ihren prächtigen Straßenfronten.20 Auch wenn es nur die Minderheit war, dadurch war sie sichtbar. Die Kurstadt lockte 15 16 17 18 19 20
StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Verfolgung. Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe I StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Wiedhalm Franz (geb. 1879). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Sacher Caroline. StA B, GB 052/Personalakten: Sacher Carl (geb. 1876). Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 38.
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vermögende Juden an, genauso wie reiche Katholiken und Protestanten, Agnostiker oder Atheisten. Diese Tatsachen wurden Opfer der selektiven Wahrnehmung und des jahrtausendalten und immer am Köcheln gehaltenen und gelebten Antisemitismus. Für NS-Ideologie ein wunderbarer Nährboden. Und weil der Jude so reich und mächtig war, musste alles dafür getan werden, um diese „Tatsache“ aus der NS-Welt zu schaffen. Um das zu erreichen, wurde es nach den Anschlusstagen „juristischer“ – das „Gesetz der Straße“ wurde zurückgedrängt. Ab dem 26. April 1938 mussten Juden, deren Vermögen 5000 RM überschritt, die Behörden davon in Kenntnis setzen. Es kam zur Vermögensanmeldung. Die Zahl der Vermögensanmeldungen war nicht deckungsgleich mit der Zahl der in Baden lebenden Juden. Nicht alle hatten ihr Vermögen angemeldet. Die Gründe waren unterschiedlich. Die bereits vollzogene Flucht könnte eine Möglichkeit gewesen sein. In anderen Fällen meldete ein großer Teil der Menschen ihre Vermögenswerte an, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre.21 Für Baden liegen im Niederösterreichischen Landesarchiv 365 Vermögensanmeldungen vor.22 Vergleichen wir diese mit der Zahl der in Baden lebenden Juden – Volkszählung 1934: 1108 Juden – und berechnen wir die Tatsache mit ein, dass ein großer Teil voreilig und nicht notwendigerweise sein Vermögen angemeldet hatte, so ist das Bild der wohlhabenden Badener Juden ein ebenso antisemitisches Vorurteil bar jeglicher Grundlage. Und dann gab es noch den Juden als Strippenzieher im Hintergrund. Welche Macht selbst einflussreiche Juden tatsächlich nach dem Anschluss besaßen, verdeutlicht der Fall Mercedes in Baden. Leopoldine Jellinek-Mercedes beschrieb nach 1945, wie das Eintreiben der Judenvermögenssteuer vor sich ging. Im Februar 1939 stand ein Vollstreckungsbeamter des Finanzamtes in ihrer Wohnung und verlangte 32.000 RM Judenvermögensabgabe. Als sie versicherte, dass sie solche Barsummen nicht im Haus habe, wurde die Wohnung trotzdem durchsucht. Jeder Raum, in dem es etwas zu pfänden gab, wurde versiegelt. Die Vorgehensweise bzw. die NS-Politik allgemein war vor allem für ihren Ehemann Raoul Fernand Jellinek-Mercedes dermaßen verstörend (er war getaufter Jude), dass er sich danach am 2. Februar 1939 das Leben nahm. Sie selbst musste zahlreiche Dinge verkaufen, um die verlangte Summe aufzubringen.23 Er war nicht der Einzige, der in den Selbstmord getrieben wurde. Josef Barkić, Hausbesitzer Palffygasse 25, vergiftete sich am 17. März 1938.24 Rechtsanwalt Dr. Oskar Bloch und seine Ehefrau Erna Bloch nahmen sich mittels Leuchtgas das Leben. Alfred Ehrmann 21 Vgl. BAILER-GALANDA Brigitte, JABLONER Clemens, et. al., Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellung und Entschädigung seit 1945 in Österreich (Wien/München, 2003), S. 85–89. 22 Vgl. http://www.jewishhistorybaden.com/time (10.04.2023). 23 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Jellinek-Mercedes Leopoldine (geb. 1885), Raoul Fernand Jellinek-Mercedes (1883–1939) und www.jewishhistorybaden.com/ people (10.04.2023). 24 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Verfolgung – Josef Barkić (1875– 1938).
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von Falkenau beging am 1. Oktober 1938 im oberen Kurpark Suizid (ein Gedenkstein erinnert heute an ihn). Er war zehn Jahre lang von 1928 bis 1938 für die Badener Zeitung tätig gewesen. Im Frührapport vom 2. Oktober 1938 lesen wir, dass er erst eine Stunde später im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlegen ist und: Motiv der Tat angeblich Krankheit.25 Ebenso mit Baden verbunden war der in der Kurstadt geborene Gottfried Kunwald. Als Jurist und Finanzexperte gehörte er zu den engsten Beratern des christlichsozialen Bundeskanzlers und Prälaten Ignaz Seipel, dem „Eisernen Prälaten“ – und das als Jude. Am 14. März 1938 beging er in seiner Wohnung in Wien Selbstmord.26 Wenn man das Klischee hernimmt, dass Juden die Welt regierten, dass sie als graue Eminenzen im Hintergrund auftraten, so sehen wir nun ein paar einflussreiche und vermögende Männer jener Tage in Baden, deren angebliche Macht letztendlich nur dahingehend reichte, dass sie selbst darüber entschieden, ihrem Leben ein Ende zu machen, anstatt es den NS-Schergen zu überlassen. * Die oben dargebrachten Fakten und Zahlen haben in der Menschheitsgeschichte oftmals eine Gemeinsamkeit – ihre Machtlosigkeit gegenüber Emotionen. Der Hass richtete sich gegen alle Juden, egal welchen Alters. Die Diskriminierung durch Segregation von Kindern und Jugendlichen war besonders in den Schulklassen augenscheinlich. Das angebrochene Schuljahr konnte mehr schlecht als recht zu Ende gebracht werden. Ab dem Schuljahr 1938/39 war der öffentliche Schulbesuch bereits untersagt worden. Eingesprungen war behelfsmäßig die Israelische Kultusgemeinde. Ab dem 30. Juni 1942 wurde der private Unterricht Juden verboten. Für Kinder und Jugendliche, die als „Mischlinge“ galten, gab es noch Sonderregelungen.27 In Baden erhielten die noch verbliebenen jüdischen Schüler im Juni 1938 ordnungsgemäß ihre Zeugnisse. Für Eva Kollisch war es eine Zeit der Demütigungen und Erniedrigungen, die es zwar immer schon gegeben hatte, aber die nun enorm zunahmen. Spießrutenläufe nach der Schule waren keine Seltenheit. Die Lehrer im Gymnasium Frauengasse konnte man in vier Kategorien einteilen: nett, sadistisch, antisemitisch und sadistisch, antisemitisch und nicht sadistisch.28 Zwei oder drei Monate nach dem Anschluss besuchte sie noch den Unterricht. Just in dieser Zeit gewann sie einen Wettbewerb der Uhrenfirma „Tissot“. Der Preis war eine Uhr. Die Preisübergabe vollzog eine sichtlich verlegene Lehrerin. Eva Kollischs Name wurde dabei nicht genannt. Es war ein prägendes Erlebnis, ein äußerst negatives, eines von sehr, sehr vielen. Kontakte zu anderen Mitschülerinnen wurden rar. Sie 25 StA B, GB 231/Frührapport 1932–1946; Fasz. I; Oktober 1938 – Alfred Ehrmann von Falkenau (1865–1938). 26 Vgl. www.jewishhistorybaden.com (10.04.2023). 27 Vgl. BAILER-GALANDA, JABLONER, Schlussbericht der Historikerkommission, S. 154. 28 KOLLISCH, Der Boden unter meinen Füßen, S. 15.
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mussten es werden. Jene Mitschülerinnen, die sich nicht daran hielten, bekamen dies früher oder später zu spüren. Dazu gehörten Klassenkameradinnen wie Grete Dietrich, Gaby Schüch und Betty Ecker. Die beiden Letztgenannten gehörten aristokratischen Familien an, mit einem „von“ im Namen, die, wie Kollisch es ausdrückte, immer nett zu ihr und ihrem Bruder waren, ansonsten eine höfliche Gleichgültigkeit an den Tag legten. Die beiden waren es aber auch, die mit ihr und einer weiteren jüdischen Klassenkameradin, Fritzi Reis, gemeinsam kurz vor dem Anschluss durch Baden stolzierten und mit „Heil Österreich“ grüßten, um jene, die mit „Heil Hitler“ grüßten, zu provozieren. Gaby Schüch war auch die Einzige, die sich auf dem Schulhof demonstrativ zu Eva Kollisch stellte. Der Preis dafür waren zahlreiche Schikanen für den Rest der Schulzeit. Hier tat sich allen voran der bereits erwähnte Direktor Sepp Ringler hervor.29 Von immenser Bedeutung für jüdische Schüler war in dieser Zeit eine loyale Klassengemeinschaft. Einer solchen durfte sich der 16-jährige Joseph Schabes erfreuen. Er war Sohn jüdisch orthodoxer Eltern (Besitzer des koscheren Fleischgeschäfts am Rainer-Ring 2). Joseph Schabes hatte in seiner Schulzeit einen jüdischen und einen nichtjüdischen Freundeskreis. Sein Spitzname war Schabesjud. Er war ein guter Schüler, seine Noten konnten sich sehen lassen, und er war ein beliebter Klassenkamerad, denn er gestattete es, seine Hausübungen abzuschreiben. Als die NS-Machtübernahme erfolgte, besuchte er die 6. Klasse des Gymnasiums Biondekgasse. Als er, nach der von Schmid verkündeten schulfreien Woche, wieder die Klasse betrat, versicherten ihm seine Mitschüler, dass er bei ihnen bleiben dürfe. In ihren Augen hatte er sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Und wenn in der Früh der Professor in die Klasse kam, alle daraufhin aufstehen mussten, um mit „Heil Hitler“ zu grüßen, müsste er es natürlich nicht tun. Glück hatte er auch am Nachhauseweg. Zwei Mitschüler gaben ihm zwei Monate lang Geleitschutz. Trotz dieser Loyalität war für ihn die Schulzeit in Baden nach den Sommerferien vorüber.30 Solcher Kameradschaft konnte sich Eva Kollisch nicht erfreuen. Sie wurde am Schulweg beschimpft, angespuckt und verprügelt. Aus dieser Zeit blieben ihr besonders die ganz irrationalen Vorwürfe in Erinnerung, die allerdings bereits lange vor dem Anschluss ebenso an der Tagesordnung waren. Als 13-Jährige musste sie stellvertretend für die Kreuzigung eines jüdischen Wanderpredigers vor zweitausend Jahren büßen, weil jener durch IHR Volk zum Tode verurteilt worden sei. Gleiches bei Karl Pfeifer. Regelmäßig nach dem Religionsunterricht wurde er als Gottesmörder verunglimpft. Nach dem Anschluss wurde es viel schlimmer. Nicht einmal die eigenen vier Wände boten mehr Sicherheit. Nächtliche Besuche der SA waren für Eva Kollisch eine Mischung aus Ratlosigkeit und hilflosem Zorn. Die SA durfte nach Lust und Laune in die Privatsphäre eindringen. Eva Kollisch wurde Zeugin, wie die Mutter abgeholt wurde, um den Boden der Synagoge zu schrubben. Zuvor hatte sich die Mutter eine Rot-Kreuz-Nadel angesteckt, da sie freiwillige Krankenschwester im 29 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 67 und KOLLISCH, Der Boden unter meinen Füßen, S. 155 u. 159. 30 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (12.10.2019).
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Ersten Weltkrieg gewesen war. Als sie wieder zurückkam, erzählte sie der Tochter, dass sie allen gezeigt hatte, dass sie sich nicht scheute, sich die Hände schmutzig zu machen. Denn es galt als amüsant, die wohlhabenden Damen, von denen die meisten arische Dienstmädchen gehabt hatten, auf Händen und Knien zu sehen.31 Als sie, ihre Eltern und die restlichen Geschwister einmal auf das SA-Hauptquartier mitkommen mussten, trafen sie bereits auf andere verschreckte und verstörte jüdische Familien. Die Kollischs hatten diesmal noch Glück. Der Vater machte deutlich, dass er Offizier im Ersten Weltkrieg gewesen war. Das machte Eindruck – noch. Dadurch erfuhren sie eine „korrekte“ Behandlung und durften vor allen anderen wieder gehen. Mein Bruder und ich waren erleichtert und beschämt.32 Im Juli 1939 gelang Eva Kollisch in einem Kindertransport die Flucht nach Großbritannien. Heute lebt sie in den USA.33 Keine Zukunft in der Ostmark sah ebenso die Maturantin Lotte Nathan. Ihr Vater durfte nicht mehr als Arzt praktizieren. Sie konnte ihre Matura noch abschließen. Es begannen hastige Vorbereitungen für die Flucht, der Kampf um ein Visum und die Suche nach einem Land, das sie und ihre Familie aufnehmen würde. Das Unterfangen wurde ein wenig durch ihren Bruder erleichtert, der 1936 nach Südafrika ausgewandert war. Dort fanden sie und der Rest ihrer Familie Zuflucht.34 Über die Behandlung jüdischer Mitschüler gibt auch Hans Meissner Auskunft. In seiner Klasse gab es zwei, Albert Deutsch und Kurt Hacker. Zur Belustigung aller wurden sie in der ersten Reihe platziert und ihre Sitzbank mit der Aufschrift „Ghetto“ versehen. Die Lehrer kamen und gingen, keiner griff ein. Nur der Geschichteprofessor Josef Kraupp war Manns genug diese Schikane abzustellen.35 Hacker gelang 1938 die Flucht nach Palästina. Seine Eltern probierten es ein Jahr später. Da war es bereits zu spät. Im Jahr 1988 besuchte Kurt Hacker mit seiner Ehefrau seine ehemalige Heimatstadt. Drei aus seiner Klasse, darunter Hans Meissner, hatten sich mit ihm getroffen. Er nannte damals die Namen jener, die er absolut nicht sehen wollte. Die Allermeisten waren ohnehin gefallen.36 An zwei jüdische Mitschüler konnte sich auch Alois Brusatti erinnern. Walter Deutsch und Jehosua Blau. Beiden gelang die Flucht.37 An eine jüdische Schulkollegin, Rita Blau, erinnerte sich Gertrud Maurer. Diese war dann irgendwann weg gewesen. Genauso wie ihr Kinderarzt, Dr. Fritz Wengraf. Genaueres wusste sie damals nicht.38 31 KOLLISCH, Der Boden unter meinen Füßen, S. 21. 32 Ebd. S. 23. 33 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 67 und PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 15. 34 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023). 35 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 36 und StA B, Oral History 1933–1955, Hans Meissner MaturaRAD-Studium, S. 2. 36 Vgl. StA B, Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 3. 37 Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 11 – Walter (geb. 1919), Jehosua Blau (geb. 1919). 38 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 9.
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* Die Badener Nationalsozialisten machten weder vor Kindern/Jugendlichen noch vor älteren Menschen halt. Der Fall Peters schildert eindrücklich das Unbarmherzige der Täter und die Hilflosigkeit der Opfer. Die Familie bestand nur mehr aus zwei älteren Damen, die in der Kornhäuselgasse 13 (früher Epsteingasse) wohnten. Eine von ihnen hieß Emma Petters, geboren in dem Jahr 1859. Am helllichten Tag wurden die beiden Frauen von der SA aufgesucht und beraubt: Möbel, Bilder und Bargeld. Am selben Tag mitten in der Nacht, kamen die Täter noch einmal, um ihr Werk zu vollenden. Sie hatten zuvor den Schmuck vergessen. Dabei schreckten sie nicht davor zurück, die alten Frauen zu attackieren. Die Opfer wandten sich hilfesuchend an ihre Nachbarin Margarethe Stimmer und beklagten ihr Leid. Einer der Rädelsführer war der Hausmeistersohn von nebenan, Karl Grumböck. Eine der Frauen fragte voller Verzweiflung, was sie bloß tun könnten? Margarethe Stimmer konnte ihr nur den Ratschlag erteilen, nach Wien zu gehen. Dem Ratschlag folgte eine Bitte: Ich bat sie auch, nicht zu oft zu mir zu kommen, da ich sonst auch Schwierigkeiten haben könnte.39 Ihre Angst war berechtigt. Margarethe Stimmers Ehemann Karl Stimmer war Jude. Und ihre Angst wurde Wirklichkeit. Am 22. Februar 1943 wurde er in das SA-Heim in der Weilburgstraße verschleppt, misshandelt und unter Schutzhaft gestellt. Später wurde er nach Auschwitz deportiert und am 24. Juni 1943 ermordet.40 Eine andere Nachbarin, Elisabeth Sewera, erzählte nach 1945, dass die beiden PetersDamen gar nicht so richtig verstanden hätten, was damals gerade passierte und weshalb ihnen das alles überhaupt widerfuhr. Warum der Hass? Sie fragten mich damals noch, was sie dem Hausmeistersohn denn gemacht hätten, dass er gar so sehr auf sie losging.41 Karl Grumböck gehörte anfänglich dem sozialistischen/kommunistischen Lager an. Als er 1932 arbeitslos wurde, entdeckte er im Nationalsozialismus seine neue politische Heimat. Er wurde als einer von jenen beschrieben, die lange Zeit nichts besessen und ein entbehrungsreiches Dasein gefristet und sich mehr schlecht als recht über Wasser gehalten hatte – und dann kam Hitler. Und mit ihm ein Motorrad, eine SA-Uniform und das Parteiabzeichen samt Parteimitgliedschaft – wobei bei Letzterem die Meinungen auseinandergingen. Sicher war nur, dass Karl Grumböck nach 1945 sicher war, sicher kein Parteimitglied gewesen zu sein. Er und weitere Männer, die wir bereits im ersten Kapitel kennengelernt haben, waren an der Aktion gegen die Peters Frauen beteiligt. Nach 1945 konnte sich keiner mehr an Details erinnern bzw. ganze Handlungsstränge scheinen nach sieben Jahre vollkommen durcheinander gewirbelt worden zu sein. Karl Grumböck sagte aus: Ich
39 StA B, GB 052/Personalakten: Grumböck Karl (geb. 1898) – Margarethe Stimmer (geb. 1906) Aussage (28.02.1946). 40 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023) 41 StA B, GB 052/Personalakten: Grumböck Karl - Elisabeth Sewera (geb. 1896) Aussage (11.02.1946).
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bin zu dieser ganzen [Aktion] zufällig dazugekommen.42 SA-Truppführer Ludwig Karras war damals ebenso rein zufällig am Nachhauseweg. Dabei erblickte mich der frühere Ortsgruppenleiter von Baden Max Rothaler und forderte mich auf, ihm beim Herausschaffen einer großen Kredenz behilflich zu sein. Hilfsbereit wie er war, packte der Alte Kämpfer, Illegale und Terrorist der 30er Jahre mit an. Gleiches übrigens bei Grumböck. Zur Sache Familie Peters gebe ich zu, bei der Wegschaffung von Möbeln aus deren Wohnung mitgeholfen zu haben, jedoch erst auf Aufforderung hin von Max Rothaler. Und bezüglich der nächtlichen Plünderung kann ich nur sagen, dass ich am nächsten Tag gehört habe, von wem kann ich mich nicht mehr erinnern, dass vergangene Nacht bei der Familie Peteres eine Plünderung stattgefunden haben soll, bei welcher der gesamte Schmuck gestohlen worden sein soll. Ich bestreite jedoch jede Mittäterschaft. Und weil es eh schon so abstrus war, wegen der SA-Uniform, gab er zu, eine getragen zu haben, glaublich einige Male im Jahre 1938, welche jedoch nicht mein Eigentum war, da ich mir dieselbe von der SA ausgeborgt hatte.43 Nach 1945 haben wir die totale Lüge, davor gab es den totalen Krieg und zuvor bzw. zur selben Zeit die totale Willkür. Bleiben wir bei dieser bzw. sie war ohnehin schon die ganze Zeit unser Begleiter. Als im September 1938 an die 600 Flüchtlinge – so die Bezeichnung im Bericht – aus dem Sudetenland in Baden eintrafen, beabsichtigte die NS-Volkswohlfahrt (NSV) sie mit allerlei Willkommensgeschenken willkommen zu heißen. Einziger Haken, man hatte keine entsprechenden Willkommensgeschenke parat. So kontaktierten die Amtswalter der NSV Hermann Janisch und Ludwig Belfanti die hiesige SA, die die benötigten Sachgüter bei den Badener Juden „sicherstellen“ sollte. Um die Aktion nicht nur mit der Sorge um das Flüchtlingswohl zu legitimieren, wurde hinzugefügt, dass die Juden sich in letzter Zeit ohnehin provozierend verhalten hätten.44 Die SA tat, was sie in solchen Fällen immer getan hatte, sie ging auf Raubzug. Erklärt oder gar diskutiert wurde mit den Opfern selbstverständlich nicht. Gebrüll, das Drohen mit dem KZ, daraufhin gaben die Leute „freiwillig“ etwas her. Mittels der berüchtigten Dachauerart lief alles wie geschmiert. Siegfried Teltscher gab Ende September 1938 zu Protokoll, wie so ein Besuch eines ihm unbekannten SA-Mannes vonstattenging. Ohne viel zu erklären, verlangte dieser nach dem Radio und der Wäsche (von Hemden bis Unterhosen). Einige Zeit später erschien ihm ein ebenso unbekannter SA Mann in seinem Geschäft und sagte: Sie werden S 500 Volksspende bezahlen; als ich ihm erklärte, einen so hohen Betrag nicht leisten zu können, begnügte sich derselbe mit Lederwaren: 2 Paar Gummiabsätze, verschiedenes Sohlenleder, 6 Dosen Schuhpaste und Einlagesohlen. Auf der ausgestellten Quittung – Ordnung muss sein – stand geschrieben: Das SA-Kommando bestätigt den Empfang von S------ als freiw. Spende für die SA.45 Nicht minder dreist agierten mehrere SA Mitglieder, die mit geraubten Autos Unfälle 42 Ebd. – Karl Grumböck Aussage (13.03.1946). 43 Ebd. – Karras Ludwig (geb. 1896) Aussage (04.03.1946). 44 Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. III; SA; SA-Prozesse – Hermann Janisch (geb. 1906) und Ludwig Belfanti (geb. 1907). 45 StA B, GB 052 Personalakten – im Akt von Sammerhofer Karl.
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verursacht hatten, jedoch für die Schäden nicht aufzukommen gedachten. Da es nicht ihre Autos waren, sondern weiterhin auf die jüdischen Besitzer gemeldete Fahrzeuge, stand es für sie außer Frage, dass auch jene dafür haften mussten. Schließlich hätten jene die Prämien bezahlt. Die Versicherung stimmte dieser Argumentation nicht zu. Für sie stand fest, die Unfallverursacher hatten das Fahrzeug gegen den Willen der Besitzer gelenkt. Für solch eine versicherungsrechtliche Sichtweise hatte der SA-Rechtsreferent im Juli 1938 kein Verständnis. Die SA-Männer hatten für die NS-Bewegung Schikanen, Gewalt und die Inhaftierung in Wöllersdorf über sich ergehen lassen. Und jetzt das! Meines Erachtens ist dieser Standpunkt der Versicherungsgesellschaft unhaltbar, weil die Benützung gewiss nicht widerrechtlich, sondern im Sinne des Aufbaues des Nationalsozialistischen Staates im Lande Österreich gelegen war.46 Und hatten die Räuber und Diebe tatsächlich mal über die NS-Stränge geschlagen und mussten den Opfern wenig später einzelne Besitzgüter zurückerstattet werden, bedankten sich einige der Betroffenen bei ihren Peinigern noch in Form von unterwürfigen Schreiben, um eventuell weitere Schikanen abzuwenden. Mit Sr. Hochwohlgeboren und Sehr geehrter Herr Stadthauptmann machte der jüdische Rechtsanwalt Dr. Bernhard Seiler dem Polizeichef Karl Sammerhofer seine Aufwartung. Da ich Sie heute wiederholt telefonisch vergebens zu erreichen versuchte, Sie aber persönlich nicht besuchten kann, weil ich bettlägerig bin, er laube ich mir auf diesem Wege zu berichten, dass ich heute mein Radio wieder erhalten habe. Ich drücke Ihnen und der Ihnen unterstehenden Behörde meinen ergebensten Dank aus. Ich habe bei diesem Anlass eine entsprechende Spende für öffentliche Zwecke gemacht. Es zeichnet mit Ausdrucke vorzüglicher Hochachtung, ergebenst [Unterschrift Dr. Seiler].47 In seinem Briefkopf war die Zeile „beeid. Gerichtsdolmetscher der engl. u. franz. Sprache“ nachträglich durchgestrichen und vor dem „Rechtsanwalt“, ein „em“, für ehemaliger, hinzugefügt worden. Dr. Bernhard Seiler wurde 1942 deportiert und im Holocaust ermordet.
Kurörtliche Spezifika Die Verfolgung und Vernichtung jüdischer Mitmenschen verlief nach dem gleichen Schema wie kurz am Anfang des Kapitels erörtert. Wenn wir einen Blick auf Baden werfen, so haben wir eine Handvoll „Besonderheiten“, die andere Ortschaften nicht hatten bzw. nur die wenigsten. Es geht um die von den örtlichen NS-Stellen vorgebrachten Gründe, weshalb Baden besonders gegen Juden vorgehen müsste bzw. sind es örtliche Gegebenheiten, die solche Handlungsweisen begünstigten. Neben der Tatsache, dass Baden die drittgrößte jüdische Gemeinde aufwies, kam der kurörtliche Aspekt hinzu, gefolgt vom militärischen (Martinek-Kaserne) und einem lokalpolitischen, auf den ich am Schluss noch kurz eingehen werde. 46 StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. I SA; Prozesse. 47 StA B, GB 052 Personalakten: Sammerhofer Karl – Brief (06.10.1938).
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Da der Hausbesitz in Baden aus Sicht der Nationalsozialisten „verjudet“ war, die Kurstadt insgesamt „verjudet“ war, war es nur konsequent, auch das Kurwesen als Ganzes als „verjudet“ zu bezeichnen. Sämtliche Kuranstalten sollen sich in jüdischer Hand befunden haben.48 Zahlen hierfür gab es natürlich keine. Was vorliegt, ist eine Einschätzung Ernst Röschls in Bezug auf Gastronomie und Hotellerie. Laut ihm waren 25 Prozent der Kaffee-, Gasthäuser und Hotels in der Hand einer Personengruppe, die laut den Nürnberger Rassegesetze Juden waren.49 Um diesen Zustand im NS-Sinne zu ändern, sofern die Schätzung Röschls zuträfe (und wenn nicht, wäre es ohnehin gleichgültig), begannen die örtlichen NS-Stellen, gegen jüdische Gastronomen, Hoteliers und vor allem gegen jüdische Gäste vorzugehen. Zuerst ging man gegen die jüdischen Wochenendgäste vor. Anfang August 1938 mokierte sich die Badener Zeitung, weil am letzten Sonntag konnte man geradezu von einer Judeninvasion sprechen. Mit Esspaketen ausgestattet, würden sie im Helenental oder in den Parkanlagen herumlungern und der Stadt nichts einbringen. Die Schwechat war von jüdischen Freibadenden überfüllt und auf allen Waldwiesen lagerten Menschenmassen, die man mit bestem Willen nicht als deutsche Volksgenossen ansprechen konnte. Das musste abgestellt werden, denn, so die weitere Begründung, die wahren Leidtragenden wären eigentlich die jüdischen Kurgäste. Denn die Kontrollen, so die zynische Rechtfertigung, wer nun jüdischer Kurgast und wer nur jüdischer Wochenendgast wäre, würde bei den jüdischen Kurgästen für Unruhe sorgen. Ein weiterer Grund: Denn es wäre unserem Bürgermeister wirklich nicht angenehm, sich zu einer andauernden Kontrolle der in Betracht kommenden Personen entschließen zu müssen.50 Was würde das für ein Bild ergeben? Es würde provinziell wirken, dabei war Baden, wie hervorgehoben wurde, ein internationaler Kurort. Die Internationalität währte nicht lange. Noch im selben Monat verschärfte man die Gesetzgebung. Da der Fokus dem Deutschtum galt, mussten sämtliche Hinzufügungen wie „International“ aus den Hotelnamen verschwinden. Dafür schossen Schilder mit Aufschriften wie „Für Juden verboten“ und „Juden unerwünscht“ aus dem Boden. Die lokalen Machthaber waren bestrebt, mit allen gebotenen Mitteln den Landkreis Baden so schnell wie möglich „judenfrei“ zu machen. Dazu gehörte eine Rassentrennung, deren Grundlagen von der Gauleitung im August 1938 an die Kreise entsandt wurde. Jüdische und arische Kurgäste durften nicht mehr in den gleichen Hotels/Sanatorien untergebracht werden. Ausnahmen bildeten vorerst fünf Hotels im Kreis Baden – alle mit mehr als 150 Betten. Dazu gehörten das Sanatorium Gutenbrunn, Sanatorium und Kurhotel Esplanade, Kurhaus und Hotel Sacher, Grand Hotel Grüner Baum (alle vier befanden sich in Baden) und das Hotel Bellevue in Bad Vöslau. Diese Hotels durften gemischt geführt werden, wobei nur 15 Prozent der Gäste Juden sein durften. Das Hotel Grüner Baum gab wenig später eine Erklärung ab, dass es ab dem 1. September 1938 ebenso nur mehr Ariern zugänglich 48 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 29. 49 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 43. 50 BZ Nr. 63 v. 06.08.1938, S. 2.
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sein werde.51 Kureinrichtungen wie Bäder, die Juden 1938 noch besuchen durften, waren das Franzensbad und die Mineral-Schwimmschule.52 Einzig Hotels, die von Juden betrieben wurden, durften vorerst Juden und nur Juden beherbergen. Werbung schalten durften sie nicht.53 Zu diesen gehörte das Hotel und Restaurant Schey in der Annagasse 23. Es hatte acht Zimmer mit dreizehn Betten. Der Betrieb galt als streng orthodox und war Austragungsstätte zahlreicher jüdischer Feierlichkeiten gewesen. Den Besitzern und Betreibern, Frida und David Schey, gelang die Flucht nach Shanghai, später ließen sie sich in Melbourne nieder. Weniger Glück hatte Hermine Eichner aus Baden, die in der Rollettgasse 7 eine Pension mit fünf Zimmern führte. Bis zur Sommersaison 1938 durfte sie den Betrieb aufrechterhalten, danach musste sie schließen. Sie selbst wurde im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert, zwei Monate später nach Treblinka und dort ermordet.54 Die örtlichen Stellen versuchten alles Mögliche, um jüdische Kurgäste zu vertreiben und ihren Aufenthalt so unerträglich, wie es nur möglich war, zu gestalten. Der jüdische Kurgast galt nicht als jemand, der die Wirtschaft ankurbelte, sondern als jemand, der nur billig einkaufen und wohnen wollte. Es war Usus, Juden als parasitäre Existenzen zu verunglimpfen, man sprach und schrieb von jüdischer Invasion und von jüdischen Horden, die über die Kurstadt herfielen. Wie es sich gehörte, wurden Zahlen maßlos übertrieben. Wer dennoch auf Kur kam, musste sich registrieren bzw. eine Genehmigung der Stadt einholen. Es dauerte nicht lange, da verkündete der Geschäftsführer des Landesfremdenverkehrsverbandes Niederdonau, Rudolf Hicke, dass auf jüdische Kurgäste und sonstige jüdische Besucher vollkommen verzichtet werden könne. Dem schlossen sich Kreisleiter Ponstingl und auch Bürgermeister Schmid an – keine jüdischen Gäste und kein jüdisches Personal.55 Das Verbot richtete sich genauso gegen jüdische Begleitpersonen. Das brachte Anna Seiler-Tomann in die Bredouille. Ihre ermäßigten Einzelbäderkarten wurden ihr plötzlich verwehrt, weil sie mit dem Juden Bernhard Seiler ein Bad besucht hatte. Hinzu kam, dass sie seine Adoptivtochter war und er obendrein sein Zinshaus Rainer Ring 18 auf sie übertragen ließ. Die Betroffene verwies auf ihre Herzbeschwerden und Ohnmachtsanfälle und die somit benötigte Begleitperson. Normalerweise wäre ihre Hausbesorgerin mitgegangen, doch an dem einem Tag war jene verhindert. Ausnahmsweise sprang Bernhard Seiler ein. Um die betreffenden Stellen gnädig zu stimmen, führte sie das Martyrium ihres Bruders an, der als illegaler SA-Mann durch die Austrofaschisten misshandelt worden wäre, erwähnte zusätzlich noch zwei illegale Neffen und schlug sogar vor, die Differenz der ermäßigten Badekarte zum Vollpreis dem NSV zu spenden.56 51 52 53 54 55 56
Vgl. BZ Nr. 69 v. 27.08.1938, S. 3 Vgl. BZ Nr. 66/67 v. 20.08.1938, S. 2 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe III. Vgl. http://www.jewishhistorybaden.com/city (10.04.2023). Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 29. Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge, f. 26 – Anna Seiler-Tomann (geb. 1882).
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Von der Gnadenlosigkeit der örtlichen Kurverwaltung musste sich auch der zu 75 Prozent geschädigte kriegsinvalide Oberleutnant des Ersten Weltkrieges Josef Kinsbrunner überzeugen. Am 23. September 1938 schrieb der „Hilfsverband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen“ in seinem Namen an die Kurstadt, ob ein Kuraufenthalt für ihn möglich wäre. Der Hilfsverband hoffte, dass jemand, der für sein Vaterland zum Krüppel geschossen worden war, eine Kur zugesprochen bekäme. Der Kreisgeschäftsführer Sepp Stiasny machte es kurz und bündig, wir teilen Ihnen mit, dass wir unter keinen Umständen einem Juden den Zuzug nach Baden gestatten können.57 Nicht nur die Zahl der inländischen Juden musste eruiert und folglich gesenkt werden, ebenso jene der ausländischen Juden. Am 5. September 1938 verlangte die Reichsstatthalterei (Landesregierung), dass sowjetische Juden das Reichsgebiet zu verlassen hätten. Hierfür wollte man in Erfahrung bringen, ob und wieviele der sowjetischen Staatsbürger Juden oder Arier waren. Kenner der Rassenlehre waren wahrscheinlich etwas irritiert, als sie von russischen Ariern lasen. Doch der neue Staat war ein Führerstaat, da hieß es zu folgen und nicht zu hinterfragen. Jedenfalls zählte Baden 15 sowjetische Staatsbürger, drei davon waren mosaischen Glaubens. In Bad Vöslau ergab die Zählung sieben ehemals sowjetische Staatsbürger, nun jedoch staatenlos und zum Teil griechisch Katholisch. Und man stellte fest, dass es sich bei den angeführten Personen durchgehend um Arier handelte.58 Aus der behördlichen Korrespondenz geht eindeutig hervor, dass die bloße Anwesenheit von Juden mit äußerstem Widerwillen hingenommen wurde. Noch schlimmer schien nur, wenn Zuzug von außen drohte, egal mit welchem Hintergedanken. Als im Oktober 1938 die Errichtung von sogenannten Umschulungslagern für Juden in Unterwaltersdorf Thema war – jüdische Jugendliche sollten in Feld- und Hilfsarbeiter umgeschult werden, also nichts anderes als zu Zwangsarbeitern – sträubte sich nicht nur der Ortsgruppenleiter von Unterwaltersdorf Gustav Garscha, sondern genauso Kreisleiter Ponstingl, und führte aus, dass zumal im Kreise Baden die Juden seit dem Kriege und besonders in der Systemzeit durch ihre schamlose Vorgehensweise den Ariern gegenüber sich derart verhasst gemacht haben, dass solche Schulungslager auf keinerlei Verständnis der Bevölkerung stoßen, im Gegenteil argen Anstoß erregen würden.59 Dass Ponstingl für seinen eigenen Judenhass die gesamte Bevölkerung des Bezirks einspannte, sagt eigentlich mehr über ihn aus als über die Bewohner seines Kreises. Neben dem Kuraspekt als Legitimierung, so rasch wie möglich „judenfrei“ zu werden, kam in Baden mit dem Bau der Martinek-Kaserne ein sicherheitspolitischer Aspekt hinzu. Gleiches finden wir in Bad Vöslau und dem Fliegerhorst. Da Juden grundsätzlich der Spionage bezichtigt wurden – ob es nun für Bolschewisten oder Kapitalisten war, war austauschbar – hatten die lokalen NS-Machthaber einen weiteren Hebel in der Hand, um Juden loszuwerden. Nach Osten konnte man die Menschen jedoch nicht vertreiben. Ebenfalls aus militärstrategischen Gründen mussten Juden 50 Kilometer entfernt von der Reichsgrenze 57 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe III. 58 Vgl. ebd. 59 StA B, GB 052/Ortsgruppen Kreis Baden; Unterwaltersdorf.
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wohnen.60 Die Angst vor bzw. die plumpe Unterstellung eines jüdischen Spionagenetzwerkes machte es zudem noch dringlicher, Radioapparate (die damals einen Monatslohn kosteten) zu beschlagnahmen. Denn Juden, wie es hieß, würden Feindsender hören, um danach die feindliche Propaganda zu verbreiten. Mit demselben Argument wurden sämtliche Schreibmaschinen weggenommen, damit keine feindlichen Schriften hergestellt und verbreitet werden könnten.61 Als letztes sei noch auf einen politischen Umstand hingewiesen, der für die Badener Juden zusätzlich von Nachteil war: Das gute Einvernehmen mit der christlichsozialen Stadtverwaltung unter Josef Kollmann. Sein photographisch festgehaltener Besuch am jüdischen Friedhof, um den gefallenen jüdischen Soldaten seine Ehre zu erweisen, seine „Gegengeschäfte“ mit der jüdischen Kultusgemeinde (Wohlwollen gegen Stimmen) oder seine Aussagen im Gemeinderat, wonach jeder in Baden Gast sei, egal welcher Religion oder Rasse er angehöre, und seine mediale Kundmachung, sich von niemandem verbieten zu lassen, mit Juden zu verkehren, wurde nun zum Nachteil aller Betroffenen ausgelegt. Kollmann als Judenfreund und die Juden als Steigbügelhalter Kollmanns und dessen Politik sowie des gesamten Ständestaates – was wollte man aus NS-Sicht mehr. Dass Kollmann, bevor er Bürgermeister wurde, ein Antisemit alter Lueger-Schule gewesen war, der selbst von einer Verjudung der Presse, der Kunst, ja gar Österreichs als Ganzes fantasiert hatte, war 1938 längst vergessen bzw. passte nicht ins braune Kollmann-Bild.62 Letztendlich war es egal, wie man den Judenhass aus lokaler Perspektive legitimierte oder verstärkte. Die Vertreibung, Schikane und Vernichtung passierten sowieso. Sie waren von oben angeordnet und mussten durchgeführt werden. Allerdings wurden die Gesetze oder Befehle recht vage gehalten, um Spielräume zu belassen. Es war keine Handlungsfreiheit, das bestimmt nicht, aber: Ältere Vorstellungen, dass die meisten an Massengewalt beteiligten Deutschen bloß Befehle befolgten – Vorstellungen, die entweder auf Annahmen über einen angeblich autoritär geprägten deutschen Volkscharakter oder die angebliche Furcht vor der Befehlsverweigerung beruhten – sind heute überholt.63
Reaktion Was konnten betroffene Menschen dagegen tun, gegen die Gewalt und die schikanöse Gesetzgebung? Eine Möglichkeit, nicht unter die Räder zu kommen, war, sein Judentum geheim zu halten. Entweder wurde es aus ersichtlichen Gründen verschwiegen, oder die Betroffenen hatten es schlicht nicht gewusst. Ende 1939 kam ans Licht, dass der Friseurgehilfe 60 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 104. 61 Vgl. BAILER-GALANDA, JABLONER, Schlussbericht der Historikerkommission, S. 178. 62 Vgl. PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 14 und ZGIERSKI, Jesus, Marx und Nibelungen, S. 28–34 und ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 91–94. 63 GERLACH, Der Mord an den Europäischen Juden, S. 138.
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Wilhelm Huppert nicht angegeben hatte, dass seine Eltern Juden waren. Seine Mitgliedschaft bei der Deutschen Arbeiterfront (DAF) war er los. Seinen Arbeitsplatz beim Friseur Kopp in der Dammgasse verlor er ebenso. Die NSDAP verständigte seinen Arbeitgeber, dass er keinen Juden beschäftigen dürfe. Das Rassepolitische Amt im Kreis wandte sich an das Polizeiamt in Baden und befahl den Betroffenen, im Meldeamt am Meldezettel die Religion auf mosaisch umzuändern, ihn bei jeder Aktion gegen Juden als volljüdisch zu behandeln […].64 Personen, denen das Geheimhalten ihrer jüdischen Identität/Herkunft nicht möglich, weil allgemein bekannt, war, erhofften fallweise durch Kooperation mit den NS-Stellen das Schlimmste zu verhindern. Davon machten auch Personen Gebrauch, die als jüdisch versippt galten oder in einer „Mischehe“ lebten. Im Mai 1938 suchte Augustine Rosner bei der Kreisleitung um einen Gewerbeschein für Handel mit Kurz- und Bijouteriewaren sowie Schirmen an. Das Geschäft befand sich seit den 30er Jahren prominent am Hauptplatz, später Adolf Hitler-Platz 7, gelegen. Gegründet worden war es durch ihren Vater vor etwa 50 Jahren. Nach dem Tod ihrer Eltern 1917 übernahm sie das Geschäft und führte es drei Jahre alleine. Nach der Hochzeit überschrieb sie den Gewerbeschein auf ihren Ehemann Arthur Rosner. Hier begann das Problem, denn der Mann war kein Arier. Nun beabsichtigte sie, den Gewerbeschein zurück auf sich übertragen zu lassen, aufgrund der geänderten politischen Verhältnisse, wie sie es ausdrückte. Sie hatte bereits eine von Franz Bilko ausgestellte Bestätigung des Rasseamtes, dass sie Arierin war. Und nicht untypisch in solchen Fällen bezeugte sie die deutsche Gesinnung ihres Mannes, verwies auf seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg und seinen aufopfernden Einsatz bei der Badener Feuerwehr und endete mit: Für Ihre wertvolle und liebenswürdige Bemühung danke ich im Voraus bestens und zeichne mit deutschen Gruß Heil Hitler! Die Kreisleitung antwortete zehn Tage später recht knapp: Ihrer Bitte um Befürwortung kann ich nicht so ohne weiteres entsprechen.65 Wir haben hier ein paar nicht untypische Denkmuster. Der Glaube an das Wohlwollen und die Rechtschaffenheit der NS-Obrigkeit, sofern man sich an geltende Gesetze hielt und den behördlichen Weg einschlug. Betroffene schrieben an die jeweiligen Ministerien und nahmen sich rechtlichen Beistand. Über seinen Rechtsanwalt Dr. Robert Meixner suchte Dr. Johann Schuloff wenigstens um die Gleichstellung mit jüdischen „Mischlingen“ an sowie eine gnadenweise Verleihung des Reichsbürgerrechts – beides wurde vom Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten im Mai 1939 abgeschmettert. Laut seinem Meldezettel und seiner Selbstwahrnehmung war er römisch-katholisch. Im selben Monat wurde ebenso das Gesuch von Hedwig Bondy, ihren Sohn rechtlich mit jüdischen „Mischlingen 1. Grades“ gleichzustellen, abgelehnt. Sie war Arierin, ihr Mann, Ernst Bondy, Jude.66 Vergleichbares wiederfuhr Franz Jakob Rosna im August 1939. Seine im Dezember 1938 eingebrachte Bitte um Befreiung von den für Juden geltenden gesetzlichen Vorschriften – er 64 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Hubert/Huppert Wilhelm (geb. 1885). 65 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Rosner Augustine (geb. 1893), Rosner Arthur (geb. 1883). 66 Vgl. NÖLA, BH Baden, II–IV 1939, BN 83 S und StA B, Meldezettel Bondy Hedwig (geb. 1900), Bondy Ernst (geb. 1891).
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war mit einer Arierin verheiratet – wurde ebenso vom Ministerium des Inneren negativ beantwortet.67 Neben den Glauben an den NS-Rechtsstaat gesellte sich die Zuversicht hinzu, dass, wenn man dem jüdischen Mandanten oder Ehepartner einen deutschen Leumund voll deutscher Strammheit und deutschem Fleiß ausstellte, die NS-Behörden womöglich gnädig gestimmt werden könnten. So versicherte Oskar Mathias Feigl, dass seine laut der Nürnberger Rassegesetze jüdische Ehefrau stets dem Deutschen Reich gediente hätte, zu Juden keinen Kontakt pflegte und schon längst getauft wäre.68 Solch eine Kooperationsbereitschaft war für Eva Kollisch nichts weiter als Zeichen der Unterwürfigkeit und Naivität. In ihrem Buch beschreibt sie, was ihr eigener Vater tat, als er gezwungen wurde, sein Vermögen anzumelden. Er erstellte lange Listen, sortierte Steuerunterlagen und schrieb eine ausführliche Entschuldigung an die Behörden, weil er einen kleinen Fehler bei der Steuerberechnung für das vergangene Jahr gemacht hatte.69 Anders ihre Mutter, sie ging in die große öffentliche Bibliothek in Wien, um im New Yorker Telefonbuch nach Namen zu suchen, die unserem Familiennamen gleich oder ähnlich waren.70 Das Ziel war klar, familiäre Rettungsanker in Übersee zu finden. Die Kreativität des Nationalsozialismus, um Juden zu diskriminieren, kannte keine Grenzen. Selbst jene, die zur Flucht bereit waren, wurden bis zum Schluss finanziell geschröpft. Mit der Reichsfluchtsteuer, die 25 Prozent des gemeldeten Vermögens ausmachte, konnte das NS-Regime den Opfern noch kurz vor dem Verlassen der Ostmark in die Geldbörsen greifen. Selbst bei Deportationen in Konzentrationslager wurde die Reichsfluchtsteuer eingehoben. Bei Nichtbezahlung wurden Ermittlungen aufgenommen und die Betroffenen steckbrieflich zur Fahndung ausgeschrieben. So passiert dem jüdischen Ehepaar Josef Friedrich und Alice Strauss aus Baden. Sie flüchtete mit ihren drei Kindern im März 1938 in die Niederlande. Die Reichsfluchtsteuer von 35.643 RM wurde nicht entrichtet.71 Die Flucht war eine weitere Möglichkeit der Reaktion. Auf der Homepage www.jewishhistorybaden.com finden Sie zahlreiche Fluchtgeschichten und die erlebten Odysseen der Badener Opfer. Hier seien nur ein paar erwähnt. Der Exodus setzte unmittelbar nach dem Anschluss ein. Jene, die böse Vorahnungen hatten, taten dies bereits davor. Nicht alle wollten es. Nicht allen gelang es. Familien wurden zerrissen bzw. versuchten, getrennt zu flüchten. Die Familie Milrom betrieb bis 1938 einen Gemischtwarenhandel in der Mozartstraße 10. Im Jahre 1939 verließ sie Baden. Während den Kindern Bernhard und Marcell Milrom die Flucht nach Palästina gelang, wurde die Mutter Regine Milrom 1941 nach Litzmannstadt deportiert und der Vater Szame Milrom in Jugoslawien ermordet. Getrennt wurde ebenso die Familie Fischer, die zuständig für die rituelle Aufsicht bei der Herstellung von Lebensmitteln für die Badener Kultusgemeinde war. Ein Teil wurde nach Litzmann67 68 69 70 71
Vgl. NÖLA, BH Baden, II–IV 1939, BN 83 S, Rosna Franz Jakob (geb. 1872). Vgl. BREZINA, ZGIERSKI, Bad Vöslau, S. 112. KOLLISCH, Der Boden unter meinen Füßen, S. 106. Ebd. S. 107. Vgl. www.jewishhistorybaden.com/time (10.04.2023).
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stadt deportiert, ein anderer Teil schaffte die Flucht nach Palästina. Hilfreich dabei war, dass ein Neffe, Alexander Fischer, und seine Frau Liselotte aktive Mitglieder des zionistischen Jugendvereines „Gordoniah“ waren und sich bereits in den 30er Jahren in Palästina niedergelassen hatten. Getrennt flüchtete auch die Familie Schmahl, die in der Beethovengasse 3 einen koscheren Gemischtwarenbetrieb geführt hatte. Die älteste Tochter, Gisa Schmahl, fand sich in Palästina wieder, während der Rest in Großbritannien Zuflucht fand. Dort fand sich auch der Rabbiner Dr. Hersch Zimmel, Religionslehrer für die Kultusgemeinde und das Knabengymnasium in der Biondekgasse. Die Fluchtdestinationen waren über den gesamten Globus verteilt. Der Vorstand der Kultusgemeinde, Alexander Braun, gelangte mit seiner Frau nach Palästina, während es seine Tochter und den Schwiegersohn nach Argentinien verschlug und seinen Bruder Leopold Braun nach Mexiko. In Australien fanden sich Max Deutsch mit seiner Frau Ilonka Eisler und ihren drei Kindern wieder. Shanghai wurde zum sicheren Hafen für Jenny Rausnitz. Und wieder ans andere Ende der Welt, in die USA, flüchteten Chaskel und Charlotte Ingwer und der Oberrabbiner Dr. Hartwig Carlebach. Die Flucht war nicht so geradlinig wie hier angerissen. Neben den zahlreichen Schikanen und Brutalitäten waren es teilweise richtige Odysseen. Der Badener Rabbiner Salomon Friedmann flüchtete zuerst in die Schweiz, bevor es nach Palästina weiterzog. Zuerst nach Frankreich flüchteten die Brüder Dr. Salomon Rosler (Religionslehrer am Gymnasium Biondekgasse) und Dr. Moses Rosler (Sekretär der Kultusgemeinde). Nach der Kapitulation ihres Gastlandes 1940 wurden sie zwei Jahre interniert, bevor beiden die Flucht über die Schweiz in die USA gelang. Eine besondere Flucht war jene von Edith Polar. Ihre Odyssee führte sie nicht nur durch verschiedene Länder, sondern durch verschiedene Konzentrationslager. 1922 in Baden geboren, hatte sie drei Geschwister; ihr Vater, Hugo Spielmann, stammte aus Ungarn, ihre Mutter aus dem Burgenland. Noch vor dem Anschluss übersiedelte die Familie nach Ungarn. Nach dem Kriegsbeginn und dem Einmarsch der Deutschen Truppen wurde die Familie zuerst in das Ghetto Györ interniert. Von dort kam Edith Polgar ins KZ Lippstadt, danach nach Auschwitz-Birkenau und letztendlich in das KZ Bergen-Belsen, wo sie die Befreiung durch die Briten erlebte. Ein Teil ihrer Familie wurde ermordet. Sie selbst wanderte nach Australien aus. Das Verschwinden bzw. die Flucht der jüdischen Mitmenschen war sichtbar bzw. bemerkbar. Schließlich waren sie an einem Tag da, am nächsten nicht mehr. Mit der Zeit jedoch geriet es in Vergessenheit, wer wann genau geflüchtet war. Viele Menschen hatten anderes im Kopf. Es passierte so viel anderes. Treffend formulierte es Hans Meissner rückblickend. Juden? Ja, wo die wohl jetzt sein mochten? Sicher ausgewandert. Gut für sie. Oder? Wir waren einfach völlig ignorant. Ich kann nicht von mir sagen, dass ich einen guten Freund gehabt hätte, über dessen Chancen, ins freie Ausland zu kommen, ich mir Sorgen oder auch nur ein Bild hätte machen können. 72 72 StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 8.
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Phase II Der oftmals gebrauchte NS-Begriff „Arisierung“ beinhaltet nur einen Teil der damals durchgeführten verbrecherischen Aktionen. Neben der „Arisierung“ gab es die „Liquidierung“. Beides zusammen kann als Enteignung bezeichnet werden. Eine Arisierung lag dann vor, wenn eine Immobilie (Haus, Wohnung, Geschäft oder Betrieb), die zuvor Juden gehört hatte, von Ariern übernommen und weitergeführt wurde. Bei einer Liquidierung wurde das jüdische Geschäft oder der Betrieb geschlossen und aufgelöst. Der Raub jüdischen Besitzes kann in drei Phasen eingeteilt werden. Die erste Phase waren die sogenannten „wilden Arisierungen“. Sie begannen mit März 1938 und dauerten ungefähr bis zum Mai 1938 – einige solcher Fälle wurden bereits im ersten Kapitel angeführt. Ohne Genehmigung von „oben“ wurden Geschäfte, Werkstätten, Wohnungen oder Vereinshäuser besetzt und beschlagnahmt. Hier herrschte das Recht der stärksten und skrupellosesten Volksgenossen. Um diesem Treiben Einhalt zu gebieten – den Raub in geordnete Bahnen zu lenken, um die Gewalt zu kanalisieren, damit nicht totales Chaos ausbrach oder es den Anschein hätte, der NS-Staat wäre nicht mehr alleiniger Träger der Staatsgewalt –, wurde die Vermögensverkehrsstelle (VVSt) gegründet. Mit dieser Verrechtlichung und Bürokratisierung begann die zweite Phase der „Arisierung“. Sie dauerte in etwa beginnend mit der Gründung der VVSt bis zu den Novemberpogromen 1938 bzw. bis zur Verordnung vom 12. Nov. 1938, deren Ziel es war, Juden vollkommen aus dem deutschen Wirtschaftsleben auszuschließen. Eingerichtet vom Ministerium für Wirtschaft und Arbeit in der Zuständigkeit des Staatskommissars der Privatwirtschaft, Walter Rafelsberger, mussten die zuvor wild enteigneten Objekte der Vermögensverkehrsstelle vorgelegt werden, um von dieser rechtlich legitimiert zu werden. Die Verrechtlichung und Bürokratisierung hatte nicht nur zum Ziel, die eigenen Reihen zu disziplinieren, sondern auch die Opfer aus dem Prozess der Enteignung weitgehend auszuschließen. Damit jene nicht die Möglichkeit hatten, unmittelbar mit dem Käufer in Kontakt zu treten, bestellte die VVSt Treuhänder, die den Verkauf vom Anfang bis zum Ende abwickeln sollten.73 Es war für das NS-Regime unbedingt notwendig, dass ein Vertrauensmann der Parteistellen den Gang der Verhandlungen überwacht, damit Tarnungen mit Sicherheit hintangehalten werden können. Denn es bestand der begründete Verdacht, dass die Inhaber der genannten Geschäfte versuchen, Teile ihres Lagers unkontrolliert zu verschieben und so die bestehenden Bestimmungen über die Kontrolle jüdischen Vermögens zu umgehen.74 Neben den materiellen Werten, die enteignet wurden, dürfen die immateriellen nicht außer Acht gelassen werden. Hier haben wir Sparbücher, Policen, Versicherungen aller Art, Pensionen, Wertpapiere, Aktien, die verfielen, eingezogen oder nicht mehr ausbezahlt wurden. Hinzu kamen Vereinsauflösungen und die Konfiszierungen der Vereinsvermögen.75 73 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 102, 113, 149 und BAUMGARTNER, STREIBEL, Juden in Niederösterreich, S. 37. 74 StA B, GB 052/Verfolgung I, Fasz. II Arisierungen; Wassergasse 3. 75 Vgl. BAILER-GALANDA, JABLONER, Schlussbericht der Historikerkommission, S. 123f.
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In dieser Phase II bestand für Juden keine Verpflichtung, ihre Immobilie zu veräußern. Allerdings zeichnete sich der Alltag jüdischer Mitbürger durch Verfolgung, Schikane, Gewalt und einer stetig zunehmenden Zahl an diskriminierenden Gesetzen aus. Hier muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, die in solchen Fällen verwendeten Worte wie Käufer, Verkäufer, kaufen oder verkaufen stellen allesamt Euphemismen dar. Der Verkauf war nicht freiwillig oder basierte auf marktwirtschaftlichen Grundlagen von Angebot und Nachfrage und der darauf aufbauenden Preisgestaltung. Haus und Hof zu verkaufen, war ein Gebot der Stunde. Ansonsten riskierte man, dass der Wert vollkommen gegen Null gehen könnte. Die Preisverhandlungen zwischen Käufer und Verkäufer befanden sich nicht auf Augenhöhe. Hinzu kam, dass Juden eben durch Dritte (Treuhänder) vertreten wurden. Hinter Formulierungen wie: Dem mir anvertrauen Besitz von Juden verbirgt sich nichts anderes als eine „Arisierung“. Die Formulierung stammt von Karl Leistner nach 1945. Es betraf den Besitz der Eheleute Haim.76 Karl Leistner blieb dieser trockenen Wortwahl treu, indem er auf die pünktliche Bezahlung der Vermögensverkehrssteuer und sonstiger Abgaben auf das Konto der Eheleute Haim verweist. Dass es sich dabei um ein Sperrkonto handelte, auf das die Betroffenen kein Zugriff hatten, blieb unerwähnt. Dafür aber garantierte er nach 1945: Wenn die Besitzer oder deren Rechtsnachfolger ihre Ansprüche auf den Besitz geltend machen werden, werden sie alles in bester Ordnung finden und durch meine saubere Verwaltung, die aus den bei mir liegenden Büchern bestätigt sein wird, in den vollen Genuss ihres ursprünglichen Besitzes gelangen.77 Es finden sich etliche Formulierungen, die ein gewöhnliches rechtlichadministratives Vorgehen suggerieren. Bei meinem Bestreben, ein Eigenheim zu erwerben, habe ich auch versucht, auf dem Wege der Arisierung zum Ziele zu kommen.78 So artikulierte es SA-Sturmführer Rudolf Kluger im August 1940. „Auf dem Wege der „Arisierung“, d.h. die „Arisierung“ wurde zu einem normalen Vorgang, einer legitimen Möglichkeit, um sein Ziel – eine Immobilie – zu erreichen. Seine Bestrebung galt der Eugengasse 4. Hinzu kam, dass diese Normalität durchdacht sein sollte. Jeder Volksgenosse sollte sich Zeit nehmen. Entschleunigung war angesagt. Denn: Arisierung um jeden Preis?, fragte die Badener Zeitung. Eine „Arisierung“ musste wohlüberlegt sein. Vielleicht, gab die BZ zu bedenken, wäre eine Liquidierung der bessere Weg; oder sollte man das Geschäft in jüdischer Hand belassen, mit den jüdischen Mitarbeitern und dem jüdischen Kundenstamm? Außerdem sollte sich jeder Ariseur die Frage stellen, ob er das nötige Fachwissen aufbringe. Wie sehe es mit den eigenen Kompetenzen aus? Habe man das nötige Fachwissen? Gab es genügend Eigenkapital?79 Ähnlich die förmliche Erläuterung, welche Aufgaben der VVSt zufielen. Sinn und Zweck dieser Stelle ist, die Arisierung planmäßig zu gestalten und so dem
76 Dabei könnte es sich um Jacques Haim (geb. 1868) und Laura Haim (geb. 1883) handeln – StA B, Meldezettel. 77 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Leistner Karl (geb. 1880). 78 StA B, GB 052/Personalakten: Kluger Rudolf (geb. 1902) u. Kluger Josefine; Mappe I. 79 Vgl. BZ Nr. 57 v. 16.07.1938, S. 1.
Kapitel 10 Als Jude in Baden zwischen Anschluss und Novemberpogrom
Grundsatz Gemeinnutz vor Eigennutz Rechnung zu tragen.80 Die Wortwahl in den diesbezüglichen Akten ist teilweise verharmlosend, teilweise gehässig oder einfach nur brutal zynisch. Kreisleiter Gärdtner sprach im Bezug auf „Arisierungen“ und dem Vertreiben der ursprünglichen Besitzer gar von einem Kinderspiel.81 Vollständigkeitshalber sei hier noch die dritte Phase der „Arisierungen“ erwähnt, die den Novemberpogromen 1938 folgte. Häuser, Betriebe usw. wurden enteignet, sie mussten verkauft oder liquidiert werden.82 Diese Phase wird im Kapitel 17 ausführlich beschrieben. * Die administrative Enteignung war ein komplexer Vorgang. Die Verfahren, auch wenn die NS-Stellen es nur allzu gerne gehabt hätten, waren alles andere als geradlinig. Das Prozedere konnte vielfältig ausfallen. Es konnte über Jahre andauern und verschiedene Personen, sei es echte, sei es juristische, konnten oder mussten mit einbezogen werden. Aber bevor ich zu sehr theoretisiere, schauen wir uns ein paar solche Fälle aus dem Jahre 1938 an und all die dabei vorkommenden Facetten. Zuerst sei noch angemerkt, dass die im Stadtarchiv Baden vorliegenden Arisierungsakte bei weitem nicht alle Fälle der Enteignungen in der Stadt umfassen. Des Weiteren sind die vorliegenden Akten nicht immer vollständig, bzw. es kann nicht ermittelt werden, ob sie vollständig sind. Das Aktenmaterial besteht aus Briefen, behördlichen Schreiben, Bewerbungsschreiben, Anwaltskorrespondenz usw. Wir sprachen bereits von der anonymen Großstadt. Was eine Großstadt war, das lag im Auge des Betrachters. Für das Ehepaar Edwin und Anna Bischitz war Baden die anonyme Großstadt.83 Hierher flüchteten sie sich vor den Gewaltakten des Anschlusstages. Sie besaßen am Rainer-Ring 3 eine angemietete Wohnung, während sich ihr Geschäft, um das es hier gehen wird, in Hirtenberg befand. Am Sonntag, den 13. März 1938, fuhr Edwin Bischitz nach Hirtenberg zurück, um nach dem Rechten zu sehen. Er fand sein Geschäft zertrümmert vor. Eilends einen Möbelwagen organisiert, beabsichtigte er, den Rest der Möbel nach Baden zu verfrachten, da durchkreuzte die SA seine Pläne. Sie beschlagnahmte 5000 Schilling und gab als Grund Fluchtgefahr an. Ahnend, dass dies nur der Anfang weiterer Schikanen war, wollte Edwin Bischitz so schnell wie möglich sein Geschäft verkaufen. Interessenten waren sogleich zur Stelle. Sein Nachbar war einer der Ersten. Den Betrag wollte jener in Raten abbezahlen, doch Edwin Bischitz wollte nur gegen Bargeld oder Gold verkaufen, auf Ratenzahlungen wollte er sich auf keinen Fall einlassen. Seine Renitenz sprach sich herum. Es dauerte nicht lange, da hingen Plakate vor seinem Ge80 BZ Nr. 44 v. 01.06.1938, S. 3. 81 StA B, GB 052/Ortsgruppen Kreis Baden; Weißenbach-Neuhaus – Kreisleitung an Gauleitung (21.10.1940). 82 Vgl. BAILER-GALANDA, JABLONER, Schlussbericht der Historikerkommission, S. 88 und S. 106f. 83 Edwin Bischitz (geb. 1902) und Anna Bischitz (geb. 1908).
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schäft: „Kauft nicht bei Juden ein“. Und als das nichts half, erschien die SA und sperrte kurzerhand das Geschäft zu. Den Schlüssel sollte Edwin Bischitz erst zurückerhalten, wenn er einer „Arisierung“ zustimme. Als er letztendlich gezwungen war, einzuwilligen, wurde ein Preis von 103.740,99 Schilling für das Warenlager vereinbart, abzüglich 12 % „Schikane-Steuer“, und schon machte der Kaufpreis nur noch 79.000 Schilling aus. Diese Summe sollte in Raten gezahlt werden. Das Ehepaar Bischitz bekam im Mai 1938 die erste Rate von 666,7 RM. Doch plötzlich hieß es, dass Juden kein Bargeld annehmen dürfen. Mitgeteilt wurde ihnen das höchstpersönlich durch den unangekündigten Besuch des in SS-Uniform erschienenen Rechtsanwalts Dr. Ernst Kainz. Weitere Raten mussten auf ein Sperrkonto eingezahlt werden. Gönnerhaft drückte Ernst Kainz, wie es Edwin Bischitz in Erinnerung behielt, bei der ersten Rate ein Auge zu. Die „Arisierung“ wurde über Dr. Anton Attems abgewickelt – dem „Chefabwickler“ in Stadt und Kreis Baden. Im Juli erhielt das Ehepaar Bischitz weitere 600 RM und im Jänner 1939 für ihre „Ausreise“ 5.905,90 RM von der VSSt. Das war es. Mehr kam nicht. Eingeschüchtert hatte das Ehepaar nicht einmal nachgefragt, wann das restliche Geld ausgezahlt werde. Für Edwin Bischitz stand fest, da doch zu jener Zeit ein Jude vogelfrei war, habe ich vorgezogen, nicht nachzufragen, um mein Leben zu schützen, und habe alles unterschrieben, was man von mir wollte und nur einen Wunsch gehabt, so rasch wie möglich aus dieser Hölle herauszukommen. Aus diesem Grund habe ich unter Zwang vor meiner Abreise Herrn Dr. Attems einige leere Bögen Papier mit meiner Unterschrift unterschreiben müssen, mit der Bemerkung, wenn er etwas brauchen sollte, in meiner Angelegenheit zu unternehmen. Außerdem habe ich meiner Frau und meine mir gehörenden Lebenspolizzen bei Herrn Dr. Attems deponieren müssen, mit dem Bemerken als Garantie für die Reichsfluchtsteuer und weiß bis heute nicht, was mit selben geschah.84 Wir erinnern uns, noch bestand kein gesetzlicher Zwang, zu verkaufen. Doch Freiwilligkeit sieht anders aus. Mit Drohungen wurde das Ehepaar Bischitz zur Herausgabe ihres Geschäftes sowie in die Flucht getrieben, die euphemistisch als Ausreise bezeichnet wurde. Das Ziel war New York. Für andere Badener Juden gab es kein Entkommen. Das Geschäft am Rainer-Ring 3 galt der SS-Standarte Baden als verschuldet und nicht fähig, Gewinne zu erwirtschaften. Die SS musste es wissen, schließlich standen ihre Vertreter pflichtbewusst vor den jüdischen Geschäften und verschreckten jede Kundschaft. Arische Verwalter einzusetzen, war für die SS das Gebot der Stunde. Mit dem Hauseigentümer, Dr. Oskar Bloch, hatte man bereits „Kontakt aufgenommen“. Trocken fasste die SS in einem Schreiben vom April 1938 diese Kontaktaufnahme zusammen: Dieser [Oskar Bloch] hat nach einer Vernehmung durch die Angehörigen der Schutzstaffel betreffend die Art seiner Geschäfte Selbstmord verübt.85 Die Gewaltanwendungen und Drohungen hatten zur Folge, dass die aufgesetzten Kaufverträge jeglichem Rechtsverständnis (außer dem NS-Recht) und jeder markwirtschaft84 StA B, GB 052/Personalakten: Kainz Ernst (geb. 1908) – Edwin Bischitz (geb. 1902) und Anna Bischitz (geb. 1908) Brief (Nov. 1946). 85 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe I.
Kapitel 10 Als Jude in Baden zwischen Anschluss und Novemberpogrom
lichen Preisbildung spotteten. Stefanie Katzer konnte im September 1938 das Kleider- und Textilwarengeschäft Rainer-Ring 8 samt Warenlager und Kundenstock von Ernst/Ernö Ehrenstein um nur 2.100 RM erwerben. 1.000 RM gelangten gleich einmal zu Anton Attems, der das Geld auf einem Sperrkonto hinterlegte. Die restliche Summe wurde auf fünf Raten aufgeteilt und sollte ebenfalls auf das Sperrkonto einbezahlt werden. Der Vorbesitzer musste außerdem seinen Gewerbeschein abgeben und seine Schulden bezahlen, damit die Käuferin – wie es im Akt vermerkt wurde – klag- und schadlos gehalten werde.86 Solche absurd niedrigen Preise waren nichts Außergewöhnliches. Die Immobilie der Franziska Glaser in der Uetzgasse 22 gab es für Alois Harant um 18.000 Schilling.87 Nicht viel anders erging es Rosa Katz. Ihr Modewarengeschäft am Rainer-Ring 6 hatte Ernst Kainz um einen Pappenstiel von 2.500 RM arisiert, die er noch in Monatsraten hatte abstottern können. Selbst Jurist, hatte er dennoch juristischen Rechtsbeistand durch Anton Attems, damit ja alles korrekt ablief. Doch selbst einem „Arisierungsfachmann“ wie Attems konnten Fehler unterlaufen. Eine Rate zu viel wurde bezahlt. Der Schwiegersohn der Betroffenen, Franz Douda, wurde aufgefordert, den rechtswidrigen Mehrbetrag zu erstatten. Ansonsten würde sich Attems gezwungen sehen, weitere Schritte einzuleiten. Franz Douda wusste damals nur allzu gut, was Attems unter „weiteren Schritten“ verstand – einen Anruf bei der Gestapo oder bei seinem Mann fürs Grobe, seinem Hausbesorger und Exekutivkomiteemitglied Karl Wiskocil.88 An unverhohlene Drohungen erinnert sich genauso Rudolf Ungar. Für die Immobilie Wassergasse 3 verlangte der Vater, Josef Ungar 28.000 RM. Die Ariseure waren nur bereit, 15.300 RM zu bezahlen. Als er sich weigerte, auf das Angebot einzugehen, drohte die Ariseurin Anna Strafinger, unterstützt durch den Geschäftsführer des Kreiswirtschaftsamtes, Hellmuth Zech, dass ich in das Konzentrationslager Dachau kommen würde, wenn mein Vater seinen Standpunkt nicht ändere. In der Angst um mich und seine rechtlose Lage erkennend, gewährte nun mein Vater der Strafinger den von ihr verlangten Preisnachlass von 20 %.89. Das Haus wurde arisiert. Der Sohn überlebte. Der Vater flüchtete Ende September 1938 in die Slowakei und starb am 6. April 1943 in einem Anhaltelager in Budapest. Mit Dachau wurde auch Käthe von Gutmann gedroht, um an ihr Haus Helenenstraße 7a zu gelangen. Friedrich Halsinger verfasste Drohbriefe, äußerte vor Zeugen seine Vorhaben und erhielt dafür Beistand von seinem Rechtsanwalt Dr. Attems, und das nicht nur juristischen, wie sich Margarethe Stimmer erinnerte, auch moralischen, indem er Haslinger noch beistimmte und ihn aufforderte, sich ja nichts gefallen zu lassen und sein Recht nur durch-
86 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. II; Rainer-Ring 8 – Stefanie Katzer (geb. 1894), Ernst/ Ernö Ehrenstein (geb. 1889). 87 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Harant Alois (geb. 1881) – Franziska Glaser (geb. 1873). 88 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten – im Akt von Ernst Kainz. Rosa Katz (geb. 1882) gelang die Flucht nach Ecuador. 89 StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. II; Wassergasse 3 – Rudolf Ungar (geb. 1908), Josef Ungar (geb. 1868), Anna Strafinger (geb. 1893).
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zusetzen.90 Und er setzte sich durch, er arisierte das Haus und Käthe von Gutmann wurde 1942 in Maly Trostinec ermordet. Eine weitere Möglichkeit, um den Preis zu drücken, bestand darin, jüdischen Besitz als verlodert, abgewirtschaftet, als Schandfleck für die Kurstadt oder als Gefahr für Passanten darzustellen. Die Anavi-Emaillierwerke galten als verschuldet und konkursreif. Nur durch Beistellung bedeutender Barmittel aus dem Privatbesitz des heutigen Inhabers konnte der Betrieb nach dem Umbruch vor der Stilllegung und die Gefolgschaft vor der Entlassung bewahrt werden. […] Der Betrieb befand sich in einem gänzlich verwahrlosten Zustand.91 Und Alois Schwabl, der das Geschäft der Familie Vischer/Wyscher in der Pfarrgasse 5 arisierte, hatte einen vollkommen verlotterten jüdischen Kleinbetrieb übernommen. Ich hatte gar keine wie immer gearteten Unterlagen, denn die Juden hatten keinerlei Aufzeichnungen geführt. […] Durch besondere Rührigkeit und unermüdlichen Fleiß ist es mir gelungen, den Betrieb hoch zu bringen […].92 Diesbezügliche Beispiele ließen sich noch etliche anführen. Es waren typische Zuschreibungen, die in einigen Fällen vielleicht den Tatsachen entsprachen, doch wurden sie inflationär verwendet und sie dienten nur dazu, um antisemitische Stereotype zu bedienen und gleichzeitig, wenn auch nicht bewusst, zu konterkarieren. Denn einerseits posaunte die NS-Ideologie vom Juden bzw. vom Finanzjudentum, das im Hintergrund die Weltwirtschaft und Finanzströme lenke, aber gleichzeitig war der Jude nicht in der Lage, ein Schuhgeschäft am Rainer-Ring in Baden oder sonst wo gewinnbringend und schuldenfrei zu führen. Doch von solchen Widersprüchen ließ sich der Nationalsozialismus nicht abhalten. An Absurditäten mangelte es wahrlich nicht. Anton Igler, der die Kistenfabrik des Chasel Ingwer in der Vöslauerstraße 40/42 arisierte hatte, rechtfertigte nach 1945 sein Tun mit: Nach dem Gesetz war ich nicht berechtigt gewesen, zu arisieren. Auf Verlangen des Herrn Ingwer habe ich mich verleiten lassen, zu arisieren.93 Eine „wunderbare“ Täter-Opfer-Umkehr – auf so etwas werden wir noch öfters stoßen. Neben dem Besitz von Immobilien waren es weitaus mehr Mietwohnungen, die nun zur Disposition standen. Mietverträge wurden zu Ungunsten der jüdischen Mieter oder Vermieter ausgelegt. Auf Seiten der arischen Mieter wurden Mietzinsreduktionen durchgesetzt, während arische Vermieter die Mieten problemlos erhöhen konnten. Eine weitere Lockerung betraf die Kündigung jüdischer Mieter. Allerdings bestand noch kein Zwang, jüdischen Mietern zu kündigen.94 Dass hier ebenso nach dem Anschluss die Willkür 90 StA B, GB 052/Personalakten: Haslinger Friedrich (geb. 1904) – Käthe von Gutmann (1893– 1942). 91 StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. I; Dammgasse 26 – Mitteilung an die Vermögensverkehrsstelle (25.03.1939). 92 StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Alois jun. (geb. 1912) – Schwabl an Reichsgruppe Bekleidung, Textil und Leder (20.05.1940). 93 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Igler Anton (geb. 1897). Chaskel Ingwer (geb. 1873) gelang die Flucht in die USA. 94 Vgl. BAILER-GALANDA, JABLONER, Schlussbericht der Historikerkommission, S. 117.
Kapitel 10 Als Jude in Baden zwischen Anschluss und Novemberpogrom
herrschte, wird wenig verwundern, es hieß ein jeder Arier und Parteigenosse hat das Recht, wenn die überwiegende Mehrzahl der Inwohner Arier sind, die Entfernung der jüdischen Mieter zu fordern, weil ihm nicht zugemutet werden kann, fortwährend einen Anstoß seines nationalen Empfindens vor Augen zu haben, welche seine Ruhe und den Frieden beeinträchtigt.95 So geschehen in der Weilburgstraße 53 im Juli 1938. Das Ehepaar Richard und Rosa Marcus – jenes Ehepaar das sich nach 1945 für Kreisleiter Hans Hermann einsetzte – galt zehn anderen arischen Mietern als Zumutung, vor allem weil es regelmäßig Besuch von anderen Juden bekam. Das lag unter anderem daran, dass Juden der Zutritt zum Strandbad bereits verwehrt war und sie sich stattdessen bei ihnen in der Wohnung trafen. Und so fanden sich zehn Unterschriften, die die Zwangsumsiedlung einforderten, die im Oktober 1938 umgesetzt wurde. Zehn gegen einen. Hier hielt die „Volksgemeinschaft“ zusammen. Aber in Bezug auf Enteignungen sollte das bei weitem nicht immer so sein. Neben den zahlreichen Privaten musste genauso die jüdische Kultusgemeinde als Ganzes zerschlagen werden. Den Anfang machten wortwörtlich die Anschlusstage. Auf das Schicksal der Kultusgemeinde, ihrer Mitglieder, einzelner Immobilien, Vereine usw. werde ich im Laufe des Buches immer wieder eingehen. Nun möchte ich einen kurzen Abriss bzw. eine Zusammenfassung darlegen, was mit den prominentesten Personen und Immobilien nach dem Anschluss passiert ist. In diesem Zusammenhang beziehe ich mich und verweise gerne auf die Homepage www.jewishhistorybaden.com. Bald nach dem Anschluss traten zahlreiche Funktionäre der jüdischen Gemeinde in Baden zurück. Nach dem Rücktritt von Max Deutsch übernahm der Weinhändler Adolf Gelles auf Geheiß der Bezirkshauptmannschaft die Leitung der jüdischen Gemeinde. Bereits im November 1938 trat er aus gesundheitlichen Gründen zurück. Sein Nachfolger wurde Heinrich Fleischmann. Er leitete die Gemeinde bis zu deren Auflösung 1940 und er war für die Abwicklung und Liquidierung des Gemeindevermögens zuständig sowie für die Organisation der Auswanderung. Als Leiter der jüdischen Gemeinde (manchmal wird er als kommissarischer Leiter bezeichnet) hatte das Kreispersonalamt nichts gegen ihn einzuwenden, auch wenn man im Februar 1939 schrieb, dass die Arbeit von einem Arier genauso gut hätte durchgeführt werden können.96 Während Fleischmann versuchte, seine ihm aufgetragene Aufgabe so gut wie möglich abzuarbeiten, gingen die örtlichen NS-Machthaber ans Werk. Die Räumung der Synagoge in der Grabengasse 14 begann im August 1938. Alles, was als wertlos eingestuft wurde, wurde im Innenhof zerhackt und als Brennholz verwendet. Man vergaß nicht, sich dabei fotografieren zu lassen. Die Büroräumlichkeiten der jüdischen Gemeinde wurden in die Braitnerstraße 23 (Genesungsheim des Vereines „Chewra Kadischa“) verlegt. Die Büro- und Wohnräumlichkeiten in der Grabengasse 12 wurden im September 1938 eingezogen und die Bewohner teilweise in der Witzmanngasse 1 untergebracht. Ziel war es, die Räumlichkeiten sudetendeutschen Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Ein weiteres 95 StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge; f. 21. 96 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe III.
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Zwischenlager für vertriebene Juden innerhalb der Stadt Baden war das Gebäude Vöslauerstraße 31 – es war das rituelle jüdische Badegebäude (Mikwe). Das jüdische Waisenhaus in der Germergasse 48 wurde im Oktober 1938 geschlossen. Der dazugehörige Verein „Kriegswaisenfonds der Agudas Jisroel“ und der „Förderverein Jdisches Waisenhaus“ 1939 gelöscht, das Gebäude an die Stadt Baden übertragen. Ebenso noch 1938 wurde der Verein „Chewra Kadischa“, der sich um die Bedürfnisse Sterbender kümmerte, im September aufgelöst. Einen Monat später der Israelitische Frauenwohltätigkeitsverein.97 Schritt für Schritt wurde das jüdische Badener Leben demontiert. Es war realer Horror für Menschen, die als Juden klassifiziert wurden. Und es war erst der Anfang. Aber was war mit all den anderen Badenern? Erinnern wir uns, die meisten Badener waren keine überzeugten Nationalsozialisten und deswegen eine theoretische Gefahr für das Regime. Werfen wir im Folgenden einen Blick auf die politischen Lager der damaligen Zeit, zum einen auf die Sozialisten und zum anderen auf die Christlichsozialen. Zwei starke Milieus, die lange Zeit dem NS-Regime getrotzt hatten. Und nicht zu vergessen, das durch den Nationalsozialismus marginalisierte, aber dennoch vorhandene restliche Deutschnationale Lager.
97 Vgl. www.jewishhistorybaden.com (12.10.2019).
Kapitel 11 Das nicht schädlingshafte Andere Oder: Reaktionen auf andere politische Lager – Reaktionen anderer politischer Lager
Die Nationalsozialisten machten sich keine Illusionen. Sie repräsentierten nicht die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung. Die meisten Menschen in Österreich (auch in Baden) waren Anhänger anderer politischer Parteien und Ideologien. In der Ersten Republik gab es in Österreich drei politische Lager: Das christlichsoziale Lager, das deutschnationale Lager (zusammen bildeten die beiden den bürgerlichen Block) und als drittes das sozialistische Lager. Der Nationalsozialismus hatte mit den Christlichsozialen und den Sozialisten zwei mächtige politische und ideologische Kontrahenten. Einzig das dritte politische Lager, das nationale/großdeutsche, konnte vom Nationalsozialismus weitgehend aufgesogen werden. Im sozialistischen Lager finden wir noch die Kommunisten, aber aufgrund ihrer Marginalität in Österreich wurde es eindeutig durch die Sozialisten/Sozialdemokraten dominiert. Allerdings nahm die Bedeutung der Kommunisten bereits 1934 merklich zu und sollte nach dem Anschluss weiter steigen – dazu später mehr. Rufen wir uns noch einmal die Situation in Baden in Erinnerung. Die Kurstadt war eindeutig bürgerlich. Die Gemeinderatswahlen gingen jedes Mal mit einer Zweidrittelmehrheit zu Gunsten des bürgerlichen Blocks aus, wobei die CSP klar dominierte und die GDVP mit den Jahren teilweise fast komplett in der CSP aufging. Das restliche Drittel gehörte den Sozialisten. Es findet sich kein einziger Kommunist während der Ersten Republik im Badener Gemeinderat. Wie bereits im Kapitel über Schmid und die Anfänge des Nationalsozialismus in Baden erwähnt, war die NSDAP in der Kurstadt auf Gemeinderatsebene 1924 mit zwei, ab 1929 mit einem Gemeinderat quantitativ bedeutungslos. Selbst als die Nationalsozialisten deutlich an Zustimmung gewannen, hätten sie niemals die Mehrheit der Wählerstimmen erringen können. Dabei sah es nicht so schlecht aus. Der Ständestaat kam nicht voran. Weder klappte es mit den Ständen, noch fruchtete der Faschismus wie versprochen. Die Wirtschaft erholte sich langsam, aber eben zu langsam. Dann waren noch alle Parteien verboten worden. Die Linken und die Rechten wurden obendrein verfolgt. Die Nationalen und Liberalen wurden argwöhnisch beobachtet, die Evangelische Kirche von der Katholischen unterdrückt und selbst die regimetreuen und faschistisch ausgerichteten Wehrverbände wurden aufgelöst. Plakativ formuliert: Zu Jahresbeginn 1938 gab es in Österreich fast niemanden mehr,
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der sich nicht irgendwie schlecht behandelt, unterdrückt oder diskriminiert fühlte!1 Selbst nach dem Anschluss konnten die Nationalsozialisten nicht für sich beanspruchen, die Mehrheit hinter sich zu haben. Sie mussten damit zurechtkommen, dass abseits der NS-Propaganda von wegen „ein Reich, ein Volk, ein Führer und eine „Volksgemeinschaft“ große Teile der Bevölkerung christlichsozial oder sozialistisch eingestellt blieben. Es brauchte eine Koexistenz – der Nationalsozialismus mit dem Rest und der Rest mit dem Nationalsozialismus. Aber wie handhabte man nun Personen, die der „Volksgemeinschaft“ angehörten, d.h. die NS-rassischen Kriterien erfüllten, doch politisch indifferent, ablehnend bis feindlich eingestellt waren? Ich möchte in diesem Kapitel nicht nur über die politischen Lager und deren Protagonisten in Baden an sich erzählen, sondern auch auf die verschiedenen Formen des Widerstandes in Bezug auf diese verschiedenen politischen Lager eingehen. Wie unterschieden sich deren Aktionen? Was wurde als Widerstand angesehen? Widerstand konnte vieles sein. Von einer inneren Ablehnung des NS-Regimes bis zu bewaffneten Widerstandsaktionen. Von der Vermeidung des Deutschen Grußes bis zu Attentaten und Bombenanschlägen.2 Ebenfalls unterschiedlich konnte die Motivation dahinter sein. Grundsätzliche Ablehnung bedingt durch eine andere politische Überzeugung bis hin zu religiösen Motiven oder einem grundsätzlichen politischen Desinteresse. Unpolitischer Widerstand aus der Selbstwahrnehmung musste jedoch nicht vom Gegenüber genauso gesehen werden. Selbst- und Fremdwahrnehmung spielten hier eine entscheidende Rolle. Gerüchte wiedergeben, eine flapsige Formulierung, zu sprechen wie einem der Schnabel gewachsen war, ein ungewöhnlicher Haarschnitt, extravagante Kleidung, statt mit „Guten Tag“ mit „Grüß Gott“ grüßen, all das konnten gewöhnliche Verhaltensweisen darstellen oder sonstige Marotten, doch vom nationalsozialistischen Gegenüber konnte es als Akt des Widerstandes interpretiert werden. Und auch die Ziele konnten unterschiedlicher nicht sein. Was sollte dem Nationalsozialismus folgen? Eine andere rechte Diktatur? Eine parlamentarische Demokratie? Ein konservatives Regime? Eine kommunistische Diktatur? Wieder eine Republik? Oder doch eine Monarchie? Ein Fall, der sich nicht so leicht einordnen lässt, ist jener aus dem Gasthaus Schanzer, betrieben durch das Ehepaar Karl und Michaela in der Helenenstraße 33.3 Im Sommer 1938, das Gasthaus war gut besucht, draußen regnete es in Strömen, betrat ein SA-Mann die Stube und verlangte, sofort bedient zu werden. Der Gastwirt, Karl Schanzer, machte ihm jedoch klar, dass er zu warten hatte, so wie jeder andere Gast auch. Mit so einer „Schmach“ konnte der Mann offensichtlich nicht umgehen. Er verließ augenblicklich das Lokal und kam nach einiger Zeit wieder, diesmal mit Verstärkung. Laut dem Taxiunternehmer Franz Lintner wurden zuerst sämtliche Gäste aus dem Lokal verjagt, da1 2 3
MAURER, Baden. St. Stephan, S. 344. Vgl. NEUGEBAUER Wolfgang, Widerstand und Opposition. In: Emmerich TÁLOS, Ernst HANISCH et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 187–213. Michaela Schanzer (geb. 1902), Karl Schanzer (1889–1940).
Kapitel 11 Das nicht schädlingshafte Andere
nach stürzten sie sich sodann auf Schanzer, warfen ihn über ein Bierfass und misshandelten ihn dann auf das gröbste.4 Anschließend wurde er verhaftet und während des Verhörs weiter misshandelt. Laut den Ermittlungen soll es nicht klar gewesen sein, wer ursprünglich zuerst zugeschlagen hatte. Beim Verhör wäre es ganz sicher zu keinen Übergriffen gekommen, nur eine Verwarnung wäre ausgesprochen worden, da Herr Schanzer ein sehr freches Benehmen an den Tag gelegt hatte. Und dass die Gattin des Opfers, Michaela Schanzer, geschlagen wurde, das wurde durch die Schläger kategorisch ausgeschlossen. Am nächsten Tag erschien das Opfer bei der Kreisleitung um eine, wie es im Akt stand, Versöhnung herbeizuführen. Doch dem stand ein Gerücht im Weg, wonach SA-Standartenführer Strohmayer sich bei Karl Schanzer entschuldigt hätte. So etwas hätte der oberste SA-Mann Badens nie getan, das musste geklärt werden, also fuhr er erneut mit ein paar Männern in die Gastwirtschaft Schanzer, wo sogleich die geradezu lächerlich kleine Tafel „Arischer Betrieb“ auffiel. Zur Rede gestellt, legte Karl Schanzer erneut ein freches Benehmen an den Tag. Oder in meinen Worten ausgedrückt, Karl Schanzer scheint ein „zacher Hund“ gewesen zu sein, der sich trotz der Misshandlungen nichts „geschissen hatte“ und in dem folgenden „Streitgespräch“ sogar bereit war, eine Tafel anzubringen mit der Aufschrift: Auf eigenes Verlangen ist arischen Gästen der Zutritt verboten.5 Die SA soll daraufhin das Lokal verlassen haben. Seine Ehefrau, die dies offenbar hörte, schlug vermutlich die Hände über dem Kopf zusammen und bereinigte am nächsten Tag diese Angelegenheit im Namen ihres Mannes. War das nun Widerstand? Politischer Widerstand? Oder ein renitentes Verhalten eines Menschen, der nicht wusste, wann man den Mund zu halten hatte? Laut Beurteilung war politisch gegen das Ehepaar Schanzer nichts einzuwenden, sie galten sogar als sympathisierend. Ihr politischer Ruf hätte viel eher durch ihre jüdischen und kommunistischen Gäste gelitten. Die Kreisleitung schrieb abschließend, dass diese Angelegenheit wohl längst als erledigt zu betrachten ist, nachdem von Schanzer die Fehler eingesehen werden.6 Laut dem Zeitzeugen Franz Lintner trug Karl Schanzer von diesen Misshandlungen ein Leiden davon, das in der Folge seinen Tod verursacht haben dürfte.7 Karl Schanzer verstarb zwei Jahre später.
Von braven Bürgern, Bauern und Edelleuten Das christlichsoziale Lager, und als politischer Vertreter die CSP, war in Baden die dominante Kraft. Mit Kollmann an der Spitze regierte sie seit 1919 gemeinsam mit der GDVP die Kurstadt und seit 1924 alleine, da sie die Mehrheit im Gemeinderat erzielte.8 Dem 4 StA B, GB 052/Personalakten: Grumböck Karl – Franz Lintner (geb. 1906) Aussage (11.02.1946). 5 StA B, GB 052/Personalakten: Schanzer Michaela – Kreisleitung an Gauleitung (07.12.1938). 6 Ebd. 7 StA B, GB 052/Personalakten: Grumböck Karl – Franz Lintner Aussage (11.02.1946). 8 Vgl. ZGIERSKI, Jesus, Marx und Nibelungen, S. 64–71.
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christlichsozialen Lager gehörten verschiedene Milieus an, die gemeinsame Schnittmengen aufwiesen, doch bei weitem keinen monolithischen Block dadurch bildeten. Die Identitäten und Interessen konnten sich überschneiden, wandeln, aber auch gegensätzlich sein. Wir treffen auf konservativ genauso wie liberal eingestellte Menschen, Republikaner genauso wie Monarchisten, Demokraten wie Diktaturanhänger, wir haben die ländlich/bäuerliche Bevölkerung, Handwerker, Beamte und als starke Stütze die katholische Kirche inklusive des politischen Katholizismus. Aus diesen Milieus speisten sich ferner die Träger des Ständestaates. Es waren Menschen, die autoritäre/diktatorische Ansichten vertraten und faschistisches Gedankengut teilten. Hier vor allem die Heimwehren und sonstigen Wehrverbände, die wiederum eine wichtige Stütze des Ständestaates darstellten. Um es noch einmal zu wiederholen: Ich bezeichne die österreichische Diktatur zwischen 1933 bis 1938 als Ständestaat. Den Austrofaschismus sehe ich als einen Teil des Ständestaates – eine Variante des Faschismus auf eben „österreichisch“. Doch zurück nach Baden. Wie bereits erwähnt, das christlichsoziale Lager hatte Baden zu zwei Drittel dominiert. Zwei Drittel der Badener nach dem Anschluss zu verhaften oder zu schikanieren oder selbst durchgängig zu überwachen, war unmöglich. Zumindest die führenden Funktionäre der Vaterländischen Front und damit die Stützen des Ständestaates mussten unschädlich gemacht werden – sie gehörten neben Juden zu den ersten Opfern. Wir haben bereits von Leuten wie Adolf Pilz, Josef Dengler, Otto Sulzenbacher, Georg Resnitschek usw. in Baden gehört – Verhaftung, Verhöre, Drohungen, Entlassungen und Gewalt. Der ehemalige Bezirksleiter der Vaterländischen Front in Baden, Rudolf Woisetschläger, hatte ebenso keinen Platz im NS-Regime. Seine Bewertung fiel vernichtend aus. Im vorliegenden Falle dürfte jede weitere zusätzliche Bemerkung vollkommen überflüssig sein, da die Person Woisetschlägers für sich selbst spricht: Bezirksleiter der V.F., Säufer ärgster Sorte, moralisch u. charakterlich vollkommen minderwertig.[…] Für den NS-Staat untragbar.9 Der wohl bis dahin mächtigste Mann der Kurstadt, Josef Kollmann, wurde am 11. März 1938 unter Hausarrest gestellt, inklusive einer „Ehrenwache“ vor seinem Haus. Am folgenden Tag wurde er verhaftet und im Bezirksgericht verhört. Am 21. März weigerte er sich, seine Unterschrift unter ein Dokument zu setzen, wonach sein Privatvermögen unter Pfand gestellt worden wäre – jenes Dokument, das Alois Brusatti unterschrieben hatte. Als Vertreter der Gemeinde traten wieder einmal Rudolf Krpetz und Hans Löw auf. Kollmann sprach von reiner Erpressung. Als er sich weigerte, wurde er am selben Tag erneut verhaftet und erst am 29. April freigelassen. Es folgten weitere Strafanzeigen. Laut Alois Klinger elf an der Zahl, wobei es allen voran Franz Schmid war, der hierbei einen großen Eifer an den Tag legte. Die Anzeigen verliefen allesamt im Sand. Mit allen Mitteln versuchten die neuen Stadtherren, Kollmann Amtsmissbrauch zu beweisen/unterzuschieben. Es kam zu einem Prozess. Der „Kollmann-Prozess“ sollte am 4. September 1940 seinen Lauf nehmen, über mehrere Instanzen gehen und im Mai 1941 mit dem zweiten Freispruch vor dem Berufungsgericht in Leipzig enden (der erste wurde in Wiener Neustadt erteilt) – dazu später 9
StA B, GB 052/Personalakten: Woisetschläger Rudolf (1886–1958).
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mehr. Während all der Zeit und danach verhielt sich Kollmann ruhig und unauffällig.10 Ja nicht auffallen, das wusste auch Otto Sulzenbacher, nachdem er als Direktor des heutigen Gymnasiums Biondekgasse entfernt worden war. Um womöglich Schlimmeres abzuwenden, seine Frau war laut den Nürnberger Rassegesetzen Jüdin, wandte er sich ausgerechnet an Schmid. Im April 1938 versicherte er dem Bürgermeister, sich ruhig zu verhalten. Er bezeichnete sich als nicht verbohrt genug, das große weltgeschichtliche Ereignis nicht einzusehen. Er sah den Anschluss letztlich als eine doch glückliche Fügung und fügte hinzu, dass über den Jahren davor stets der Ruin geschwebt war. So darf ich, gerade weil ich mich mit meiner Lage völlig abgefunden habe, ohne den Verdacht einer schwächlichen Kriecherei auf mich zu lenken, ehrlich wiederholen […], dass auch unter den geänderten Verhältnissen auf meine absolute Loyalität und Treu gegenüber der gesetzlichen Obrigkeit jederzeit gerechnet werden kann. Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung, Ihr sehr ergebener Dr. Sulzenbacher. Einen Tag später wandte sich Schmid an die Kreisleitung und fügte Sulzenbachers Brief bei. Er erklärte, dass er die Worte dieses Mannes als gegeben betrachte, und ersuchte die Kreisleitung, von weiteren Belästigungen und Verfolgungen Abstand nehmen zu wollen.11 Inwiefern das eingehalten wurde, ist schwer zu sagen. Vom 6. September 1944 bis zum 22. September des gleichen Jahres saß Sulzenbacher im Gefangenenhaus in Wiener Neustadt (Hintergrund: Stauffenberg-Attentat – dazu zu gegebener Zeit mehr). Die Jahre zuvor soll Sulzenbacher mit seiner jüdischen Ehefrau sehr zurückgezogen gelebt haben. Er hatte sich äußerst vorsichtig und bedacht verhalten. Manchmal hatte man ihn mit anderen ehemaligen Christlichsozialen auf der Straße tuscheln gesehen. Ansonsten war nichts Nachteiliges bekannt. Wie viele seiner Gleichgesinnten führte er ein bitteres Leben in einer inneren Emigration, unter den Argusaugen der misstrauischen Obrigkeit. Womöglich war es nicht einmal das Bitterste an dem Ganzen. Sein Sohn, Walter Sulzenbacher, hatte sich nämlich für die NS-Bewegung begeistert – und das als „Mischling“. Mittels Ohrfeigen hatte der Senior 1932 dem Junior die HJ auszureden versucht. Ein innerfamiliärer Konflikt, der den Nationalsozialisten wunderbar ins Spiel passte.12 Wie in Kapitel 4 beschrieben, legten viele Menschen, deren Loyalität auf dem Prüfstein stand, eine Art Stillhaltephase nach dem Anschluss ein. Dieselbe Strategie wählte wahrscheinlich auch Leopold Fischer aus Sooß. Gründe hätte er einige gehabt. In politischer Hinsicht ist Fischer für uns vollkommen untragbar, seinem Bestreben können wir es verdanken, dass in seiner Heimatgemeinde Sooß unsere Bewegung nicht Fuß fassen konnte. Er war Anführer aller möglichen schwarzen Vereine und hielt tatsächlich seinen Heimatort unter solchem
10 Vgl. MEISSNER Hans, Josef Kollmann. Bürgermeister von Baden (Baden 2000), S. 205f und WOLKERSTORFER Otto, Baden 1941. Dem Sieg, dem Krieg verpflichtet (Baden 2001), S. 40 und StA B, GB 052/Personalakten: Löw Hans. 11 StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädling und MAURER, WELLENHOFER, S wie „Schädling“, S. 48–57. 12 Walter Sulzenbacher (1917–2005).
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Druck, dass sich politisch niemand gegen ihn aufmucksen traute.13 Dass er als persönlicher Freund der Familie Dollfuß angesehen war, setzte dem Ganzen die Krone auf. Vier Jahre später, im Juli 1942, gab es laut seiner Beurteilung keinen Grund mehr zu klagen. Für eine Vertrauensposition reichte es dennoch nicht. Seine Vergangenheit war weder vergessen noch vergeben. Von echter politischer Zuverlässigkeit konnte auch bei dem angehenden Finanzkommissär Hans Fasching, Mitglied des ehem. Altsoldatenverbandes der StudentenKongregation in Baden, der nur in CV-Kreisen verkehrte, keine Rede sein. Dass er selbst nach dem Anschluss den Deutschen Gruß mit „Grüß Gott“ erwiderte, war dann nur noch das i-Tüpfelchen.14 Solche Menschen mussten stets damit rechnen, dass ihnen das NSRegime jederzeit und überall in die Parade fahren konnte, indem Kredite nicht bewilligt, Mietverträge nicht verlängert oder Betriebe mit der Schließung bedroht wurden. Bei dem Kaufmann Wilhelm Fleischberger hieß es 1940, da er nach wie vor gegnerisch eingestellt (Schwarz !) war, wäre ein Entzug der Verkaufsberechtigung zu Gunsten eines Kriegsgeschädigten am Platz.15 In den meisten Fällen mussten sich die braunen Machthaber aber irgendwie mit der bürgerlich-konservativen Majorität in Baden arrangieren. Durchgehend pfuschte der Personalmangel in die angestrebte reinrassige und ideologische reine Belegschaft, und man war gezwungen, auf die schwarzen Brüder zurückzugreifen. Viktor Schenk, der im März 1938 entfernte und zwangspensionierte Oberlehrer der Helenen-Schule in Baden, wurde am 18. November 1940 aufgrund einer Notverordnung zum Schuldienst an der LeesdorferVolksschule in Baden angefordert und wieder eingesetzt. Im Juni 1945 sollte er wieder die Oberlehrerstelle in der Helenenschule übernehmen.16 Der Personalmangel, um bei den Schulen zu bleiben, führte dazu, dass selbst Ernst Zeiner, ein Hofrat vom Titel, ehemaliger Reichtsratsabgeordneter, Vizebürgermeister, Lehrer, Professor und Schuldirektor, der sich 1925 in den Ruhestand verabschiedet hatte, mit seinen 71 Jahren erneut vor eine Klasse treten musste.17 Dass er fest in der CSP verankert war und das lokale Parteiblatt, das „Badener Volksblatt“, mit begründet hatte, musste wohl oder übel hingenommen werden. Für solche Menschen standen grundsätzlich keine höheren Posten offen, nichts mit Verantwortung und wenn, dann unter der Führung eines eingefleischten Nationalsozialisten. Einzig die Parteianwärterschaft wurde ihm 1940/41 zugestanden.18 Aber es gab auch Sonderfälle – sehr zum Ärger eingefleischter Nationalsozialisten. Zu ihnen gehörte Franz Merzl. Hauptschullehrer in Baden von 1929 bis 1936, danach Direktor der Dt. Josef Hyrtl’schen Niederösterreichischen Landeswaisenanstalt in Mödling,
13 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Fischer Leopold (geb. 1903) 14 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Fasching Hans (geb. 1907). 15 StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. II Allgemein; Trafiken und Bauarbeiter – Wilhelm Fleischberger entweder sen. (geb. 1874) oder jun. (geb. 1903). 16 Vgl. StA B, Neues biographisches Archiv: Schenk Viktor. 17 Vgl. BZ Nr. 85 v. 24.10.1942, S. 3 – Ernst Zeiner (1867–1961). 18 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Zeiner Ernst.
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erfolgte nach dem Anschluss die Dienstenthebung vom Direktorposten und eine strafweise Gehaltskürzung. Er durfte allerdings Lehrer bleiben, zuerst in Baden, dann in Felixdorf, gefolgt von einer Einberufung zur Luftwaffe, dann wieder eine Lehranstellung in Felixdorf um schließlich als Lehrer bei der Studenten-Flak bei den Wiener Neustadt-Flugzeugwerken eingesetzt zu werden. An sich keine unbedeutenden Positionen. Der Einfluss auf junge Menschen war gegeben. Dabei war Franz Merzel schließlich Gründer der Badener Pfadfindergruppe St. Georg. Er gründete und organsierte ferner Pfadfindergruppen im Bezirk Baden sowie dem Triesting- und Piestingtal, war von Anfang an bei der Vaterländischen Front aktiv, Kreisjugendführer der Jungschar, leitender Jugendreferent der Niederösterreichischen Sturmscharen und stellvertretender Landes-Jugendführer des Österreichischen Jungvolkes – eine Organisation des Ständestaates, die der Jugendarbeit und Mobilisierung sowie Ideologisierung verpflichtet war. Noch dazu war er ein Vertreter Niederösterreichs in den Diözesanausschüssen in Wien und St. Pölten.19 Oder nehmen wir Ludwig Gerstorfer, frühes Mitglied der Vaterländischen Front, aktiv am Aufbau beteiligt, der zum Bezirkskassenwart und Finanzreferenten und zum Brigadekommandant der Frontmiliz aufgestiegen war. Sein Brotberuf war der des Polizisten. Es war jener Mann, der gemeinsam mit Klinger nicht gerade zimperlich gegen Nationalsozialisten vorgegangen war. Er gehörte zu denen, die zum ausgiebigen Einsatz des Gummiknüppels anregten. Zugleich bediente er sich auch dezenterer Ermittlungsmethoden, indem er Spitzel rekrutierte und in die NS-Bewegung einschleuste. Interessanterweise war er nach dem Anschluss weiterhin als Polizist tätig, mehr noch, er war als Klingers Nachfolger vorgesehen. Er war es, der Schmid nach der NS-Machtübernahme als Polizeioberinspektor, die neue Sicherheitswache vorstellte. Wenig später fand er einen Posten beim Wehrbezirkskommando. Für viele Nationalsozialisten war das eine bodenlose Frechheit und unfassbare Zumutung. Ortsgruppenleiter Maximilian Rothaler konnte es nicht begreifen, dass solche Personen weiterhin in so sensiblen Bereichen ihren Dienst versehen durften. Selbst nach Schuschniggs Rücktritt, warf Rothaler empört ein, hätte Gerstorfer bei der Polizei den Hitler-Gruß untersagt. Doch Gerstorfer hatte einen gewichtigen Fürsprecher, Franz Schmid.20 Wieso? Darüber schweigen die Quellen. Bleiben wir bei Schmids Sympathien. Davon haben wir bereits Kostproben erhalten. In den Genuss kam auch Julius Hahn, eine entscheidende Stütze des Ständestaates vor Ort. Der ehemalige Artillerie-Leutnant war Hauptgruppenleiter der Vaterländischen Front, Mitglied der Frontkämpfer, des Gemeinderats und seit 1932 Bürgermeisterstellvertreter. Nach dem Anschluss sofort entfernt und mehrmals verhaftet, wurde er anschließend zur Wehrmacht eingezogen, wo er als Hauptmann in Kriegsgefangenschaft geriet.21 Dass „nicht mehr“ passiert ist, verdankte er womöglich Franz Schmid. Wir haben bereits davon 19 Vgl. StA B, Neues Biographisches Archiv: Merzl Franz (1901–1974). 20 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Gerstorfer Ludwig und ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 42 und 114. 21 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 45.
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gelesen, wie Hahn 1936 Schmid als Idealisten und einen Mann mit an sich guten Absichten charakterisierte und wie sich Schmid bei ihm und seinem Sohn wiederum nach dem Anschluss revanchierte. Und wer, glauben Sie, lieber Leser oder liebe Leserin, wird sich 1945 erneut für Schmid einsetzen? Dazu wie immer viel, viel später mehr. Nicht immer war klar, wessen Hände über welchen Kopf gehalten wurden – zumindest geben es die vorliegenden Quellen nicht preis. Dr. Heinrich Lehne trat als ehemaliger Landesregierungskommissar, laut den ersten Überprüfungen, überaus hart gegen die nationalsozialistische Bewegung auf. Zudem konnte er keinen einwandfreien Ariernachweis vorbringen, verkehrte immer noch in monarchistischen Kreisen, und so manche gehässige Aussagen gehen ebenso auf sein Konto. Durch seine frühere Tätigkeit soll er zahlreichen Nationalsozialisten das Leben schwer gemacht haben. Über seine dienstlichen Befugnisse hinaus soll er agiert und härtere Urteile als notwendig gefällt haben. Er war bis 1936 in der Bezirkshauptmannschaft Baden tätig, wurde dann zum Obersten Gerichtshof in Wien versetzt. Eigentlich ein Nazifresser – so das Urteil eines Berichts vom 25. Mai 1939. Ein Bericht vom 16. Mai 1939 hingegen erzählt eine andere Geschichte. Er wäre zwar aufgrund seiner aristokratischen Herkunft tief im monarchistischen Milieu verankert, aber von einer Nazifresserei könnte keine Rede sein. Vielmehr wäre Heinrich Lehne selbst Opfer zahlreicher Intrigen gewesen, vor allem von Adolf Pilz. Ihm musste er jedes Urteil vorlegen, und eben jener war es, der in Bezug auf das Strafausmaß noch eines drauflegen musste. Seine Gönner schienen sich durchgesetzt zu haben, denn wenig später finden wie Heinrich Lehne bei der Vermögensverkehrsstelle in Wien. Aber der Fall Lehne wurde nicht ad acta gelegt, denn seine Kritiker gaben nicht klein bei. Sie insistierten, erinnerten an seine Gehässigkeit und warfen seine besonders guten Kontakte zum ehemaligen Wiener Bürgermeister Richard Schmitz in die Waagschale. Heinrich Lehne wurde versetzt – ins Ministerium für Wirtschaft und Arbeit. Die Kreisleitung schäumte und warnte sogar die staatlichen Stellen 1941, die Beurteilungen der Partei nicht dermaßen leichtfertig in den Wind zu schießen.22 Unverkennbare Parallelen finden wir bei Ferdinand Hofer. Seinen sicheren Posten als Regierungsbauassessor bei der Reichsstatthalterei wollte er auf keinen Fall verlieren. Allerdings gab es da ein paar Stolpersteine. Er war Christlichsozialer, Mitglied der Christlich Deutschen Turner, ein Gegner der NS-Bewegung, der im Juli 1934 mit geschultertem Gewehr eingekerkerte Nationalsozialisten in der Strasserngasse bewachte. Seine ausgestreckten Fühler Richtung NSDAP wurden durch Ortsgruppenleiter Reinöhl sowie auch Kreisleiter Hajda barsch abgewiesen – inklusive persönlicher Zuschreibungen, er sei unterwürfig und ein Streber. Beim NSKK sah die Sache anders aus. Dem trat er im Mai 1938 bei und mauserte sich zum guten Kameraden, der gewissenhaft seinen Dienst versah. Nach vier Jahren Bewährung stand 1942 seiner Aufnahme in die NSDAP nichts mehr im Wege, urteilte das Kreisgericht und torpedierte damit sämtliche Kassandrarufe der Ortsgruppe und Kreisleitung.23 22 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Lehne Heinrich (geb. 1905). 23 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Hofer Ferdinand (1902–1951).
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In beiden Fällen (Lehne und Hofer) warnten die jeweils untergeordneten Stellen die übergeordneten und fanden kein Gehör. Die übergeordneten Stellen, mit ihrer Distanz, konnten da durchaus mehr Großzügigkeit an den Tag legen – nach dem Motto: Wird schon nicht so schlimm gewesen sein. Umgekehrt gestalteten sich jene Fälle, wo sich herausstellte, dass verdiente Parteigenossen laut Nürnberger Rassegesetzen „Mischlinge“ oder gar „Volljuden“ waren und deswegen ausgeschlossen werden mussten. Hier agierten meistens die Ortsgruppen kulanter, da es sich um alte Kampfgefährten handelte. Sie sahen in ihnen keine Gefahr, während übergeordnete Behörden eher auf die Einhaltung der rassischen Richtlinien pochten, da sie keinerlei persönliche Beziehung zu den Betroffenen aufwiesen. Auf solche Fälle werden wir extra eingehen. Zuletzt sei noch die Sippenhaftung angesprochen. Das Christlichsoziale konnte schließlich abfärben. Hubert Brusatti, Bruder von Alois Brusatti und Sohn von Alois Brusatti (dem ehemaligen Sparkassendirektor) sowie Enkel von Alois Brusatti (dem kurzzeitigen Bürgermeister von Baden), verlor aufgrund dieser Familienkonstellation seine Anstellung bei der Gemeinde. Er versuchte es beim NS-Fliegerkops, aber die NSDAP blieb weiterhin skeptisch. Beim NSV klappte es dann. 1940 wurde er zur Wehrmacht eingezogen.24 Die Sippenhaftung wurde auch bei Ferdinand Wohlschlager jun. großgeschrieben. Seines Vaters Wertekompass – Ferdinand Wohlschlager sen., Oberlehrer und Leiter der Valerieschule, eingeschworener Gegner der NS-Bewegung – wirkte sich auf den Sohn dahingehend aus, dass ihm die Studienbeihilfe nicht bewilligt wurde. Um sich gut zu stellen, ging er zum NSKK. Nach 1945 zwar ein Makel, der ihm aber verziehen wurde.25 * Mit Skepsis, Ablehnung bis hin zur offenen Feindschaft bei gleichzeitiger Kooperation begegnete das NS-Regime der katholischen Kirche. Sie bot in der NS-Zeit die einzige politisch/ideologische Alternative oder „Opposition“, die durch die Machthaber geduldet wurde. Die katholische Kirche war ein Konkurrent in der Jugendarbeit und ein Sammelpunkt für Antinationalsozialisten – auch aus dem sozialistischen Lager. Trotz Verhaftungswellen, Spitzeln und Folter konnte die Organisationsstruktur der katholischen Kirche nie restlos zerschlagen werden.26 Schmerzlich waren die Kirchenaustritte. Die Badener Pfarre St. Stephan verzeichnete 1938 300 Austritte, ein Jahr später schnellte die Zahl auf 900 hinauf, fiel dann im nächsten Jahr auf 77. Die Kirchenaustritte blieben noch in den kommenden Jahren fühlbar, wobei gleichzeitig die ersten verlorenen Schäfchen langsam, aber doch wieder 24 Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti (Familie), S. 32 und GB 052/Personalakten: Brusatti Hubert (geb. 1913). 25 Vgl. Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Wohlschlager Ferdinand jun. (1921–1970). Ferdinand Wohlschlager sen. (1887–1948) und GB 052/Personalakten. 26 Vgl. MULLEY, Niederdonau: Niederösterreich im „Dritten Reich“, S. 73–103, hier 96.
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zum Hirten zurückfanden.27 Die katholische Kirche als Institution betrieb keinen offenen Widerstand. Sie agierte loyal, doch war diese Loyalität durchaus labil. Diese labile Treue zum Nationalsozialismus musste ständig der Überprüfung und Kontrolle unterzogen werden. Neben den Standardfragen in den Beurteilungsbögen (Ist er Arier?) fanden sich noch Kategorien wie: Ist der Geistliche ein Rednertalent? Verfügt er über Organisationstalent? Wie Rom-treu ist der Betroffene wirklich? Den Kreispersonalamtsleiter interessierte ferner, ob eventuell Frauengeschichten oder homosexuelle Neigungen vorlägen und sonstige intime Details, die die Betroffenen kompromittiert hätten.28 An Stefan Kulcsar, einem Geistlichen im Marienspital, hatten die NS-Stellen nichts auszusetzen. Der Mann war 76 Jahre alt, hatte keine Frauengeschichten, er predigte nicht und wenn doch, dann glänzte er mit mangelndem Rednertalent. Ein dem Papst treu ergebener, jedoch politisch uninteressierter Geistlicher. Vielmehr tangierte ihn angeblich das eigene leibliche Wohl. Zusammenfassend also: keine Gefahr für den Nationalsozialismus. Misstrauen erweckte hingegen Josef Koch, Kaplan der Pfarre St. Stephan. Er war ein begabter Redner, beliebt bei seiner Gemeinde und ein streitbarer und intelligenter Verfechter des politischen Katholizismus. Ein Predigt- oder Unterrichtsverbot wurde vorerst nicht ausgesprochen. Anders bei seinem Vorgänger, dem Kaplan Robert Lux, der den Mund zu weit aufgerissen hatte.29 Mehr als die Stadt Baden verursachte der Landkreis Baden der NS-Führung religionspolitisches Kopfzerbrechen. Der Pfarrer von Günselsdorf und Teesdorf Leopold Rosta soll die Bauern gegen die NS-Herrschaft aufgewiegelt haben, der Pfarrer von Klausen-Leopoldsdorf Leopold Prims weigerte sich, eine Sonderspende für die Kreisleitung herzugeben, während der Pfarrer von Siegenfeld Edmund Sack provokant die Glocken läuten und die Kirche erleuchten hatte lassen – es war halt der 25. Dezember – und Jugendlichen jene Vereine auszureden versuchte, in denen kirchenfeindliche Lieder gesungen wurden.30 Diesbezüglich war das NS-Regime ganz besonders in Sorge, dass die Jugend bloß nicht in falsche Gesellschaft gerate. Menschen wie der Theologiestudent Johann Rath, ein Christlichsozialer, Angehöriger der VF, mit dem Ziel, Priester zu werden oder zumindest Religionslehrer, durfte auf keinen Fall auf die Jugend losgelassen werden. Von Haus aus streng katholisch erzogen, wurde er 1940 zuerst einmal eingezogen. Moralisch hatte man an ihm nichts auszusetzen, aber seiner starken konfessionellen Bindung mussten Grenzen auferlegt werden. Gegen eine Verwendung als Lehrer werden dann keine Bedenken zu erheben sein, wenn er an einer Schule untergebracht wird, in der sich der Lehrkörper vorwiegend aus bewährten Nationalsozialisten zusammensetzt. Dieser Schulort müsste auch weit von seinem Elternhaus entfernt sein, da er sonst unter dem bisherigen Einfluss stünde.31 27 Vgl. MAURER, Baden. St. Stephan, S. 347. 28 Vgl. MAURER, MAURER, Gestapo – Vertraulich!, S. 2–5. 29 Vgl. GB 052/Verfolgung III; Fasz. I Geistliche-Gestapo und MAURER, Baden. St. Stephan, S. 348 und MAURER, MAURER, Gestapo – Vertraulich!, S. 15f – Josef Koch (1909–1975). 30 Vgl. MAURER, MAURER, Gestapo – Vertraulich!, S. 24f, 62. 31 StA B, GB 052/Politi. Beurteilungen: Rath Johann (geb. 1915).
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Dem Kaplan von Pottendorf Thomas Schliefelner wurde ebenso ein zu großer Einfluss auf die Jugend zugesprochen. Die HJ hatte er ganz in seiner Gewalt, weswegen mit den Buben überhaupt nichts anzufangen war.32 Und auch der Pfarrer von Pottendorf, Arnold Dolezal, dem ebenso eine verbale Verführung der Jugend vorgeworfen wurde – er scharte die Jugend förmlich um sich, er konnte predigen und er predigte gegen den Nationalsozialismus – war den NS-Machthabern ein Dorn im Auge. 1939 wurde er zuerst in Schutzhaft genommen und anschließend aus seiner Pfarre ins Wiener „Exil“ verbannt.33 Der Zisterzienserpater Valentin Lindner kam ebenso zuerst in Schutz, nachdem er verkündet hatte, dass Christus der Führer sei und sonst niemand. Nach einer Entschuldigung für die ungeschickte Wortwahl kam er letztendlich mit einer Verwarnung davon.34 Ein religiöser Störfaktor im Kreis war, wenig verwunderlich, das Stift Heiligenkreuz. Renitent zeigten sich Kaplan Michael Rustler, der nicht einmal dem NSV beizutreten gedachte, Dechant Franz Goldstein, dem ein jesuitischer Charakter zugeschrieben wurde, soll während der Verbotszeit extra früher aufgestanden sein, um illegal verstreute NS-Flugzettel aufzusammeln und zu vernichten, und der Pfarrer Heinrich Karl Braunstorfer, der ohne Druckerlaubnis unter anderem Flugblätter wie „Katholiken der Pfarre Heiligenkreuz“ produzierte und verteilte.35 Die Kreisleitung und Ortsgruppe hatten so ihre „Probleme“ mit den Ordensbrüdern. Ich kann in diesem Falle nur aussagen, dass die gesamte Pfaffenbrut gegen die Bewegung arbeitet, wo es nur möglich ist, und dann nur so, dass man ihnen nichts nachweisen kann.36 Weniger „aktionistisch“ eingestellt war der Badener Pfarrer Josef Stoiber. Im Jahr 1931 trat er sein Amt in der Pfarre St. Stephan an. Er widmete sich zuerst ganz profanen Dingen, wie dem Bau einer Leichenhalle oder der Elektrifizierung, er arrangierte sich mit den katholischen Vereinen und wusste zudem liturgische Neuerungen einzuführen. Er war nicht unbedingt ein politischer Geistlicher, doch dem christlichen Ständestaat und seiner kirchenfreundlichen Politik konnte er durchaus etwas abgewinnen. Auf die neuen NS-Machthaber, vermerkte er in seinem Gedenkbuch, sei kein Verlass, da jene wortbrüchig agierten. Danach entfällt weitgehend jeglicher Kommentar seinerseits. Sein Verhalten wurde nach 1945 den widrigen Umständen entsprechend als „mit Würde und Haltung“ bezeichnet.37 Nicht unähnlich der Pfarrer von Schönau, Josef Wernhart, er behandelt in seinen Predigten nur kirchliche Themen, zitiert hier und da den Führer und nimmt öfters gegen den Bolschewismus Stellung. Einige Artikel gegen den Nationalsozialismus, die in seiner Pfarrzeitung erschienen sind, dürften auf bischöflichen Befehl hin gedruckt worden sein. Er lebt zusammen mit seiner 32 MAUERER, MAURER, Gestapo – Vertraulich!, S. 73. 33 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Dolezal Arnold (1902–1978) und MAUERER, MAURER, Gestapo – Vertraulich!, S. 16–22. 34 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/time (10.04.2023). 35 Vgl. MAURER, MAURER, Gestapo – Vertraulich!, S. 28–30 u. 37–40. 36 MAURER, MAURER, Gestapo – Vertraulich!, S. 29. 37 Vgl. GB 052/Verfolgung III; Fasz. I Geistliche-Gestapo, f. 49 und MAURER, Baden. St. Stephan, S. 371 – Josef Stoiber (geb. 1871).
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Schwester sehr zurück gezogen.38 Sich seinem Schicksal zu fügen, die innere Emigration anzutreten, war ein probates Mittel, um den Nationalsozialismus zu überleben – auch für Priester. Tragisch – vor allem im Kontext eines Geistlichen – war der gewählte Ausweg des langjährigen Kaplans der Pfarre St. Stephan, Dr. Franz Romstorfer. Als Mitbegründer der Mittelschulverbindung Badenia und der Pfadfinder in Baden konnte er sich alles andere als mit dem Nationalsozialismus identifizieren. Seine Schwester beschrieb nach 1945, wie ihr Bruder mit der Zeit gebrochen wurde. Franz Romstorfer war ein begnadeter Prediger, der kämpferisch auftrat und sich von niemandem den Mund verbieten ließ. Doch bei Verhaftung und Folter stieß er mit seinem Glauben an seine menschlichen Grenzen. Als man ihn freiließ, war er ein gebrochener Mann. Man hatte ihn zum Irren geprügelt, um es mit den Worten seiner Schwester zu sagen. Ihr Bruder wurde danach von Nervosität, Angstzuständen und Verfolgungswahn geplagt. Als sie ihn einmal bei der Körperpflege überraschte, sah sie seinen gemarterten Körper. Franz Romstorfer zog zu seinem Bruder nach Enzesfeld. Dort, am 16. September 1941, erhängte er sich. Suizid in geistiger Umnachtung wurde niedergeschrieben. Suizid in geistiger Vollmacht durfte es keiner sein. Das wäre Sünde und er war schließlich ein Mann Gottes gewesen.39 Man musste nicht den Talar tragen, um wegen seiner Religiosität ausgegrenzt, schikaniert oder verfolgt zu werden. Eine zu starke konfessionelle Gebundenheit kostete den Sonderschullehrer Maximilian Unterreiter die Parteimitgliedschaft. In Baden setzte der Anwärter deutlich braune Signale. Das rote Büchlein war in Greifweite. Doch dann kam der örtlichen NSDAP zu Ohren, dass er im Sommerurlaub in Aggsbach-Dorf eifrig die Heilige Messe aufsuche, mit dem dortigen Pfarrer überaus freundlich verkehrte, und seine Frau, die dort die Erstkommunion leitete, betete in der Kirche vor und kniete beim Altar. Sie versprach auch dem Pfarrer, dafür Sorge zu tragen, dass wieder alle Kinder in die Kirche gehen und die aus der Kirche ausgetretenen Erwachsenen wieder zurückkehren.40 Solche Janusköpfigkeit war für die NSDAP nicht tragbar. Institutionell ging dem katholischen Milieu in Baden im Herbst 1938 das Katholische Gesellenhaus in der Valeriestraße 10 verloren. Es wurde von der HJ beschlagnahmt und als Übergangshaus benutzt. Auch das katholische Vereinsleben wurde weitgehend zerschlagen. Übrig blieb noch die Marianische Kongregation, da diese formal nicht als Verein konstituiert war. Doch war das kein Hindernis, um Zusammenkünfte zu verbieten, Immobilien zu besetzen und den Mitgliedern das Leben so schwer wie nur möglich zu machen.41 Katholische Literatur wurde zurückgedrängt, der Vertrieb erschwert, kirchliche Umzüge galt es 38 MAURER, MAURER, Gestapo – Vertraulich!, S .6. 39 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 40 und StA B, Oral History und LIEBMANN Maximilian, SCHUSCHNIGG Heiner et. al., Für Staat und Kirche zum Tode verurteilt. Antifaschistische Freiheitsbewegung Österreich (Wien 2001), S. 76–79 – Franz Romstorfer (geb. 1900). 40 Vgl. StA B, Polit. Beurteilungen: Unterreiter Maximilian (geb. 1890). 41 Vgl. MAURER, Baden. St. Stephan, S. 348.
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einzuschränken – aus verkehrspolitischen Gründen, versteht sich. Der Fronleichnamsprozession wurde verboten, an öffentlichen Gebäuden vorbeizumarschieren. Das Streuen von Gras wurde untersagt – aus Gründen der sparsamen Bewirtschaftung. Die Teilnehmer standen unter Beobachtung. Polizeichef Gutschke erteilte im Juni 1943 die Weisung: unauffällig zählen, wie viel Männlein, Weiblein, Schuljungen, Schulmädel, Kirchenfahnen, bekannte Persönlichkeiten, Beamte in Uniform, Soldaten. 200 Kinder beiderlei Geschlechts wurden gezählt, 70 Männer, 300 Frauen, 28 Nonnen, acht Pfarrer, zwölf Ministranten, vier Bläser, sechs männliche und 26 weibliche Sängerinnen, ein Sanitätsfeldwebel, zwei Landseer und ein Flaksoldat in Uniform. Der zuständige Beamte berichtete, bei der Abräumung der Altäre haben sich tumultartige und unglaubliche Szenen abgespielt. Zumeist Frauen haben sich um die auf den Altären angebrachten Blumen und das Waldgrün gerauft. Das Waldgrün wurde von den Gittern förmlich abgerissen.42 Manchmal waren es Kleinigkeiten, bei denen der NS-Staat seinen Schikane-Hebel ansetzen konnte. Als in der Sakristei im Stift Heiligenkreuz im Juni 1939 ohne behördliche Genehmigung Restaurierungsarbeiten vorgenommen wurden, rückte gleich einmal die Gendarmerie aus. Letztendlich war alles nur aufgebauscht worden. Wirkliche Restaurierungsarbeiten waren es gar nicht, bloß Entstauben und Entrußen, unter der Führung des kunstbewanderten Abtes.43 Neben dem Profanen konnte es auch metaphysisch werden. Die Kreisleitung in Baden verbot die Beifügung Pg. (Parteigenosse) auf Parteizetteln. NSSeelen kamen nach Walhalla und nicht ins christliche Himmelsparadies – wobei beide angeblich von alten und bärtigen Männern beherrscht werden sollen. * Aktionen gegen die katholische Kirche, das katholische Milieu oder den Glauben, die Religiosität an sich waren alles andere als förderlich, um die Popularität des Nationalsozialismus in die Höhe zu treiben. Besonders bei jenem Bevölkerungsteil, der jeglichen Veränderungen und Neuerungen stets misstrauisch gegenüberstand. Baden war eine Kurstadt, aber die bäuerliche Bevölkerung machte einen großen Teil davon aus. Der Weinbau dominierte. Religiosität und Brauchtum spielten eine entscheidende Rolle und bildeten einen zentralen Identitätsanker. Der Umgang des NS-Regimes mit jenem Milieu war leicht widersprüchlich. Einerseits wurde es mythologisch und historisch überhöht, man sprach von Grund und Boden, der Scholle, dem Reichsbauernstand, dem Reichsnährstand, den Ernährern des germanischen Volks, und zugleich griff man in essentielle Bereiche dieser Menschen ein. Produktions- und Preiskontrollen, kombiniert mit Eingriffen in das Erbrecht, sowie ein Kampf gegen Alkoholmissbrauch, der sogar zu Besachwaltung und Verlust des Besitzes führen konnte. Der Unmut ließ nicht lange auf sich warten. Es war eine Geringschätzung 42 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierunge, Liquidierungen, Repression; Mappe: Kirchliche Angelegenheiten. 43 Vgl. NÖLA, BH Baden, V / 43–46 A-H 1939; V-44.
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gewachsener Arbeitsweisen sowie der Religiosität und des damit verbundenen Brauchtums. Anfänglich hatte es noch ganz gut ausgesehen. Hans Löw verkündete bereits im März 1938 als kommissarischer Leiter der Bezirksbauernkammer, dass es verbilligten Kunstdünger geben würde, und drei Tage darauf, dass das Reich die österreichischen Weinüberschüsse übernähme. Die Badener Weinhauer brauchten vorerst nicht zu sudern.44 Und es kam noch besser: „Die Verschuldung übernimmt das Reich“, versprachen die neuen Herren. Doch das war alles an Bedingungen geknüpft. Das NS-Regime wollte die Kontrolle über die landwirtschaftlichen Erzeugnisse – vom Anbau bis zum Verkauf an den Endverbraucher. Die Begeisterung verflog rasch, denn die Bauernschaft war nur schwer zu motivieren, ein jahrzehnte- wenn nicht ein jahrhundertealtes System/Standesbewusstsein umzustellen. Wenn dann noch Experten aus dem Altreich daherkamen – jung an Jahren – und anfingen, fachliche Expertisen inklusive ideologischer Verbrämung zu verkünden, kann man sich die Stimmung der „g’standenen“ Weinhauer ganz gut vorstellen. Die anfänglichen Lockmittel verpufften alsbald, viele der Bauern tat nicht das, was von ihnen verlangt wurde, und das Regime griff zu den üblichen Methoden: Drohungen, Geldstrafen, Kerker, Beschlagnahmungen oder der Sohn und Hoferbe wurde plötzlich eingezogen. Die Kirchenfeindlichkeit tat ihr übriges. Im Sommer 1943 meldete der Landrat der Reichsstatthalterei: Allgemein wird bemerkt, dass der Kirchenbesuch stark zunimmt und besonders in der bäuerlichen Bevölkerung das Wort der Geistlichen mehr gilt als Maßnahmen der Regierung.45 Die Kontrolle und Umsetzung der NS-Landwirtschaftspolitik oblag vor Ort den Ortsbauernführern, Bürgermeistern und den NSDAP-Ortsgruppenleitern. Manchmal arbeiteten sie mit den Bauern zusammen, manchmal gegen sie, was zur gnadenlosen Denunziation führen konnte.46 Wir werden auf dieses Wechselspiel noch zu sprechen kommen, wenn kriegsbedingt der Mangel an Lebensmitteln zunahm, Landwirte dadurch an Macht gewannen (Schwarzmarkt) und gleichzeitig verstärkt in den Fokus des NS-Regimes gerieten. Wie auf anderen Gebieten, so blieb den Nationalsozialisten auch im landwirtschaftlichen Bereich nichts anders übrig, als auf die verfügbaren Experten zu setzen, falls man selbst keine vorzuweisen hatte. Im Dezember 1939 stand die Funktion des Ortsbauernführers der Ortsgruppe-Weikersdorf zur Disposition. Es fiel der Name Alois Reichspfarrer. Den Posten als Ortsbauernführer verdankte er seiner fachlichen Kompetenz und der Kompetenzlosigkeit anderer. Außerdem riet ihm der ehemalige CSP-Gemeinderat, Weinhauer und Vizebürgermeister nach 1945, Leopold Breinschmidt, die Funktion des Ortsbauernführers zu übernehmen. Ganz nach dem bekannten Motto: Besser einer von uns als ein echter Nazi. PG wurde Alois Reichspfarrer nie, PA schon und Ortsbauernführer blieb er nicht einmal 44 Vgl. BZ Nr.24 v. 23.03.1938, S. 1 und BZ Nr. 25 v. 26.03.1938, S. 3. 45 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Juni 1943. 46 Vgl. LANGTHALER, Eigensinnige Kolonie, S. 348–375 und LANGTHALER Ernst, Nahe und entfernte Verwandtschaft. In: Stefan EMINGER, Ernst LANGTHALER (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik, S. 687–710.
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ganze sechs Monate. Mitte Juni 1940 wurde er eingezogen. Die erbetene Hinausschiebung des Einrückungstermins um 14 Tage, wegen dringender Weingarten- und Feldarbeit, wurde nicht bewilligt. Der Hinweis auf seinem Aufnahmebogen „Vorsicht schwarz“ hatte seinen Schatten voraus geworfen.47 Aus dem christlichsozialen Lager kam ebenso der Weinhauer Anton Habres. Stets die Interessen des Badener Weinbaus vor Augen, trat er als Angehöriger der Kreisbauernschaft der NSDAP bei, jedoch aus der Kirche nicht aus. Die NS-Stellen rümpften ihre Nasen. Dass ihm mit der Zeit die Lust an der Parteiarbeit abhandenkam, wurde ihm besonders verübelt. Trotz fünfjähriger Parteimitgliedschaft war er weit davon entfernt, ein waschechter Nazi zu sein, was auch zu seiner Streichung von den Registrierungslisten führte. Hierbei hatte er einen gewichtigen Fürsprecher, den KPÖ-Gemeinderat Leopold Vogel.48 Als jener nämlich im KZ interniert war, sorgte der schwarze Habres für dessen dunkelrote Familie.49 Während die Bauern (Hofherren) dem Nationalsozialismus, wie auch anderen politischen Ideologien, skeptisch gegenüberstanden, hatte das NS-Regime bei den Knechten und Mägden deutlich mehr Erfolg. Der Erfolg war allerdings so groß, dass eine Landflucht einsetzte bzw. jene, die vor dem Anschluss schon akut war, noch mehr an Intensität gewann. Um dem zu begegnen, griffen die Machthaber zu bekannten Mitteln. Jeder, der den Hof verließ, wurde kurzerhand als Volksschädling und Verräter der nordischen Rasse gebrandmarkt. Die Badener Zeitung wurde nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen. Letztendlich half alles nichts. In der Stadt gab es besser bezahlte und einfachere Arbeit. Da halfen weder die Verdammung noch eine Blut-und-Boden-Ideologie und das Herbeifantasieren von mythologisch verklärten Reichsbauernnährständen auf germanischen Schollen.50 * Als ehemalige Kaiserstadt, bedingt durch die kaiserliche Kur oder das Armeeoberkommando (AOK) im Ersten Weltkrieg, wies Baden eine traditionelle Nähe zum Monarchismus und Legitimismus auf. In der Ersten Republik und dem Ständestaat hatten zahlreiche Repräsentanten dieses Milieus in Baden ein regelmäßiges Stelldichein. Versammlungen, Vorträge und sonstige Festivitäten waren keine Seltenheit. Gastredner wie Arthur von PolzerHoditz (ehemaliger Kabinettsdirektor von Kaiser Karl I.), Emil Homann von Herimberg (Verwaltungsbeamter und Minister unter Kaiser Franz Josef ) oder Hans Karl von Zeßner47 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Reichspfarrer Alois (1905–1964). 48 Leopold Vogel (1901–1963). 49 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Habres Anton (geb. 1901). 50 Vgl. BURR BUKEY Evan, Die Stimmung in der Bevölkerung während der Nazizeit. In: Emmerich TÁLOS, Ernst HANISCH et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 73–87 und vgl. BRUCKMÜLLER Ernst, REDL Josef, Land der Äcker. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst et al. (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 2: Wirtschaft, S. 165–218.
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Spitzenberg (Jurist, CSP-Politiker, der ebenso das Vertrauen Karl Renners genoss), waren gern gesehene Gäste. Und nicht zu vergessen die Habsburger, wo manches Familienmitglied weiterhin der Kurstadt seine Aufwartung machte.51 Die Haltung der Nationalsozialisten gegenüber Legitimisten war zwiespältig. Der Adel bildete keine Masse, aber es waren Personen, die über einflussreiche Netzwerke verfügten und von denen nicht wenige eine vorzeigbare militärische Laufbahn vorweisen konnten. Das konnte für das NS-Regime gefährlich und förderlich zugleich sein. Wenn es gerade erforderlich war, versuchten die NS-Machthaber, den Einfluss dieser Herrschaften herunterzuspielen oder aber den Einfluss hochzuspielen, um ein restriktives Vorgehen zu legitimieren. Als 1944 das Stauffenberg-Attentat scheiterte und Ermittlungen aufgenommen wurden, schlugen die Wellen bis nach Baden und einige der üblichen Verdächtigen wurden verhaftet. Das Adelige verlor trotz 1918 nicht vollkommen an Glanz und Glamour. Gleichzeitig galt der adelige Standesdünkel als unzeitgemäß, als altbacken und verschroben – also dem propagierten Modernismus des Nationalsozialismus zuwider. Wir treffen Adelige in hohen Positionen, Politiker, Diplomaten bis zu Generalfeldmarschällen, und damit als treue Verbündete des NS-Regimes. Und wir haben sie genauso als NS-Gegner, Widerstandskämpfer und Opfer. Zu den Blaublütigen in Baden gehörte Egon Freiherr von Bolfras. Er stand dem NSStaat ablehnend gegenüber. Sein Lebenslauf, den er 1940 erstellte, glänzte durch eine einwandfreie militärische Karriere. Als Offizier im Ersten Weltkrieg brachte er es zum Oberst im Generalstabskorps sowie zu zahlreichen Auszeichnungen. Nach 1918 war er bei der Heimwehr, den Frontkämpfern und bei der Vereinigung Katholischer Edelleute. Seine Ablehnung des NS-Regimes war laut Gestapo eindeutig. Er bewegte sich in nur einschlägigen Kreisen, legte ein ausgesprochenes Standesbewusstsein an den Tag und in seinem Lebenslauf wies er explizit auf seine adelige Herkunft hin. Details, wie, wann und von wem die Erhebung der Familie in den Freiherrnstand erfolgte, durften nicht fehlen – es war unter der Regentschaft von Kaiser Rudolf II. (1576–1612) gewesen. Seine Wiederaufnahme ins Offizierskorps stieß daher auf abwehrmäßige Bedenken.52 Ein Verwandter hingegen, Roderich Bolfras, Sohn des k.k. Hauptmanns Arthur von Bolfras, ebenso in Baden ansässig, galt für den NS-Staat trotz des Adelsstands als ungefährlich. Am Ende des Ersten Krieges zum Oberst befördert, wurde er bei der Pavia-Schlacht schwer verwundet, litt danach an Nervosität und einer chronischen Kniegelenksentzündung. Psychisch und physisch versehrt – noch dazu war die Monarchie Geschichte, der Kaiser im Exil (wenig später tot), d.h. seine Welt lag in Trümmern –, beschloss er 1923, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch es wollte nicht klappen, er durchschoss sich „nur“ die Lunge, und sein Leben ging weiter. Vier Jahre später, 1927, verlor sein Schwiegersohn sein gesamtes Vermögen, was dazu führte, dass Roderich Bolfras seine Tochter und zwei Enkelkinder zu erhalten hatte. Fünf Jahre später, 1932, verlor er seine Frau. Die 70 überschritten, lebte er 51 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 95–100. 52 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Bolfras Egon (geb. 1875).
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nun, wie er schrieb, sehr bescheiden, aber zumindest in geordneten finanziellen Verhältnissen.53 Vor so einem Menschen mussten die Nationalsozialisten keine Angst haben – trotz des in Baden prominenten Namens. Ganz anders im Falle von Martin Schobel. Als eingefleischter Legitimist, vom Sieg des Österreichertums überzeugt, schriftstellerisch für katholische Zeitschriften tätig, eingebunden in die monarchistischen Kreise Badens und Wiens, militärisch ausgebildet und Teilnehmer an der Niederschlagung der Februarkämpfe, stand er unter strenger Beobachtung.54 Der „berüchtigtste“ Blaublüter in Baden war wahrscheinlich der Kavallerie-Offizier a.D. Oberstleutnant Richard Kiefhaber-Marzloff. Er galt als besonders renitent und sein Ruf eilte ihm voraus. Gleich nach dem Anschluss, so schilderte Ernst Röschl, erschien bei ihm die SA und beabsichtigte, ihn mit Arbeiten wie dem Putzen von Toilettenanlagen zu demütigen. Da man ihn zu Hause nicht vorfand, verschleppten die SA-Schergen seine Frau und Tochter. Als der ehemalige Oberstleutnant davon erfuhr, eilte er nach Hause, zog seine k. u. k. Uniform an und paradierte mit Klobesen und Saugglocke durch die Straßen, um seinen Klodienst anzutreten. Die SA fühlte sich brüskiert und dürstete nach Rache, zumal Richard Kiefhaber-Marzloff nicht abgeneigt war, die Fäuste gegen NS-Sympathisanten sprechen zu lassen. Er war vor dem Umbruch einer der gehässigsten Verfolger des Nationalsozialismus, und auf seine Initiative ist es zurückzuführen, dass gefangene Nationalsozialisten geschlagen wurden.55 Noch kurz vor dem Anschluss, berichtete die Polizei, war der 58-Jährige in eine Schlägerei mit den zukünftigen Machthabern verwickelt. Danach erfolgte das übliche Prozedere: Verhaftung, Einkerkerung, Verhöre. Unterkriegen ließ er sich davon nicht. Laut mehreren Parteigenossen habe er, trotz Anweisung des Luftschutzwartes, bis heute seinen Dachboden nicht entrümpelt, nur um zu demonstrativ zu zeigen, dass er heute noch ein verbissener Gegner der Bewegung sei.56 Nach dem fehlgeschlagenen Bombenattentat auf Hitler vom November 1939 wurde er an seinem Arbeitsplatz, in der Heilanstalt Alland, nach seiner Meinung gefragt, worauf er wortwörtlich erwiderte „Na und“. Er brachte diese Äußerung fast in einem höhnischen Ton vor […].57 Die Kontoristin war empört, ihre Kollegin bemerkte sogar noch ein ironisches Lächeln und der Buchalter bestätigte seine „Wurschtigkeit“ gegenüber dem fehlgeschlagenen Attentat. Dass so jemand als abwehrmäßig bedenklich und politisch unzuverlässig galt, versteht sich von selbst. Auch wenn ihm seine zumeist adeligen Standesgenossen im Wehrmeldeamt Baden seine Würdigkeit hervorhoben, seinen festen und impulsiven Charakter, seinen guten Ruf innerhalb der Kameradschaft, seinen einwandfreien Lebenswandel oder sein in hohem Grade gelebtes Standesbewusstsein.58
53 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Bolfras Roderich (geb. 1870). 54 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Schobel Martin (geb. 1905). 55 StA B, GB 052/Personalakten: Kiefhaber-Marzloff Richard (1880–1955) – Landrat an Gestapo (14.12.1938). 56 Ebd. – Bericht der Ortgruppe Baden-Stadt, Zelle 6 (06.09.1939). 57 Ebd. – Meldung an Landrat (22.11.1939). 58 Vgl. ebd. Wehrbezirkskommando Baden (22.11.1938).
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Für das NS-Regime war genau Letzteres ein Dorn im Auge. Richard Kiefhaber-Marzloff stand unter Beobachtung. Der Sicherheitsdienst (SD) war auf ihn angesetzt. Er wurde überwacht, seine Post mitgelesen, sodass die Behörden bestens darüber informiert waren, wer bei ihm aus- und einging – was besonders wichtig war, denn sein Haus galt als Hort des Legitimismus. Dazu gehörte Karl Hartl, ein Legitimistenführer, dessen Verhalten als besonders verdächtig beschrieben wurde, weil er immer wieder nach England reiste (mit Gebäck hin, aber ohne zurück), weil er mit der Tochter des Gastgebers Helli Kiefhaber-Marzloff regelmäßig nach Wien fuhr (angeblich zum Zahnarzt) und weil er regelmäßiger Gast der jüdischen Familie Knopf war und sich nicht scheute, mit einzelnen Familienmitgliedern öffentlich auf der Straße zu plaudern.59 Hierbei handelte es sich unter anderem um Albert Knopf, Oberinspektor d. Österreichischen Nationalbank a.D., und den Juristen Dr. Fritz Knopf. Das Interesse der Gestapo war geweckt.60 Im Dunstkreis des schwer zu fassenden Oberstleutnant a.D. Kiefhaber-Marzloff, den selbst Alois Klinger nach 1945 als eine Person mit allseits bekannten Allüren charakterisierte, agierte der ebenso schwer zu fassende Paul Koppel. Dieser selbst pflegte sich als Paul von der Koppel zu titulieren und als vermögender Industrieller mit österreichischem Pass aufzutreten. Obendrein galt er als Schwiegersohn in spe seines Gastgebers Kiefhaber-Marzloff – Detail am Rande, auch der zuvor erwähnte Karl Hartl galt ebenso als Schwiegersohn in spe. Die NS-Behörden hatten ein Auge auf ihn geworfen, genauso die Behörden nach 1945. Das meiste, was der Mann so von sich gab, stellten sie in Abrede und ordneten dringend Nachforschungen an. Zu sehr misstraute man seinem „Schwiegervater“, dem man aufgrund seiner Kontakte zu Polizei und Behörden zutraute, mit Leichtigkeit eine falsche Identität bereitzustellen.61 Es waren aber nicht nur Erwachsene von‘s, die sich regelmäßig den Zorn des NS-Regimes zuzogen. Margarethe Dietrich, Schülerin der Frauengasse, erinnerte sich noch ganz genau, dass der neue Direktor Sepp Ringler es nicht nur auf jüdische Schülerinnen abgesehen hatte, sondern ebenso auf Mädchen aus adeligem Hause. Schikanen und Demütigungen aller Art musste vor allem Maria-Theresia von Kloss aushalten.62 Mehrere Faktoren waren ausschlaggebend, weshalb sie sich den Hass Ringlers zugezogen hatte: Ihre adelige Abstammung per se. Die NS-Angst vor einer Restauration. Der Hass auf Habsburg – das Familienoberhaupt war schließlich unwillkommen im Dritten Reich – und ihre Mutter war eine geborene Habsburgerin. Erzherzogin Eleonora von Habsburg, die in morganatischer Ehe mit Korvettenkapitän a.D. Alphons von Kloss lebte und acht Kinder zu Welt gebracht
59 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 39 und www.jewishhistorybaden.com/time (10.04.2023) – Karl Hartl (geb. 1911), Helli Kiefhaber-Marzloff (geb. 1917). 60 Albert Knopf (geb. 1875), Dr. Fritz Knopf (geb. 1908). 61 Vgl. GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Koppel Paul (geb. 1891). 62 Vgl. WOLKERSTORFER Otto, Baden 1942. Wir sparen für den Krieg Der Krieg rückt näher (Baden 2003), S. 47 und WIESER, Baden 1938, S. 4 – Maria-Theresia von Kloss (geb. 1925), Erzherzogin Eleonora von Habsburg (1886–1974), Alphons von Kloss (1880–1953).
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hatte. Und hinzu kam, dass ihr um neun Jahre älterer Bruder, Rainer von Kloss, am Anschlusstag als einziger von der Waffe Gebrauch gemacht und auf SA-Leute gefeuert hatte. Der wichtigste Faktor ist jedoch, um hier keine Täter-Opfer Umkehr zu betreiben, dass Direktor Sepp Ringler ein offenbar sadistisch veranlagter und komplexbehafteter Mensch war, der es mit seinen 51 Jahren nötig hatte, auf ein 13-jähriges Mädchen loszugehen. Laut einer im Stadtarchiv aufliegenden Liste befanden sich nach Kriegsende 39 Adelige in Baden. Ziel der Erhebung war das Wieder-Inkrafttreten der 1919 erlassenen Adelsgesetze. Ferner geht hervor, welche Adeligen sich dem NS-Regime angeschlossen hatten. Von den 39 waren es vier, die eindeutig als überzeugte Nationalsozialisten auftraten. Grete von Wallner, geborene Fürliner, Parteimitglied seit 1933 und illegal aktiv. Und die bereits öfters erwähnten Fritz von Reinöhl (Ratsherr, Ortsgruppenleiter), Walter von Gimborn (SS-Sturmführer, Beisitzer beim Kreisgericht) und Rechtsanwalt Graf Anton Attems. Als Parteimitglied hätten wir noch Dr. Heinz von Fries, der jedoch laut Aktenlage aus beruflichen und nicht aus ideologischen Gründen sich dem NS-System zuwandte. Gleiches könnte auf Theobald Schmidt von O’Hegy zutreffen. Als Bezirkshauptmann a.D. wies er eine Mitgliedsnummer, die die 8,5 Millionen überschritt, auf. Selbst die üblichen Mitgliedsnummern der Märzveilchen bewegten sich im Bereich der 6 Millionen.63 * Neben den Adeligen waren es die Militärs, und hier besonders die alten Offiziere (wiederum oftmals Adelige) samt ihrer Sozialisation in der kaiserlichen Armee, die das NS-Regime misstrauisch beäugte. Nach dem verlorenen Krieg und dem Zusammenbruch der Monarchie mussten zahlreiche k. u. k.Offiziere ihr Auskommen anderwärtig finden. Das neue Militär der Bundesrepublik Österreich hatte für sie alle keinen Platz. In Baden fanden sich einige im Casino als Croupiers wieder oder konnten sich – obwohl kein Militär, aber ehemaliger Kabinettsdirektor von Kaiser Karl I. – wie Arthur von Polzer-Hoditz endlich der Malerei widmen. Nach dem Anschluss witterten manche die Chance, bei der Wehrmacht unterzukommen. Andere witterten, dass sich der Dienst in der deutschen Wehrmacht mit ihrem in der kaiserlichen Armee gelebten militärischen Ehrenkodex nicht unter ein Dach bringen lassen würde. Die Nationalsozialisten ahnten Ähnliches. Den Betroffenen würde die nationalistische Ausrichtung fehlen, stattdessen unterstellte man ihnen einen aristokratischen Internationalismus oder eine vollkommen unpolitische Haltung. Dementsprechend sind die Beurteilungen formuliert. So lesen wir bei dem Kriegsinvaliden Rittmeister i.R. Paul Barta: Er ist ein typischer alt-österreichischer Offizier, und es ist aus seinem Benehmen zu entnehmen, dass es ihm als Soldat ganz gleich ist, ob er jetzt für eine nationale oder internationale Idee zu kämpfen hat, sondern dass er jeweils der regierende Macht als solcher dient.64 Vor63 Vgl. Entnazifizierung I; Fasz. III; Adelige – Grete von Wallner (geb. 1899), Theobald Schmidt von O’Hegy (geb. 1888). 64 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Barta Paul (1876–1945).
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sicht war geboten. Und der gleichaltrige Oberstleutnant a.D. Louis Belfanti scheint zu den altösterreichischen Offizieren gehört zu haben, die eine nationale Einstellung nicht kannten und denen auch für die Politik jegliches Verständnis abging. Schon der Geburtsort des Genannten, Riva am Gardasee, und der italienische Name deuten darauf hin. Dementsprechend ist Belfanti auch gegenwärtig politisch vollkommen teilnahmslos.65 Als unzuverlässig betrachtete man Oberleutnant Paul Karger, Spross einer alten österreichischen Offiziersfamilie. Schon als 11-Jähriger kam er mit dem Militärischen in Berührung: Militärunterrealschule in Strass (Steiermark), Militäroberrealschule in Mährisch Weißkirchen, Kadettenschule in Wien. 1913 aus der Kadettenschule ausgemustert, ging es 1914 als Leutnant schon an die Ostfront, wo er 1915 in Kriegsgefangenschaft geriet, nach Russisch-Turkestan verschickt wurde und erst nach sechs Jahren und einer Odyssee in seine Heimat zurückkehren durfte. Hier schlug er sich mehr schlecht als recht als Aushilfskraft in Kanzleidiensten oder Vertreterarbeiten durch, bis er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern 1928 nach Baden übersiedelte und hier bei der Badener Gebietskrankenkasse als Beamter unterkam. Im November 1938 wurde er dann fristlos ohne Bezüge entlassen, da er Regimentskommandant beim Freiheitsbund in Baden gewesen war sowie danach Oberleutnant bei der Frontmiliz. Einspruch und Berufung zeigten keine Wirkung. Nach seinem Wechsel in die Privatwirtschaft, als Lohnverrechnungsbeamter, stand er weiterhin unter Beobachtung. Trotz seiner soldatischen Haltung, die ihm nicht abgesprochen wurde, war er für den Wehrdienst untragbar. Noch im Oktober 1940 urteilte die Ortsgruppe negativ und sandte ihr Urteil an den Wehrkreis XVII. Die Gestapo sah es zwar anders, doch konnte sich die Ortsgruppe offenbar durchsetzen und empfahl noch ein halbes Jahr zu warten, bevor er dienen durfte. Doch im positiven NS-Sinne konnte sich Paul Karger nicht beweisen, wie es seiner neuerlichen Beurteilung im März 1941 zu entnehmen ist. Seine beiden Söhne sind nicht bei der H.J. da sie angeblich keine Zeit haben. Er und seine Familie wurden von der NSV befürsorgt. Er suchte aus Not um Reaktivierung an und saß zur gleichen Zeit sehr lustig beim Heurigen.66 Selbst im September 1942 galt er immer noch als politisch unzuverlässig. Und im November 1943 betonte man weiterhin – er war zu diesem Zeitpunkt als Direktionssekretär und Facharbeiter bei der Firma Erdmann & Wühle in Theresienfeld angestellt – seine einst gegnerische Einstellung und sein Verhalten blieb auch in der Folgezeit sowohl in politischer als auch in charakterlicher Hinsicht unzuverlässig. Staatsfeindliche Äußerungen sind ihm ohne weiteres zuzutrauen.67 Und man sollte Recht behalten. Nur einen Monat später wurde er wegen Defätismus und Wehrkraftzersetzung verhaftet. Wie es mit ihm weiterging, dazu zu gegebener Zeit mehr. Entfernt wurde auch der in Baden wohnhafte Oberst a.D. Karl Kurz. Er versah in den 30er Jahren seinen Dienst beim Alpenjägerbataillon in Bregenz. Dort traf er auf nationalsozialistisch gesinnte und sich illegal betätigende Offiziere. Geneigt gegen jene vorzugehen, 65 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Belfanti Louis (geb. 1876). 66 StA B, GB 052/Personalakten; Karger Paul (1894–1977) – Politische Beurteilung (04.03.1941). 67 Ebd. – Kreispersonalamt an Gestapo (27.11.1943).
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fehlte ihm jedoch stets der eindeutige Beweis. Nach dem Anschluss wurde sogar gegen ihn ermittelt, er vermutete, dass besagte Personen ihre Hände im Spiel hatten. Das brachte ihm die frühzeitige Pensionierung, die zwar am soldatischen Ehrgefühl nagte, wobei gleichzeitig aber, so Karl Kurz 1948, es mir nicht unangenehm war.68 Über die Skepsis gegenüber den alten Offizieren aus der k. u. k. Zeit wusste Ernst Röschl Bescheid. In der Helenenstraße, gegenüber der Helenenschule, befand sich das Wehrbezirkskommando bzw. Wehrmeldeamt. Dort versahen jene ihren Dienst, die für die Front ungeeignet und politisch nicht ganz geheuer waren, doch mit Erfahrung aus vergangener Zeit auftrumpfen konnten, die schließlich aufgrund Personalmangels wiederum Gold wert war. Sie wurden zwar überwacht, doch, so Röschl, ihre teilweise Antihaltung zum NS-Regime konnte dazu führen, dass Einberufungsbefehle sich zufälligerweise verzögerten und das selbst bis zum St. Nimmerleinstag.69 Betrachten wir den Widerstand im bürgerlichen Milieu, stand vor allem eine christliche-konservative Grundhaltung im Vordergrund, die für die Betroffenen mit dem Nationalsozialismus nicht zu vereinbaren war und aus der die Motivation zum Widerstand gespeist werden konnte. Im Vergleich zum sozialistischen Widerstand, und insbesondere zum kommunistischen, waren Widerstandaktionen im bürgerlichen Milieu weitaus weniger aktionistisch. Das NS Regime brauchte diese Personen dringend, doch konnte man sich auf sie nicht vollkommen verlassen. Religiöse Überzeugungen waren äußerst resistent. Widerstand in diesem Milieu war oft nicht als solcher deklariert, weder von den Akteuren noch von der Gegenseite. Es gab keine zentral gelenkte Stelle, die vorgab, was bürgerlichkonservativer Widerstand war. Religiös motivierter Widerstand war da viel eher zu fassen. Dr. Aloisia Gruber, Ärztin im Rath‘schen Krankenhaus, aktives Mitglied der Marianischen Kongregation und ehemals freiwilliges Mitglied der Vaterländischen Front, fiel bei ihrer Beurteilung im August 1941 weiterhin durch ihre fehlende Spendenfreudigkeit auf, ihr vollkommenes Desinteresse am Nationalsozialismus und durch den enormen religiösen Einfluss, den sie auf ihre weiblichen Zöglinge in ihrer Heimatgemeinde Wolfsgraben ausübte. Dieser war dermaßen ausgeprägt, dass keines ihrer Mädels beim BDM war. Damit war es eindeutig: Sie bietet daher nicht die Gewähr ihres restlosen Einsatzes für Führer und Staat.70 Oftmals stoßen wir auf eine symbolische, aber offen zur Schau getragene Ablehnung. Bauchtechniker Hans Vock, dem Legitimismus zugeneigt, ausgezeichnet als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, Mitglied der Heimwehr, war im Oktober 1936, als der Arierparagraf in der Schlaraffia eingeführt wurde, der einzige Arier, der in die neugegründete jüdische Schlaraffia-Sektion mit übertrat. Nach dem Anschluss weigerte er sich, obwohl finanziell gut situiert, standhaft der NS-Volkswohlfahrt beizutreten. Um die NSDAP machte er ohnehin einen großen Bogen. Das NS-Regime konnte ihn zu nichts zwingen. Doch die Reaktion bestand 68 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Kurz Karl (geb. 1883). 69 Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Röschl 1938–1945, S. 9. 70 StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. III; NS-Ärztebund – Gruber Aloisia (geb. 1911).
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darin, dass der Kreisleiter sein Ansuchen um eine Baumeisterkonzession im August 1941 aus politischen Gründen ablehnte – dies jedoch im Oktober selben Jahres revidierte. Drei Handwerker aus Leobersdorf versicherten, dass Hans Vock als Baumeister sie während der Verbotszeit mit Aufträgen über Wasser gehalten hatte und das wohlwissend um ihre politische Gesinnung. Damit waren die Einwände des Kreisleiters gegen den als politisch nicht tragbaren und charakterlich als arrogant und eingebildet beschriebenen Hans Vock vorerst vom Tisch.71 * Um den politischen Feind zu schädigen, bedurfte es nicht immer der personellen Einschüchterung. Es genügte, dessen gesellschaftliches Grundgerüst zu zertrümmern. Vereinsauflösungen, die Möglichkeit der Zusammenkunft zu unterbinden, waren eine subtilere Art der Zermürbung. Die Vereinsauflösungen betrafen all jene, die als regimefeindlich bis regimekritisch eingestuft wurden. Ähnlich den wilden „Arisierungen“ gestalteten sich die Beschlagnahmungen und Auflösungen von Vereinen genauso wild. Unterschiedliche Personen griffen zur Tat. Sie stahlen, raubten und plünderten. Im Nachhinein konnte es oftmals nachträglich legitimiert werden. Bis zum 22. März 1938 hatte man freie Hand, danach sollte das Verbrechen kanalisiert werden. Einfluss auf den Auflösungsvorgang hatten die einzelnen Vereine keinen. Sie wurden nur über ihren Status in Kenntnis gesetzt – aufgelöst oder nicht. Die vorgegangenen Prüfungen waren mit Kosten verbunden, die die Vereine selbst zu tragen hatten. Ein Einspruch war nicht vorgesehen.72 Melden mussten sich die Vereine, Verbände oder kulturellen Gemeinschaften bei den zuständigen Kreisbeauftragten des Stillhaltekommissars. Für die Neuordnung des Vereinswesens, wie es NS-mäßig hieß, war im Kreis Baden der Gerichtsbeamte Wilhelm Hentschl zuständig. Die Anordnung der Neuordnung mussten angefordert werden. Wer es bis zu einem bestimmten Termin nicht tat, dessen Gemeinschaft war automatisch aufgelöst und das Vermögen beschlagnahmt.73 Um nicht ganz herzlos zu erscheinen, bot das NS-Regime Alternativen an. Das Vermögen von 37.000 RM sowie die Liegenschaft am Conrad von Hötzendorf-Platz 11 der karitativen „Mautner von Markhof-Stiftung“ gelangte im Mai 1939 an die NS-Volkswohlfahrt. Bedürftige konnte weiterhin versorgt werden. Woher die Gelder kamen, war den meisten Bedürftigen wahrscheinlich egal.74 71 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Vock Hans (1893–1980). 72 Vgl. TÁLOS Emmerich, Die Etablierung der Reichsgaue der „Ostmark“. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et. al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 55–72 und vgl. BAILER-GALANDA Brigitte JABLONER Clemens et al., Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellung und Entschädigung seit 1945 in Österreich (Wien/München, 2003), S. 223–228. 73 Vgl. BZ Nr. 61 v. 30.07.1938, S. 4 und BZ Nr. 62 v. 03.08.1938, S. 4. 74 Vgl. DÖW, Mautner Markhof Stiftung, abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/time (10.04.2023).
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Betrachten wir die zahlreichen aufgelösten Vereine, wird deutlich, wie blühend es um die damalige bürgerlich/konservative/christliche Vereinslandschaft bestellt war. Es gab in Baden allein 15 Altsoldatenverbände. Auf katholisch-konservativer Seite gab es sieben karitative Vereine, wie die katholischen Frauen, die Christlichen Hausgehilfinnen, den Armenpflegeverein usw. Es gab den Kirchenbauverein Weikersdorf, die Christlich-deutschen Turner, die Christlichen Arbeiter und viele mehr. Und dann noch die Badener Studentenverbindungen wie den katholischen C.V. Philisterzirkel oder die katholischdeutsche Pennalverbindung Badenia – die laut Erhebung 1936 ihren geregelten Betrieb aufgegeben hatte und seitdem nur mehr als Treffpunkt illegaler Nationalsozialisten existierte. Die Vereine wurden nicht nur aufgelöst, sondern ebenso deren Vereinsheime und Vereinsvermögen beschlagnahmt. Das Vereinsheim der Christlichen Gesellenvereinigung in der Valeriestraße 10 kam schlussendlich an die HJ. Ansonsten finden wir ebenso marginale Schillingbeträge, Liederbücher, Besteck, Schreibmaschinen oder Glühbirnen, die allesamt in Listen eingetragen wurden.75 Alternativ zu Beschlagnahmung und Auflösungen war die Gleichschaltung. Die Freiwilligen Feuerwehren aufzulösen stand nicht einmal ansatzweise zu Debatte. Vielmehr wurden sie in das NS-System integriert. Es begann mit Kleinigkeiten. Der Kommandant wurde nicht mehr durch die Kameraden gewählt, sondern ernannt. Franz Trenner ernannte Fritz Glanner sen. zum Kommandanten, und Wilhelm Pfeiffer wurde sein Stellvertreter.76 Wesentlich einschneidende „Reformen“ wurden nach Kriegsbeginn vollzogen. Im Dezember 1939 teilte der Bezirksführer der Freiwilligen Feuerwehren im Reichsgau Niederdonau, Rudolf Handlos, den Feuerwehrmännern mit, dass ab nun ein anderer Wind wehen werde. Die Feuerwehren als Vereine wurden aufgelöst und zu einer technischen Hilfspolizeitruppe umgewandelt. Neue Uniformen, neue Rangabzeichen – was zugleich einen neuen Habitus verlangte. Wer in der Uniform unterwegs war, dessen Benehmen musste von Anstand erfüllt sein. Stramme Haltung und der stramme deutsche Gruß waren Pflicht. Für uniformierte Trunkenheit gab es keinen Platz mehr, genauso wenig für uniformierte Präsenz bei kirchlichen Prozessionen. Um das von vornherein zu unterbinden, durfte die Uniform erst eine Stunde vor Dienstantritt angezogen werden und bis spätestens eine Stunde nach Dienstende war sie zurück im Spind oder Kasten. Dermaßen eingegliedert in das NS-System, als Pseudo-Sicherheitsergänzungstruppe, bekamen die Feuerwehren in Baden einen neuen obersten Vorgesetzten – Bürgermeister Franz Schmid.77 Ganz vor Auflösungen und Beschlagnahmungen waren die Badener Feuerwehren dann doch nicht gefeit. Die Sterbekasse musste aufgelöst werden. Zufälligerweise war die Sterbe-
75 Vgl. NÖLA, BH Baden, XI–XIII 1938; Stammzahl 592. 76 Vgl. 100 Jahre Freiwillige Feuerwehr Baden, S. 42. Aufliegend im StA B, Per 18/1965. 77 Vgl. StA B, GB 342/1900–2016; GB 342/1938–1955 und 100 Jahre Freiwillige Feuerwehr Baden, S. 43, aufliegend im StA B, Per 18/1965.
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kasse bereits aufgelöst, da schon 1938 keine Beiträge mehr erhoben worden waren.78 Ob das der Wahrheit entsprach, geben die Quellen nicht her. Nicht zum ersten Mal bekamen die NS-Behörden solche Schreiben, wonach eh schon seit Jahren Verein, Verband oder Genossenschaft XY nicht mehr aktiv war, keine Vereinsbeiträge einkassiert wurden und die Kassen längst aufgelassen waren. Wenn Sie sich fragen, liebe Leser, wo denn die linke Vereinslandschaft geblieben war, da hatte bereits der Ständestaat 1934 Vorarbeit geleistet. Die Menschen waren allerdings weiterhin da und aktiv.
Die linke Kurstadt Mit dem sozialistischen Milieu fanden sich andere Schnittmengen als mit dem bürgerlichen Pendant. Hier waren zum einen der Antiklerikalismus und die generelle Kirchenfeindlichkeit. Damit zusammenhängend gab es eine Art Modernismus, einen moderneren Zugang zur Ehe, zu Scheidungen, Wiederverheiratung und Verhütung.79 Nicht zu vergessen, steckte der Sozialismus im Nationalsozialismus – wenn oftmals auch nur dem Namen nach. Und ebenso nicht unbedeutend war die gemeinsame Hafterfahrung in Wöllersdorf und anderen Anhaltelagern sowie Kerkern, die verbindend wirken konnte. Der Ständestaat, die Wehrverbände sowie reguläre Exekutivorgane gingen nicht gerade zimperlich gegen Rot und Braun vor. Dass so etwas der Vergangenheit angehören würde, wurde die NS-Propaganda nicht müde zu erzählen. Denn schließlich hatte die Arbeiterschaft nun den größten Rückhalt aller Zeiten auf ihrer Seite. Das ist der Wille des Führers, von dem wir alle wissen, dass er Berge zu versetzen vermag, und von dem ich weiß, dass er für seine deutschen Arbeiter, wenn nötig, die Hölle zu stürmen bereit ist!80 Nach dem Anschluss begann ein Buhlen um die Februarkämpfer von 1934 – nach dem ganz einfachen Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Deklassierte Sozialisten oder Kommunisten, die 1933/34 aus politischen Gründen ihre Arbeit verloren hatten, wurden unter großem Medienecho wieder eingestellt. In solchen Fällen wählte die NS-Propaganda Floskeln wie: „Das Unrecht der Systemdiktatur wieder gut machen!“ oder: „Den Blutzoll der Arbeiter anerkennen!“.81 Mehr noch, ihrem Leid zwischen 1933 und 1938 wurde eine mediale Bühne gegeben. Man propagierte ein gemeinsames Martyrium, die Schrecken Wöllersdorfs – die „Lagerstraße“ sollte brüderlich verbinden. Von dieser Politik profitierte der Hilfsarbeiter Josef Kragler. Laut eigener Aussage war 78 Vgl. GB 342/1900–2016; GB 342/1938–1955. 79 Vgl. SAUER Walter, Loyalität, Konkurrenz oder Widerstand?. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 159– 186, hier 168f. 80 BZ Nr.25 v. 26.03.1938, S. 5. 81 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 90f.
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er seit 1921 bei der SDAP, 1933 wechselte er zu den Kommunisten, ohne Parteimitglied zu werden, trat jedoch aktionistisch in Aktion. Mit Gleichgesinnten wurde illegales Propagandamaterial verteilt und verstreut. Er wurde mehrmals verhaftet, saß mehrere Monate im Kerker in Wiener Neustadt und im Anhaltelager Wöllersdorf. Nach seiner Entlassung stand er unter Beobachtung. Nach dem Machtwechsel 1938 hatte er jedoch einen einflussreichen Fürsprecher, seinen Stiefbruder Karl Grüner, Mitglied des Exekutivkomitees. Er überredete ihn, von Rot zu Braun zu wechseln, das Eintrittsdatum wurde sogar auf 1937 rückdatiert. Politisch war Josef Kragler nun unbedenklich bis einwandfrei, jedenfalls bis zum Jahre 1940. Der Lapsus, in SA-Uniform betrunken umhergelaufen zu sein, kostete ihm die Mitgliedschaft.82 Einen politischen Farbenwechsel unternahm auch der Barmixer und Oberkellner Rupert Wunsch. Von 1919 an war er Mitglied der SDAP bis zu deren Verbot 1934. Es waren laut ihm auch die Ereignisse dieses Jahres, die ihn veranlassten, aus Zorn über die seinerzeitige gewaltsame Niederschlagung des Februarputsches im Jahre 1934 der NSDAP beizutreten, ohne aber deren Werte zu teilen. Dass mehr der Hass auf den Ständestaat hinter seinem Parteibeitritt stand, bestätigten indirekt mehrere Personen. Ohrenzeugen erinnerten sich an seine Aussagen, wonach er die NS-Führung als Phantasten, Verbrecher und Lumpen bezeichnete. Des Weiteren hatte er einen am 15. März 1945 aus einem Lazarett entlassenen Wehrmachtssoldaten bei sich in der Gartenhütte bis zum Kriegsende in Baden versteckt und verpflegt. Und Rudolf Starnberg, ein Opfer des Exekutivkomitees, der nur dank seiner arischen Ehefrau in Baden die NS-Zeit überlebt hatte, bestätigte: Sowohl Herr Wunsch als auch seine Frau besuchten mich oft, und ich habe auch von keiner Seite gehört, dass er dem nationalsozialistischen Regime irgendwelche Hilfsdienste geleistet hat. Wenn ein solchen Fall nur im entferntesten Maße gegeben wäre, würde ich Herrn Wunsch dieses Zeugnis zweifellos nicht ausgestellt haben.83 Eine wahrliche Wandlung durchlebte der Krankenkassenbeamte Ferdinand Haidner. Seine politische Karriere begann in jungen Jahren 1922 bei der SDAP. 1933 war er Vorsitzender der Lokalorganisation Baden. Bis zum Februar 1934 hatte er diese Funktion inne, danach ging es zu den Revolutionären Sozialisten (RS) in den Untergrund, wo er laut eigener Aussage die Führung im unteren Wienerwald übernahm. Seine Tätigkeit brachte ihm 1935 drei Jahre Kerker ein – der Posten bei der Krankenkasse war sowieso weg – allerdings war er ein Jahr später im Juli wieder auf freiem Fuß. Der Ständestaat zeigte sich von seiner begnadigenden Seite. Nach dem Anschluss wurde es nun spannend. Laut ihm ohne sein Zutun erhielt er Post von seinem früheren Arbeitgeber und die Offerte, erneut als Beamter in der Krankenkasse tätig zu werden. Eine Entschädigung wegen seiner Inhaftierung könne allerdings nicht erfolgen, schließlich hatte er sich nicht nationalsozialistisch betätigt, sondern nur marxistisch. Damit konnte er leben, auch mit dem Beitritt zur NSDAP, den er aus Dankbarkeit über seine Wiedereinstellung vollzog, wobei er von Anfang an klarge82 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Kragler Josef (1905–1983). 83 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Wunsch Rupert (geb. 1885).
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stellt haben soll, dass ich keinesfalls bereit und gewillt bin, mich in Hinkunft für die NSDAP zu betätigen. Dies widerspreche meiner politischen Vergangenheit und meiner Einstellung als Sozialist. Womöglich führten solch ehrliche Worte und seine Prinzipientreue dazu, dass er im Februar 1939 bereits die Wehrmachtsuniform verliehen bekam, die er erst 1945 ablegen sollte. Da er im Geiste ohnehin kein Nationalsozialist, sondern Sozialist war, war es wenig überraschend, dass er gemeinsam mit einem Kameraden gegen Ende des Krieges eine antifaschistische Zelle einrichtete, um gegen den Terror blindwütiger Nazikommandeure im österreichischen Sinne Stellung zu nehmen.84 Beinahe wären sie erwischt und vor ein Kriegsgericht gestellt worden. Die Desertation zum Feind rettete ihnen das Leben, wo sie anschließend im russischen Kriegsgefangenenlager Georgenburg in Ostpreußen ein Lagerkomitee gründeten, unter dem Namen „Freies Österreich“. Vorsitzender des Komitees, das zum Ziel hatte, die 2500 kriegsgefangenen Österreicher zu vertreten, wurde Ferdinand Haidner. Seinen eigenen Ausführungen widersprachen teilweise die Ermittlungen nach 1945. Dass er Sozialist und im Widerstand gegen den Ständestaat agierte, wurde nicht in Abrede gestellt, doch alles danach stand zur Disposition. Er war begeisterter Nationalsozialist, der sich besonders für die Ideen der NSDAP einsetzte.85 Und was die Gegenwart betraf, sein Organisationstalent schien ungebrochen: Zur Zeit ist Haidner Bezirksführer des „Verbandes der Unabhängigen“ [Vorgängerorganisation der FPÖ], hat als solcher die Wählerversammlungen dieser Wahlpartei im hiesigen Bezirk einberufen bzw. geleitet und kandidierte für die Partei bei den letzten Nationalrats-Landtagswahlen im Wahlkreis „Viertel unter dem Wienerwald“. Für die Wahlen zum Gemeinderat der Stadt Baden bei Wien, am 7. Mai 1950, ist Haidner Listenführer für die „Wahlpartei der Unabhängigen“.86 Rot, Braun, Blau – auch eine interessante Farbkombination. * Wie es bei zahlreichen Milieus der Fall war, so erlag auch die Arbeiterschaft einer NS-Verklärung – erinnern wir uns an den Reichsnährbauernstand zurück. Der Reichspressechef Dr. Otto Dietrich konnte sich dahingehend in der Badener Zeitung propagandistisch austoben: Das Wirken des deutschen Arbeiters wird einmal, wenn die Geschichte der nationalsozialistischen Revolution und des Wiederaufstiegs geschrieben wird, einen hervorragenden Platz einnehmen. Das Bild des Arbeiters war das eines loyalen mechanischen Zahnrades innerhalb der volksgemeinschaftlichen Maschinerie, das zuvor vom Systemregime pervertiert worden war. Die zwangsweisen Beitritte zur Vaterländischen Front wurden großzügig vergeben. 84
StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Haidner Ferdinand (geb. 1906) – Haidner an Bgm. Baden (18.10.1945). 85 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Haidner Ferdinand – Stadtpolizeiamt Baden an Sicherheitsdirektion NÖ (10.07.1950). 86 Ebd. – Stadtpolizeiamt Baden an BH-Baden (04.05.1950).
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Der Vergebung folgte zuerst die Befreiung aus der Aussichtslosigkeit ihres bisherigen rein kapitalistischen Arbeitsverhältnisses und der Befreiung wiederum folgte die Erlösung aus der erschlaffenden Hoffnungslosigkeit eines Arbeiterdaseins, das sich bisher als ohnmächtiges Handelsobjekt kapitalistischer Mächte fühlte, ohne sich jemals aus dieser Lage zum Lichte schöpferischer Mitgestaltung am Leben der Nation erheben zu können.87 Bei den Beurteilungen wurden Arbeitseifer, Loyalität und Anstand einzelner Arbeiter hervorgehoben. So wird Franz Traxler im Oktober 1942 als ein braver Parteigenosse, anständiger Arbeiter und guter Familienvater charakterisiert.88 Peter Horvath, seit 1919 bei den roten Gewerkschaften, ab 1923 bei der SDAP und dem Schutzbund, war nun Teil der Deutschen Arbeiterfront (DAF). Ein fleißiger Arbeiter, wie er im Buche bzw. seinem Beurteilungsbogen steht.89 Fast schon wie Kinder wurden erwachsene Männer und Familienväter, wie Michael Bleier, als brav bezeichnet. Brave ehemalige Sozialisten, die nun auch ihre Kinder der HJ oder der SA anvertrauen.90 Für das NS-Regime waren solche Charakterentwicklungen propagandistisch gut ausschlachtbare Erfolgsstorys. Als 1934 die SDAP sowie die linken Gewerkschaften verboten wurden, blieben den sozialistischen Arbeitern, um weiterhin auf irgendeine Weise organisiert zu sein oder unsichtbar zu werden, anfänglich die Christlichen Arbeitergewerkschaften bzw. dann später die Soziale Arbeitergemeinschaft (SAG). Nach dem Anschluss gab es die DAF. Hier gibt es durchaus Parallelen zu anderen Gliederungen der NSDAP, wie dem NSKK oder der SA-Reiterstandarte, wo nicht nur überzeugte Nationalsozialisten „Anschluss“ fanden. Neben den Sozialisten fanden sich bei der DAF auch ehemalige christlichsoziale Arbeiter. Die DAF sollte eine Integrationsmöglichkeit bieten. Ihr Ziel war es, nicht nur Kriegsversehrte in den Arbeitsprozess zurückzubringen (was die Vorgängerorganisationen auch schon getan hatten), sondern zusätzlich den Klassenhass zu überwinden. Deswegen wurde von den Betriebsführern verlangt, nicht nur Wirtschaftsführer zu sein, sondern auch Menschenführer.91 Und da die DAF eine Arbeiterfront war (mit Betonung auf Front), war das Vokabular militärisch durchdrungen. Nicht nur das Gewehr war eine Waffe, sondern jeder Hammer, jeder Schraubenzieher, jede Schaufel, jeder Schraubstock – alles mutierte in deutscher Hand zur Waffe, um den deutschen Sieg zu erringen. Wie Sie, liebe Leserin oder Leser, sehen, auch hier sparte man nicht mit hohlen, schwammigen sowie schwülstigen Phrasen – da gab es kein Entkommen. Und wie im christlichsozialen Lager, so gab es genauso im sozialistischen Lager viele Menschen, die sich aus der Politik zurückzogen – in die innere Emigration. So war es ein Anliegen der Kreisfrauenschaftsleiterin Marie Hendrich, in ihrem NSF-Tätigkeitsbericht vom Oktober 1941 mittels Mütterdienstkursen einen größeren Einfluss auf die Fabrik87 88 89 90 91
BZ Nr.25 v. 26.03.1938, S. 5 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Traxler Franz (geb. 1902). Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Horvath Peter (geb. 1889). Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Bleier Michael (geb. 1900). Vgl. BZ Nr. 51 v. 25.06.1938, S. 1.
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arbeiterinnen zu gewinnen, denn die Haltung der Heimat hängt doch bedeutend von der Haltung der Fabrikarbeiterin ab.92 Anderseits konnten die NS-Machthaber auch gut mit der inneren Emigration ihrer Gegner leben. Sie wurden für das NS-Regime zu indifferenten oder im besten Fall zu harmlosen Genossen. Man sprach von loyalen Gegnern. Ein sozialistischer Vertreter eines loyalen Gegners in Baden war Franz Meixner, ehemaliger SDAP-Gemeinderat. Er hatte sich bereits nach dem Verbot der SDAP 1934 in die innere Emigration zurückgezogen und war politisch nicht mehr hervorgetreten. Nach dem Anschluss hatte sich sein Verhalten nicht geändert. Die Nationalsozialisten bezeichneten ihn als anständigen Menschen, über den nichts Nachteiliges bekannt sei.93 Zugleich blieb man skeptisch. Die ehemalige Sozialistin Maria Festi kam trotz Spenden und einem einwandfreien Charakter über eine politische Indifferenz nicht hinaus.94 Nicht ganz koscher war auch der ehemalige SDAP-Landtagsabgeordnete aus Sooß, Alois Mentasti. Er hatte seine politische Tätigkeit nach 1934 bereits ruhend gestellt. Er blieb ein Feind des Ständestaates. Politisch war er in seiner aktiven Zeit zudem mit Kollmann zusammengekracht. Trotzdem wurde er 1939 aufgrund seines Berufs als Gefahr betrachtet. Er war Reisebeamter bei der „Donau Allgemeine Versicherung A.G.“ im Gerichtsbezirk Baden. Durch seine berufsbedingte Mobilität stand er im Verdacht, ein Netzwerk an Gleichgesinnten aufbauen zu können. Sein Arbeitgeber hingegen stellte ihm nur die Bestnoten aus. Seit seinem Arbeitsantritt 1935 hätte es nie Beschwerden gegebenen. Unter Beobachtung blieb er trotzdem.95 Ihre Abneigung gegenüber dem NS-Regime zeigten diese loyalen Gegner nicht nur durch ein vermeintliches politisches Desinteresse. Gustav Kolar, ehemaliger Sozialist, machte nach dem Anschluss mehr schlecht als recht mit, fiel durch Widerwillen und Gegnerschaft auf – kaum dass man ihn nicht als bockig bezeichnet hätte. Bei der Beflaggung seines Hauses war er äußerst nachlässig, mehrmals musste er daran erinnert werden. Politisch war er damit unzuverlässig, aber zumindest galt er als arbeitsam und war weder Trinker noch Spieler.96 Ähnlich wurde Franz Rotthaler charakterisiert. Ehemaliger Sozialist, Gegner der NS-Bewegung, zwar nicht gehässig, aber dafür nur für sein eigenes Ich eingestellt, bei Spenden geizig und ein großer Meckerer.97 Und als Dritter noch Franz Dorfstetter, ehemaliger SDAP-Gemeinderat, fest im sozialistischen Milieu verankert, verhielt er sich nach dem Anschluss indifferent, mittelmäßige Gebefreudigkeit, charakterlich lag nichts Nachteiliges vor, aber: Im Hinblick auf die früher exponierte Stellung Dorfstetters als sozialdemokratischer Gemeinderat und auf seine noch heute hin und wieder zu Tage tretende Nörgelsucht ist von einer Verwendung in einer Vertrauensstellung noch abzuraten.98
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StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. III NSF/DFW Allgemein; Tätigkeitsberichte. Vgl. StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. II; Trafiken und Bauarbeiter. Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Festi Maria (geb. 1907). Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Mentasti Alois (1887–1958). Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Kolar Gustav (geb. 1904). StA B, GB 052/Personalakten: Rotthaler Franz (geb. 1898). StA B, GB 052/Poilt. Beurteilungen: Dorfstetter Franz (geb. 1888).
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Ein weiterer Aspekt, der schlagend wurde, war der familiäre Hintergrund. Genauso wie im christlichsozialen Lager konnte die Sippenhaftung zukünftige Lebenswege massiv beeinflussen. Als Erik Werba, Mitglied in der VF und beim CV, Musiker und Komponist, Anfang 1939 von der Gestapo wegen nicht näher definierter staatsfeindlicher Geheimbündelei verhaftet wurde, wirkte sich der politische Hintergrund seines Vaters zusätzlich negativ aus. Der Senior war Ludwig Werba, langjähriger SDAP-Gemeinderat und stadtbekannter Badener Komponist und Musiker. Dabei hatte es für den Junior nicht so schlecht ausgesehen. Die Badener Zeitung bewarb mehrere Klavierabende unter seiner Führung – wo er auch die Werke seines Vaters intonierte. Nun musste er zweimal in der Woche bei den Behörden vorstellig werden, seine Wohnung durfte er von 21.00 Uhr bis 05.00 Uhr nicht verlassen, und nur Verwandtenbesuche waren ihm erlaubt.99 Die Musikkarriere war allerdings bei weitem nicht zu Ende. Er durfte weiterhin musizieren und komponieren. Und selbst der Völkische Beobachter fand anerkennende Worte für seine Kompositionen. So wird besonders sein Liederzyklus „Stille Träume und Stunden der Klage“ erwähnt, der eine lyrische Begabung von starkem Einfühlungsvermögen und schönem melodischen Ausdruck zeigt […].100 1940 musste er einrücken, blieb bis 1945 Soldat und geriet im Anschluss in Kriegsgefangenschaft.101 Seinem älteren Bruder, Ludwig Werba jun, durchkreuzte des Vaters politische Einstellung ebenso, und die Aktion des Bruders obendrein, das berufliche Vorankommen. Als angehender Jurist machte er während des Anschlusses ein Gerichtspraktikum in Baden, mit dem Ziel, sich für ein Richteramt zu bewerben. Eine Anstellung im Gau war ebenso schon fixiert – einzig die empfohlene Parteimitgliedschaft bei der NSDAP stand noch aus. Zuerst ging der Weg über die SA-Sanitäter. Doch dann kam vermutlich der familiäre Hintergrund sabotierend dazwischen. Er wurde nach Nikolsburg versetzt. Dort erlosch seine UK-Stellung, er wurde eingezogen und blieb bis zum Kriegsende Parteianwärter.102 Väterlich-politischer-Hintergrund war auch bei Leopoldine Knoppek dafür „verantwortlich“, dass ihr NS-Steine in den Weg gelegt wurden. Ihr Vater, Johann Eisler, war seit 1904 bei der SDAP, und seine Tochter hatte er dementsprechend sozialisiert. Als Kindergärtnerin blieb sie während des gesamten Ständestaates unangetastet, erst den braunen Herren galt sie als untragbar. Aus ihrem Beruf konnte/wollte man sie nicht entfernen, aber zumindest ihr Kindergärtnerexamen wurde annulliert, und sie war gezwungen, es erneut zu bestehen. Als Grund nannte man ihr, dass ihre ehemalige Prüferin eine Jüdin gewesen war.103 99 100 101
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Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Werba Erik (1918–1992) und BZ Nr. 49 v. 18.06.1938, S. 5 – Ludwig Werba (1884–1945). BZ Nr. 51 v. 26.06.1940, S. 2. Vgl. DZUGAN Franziska, Chamäleons im Blätterwald. Die Wurzel der ÖVP-ParteijournalistInnen in Austrofaschismus, Nationalsozialismus, Demokratie und Widerstand. Eine kollektivbiographische Analyse an den Beispielen „Wiener Tageszeitung“ und „Linzer Volksblatt“ 1945 bzw. 1947 bis 1955 (Wien 2011), S. 171 (Dissertation). Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Werbe Ludwig (geb.1909) und GB 052/Polit. Beurteilungen. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Knoppek Leopoldine (geb. 1904).
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Zweiter Teil Transformation und Konsolidierung
Fassen wir zusammen, so konnte die Handhabung des NS-Regimes in Bezug auf das sozialistische Lager und dessen Reaktion auf das NS-Regime recht unterschiedlich ausfallen und damit gleiche Aspekte aufweisen wie im christlichsozialen Lager. Zum Beispiel die politische „NS-Kulanz“ bei Personalmangel, die innere Emigration oder die Sippenhaftung. Ein großer Unterschied bestand aber durch die vorherige Existenz des Ständestaates. Hier konnte das NS-Regime punkten und Brücken bauen. Die Schikanen seitens der Systemdiktatur wurden anerkannt und über VF-Mitgliedschaften noch großzügiger hinweggesehen als beim bürgerlichen Gegenüber. Und eines darf auch nicht vergessen werden: Sozialisten und Kommunisten hatten bereits Schikanen, Inhaftierungen, Gewalterfahrungen durchmachen müssen. Ein Aufenthalt in Wöllerdorf lud nicht unbedingt dazu ein, nun auch Dachau auszuprobieren. Aber nicht alle gaben sich mit der inneren Emigration zufrieden oder damit, als brave und fleißige Arbeiter dem NS-Regime dienlich zu sein. Werfen wir einen Blick auf das Thema Widerstand im linken Lager, so ist der größte Unterschied zum Bürgerlichen Block der wesentlich höhere Grad an Aktionismus und die deutlich höheren Opferzahlen. Die SDAP dominierte in der Ersten Republik eindeutig das linke Lager und marginalisierte die KP fast vollständig. Durch eine nicht eindeutige Politik gegenüber dem sich zusehends radikalisierenden bürgerlichen Block, beginnend bereits nach dem Justizpalastbrand 1927, wurde die SDAP nach den Februarkämpfen endgültig zerschlagen. Die weitere Vorgehensweise war ebenso nicht eindeutig. Die „Revolutionären Sozialisten“ (RS) oder der „Illegale Bund der Freien Gewerkschaften Österreichs“ versuchten, Parteimitglieder, Anhänger und sonstige Sympathisanten im Widerstand zu organisieren. Die Erfolge waren überschaubar. Einen Teil der Genossen zog es zu den Kommunisten, ein anderer Teil wich in die innere Emigration aus und wieder ein anderer Teil wandte sich dem nationalen Sozialismus zu.104 Baden, als schwarze Kurstadt, war nicht gerade eine Hochburg des Sozialismus. Diese befanden sich weiter südlich. Bereits die übernächste Gemeinde, Bad Vöslau, war bis 1934 fest in roter Hand. Je weiter südlich, desto roter wurde es. Als Beispiel für Widerstand aus dem sozialistischen Lager in Baden wäre der Croupier Hans Seifert zu nennen. Seit 1924 bei der SDAP, aktiv bei den Kinderfreunden, verlor er im Februar 1934 seine Arbeit. Wie viele andere fand er sich bei der VF wieder, nach dem Anschluss beim NSKK. Dem Sozialismus schwor er nie ab. Aus seiner Anti-Haltung zum NS-Regime machte er keinen Hehl. Konspirative Zusammenkünfte in seiner Wohnung gehörten ebenso dazu wie die Gründung einer Widerstandszelle im Casino. Als Schreiber bei der Wehrmacht deckte und 104 Vgl. NEUGEBAUER, Widerstand und Opposition, S. 187–213 und EVERS John, Gewerkschaftsbewegung und Arbeiterkammer in Niederösterreich. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik, S. 639–662 und MÜLLER Martin, Die niederösterreichische Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik, S. 473–515 und Sylvia HAHN, Politik in einer „roten Hochburg“: das Beispiel Wiener Neustadt. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik, S. 515–535.
Kapitel 11 Das nicht schädlingshafte Andere
bevorzugte er, so gut es ging, politisch gleichgesinnte Kameraden. So verwunderte es nicht, dass so ein alter Sozialdemokrat und begeisterter Antifaschist – wie ihn Herbert Zucker, der Personalreferent im Casino nach 1945 beschrieb – von den Registrierungslisten gestrichen wurde.105 Und er war nicht der einzige Sozialist aus Baden, der das NS-System von innen sabotierte. Zu den anderen zu gegebener Zeit mehr. * Noch aktionistischer als die Roten agierten nur noch die Dunkelroten. In der Untergrundarbeit weitaus erfahrener, dem bewaffneten Widerstand nicht abgeneigt, auf der Gehaltsliste Moskaus, hatten die Kommunisten einen dementsprechenden Ruf. Das Dasein als Kleinpartei wirkte sich hier nicht als Nachteil aus. Ihre nicht zu unterschätzende Hochburg in unserer Gegend blieb die Südbahnstrecke.106 Wie bei den Sozialisten versuchte das NS-Regime auch bei den Kommunisten die Wöllersdorf-Karte zu spielen. Zugleich profitierten die braunen Machthaber von den Vorarbeiten des Ständestaates. Gut zu sehen an Josef Dorbez. Für das örtliche Polizeiamt war er das Mastermind des lokalen Kommunismus. Josef Dorbez war der geistige Inspirator der kom. Ortsgruppe Wr. Neustadt, Mitglied der kom. Arbeiterwehr und zugleich Subkassier. Er hat bei den kom. Verbänden als Verbindungsoffizier fungiert, erstellte denselben auf Verlangen Ratschläge und unterstützte die politischen Sträflinge aus den Mitteln der Roten Hilfe. Als es hieß, dass Dorbez 1935 aus dem Anhaltelager Wöllersdorf entlassen werde und sich womöglich bei seiner Freundin in Baden niederlassen könnte, war Bürgermeister Josef Kollmann in heller Aufregung. Wenn man solche Elemente schon entlasse, dann solle sich deren Heimatgemeinde um sie kümmern, weil es doch nicht angeht, dass ein Kurort Baden eine Sammelstelle für derlei Individuen ist. Ansonsten wäre man gezwungen, einen Ausweisungsbeschluss zu fassen, weil er keinen unbescholtenen Lebenswandel führt und auch nicht gezwungen ist, seinen Erwerb gerade in Baden zu suchen.107 Kollmann pochte regelrecht darauf, dass Josef Dorbez bloß nicht nach Baden käme, und brachte dabei stets den Kuraspekt ins Spiel. Doch alles vergebens, das ungewollte Individuum war ständiger Gast, verkehrte in der Wohnung seiner Lebensgefährtin und empfing regelmäßig Besuche vermeintlicher Kommunisten, zumeist abends Mitte der Woche. Seine Observation durch die Behörden scheint dermaßen penibel gewesen zu sein, dass der Betroffene 1937 selbst die Behörden schriftlich verständigte und darum bat, endlich damit aufzuhören. Weitere Gründe meines Ansuchens sind: 1.) Meine Polizeiaufsicht benützen Intriganten, mich stets durch anonyme An105 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Seifert Hans (geb. 1904). 106 Vgl. NEUGEBAUER, Widerstand und Opposition, S. 187–213 und MUGRAUER Manfred, Die Kommunistische Partei in Niederösterreich. In: EMINGER, LANGTHALER (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik, S. 535–565. 107 StA B, GB 052/Personalakten: Dorbez Josef (geb. 1896) – Stadtpolizeiamt Baden an BH-Baden (26.07.1935).
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zeigen in Aufregung zu halten. 2.) ist durch die für den Aufenthaltsort (Baden) selbst auferlegten Bestimmung bzgl. Zeit (19 h) und Lokalverbot es mir unmöglich gemacht, einem wenn auch bescheidenen Erwerb nachzugehen, da bei Bekanntgeben der Aufsichtsbestimmungen jeder Arbeitgeber zurückscheut, Wege zu unternehmen, die dieses Aufheben, denn ein Arbeiter mit solchen Bestimmungen ist nicht verwendungsfähig.108 Derweilen trudelten weitere Beobachtungen und Denunziationen ein. Zwar werde er stets alleine zeitunglesend in Kaffeehäusern gesehen, und weder dort noch beim Heurigen betreibe er kommunistische Propaganda, aber würde er es so offensichtlich machen; es ist auch nicht anzunehmen, dass der schlaue Dorbez dies praktiziert.109 Mittlerweile waren auch die Nationalsozialisten auf ihn aufmerksam geworden. So einen Mann, der zwar seit Jahren der Politik abgeschworen hatte, aber dennoch dermaßen überwacht wurde, den hätte man sich durchaus in den eigenen Reihen vorstellen können. Doch Dorbez hatte den Braunen offenbar einen Korb gegeben, was laut dem VFBezirksführer Rudolf Woisetschläger wiederum dazu führte, dass sowohl die an hier als auch an ihn gelangten anonymen Briefe von nat. soz. Parteigängern verfasst worden seien, die darüber verärgert seien, dass Dorbetz ihren Aufforderungen, der NSDAP beizutreten, abgelehnt habe.110 Die Nationalsozialisten fischten sowohl im roten als auch im dunkelroten Teich. Nach dem Anschluss ging es für Dorbez nahtlos weiter, nur war es nicht mehr die Sicherheitsdirektion Niederösterreich, sondern die Gestapo, die sich seiner annahm. Konspirative Treffen, kommunistische Propaganda und Frauengeschichten – das schien die Gestapo besonders zu interessieren. 1939 kam Dorbez in den Semperit-Werken unter, wo er ein Dasein am Existenzminium fristete. Im selben Jahr ging es aber auch schon zur Wehrmacht, wo er als Sanitätsfeldwebel Dienst versah, nur um wenig später aufgrund politischer Unzuverlässigkeit in ein Lazarett nach dem anderen weitergereicht zu werden. Und als die Waffen endlich schwiegen, fand er sich nach 1945 als ehrenamtlicher Mitarbeiter der politischen Polizei der Stadtgemeinde Baden wieder. Unter Beobachtung stand auch Friedrich Schallmayer. Sein Verhalten vor dem Anschluss galt als gehässig gegnerisch, wobei er nicht nur gegen die NS-Bewegung vorgegangen war. Als radikaler Kommunist polizeilich bekannt, durfte er auch das Anhaltelager Wöllersdorf von innen kennenlernen. Nach dem Anschluss trat er der DAF bei, ansonsten galt er als politisch vollkommen unzuverlässig. Als er sich 1939 für die Technische Nothilfe (TN) bewarb, erschien seine Anmeldung zu diesem Verband sehr verdächtig und ist daher abzulehnen. Es besteht die Möglichkeit, dass er aus Gründen der kommunistischen Spionage dort beitreten will. Seine Überwachung in dieser Hinsicht wäre daher geboten.111 Beobachten, Schikanieren, Bedrohen – das NS-Regime übernahm dankbar die disziplinierenden Methoden des Vorgängerregimes. Die im Ständestaat angewandte Ausbürgerung erfreute sich genauso unter den Nationalsozialisten der Nachahmung – um sich missliebige 108 109 110 111
Ebd. – Dorbetz an Bundeskanzleramt (18.10.1937). Ebd. – Erhebungen an die BH-Baden (27.12.1937). Ebd. – Sicherheitsdirektion an BH-Baden (21.01.1938). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Schallmayer Friedrich (geb. 1904).
Kapitel 11 Das nicht schädlingshafte Andere
Kommunisten vom Leib zu halten. Ernst Kolba aus Pfaffstätten war wegen politischer Betätigung bereits zwei Mal verhaftet worden. 1937 zog es ihn auf die Iberische Halbinsel, um im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco ins Feld zu ziehen. Im Juli 1939 wies die Gestapo den Landrat von Baden deswegen an, endlich das Ausbürgerungsverfahren einzuleiten.112 Während Kolba im Ausland aktiv war, war es Hans Szumovsky im Inland. Als Spitzel der KP trat er 1937 der SA und der NSDAP bei. Mit gleicher Energie verfolgte er seine Arbeit, nachdem er 1939 zur Wehrmacht einberufen worden war. Ziel war es, die Wehrkraft zu zersetzen, feindliche Propaganda in Umlauf zu bringen, Diebstähle zu betreiben, Sabotageakte durchzuführen, Dokumente zu fälschen, defätistische Propaganda zu verbreiten und zur Fahnenflucht zu animieren. Als man ihm Mitte 1943 auf die Schliche kam, ergriff er selbst die Flucht. Er schaffte es, sich knapp einen Monat versteckt zu halten, bevor er festgenommen wurde. All seine Widerstandsaktionen konnten ihm nachgewiesen werden. Das Schlimmste war zu befürchten, zumal er Parteigenosse war. In einem Auszug aus dem Feldgerichts-Urteil hieß es: Alle diese Leute, die mit dem Bolschewismus arbeiten, gehören vollständig vernichtet oder so bestraft, dass diese im Leben so schnell nicht wieder hoch kommen können.113 Über Johann/ Hans Szumovsky wurde die Todesstrafe ausgesprochen. Doch dann – warum auch immer, Details sind nicht überliefert – wurde er im November 1943 zu 15 Jahren Zuchthaus begnadigt, mit Verlust der Wehrwürdigkeit sowie bürgerlicher Ehrenrechte auf die Dauer von zehn Jahren. Dass die bürokratischen Mühlen auch im NS-Staat langsam mahlen konnten, beweist der Umstand, dass Parteigenosse Hans Szumovsky, der Ende 1943 gerade noch seiner Hinrichtung wegen Hochverrat wie durch ein Wunder entkommen war, erst im Juni 1944 aus der NSDAP ausgeschlossen wurde. Die restliche Zeit, bis zur Niederlager des Dritten Reiches, verbrachte er im Zuchthaus Amberg in der Oberpfalz. Nach 1945 wurde er von den Registrierungslisten gestrichen bzw. in seinem Fall war er gar nicht meldepflichtig gewesen. Karl Szumovsky hatte großes Glück gehabt. Aufgrund ihres Aktionismus und Widerstandes hatten die Kommunisten den höchsten Blutzoll zu entrichten. Die Opferzahlen in Niederösterreich betragen 231 hingerichtete und 757 in KZ-Lagern inhaftierte niederösterreichische Kommunisten.114 In den industriellen Orten des Landkreises Baden wie Leobersdorf, Kottingbrunn, Möllersdorf, Berndorf und Traiskirchen finden sich Berichte über zahlreiche kommunistische Aktivitäten und dadurch über zahlreiche ausgesprochene Todesurteile. Um nur ein Beispiel zu bringen: Am 11. November 1942 verurteilte der Volksgerichtshof Josef Fleischmann (Kottingbrunn), Anton Heilegger (Traiskirchen), Anton Hermann (Traiskirchen), Leopold Hörbinger (Leobersdorf ), Ladislaus Kiss (Kottingbrunn), Franz Maier (Leobersdorf ) und Karl Pansky (Baden) zum Tod wegen kommunistischer Betätigung. Am 5. November 1943 wurde Felix Imre aus gleichen Gründen zum Tode verurteilt.115 112 Vgl. StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II – Ernst Kolba (geb. 1912). 113 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Szumovsky Hans (geb. 1919). 114 Vgl. MUGRAUER, Die Kommunistische Partei, S. 535–565, hier 542f. 115 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/time (10.04.2023).
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Ein Spaziergang durch genannte Orte im Bezirk Baden und entlang der Südbahnstrecke mit ihren Tälern wie das Triesting- und Piestingtal offenbart dem aufmerksamen Spaziergänger so mache Gedenktafel zu Ehren kommunistisch motivierter Widerstandskämpfer.
Nibelungen Die wenigsten Schwierigkeiten in Bezug auf Inklusion bereitete den Nationalsozialisten das deutschnationale Lager. Bereits in den 30er Jahren in Auflösung begriffen, fiel das ohnehin zersplitterte nationale Lager dem raschen Emporkommen des Nationalsozialismus anheim. Kontinuierlich verlor die Großdeutsche Volkspartei GDVP ihre Wähler, und das nicht nur an die NSDAP, sondern an den Landbund, die CSP und den Heimatblock. Laut einer Schätzung traten 70 Prozent der GDVP Mitglieder zur NSDAP über. Die Wähler nahmen sich ein Beispiel.116 Die Situation der GDVP in Baden spiegelte wunderbar die Gesamtsituation wider. Bereits 1924 wechselten vier GDVP-Mandatare zur CSP. Bei der Gemeinderatswahl 1929 wiederholte sich die Geschichte, diesmal war es jedoch nur einer. Letztlich saßen nur mehr zwei großdeutsche Gemeinderäte im Badener Gemeinderat, Franz Trenner und Richard Kurtics (geb. 1885). Ihre Integration in das christlichsoziale Lager bzw. den Ständestaat wird dadurch sichtbar, dass beide bis zum Anschluss im Gemeindetag blieben bzw. geduldet wurden. Von ihnen ging für die erdrückende christlichsoziale Majorität unter Kollmanns Führung keinerlei Gefahr aus.117 Grundsätzlich kamen großdeutsche Kooperationen mit der NSDAP schon vor deren Machtzuwachs vereinzelt vor. Richtig an Fahrt gewann das Ganze, als die NSDAP das nationale Lager vollkommen zu dominieren begann. Auf einer Parteisitzung 1933 (noch vor dem Verbot der NSDAP) wurde der Antrag eingebracht, dass die Badener GDVP geschlossen der NSDAP beitreten sollten. Eine Mehrheit kam nicht zustande. Aber es wurde den GDVP-Mitgliedern zugestanden, einzeln beizutreten. Gebrauch davon machten mit der Zeit Leopold Stolzenthaler, Anton Riess, Theodor Boldrino, Fritz Glanner, Hans Axmann und Adolf Steidl.118 Im Dezember 1939 waren sie bereits Parteimitglieder oder zumindest Anwärter – mit Rückdatierungen inklusive. Laut Anton Riess wären Trenner und Kurtics genauso beigetreten – wenn da nicht die sicheren Gemeindetag-Mandate gewesen wären. Auf diese hätten sie verzichten müssen. Als im selben Jahr die NSDAP verboten wurde, war der Weg klar, den Trenner und Kurtics gehen würden. Die sichere Arbeit im Gemein116 Vgl. KLÖSCH Christian, Das „nationale Lager“ in Niederösterreich 1918–1938 und 1945– 1996. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik, S. 565–600, hier 571f. 117 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 23. 118 Leopold Stolzenthaler (geb. 1869), Anton Riess (geb. 1868), Theodor Boldrino (geb. 1897), Fritz Glanner (1878–1944), Hans Axmann (1890–1979) und Adolf Steidl (geb. 1880).
Kapitel 11 Das nicht schädlingshafte Andere
detag war wesentlich verlockender als konspirative Arbeit im Untergrund und die Aussicht, in Wöllersdorf zu landen – allen voran für den 69-jährigen Franz Trenner. Als beide 1938 dann doch noch in die NSDAP wechseln wollten, blieben ihnen die NS-Türen verschlossen. Ihre parteipolitisch rationale Handhabe von 1933 war nicht vergessen worden, ihr Mitstimmen mit der CSP-Mehrheit, ihre mangelhafte Kooperation mit der NSDAP und das Ja-und-Amen-Sagen zum vaterländischen Regime. Hinzu kamen Vorwürfe gegen Trenner, dass er gar ein gehässiger Gegner der NS-Bewegung gewesen sei, dass er Anträge Schmids im Gemeinderat stets torpediert und als Vorsitzender des deutschen „Turnvereines 1862“ junge SA-Mitglieder schikaniert hätte. Und was das Spenden anbelangte, zeigte er sich von seiner knausrigen Seite. Hier wiederum konnte Kurtics punkten. Seine Spendenfreudigkeit nahmen die hiesigen NS-Stellen wohlwollend auf. Negativ hingegen war eine ihm attestierte krankhafte Sucht nach Auszeichnungen. Trenner tat sein Möglichstes, um sich gegen die Anschuldigungen zur Wehr zu setzen. Er rief in Erinnerung, dass er es gewesen sei, der 1896 die Initiative ergriffen hatte, den Arierparagrafen beim Turnverein einzuführen. Er verwies auf seine lebenslange Treue zur nationalen und großdeutschen Sache und darauf, dass auch er gewisse Opfer erbracht hätte. Dass man ihm nun die kalte Schulter zeigte, konnte oder wollte er nicht nachvollziehen. Nicht nur, dass ich meine Aufnahme in die NSDAP durch meine langjährige Tätigkeit im Nat. Lager wohl verdient habe, berufe ich mich auf den verstorbenen Gauleiter von Kärnten Klausner, welcher die Verfügung traf, dass alle Mitglieder der Groß Deutschen Partei automatisch in die Bewegung der NSDAP übergeführt werden. Warum gerade bei meiner Person eine Ausnahme gemacht werden soll, ist mir unerklärlich und für mich auch schmerzlich.119 Mit diesem Schmerz musste er für die nächsten sieben Jahre leben. Er verblieb auf der Warteliste bis zur totalen Endniederlage. Was Trenner vergönnt war, war 1940 eine feierliche Neuverleihung seines Doktordiploms in Gold zum 50-jährigen Jubiläum. Seinem Einsatz für die Ärzteschaft und für Großdeutschland wurde von Seiten des NS-Regimes gedankt, mehr aber auch nicht.120 Menschen wie Trenner und Kurtics waren den Nationalsozialisten nicht fremd. Mit Sympathisanten aus dem Großdeutschenlager hatten sie ihre Erfahrungen. Nationalen Ideen und germanischen Phantasien verpflichtet, vom Anschluss überzeugt, den Antisemitismus begrüßend, wagten so manche Großdeutsche letztendlich dann doch nicht den Sprung ins braune Fahrwasser. Vor allem die Illegalität und ihre möglichen juristischen Tücken schienen den honorigen und oft gut situierten Anhängern der Großdeutschen Volkspartei nicht ganz ihrem Naturell zu entsprechen. Aus Sicht der Nationalsozialisten wollten sich jene feinen Herren nicht die Hände schmutzig machen. Zu ihnen gehörte unter anderem der Reichsbahnrat Dr. Franz Ortmann. Politisch ursprünglich großdeutsch, schloss er sich bereits 1926 der NSDAP an, trat 1933 wieder aus, um 1938 wieder vorstellig zu werden. Der entfallene Mitgliedsbeitrag wurde durch eine Spende getilgt. Eine Gefälligkeit des 119 StA B, GB 052/Personalakten: Trenner Franz (1864–1956). 120 Vgl. BZ Nr. 89 v. 06.11.1940, S. 1.
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Ortsgruppenleiters Maximilian Rothaler bescherte ihm seine alte Parteinummer (52.950), weil sich irgendwelche illegalen Aktivitäten gefunden haben sollen. Damit stand auch der Weg offen, sowohl das Prädikat des „Alten Kämpfers“ als auch das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP in Empfang zu nehmen. Nach 1945 war das wiederum ein ernstzunehmendes Problem. Allerdings bestätigten neben führenden Badener Nationalsozialisten auch Monarchisten sowie Christlichsoziale – hier Josef Kollmann, dass Franz Ortmann Nationalsozialist, aber kein Illegaler war.121 Grundsätzlich aber war eine national-großdeutsche Sozialisation stets von Vorteil. Vom NS-Regime gute Noten ausgestellt bekam der Schlossereibetrieb von Johann Freisinger. Freisinger ist ein nüchterner und fleißiger Mensch, in seinem Gewerbe tüchtig und strebsam. Es liegt nichts Nachteiliges vor. Deswegen: Gegen Gemeindeaufträge bestehen keine Bedenken.122 Johann Freisinger war kein Parteimitglied, und nichts deutet daraufhin, dass er dies angestrebt hätte. Seine Sympathien für nationalistisches Gedankengut, seine Verwurzelung im nationalen Lager, er war Mitglied der Deutschen Turner, und vor allem sein mit Auszeichnungen versehener Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg waren Basis genug, um ihn am NS-Alltag wohlwollend teilhaben zu lassen – auch ohne Parteibuch. Die vollkommene Auflösung des großdeutschen Lagers war für die GDVP-Mandatare in Baden eine hausgemachte Sache. Anton Riess konnte es gar nicht schnell genug gehen: bin ich gleich im Jahre 1932 nach den Landtagswahlen, als ich sah, dass die Großdeutschen Partei keine Interessenvertretung mehr aufbringen konnte, der nationalsozialistischen Partei beigetreten. Gleiches hören wir von Theodor Boldrino: Ich habe gesehen, dass uns die Bevölkerung nicht mehr das Vertrauen schenkte, nachdem die Partei überaltert war. Er brachte hier einen ganz wesentlichen Punkt ins Spiel, den Parteigenosse Adolf Steidl nur bestätigen konnte: Es wurde damals der Beschluss gefasst, dass sich die Ortsgruppe der Großdeutschen Volkspartei aufzulösen habe, weil ihr die Jugend fehlte.123 Die dynamische und jugendliche NSDAP war, was die Gunst junger Menschen anbelangte, der honorigen GDVP mit ihren Professoren und Spitzenbeamten, sozialisiert im Kaiserreich, haushoch überlegen. Und dieser Jugend wollen wir uns jetzt annehmen.
121 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Ortmann Franz (geb. 1890). 122 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Freisinger Johann (geb. 1896). 123 StA B, GB 052/Personalakten: Trenner Franz – Zeugenaussagen März 1939.
Kapitel 12 Sprösslinge Oder: Von Sturm und Drang
Der Nationalsozialismus bzw. die NSDAP waren omnipräsent. Angefangen bei der Geburt bis zum Ableben, man stand irgendwo und irgendwie mit irgendeiner NS-Organisation in Verbindung. Bereits in der Grundschule begann die Indoktrination – „Händchen fassen, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken“1 Die Jugend ist die Zukunft – ein Kalenderspruch mit Potential. Das Überleben einer Ideologie ist von ihren Trägern abhängig. Deswegen war es nur folgerichtig für das NS-Regime, sich der Jugend zu bemächtigen und sie in die HJ und dergleichen zu pressen. Es galt den jungen Menschen aus den Fittichen der Eltern zu befreien. Denn wie die Badener Zeitung kundtat, bestand ein großer Unterschied zwischen elterlicher und der HJ-Erziehung. Dient die Erziehung in der Familie vor allem der Selbstbehauptung des Einzelwesens und damit dem biologisch so wichtigen Ziele der Erhaltung mit Hilfe des mütterlichen Instinkts bei der Früherziehung, der väterlichen Autorität beim weiteren Wachstum der körperlichen und geistigen Fähigkeiten, um das Kind möglichst lebensfähig und tüchtig zu machen, so dient die Erziehung in der HJ neben anderen Aufgaben vor allem der Erhaltung einer lebensfähigen gesunden Gemeinschaft nach dem Willen des Führers, damit also dem biologisch gleich wichtigen Ziel der Erhaltung der Art.2 Laut NS-Ideologie war die elterliche Erziehung alleine eine Mangelerziehung. Väterliche Strenge und mütterliche Instinkte alleine würden dazu führen, dass die egoistischen Triebkräfte aufgrund ihrer ungeheuren biologischen Durchschlagskraft die Oberhand gewinnen würden – wenn denn nicht die HJ wäre. Hier würde der Egoist in die Gemeinschaft eingegliedert werden, in die arische „Volksgemeinschaft“ wohlgemerkt. Unabhängig von einer dahergeschwurbelten NS-Pseudopädagogik, mit der die allermeisten Jugendlichen wohl ohnehin nichts angefangen hätten können, der Nationalsozialismus übte auf viele jungen Menschen eine unglaubliche Faszination aus. Er wusste eindeutig zu begeistern. Er war etwas Neues, etwas Dynamisches und Radikales. Selbst der alte Nationalismus, das Völkische, die Deutschtümelei mussten weichen, zu sehr erinnerten sie an die alten Honoratioren aus dem alten Kaiserreich der – je nach Herkunft – Hohenzollern oder Habsburger.3 Das NS-Regime nahm auf seine Weise die Jugend ernst. Landrat Wohlrab las den Gemeinden in seinem Landkreis im Dezember 1938 die Leviten, weil jene nicht jenes Verständ1 2 3
Vgl. RAUCHENSTEINER, Unter Beobachtung, S. 183f. BZ Nr.22 v. 18.03.1942, S. 1. Vgl. LONGERICH, Goebbels, S. 70.
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nis für die Bestrebungen der Nationalsozialistischen Jugend aufzubringen vermögen, auf das der Nachwuchs der deutschen Nation mit Recht Anspruch erhebt.4 Konkret ging es um die mangelhaft ausgestatteten oder gar nicht vorhandenen HJ-Heime. Die NS-Propaganda redete vielen Jugendlichen nach dem Mund, schmierte ihnen Honig ums Maul und griff eine aus heutiger Sicht verstörende Verbitterung auf. Und wie auch während des Ersten Weltkrieges gab es jede Menge Jugendliche, Hitlerjungen, die fürchteten, dass sie zu spät kommen würden, um doch noch selbst Anteil an den Erfolgen der Wehrmacht zu haben. Sie sollten sich gründlich täuschen.5 Es war die verwehrte Teilnahme am Ersten Weltkrieg. „Die“ Jugend fühlte sich betrogen. Weshalb durfte ausgerechnet sie in dem Stahlgewitter von Verdun oder Tannenberg ihre Ehre und ihre Tapferkeit nicht unter Beweis stellen. Stattdessen wurde der jungen Generation eine gedemütigte, ungeliebte, unerwünschte Weimarer Republik in Deutschland und die Erste Republik in Österreich vor die Nase gesetzt, vertraglich zementiert durch die schändlichen Friedensverträge von Versailles und Saint-Germain. Von zwei deutschen Großreichen war nichts mehr übrig. Der Jugend blieben Erzählungen darüber, über die gute alte Zeit, voller Stolz, Mut und Ehre. Narrationen über unbesiegte Heere, über Vorstöße bis weit hinter die feindlichen Linien und einen Verrat im Hinterland. Man war zu spät gekommen, und die neuen Zeiten hatten nicht einmal mehr Uniformen für alle – die Siegermächte beschränkten die Zahl der Soldaten. Wollte man dennoch uniformiert Dienst mit der Waffe leisten, so blieben einem die verschiedenen Wehrverbände, die jedoch zumeist von Frontsoldaten mit Kriegserfahrung dominiert wurden. Welche Möglichkeiten hatte da ein 18-Jähriger, außer den alten Kämpfern ein Bier zu bringen. Das alles war Verrat an einer ganzen Generation. Die Nationalsozialisten verschärften mit ihrer Parole „Macht Platz, ihr Alten“ nicht nur die Gegensätze der Generationen, sie schufen mit der militanten Männlichkeit und dem Aktivismus, den sie predigten und praktizierten, einen Rahmen für kollektive Gewalt, die die emotionale Bindung an die neue Gemeinschaft und an einen charismatischen Führer bestärkte.6 Wer so fühlte und dachte, dem sprach die NS-Propaganda aus der Seele und war Balsam für dieselbe zugleich. Diese Jugend verlangte nach der Macht und Uniformen, und das Regime konnte liefern – Angebot und Nachfrage, der NS-Markt regelte das. * Die Matura war nicht mehr das Nonplusultra vieler Gymnasiasten, wie sich Hans Meissner erinnerte. Der Vorbereitung hatte sich etwa ein Drittel der Klassenkameraden durch freiwillige Meldung zur Wehrmacht entzogen. Ihnen wurde die Reife zum Geschenk gemacht. Sie sind beinahe alle gefallen.7 Endlich Krieg, endlich wollte man sich beweisen, und diesmal würde 4 5 6 7
StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1938. RAUCHENSTEINER, Unter Beobachtung, S. 196. THAMER, NSDAP, S. 38. StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Lebenslauf, S. 1.
Kapitel 12 Sprösslinge
man nicht zu spät kommen. Die Wehrmacht gab ihr Bestes, um das adoleszente Verlangen nach dem Dienst an der Waffe, nach Reich und Führer zu stillen. Die Beglaubigungsgebühr von Unterschriften beim Eintritt von minderjährigen Freiwilligen in die Wehrmacht wurde erlassen. Die Luftwaffe hatte sich darüber mokiert, dadurch wären die Freiwilligenmeldungen vielfach beeinträchtigt worden.8 Ansuchen, Klagen und Bitten, fast schon ein Flehen, verbrämt mit martialischen Phrasen basierend auf einem Nachplappern schnöder NS-Propaganda, fanden sich in Briefen von 17- und 18-Jährigen, die darauf drängten, endlich die Wehrmachtsuniform überzustülpen oder der SS beitreten zu dürfen. Die Verbitterung der zu spät Gekommenen, der jugendliche Leichtsinn, die Gruppendynamik – die NS-Saat war gesät, das Regime musste die Ernte nur noch einfahren. Und wer dagegen immun war oder sich gar widerspenstig zeigte, der hatte sich in den Anschlusstagen davon überzeugen können, was mit erklärten Volksfeinden passierte. Aber wie gesagt, das NS-Regime musste nicht gleich zur autoritären Erziehung greifen. Man konnte Vorbilder schaffen. Dadurch das Konkurrenzdenken ankurbeln. Neid unter Gleichaltrigen fördern. Jahrgangskollegen präsentieren, die auf der SS-Karriereleiter rasch eine Sprosse nach der anderen erklommen. Paul P., 1935 führte ihn sein Weg zur illegalen HJ, zwei Jahre später war er schon bei der SS, nach dem Anschluss sogleich der RAD, dann am 1. Oktober 1939 die freiwillige Meldung zur SS-Standarte „Der Führer“ und im August 1940 zur SS-Standarte „Adolf Hitler“. Die Beförderung zum SS-Sturmmann im April 1941, zum SS-Rottenführer im November 1941, im November 1942 zum SS-Unterscharführer, im Oktober 1944 zum SS-Oberscharführer. Seine Frontlorbeeren heimste er sich in Kampfeinsätzen am Balkan im Frühjahr 1941 ein, in Russland 1941/42 und wieder 1943. Dafür winkten Auszeichnungen und Medaillen, mit Schwertern und eisernen Kreuzen verschiedener Klassen; hinzu kam etwas Internationalität, das Königlich Bulgarische Soldatenkreuz, das Rumänische Kreuz für Treue und die Ostmedaille. Vor dem Ganzen war Paul P. ein arbeitsloser Gärtner gewesen.9 Es war nicht nur die Front, die lockte, sondern auch die Politik. Der Beitritt zur NSDAP sollte mit dem Auflisten aller illegalen Aktionen während der Verbotszeit beschleunigt werden. Flugzettel verteilen, Hakenkreuze hinschmieren, Hakenkreuze entzünden, Böllerwerfen, Anschlagkästen der Vaterländischen Front zertrümmern – Aktionen dieser Art konnten sich so einige Jugendliche bereits in ihren jungen Jahren rühmen. In den Beurteilungsbögen fiel so etwas unter die Rubrik: Verdienste in der Bewegung. Junge Erwachsene, selbst wenn sie vor NS-Eifer sprühten, mussten trotzdem einer gewissenhaften Beurteilung unterzogen werden. Der 1923 geborene Ludwig Z. trat 1941 der Partei bei und wollte noch hoch hinaus. Das System war mit ihm zufrieden. Aufstrebender junger Mann, hieß es, tritt rückhaltlos für die Bewegung ein. Charakterlich vollkommen in Ordnung, deutschblütiger Abstammung, biologisch vorwiegend nordisch. Eine weltanschauliche Reife hatte er eben-
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Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Erfassung und Musterung von Wehrpflichtigen; 1939. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: P. Paul (geb. 1919).
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so erreicht.10 So jemand konnte es weit bringen. Mit so einem Menschenmaterial konnte man arbeiten. Welche Schande war es dann, wenn einem die Uniform verwehrt wurde, egal welche. Anton K., Jahrgang 1925, konnte es ebenso nicht erwarten und machte Nägel mit Köpfen. 1942 erschien der 17-Jährige in SS-Uniform in Enzesfeld bei der Arbeit. Nachdem man ihm klargemacht hatte, dass er noch zu jung sei, erschien er am nächsten Tag im Braunhemd und mit Parteiabzeichen. Er war fest davon überzeugt, dass er Teil der NS-Familie sei. Diese hatte aber ihre Zweifel, denn der junge Mann war jemand, der in der Lehrwerkstätte schon viele Anstände hatte und nächstes Jahr vermutlich nicht zu denen gehören würde, die in die Partei aufgenommen werden können. Bei der Schutzstaffel klang es fast wortgleich, da er meines Erachtens nicht zu den Jungen zählt, die sich einer Aufnahme in die SS würdig erweisen.11 Die NSDAP war vor allem in ihren Anfängen eine sehr junge Partei. Im Deutschland der 30er Jahre war ein Viertel der Mitglieder jünger als 23 und das zweite Viertel jünger als 30. Noch jünger waren nur noch die Mitglieder der SA.12 Ich habe es zuvor bereits angesprochen. Die etablierten Wehrverbände waren von Kriegsveteranen dominiert. Als Halbstarker hattest du keine Chance, dich dort zu profilieren. In der SA hingegen, da dominierte die Jugend. Junge Männer waren in zahlreichen Spitzenpositionen zu finden. Als Beispiel sei der oberösterreichische Gauleiter und Landeshauptmann August Eigruber mit seinen 31 Jahren genannt.13 Ebenso in der Badener Kreisleitung 1938 wimmelte es vor jungen Männern (immer in Relation zu den Verhältnissen davor). Kreisleister Hans Ponstingl war 28, der Kreispersonalleiter Kurt Wilhelm Haun 24, Kreisorganisationleiter Sepp Stiasny 26, Kreishauptstellenleiter und Badener Polizeichef Karl Sammerhofer 25 und Kreispropagandaleiter Rudolf Schachinger 24 Jahre alt. Betrachtet man die weiteren Posten: Kreishauptstellenleiter, Kreiswirtschaftsleiter, Kreiskassenleiter, Kreispresseamtsleiter usw., so sind es insgesamt 56 Personen. Von diesen waren 32 nach 1900 geboren, demnach nicht einmal 40 Jahre alt. Die ältesten waren Franz Schmid, Jahrgang 1877, und die Kreisfrauenschaftsleiterin Viktoria Luckmann, Jahrgang 1875. Mit den Jahren wurde die Kreisleitung älter bzw. das Personal wurde mehr. Laut einer Liste aus dem Jahre 1944 arbeiteten 84 Personen in der Kreisleitung, davon waren 34 Personen nach 1900 geboren.14 Eine Entwicklung, die genau in das Gesamtbild passte. Nach der endgültigen Machtübernahme, sei es in Deutschland oder in Österreich, nachdem die NSDAP sich „geöffnet“ hatte, stieg der Altersdurchschnitt der Partei von unter 30 (Deutschland vor 1933) auf 45 gegen Ende des Krieges.15
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Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Z. Ludwig (geb. 1928). Sta B, GB 052/Personalakten: K. Anton (geb. 1925). Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 177. Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 121. Vgl. StA B, GB 052/Kreisleitung, Fasz. I; Personallisten Kreisverwaltung u. Ortsgruppen. Vgl. THAMER, NSDAP, S. 77. Den gleichen Altersdurchschnitt finden wir übrigens in der Anfangszeit der Badener NSDAP in den 20er Jahren (siehe Kapitel 7).
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Die Jugendlichkeit der NS-Bewegung war etwas Sichtbares. Gehen wir zeitlich etwas zurück und werfen wir einen Blick auf die Zeit vor dem Anschluss, auf den 10. März 1938. An diesem Tag kam es in Baden zu Zusammenstößen unterschiedlicher Gruppierungen am Theaterplatz. Um dreiviertel acht sammelten sich knappe hundert Christlich-Deutsche Turner und Angehörige des Freiheitsbundes. Es dauerte nicht lange, da erschienenen NS-Anhänger, deren Zahl stetig zunahm. Obendrein kamen noch an die zwei Dutzend Sozialisten/Kommunisten hinzu, und es kam zu Schreiduellen mit „Heil Hitler“-, „Rot Front“- und „Österreich“-Rufen. Es blieb nicht beim Verbalen. Alsbald flogen die Fäuste. Die Stadtpolizei unter Ludwig Gerstorfer musste durch die Gendarmerie unter Bezirksinspektor Franz Popp verstärkt werden – einem Mann, von dem es 1944 hieß, er sei ein aufrechter und charakterfester Nationalsozialist. Mittlerweile zählten die Sicherheitskräfte an die tausend Nationalsozialisten. Laut der polizeilichen Einschätzung waren die meisten jugendlichen Alters, angeführt von stadtbekannten Nationalsozialisten, teilweise aus dem Exekutivkomitee. Die verschiedenen Gruppen konnten einigermaßen getrennt werden. Die Nationalsozialisten zogen anschließend in Kolonnen singend durch die Stadt zum Bahnhof, lösten sich dort auf, um sich jedoch wenig später erneut zu gruppieren. Da war bereits das Landesgendarmeriekommando Niederösterreich unter der Führung von Revierinspektor Franz Krivka eingetroffen, der die Menge aufforderte, sich zu zerstreuen, und ansonsten mit dem Gebrauch der Dienstwaffe drohte.16 Die Zahlenverhältnisse waren verheerend. Zwei Dutzend Linke, hundert Staatsloyale und an die tausend, zumeist junge, Nationalsozialisten. Die Zukunft gehört der Jugend. Wer damals solche Floskeln beherzigte, dem wurde angst und bange. Denn dieser Jugend sollte tatsächlich die baldige Zukunft gehören. Der Ständestaat war zwar weitgehend ein Papiertiger, doch die führenden Köpfe machten sich nichts vor. Nicht umsonst wurde das Mindestalter bei der bevorstehenden Schuschnigg-Abstimmung über ein freies Österreich auf 24 Jahre festgelegt.17 Es rächte sich nun, dass die Jugend und der Nationalsozialismus in den 20er und 30er Jahren nicht ernstgenommen worden waren. Die oft halbwüchsigen Sympathisanten und Rowdys, die Böller warfen oder Hakenkreuze an Wände schmierten, wurden von der Polizei gestellt, ermahnt, bedroht, vielleicht gab es eine Ohrfeige, und dann hieß es ab nach Hause.18 Die Badener Zeitung und das Badener Volksblatt schrieben oft abfällig, zynisch und belächelnd über die jungen Nationalsozialisten. Einzig die sozialistische Badener Wacht mahnte hier und da, sich der Jugend anzunehmen, um sie nicht den braunen Rattenfängern zu überlassen. Die Warnung wurde in den Wind geschlagen. Dass vor allem junge Menschen leicht aufgehetzt werden konnten, musste man später leidvoll in Erfahrung bringen. Berichte von den Novemberpogromen schildern einen auffallend hohen Anteil an Jugendlichen und selbst Kindern, die an den Plünderungen 16 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Popp Franz (geb. 1891). 17 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 47. 18 Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 234.
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teilgenommen hatten. Es gab Fälle, da zogen Schulklassen geschlossen durch die Straßen, ermuntert und angeführt durch Direktoren und Lehrer.19 Als Kind durfte man plötzlich Scheiben einschlagen und Läden plündern, Rache nehmen an unliebsamen Personen älteren Semesters – ein unglaublicher Machtzuwachs. Der Nationalsozialismus stattete ehemals Machtlose je nach Bedarf mit großer Macht aus. Das NS-Regime hatte ein wahrliches Talent, in allen politischen Lagern zu fischen. Hermann Fischer erzählte nach 1945, wie er sich als junger Erwachsener von Wilhelm Seehof, einem talentierten Keiler junger Männer für die NS-Bewegung, überreden hatte lassen, der SA beizutreten. Dabei stammte er aus einer sozialistischen Familie, war bei den Naturfreunden, beim Arbeiterturnverein und der Arbeiterbühne Baden. Sein erster Einsatz in SA-Uniform begann am 14. März 1938, Wachestehen vor dem Hildegardheim.20 * DJ, JM, HJ, BDM – Großbuchstaben, die für die Indoktrinierung junger Menschen stehen. Deutsches Jungvolk (DJ) für die Knaben, Jungmädelbund (JM) für die Mädchen, der Altersklassen zehn bis vierzehn. Hitlerjugend (HJ) und Bund deutscher Mädel (BDM) für die 14- bis 18-Jährigen. Die Anfänge der HJ in Baden stammen noch aus der legalen/illegalen Zeit. Das Aufbauwerk schien eher schleppend voranzugehen. Involvierte erinnerten sich an fünfzehn Burschen. Trotz der wenigen Mitglieder gab es bereits Zellenleiter sowie, angetrieben durch pubertären Eifer und halbstarke Angeberei, eine „Disziplinierungsgruppe“, deren Aufgabe es angeblich war, Verräter aus den eigenen Reihen im Kurpark aufzuknüpfen. Das ganze Unterfangen war nicht von langer Dauer. Ende November 1934 gegründet, griffen die Behörden Anfang 1935 durch und nahmen die jungen Männer, die sich alle gegenseitig verrieten, einen nach dem anderen fest. Einer der HJ-Bannführer, Hans Steindl, flüchtete ins Altreich und wurde ausgebürgert. Weitere HJ-Führer, wie die beiden Elektrikerlehrlinge Alfred Langer und Franz Schmid, wurden zu zehn Wochen Arrest verurteilt.21 Für Letzteren, ihren verhetzten Sohnemann, setzte sich die eigene Mutter bei den Behörden mit Bittbriefen ein. Zumindest ein Haftaufschub, um das Vorwärtskommen meines jugendlichen Sohnes, der mehr aus Dummheit als aus politischer Überzeugung, die ja in dem derartigen Alter noch gar nicht vorhanden sein kann, sich zu unerlaubten Handlungen verleiten ließ […].22 Die Behörden hatten diesbezüglich keine Bedenken, aber eine Läuterung fand nicht statt. 1937 übernahm Franz Schmid die illegale HJ, wurde nach dem Anschluss HJ-Bannführer von
19 Vgl. GROSS, November 1938, S. 54f. 20 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Fischer Hermann (geb. 1915) und GB/052 Personalakten: Seehof Wilhelm jun. (geb. 1913). 21 Alfred Langer (geb. 1917). 22 ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 131.
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Baden und stieg 1939 gar zum HJ-Kreisbannführer von Korneuburg auf.23 Was die HJ und die anderen Gliederungen waren und welche Aufgaben sie zu erfüllen hatten, darüber gab die Badener Zeitung in einem Frage-und-Antwort-Spiel vom 2. April 1938 Auskunft. Von den 20 Fragen sehen wir uns nur einmal die ersten beiden Fragen an: 1. Warum heißt sie „Hitler-Jugend“? Weil die Jugend immer an den Mann glaubt, der Deutschland aus tiefster Not errettet hat, weil die Jugend auf den Führer verpflichtet und sie der Garant der Zukunft ist. 2. Was will die Hitler-Jugend? Die gesamte Jugend des deutschen Volkes zusammenfassen und zu tüchtigen deutschen Menschen erziehen, zu Kämpfern für Volk und Führer, für den Gedanken des Nationalsozialismus.24 Die Fragen elf und zwölf beschäftigten sich mit dem BDM, der als Erziehungsgemeinschaft, die durch Sport, charakterliche und weltanschauliche Schulung aus unseren Mädeln tüchtige, lebensfrohe Menschen macht, die sozialistisch denken und handeln und politisch klar sehen. Es formt die Mädel in ihrer Haltung und erzieht so eine gesunde deutsche Muttergeneration für die Zukunft.25 So die Theorie. Die Praxis konnte die hohen Erwartungen nicht ganz erfüllen, wenn wir die Erinnerungen Hans Meissners zu Rate ziehen. Es galt, sich die Hitlerjugend (HJ) irgendwie vom Leibe zu halten. Sie war gottseidank, zumindest hier in Baden, ein eher verschlampter „Haufen“. Die Führer wechselten sich ab wie das Wetter.26 In seinen Augen war es ein relativ harmloser Verein, mit, um es in seinen Worten zu sagen, einem pandurenhaften Verhalten, nicht unähnlich den Pfadfindern, wie er fand, aber mit einem unsinnigen militärischen Drill. Das „Schlamperte“ bei diesem Haufen manifestierte sich dadurch, dass die Anwesenheit relativ lasch gehandhabt wurde. Man kam, trug sich ein, machte kurz mit, dann versteckte man sich irgendwo, und sobald es keiner mitbekam, ging man nach Hause – oder man ging überhaupt nicht hin. Hans Meissner glänzte vorwiegend mit Abwesenheit bzw. machte sich schnellstmöglich aus dem Staub. Sein jüngerer Bruder Heimo war da nicht so geschickt. Während Hans schon längst zu Hause war, kam Heimo meist erst am Abend zurück.27 Dem blieben vor allem die Schulungen in Erinnerung und die dort recht einfach gezogenen Schlussfolgerungen der HJ-Führer. „Was ist der Unterschied zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus?“ Die richtige Antwort: „Der Nationalsozialismus ist Aufbau, Kommunismus ist Untergang!“28 Doch diese Plumpheit war bei weitem nicht allen bewusst, und jene Erinnerungen von Hans und Heimo Meissner wurden Jahre später niedergeschrieben. Der 16-jährige Raimar
23 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Schmid Franz (geb. 1916) und WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 27 und NSDAP-Karteikarten groß: Steindl Hans (geb. 1906). 24 BZ Nr. 27 v. 02.04.1938, S. 4. 25 BZ Nr. 27 v. 02.04.1938, S. 4. 26 StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 3. 27 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 26, 36 und BAUER, Die dunklen Jahre, S. 144. 28 WIESER, Baden 1938, S. 38.
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Wieser schrieb nach 1945 ebenso mit bereits reichlichem Erfahrungsschatz und Witz: Die Gymnasiasten hatten den freiwilligen Zwang, zur HJ zu gehen.29 Doch damals, 1938, bestand eine unbeschreibliche Gruppendynamik, und das Militärische, das Uniforme, war nun einmal etwas Faszinierendes. Er erinnerte sich an die Suchscheinwerfer, die Lichtkegel, die den Himmel durchzogen. Es waren atemberaubende Lichtspiele – mehr brauchte es nicht, um Begeisterung zu erzeugen. Und als Baldur v. Schirach Leobersdorf mit seiner Anwesenheit beehrte, stand Raimar Wieser Spalier und genoss diesen erhabenen Moment, wie der Reichsjugendführer durch ihre Reihen schritt und jeden von ihnen einzeln begrüßte. Die Kinder- und Jugendpolitik des Nationalsozialismus war durch und durch durchdacht. Spiel, Spaß und vormilitärische Ausbildungen waren das Um und Auf. Das Ausnutzen der Gruppendynamik und die Darbietung von noch nie Dagewesenem bescherten unzähligen jungen Menschen erhebende Momente. Neben der Motor-HJ gab es die Marine-HJ und die Flieger-HJ, die durch den Flugplatz Bad Vöslau gleich in der Nähe eine optimale Demonstrationsmöglichkeit bot. Da wurde nicht lange theoretisiert, das war greif- und hörbar. Das NS-Regime wusste auf perfide Art, Kinder und Jugendliche zu ködern. 1938 gab es zuerst eine Modellausstellung – Bomber, Jäger und Sturzkampfbomber, alles was das Kinderherz begehrte. Etwas später stiegen schon die Segelflugzeuge auf. Ein Jahr später waren es bereits die Kampflugzeuge der Messerschmitt-Werke.30 Die Stadtgemeinde Baden stellte der Jugend die Anavi-Villa samt Park in der Fabrikgasse zur Verfügung. Nicht wenige Eltern waren besorgt. Das ständige Außer-Haus-Sein und diese paramilitärische Erziehung. Wollte man ihre Kinder zu Soldaten erziehen? Die Badener Zeitung gab Entwarnung. Die Kinder sollten auf keinen Fall dem Elternhaus entrissen werden. Das NS-System wolle nur bei der Erziehung helfen, um stolze Menschen zu formen. Stolz, aber vor allem Spaß und Freude waren es bei Gertrud Maurer. Im Café Ebruster meldete sie sich mit zehn Jahren als Hitlerjugendanwärterin. Mit Schulbeginn im Herbst 1939 begann ihr Dienst beim Jungmädelbund (JM). Das erste, was wir lernten, war Hinterglasmalerei, nicht, dass wir 10-Jährigen große Kunstwerke geschaffen hätten, aber es war lustig, und die meisten waren mit Feuereifer dabei.31 Besondere Hetz hatte sie mit ihren Freundinnen beim Marschieren und dem Singen von Liedern – deren Texte sie verballhornten oder abänderten. Sie besuchten Kinovorstellungen und machten Ausflüge. Spaß machten zudem die zahlreichen Sammlungen. Zu zweit in der Stadt unterwegs zu sein und um die Gunst der Passanten mit anderen Sammel-Pärchen zu konkurrieren, war lustig und aufregend. Ihre Freundin kam auf die Idee, dass, wenn sie den deutschen Akzent nachmachten, sie mehr einnehmen könnten. Gertrud beschränkte sich auf „Och nee“ oder „Kiek mal“, während ihre Freundin den reichsdeutschen Akzent bravourös imitieren konnte. Und siehe da, das Geld klingelte in der Kasse.32 29 30 31 32
WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 48. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 17. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 46. Vgl. ebd. S. 47.
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Einen etwas anderen Zugang hatten verständlicherweise Eva Kollisch und ihre Brüder. Sie mussten erleben, dass all ihre Freunde, selbst jene, von denen sie wussten, dass sie die Nazis hassten, sich in der HJ wiederfanden. Alles verkrampfte sich, doch: Die Frage, die uns beide beschäftigte – ob wir absolut sicher waren, dass wir uns geweigert hätten, der Hitlerjugend oder dem Bunde Deutscher Mädchen beizutreten, wenn wir nicht Juden wären –, hielt uns davon ab, entrüstet zu sein. Freundschaften rückten in weite Ferne. Sie und ihre Brüder konnten nicht Teil der neuen Jugend sein. Für sie gab es keine Gruppendynamik, keine Uniformen, keine Ausflüge – doch Stolz wollten sie dennoch empfinden, so wie ihre Freunde, die nun etwas Größerem angehörten. Wenn die uns Juden nannten, dann reichte das, um uns zu welchen zu machen. Rückwirkend schlossen wir uns dem „auserwählten Volk“ an und fügten uns mit Stolz in das, was nicht zu ändern war.33 * Das Gruppenhafte, das Kameradschaftsgefühl, die Ordnung, die klaren Hierarchien und die Uniformität machten etwas mit den Betroffenen. Ein neues oder anders Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl kam auf – hier passierte etwas. Etablierte Autoritäten konnten hinterfragt werden. Nicht immer zur Freude ebendieser. Zu spüren bekam das der 73-jährige Parteigenosse Adolf Hochmeister, Postamtsdirektor im Ruhestand, Besitzer eines Papierwarengeschäftes in der Gutenbrunnerstraße 19, ein alter Schönerianer, angesehener Badener und neuerdings Opfer einer Handvoll HJ-Burschen. Nicht nur, dass sie ihn wegen seiner Glatze und seinem altersbedingten leicht geneigten Gang verspotteten, erschienen sie regelmäßig in seinem Papierwarengeschäft und verlangten unmögliche Dinge wie z. B. „Ein Schreibheft für die 13. Kl. oder ein Kurzschriftheft für die Langschrift und dergleichen mehr“ […] Der Vorfall ist umso bedauerlicher, da die Jungen aus achtbaren Familien stammen.34 Der Fall ging an den Landrat, um Belehrungen und Bestrafungen wurde gebeten. Nicht nur das junge männliche Geschlecht sah sich in gewissen Situationen im Aufwind. Selbstbewusst und empört zugleich trat im Dezember 1943 die Klassenführerin der 8. Klasse Frauengasse Irmtraut Trimmel auf, als behauptet wurde, dass Klassenkameradinnen von ihr geschminkt durch die Straßen stolziert sein sollen. Ferner soll man sie in Wien gesehen haben, in Tanzlokalen das Tanzbein schwingen und das mit fremdländisch aussehenden Männern. Wir stellen fest, dass das eine grobe Verleumdung ist […]. Wir wissen, dass diese Anschuldigungen nicht auf Wahrheit beruhen und fühlen uns als Klasse angegriffen […]. Für die jungen Frauen war das eine Ehrenbeleidigung, und wir verlangen Genugtuung dafür.35 Die Männergeschichten empfanden sie als dreiste Lüge. Was das Schminken anbelangte, so betrachteten sie es als ihre persönliche Angelegenheit. Sie wussten zwar, dass sich eine deutsche Frau nicht schminkt, denn damit würden sie einen fremden Brauch zelebrieren, der 33 KOLLISCH, Der Boden unter meinen Füßen, S. 24. 34 StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. I HJ-BDM; Mappe HJ-Allg. 35 Ebd. – Fall Muckenschnabl und Zakrzyk.
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der deutschen Maid fremd sein sollte. Doch in dem besagten Fall handelte es sich sicherlich um eine Pomade (Lippenbalsam), um aufgesprungene Lippen zu kurieren. Solch kämpferische Attitüde mochte zeitweise dem NS-Regime ganz gut gefallen haben. Kreisfrauenschaftsleiterin Marie Hendrich gab im Mai 1941 aber zu bedenken, die Jugendgruppe soll nicht ausschließlich selbstständige Wege gehen, da sonst die Gefahr besteht, dass sich ein Staat im Staate bildet. Die Jugend, die ohnehin leicht zu Überheblichkeit neigt, soll bei möglichster Gewährleistung freier Entfaltung sich doch auf die Erfahrung älterer Frauen stützen, die Wegbereiterinnen sind für jene junge Menschen, deren letztes Ziel sein muss, deutsche Frau und Trägerin der jungen Nation zu werden.36 Wenn es um das Spannungsfeld Jugend und Autorität geht, darf das Elternhaus nicht außer Acht gelassen werden. Für die Jugend konnte Nationalsozialismus auch Rebellion bedeuten – gegen was auch immer. Die Ablehnung der Eltern gegenüber der NS-Begeisterung ihres Nachwuchses stachelte junge Menschen in manchen Fällen nur noch mehr an, sich der nationalsozialistischen Welt hinzugeben. Verbote können bekanntlich das Gegenteil bewirken. Der 19-jährige Josef Gleichweit, Sohn eines überzeugten christlichsozialen Vaters, durfte nicht einmal dem Deutschen-Turnverein beitreten. Nur der Christlich-Deutsche Turnverein war ihm erlaubt. Im Geheimen trat er der SS bei und wurde beim Nachrichtendienst aktiv.37 Der gleichaltrige Karl Rupprecht, Sohn des ehemaligen Bezirkshauptmanns von Baden, war ebenso Mitglied des Deutschen-Turnerbundes, später der HJ, und während der Vater Nationalsozialisten verfolgte, sympathisierte der Sohn mit ihnen.38 In diesem Zusammenhang sei noch an Otto Sulzenbacher erinnert, der seinen Sohn mittels Ohrfeigen die HJ auszureden gedachte (Kapitel 4 Schulen) oder die Schilderungen Camillo Gärdtners über seine Kindheit, Jugend und die Beziehung zu seinem Vater (Kapitel 8). Von einer Rebellion gegen das Elternhaus berichtete auch Renate Büttner, doch zuvor war der Vater Eugen Büttner paternalistisch am Wort.39 Meine Tochter lebt seit ihrer frühesten Jugend in meinem Haushalt und hat das elterliche Haus für längere Zeit noch niemals verlassen. Ich bin somit in der Lage ihr ganzes Leben zu überblicken und über ihr Tun und Lassen Aufschluss zu geben.40 Er beschrieb die christlich-österreichische Erziehung, die allerdings durch den Einfluss nationalsozialistischer Kommilitoninnen und Professoren auf der Universität und einem jugendlichen Idealismus ins Wanken geriet. Das führte so weit, dass sie in der Verbotszeit den Kontakt zu den Eltern abbrach. Im Anschluss bestätigt Renate Büttner die Worte ihres Vaters. Gemeinnutz vor Eigennutz sowie Freiheit und Brot und ähnliche NS-Phrasen klangen für sie so verführerisch. Nach dem Anschluss war sie Hilfslehrerin am Realgymnasium für Mädchen in Baden. Ihre Parteimitgliedschaft war ein guter Türöffner, doch der Idealismus verflog rasch. Die Lust, parteipolitisch mitzuarbeiten, ging 36 37 38 39 40
StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. II NSF/DFW Korrespondenz; Mai 1941. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Gleichweit Josef (geb. 1917) Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Rupprecht Carl sen. und Rupprecht Karl jun. (1917–1987). Eugen Büttner (geb. 1876). StA B, GB 054/Registrierungslisten: Büttner Renate (1907–1970).
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merklich zurück. Politischen Themen ging sie immer mehr aus dem Weg oder mied sie vollkommen. Mehrere Zeugen sagten nach 1945 aus, dass sie trotz Parteibuch ihre Macht nie missbraucht habe. Darunter war Hedwig Bondy, deren Tochter als „Mischling“ die Schule 1944 verlassen musste. Sie bezeichnete Renate Büttner als eine gütige Lehrerin, die sich sogar, wenn auch erfolglos, gegen die Ausweisung ihrer Tochter aussprach. Blicken wir in Festschriften des Gymnasiums aus dem Jahre 1952 und 1965, finden wir Renate Büttner seit 1934 an der Schule. Sie schied 1945 aus, kam 1948 zurück und blieb bis 1957. Die jugendliche Rebellion funktionierte in alle Richtungen. Der 14-jährige Carl Heinz Bernaschek liebte Jazzmusik und wies damit einen durch und durch undeutschen Musikgeschmack auf. Jazz galt in nationalsozialistischen Ohren als „Negermusik“, was den 14-Jährigen nicht daran hinderte, sie ausgiebig zu konsumieren. Doch dies war nicht genug der Provokation. 1940, als er 16 Jahre alt geworden war, ließ er sich die Haare wachsen und trug weite Hosen. Er wurde zum Schlurf, erregte Unmut und ein mir unbekannter Zeichner karikierte mich als den „Prototypen des Schlurfs“. Seine Zeichnung prangte lange an einer Wand am „Hotel Stadt Wien“.41 Das Verhältnis zur HJ war „angespannt“. Es kam zu Auseinandersetzungen, die in Schlägereien mündeten. Mal verließ er mit Gleichgesinnten als Sieger das Feld, ein anderes Mal als Verlierer – inklusive Kurzhaarschnitt, da die HJ ihre Triumphe mit dem Haarescheren ihrer Gegner zelebrierte. Carl Heinz Bernaschek hatte noch Glück im Unglück. Er fand eine Anstellung als technischer Zeichner am Fliegerhorst Bad Vöslau. Auf Diskussionen bezüglich seiner langen Haare ließ er sich dort nicht ein, nicht einmal mit seinem Vorgesetzten. Als seine Haarpracht Thema wurde, lenkte Bernaschek auf seine Arbeit und wollte wissen, ob es hier Beschwerden gäbe – seine Haare waren Privatsache. Womöglich von seinem Schneid positiv überrascht, sprach der Vorgesetzte die Haare nie wieder an, und Bernaschek blieb fortan unbehelligt. Mehr noch: Als ein SA-Mann bei seinem Vorgesetzten insistierte, weshalb er (Bernaschek) denn bei keiner NS-Formation sei, entgegnete sein Chef, dass er doch hier am Fliegerhorst ohnehin bei der Luftwaffe arbeite. Damit hatte Bernaschek endgültig seine Ruhe. Auf eine andere Art rebellierte der Schusterlehrling Josef Grabenhofer. Mit 17 wollte er einen Film sehen, der ab 18 freigegeben war. Wegen dem einen Jahr wollte er sich den cineastischen Abend nicht vergällen lassen. Doch er hatte Pech, er wurde von der Polizei erwischt. Einsicht zeigte er keine und argumentierte durchaus clever. Kurz vor der Einberufung stehend, wäre er für diese alt genug, aber nicht für den Film! Es folgte eine, wie er es formulierte, Schulung im nationalsozialistischen Sinn, gepaart mit einer Tracht Prügel durch seinen Lehrherrn. Für diesen überzeugten Nationalsozialisten, erzählte Josef Grabenhofer, war schon das Verschneiden einer Schuhsohle eine volksschädlingshafte Tat gewesen.42 Mit Benennungen als Schädling machte Johann S. seine Erfahrungen. Er soll durchgehend ein asoziales Verhalten an den Tag gelegt und dadurch das Ansehen der HJ beschmutzt 41 WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 39 – Carl Heinz Bernaschek (1924–2011). 42 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 41.
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haben. Dabei tat das NS-System das Menschenmöglichste, um Johann S. zu integrieren. Zuerst verschaffte man ihm eine Anstellung in der Kammgarn-Fabrik in Bad Vöslau, anschließend in der Molkerei in Baden. Beide Male wurde er aufgrund zahlreicher Fehltage gekündigt. In einem System, in dem jeder wie ein Zahnrad zu funktionieren hatte, gab es für jemanden wie Johann S. keinen Platz. Im Oktober 1942 schlug der HJ-Jungbann 551 vor, dass er es für das Beste hält, den Jungen sofort in ein Arbeitslager zu überstellen. Einen Jugendarrest hält er nicht für angebracht, da das Jugendarrestlokal auf den Jungen kaum abschreckend wirken wird.43 Eine jugendliche Scheiß-drauf-Mentalität sowie Draufgängertum und Leichtsinnigkeit konnten lebensgefährlich werden. Glück dahingehend, dass er auf mitdenkende Exekutivund Justizbeamte traf, hatte der 1923 geborene Kurt Philipp. Als „Halbjude“ klassifiziert, bekannte er sich offen zum Kommunismus, bezeichnet sich als Parteimitglied und besuchte einschlägige Treffen im „Café Marian“ in Baden. Im März 1942 wurde er verhaftet und eingekerkert. Selbst hinter Gittern gebärdete er sich weiterhin als Kommunist und gab seine ideologischen Überzeugungen an seine Zellengenossen weiter. Allerdings stellte sich bald heraus, dass nicht viel dahinter war. Er wollte sich nur etwas wichtigmachen, Parteimitglied war er genauso wenig. Das Gericht stufte ihn als einen harmlosen Angeber ein und ließ ihn gehen.44 Die jugendlichen Sturm-und-Drang-Jahre bargen ernstzunehmende Gefahr, konnten sich aber nach 1945 als wertvolles Gut erweisen. Im Jahre 1932–1933 war ich als begeisterter junger Mann von 22 Jahren der nationalsozialistischen Partei beigetreten […]. Ich habe mir den Anschluss ganz anders vorgestellt, wie eine große Anzahl der meisten ideal denkenden Nationalsozialisten […]. Dem soll alsbald die Erkenntnis gefolgt sein, dass wir alle jungen Leute der damaligen Zeit betrogen und irrgeführt wurden.45 Der Tischler Ferdinand Eitler war nicht der Einzige, der zu solch einem Erklärungsmuster griff – ich war unwissend, ich war leichtsinnig, übermütig und habe mich hinreißen lassen. Der etwas jüngere Dr. Alois Bohn trat 1931 der NSDAP bei, 1933 wieder aus, 1938 beabsichtigte er ein zweites Mal, Mitglied zu werden, wohlwissend um die schiefe Optik, und wandte sich deswegen hilfesuchend an durchaus prominente NS-Protagonisten. Ich gebe zu, dass ich unmittelbar vor dem Umbruch 1938 in jugendlichem Unverstand und durch die Propaganda angeregte übertriebene Phantastereien einen derartigen Brief an Gauleiter Frauenfeld geschrieben habe.46 Die Jahrgänge 1920 bis 1930, die zuvor der HJ oder dem BDM angehörten, wurden oftmals automatisch in die NSDAP übergeführt. Sie wurden nach 1945 zum Großteil von den Registrierungslisten gestrichen. Darunter fanden sich die 1927 geborene Edith Ruby, sie war nach der Handelsschule bei der Kreisbauernschaft als Schreibkraft angestellt, Inge43 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II; S. Johann (geb. 1925). 44 Vgl. DÖW, Philipp Kurt (geb. 1923) Mischling Kommunistische Betätigung – abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/Archiv (10.04.2023). 45 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Eitler Ferdinand (geb. 1909). 46 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Bohn Alois (geb. 1911).
Kapitel 12 Sprösslinge
borg S., selber Jahrgang erging es genauso, Herme L. ebenfalls, Hans S. kam 1943 automatisch von der HJ zur NSDAP. Von der Registrierungsliste gestrichen, konnte er nach 1945 sein Medizinstudium problemlos fortsetzen.47 Detto bei Otto Trenner – von der HJ automatisch zur NSDAP. Er konnte obendrein nachweisen, dass er nie eine Mitgliedskarte persönlich überstellt bekam. Das war sowohl der Registrierungskommission 1945 als auch den Nationalsozialisten angeblich ganz wichtig. Die Aufnahme wurde nicht als ein einseitiger Akt angesehen – so stand es zumindest am Papier.48 Junge Badener werden uns noch öfters begegnen, besonders zum Schluss hin, als es darum ging, die letzten Reserven für den totalen Krieg zu mobilisieren. Ich erinnere an Josef Grabenhofer, für bestimmte Filme waren sie zu jung, aber nicht, um gegen die sowjetische Übermacht verheizt zu werden. Hier soll nur ein Beispiel angeführt werden. Als Ende 1944 „niemand“ mehr an den „Endsieg“ glaubte (außer Parteifanatiker), fand sich doch ein kleiner Teil der Jugend, der nichts anderes kannte als den Nationalsozialismus. Im November 1944 klagte die 18-jährige Edeltraud F. in mehreren Briefen ihrem „Lieben Kreisleiter“ Camillo Gärdtner ihr Leid, ihren Weg noch nicht gefunden zu haben. Im Februar noch war sie der Meinung, nicht so idealistisch veranlagt zu sein wie ihre Schwester. Sie will einen Beruf anpacken, der ihr zugleich eine Vorbereitung für ihre spätere frauliche Berufung bedeutet. Im November dann der RAD, sie wurde als Funkerin ausgebildet und versah ihren Dienst bei der Luftwaffe. Doch sie war enttäuscht, ja gar desillusioniert, denn die Tage vergingen ohne eigentliche Arbeitsleistung, und sie büßte schön langsam ihren Idealismus ein. Sie meldete sich deswegen freiwillig als SS-Helferin, da man dort, wie sie gehörte hatte, Sinnvolles zu tun bekäme, dort werde der Idealismus entfesselt, dort findet noch eine Auslese statt (bei den Mädchen, ich weiß, dass es bei den Männern nicht mehr so ist) […] Dort stehen wirklich Mädchen ihren „Mann“, sie lösen Soldaten ab, hier aber sind alle Posten und Pöstchen für Frauen, dass man hier durch Jahre Männer sitzen hatte, ist unvorstellbar. Der Kreisleiter zeigte durchaus Verständnis für die Klagen der 18-Jährigen, die er mit „Liebe Tutzi“ anschrieb, doch zugleich mahnte er Disziplin ein und brachte ein Zitat Himmlers zum Besten, wonach Disziplin anfängt, wenn man Dinge tun muss, deren Sinn man nicht versteht. Und er wünschte ihr, dass du bald Deinen Weg, der in Unterordnung in die Gemeinschaft verläuft, findest und dass Du Dich dann auch wohl fühlst.49 Wir haben hier mehrere Facetten, die wir aus diesem Fall herauslesen können. Ich greife eine davon auf, um zum nächsten Kapitel überzuleiten. Wir finden hier eine Rebellion. Tutzi wollte ihren Mann stehen und nicht mit Frauen-Pöstchen abgespeist werden. Eine gewisse Emanzipation erfuhr nicht nur ein Teil der Jugend. Der Nationalsozialismus bot neben der Jugend auch einer weiteren Bevölkerungsgruppe die Möglichkeit, aus bestimmten Rollen auszubrechen – den Frauen. 47 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Ruby Edith (1927–1976), S. Ingeborg (geb. 1927), L. Herma (geb. 1924) und S. Hans (geb. 1925). 48 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Trenner Otto (1922–2008). 49 StA B, GB 052/Polit. Beurteilung. Edeltraud F. (geb. 1926).
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Kapitel 13 NS-Innen Oder: Von Gebärmaschinen, Amazonen und Hüterinnen von Heim, Herd und der Werkbank
Wie alle anderen Bevölkerungsgruppen waren auch Frauen in das NS-System fest eingebunden. Es gab mehrere NS-Formationen, die sich der weiblichen Hälfte der Reichsbevölkerung annahmen. Die beiden wichtigsten waren die NS-Frauenschaft (NSF), die Frauenorganisation der NSDAP, und das Deutsche Frauenwerk (DFW), ein nationalsozialistischer Frauenverband und Sammelbecken gleichgeschalteter Frauenvereine. Während das DFW ein betreuter Verband war, war die NSF eine Gliederung der NSDAP (sowie die SA, SS, HJ usw.) und damit ebenso in Gau-, Kreis- und Ortsgruppen unterteilt. Laut einer Statistik vom November 1939 zählte der Kreis Baden 108.514 Einwohner. Davon waren 55.001 Frauen und 41.800 über 18 Jahre alt. Mitglieder beim NSF und DFW waren 11.908. Für die Stadt Baden ergeben sich dann folgende Zahlen: 25.700 Einwohner, 13.592 Frauen, davon 10.330 über 18 Jahre alt und 3091 waren beim NSF/DFW.1 Die Anfänge der NS-Frauen in Baden liegen in den 20ern. Nachdem 1926 die Hinwendung der österreichischen NSDAP zum Reich Hitlers erfolgt war, kam es zu einer Veranstaltung, bei der sich 20 bis 30 Personen einfanden, darunter auch 18 Frauen und Mädchen. Ein Jahr später begannen die NS-Frauen aktiv zu werden, Hilfs- und Nachbarschaftsdienste für Gleichgesinnte. Finanziert wurde das Ganze durch den Verkauf von Hitlerbildern und Hakenkreuzen. Damit war nicht (noch nicht) das große Geld zu machen. Darauf bezugnehmend, erinnerte sich Luise Hermine Haydn: Unsere Weihnachtsfeier war sehr dürftig. Jedes Mitglied brachte 2–3 Stück Holz mit, dass der große Saal zur Not erwärmt wurde.2 Die braunen Frauen hatten mit ihren braunen Männern eines gemeinsam, die geringe Zahl an Mitgliedern. Anfänglich waren es gerade acht bis zwölf Frauen, die aktiv mitarbeiteten. Betrachten wir den Altersdurchschnitt, so wirkt die Ortsgruppe Baden nicht besonders jugendlich. Der Altersschnitt lag zwischen 40 und 50 Jahren. Zum Aufgabenbereich gehörte es, Geld, Lebensmittel, Kleidung und Zigaretten aufzutreiben, sei es für bedürftige oder für eingekerkerte Parteigenossen, sowie Zeitschriften, Bücher und sonstiges NS-Propagandamaterial zu verteilen und damit neue Mitglieder anzuwerben. Für so eine 1 2
Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. III NSF/DFW; Listen. Ebd.; Erinnerungen an die Kampfzeit – Luise Hermine Haydn (geb. 1883).
Kapitel 13 NS-Innen
kleine Zahl an Aktivistinnen, fernab jugendlichen Alters, bedeutete das einen ziemlichen Zeit- und Energieaufwand. Und es wurde nicht besser, denn mit dem Betätigungsverbot der NSDAP 1933 mussten die Damen genauso wie die Herren den Gang in den Untergrund antreten. Allerdings hatten die Nationalsozialistinnen anfänglich einen nicht zu unterschätzenden Vorteil gegenüber ihren männlichen Kameraden. Bedingt durch das damalige Frauenbild und die vorhandenen Geschlechterrollen wurde die Frau als weitgehend unpolitisches Wesen betrachtet. Sie galten dadurch als harmlos. Politische Verschlagenheit, konspirativer Aktionismus und Gewalttätigkeit wurden ihnen schlicht und ergreifend nicht zugetraut. Hinzu kam ein männliches Gentlemen-Bewusstsein. So war es für männliche Gemeinderäte nach 1918 nicht klar, wie sie mit weiblichen Gemeinderäten umgehen und auskommen sollten, besonders wenn jene dem anderen politischem Spektrum angehörten. Durfte man diese Frauen genauso verbal angreifen wie das männliche Pendant? Sollte man sich eher in Zurückhaltung üben? Ritterlichkeit an den Tag legen? Konnte man sie überhaupt ernst nehmen? Solche Geschlechterstereotypen betrafen unterschiedlichste Aspekte. Obwohl der Ehemann ein Züchtigungsrecht gegenüber seiner Ehefrau besaß, war Gewalt gegen Frauen auf der Straße von Seiten der Exekutive durch eine gewisse Zurückhaltung geprägt. Den Schlagstock gegen einen Nationalsozialisten anzuwenden, war mit viel weniger Hemmungen verbunden als gegenüber einer Nationalsozialistin – im Normalfall. Selbst der Verdacht, terroristische Akte zu planen und auszuführen, war anfänglich kaum denkbar, Böller und Bomben herstellen – Frau und Technik!? Diese Tatsachen machten sich Nationalsozialistinnen zu Nutze. Amüsiert rief sich die Badener NS-Frauenschaft (NSF) nach der NS-Machtübernahme solche Aktionen in Erinnerung, bei denen sie in zahlreichen Fällen die Badener Sicherheitskräfte hinter das Licht geführt hatten. Wie sie trotz Hitze mit Mänteln umhergegangen waren, da sie darunter NS-Propagandamaterial geschmuggelt und bei Hausdurchsuchungen illegales Propagandamaterial unter der Bettdecke oder der Matratze versteckt hatten. Des Öfteren soll mitten in der Nacht die Polizei die Wohnungen gestürmt haben und dabei stets schwerkranke Nationalsozialistinnen vorgefunden haben, die nicht im Stande waren, aus dem Bett zu steigen oder plötzlich den Drang verspürten: Jetzt muss ich mich waschen! Sie nahm sich eine Waschschüssel voll Wasser, stellte sie neben den Dauerbrandofen, der zum Glück brannte, nahm ein Paket Flugschriften nach dem anderen und steckte sie in den Ofen. Sie plätscherte und gurgelte dabei so laut, dass man das Knistern der Schriften im Ofen nicht hörte.3 Es waren nicht nur NS-Zeitschriften, die durch weibliche Hände gingen. Zigaretten wurden in die Arrestzellen geschmuggelt, genauso wie Likör und verschiedenste Bäckereien. Sprengstoff war ebenso dabei. Bei dem am 28. Juni 1933 verübten Sprengstoffanschlag auf die Badener Bahn, bei dem ein Stück Gleis herausgesprengt wurde, waren unter 3
StA B, GB 052/Parteiformationen I; Fasz. III NSF/DFW; Erinnerungen an die Kampfzeit – Schilderung Hermine Sieber-Turba (geb. 1906).
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Zweiter Teil Transformation und Konsolidierung
anderem die damals 16-jährige Marie Cafourek und die ein Jahr ältere Emilie Duchan mit dabei. Cafourek fungierte als Sprengstoffbotin zwischen ihrer Schulkollegin Emilie Duchan und dem Gastwirt und Illegalen Gustav Grausam aus Pfaffstätten. Nach ihrer Verhaftung und der Entlassung aus der U-Haft im August 1933 floh Marie Cafourek mit vier weiteren jungen Frauen über die Schweiz ins Altreich. Dort fand sie eine Anstellung als Sekretärin und wurde 1936 Parteimitglied, dem BDM war sie schon 1932 beigetreten. 1938 kehrte sie nach Baden zurück und wurde Kanzleikraft in der Kreisleitung. 1939 heiratete sie den gebürtigen Dresdner Georg Horny und sollte als Maria Horny so manchen Badener noch das Fürchten lernen.4 Der Aktionismus musste nicht immer explosiv sein. Das nächtliche Streuen von Hakenkreuzen gehörte ebenso zum Aufgabenbereich der NS-Frauen. Als nach dem gescheiterten Juliputsch 13 Helden (um die Formulierung der Verfasserin beizubehalten) hingerichtet wurden, füllte man 13 Kübel mit Benzin und Petroleum an, stellte sie in der Neumistergasse auf und zündete dann eilends auf einem Fahrrad fahrend alle der Reihe nach an. Neben amüsanten und abenteuerlichen Geschichten aus der illegalen Zeit schrieben die NS-Frauen genauso von Angst und Entbehrung. Therese Cafourek, Mutter der Marie Cafourek, erzählte von einer ständigen Furcht, denunziert zu werden und dadurch auf der Straße zu landen, da ihr Vermieter Jude war.5 Und nicht zu vergessen die Gewalt. Jene ging weniger von der Polizei aus, sondern wesentlich mehr vom politischen Gegner und das schon vor dem Betätigungsverbot der NSDAP 1933. Da das Betreuen von bedürftigen Parteigenossen den Händen der NS-Frauen oblag, waren sie gezwungen, die Badener Barackensiedlungen in der Vöslauer- und der Braitnerstraße aufzusuchen und sich damit ins feindliche Terrain zu wagen. In den roten Baracken in der Vöslauerstraße war es gewagt, den Pg. abends Esspakete oder Kleider zu bringen, und so manche Frau wurde nach geheimen Sitzungen verfolgt und geschlagen. Unterkriegen ließ man sich nicht. Auch nicht 1929, als der Nürnberger Parteitag auf dem Programm stand. Aber nur ganz stramme Frauen fuhren da mit, denn während der ganzen Fahrt wurden wir von den roten Bahnarbeitern mit ganz gemeinen Worten und oft auch mit Steinen bedacht.6 Eine zentrale weibliche Figur der NS-Illegalität war Josephine Brandstetter, Ehefrau von Josef Brandstetter, die die illegale NS-Frauenschaft Baden anführte. Das Elektrogeschäft ihres Mannes war ein idealer Umschlagplatz für konspirative Theorie und Praxis. Geld, Wäsche und Schuhe wurden gesammelt und aufbewahrt. Propaganda und Böller wurden hier gefertigt, gelagert und weitergereicht. Bis zur Verhaftung ihres Mannes 1935 blieb Josephine Brandstetter Ortsfrauenschaftsleiterin. Danach übernahm Marie Fischer.7 Die illegalen Aktivitäten der NS-Frauen waren eine wunderbare Ergänzung zum Illega4 5 6 7
Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Horny Maria (1917–1978), Horny Georg (geb. 1911) und GB 054/Registrierungslisten und ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 74. Therese Cafourek (geb. 1884). StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. III NSF/DFW; Erinnerungen an die Kampfzeit. Vgl. ebd. – Josephine Brandstetter (geb. 1892), Marie Fischer (geb. 1874).
Kapitel 13 NS-Innen
len-Hilfswerk. Als Schnittstelle fungierte Grete Prokopetz. Seit 1924 Parteimitglied, wurde sie 1926 Postbeamtin in Baden und bereicherte damit die braunen Reihen dieser Behörde. Sie wurde Schmids Vertraute und spielte als solche eine maßgebliche Rolle im IllegalenHilfswerk. Sie wusste über alles Bescheid, war in die Geldflüsse und Summen eingeweiht; sie und ihr Ehemann Hans Prokopetz waren Illegale, und beide mussten sogar eine sechswöchige Haft absitzen. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme empfand daher Kreisleiter Hans Hermann, dass ihnen nun bei der Beschaffung einer entsprechend großen und gesunden Wohnung für sie und ihre Kinder jedwede Unterstützung von Partei und Staat zukommen sollte. Ich habe mich daher auch verpflichtet und bemüßigt gesehen, meinen ganzen Einfluss in dieser Wohnungsfrage gegenüber der Wehrmacht und anderen Stellen, die Anspruch auf diese Wohnung erhoben hatten, geltend zu machen, um diese für die Familie Prokopetz freizuhalten.8 Lobende und anerkennende Worte ergingen nicht nur an Grete Prokopetz, sondern an alle aktiven, sprich illegalen Nationalsozialistinnen. Zusammenfassend hieß es in einem der Berichte über die illegale Zeit, dass die Frauenschaft einen wesentlichen Anteil daran hat, dass unsere illegalen Kämpfer trotz Kerker, Verfolgung und wirtschaftlicher Notlage die Verbotszeit durchhalten konnten.9 * Das Aufgabenspektrum der NSF nach dem Anschluss unterschied sich nicht sonderlich von jenem aus der illegalen Zeit – die Betreuung von eingekerkerten Parteigenossen fiel bloß weg. Ein im Februar 1939 erstellter Tätigkeitsbericht rekapituliert das vergangene Jahr und versinnbildlicht damit die neuen und alten Betätigungsfelder des NSF auf Kreis- und Ortsebene. Im März begann das große Fahnen- und Armbinden-Nähen, die Aufstellung von Ortsfrauenschaftsleiterinnen, die Verteilung von Geldgutscheinen und Lebensmitteln sowie die Organisation von Kindertransporten ins Altreich. Im April ging man organisatorisch in die Tiefe, Zellenfrauenschaftsleiterinnen und Blockfrauenschaftsleiterinnen wurden erkoren. In den folgenden Monaten kam es zur Aufstellung von Kassenwalterinnen, Kreisabteilungsleiterinnen, Ortsgruppenführerinnen usw. Im August 1938 teilte sich die Badener NS-Frauenschaft in drei Ortsgruppen auf, mit den jeweiligen Nummern/Namen Ortsgruppe I Baden-Stadt, Ortsgruppe II Baden-Leesdorf und Ortsgruppe III Baden-Weikersdorf. Man veranstaltete Spendensammlungen, Feste, Schulungen, leistete Hilfsdienste in karitativen Bereichen, gründete Nähstuben, förderte die weibliche Heimarbeit, begann Obst einzukochen, versorgte Flüchtlinge aus den Sudetengebieten usw. Auf der Kreisebene finden wir seit dem Anschluss folgende Kreisfrauenschaftsleiterinnen: Helli Bauer bis zum Juni 1938. Ihr folgte Viktoria Luckmann von Juni bis 15. November 1938, wobei sie krankheitsbedingt seit Oktober 1938 durch Helene Boller vertreten 8 9
StA B, GB 052/Personalakten: Prokopetz Grete (geb. 1904) und Prokopetz Hans (geb. 1900). StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. III NSF/DFW; Erinnerungen an die Kampfzeit.
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wurde. Jene übte so lange das Amt aus, bis sie von Cäcilia (Lili) Eichholzer das Amt offiziell übernahm.10 Sie blieb es nur bis zum Februar 1940. Ihre Vergangenheit wurde ihr zum Verhängnis. 1924 war sie nämlich des Diebstahls überführt worden. Sie war Buchhalterin in einem Hotel gewesen, und ein Perserteppich hatte es ihr besonders angetan. Obwohl die Tat Jahre zurück lag, war sie für die Stelle einer Kreisfrau untragbar und würde ihr weiterer Verbleib schwerste Schädigung des Ansehens der Partei hervorrufen.11 In der Badener Zeitung lesen wir von einer angeschlagenen Gesundheit, die sie für Monate kaltgestellt hätte. Man dankte ihr für ihre unermüdlichen, vorbildlichen Leistungen, für ihre allzeit freudige Einsatzbereitschaft. Pgn. Eichholzer habe alle jene Eigenschaften, die man von einer Führerin fordern könne, in vollstem Maße besessen.12 Auf Ortsebene finden wir nach dem Anschluss anfänglich weiterhin Marie Fischer als NS-Ortsfrauenschaftsführerin, die ihre Funktion aber im Mai 1938 bereits niederlegte. Sie war immerhin 64 Jahre alt. 1941 beabsichtigte die Ortsgruppe Baden-Weikersdorf ihrer stets aktiven und unerschrockenen Parteigenossin ein kleines Denkmal zu setzen, mit der Verleihung der Erinnerungsmedaille „13. März 1938“. Doch ausgerechnet aus chauvinistischen Gründen wurde ihr Ansuchen abgewiesen. Diese Medaille wurde nur an Männer verliehen – an jene Männer, um die sich Marie Fischer in der illegalen Zeit gekümmert hatte und für die sie ihre Existenz gefährdet hatte. Als Entschädigung sollte sie dafür die Medaille für „Deutsche Volkspflege“ erhalten. Der Antrag war schon eingebracht, der aber nach Mitteilung der Gauleitung derzeit nicht behandelt werden kann, da die Einbringungstermine jeweils von Berlin festgelegt werden.13 Neue Führerin wurde die ehemalige Krankenschwester und Illegale Herma Gerich. Ihre Bestellung konnte als eine Art Wiedergutmachung angesehen werden, denn sie und ihr Vater, Dr. Hermann Kissling, waren in den 30er Jahren bekennende Nationalsozialisten, und beide wurden 1933 aus Baden wegen NS-Umtrieben ausgewiesen. Sie selbst war 1932 der NSDAP beigetreten. Nach dem Anschluss wurde sie Leiterin der Kartenstelle.14 Inhaltlich, wie dem Tätigkeitsbericht vom Februar 1939 zu entnehmen ist, blieben demnach Haushalt und Haushaltsführung entscheidende Eckpunkte der NS-Frauenpolitik/ Ideologie. Aber es blieb nicht bei bloßen haushaltsüblichen Floskeln. Weiter- und Fortbildung war das Um und Auf. Richtiges Haushalten bedeutete nämlich sparsames Haushalten. Vor allem während des Krieges rückte dieses Thema besonders in den Vordergrund. Richtig einkaufen, richtig Geld sparen, richtig kochen, was mit kreativem und sparsamer Kochen gleichgesetzt werden konnte. Bereits im Mai 1938 galt die Parole: „Kampf dem Verderb“. Jeder tüchtigen und gewissenhaften Hausfrau eröffnet sich im eigenen Haushalt ein
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Vgl. ebd.; Tätigkeitsberichte – Vom Umbruch bis zum Jahresende 1938 (14.02.1939). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Eichholzer Cäcilia (1891–1969). BZ Nr.26 v. 30.03.1940, S. 2. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Fischer Marie und NSDAP-Karteikarten groß. Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Gerich Herma (geb. 1892) und BZ Nr. 41 v. 21.05.1938, S. 4.
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großes Schlachtfeld, auf dem sie den Kampf gegen den Verderb führen kann.15 Wir treffen die altbekannte martialische Wortwahl. Der Arbeiter hatte seinen Hammer als deutsche Waffe, der Bauer seine Scholle, die Jugend ihre Jugendlichkeit und die Frauen bekamen Heim und Herd als ihr persönliches Schlachtfeld. Hinzu kam, dass Gemeinschaft bzw. die Schwesterlichkeit großgeschrieben wurden. Deutsche Frauen sollten sich gegenseitig unter die Arme greifen. Wenn keine Zeit zum Einkaufen war, weil es beispielsweise der Fabrikdienst nicht zuließ, bedurfte es des Einkaufsdienstes einer anderen Kameradin. Aber Obacht, Einkaufen gehen für andere musste gelernt sein: Die Einkaufsdienst leistende Frau muss vor allem eine Idealistin und charakterlich einwandfrei sein, die das Vertrauen der werktätigen Frau zu erlangen versteht, sie muss selbst eine gute Hausfrau sein, die geschickt einzukaufen weiß, sie muss die finanziellen Verhältnisse der zu betreuenden Kameradin genau kennen, überflüssige Einkäufe vermeiden, dagegen das sich jeweils auf dem Markt Bietende mit den nötigen Koch- u. Gebrauchsanweisungen besorgen und so in der werktätigen Frau das Gefühl erwecken, dass diese, wenn sie selbst einkaufen gegangen wäre, bestimmt nicht besser hätte handeln können.16 Es durfte genauso gemeinsam eingekauft und gekocht werden, Hauptsache, es wurde darauf geachtet, dass nichts dem Verderb anheimfiel – deswegen gemeinschaftliche Planung und Portionierung. War Frau mit ihrem „Koch-Latein“ einmal am Ende, so wie im Oktober 1942, als sich die Ortsgruppen über die Verarbeitung von Roggenmehl beschwerten, kam Rat vom Deutschen Frauenwerk Gaustelle Niederdonau. Der Teig müsste nur schneller angemacht, fester geknetet, der Ofen länger vorgeheizt und das Brot länger gebacken werden.17 Und am Schluss, wenn frau brav war, gab es Lob im Sinne einer wohlwollend klingenden Beurteilung. Sie betätigt sich rege für die NSDAP und ist eine außerordentlich rührige Funktionärin der NSV.18 Solche Künste am Herd bzw. das NS-Frauensein als Ganzes mussten erlernt sein. Die Ausbildung und Formung junger Frauen war ein zusätzliches Betätigungsfeld. Nach dem BDM folgte die BDM-Teilorganisation „Glaube und Schönheit“ für die Frauen von 18 bis 21. Denn erst mit 21 durfte man der NS-Frauenschaft beitreten. Die drei Jahre dazwischen wollte sich das NS-Regime nicht entgehen lassen. Die jungen Frauenjahre waren geprägt durch Koch- und Nähkurse, Unterweisungen in die Haushaltsführung und Seminare zur Säuglingspflege. Der Nationalsozialismus reagierte auf die sich verändernden Lebensabläufe junger Frauen. Während früher nach dem Schulabschluss, so die Badener Zeitung, die Mutter der Tochter sämtliches nützliches Haushaltswissen beigebracht hätte, so sei das dieser Tage aufgrund der Berufstätigkeit der Frau nicht mehr möglich. Dabei liegt die Gefahr nahe, dass es [das Mädel] später nie mehr Gelegenheit hat, sich gründlich in die Hauswirtschaft einzuarbeiten und bei seiner Verheiratung ohne jede hauswirtschaftliche Erfah-
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BZ Nr. 42 v. 25.05.1938, S. 2. StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. II NSF/DFW Korrespondenz; Februar 1942. Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. I Ernährung; Rezepte. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Pospischil Anna (geb. 1901).
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rung ist.19 Betrachten wir ein Treffen der NS-Frauenschaft Ortsgruppe II vom 11. Oktober 1938, lief es wie folgt ab. Besprochen wurde: Die Bedeutung des Haushalts im Nationalsozialismus, die Flüchtlingshilfe für Sudetendeutsche, Organisatorisches zu verschiedenen Kursen und zu guter Letzt wurde ein dem Führer huldigendes Gedicht vorgelesen.20 Ein weiterer Bereich, der besonders nach Kriegsbeginn schlagartig in den Vordergrund rückte, war die Betreuung der sich in den Lazaretten auskurierenden Soldaten. Für die zumeist ebenso jungen Männer war es eine angenehme Abwechslung, von jungen Frauen Besuche zu empfangen und mit ihnen spazieren zu gehen und von ihnen zu allerlei Veranstaltungen begleitet zu werden. Gertrud Maurer erinnerte sich an baumlange, blonde Burschen in grauen Uniformen. Allerdings war es nicht so sehr die äußerliche Attraktivität, die ihr in Erinnerung blieb, sie war auch erst zehn, sondern das Schunkeln, Singen und das Weintrinken – einen Wein, den die deutschen Soldaten nicht gewöhnt waren. Darum sah man in der ersten Anschlusszeit auch überall Leichen herumliegen, Weinleichen nämlich, auf der Straße und im Wirtshaus… Die älteren Mädchen hatten da einen ganz anderen Blickwinkel, wie Gertrud Maurer bald feststellte. Soldaten in Uniform waren DIE Attraktion. Viele Herzen schlugen höher.21 Ähnlich die Erinnerungen Hildegard Ziegers. Beim Jungmädelbund (JM) aktiv, war sie im Peterhof für die Aufheiterung der einquartierten Soldaten zuständig. Sie musste alsbald die Erfahrung machen, dass auf die kleinen wie mich […] dort kaum geschaut [wurde], die größeren Mädchen (17–18-Jährige) erweckten schon mehr Begeisterung.22 Lore-Lotte Hassfurther gehörte zu jenen jungen Frauen, die begeisterten. Nicht nur, dass sie für ihre Konsumation nichts bezahlen musste, so saßen wir im Mai 1938 im Hotel Sacher an runden Tischen und fühlten uns wie Prinzessinnen in unserer Sonntagskleidung – etwas selbstgenäht – und ließen uns von den feschen Fliegeroffizieren zum Tanzen auffordern.23 Solche Treffen waren organsiert. Die Luftwaffe in Baden hatte sich an das Hotel Sacher gewandt und das Hotel wiederum an die Badener Gesellschaft, um um Gesellschaft für den Sonntags-Fünfuhrtee zu werben – junge Frauen (Töchter) bevorzugt. Das alles lief seriös und anständig ab bzw. so war es vorgesehen, doch es fanden sich offenbar immer mehr Paarungen, die den Benimm-Kodex nicht befolgten. Begeisterung auf der einen, Unmut auf der anderen Seite. Sitte, Anstand und Moral waren in Gefahr. Es kam auch zu Belästigungsvorwürfen. Die Obrigkeit musste reagieren. So waren zukünftige Besuche nur mehr unter Aufsicht möglich.24 Auch Gertrud Maurer erinnerte sich daran, dass es irgendwann einmal hieß: Treffen mit Soldaten ja, aber nehmt eine Freundin mit. Lore-Lotte Hassfurther blieb besonders ein Oberleutnant aus Breslau im Gedächtnis, der nicht nur mit seinen Tanzküns19 20 21 22 23 24
BZ Nr. 43 v. 28.05.1938, S. 2. Vgl. BZ Nr. 84 v. 19.10.1938, S. 3. WIESER, Baden 1938, S. 33. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 47. Ebd. S. 36. Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 333.
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ten, sondern auch mit seinen waghalsigen Flugkünsten zu begeistern verstand. Das waren Zeiten, schrieb sie nieder. Das Fliegerass sollte den Krieg nicht überleben.25 * Die Rede eines Standesbeamten verdeutlicht das erwünschte Geschlechter- und Familienideal. Darin hieß es unter anderem, dass die Braut in bräutlicher Unschuld und Reinheit vor den Ehegatten treten solle, um ihr Geschick vertrauensvoll in seine Hände zu legen, und es oblag ihm, sie in ihr ferneres Leben zu geleiten. Der Mann, dem die Sorge für die Familie obliegt, hat oft Ärger und Kummer, Verdruss und Sorgen. Da muss ihm die Gattin die verständnisvolle Gefährtin und Kameradin sein, die ihn aufrichtet und zu ihm steht, treu und fest in allen Lebenslagen. Nie darf sie den Glauben und das Vertrauen zu ihm verlieren und immer muss er in ihrer Liebe einen Halt finden, wenn irgendetwas auf ihn einstürmt! Aber auch sie muss in jeder Lebenslage auf den Schutz ihres Gatten rechnen können, seine Liebe muss der Hort sein, in den sie sich flüchtet und sich treu geborgen fühlt. Dann mögen Stürme um sie beide toben, es kann beiden nichts passieren! Und was den Nachwuchs anbelangt: Der Sinn einer echten deutschen Ehe ist das erbgesunde Kind. Das oft gesprochene Wort: „Darum prüfe wer sich ewig bindet“ hat heute für uns eine neue und große Bedeutung, weil wir die Gesetze der Vererbung, die Reinerhaltung des Blutes besser kennen, als die Generationen vor uns.26 Das Rollenbild der Frau (auch des Mannes) war im Nationalsozialismus vielfältig und widersprüchlich. Es reichte von einer deutschen Amazone und Brunhild zu einer Herrin von Heim und Herd, mit ihrem Haushalt als ihrem Schlachtfeld, einer reinen Kindergebärerin bzw. Soldatengebärerin bis hin zu der Soldatin in der Fabrik und der Kameradin an der Werkbank. Die Kämpferin im Blaumann wurde besonders im Krieg zelebriert. Dabei war das nicht nur reine theoretische NS-Propaganda. Als immer mehr Männer von der Fabrik an die Front verlegt wurden und selbst die zahlreichen Zwangsarbeiter die leeren Plätze nicht füllen konnten, mussten Frauen nachrücken. Selbst bei den Feuerwehren in Baden fehlten irgendwann die Männer, und so wurden Frauen, zuerst einmal provisorisch, einer Schulung unterzogen.27 Zugleich darf nicht vergessen werden, dass bei bestimmten Industrien, wie der Kammgarn-Fabrik in Bad Vöslau, die Zahl der beschäftigten Frauen die Zahl der Männer weit überstieg – auch vor dem Anschluss bzw. seit Jahrzehnten.28 An das hatte man sich gewöhnt. Doch es sorgte für Irritation, wenn Frauen in von Männern dominierte Bereiche stießen bzw. kriegsbedingt gestoßen wurden.
25 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 36. 26 StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. III NSF/DFW; Allgemein 27 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944 - 1945, S. 22 und BAUER Ingrid, Eine Frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektivierung. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 409–445. 28 Vgl. BREZINA, ZGIERSKI: Bad Vöslau, S. 145.
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Zugleich waren altbackene Klischees weiterhin fest im Alltag und Denken verankert. Als den Badener Beamten die Parole „Kauft nicht bei Juden ein“ eingetrichtert wurde, erinnerte man sie extra daran, ein Auge auf ihre Ehefrauen zu werfen und es ihnen gegebenenfalls noch einmal zu erklären. Man ging davon aus, dass Frauen das mit dem Antisemitismus womöglich nicht ganz verstanden hätten.29 Vergleichbares finden wir bei den Musterungen für den Reichsarbeitsdienst. Die Räume sollen, da sich in ihnen ja ein immerhin wichtiger Punkt im Leben der weibl. Jugend vollzieht, möglichst nett ausgestattet sein.30 Dekoration und Schmuck – Frauensachen halt. Bei den zu musternden jungen Männern fehlten so dekorative Beifügungen. Hauptsache, sie waren gewaschen und nüchtern. Dann gab es noch laienhafte Diagnosen in Richtung weibliche Hysterie und Depression. Hysterisches Frauenzimmer, fraglich, ob geistig normal. Versuchte kürzlich Selbstmord. Sie scheint gemütskrank zu sein, anscheinend unglücklich verheiratet, sehr fromm, politisch gleichgültig, eher gegnerisch eingestellt […].31 Und als Frauen 1943 im NSKK – ausnahmsweise, weil kriegsbedingt und auch nur dann, wenn der Sturmwart eingerückt war – Schreibarbeiten übernehmen durften, musste extra angeführt werden: Zur Wahrung des Dienstgeheimnisses sind die Frauen besonders zu verpflichten.32 Es war ein typisches Klischee, wonach Frauen angeblich zu viel reden und Geheimnisse nicht für sich behalten können. Bei der Aufnahme von Männern war solch ein Zusatz nicht von Nöten. Die Klischees wie auch Widersprüchlichkeiten wurden in den vielen propagandistischen Reden hörbar. 1941 schwadronierte Kreisleiter Franz Hajda über die Urbedürfnisse der Frau, wie den Haushalt, das Kindergebären, deren nachfolgende Aufzucht, die Betreuung und Pflege von Soldaten, und hob gleichzeitig die Fabrikskameradinnen hervor. Zuvor, dazwischen und danach haben wir stets eine verklärte Mütterlichkeit als einen weiteren urfraulichen Wesenszug der deutschen Frau.33 Während sich der Ständestaat bezüglich des Mutterseins auf christliche Traditionen bezogen hatte, griff die NS-Ideologie noch weiter in die Geschichte zurück, auf einen pagan-germanischen gesellschaftlichen Urzustand – den es so nie gegeben hat. Doch selbst solche Konstruktionen (Hirngespinste) wurden hintertrieben durch das moderne und biologistische Bild der Frau als Gebärmaschine bzw. als zahnradähnliche Fabrikarbeiterin. Das Pendel schlug einmal zum völkischen Mythos und dann wieder zu einer radikalen Modernisierung aus.34 Im Endeffekt suchte man die eierlegende Wollmilchsau. So mussten Heimmütter und Wirtschaftsleiterinnen folgende Kriterien erfüllen: Es müssen natürlich tüchtige Hausfrauen sein, darüber hinaus aber mütterliche Frauen, ausgeglichene überlegene Persönlichkeiten, die gesund, frisch und elastisch sind, lebens-
29 30 31 32 33 34
BZ Nr. 51 v. 25.06.1938, S. 3. StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. II; RAD. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Hedwig Rossi (geb. 1904). StA B, GB 052/Parteiformationen IV; Fasz. II NSKK; 1943. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 18. Vgl. BAUER, Eine Frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektivierung, S. 409–445, hier 411f.
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erfahren und lebenstüchtig. Vor allem müssen sie noch jugendlich beweglich sein, sodass sie wohl der Jugend Autorität sind, aber eine Autorität, der sie sich gern unterordnet, weil sie fühlt, dass man mit ihr geht und dass man ihr Verständnis entgegenbringt.35 Was nie fehlen durfte, waren schwülstige Gedichte, die die Mutterschaft glorifizierten. Unter den Herzen der Mütter haben wir alle geruht, durch die Herzen der Mütter fließt die ewige Flut.36
Auf der anderen Seite gab es dann die Richtlinien, wie eine Frau nicht zu sein hatte. Aufmüpfig, geschminkt und Mutter vieler Kinder von verschiedenen Vätern (auch wenn es hier Ausnahmen gab). All das, wie die Frau zu sein oder nicht zu sein hatte, können wir den öffentlichen Ausführungen sowie der damals zirkulierenden Literatur entnehmen, aber auch den internen Beurteilungen – die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Während wir in der Badener Zeitung lesen können, was eine gute deutsche Frau sei, nämlich eine, die Haus, Herd und Kind hüte und sich freue, dass ihr der NS-Staat neue Küchengeräte gebracht hatte, finden wir in den Beurteilungen teilweise differenzierte Betrachtungsweisen.37 Bei gewissen „Fehlern“ oder „Mängeln“ zeigten die lokalen Parteistellen gewisses Entgegenkommen. Dr. Gertha Urban hatte sich nie für Politik interessiert, doch man war bereit, ihr den Weg Richtung Nationalsozialismus zu weisen, denn sie ist als Frau von der Natur stiefmütterlich behandelt worden und wurde dadurch zum Typ jener Frau, denen Studium und Beruf Lebensinhalt werden.38 Man nahm ihr offenbar nicht wirklich übel und zeigte Verständnis, dass sie nicht dem Ideal der Soldatengebärerin gefolgt war. Ebenso nicht dem NS-Ideal entsprechend und trotzdem positiv beurteilt wurde Elisabeth Prechtl im Mai 1943 durch ihren Blockleiter. Trotz der Kinder von verschiedenen Vätern ist Elisabeth Prechtl charakterlich nicht minderwertig. Weil sie nicht nur ihre beiden Kinder betreut, sondern auch ihren gebrechlichen Eltern die Wirtschaft führt.39 * Die neuen Möglichkeiten, die sich manchen Frauen nach dem Anschluss eröffneten, weisen Parallelen zu der Jugend auf. Man konnte aus Rollen und Hierarchien ausbrechen. Frauen als Menschen „zweiter“ Klasse angesehen, erlangten nun Macht über Menschen „dritter“ Klasse bzw. über Menschen, denen das Menschsein abgesprochen wurde.40 In Baden war es
35 36 37 38 39 40
StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. II NSF/DFW Korrespondenz; November 1941. Ebd.; Fasz. III NSF/DFW; Mütter u. Muttertag. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 25. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Urban Gertha (geb. 1908). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Prechtl Elisabeth (geb. 1916). Vgl. BAUER, Eine Frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektivierung, S. 409–445, hier 432f.
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unter anderem Hermine Hammerschmidt, die es auf die Jüdin Franziska Röschl abgesehen hatte.41 Ihr Sohn Ernst Röschl gab nach 1945 zu Protokoll: Sie verstand es zu erreichen, dass meine Mutter den Friseur […] nicht mehr aufsuchen durfte und sie scheute auch nicht davor zurück, auf der Straße zu schimpfen und in den Geschäften, in welchen meine Mutter einkaufen musste, zu veranlassen, dass sie nicht mehr kommen dürfte. Sie beanstandete, dass meine Mutter die Kurbäder betritt und stänkerte und krakeelte in unflätiger Weise auf der Straße.42 Juden und „Mischlinge“ waren davon betroffen, genauso wie Zwangsarbeiter oder politische Gegner aus früheren Tagen. In Baden waren es Menschen wie Klinger, Sulzenbacher, Kollmann – also Polizisten, Schuldirektoren, Politiker –, die nun auf der Straße „Freiwild“ wurden. Berühmtheit in Baden erlangte Frederike Herzog, Schwester der Hermine Hammerschmidt, eine ebenso radikale Nationalsozialistin, die nicht davor zurückschreckte, eben Personen wie Klinger auf der Straße lauthals zu beschimpfen, vor ihnen auszuspucken und sie wegen Belanglosigkeiten anzuzeigen.43 Für Männer wie ihn, die zuvor einflussreiche, geachtete und zugleich gefürchtete Persönlichkeiten gewesen waren, war es eine doppelte Demütigung. Erstens die Attacken an sich und zweitens, dass sie durch eine Frau erfolgten. Seine Stellung als Polizist und als Mann wurde zur Disposition gestellt, seine Autorität restlos zertrümmert. Normalerweise wäre er es gewesen, als Polizist und als Mann, der für die Gewalt im Sinne von Tat zuständig gewesen wäre. Für Klinger waren das fanatische Naziweiber und von der erwähnten Frederike Herzog hatte er, wenn wir uns irgendwo begegneten, niemals Ruhe, indem sie mich in förmlich sadistischer Weise beleidigte und derart provozierte, dass ich gegen sie handgreiflich hätte werden sollen, damit sie dann eine Märtyrerin für die NSDAP gelten kann. Ich habe in meinem Leben niemals Furcht gekannt, jedoch wann ich der Provokateurin Fritzi Herzog ansichtig wurde, so bekam ich immer Nervenzittern, weil mir bewusst war, welches Los mir bevorstand, wenn es mit ihr zu einem Recontre kommt.44 Auch hier finden wir eindeutige Geschlechterzuschreibungen. Die hysterische Frau bzw. das hysterische Naziweib, das offenbar mit ihrer neuen Macht nicht umgehen konnte, weil nicht fähig oder stark genug als Frau, die eigenen Emotionen in den Griff zu bekommen und ihnen damit hilflos ausgeliefert. Zu emotional, damit nicht berechenbar, eine eindeutige Gefahr für einen Staat, der auf Zucht, Ordnung und Unterordnung fundamentiert sein sollte. Zur unkontrolliert affektgesteuerten Frau gesellte sich die wohlüberlegte, taktisch und strategisch vorgehende Verführerin und Einflüsterin. Ihre Opfer waren schwache Männer, Pantoffelhelden, die chancenlos gegenüber weiblicher Verführungskunst waren. So war es um das Männerbild des Internisten Dr. Heinrich Nothnagel nicht gut bestellt – so jedenfalls Franz Hajda unter Berufung auf Ortsgruppenleiter Reiner v. Reinöhl – der im Jahr 1941 ein Haus in Baden zu erwerben/arisieren beabsichtigte. Dieser Gott in Weiß, das wurde ihm 41 42 43 44
Hermine Hammerschmidt (geb. 1896). StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef – Ernst Röschl Aussage (22.11.1946). Frederike Herzog (geb. 1894). StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef – Alois Klinger Aussage (03.02.1948) .
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zugestanden, war einer der besten Ärzte, die Baden zu bieten hatte, allerdings stand er unter der straffen Führung seiner dominanten Gattin, Helene Nothnagel.45 Auf die Frage, ob er ein asoziales Verhalten an den Tag legte, lesen wir: ja, die Frau braucht im Jahr 12 Dienstmädchen.46 Was aber noch viel schwerer wog, politisch war sie eine radikale NS-Gegnerin. Dazu der Automechaniker Robert Voll: Die Ehefrau des Badener Arztes Dr. Nothnagel hat ihren Unwillen gegen die NSDAP zur Zeit des Umbruches im Jahre 1938 etwas zu laut zum Ausdruck gebracht, und als ich durch Zufall hörte, dass man sie in damals üblicher Weise zum Reiben holen wollte, verständigte ich ihren Mann sofort und sie konnte sich dieser erniedrigenden Arbeit durch eine momentane Abreise nach Wien entziehen.47 Bei so einer politischen Femme fatale fürchtete Kreisleiter Hayda, dass Heinrich Nothnagel längst keine eigene politische Meinung vertrete, er soll sehr stark unter dem Einfluss seiner Frau stehen und aus diesem Grunde seine politische Einstellung vielfach den Ansichten seiner Frau angeglichen haben.48 Statt übermannt wurde der Mann überfraut. Die Angst war da, dem manipulativen und verruchten Wesen mit Haut und Haar zu verfallen. Aussagen wie die einer polnischen Arbeiterin, die kein Problem hatte, deutsche Arbeiter um ihren Finger zu wickeln, schienen das nur zu bestätigen. Dass Geschlechtsverkehr verboten war, wusste sie, und den gab es laut ihr auch nicht, aber in diesen meistens etwas angeheiterten Gesellschaften küssten wir uns und spielten sich auch, ich weiß nicht wer dies an meinen Brüsten. […] Ich liebe die Männer aber nur zum Zahlen. Ich trinke gerne, auch rauche ich. Für diese Zwecke liebe ich die Männerbekanntschaften.49 Solch liederliche Lebenseinstellung führte stets zu ein und derselben Charakterisierung: moralisch verdorben. Therese Gehringer, die Soldaten in ihrer Wohnung empfing, nächtigen ließ und die eines Tages im betrunkenen Zustand mit einem bulgarischen Soldaten am Wiener Neustädter Kanal angetroffen wurde, war logischerweise moralisch minderwertig. Die Sichtung ging an den Blockleiter, dieser schrieb an den Zellenleiter, jener an die Ortsgruppenleitung, und von dort landete es auf irgendeinem Schreibtisch in der Kreisleitung.50 Es musste aber nicht immer gleich der Holzhammer zum Einsatz kommen. Schnippische Fragen genügten vollkommen. Wenn Frau Schwarz auf ihren edlen Ruf wert legt, wozu ließ sie sich dann auf ein Verhältnis mit einem Ehemann ein, der Frau und Kinder hatte?51 Während solche Frauen, bei polnischen Fremdarbeiterinnen grundsätzlich, als moralisch belastet bis minderwertig galten, sah es bei Männern fallweise ganz anders aus. Ihre Moral 45 Helene Nothangel (geb. 1894). 46 StA B, GB 052/Personalakten: Nothnagel Heinrich (geb. 1889) – Polit. Beurteilung (13.12.1939). 47 Sein Antrag wurde im Februar 1946 abgelehnt, im Oktober 1947 jedoch angenommen. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Voll Robert (geb. 1897). 48 StA B, GB 052/Personalakten: Nothnagel Heinrich – Reinöhl an Kreisleitung (25.11.1941). 49 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 II; Gendarmerieposten Traiskirchen, Mappe I – Salomea J. (geb. 1918) Aussage (05.12.1942). 50 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Gehringer Therese (geb. 1894). 51 StA B, GB 052/Personalakten: Schwarz Alma (geb. 1894) – Ortsgruppe Baden-Stadt an Kreisleitung (13.02.1940).
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unterlag einem anderen Wertmaßstab. In politischer Hinsicht galt der ehemalige Mittelschullehrer und danach Beamte des Finanzamtes Guido Maresch als bestenfalls unbedenklich. Wirklich problematisch wurde es bei der Moral. Charakterlich gilt er als Gigerlnatur [Gigolo]. Ist kein besonderer Freund der Arbeit und hat es immer verstanden, durch Frauenbekanntschaften sich über Wasser zu halten.52 Obendrein pflegte er regen Umgang mit Juden und war mit einer Halbjüdin verheiratet gewesen. Wäre der Anschluss nicht erfolgt, wären sie laut den Behörden wieder zusammengezogen. Er war kaum wo Mitglied, wo er es nicht sein musste, er politisierte nicht, und ob er geberfreudig war, war schwer zu sagen, da er zu Hause meist nicht anzutreffen war. Bei Walter Giebisch stand in seiner Beurteilung fast schon schelmisch formuliert: Derselbe ist auf ostmärkisch gesagt ein (guter Kerl), sonst aber leichtsinnig und oberflächlich. […] Nebenbei ist er ein großer Freund von galanten Abenteuern.53 Er war halt ein Mann der Frauen. Mit einem Augenzwinkern ging man/Mann darüber hinweg. Minderwertig war aus diesem Grund fast keiner. Neben der Frau, die die Gesellschaft von Männern suchte, barg auch die politisierte Frau ein Gefahrenpotenzial, war gleichzeitig aber Ziel des NS-Staates. Der politischen Aufklärung nahm sich die Badener Zeitung an. Zuerst zeichnete das NS-Sprachrohr die Frau vergangener Tage: Sie las keine Zeitung, las höchstens Unterhaltungsblätter oder sonstige Beilagen bzw. war nur mit ihrer eigenen Gedankenwelt beschäftigt. Politische Beurteilungen wie die von Christine Fischer aus Sooß waren dadurch keine Seltenheit. Von Haus streng christlich erzogen, behält sie auch heute noch diese Richtung bei. Von einem politischen Vorleben kann keine Rede sein, da sie von Politik überhaupt keine Ahnung hat. Da sie wahrscheinlich im Nationalsozialismus einen Gegner der Kirche sieht, steht sie der Bewegung ablehnend gegenüber.54 Auf diese Weise sozialisiert, konnten Frauen, wenn es um Politik ging, nicht mitreden. Ziel der BZ war es nun, dass die Frau die Zeitung von A bis Z lese. Und dieses Aufnehmen alles Gebotenen unterrichtet die Frau der Gegenwart über alle Vorgänge und Wendungen auf den Schicksalswegen des geliebten Heimatlandes, des eigenen Volkes, über Geschehnisse außerhalb der Grenzen, vermittelt in großen Linien überhaupt das Weltbild.55 Es musste aber immer die richtige Politisierung stattfinden. Nicht immer gelang es. Trotz umfangreicher Propaganda zeigte sich Marie Deutsch mit der SS-Mitgliedschaft ihres Mannes Anton Deutsch niemals einverstanden. Als er sie als förderndes SS-Mitglied eintrug, war das für sie ein Scheidungsgrund. Ich hatte allerdings keine Möglichkeit, weil dieser Scheidungsgrund nicht nur keine Geltung, sondern für mich unangenehme Folgen gehabt hätte.56 Vollkommen gegensätzliche politische Ansichten vertraten auch die Eheleute Adolf und Julie Holzer. Der Mann, SS-Obertruppführer, die Frau eine stadtbekannte Schwarze, die hinter dem Rücken ihres Mannes NS-Gegnern half, einen in Baden als U-Boot lebenden 52 53 54 55 56
Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Maresch Guido (geb. 1887). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Giebisch Walter (geb. 1912). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Fischer Christine (geb. 1899). BZ Nr. 6 v. 21.01.1939, S. 1. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Deutsch Marie (geb. 1905) u. Deutsch Anton (geb. 1904).
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Juden versorgte und alles daransetzte, dass die Tochter nicht der NSDAP beitrat. Nachdem sie 1945 in den Westen geflüchtet war und wenig später nach Baden zurückgekommen war, wurde sie, da sie aus einer überzeugten NS-Familie stammte, sogleich zum Zwangsarbeitseinsatz eingegliedert. Ihrem Einspruch, wonach sie stets eine NS-Antihaltung an den Tag gelegt hatte und sogar Verfolgten geholfen hatte, wurde nachgegangen, und als sich herausstellte, dass ihre Schilderungen der Wahrheit entsprachen, wurde sie aus dem Arbeitsdienst entlassen.57 Eine weitere Parallele zur Jugend finden wir in den Erklärungen und Rechtfertigungen, weshalb man als Frau der Partei beigetreten war. Waren es bei der Jugend die Unerfahrenheit, die Leichtsinnigkeit, die Unwissenheit aufgrund des Alters, so haben wir bei manchen Frauen dieselben Erklärungsmuster, nur bezogen auf ihr selbst vorgebrachtes stereotypes Frausein. Ich bin im Jahre 1938 zweifellos einer Massenpsychose erlegen, der gegenüber ich als schwer Nervenleidende keinen genügenden Widerstand leisten konnte.58 Wieder haben wir die Frau, die nervös, hysterisch und hilflos agiert. Ein anderes Klischee, das von Nationalsozialistinnen bedient wurde, war die politisch vollkommen unwissende Frau: Ich habe mich als Frau nie vorher mit Politik befasst, und es fehlte mir daher jener Weitblick, welcher notwendig gewesen wäre, um die damalige Lügenpropaganda der NSDAP zu durchschauen. Der Beitritt erfolgte nicht aus irgendwelchen Gründen der Politik, mit welcher ich mich nie beschäftigt habe und von welcher ich gar nichts verstand, (nicht einmal die Namen der einzelnen politischen Parteien oder deren Programm kannte ich) […].59 In die vorgebrachte Unwissenheit konnte über die Hintertür auch der Mann bzw. der abwesende Mann mit einbezogen werden. Da ich mich mit öffentlichen Fragen nie beschäftigt habe und während des Hitlerregimes wegen meiner Krankheit keinem Beruf nachgehen konnte, daher gänzlich unerfahren in „politischer Sache“ bin, mein Mann beim Militär war, der mich aufklären hätte können, so ging ich in der Meinung, einem Verein beizutreten, zur NSDAP.60 Der abwesende Mann also als fehlender Aufklärer! Und bei Marianne Glanner hat gar mein Mann die Anmeldung für mich übernommen. Ich glaube, dass ich meine Anmeldung nicht einmal selbst unterschrieben habe, und kann diese Behauptung nahezu mit Sicherheit aufstellen. […] Wenn ich ganz ehrlich bin, so kenne ich die nationalsozialistische Weltanschauung überhaupt nicht.61 Neue Möglichkeiten, das jeweils andere Geschlecht in seine Rechtfertigungen einzuspannen, boten sich dann an, wenn der Ehepartner bereits tot war. Maria Zisser, Ehefrau des Badener SS-Angehörigen Hans Zisser, nannte ihren Ehemann als Grund für ihren erzwungenen Parteibeitritt. Sie schilderte ihr Martyrium, das aus Gewalt, dem Verlust eines 57 58 59 60
Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Holzer Adolf (geb. 1896) u. Holzer Julie (geb. 1902). Ihr Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Köfer Friederike (geb. 1905). Ihr Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Linz Marie (geb. 1905). Ihr Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Fiebinger Margarethe (1915– 1945). 61 Ihr Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 052/Registrierungslisten: Glanner Marianne (geb. 1906).
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Kindes und einem Selbstmordversuch bestand. Ihr Mann war dem Alkohol verfallen, aufbrausend und gewalttätig – bestätigt durch parteiinterne Beurteilungen. Jeder, der nur einen kleinen Einblick in meine 23-jährige Ehe hatte, kann bezeugen, dass ich bei diesem Mann keinen eigenen Willen mehr haben durfte. Sie wollte die Scheidung, doch seine Zustimmung hätte sie nie bekommen. Die Scheidung erfolgte durch eine sowjetische Bombe am 2. April 1945. Durch den Tod meines Mannes wäre ich einesteils erlöst, anderenfalls hinterlässt er mir ein Erbe, wonach ich um alles, was ich in vielen Jahren mitverdient und angeschafft habe, kommen sollte.62 Den verstorbenen Ehemann brachte auch Klothilde Witt ins Spiel. Ihr Parteieintritt beruhte auf einer sie 1938 überkommenden Massenpsychose und der Angst, als alleinstehende Frau ihren Posten als Beamtin zu verlieren. Weder habe sie eine Uniform getragen noch Veranstaltungen besucht oder sonst irgendwie mitgemacht. Um ihren Ausführungen Nachdruck zu verleihen, verwies sie auf ihren während der NS-Zeit geehelichten Ehemann Gustav Witt, einen Kapellmeister und, laut ihr, glühenden Demokratie-Anhänger, der 1944 in einem Luftschutzkeller einem Herzanfall erlag. Um ihrem reinen Gewissen eine weitere Bestätigung hinzuzufügen, unterstrich sie ihr Bleiben in Baden. Frei von jeglichem Schuldbewusstsein verließ ich auch während des jetzigen Umsturzes und Einzugs der russischen Truppen nicht eine Stunde lang meine Wohnung, sondern schaute den zu gewärtigen Ereignissen ruhig entgegen.63 Wir haben zum einen den gewalttätigen Ehemann, vor dem es kein Entkommen gab, und zum anderen den edlen Ehemann, als Garant, die Wahrheit zu sagen. Beide Schilderungen konnten für die Kommission glaubhaft erscheinen. Ein prügelnder Ehemann und ein stadtbekannter fanatischer Nazi, der die Frau in die NSDAP zwingt, klingt überaus logisch. Und der andere, ein glühender Anhänger der Demokratie – so einer würde doch keine überzeugte Nationalsozialistin heiraten. Nicht zu bändigende Emotionen, verminderte kognitive Leistungen sowie das Fehlen des aufklärenden Familienoberhaupts wurden als Beitrittsgrund zur NSDAP bzw. der Hingabe zum Nationalsozialismus angeführt. Ob das alles der Wahrheit entsprach, war sekundär. Es waren sowohl gängige Geschlechterklischees als auch gelebte Geschlechterrollen und damit glaubhafte Ausführungen. Entscheidend war, mit solchen Erklärungen zum Erfolg zu gelangen. Sich als Frau blöd zu stellen bzw. als unwissend und unpolitisch zu präsentieren, konnte (musste nicht) bei der Kommission nach 1945 auf fruchtbaren Boden fallen. Einen Versuch war es wert. Gertrud Maurer erzählte von ihrer Mutter, die, während der Vater eingezogen war, von Parteiwerbern dazu ermuntert wurde, der NSDAP beizutreten. Die Mutter war durchaus angetan, besonders die Beredsamkeit der Werber machte Eindruck. Allerdings vergewisserte sie sich zuvor brieflich bei ihrem Ehemann, dessen Antwort postwendend kam. Sie solle sich unterstehen, der Partei beizutreten! Warum, werde er ihr mündlich einmal auseinandersetzen.64 Und auch wenn wir oben noch gelesen 62 Ihr Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Zisser Maria (1903–1978). 63 Ihr Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Witt Klothilde (1898–1977). 64 MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 52.
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haben, dass die Badener Zeitung die Frauen politisch aufzuklären beabsichtigte, so brachte sie gleichzeitig Berichte, die der Frau ein sehr beschränktes Politikverständnis attestierte. Selbst die deutsche Hochsprache wurde ihr in Abrede gestellt. San ma froh, dass der Hitler zu uns kumma is! Wia standn ma da, wann die Nazi kumma warn!65 Weitaus seltener treffen wir solche Erklärungen bei Männern an. Rudolf Hein, von Beruf Koch, gab nach 1945 zu Protokoll: Als einfacher Mensch, der ich von Politik nichts verstand, auch nie etwas mit Politik zu tun hatte […].66 Grundsätzlich jedoch argumentieren Männer wesentlich seltener damit, dass sie die politische Gesamtsituation kognitiv nicht erfasst hätten oder in Hysterie verfallen wären. In Kapitel 9 finden wir die männlichen Rechtfertigungen. Hier waren es vor allem berufliche Argumente: Ich musste einen Betrieb führen, ich hatte für meine Arbeiternehmer zu sorgen, ich musste ein Darlehen abbezahlen, ich suchte Arbeit oder ich musste die Familie ernähren. Auch während der NS-Zeit brachten Männer selten eine geistige Schwäche als Vorwand, um sich vor was auch immer zu drücken. Karl Waldmann, Parteimitglied seit 1938, wurde 1944 zum politischen Leiter für den Osteinsatz ernannt. Da er wenig Lust verspürte, gegen die Sowjets in die Schlacht zu marschieren, ließ er sich zahlreiche Ausreden einfallen, weshalb seine Wenigkeit eine schlechte Wahl für diesen Posten wäre. Zu alt, zu krank, zu wenig Erfahrung und außerdem verstehe er von der politischen Führung absolut nichts. Er sprach sich selbst die nötige Intelligenz für solch eine anspruchs- und verantwortungsvolle Aufgabe ab. Die NSDAP zeigte keinerlei Verständnis. Seine Ausreden wurden als unnationalsozialistisch und unmännlich abgetan. Vielmehr hätte er doch froh sein müssen, ausgewählt worden zu sein. November 1944 folgte der Parteiausschluss. Er hat seine Pflichten als Parteigenosse auf das gröbste verletzt. Für einen Mann mit einer derartigen Haltung und Einstellung ist kein Platz in den Reihen der Bewegung.67 Und wie bei den Frauen gab es auch bei den Männern solche, die ihre Ehefrauen vorschoben, als man sie nach 1945 fragte, weshalb sie denn mit dem NS-Regime kooperiert hätten. Als Karl Fischer 1946 nach dreijähriger US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach Hause kam und erfahren musste, dass er Parteimitglied war, konnte er sich das anfänglich nicht erklären, aber er hegte eine vage Vermutung. 1939 hatte er mal in Anwesenheit eines Parteimitglieds darüber sinniert, der NSDAP beizutreten, mehr aber auch nicht. Aber dieses Gespräch teilte ich damals meiner Frau mit, welche mich eben dann vor dem Wohnungsamt in Baden im Zuge eines Ansuchens um Wohnungswerbung als Pg. der NSDAP angab.68 Weiblicher Hintergrund soll auch bei der „Arisierung“ der Elisabethstraße 56 durch den Casino-Prokuristen Leo Nagl entscheidend gewesen sein – und das in zweifacher Ausführung. Zum einen, die ursprüngliche Besitzerin, Ernestine Schwarz, erklärte Leo Nagl nach 1945, wollte ohnehin verkaufen, da sie das Haus nur als Sommerdomizil für zwei Mo65 66 67 68
BZ Nr. 19 v. 08.03.1939, S. 2. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hein Rudolf (geb. 1907). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Waldmann Karl (geb. 1886). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen. Fischer Karl (geb. 1915).
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nate im Jahr nutzte.69 Sie wollte unbedingt das Haus in guten, sprich seinen Händen wissen. Allerdings, in den letzten 20 Jahren wurden keine nennenswerten Reparaturen durchgeführt. Das Haus war in einem schwer vernachlässigten Zustand. Ahnend, dass enorme Kosten auf ihn zukommen würden, kam nun die zweite Frau ins Spiel – die Gattin. Ich hatte unter diesen Umständen keine Lust zu einem Erwerb, doch bestimmte mich meine Frau nach einem zweiten Besuch der Dame zum Kaufe […]. Und ja, seine Befürchtungen erwiesen sich als richtig. Das Häuschen wies trotz einer aufgewendeten Generalinstandsetzung, nun als ständige Jahreswohnung benützt, im späteren Verlaufe sehr unangenehme und dazu kostspielige Mängel auf, erwies sich eher als Fehl- anstatt günstiger Kauf für mich.70 Auch in diesen Fällen geht es mir nicht vordergründig darum, den Wahrheitsgehalt zu eruieren. Es geht um die Geschlechterrollen. Die Kommission, die 1945 für die Streichungen zuständig war, bestand aus vier Männern. Nun stand ein weiterer Mann davor Rede und Antwort und erzählte von seiner Ehefrau, die ihn drängte und nervte und einfach nur lästig war. Und er, er wollte eigentlich nur seine Ruhe haben. Und dann hätte er in Gott‘s Namen, damit sie endlich Frieden gäbe, das Haus arisiert. Ob das der Wahrheit entsprach, das konnten die Kommissionsmitglieder erst nach längerer Recherche herausfinden. Doch das transportierte Frauenbild – die stets nörgelnde, fortwährend keppelnde und ewig unzufriedene Ehefrau – wurde, den damaligen Geschlechterstereotypen entsprechend, nicht grundsätzlich als etwas an den Haaren Herbeigezogenes betrachtet. Mag die NS-Diktatur auch durch Bomben und Granaten zertrümmert worden sein, Rollenbilder und Geschlechterstereotype blieben davon unberührt.
69 Ernestine Schwarz (geb. 1859). 70 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Nagl Leo (geb. 1888).
Kapitel 14 Wie aus Scherben Kristall wurde Oder: Ein Pogrom in der Kurstadt
14. November 1938: In der Angelegenheit der Aktion gegen Juden und ihrer Umsiedlung sowie der Weitervermietung jüdischer Häuser verfügt der Kreisleiter mit sofortiger Wirkung, dass alle diese Aktionen nunmehr zu unterbleiben haben. Zuwiderhandelnde werden der Polizei übergeben.1 Diese Drohung war nicht bedrohlich genug. Am 28. November 1938 musste SSHauptsturmführer Dr. Friedrich Kranebitter, Leiter der Gestapo-Außenstelle Wiener Neustadt, nachschärfen: Ich weise darauf hin, dass die Aktion abgeschlossen ist. Amtshandlungen gegen Juden dürfen nur von der Geheimen Staatspolizei selbst oder über deren Auftrag von anderen staatlichen Dienststellen vorgenommen werden. Selbstständige Aktionen seitens der NSDAP oder deren Gliederungen sind ungesetzlich. Die Schuldtragenden haben mit schärfsten staatspolitischen Maßnahmen zu rechnen.2 Was war geschehen? Hätten wir nur die Badener Zeitung als Quelle, so wüssten wir überhaupt nicht, was der Kreisleiter und die Gestapo mit ihren Ankündigungen meinten und bezwecken wollten. Die BZ berichtete am 12. November 1938 auf der Titelseite über die üblichen Spendensammlungen, diesmal war es eine Schrottsammlung, ein paar Seiten weiter wurde es kulinarisch „Rund um den Eintopf“. Erst in der Ausgabe vom 16. November findet sich die offizielle Mitteilung der Kreisleitung, dass in der Judenfrage von keiner Seite irgendwelche Aktionen unternommen werden dürfen […]. Damit ist die Gewähr für eine vollkommen legale Entwicklung in der Judenfrage gegeben. Und um den Eifer einiger Eiferer zu bremsen, ab 15. bis 21. November können Erledigungen in Wohnungsangelegenheiten nicht erfolgen.3 Werfen wir einen Blick in den Polizei-Frührapport vom 11. und 12. November 1938, finden wir keinen einzigen Eintrag betreffend die stattgefundenen Gewaltexzesse, die als Novemberpogrome oder Reichskristallnacht bezeichnet werden. Was wir zu lesen bekommen, ist, dass ein Arbeiter in der Kaserne Verbrennungen durch Teer erlitt, dass zwei Beamte erkrankten und drei sich auf Urlaub befanden. Erst am 14. November wird mitgeteilt, dass am Vortag um 13.00 Uhr 18 Juden zwischen dem 18. und 50. Lebensjahr der Gestapo
1 2 3
StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrom; Mappe I – Kreisleitung Baden Verfügung (14.11.1938). Ebd. – Kranebitter an Kreisleitung (28.11.1938). BZ Nr. 92 v. 16.11.1938, S. 3.
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in Wien (Roßauer Lände) zur Verfügung gestellt wurden.4 Nicht-Sehen, Nicht-Wahrhaben-Wollen, Nicht-Niederschreiben-Dürfen, Nicht-darüber-Sprechen-Dürfen – die Gründe für die Leere und Stille der ersten Quellen waren vielfältig. In manchen Fällen auch ganz banal. Hans Meissner: Das Novemberpogrom war mir in seinem Ausmaß nicht klar geworden. Wenn man mehr als 1 km vom Stadtzentrum entfernt wohnt, erfährt man alles erst 24 Stunden hinterher. Eine Situation, die einen prägt.5 Der Historiker Raphael Gross bezeichnet die Novemberpogrome als die Katastrophe vor der Katastrophe. Die Angriffe waren organisiert, aber die Gewaltorgie der SA- und SS-Männer zog zahlreiche spontane Mitläufer an, die nicht unbedingt der NSDAP angehörten.6 In Baden ging es am 10. November um 10 Uhr los. Die Synagogen wurden geplündert und demoliert, genauso Häuser jüdischer Besitzer. Menschen wurden aus ihren Häusern gezerrt und unter anderem am Josefsplatz zusammengetrieben. Dort, so die Zeitzeugen, wurden sie auf jede erdenkliche Art gedemütigt. Man durfte sie beschimpfen, anspucken, jeder durfte mitmachen, jeder durfte sich von seiner sadistischen Seite zeigen. Am 12. November waren bereits fünfzig jüdische Männer zwischen 16 und 50 in Baden verhaftet. Ein Teil kam nach einiger Zeit wieder frei, während andere nach Wien oder nach Dachau deportiert wurden. Zu ihnen gehörte Dr. Ernst Ehrentreu, Religionslehrer am Badener Gymnasium. Er wurde am 10. November 1938 nach Dachau verschleppt, verließ das KZ am 25. November 1938. Im Februar 1939 gelang ihm die Flucht nach Großbritannien.7 * Die Novemberpogrome waren wahrliche Gewaltorgien. Psychopathen konnten erneut ihre Phantasien ausleben. Mit dabei waren all die bekannten gewaltaffinen Nationalsozialisten, die misshandelnd, plündernd und raubend durch die Stadt zogen. Das Exekutivkomitee der Anschlusstage war wieder voll im Einsatz. Ernst Röschl berichtete nach 1945, wie Johann Grundgeyer bei zahlreichen „Reibpartien“ anwesend gewesen war, es ihm sichtlich Freude bereitet und er sich dabei fotografieren lassen hatte. Er hatte Juden gezwungen, mit ihren Fingernägeln Dreck von den Straßen zu kratzen. Neben den Zeitzeugenberichten liegen Ermittlungsakten aus Linz vor. Linz deswegen, weil viele Nationalsozialisten nach 1945 in den Westen flohen.8 Es kam zu systematischen Treibjagden und brutalster Gewalt. Dabei konnte jeder mitmachen, aktiv oder passiv. Man konnte den Schlägertrupps entscheidende Hinweise zustecken, wo sich Juden versteckten oder wo Juden etwas versteckt hatten, oder manche nahmen sich das Recht, Juden willkürlich festzuhalten, um sie dann ihren Peinigern aus4 5 6 7 8
Vgl. StA B, GB 231/Frührapporte 1932–1946; Fasz. I 1932–1938 – 14.11.1938. StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 8. GROSS, November 1938, S. 43. Vgl. www.jewishhistorybaden.com (10.04.2023) – Ernst Ehrentreu (1896–1981). Vgl. StA B, Personalakten: Grundgeyer Hans.
Kapitel 14 Wie aus Scherben Kristall wurde
zuliefern. Das Hausmeisterehepaar Georg und Hermine Lohbauer in der Antonsgasse 14, bekannt als radikale Nationalsozialisten, verständigte mehrmals die SS und SA, um ihre Nachbarn, die jüdische Familie Flaschner, endlich loszuwerden. Die Männer der SS und SA ließen sich nicht lange bitten. Über die sadistischen Misshandlungen gab Maria Krauskopf, die Wirtschafterin des Ehepaars Flaschner, im August 1945 detailliert Auskunft. Die Täter fanden anfänglich nur den 20-jährigen Sohn Erich Flaschner vor. Frau Lobauer ging dann mit der SS in die Wohnung und sah ruhig zu, wie der junge Flaschner von der SS blutig geschlagen wurde. Als die SS Erich Flaschner beim Haustor hinausführten, schlug Frau Lobauer sogar auf ihn ein und schrie wiederum, er gehört totgeschlagen. Unter den beteiligten Sadisten befanden sich Alois Schwabl und Josef Grüll. Ersterer soll sich laut Maria Krauskopf besonders bestialisch benommen haben. Er hat Erich Flaschner wiederholt mit Faustschlägen die Lippe blutig geschlagen, und als er dann sah, dass seine Hand dabei blutig geworden, ließ er Erich Flaschner vor sich nieder knien und zwang ihn, das Blut von seiner Hand abzuschlecken. Nach vollbrachter Tat legten sich die Verbrecher auf die Lauer. Sie warteten auf die Eltern, Friedrich und Melanie Flaschner. Herr und Frau Flaschner kamen abends nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause und wurden von den SS-Männern in Empfang genommen. Sie wurden gezwungen, sich nackt auszuziehen, die Kleider wurden ihnen herunter gerissen und beide wiederholt geschlagen.9 Erich Flaschner kam nach Dachau, seine Eltern wurden in die Badener Baracken verschleppt. Währenddessen bemächtigte sich das Hausmeisterehepaar der Möbel, der Wäsche und sonstiger Wertgegenstände der Familie Flaschner.10 Für viele Menschen, auf die es die NS-Schlägertrupps abgesehen hatten, gab es kein Entkommen. Wer schnell genug war, der flüchtete, versteckte sich oder brachte zumindest seine Wertgegenstände in Sicherheit, wenn er es nicht schon längst getan hatte. Die NS-Schergen wussten um diese Tatsache und sie wussten, dass es Arier gab, die ihren jüdischen Mitmenschen halfen. Die Jüdin Eleonore Bouchez vertraute ihr Bargeld und ihren Schmuck im Wert von 120.000 Schilling ihrer Schwester Sophie und ihrem Schwager Fritz/ Ignaz Steiner an.11 Doch hier war der Schmuck genauso wenig sicher und so übergab ihn Sophie Steiner dem Amtsrat Ludwig Tajovski, der gemeinsam mit seiner Gattin Mathilde Tajovski die Villa der geflüchteten Eleonore Bouchez in der Lamprechtsgasse 1 bewohnte. Der Amtsrat hatte allerdings eine Bedingung, dass sie unter keinen Umständen den Aufbewahrungsort verraten dürfte, weil es für mich unabsehbare Folgen haben könnte. Doch die NS-Schergen hatten ihre Methoden, um an Geheimnisse heranzukommen. Wenige Tage später läutete bereits das Telefon. Mathilde Tajovski hob ab. Unmissverständlich machte man ihr klar, man wisse vom Schmuck. Augenblicklich verständigte sie ihren Ehemann, der sogleich in die Wassergasse 14 eilte (Privatsynagoge Deutsch), wohin das Ehepaar Steiner 9
StA B, GB 052/Personalakten: Lohbauer Hermine (geb. 1903), Lohbauer Georg (geb. 1898) und Personalakten: Schwabl Alois und Polit. Beurteilungen: Grüll Josef. 10 Friedrich Flaschner (geb. 1885), Melanie Flaschner (geb. 1893), Maria Krauskopf (geb. 1890). 11 Eleonore Bouchez (geb. 1886), ihr gelang die Flucht nach Frankreich. Sophie Steiner (geb. 1881), Fritz/Ignaz Steiner (geb. 1882).
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verschleppt worden war, um ihnen den Schmuck und das Bargeld zurückzugeben. Doch das Haus war bereits abgeriegelt. Noch am selben Tag erschienen zwei Männer in Zivil bei den Tajovskis, um den Schmuck abzuholen, doch Mathilde Tajovski verweigerte aufgrund der Weisung ihres Mannes die Herausgabe. Kurze Zeit später schrillte wieder das Telefon, eine Stimme schrie heraus, woraufhin Mathilde Tajovski erneut Standhaftigkeit bewies und konterte weshalb der Sprecher sich erlaube, so zu schreien, wer er eigentlich sei. Am anderen Ende der Leitung hing Ortsgruppenleiter Maximilian Rothaler. Um die Herausgabe der Wertgegenstände endlich abzuwickeln, würde er diesmal zwei uniformierte SS-Männer schicken. Was nun folgte, war fast schon ein komödiantisches Kammerstück. Während die Tajovskis nun gebannt auf die SS warteten und warteten und niemand kam, beschloss Ludwig Tajovski, noch schnell den Friseur aufzusuchen. Dort angekommen, tauchte schon die Köchin des Hauses auf und berichtete ihm von zwei Uniformierten, die jedoch, nachdem er wieder nicht anwesend war, erneut von Mathilde Tajovski auf später vertröstet werden mussten. Die Männer versprachen, in einer Stunde wiederzukommen. Pünktlich auf die Minute erschienen sie, und diesmal war auch der Hausherr samt neuem Haarschnitt zugegen. Einer der SS-Männer, erinnerte sich Ludwig Tajovski, agierte äußert brutal und wüst, schrie herum und weigerte sich, sich auszuweisen sowie die Schmuckübergabe mittels Unterschrift zu bestätigen. Der andere hingegen erzählte währenddessen seiner Ehefrau, dass er Techniker und in Wien beschäftigt sei und ihm diese Vorgänge schon höchst zuwider wären.12 Der Anflug an Empathie eines SS-Mannes half jedoch niemandem. Am wenigsten dem Ehepaar Steiner. Sie wurden 1939 deportiert und später ermordet. Gewalt wiederfuhr auch der jüdischen Familie Rapaport (Flamminggasse 12). Der jüngste Sohn, Hans M. Rapaport, schilderte nach 1945, wie im November 1938 die SA das Haus stürmte. Rädelsführer waren Franz Rosensteiner und Hans Grüner. Die Familie hatte augenblicklich zu verschwinden. Der Vater, Dr. Jakob Rapaport, der aufgrund einer Kinderlähmung nur durch einen Schienenapparat aufrecht stehen konnte, konnte augenscheinlich den Aufforderungen nicht Folge leisten. Ich erinnere mich genau als Augenzeuge [Hans M. Rapaport], wie mein armer unschuldiger Vater, ein hilfloser Krüppel, bedrängt und von Nervenerschütterungen leidend auf dem Bette lag, nicht imstande aufzustehen, und wie der Beschuldigte und andere SA-Leute über seinem Bette standen, ihn in faulster Weise beschimpften und drohten, und dann versuchten, ihn mit Gewalt aus dem Bette zu schleppen. Nach einer Weile befahl mir Rosensteiner, meinen eigenen Vater aus dem Bett zu ziehen und den Schienenapparat an seine Beine anzuschnallen. Als ich mich weigerte, das zu tun, erhielt ich einen Schlag auf den Kopf von schrecklichen Drohungen begleitet. […] Nun lag mein Vater schon in einem schrecklichen Nervenzustand auf dem Bette, stöhnend und weinend seine verkrüppelten Beine haltend, flehte er den Beschuldigten an, ihn bloß in Ruhe zu lassen. Anstattdessen, Rosensteiner antwortete mit weiteren Beschimpfungen und endlich hob den Betteinsatz aus den Angeln, sodass das Bett über meinem Vater zusammenbrach. 12 StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian; Mappe III – Zeugenaussagen von Ludwig Tajovski (1888–1957) und Mathilde Tajovski (geb. 1892).
Kapitel 14 Wie aus Scherben Kristall wurde
Als die Aktion, Jakob Rapaport aus dem Bett zu hieven, misslang, wandte sich die Wut gegen dessen Ehefrau, die versucht hatte, Geld zu verstecken und die Polizei zu verständigen. Die Familie floh am nächsten Morgen ins Sanatorium Esplanade. Zwei Tage später erschien Rosensteiner und verlangte Geld. Bei Widerstand drohte er mit dem KZ. Hans M. Rapaport gelang im Dezember 1938 die Flucht nach Großbritannien. Seinen Eltern nicht. Nun erhielt ich die Nachricht, dass mein Vater und meine liebe Mutter von den Nazi Verbrechern verschleppt und ermordet wurden. Sie waren ja unschuldige Leute.13 Mehr Glück hatte das Ehepaar Gisela und Bernhard Dollinger. Bevor das Haus (Wassergasse 11) in der Nacht des 10. November 1938 gestürmt wurde, hörten sie zuvor die anrückenden NS-Einheiten, laut das Horst-Wessel-Lied singend mit Textstrophen wie „wenn das Judenblut vom Messer spritzt“. Trotz Drohungen und Beschimpfungen fanden die Eindringlinge kein Geld. Das sorgte für Frustration. Bernhard Dollinger gehörte zu jenen 50 jüdischen Männern, die in diesen Tagen verschleppt wurden. Seine Ehefrau Gisela schaffte es daraufhin, die Freilassung ihres Mannes zu erwirken, unter der Auflage, das Land innerhalb von zwei Wochen zu verlassen, was auch passierte. Sie flohen in die USA.14 * In Baden befinden sich ungefähr 330 Häuser in jüdischem Besitz. Im Zuge der Aktion wurden ungefähr 2 Drittel versiegelt, um Verschleppung vorzubeugen.15 Neben den zahlreichen von Juden bewohnten Häusern und Wohnungen, die gestürmt und deren Bewohner vertrieben wurden, richtete sich der Fokus auf die sich noch in Baden befindenden jüdischen Institutionen. Anfänglich bestand der Plan, den Tempel in der Grabengasse anzuzünden. Der zuständige SA-Trupp war bereits ausgerückt, doch Raimar Wieser sen. lief den SA-Männern zufällig über den Weg. Als er von der Absicht der Brandlegung erfuhr, warnte er, dass durch die Bebauungsdichte das ganze Viertel in Flammen aufgehen könnte. Solchen Argumenten zugänglich, begnügten sich die NS-Einheiten damit, das Gebäude zu plündern und zu demolieren. Wie ein Schätzungsgutachten formulierte, waren bei der Novemberaktion dadurch wertvolle Gegenstände abhandengekommen. Mit Äxten und Hämmern, berichteten 13 StA B, GB 052/Personalakten: Rosensteiner Franz – Hans. M. Rapaport an Julius Hahn (30.11.1946). Die Identität der Opfer konnte auch anhand der Meldezettel nicht eindeutig geklärt werden. Namen und Adressen passen nicht überein, was aber durch Namensänderungen, Wohnortwechsel oder die üblichen Schlampereien bei der Erstellung der Meldezettel begründet sein könnte. Aus den Unterlagen im Bauarchiv geht hervor, dass Jakob Rapaport das Haus 1931 erworben hatte. Der Briefkopf besagt: Rechtsanwalt Jur. Dr. Jakob Rapaport, Verteidiger in Strafsachen, Militärverteidiger, beeideter Gerichtsdolmetscher für die polnische Sprache. Wien, II. Taborstraße 17B. 14 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (12.10.2019). Gisela Dollinger (geb. 1902), Bernhard Dollinger (geb. 1900). 15 Vgl. StA B, Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogromen; Mappe I.
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Zeitzeugen, gingen die Randalierer gegen die Synagoge vor, während die Mikwe in der Vöslauerstraße bereits in Flammen stand. Nicht viel anders verfuhr man mit der Privatsynagoge Deutsch in der Wassergasse 14. Am 10. November 1938 drangen an die 30 Männer ein und zerstörten sämtliche Fenster, Türen, die Holzveranda und sonstiges Interieur, das anschließend im Innenhof verbrannt wurde. Nur ein Teil der Bibliothek und zwei Thorarollen konnten vor den Vandalen in Sicherheit gebracht werden.16 Weiters vollkommen devastiert wurde die Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof.17 Über die Sprengung gab unter anderem das Ehepaar Eduard und Aloisia Felbermayer im September 1949 Auskunft. Er war Wärter am israelitischen Friedhof. Der Mann schilderte, wie am 10. November zur Mittagszeit an die 100 Personen, teils in Zivil, teils in Uniform, erschienen. Als er seine Wohnung betrat, kam ihm schon ein SS-Mann entgegen, mit dem Schlüssel der Zeremonienhalle in der Hand. Er sperrte das Gebäude auf, und die Plünderung konnte beginnen. Sieben oder acht Autos standen bereit, um beladen zu werden. Unter den 100 Personen erkannte Eduard Felbermayer nur Hans Zisser – das lag vielleicht daran, dass jener, als Felbermayer seine Zeugenaussage 1949 tätigte, bereits tot war. Am 12. November erschienen fünfzehn Personen, unter ihnen der Steinmetzmeister Johann Scheerer, der den Auftrag hatte – laut ihm wurde er dazu gezwungen – die Halle zu sprengen. Geglaubt haben ihm die Behörden nach 1945 nicht. Vor der Sprengung soll er noch ein Marmorbecken „gerettet“ haben. Gemeinsam mit seinem Sohn und vier weiteren Arbeitern machte er sich an die Arbeit. Sie bohrten Löcher und setzen den Sprengstoff ein. Ein paar Tage nach der Sprengung wurde der Schutt abtransportiert und die noch brauchbaren Ziegelsteine an Interessenten abgegeben/verkauft, um sie für den persönlichen Hausbau wieder zu verwenden. 1000 Ziegel gingen an den Gärtner Karl Sigmund, dem jedoch laut eigener Aussage, als er über die Herkunft des Baumaterials erfuhr, die Abscheu überkam.18 Von Seiten der Gemeinde wurden die Plünderung und Sprengung als „Baugebrechen an der Zeremonienhalle des jüdischen Friedhofes in Baden“ bezeichnet und im Schriftverkehr mit der jüdischen Gemeinde als solche kommuniziert. Den Schutt hatte die Kultusgemeinde übrigens selbst wegzuschaffen und den Friedhof so zu umzäunen, dass von außen nichts mehr auf einen jüdischen Friedhof schließen lassen durfte. 1940 gelangte der Friedhof mittels „Arisierung“ in den Besitz der Stadt Baden. Aufgrund des Kaufvertrages war es der Stadtgemeinde nicht möglich, die Grabsteine abzutragen, da diese nicht Besitz der israelitischen Kultusgemeinde waren, sondern Privatbesitz der Hinterbliebenen.19
16 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 40 und www.jewishhistorybaden.com/city (10.04.2023). 17 Vgl. MAURER, WELLENHOFER, S wie „Schädling“, S. 3–11. 18 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrome; Jüdischer Friedhof – Eduard Felbermayer (geb. 1876), Aloisia Felbermayer (geb. 1879), Johann Scheerer (geb. 1877), Karl Sigmund (geb. 1891). 19 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/city (10.04.2023).
Kapitel 14 Wie aus Scherben Kristall wurde
Schutt wegräumen, Sichtschutz errichten – wir sehen nichts und nichts ist geschehen! Die Schilderungen der Täter nach 1945 liefen darauf hinaus. Von Gewaltorgien war anfänglich keine Rede, und wenn, dann waren es die anderen – so zumindest SA-Truppführer Ludwig Karras. Im Juni 1946 führte er aus, nachdem er mit anderen SA-Männern das Haus der Familie Moritz und Adele Beisser in der Habsburgerstraße 18 am 10. November „durchsucht“ hatte, von Gewalt und Plünderung kann bei mir keine Rede sein, weil wir uns mit der jüdischen Familie Beisser-Glücksmann, unter Hinweis, dass die von uns beschlagnahmten Sachen nun Staatseigentum seien, in ganz normaler Weise auseinandergesetzt haben, so dass wir von den obgenannten Juden noch bewirtet etc. wurden.20 Im August desselben Jahres revidierte er seine Aussage, nachdem sich die sowjetische Stadtkommandantur seiner annahm. Nun fielen ihm doch einige Gewalttaten ein, das Wort Plünderung kam ihm über die Lippen, die Tatsache, dass Alkohol währenddessen in rauen Mengen geflossen war, kam zurück ins Bewusstsein, und auch dass sein alter Exekutivkomitee-Kamerad Robert Hilgarth die Tochter des Hauses zum außerehelichen Beischlafe missbraucht habe.21 Neben den sich schließenden Erinnerungslücken schrieb er im November von der Siegreichen Sowjetarmee, der Beschützerin auch der Kleinen, den Befreiern Österreichs, und beklagte sein Schicksal, wie er von der nationalsozialistischen Ideologie geblendet worden wäre. In Anbetracht der für ihn aufziehenden Strafe schrieb er: Ich sehe nicht ein, dass ich büßen soll als kleiner Dreck, hätte ich’s verdient, würde ich alles ruhig hinnehmen.22 Erinnerungslücken finden wir nicht nur bei einfachen SA-Mitgliedern. Selbst Kreisleiter Ponstingl schien von einer frühzeitigen Demenz befallen worden zu sein. Laut ihm wusste er von gar nichts. Ich bin Anfang Juni 1938 mit der Führung des Geschäftes des Kreisleiters in Baden bei Wien, betraut worden. Ich war als völlig Ortsfremder nach Baden gekommen.23 Als solch ortsfremder Kreisleiter hatte er offensichtlich von nichts eine Ahnung, wahrscheinlich wusste er nicht einmal, wo sich der jüdische Friedhof befand. Weder hatte er den Befehl zur Sprengung gegeben, noch wusste er überhaupt von der Sprengung bzw. wer daran beteiligt gewesen war. Schuld an dem Ganzen hatte SA-Standartenführer Otto Strohmayer, der passenderweise ebenso nicht mehr unter den Lebenden weilte. Nach 1945 waren die Anklagebänke voll von Toten. Dabei ging aus den Ermittlungen nach 1945 klar hervor, Ponstingl arbeitete bei der am 10. bis 12. November 1939, im Kreis Baden, von der SA, SS, NSDAP durchgeführten „Judenaktion“ mit der Gauleitung Wien zusammen und gab selbst Anordnungen für diese Judenaktion an die ihm unterstellten Parteiämter und Ortsgruppen weiter.24 Die Situation in Baden eskalierte dermaßen, dass, wie wir ganz am Anfang gelesen haben, Ponstingl durch seine Order in der Badener Zeitung sie bändigen und kanalisieren musste. Baden war keine Ausnahme. Für die gesamte Ostmark drohte Bürckel mit ernst20 21 22 23 24
StA B, GB 052 Personalakten: Karras Ludwig (geb. 1896) – Aussage (28.06.1946). Ebd. – Klinger an Landesgericht Wien (18.08.1946). Ebd. – Karras an Ortskommandanten (16.11.1946). Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrome; Jüdischer Friedhof. StA B, GB 052/Personalakten: Ponstingl Hans.
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haften Konsequenzen, falls nicht endlich Ordnung einkehre – er wollte geordnete Gewalt, keine willkürliche und damit unkontrollierbare. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, die Gewalt an sich war nicht das Problem, sondern dass sie der Planung entglitt, dass der Eindruck erweckt werden konnte, dem NS-Staat entgleite das Gewaltmonopol. Als am 10. November 1938 im Rausch der Gewalt jüdische Wohnungen geplündert, Bücher aus den Fenstern geworfen und angezündet wurden, befiel die Täter plötzlich die Angst, dass darin vielleicht Geld und Sparbücher versteckt gewesen sein könnten. In Baden war von Urkunden die Rede.25 Die gewünschte Ordnung kehrte erst langsam ein. Schließlich, wie ganz zu Kapitelanfang geschrieben, noch am 28. November 1938 rügte die Gestapo die Kreisleitung Baden, weil ihr war zu Ohren gekommen war, dass NSDAP-Mitglieder weiterhin Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführten. Dieses Privileg hatte nur mehr die Gestapo. Die Kreisleitung wurde aufgefordert, dem illegalen Vorgehen endlich einen Riegel vorzuschieben. Der Wunsch nach nationalsozialistischer Normalität zeigt sich schön im korrekten Sprachgebrauch. Neben den Phrasen wie „Aktionen bezüglich der Judenfrage“ für die Gewaltexzesse der Novemberpogrome sprach Kreisleiter Ponstingl auch von zur endgültigen Bereinigung der im Kreise durch die Schüsse von Paris ausgelösten Verhältnisse […]. Und diese von ihm angestrebte endgültige Bereinigung dieser Verhältnisse hatte ein NS-ehrbares Ziel. Damit ist die Gewähr für eine vollkommen legale Entwicklung in der Judenfrage gegeben.26 * Nachdem die Gewalt abgeebbt war, ging es daran, Bilanz zu ziehen und sich dabei seinem Wording treu zu bleiben. Zuständig für die Bereinigung der durch die Umsiedlung der Juden geschaffenen Verhältnisse war Hans Zisser.27 Verlangt wurde eine Festlegung, wohin im Zuge dieser besagten Aktion die Juden „umgesiedelt“ worden waren oder noch werden sollten sowie eine vollständige Bestandsaufnahme des gesamten jüdischen Besitzes: Immobilien, Geld, Wertpapiere, Schmuck usw. und ob und wenn ja, wie viel und bei wem die Juden Geld zwecks Verwahrung übergeben/versteckt hatten. Aus NS-Sicht konnte man zufrieden sein. Allein Josef Heitzer rühmte sich, 90.000 RM und einige Kisten voller Gold und Silber sichergestellt zu haben. Kreiskassenleiter Wilhelm Hentschl war überaus begeistert. Es wurde so viel geraubt (im NS-Sprech: „sichergestellt“), dass acht zusätzliche Gestapo-Beamte aus Wien ihren überforderten Kollegen in Baden unter die Arme greifen mussten. Von November 1938 bis Februar 1939 hatten sie die Aufgabe, den örtlichen Dienststellen zur Hand zu gehen und ihnen zugleich auf die Finger
25 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrom; Mappe I – Kreis an Landrat (01.02.1939). 26 Ebd. – Verfügung des Kreisleiters (14.11.1938). 27 Ebd. – Kreisleitung Baden Verfügung (14.11.1938).
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zu schauen.28 Es gab sogar Sonderurlaub. Dem in Baden wohnhaften und in Wien als Justiz-Oberinspektor tätigen Johann Martinek wurde über Ersuchen der Kreisleitung Baden für besonders vertrauliche Arbeiten anlässlich der Arisierung zweimal ein zehntägiger Urlaub gewährt.29 Die Gestapo verlangte, über die sichergestellten Güter genauestens unterrichtet zu werden. Sie stellte Regeln auf, was wann welcher Behörde ausgehändigt werden sollte. Wertpapiere, Bargeld, Schmuck und hochwertige Gebrauchsgegenstände waren zu übergeben, der Rest konnte durchaus an die Besitzer rückerstattet werden. Ausdrücklich wurde eingemahnt, eine Quittung nicht zu vergessen. Schon im November 1938 lagen die ersten Listen mit den Bargeldbeträgen vor. 38 Namen nannte die NSDAP-Ortsgruppe I. Bis auf den Pfennig genau wurden die geraubten Barbeträge aufgelistet. Der kleinste Betrag betrug 2 RM, der höchste 7.750. Insgesamt raubte die Ortsgruppe Baden-Stadt bei dieser Aktion 27.665,79 RM.30 Der Sonderbeauftragte für „Arisierungen“ in Baden, Hans Zisser, erstellte unermüdlich weitere Listen bzw. ließ sie sich zuschicken. Auf Vollständigkeit konnte er allerdings nicht pochen. Ein Teil wurde direkt von der Gestapo-Leitstelle Wiener Neustadt durchgeführt, und hierüber sind keine Verzeichnisse vorhanden, weshalb eine restlose Klärung sämtlicher beschlagnahmter Güter nicht erfolgen kann.31 Den Wert der ihm bekannten Schmuckstücke schätzte er auf 14.777 RM. Darunter befanden sich Herrenuhren im Wert von 1 RM bis hin zu Goldketten um 100 RM und Brillantringe, deren Wert mit 600 RM angegeben wurde. Bei den Sparbüchern tippte er auf 119.495 RM. Aufgelistet wurden neben den geraubten Gütern und deren Wert auch die Namen der Opfer. Zisser war erpicht darauf, dass alles geordnet vonstattenging. Ich ersuche Sie sofort alle Ihnen unterstellten politischen Leiter aufmerksam zu machen, dass in der Arisierungssache als auch in der Wohnungsvermittlungsangelegenheit ausschließlich zwischen den Zellenleitern und mir der Verkehr zu pflegen ist. […] Sollten noch bei irgendeinem Blockleiter Wohnungsschlüssel sich befinden, so sind diese unverzüglich abzuliefern. Im Falle Ihnen bekannt werden sollte, dass sich einzelne Personen während der letzten Tage Gegenstände aus Judenbesitz zugeeignet haben, so haben Sie dafür Sorge zu tragen, dass ich allein davon erfahre. Andere Stellen werden von Ihnen aus hiervon nicht in Kenntnis gesetzt. Alle diesbezüglichen Veranlassungen erfolgen in dieser Sache von hier aus. Bei Gefahr im Verzug erreichen Sie mich telefonisch unter Nr. 13.32 Ordnung musste sein, denn volksgenossenschaftlicher Streit und Zwist waren nicht weit. Die frei gewordenen Wohnungen waren heiß begehrt, und es dauerte nicht lange, bis Volks- und selbst Parteigenossen aufeinander losgingen. Versprochene Wohnungen waren 28 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Grundgeyer Hans – Stadtpolizeiamt Baden an Landesgericht Linz (21.05.1947). 29 StA B, GB 052/Personalakten: Martinek Johann/Hans (geb. 1888) – Handelsgericht Wien an Stadtvorstehung Baden (13.11.1945). 30 Vgl. StA B, Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogromen; Mappe I – Ortsgruppe Baden I Verzeichnis (19.11.1938). 31 Ebd. – Niederschrift (16.11.1938). 32 Ebd. – Zisser an Zellenleiter (18.11.1938).
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auf einmal bereits vermietet oder sonstwie belegt. Zisser gab deutlich zu verstehen, von keiner Stelle seien Versprechungen oder Zusagen zu tätigen. Höchstens Frage- und Meldebögen zu erstellen.33 Was die ganzen Möbel anbelangte sowie die Versicherungswerte, das musste noch einer genaueren Prüfung unterzogen werden. Auf das Ergebnis war Zisser, wie er anmerkte, sehr gespannt. Und weil er schon in der Materie war, fragte er bei den verantwortlichen Stellen nach etwaigen Möbeln für sein Büro nach. Er würde sie vorerst nur ausleihen. Gegen weitere Schreibkräfte hätte er ebenso nichts einzuwenden. Zumindest war er einer von denen, die wenigstens noch nachfragten, andere griffen einfach zu. So ein Verhalten galt aber als undeutsch. In der Welt des NS-Regimes musste selbst das Rauben, Plündern und Terrorisieren mit deutscher Würde in Einklang gebracht werden. An den Tag gelegtes Fehlverhalten konnte noch Monate später für den Betroffenen negative Folgen haben – zumal es Eingang in die Beurteilungsbögen fand. Im Juli 1939 hatte man gegen den Parteigenossen Franz Grill politisch nichts einzuwenden, aber: Charakterlich weist Grill leider jene Schwäche auf, die eines Nationalsozialisten unwürdig ist. November 1938 hatte er sich ohne „Mandat“ eines Judenhauses bemächtigt und dieses nicht wieder herausgegeben. Das war unwürdig, weil dadurch nicht der jüdische Besitzer, sondern die Volksgemeinschaft geschädigt ist.34 Bürckel stieß ins selbe Horn. Jene, die Juden ausraubten und erpressten, ohne den Sanctus von oben, handelten in seinen Augen nicht wie Deutsche, sondern selbst wie Juden. Und damit man ihn nicht falsch verstehe, der Jude müsse verkaufen, sein Besitz wäre ohnehin erschachert, doch das alles müsste ordentlich (deutsch) ablaufen. Denn der Einzelne also, der erpresserisch jüdischen Besitz an sich bringt, stiehlt bei der Gesamtheit.35 Doch der Mammon wusste zu verführen. Die beiden SA-Männer Johann Scheywanek und Karl Korutschka erhielten den Auftrag, Juden zu delogieren, sprich zu vertreiben – man sprach auch von Ausmietung. Ziel war die Brandlgasse 4. Doch die beiden trafen auf eine bereits verlassene Wohnung. Was sie jedoch ebenfalls antrafen, war ein Koffer mit 50.000 RM. Pflichtbewusst machten sie sich mit dem Geld zu ihrem Vorgesetzten Strohmayer auf den Weg. Als dieser nicht zugegen war, beschlossen sie, das Geld erst einmal zu zählen, und dabei passierte es: Sie erlagen der Versuchung. Nach der Zählung der 50.000 RM wurden 45.000 RM abgegeben. Danach trennten sich ihre Wege, doch Karl Korutschka plagte bereits kurze Zeit später das deutsche Gewissen. Um seine Ehre zu retten, stellte er sich den Behörden. Für Ortsgruppenleiter Reinöhl waren die Motive des siebenfachen Vaters durchaus verständlich, finanziell sah es nicht rosig aus, und in Anbetracht seiner Vorstrafen war es nachvollziehbar, dass einem Menschen mit den moralischen Schwächen, wie sie beim Genannten vorhanden sind, beim Anblick derartiger Geldbeträge die 33 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrom; Mappe III – Festlegung des Arbeitsprogrammes in Wohnungsangelegenheiten (15.11.1938). 34 StA B, GB 052/Personalakten: Grill Franz (geb. 1903). 35 BZ Nr. 97 v. 03.12.1938, S. 1.
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Nerven durchgehen.36 Kreisgeschäftsführer Haun sah dies genauso im Falle dessen Kompagnons Johann Scheywanek. Dass einen etwas primitiven Menschen wie Scheywanek das Geld blendet, um so mehr er selbst nie einen Geldbetrag in solcher Höhe vor sich hatte, ist bedauerlich. Ich glaube, dass Scheywanek sich seiner Strafhandlung überhaupt nicht klar bewusst war, er dachte vielmehr in seiner Primitivität, nachdem eine derartige Unmenge Geld bei einer alten Jüdin vorgefunden wurde, dass es nicht viel daran sei, sich einen Teil davon für eigene Zwecke zu behalten.37 Es ist ein wunderbares Beispiel für eine Opfer-Täter-Umkehr sowie für die Pervertierung von Schuld und Strafe. Die Plünderer und Räuber, deren Handeln legal war, begingen Diebstahl, der in dem Fall illegal war, um danach noch als Opfer dargestellt zu werden. Als Opfer jüdischen Vermögens, durch das sie geblendet und verführt wurden. Die wirklichen Opfer, die durften im Nachhinein noch demütigende Anträge stellen, wie Regina Neumann, deren Kabinett in der Wassergasse 11 versiegelt wurde. Ich bin laut ärztlichem Zeugnis schwer leidend und lebe auch in ärmlichen Verhältnissen. […] Ich bitte um die Erlaubnis, meine wenigen Sachen, die ich zum Lebensunterhalte benötige, von der Wohnung nehmen zu dürfen. 1 Mantel, 1 Paar Schuhe, Hausschuhe, Petroleum Ofen, alter Lautsprecher, Küchengeschirr und Essgeschirr.38 „Großzügiger“ agierte Gisela Dollinger, die ebenfalls in der Wassergasse 11 ihre Wohnung besaß. Sie versprach nicht nur, den Kreis Baden so schnell wie möglich zu verlassen, sondern auch, dass sie ihre zurückgebliebenen Wohnungseinrichtungsgegenstände und sonstigen Habseligkeiten der NSV ohne nachträglich irgendwelche Ansprüche stellen zum Geschenk mache.39 „Verführen lassen“ hatten sich nicht nur, wie es hieß, primitive und mit moralischen Schwächen belastete SA-Männer. Mit Vorwürfen und Anklagen, sich wider die NS-Moral verhalten zu haben, waren selbst Polizeichef Karl Sammerhofer (dazu im nächsten Kapitel mehr) und der Sonderbeauftragte Hans Zisser konfrontiert. Der als überaus anständig bezeichnete Zisser musste sich nicht nur mit Vorwürfen der Bereicherung herumschlagen. Sein zuvor von „niemandem“ wahrgenommener Alkoholismus wurde ganz plötzlich Thema, denn er sei während seines Dienstes als Sonderbeauftragter im angeheiterten Zustand gewesen, ferner des Nachts in Begleitung einer Frau im vollgetrunkenen Zustand in das Auto B 1 299 eingestiegen […]. Alles nur Gerüchte, die nicht nachgewiesen werden konnten, so die interne Ermittlung. Kreisleiter Ponstingl hielt ihm die Stange, er bezeichnete die Anschuldigungen als nicht nur unsachlich und unwahr, sondern als eine Gemeinheit. Pg. Zisser habe bis in die tiefe Nacht hinein die schweren Arbeiten klaglos durchgeführt. Und seine treuen Kameraden aus der Ortsgruppe Baden-Stadt, die verwehrten sich gegen diese niedrige und gemeine Anschuldigung, die man ihm zur Last setzte. Wir sind der Überzeugung, dass Pg. Hans Zisser ungestört von jeder Seite sein weiteres schwieriges Aufbauwerk in Baden im Hinblick 36 StA B, GB 052/Personalakten: Korutschka Karl (geb. 1899). 37 StA B, GB 052/Personalakten: Scheywanek Johann (geb. 1906). 38 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrom; Mappe II – Regina Neumann (geb. 1867) Protokoll (18.11.1938). 39 Ebd. – Gisela Dollinger (geb. 1902) Protokoll (01.12.1938).
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auf die große Verjudung unserer Stadt in vollem Masse weiterführen soll.40 Noch im Februar 1939 überschüttete die Ortsgruppe ihren Kameraden Zisser mit Loyalitätsbeweisen und lobten dabei seinen Anstand. Denn als die jüdischen Wohnungsangelegenheiten (sprich Arisierung) in den Händen der Ortsgruppe lag, lehnte Zisser es grundsätzlich ab, sich von der Ortsgruppe eine frei gewordene Judenwohnung zuweisen zu lassen, um nicht den Verdacht zu erwecken, er hätte sich Vorteile in seiner Eigenschaft als Sonderbeauftragter verschafft.41 So einen anständigen Menschen musste man nun gebührend entschädigen. Eine Zweizimmerwohnung mit Kabinett, Küche und Bad in einem Judenhaus war laut Ortsgruppe für ihren Kameraden nun das Mindeste. Wer, wann und wie viel genommen/geraubt hatte, da konnte man in diesen Tagen tatsächlich den Überblick verlieren. Und wie handhabte man knifflige Spezialfälle? Was sollte mit jenen Werten geschehen, die jüdische Opfer einigen SA-Männern als Geschenke/ Schutzgeld entrichtet hatten? Was durften die SA-Männer behalten und was nicht, und wem sollten sie es in solchen Fällen aushändigen? Hier mussten Sonderbeauftragter Zisser und SA-Brigadeführer Rappel noch zu einer einvernehmlichen Lösung gelangen. Noch verworrener wurde es wenige Tage nach den Novemberpogromen, als sich der NS-Staat von seiner sozialen Seite zeigen wollte. Die frei gewordenen jüdischen Wohnungen, Häuser und Villen sollten der „Volksgemeinschaft“ zugeführt werden und hier insbesondere den Bedürftigsten aller Volksgenossen. Und die Bedürftigsten der Kurstadt waren Bewohner der Barackensiedlungen in der Vöslauer- und Braitnerstraße. Was also konnte schiefgehen, wenn die Ärmsten der Armen die Judenhäuser erhalten und die Juden dafür in die Baracken gepfercht würden. In der Theorie frohlockte das braune Herz, in der Praxis kam es ganz anders. Die zuvor in den Baracken wohnenden Volksgenossen waren nicht unbedingt mit Wohlstand gesegnet – sonst hätten sie ja nicht in Elendsquartieren hausen müssen. Heute würde man sagen, sie waren sozial- und wirtschaftsschwach. Plötzlich wohnten diese Menschen in großen Wohnungen, in Häusern mit Garten oder gar in Villen. Dieser Umstand musste angesprochen werden. So dringlich die Umgesiedelten menschenwürdige Wohnungen nötig hatten, so ist diese Aktion meines Erachtens voreilig gewesen. Sie stellte uns vor eine unangenehme Situation. […] Viele der Umgesiedelten werden nicht in der Lage sein, auf Grund ihres Einkommens die Kosten der Erhaltung und Führung, wie Miete, Licht, Beheizung usw. tragen zu können. Des Weiteren ist ein Abverkauf der Häuser mit Zwangsmietern ebenfalls sehr erschwert. Zweifellos wird ein Großteil dieser Zwangsmieter wieder ausgemietet werden müssen. Aber damit fingen die Probleme erst an. Und da eine Rückkehr in die Elendsbaracken nicht mehr infrage kommt, muss an die Schaffung von neuen Wohnmöglichkeiten, die für die Betroffenen erschwinglich sind, gedacht werden. Dies ist jedoch erst in frühestens 6 bis 8 Monaten durchführbar.42 40 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrome; Mappe I – Niederschrift (26.11.1938). 41 StA B, GB 052/Personalakten; Zisser Hans – Ortsgruppe Baden-Stadt an Wohnungsamt (02.02.1939). 42 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrome; Mappe I – Niederschrift (26.11.1938).
Kapitel 14 Wie aus Scherben Kristall wurde
In einem Bericht von Karl Sammerhofer wurde es noch verworrener. Die früheren Bewohner der Elendsbaracken sind in oft luxuriös ausgestatte Wohnungen eingezogen und haben die dort vorgefundenen Möbel in Gebrauch genommen. Es wird sehr schwer sein, sie ihnen wieder abzunehmen. Die Unzufriedenheit dieser im Allgemeinen ohnehin stark kommunistisch beeinflussten Kreise würde dadurch jedenfalls sehr genährt werden. Doch es wurde noch abstruser. Denjenigen Juden, die durch die Aktion erfasst wurden, ist buchstäblich alles genommen worden. Es wurde ihnen meist überhaupt kein Bargeld gelassen. […] Den Juden wurde nicht gestattet, irgendetwas mitzunehmen außer den Wäsche- und Kleidungsstücken, die sie gerade auf dem Leib hatten. Die Siegel sind von den Wohnungen und Kästen auch heute noch nicht entfernt. So ergibt sich die groteske Lage, dass die NSV sich dieser Juden annehmen müssen wird, was sicher auch dem Ansehen der Partei nicht förderlich wäre. Wie diese Lage zu lösen sein wird, ist derzeit noch nicht zu sehen. Und was noch dazu kam: Eine Anzahl von Juden, die vor der Abreise ins Ausland standen, sind dadurch, dass ihnen alle Mittel genommen wurden, an diesem Vorhaben gehindert worden und müssen daher im Lande bleiben. […] Die geplante Auswanderung – manche waren schon im Besitz aller Fahrkarten – wurde dadurch unmöglich gemacht.43 Um diese Situation zu entwirren, bedurfte es der Zusammenarbeit des NSV, der SA, der Gestapo, des Kreises, der Stadt und sonstiger lokaler Dienststellen, die wiederum Sonderbeauftragte einsetzen mussten. Ein Bürokratiemonster wurde herangezüchtet. Der NSWunsch, endlich „judenrein“ zu sein, geriet dadurch ins Stocken. Es war ein organisatorisches Desaster. Die Opfer konnten davon keineswegs profitieren. Trotz undurchsichtiger Planung (menschenverachtend war sie sowieso) wurden in Baden Juden massiv dazu gedrängt, die Stadt zu verlassen. Selbst die Zeit dafür wurde ihnen knapp bemessen. Was Wochen in Anspruch nehmen konnte, musste nun in einer Handvoll Tagen abgewickelt werden. Was noch hinzu kam und für NS-Kopfschmerzen sorgte: Was passierte mit den Schulden mittelloser Juden? Wie kämen die arischen Gläubiger zu ihrem Geld? Wie sollte hier die Beute aufgeteilt werden? Vorerst sollte ein Depot zu treuen Händen des Bürgermeisters Pg. Schmid zurückbehalten werden […].44 Ansonsten hieß es warten auf eine Weisung der Gauleitung. Und jene Volksgenossen, die in jüdischen Wohnungen angesiedelt wurden? Im Jänner unterrichtete Hans Zisser die Zellenleiter, dass nun endgültig die Rücksiedlung in die Barackensiedlungen getroffen wurde. Davor sollte genauestens erhoben werden, welche Möbel die Kurzzeitbewohner mitbrachten und welche sie vorfanden. Auf keinen Fall durften irgendwelche Zusagen gemacht werden, wonach die Rücksiedler irgendeinen Anspruch auf etwaige Möbel hätten. Bräuchten jene Unterstützung finanzieller Art beim Ankauf neuer Möbel, so wäre das NSV einzuschalten. Aber Achtung, dass hierbei eine Grenze nach oben unbedingt festgelegt werden muss, ist selbstverständlich […].45 43 StA B, GB 052/Personalakten: Sammerhofer Karl – Bericht (22.11.1938). 44 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrome; Mappe I – Niederschrift (26.11.1938). 45 Ebd. – Zisser an Zellenleiter (13.01.1939).
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* Nachdem der „Volkszorn“ sich gelegt hatte, kam das Denken bzw. das Realisieren. Wie konnte es dazu kommen, fragten sich viele, die nicht daran teilgenommen hatten – also die Mehrheit. Ihre Passivität wertete das Regime als Zustimmung, die Komplizenschaft war damit hergestellt. Die Passivität ruhte auf zwei festen Fundamenten: Gleichgültigkeit und vor allem Angst. Wer wollte schon von einer Handvoll junger SA-Männer zusammengeschlagen werden. Die Täter erwarteten keine Konsequenzen, sie konnten sich der Willkür hingeben. Die Angst, selbst Opfer zu werden, war groß und berechtigt. Manche Katholiken fürchteten nach den brennenden Synagogen nun brennende Kirchen. Die Badener wurden nach den Novemberpogromen in einem Bericht in zwei Gruppen eingeteilt. Für die einen waren die Aktionen zu radikal. Sympathien des Auslandes wären verspielt worden, und außerdem glaubten viele, dass die stellenweise durchgeführten Aktionen doch ganz und gar nicht den Wünschen unseres Führers entsprechen können und dies als ein Übergriff der Formationen bezeichnet werden muss. Die Zerstörung und Demolierung einzelner Wohnungen muss man doch unbedingt als vandalistische Arbeit ansprechen, die unser Volksvermögen nur schädigt. Für anders gestrickte Volksgenossen waren die Aktionen das einzig Wirksame, um gegen die Juden energisch vorzugehen. Dieser Meinung schließt sich jedoch nur ein geringer Teil der Bevölkerung an.46 Es war die Scham der Majorität. Kritik anzubringen war schwierig, zu leicht konnte man als Judenfreund abgestempelt werden. Zellenleiter Walter Prunbauer schrieb in seinem Bericht über die Novemberpogrome, dass die ärmeren Schichten mit dieser Vorgehensweise vollkommen einverstanden gewesen seien. Teilweise seien die Aktionen in deren Augen gar zu milde ausgefallen. Dagegen empörte sich der sogenannte Mittelstand, meist tief Schwarze, über das grausame Vorgehen gegen die armen Juden, und einige bekannte Kerzelweiber und Innitzergörls vergossen sogar reichlich Krokodilstränen bei den Vorführungen der Juden zur Polizei.47 Selbiges, ein schwächliches Bildungsbürger, diagnostizierte auch Zellenleiter Ludwig Lackinger. Die Aktion gegen die Juden wurde in meiner Zelle, in der hauptsächlich Hauer wohnen, mit Befriedigung aufgenommen. Diese einfachen Menschen kennen nicht die widernatürlichen Hemmungen der sogenannten Gebildeten. In meiner Zelle har kein einziger Volksgenosse in seinen Äußerungen für die Juden Partei ergriffen.48 Empathie wurde mit Einträgen in Beurteilungsbögen bestraft. Es war ein Zurückhalten und ein Schweigen – bis auf die Tränen. Medien boten lapidar eine Handvoll Berichte; irgendwo sind ein paar Scheiben zu Bruch gegangen, irgendwo ist ein Brand ausgebrochen.49 Die Badener Zeitung versucht es historisch herzuleiten. Die Rassengesetze und die 46 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrom; Mappe II – Blockleiterstellvertreter Peter Fux Stimmungsbericht (25.11.1938). 47 Ebd. – Walter Prunbauer (geb. 1897) Stimmungsbericht (30.11.1938). 48 Ebd. – Ludwig Lackinger Stimmungsbericht (01.12.1938). 49 Vgl. LONGERICH, „Davon haben wir nichts gewusst, S. 123f und S. 131f.
Kapitel 14 Wie aus Scherben Kristall wurde
damit verbundenen Ehegesetze wären nicht durch die Nationalsozialisten geschaffen worden, sondern das Judentum hätte von Anfang an fanatisch an ihren Blutgesetzen festgehalten, und erst das liberale Judentum hätte damit gebrochen. Immer wieder wurden historische Beispiele für Judenverfolgung und Diskriminierung aufgezeigt, wobei Pogrome immer nur als Schutz, Selbstverteidigung und Vorsichtsmaßnahme der Arier dargestellt wurden.50 Es war historischer Schwachsinn in einer wissenschaftlichen Verkleidung, wonach Juden selbst schuld an der restriktiven Gesetzgebung und ebenfalls an der „Sonderaktion“ waren. Was in Baden im November geschah, geschah wieder einmal unter vieler Menschen Augen. Viele Badener sahen die Flammen, es roch nach Verbranntem, sie hörten die Explosionen, man sah Rauch aufsteigen, hörte die Schreie der Opfer und das Grölen der Täter, nur das Schweigen der Zuhörer war stumm. Was zur Bezeichnung Reichskristallnacht führte, die Anspielung auf das zerbrochene Glas und die Millionen Splitter auf den Straßen, wurde in Baden unter anderem in der Annagasse sichtbar. Dort gab es drei jüdische Geschäfte. Nach den Gewaltexzessen waren die Gehsteige nicht mehr passierbar. Die Menschen mussten mitten auf der Straße gehen, während links und rechts am helllichten Tag die letzten Reste geplündert wurden.51 Doch Obacht vor allzu schnellen Vorwürfen á la mangelnde Zivilcourage! Zivilcourage in einer parlamentarischen Demokratie und einem Rechtsstaat ist nicht gleichzusetzen mit Zivilcourage in einer totalitären Diktatur. Dort bedeutet Zivilcourage berufliche Nachteile, Stigmatisierung, Schläge, Tritte, gebrochene Knochen oder Tod – hinzu kam die Sippenhaftung. Angst ist menschlich, Wegsehen ebenso. Obendrein, je weniger Augenpaare auf den Gemarterten lasteten, vielleicht sogar besser für das Opfer? Wegsehen als das Bestmögliche? Blockleiterstellvertreter Peter Fux schrieb nieder: Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass von einzelnen Volkskreisen den in Mitleidenschaft gezogenen Juden eine große Anteilnahme entgegengebracht wird, selbstverständlich nicht aus rassepolitischen, sondern aus rein menschlichen Gefühlen heraus.52 Der Menschlichkeit musste begegnet werden. Eine großzügige Versammlung über die Judenfrage wäre zur Aufklärung der Bevölkerung angezeigt. In dieser Frage herrscht teilweise falsches Mitleid, die aus der mangelnden Kenntnis der Judenfrage entsteht.53 Zusammenfassend: Der Terror einer Minderheit gegen eine andere Minderheit zertrümmerte jegliche Empathie der Mehrheit und führte zu deren Apathie und somit zu einer Abstumpfung, die verständlich und zugleich unsäglich war und ist.
50 Vgl. BZ Nr. 98 v. 07.12.1938, S. 2. 51 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 40. 52 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. II Novemberpogrom; Mappe II – Peter Fux Stimmungsbericht (25.11.1938). 53 Ebd. – Ortsgruppe Baden-Stadt, Zelle III, Block 3 Stimmungsbericht (26.11.1938).
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Kapitel 15 Im neunten Monat Oder: Das Resümee: Ernüchterung, Unmut und Dank
Doch weil wir auch weiterhin in bescheidenen Verhältnissen lebten, konnte ich mich selten satt essen. Als weiteres Problem kam hinzu, dass ich keine Lehrstelle fand. […] Meine triste Situation hielt zwei Jahre bis zum Einmarsch der Nazis an. Im April 1938 konnte ich mich schließlich wieder richtig anessen.1 Der 16-jährige Leo Willner stammte aus armen Verhältnissen, der Vater war früh verstorben, die Mutter musste die Familie alleine erhalten, er und sein Bruder kamen zeitweise in einem Waisenhaus unter und gelegentlich zu fremden Leuten in die „Kost“. Bereits in jungen Jahren musste er als Hilfsarbeiter sein Auskommen finden. Eine Kinokarte war unerschwinglich, das Strandbad Luxus. Gebadet wurde in der Schwechat oder dem Wiener Neustädter Kanal. Und dann der Anschluss. Sattessen, wie er es ausdrückte, und eine ordentliche Lehrstelle in Traiskirchen als Bäcker. Doch der Preis war hoch und löste Protest aus. Gegen den Drill der HJ wurde das Haareschneiden boykottiert und das Schlurftum angepeilt. Die Probleme nahmen zu. HJ-Führer und selbst die Polizei wurden auf ihn aufmerksam. Die, wie Leo Willner es formulierte, nutzlose Protesthaltung kam mit der Einberufung und dem Angriff auf Polen von selbst zum Erliegen. Leo Willner schilderte wie so viele Menschen das Elend der Zwischenkriegszeit und die Aufbruchsstimmung nach dem Anschluss. Im Juli 1938 fanden 124.000 Arbeitssuchende in der Ostmark eine Anstellung. Im Mai 1938 gaben sich 50.000 Paare das Ja-Wort. Das waren 50 % mehr als im Vorjahr.2 In Baden stand das Brautpaar vor dem in Talar und Barett gekleideten Standesbeamten Emil Pfeiffer, der nicht nur die „deutsche Segnung“ spendete, sondern zusätzlich ein Exemplar von „Mein Kampf“ nach Hause mitgab. Privates und berufliches Glück wurden dadurch fest mit dem Anschluss in Verbindung gebracht. Die wirtschaftlichen Erfolge des Dritten Reiches im Vergleich zum Ständestaat waren enorm, sichtbar und vorzeigbar. Endlich Licht am Ende des Tunnels. Aber man durfte nicht zu genau hinsehen. Sich nicht zu viele Gedenken machen oder es gar hinterfragen – sonst würde sich das Licht am Ende des Tunnels als Kriegsgewitter entpuppen. Es dominierte das Hier und Jetzt, beflügelt durch das nach dem Anschluss dargebotene Schauspiel des totalen Aufbruchs. Das Elend wich bzw. es verschob sich und ergriff jene Menschen, die als Volksschädlinge verunglimpft wurden. Das war die andere Seite der Medaille. Auf ihr be1 2
WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 35 – Leo Willner (1922–2004). Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 157 und WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 14.
Kapitel 15 Im neunten Monat
fanden sich die Ausgeraubten, Vertriebenen, Misshandelten, Vergewaltigten, in den Suizid Getriebenen und Ermordeten. Aber wo gehobelt wird, da fallen Späne. Hitler versprach Arbeit. Der zweite Mann im Reich, Hermann Göring, sprach von nichts anderem während seiner Propagandafahrten durch die Thermenregion. Und siehe da, Arbeitsplätze wurden geschaffen. Die Kaserne in Baden wurde errichtet. In Bad Vöslau der Flugplatz ausgebaut. Und erinnern wir uns an Gertrud Maurer, wie sie als Neunjährige davon schwärmte, dass sie bei jedem Spaziergang durch die Straßen Badens immer Neues entdeckte, wie das städtische Antlitz mit Anschlussfreude und Aufbruchsstimmung beseelt war. Die Arbeitslosenzahlen sanken. Die Region südlich von Wien sollte ein wirtschaftliches und militärisches Zentrum der Ostmark werden. Bedenkt man, dass zahlreiche junge Menschen zwischen 20 und 30 bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einem regulären Beschäftigungsverhältnis nachgegangen waren, passierte nach dem Anschluss eine wahrliche Revolution.3 Arbeit brachte Geld, und Geld konnte ausgegeben werden. Der Bierdepotleiter Otto Emhofer konnte endlich wirtschaftlich aufatmen. Denn vor dem Anschluss, im Jahre 1937 machte sich durch die allgemeine Arbeitslosigkeit ein katastrophaler Rückgang im Bierkonsum bemerkbar. […] Angesichts unserer schlechten Geschäftslage, die sich schon nach einigen Wochen merklich besserte und der Bierkonsum sich bald vervielfachte, ließ ich mich in das Schlepptau der Hitlerischen Propaganda ziehen und habe ich meinen Eintritt in die NSDAP am 27.3.1938 angemeldet.4 Seine zuvor arbeitslose Kundschaft konnte mehr konsumieren, seine Schulden schmolzen dahin und seine Begeisterung für den Nationalsozialismus wuchs. Alles schien gut zu laufen. Doch nach einiger Zeit verebbte die Aufbruchsstimmung der Anschlusszeit. Die neue heile Welt des Nationalsozialismus unterlag im Laufe des Jahres 1938 einer Wandlung. Ernüchterung machte sich breit. Die braune Brille rutschte von der Nase. Das System bekam Risse. Erwartungen wurden nicht erfüllt. Die großgeschriebene „Volksgemeinschaft“, das emporgehobene Großdeutsche Reich entpuppten sich nicht als das propagierte arische Schlaraffenland. Rüstungs- und Bauvorhaben bescherten der Baubranche zwar lukrative Aufträge, genauso den Zulieferern und sonstigen Gewerbetreibenden, und damit wurden Arbeitsplätze geschaffen, aber: Das Arbeitsrecht wurde straffer, die Vorgesetzten strenger, und der Mitbestimmung wurden Zügel angelegt. Die ersten Zuckerl wurden durch Strenge konterkariert – das Zuckerbrot war gar nicht so süß, dafür fiel die Peitsche umso heftiger aus. In den Betrieben sollte genauso wie im gesellschaftlichen und politischen System das Führerprinzip vorherrschen. Dieses Gefolgschaftsverhältnis sollte auf Treue und Führerprinzip basieren. Eine organisierte Interessenvertretung der Arbeiterschaft gab es nicht mehr. Ihre erkämpften Rechte wurden Stück für Stück demontiert. Der eingerichtete Vertrauensrat war nicht mehr das Sprachrohr der Belegschaft wie
3 4
Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 92f und MULLEY, Niederdonau: Niederösterreich im „Dritten Reich“ 1938–1945, S. 73–103. Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Emhofer Otto (geb. 1894).
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der Betriebsrat zuvor, sondern ein Organ des Betriebes.5 Aber solche sich widersprechenden Tatsachen in Bezug auf Arbeitnehmer- und -geberinteressen wurden ideologisch vom Tisch gewischt. Die Ausbeutung des deutschen Arbeiters durch deutsche Arbeitgeber wäre biologistisch gar nicht möglich, denn schließlich beutete nur der Jude aus – Berlina locuta, Causa finita. Nach derselben Logik ging man daran, die freie Marktwirtschaft zu Grabe zu tragen. Zu diesen Maßnahmen gehört nicht zuletzt alles, was geeignet ist, die Lebenshaltung der Bevölkerung sicherzustellen, die Schädlinge auszumerzen und darum: Preiskommissare und Preiskontrolle.6 Festgesetzte Höchstpreise sorgten für mehr als nur für ein Murren bei den Betroffenen. Doch freie Preisgestaltung war in den Augen der NS-Machthaber Liberalismus und damit jüdisch. Ein weiterer Eckpunkt der nachträglichen Verklärung waren die Lohnsteigerungen. Die Löhne stiegen tatsächlich, aber nicht wie versprochen, und bei genauerem Hinsehen kam sogar das Gegenteil zum Vorschein. Anfänglich stiegen sie zuerst um 9 Prozent, dann bis zum Kriegsbeginn auf 13 Prozent und bis zum Jahr 1941 gar auf 19 Prozent, aber: Die Preise stiegen ebenso, sogar schneller als die Löhne, sodass die Menschen letztendlich einen Reallohnverlust von 15 bis 20 Prozent zu verzeichnen hatten.7 Und was noch dazu kam, die Menschen im Altreich verdienten immer noch mehr – zumindest theoretisch. Richard Zagler aus Baden, beschäftigt in Möllersdorf bei der Reichsautobahn, soll sich im November 1938 wie folgt geäußert haben: Mit der Wahl ist es nichts. Wenn die neuen Steuern eingeführt werden, tun wir nicht mit. Wenn ein Deutscher kommt und reißt das Maul auf, gebe ich ihm gleich eine, damit er hin ist. Ich war im Reich und verdiente 170 RM, hatte aber so viel Abzüge, dass ich die Arbeit einstellen musste. Nach Dachau können sie mich nicht geben. Bei der Wahl habe ich auf den Zettel kein Kreuz gemacht.8 Bei seiner Vernehmung nahm er nur einen Teil seiner Aussage zurück. Es gab etliche kleine Enttäuschungen auf wirtschaftlichem und finanziellem Felde. Dass nicht jeder bei der „Arisierung“ zum Zuge kam, war bitter, oder dass die neuen arischen Vermieter ebenfalls pünktlich die Miete verlangten. Die Ernüchterung betraf einige Bevölkerungsgruppen. Dem Landwirt, obwohl er als der Ernährer des Reichs hochstilisiert wurde, wurden neue Steuern auferlegt. Die Landflucht nahm zu, und die Kirchenfeindlichkeit war nicht zu übersehen. Die „Laissez-faire“-Politik des Ständestaates, das ganze Rot-Weiß-Rot und die „Gmiatlichkeit“, um etwas polemisch zu werden, waren Geschichte. Beunruhigend wirkten ferner die zirkulierenden Gerüchte, wonach ein Krieg sich am Horizont zusammenbraue. Tschechien sollte angegriffen werden. Man überlegte, ob man 5
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Vgl. TÁLOS Emmerich, Sozialpolitik in der „Ostmark“. Angleichung und Konsequenzen. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 376–408, hier 380f. BZ Nr. 63 v. 06.08.1938, S. 4. Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 166. StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 II; Traiskirchen, Mappe I – Zagler Richard (geb. 1918).
Kapitel 15 Im neunten Monat
seine Sparanlagen in etwas Handfesteres investieren sollte.9 Wobei der Führer, wenn man die Badener Zeitung aufschlug, immer nur den Frieden wollte. * Als die Volksabstimmung vom 10. April 1938 den Anschluss bestätigt hatte, machte sich Kreisausschmückungsreferent Rudolf Schemel im April 1941 in einem 15-seitigen Bericht Gedanken über diesen historischen Tag. Seine Ausführungen können als Metapher in alle Richtungen interpretiert werden. Er lobte zuerst den überwältigenden Eindruck der geschmückten Stadt, die Transparente, Plakate, Fahnen und die kilometerlangen Girlanden, um dann aber ein ganz anderes Bild zu zeichnen, ein ebenso trauriges, ja oft unwürdiges Bild boten sie nach einigen Wochen. Ungehobelte Fahnenmasten, oft schief oder vom Winde zerbrochen, nackte oder von ausgebleichtem Stoff halb verhüllte Pilonengerüste, verwaschene Transparente oder Fahnenfetzen auf Dachrinnen und hohen Masten, vertrocknete dürre Girlandenteile u.a. verschandelten monatelang noch das Stadtbild.10 Er zählte all die Holzfuhren auf, die gebraucht wurden, um die Tribünen aufzubauen, die hunderte Kilo Draht und die hunderte Meter Stoff, die für die Herstellung des Schmucks von Nöten waren. All das verrottete nun und verschandelte die mondäne Kurstadt. Aus dem Sichtbaren gelernt, plädierte Schemel fürs nächste Mal: Weniger ist mehr und vor allem billiger! So glorreich das Fest demnach auch war und arische Augen zum Strahlen brachte, bereits am Tag des Anschlusses war schon der Keim der Zwietracht gesät. Wer sollte nun in der Ostmark das Sagen haben? Für einige alte Kämpfer oder Legionäre verlief der Anschluss mehr als enttäuschend. Viele kamen erst Wochen danach zurück nach Österreich, und da waren die besten Stücke des Kuchens bereits verteilt. Zahlreiche Alte Kämpfer und Illegale fühlten sich übergangen. So mancher Posten und Funktionen waren schon vergeben und oft genug nicht einmal an einen Ostmärker oder an Hiesige.11 Angefangen bei dem Pfälzer Josef Bürckel auf Landesebene bis hinunter zum Kreis, wo mit Camillo Gärtner ein Hesse nach Baden kam, den Landrat übernahm der Salzburger Josef Wohlrab und die Stadtpolizei der Schlesier Alfred Gutschke – dem die ostmärkischen Sympathien nicht unbedingt entgegenschlugen, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Und nicht zu vergessen die Märzveilchen sowie die alten schwarzen Brüder, die man in Amt und Würden beließ. Im Alltag passierte Ähnliches. Ganze Familien kamen aus dem Altreich, geschminkte Altreicherinnen mit Kindern, die ihre Eltern „Mutthi“ und „Vathi“ nannten. Auf dem Markt schwirrte es nur noch von Kartoffeln, Tomaten und Aprikosen, Blumenkohl und Rotkohl. Es hieß Kaffe und Gehsteig statt Kaffee und Trottoir, und überall wurden die „Piefke“ als laut 9
Vgl. BURR BUKEY, Die Stimmung in der Bevölkerung, S. 73–87 und vgl. TÁLOS, Sozialpolitik in der „Ostmark“, S. 376–408. 10 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz I. Korrespondenz; 1941. 11 Vgl. SAFRANEK, Wer waren die niederösterreichischen Nationalsozialisten, S. 14f und BURR BUKEY, Die Stimmung in der Bevölkerung, S. 73–87.
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und aufdringlich empfunden.12 Die Vereinigung aller deutschen Stämme barg Zündstoff. Gertrud Maurer sprach so manchem Badener aus der Seele. Anfänglich fand sie das alles noch lustig und interessant, doch dann begannen die Marktweiber „bülliche Kartoffeln“ und „scheene Tomaten“ anzupreisen, und da ärgerte sie sich über die sprachliche Anbiederung.13 Die neuen Mitbürger aus dem Altreich, die nun in größerer Zahl nach Baden kamen, wurden nicht ausschließlich mit offenen Armen empfangen. Es war zwar ein Brudervolk, doch bei weitem kein Zwillingsbruder. Laut, schrill und überheblich, beklagten sich Zeitzeugen. Alte Ressentiments wurden geweckt – Protestantismus gegen Katholizismus, die fleißigen und ordentlichen (also hochnäsigen und präpotenten) Deutschen gegen die entspannten und „gmiatlichen“ (also faulen und unordentlichen) Österreicher. Historische Ereignisse aus längst vergangener Zeit wurden ausgegraben. Der Raub Schlesiens, die Spannungen im Deutschen Bund und, daraus resultierend, der deutsche Bruderkrieg von 1866 inklusive der Niederlage von Königgrätz. Über allem stand eine vermeintlich deutsche Überheblichkeit. Herrisches Auftreten, eine Zurechtweisung aus dem Munde eines Altreichdeutschen, dass man gefälligst mit „Heil Hitler“ anstatt mit Grüß Gott zu grüßen hatte, förderte nicht unbedingt das Zusammenleben. Oberstleutnant i.R. Walter Mende beabsichtigte den Ostmärkern noch Manieren beizubringen, vor allem den Badenern. Auslöser war das Benehmen von Gertrud Sammerhofer – Gattin des Badener Polizeichefs Karl Sammerhofer.14 Im Sommer 1940 hatte sie sich laut Mende im Olympiakino vorgedrängt. Wahrlich undeutsch. Der Offizier aus dem Altreich sah sich gezwungen, sowohl die Frau als auch die Kurstadt als Ganzes zurechtzuweisen. Sie glauben wohl auf Ihr hübsches Gesicht die Karten sofort zu bekommen. […] In Baden ist das ja so üblich. Als Frau des Polizeichefs konnte sie so etwas nicht auf sich sitzen lassen, und Karl Sammerhofer konnte als deutscher Ehemann genauso wenig solch eine Bezichtigung auf sich und seiner Gattin sitzen lassen. Zum einen musste er die Ehre seiner Frau verteidigen, zum anderen seine Ehre als Badener und Ostmärker. Den Oberstleutnant i.R. stellte er noch im Kino während der Vorstellung zur Rede. Als sich jener weigerte, ihm nach draußen zu folgen, fiel aus dem Munde Sammerhofers das total ehrvernichtende Wort: Feigling. So etwas konnte nun Walter Mende nicht auf sich sitzen lassen und erteilte Sammerhofer erst einmal den Auftrag, dass er seiner Frau Anstand beibringen soll. Der wiederum erwiderte, wenn es ihnen hier nicht passt, dann gehen sie wieder ins Altreich und gab mit auf den Weg, auf Leute, die hierher kämen, um uns in der Ostmark Manieren beizubringen, sind wir nicht neugierig, das hätten wir nicht nötig. Solche Manierenlehrer sollten lieber zu Hause bleiben. Der Fall drohte nicht nur vor einem Parteigericht zu enden. Aus Sicht des Oberstleutnants, der schon im Kino Contenance wahren musste, ich schlug ihn nicht, weil mir als Offizier (Oberstleutnant Mende war in Zivil) die Hände gebunden sind, konnten durchaus antiquierte Wiedergutmachungsrituale angewendet werden, um für Satisfaktion zu sorgen. Bei sei12 WIESER, Baden 1938, S. 33. 13 MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 11. 14 Walter Mende (geb. 1889), Gertrud Sammerhofer (geb. 1920).
Kapitel 15 Im neunten Monat
ner Vernehmung ließ er durchblicken, dass er sich mit Dr. Sammerhofer schießen könnte.15 Letztendlich endete es ohne Blutvergießen. Man entschuldigte sich für Pauschalisierungen, distanzierte sich von in Erregungen getätigten Aussagen und erklärte unter Zeugen den Zwischenfall als in ritterlicher Form erledigt.16 Das deutsch-österreichische Verhältnis wurde genauso von Kurt Boehnke strapaziert. Wohnhaft in Baden, kommend aus Bennfeld im Mannsfelder Seekreis, wollte er sich nichts von einem Ostmärker sagen lassen. Um seine Position deutlich zu machen, schreckte er nicht vor Raufhandlungen beim Heurigen zurück. Er ist einer jener Leute, die eine Unstimmigkeit zwischen Ostmärkern und Altreichsdeutschen fördern.17 Alkohol löste die Zungen. Wehrmachtssoldaten aus dem Altreich, berauscht durch Wien und Bier, kam es so leichter über die Lippen, im August 1938 im Gasthaus Schanzer im Helenental von dummen Österreichern und österreichischen Schweinen zu schwadronieren. Selbst das Einschreiten hiesiger Polizeikräfte brachte sie nicht zu Raison, erst als mit der Militärpolizei gedroht wurde.18 Zahlreichen Konflikten mit solch germanischem Hintergrund lagen gewöhnliche Nachbarschaftsstreitigkeiten zugrunde. Die Hecke war nicht gestutzt oder zu sehr gestutzt worden, der Müll am Gang vergessen, das Haustor nicht versperrt, die Kinder waren lärmend und somit nicht ordentlich erzogen. Das Gewöhnliche wurde zusehends mit deutsch vs. österreichischen Stereotypen angereichert. Auf der einen Seite stand der überhebliche oder pingelige Deutsche, auf der anderen der unordentliche Österreicher, und was die Kinder anbelangte, so war jeweils der andere nicht fähig, seinen Nachwuchs ordentlich (also deutsch) zu erziehen. Enttäuschung, Minderwertigkeitskomplexe, Präpotenz – all das war mal mehr und mal weniger präsent und betraf beide Gruppen. Selbst an der Front, wie Alois Brusatti berichtete, gab es Konflikte zwischen Deutschen und Österreichern, beruhend auf den üblichen Vorurteilen. Er selbst konnte damit umgehen. Er verstellte sich nicht, sprach immer Wienerisch, aber ohne, wie er es formulierte, den „schlamperten“ Unterton.19 Ähnliche Erfahrungen, aber ganz andere Schlüsse zog laut eigener Aussage der Fachlehrer Johann Axmann, als er im August 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Als ich jedoch, besonders während meiner Kriegsdienstleistung vielfach recht schmerzlich erfahren musste, wie geringschätzig man über Österreich und uns sprach, begann bereits mein Kampf um unser Österreichertum und gegen den deutschen Größenwahn.20 Spannungen solcher Art, um es vorzugreifen, sollten nicht abnehmen. Im Zuge des Krieges, der Bombardierung deutscher Städte im Norden des Reiches, setzte ein Flücht15 StA B, GB 052/Personalakten: Sammerhofer Karl – Aktenvermerk (01.07.1940) und Gedächtnisvermerk (23.06.1940). 16 Ebd. Niederschrift (29.07.1940). 17 StA B, GB 052/Personalakten: Boehnke Kurt (geb. 1903) – Polit. Beurteilung (06.06.1940). 18 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schanzer Karl u. Michaela – Sicherheitswache Meldung (18.08.1938). 19 Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 23. 20 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Axmann Johann.
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lingsstrom Richtung Süden ein. Lange Zeit galt die Ostmark als Luftschutzkeller des gesamten Reiches. Spannungen waren vorprogrammiert. Sie fußten auf einer „Normalität“, wonach eine Minderheit, wenn sie schnell an Zahl zunimmt und sich laut gebärdet, von der Mehrheit als störend empfunden wird. Besonders dann, wenn die Neuankömmlinge einen höheren Lebensstandard gewohnt waren, ihnen ihre Versorgung als unzureichend erschien und sie sich nicht scheuten, dies kundzutun. Das Verhältnis zwischen Altreichlern und Ostmärkern bezeichnet Landrat Wohlrab im Juni 1943 als nicht so wünschenswert. Er hoffte, dass die Gegensätzlichkeit mit der Zeit abnehmen würde.21 Das Gegenteil sollte der Fall sein. Die arische „Volksgemeinschaft“ blieb trügerisch. Der Nationalsozialismus hatte die Latte nicht nur hier hoch angesetzt, mit der arischen Ein-Reich-Ideologie. Die verteufelte Schlamperei des Ständestaates als auch des parlamentarischen Systems davor sollten durch ein geordnetes deutsches Staatswesen endlich ausgemerzt werden. Dabei barg gerade das NS-System in sich einen Hort des Kompetenzwirrwarrs. Partei und Verwaltung, also Rathaus gegenüber NSDAP-Ortsleitung oder Landrat gegenüber Kreisleitung, hier waren die Zuständigkeitsbereiche keinesfalls in Stein gemeißelt. Die Grenzen waren fließend. Die Zuständigkeitsbereiche überlappten sich, es gab Sonderregelungen, und mit einem Führererlass in der Hand konnte man ohnehin durch sämtliche Instanzen preschen. Selbst wenn die Kompetenzbereiche fixiert worden wären, das gesamte System war einer steten Wandlung unterworfen. Behörden, Institutionen, Abteilungen wurden unbenannt, zusammengelegt, neue sprossen wie Unkraut aus dem Boden oder verloren an Bedeutung und versanken im Verwaltungsdickicht. Und der Krieg, mit seinen eigenen und zusätzlichen Gesetzen und Regeln, machte alles noch unübersichtlicher. So ein System war prädestiniert für den internen NS-Konflikt. Als vortreffliches Beispiel bietet sich das Verhältnis zwischen der SS und der SA an. Der Konkurrenzkampf der beiden NS-Gliederungen – trotz „Beilegung“ in der „Nacht der langen Messer“ 1934 – flammte immer wieder in unterschiedlicher Intensität von neuem auf. Es war nichts Baden-Spezifisches, aber der Konflikt wurde auch in der Kurstadt ausgetragen. Als im September 1938 an die 600 Sudentendeutsche Flüchtlinge bzw. Protagonisten der „Heim ins Reich“-Aktion in Baden ankamen und die SA daraufhin begann, Badener Juden auszurauben, um mit dem Raubgut die Neuankömmlinge zu beglücken, schoss sie etwas über das Ziel hinaus. Es kam zu Beschwerden, denn zu den Ausgeraubten gehörten nicht nur die entrechteten Badener Juden, sondern genauso die rechtbesitzenden Monarchisten Gräfin Emmy von Mels-Colloredo und ihre Tochter Isabella Mels-Colloredo.22 Für die Rechte der beiden Frauen sprang sogar ein Parteigenosse – dessen Unterschrift schwer zu entziffern ist – in die Bresche und schrieb sogleich an Bürgermeister Schmid. Er entschuldigte sich zwar, dass er Schmid als einen viel geplagten Menschen belästigen müsste, aber die ihm bekannte Gräfin führte bei mir Klage, dass bei ihr Parteileute, abgesehen von der 21 Vgl. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Juni 1943. 22 Emmy von Mels-Colloredo (geb. 1871), Isabella Mels-Colloredo (geb. 1891).
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rüdesten Behandlung, die sie und ihre Mama, eine alte Dame, erdulden mussten, eine direkte Plünderung von Leibwäsche unter dem Vorwand vornahmen, dass es für notleidende Sudetendeutsche gehöre. Der gräfliche Fürsprecher mit Parteibuch setze in diesem Fall einerseits auf Schmid und dessen gerechtes und strenges Urteilsvermögen, andererseits scheue er sich nicht, gegebenenfalls die Sache nicht auf sich ruhen zu lassen und wenn ich damit Gauleiter Bürkel bezw. des Führerstellvertreter Hess belästigen müsste.23 Was dann folgte, waren Hausdurchsuchungen bei einzelnen SA-Männern sowie in der SA-Dienststelle in der Weilburgstraße 18. Die Reaktion der SA war vorhersehbar. Sie prangerte das rabiate Vorgehen der Badener Polizei an. Die betroffenen SA-Männer wurden nicht einmal vorgewarnt, und die Aktion vor den Augen aller Volksgenossen durchgeführt. Was für eine Schande! Was für ein Verrat! Ins Visier geriet Polizeichef Karl Sammerhofer, dem SA-feindliche Tendenzen attestiert wurden. Wie sonst war es zu erklären, dass sich Sammerhofer erdreistete, den Adjutanten der SA-Standarte 84 zu vernehmen, ob es den Tatsachen entspricht, dass in den Kanzleiräumen der Standarte auch Damenbesuche empfangen werden. Es ist wohl nicht anzunehmen, dass es die Aufgabe des Polizeileiters von Baden ist, hohe SA-Führer in dieser Hinsicht zu kontrollieren, da hierzu wohl andere Stellen befugt sind. Die SA deutete gar einen Rachefeldzug der SS und der Badener Polizei an. Die Polizei führte diese Maßnahmen scheinbar mit besonderer Genugtuung durch, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass zum Großteil noch dieselben Elemente dortselbst tätig sind, welche szt. in der berüchtigten Art die SA Männer in der illegalen Zeit schikanierten und traktierten, so z. bspl. der Kriminalbeamte Schlager, Kopetzky u.a.24 Sammerhofer hingegen war der Meinung, dass sich die SA bzw. einige SA-Mitglieder nur bereichern wollten und die sudetendeutschen Flüchtlinge nur vorgeschoben waren. Es folgte das übliche Gerede von gekränkter Ehre, verletztem Stolz, beschädigtem Ansehen und der Forderung nach Genugtuung. Für die SA stand fest, einzig das Wohl der Flüchtlinge sei Antrieb ihrer Aktion gewesen, die zugegebenermaßen vielleicht etwas aus dem Ruder geraten war. Aber, bei der Ankunft der Sudetendeutschen konnte ein jeder Mensch sich von der herzbewegenden Not der Geflüchteten selbst überzeugen und ging dieses Bild auch hartgesottenen S.A.-Männern nahe, wodurch ein nicht beabsichtigter scharfer Zugriff immerhin menschlich erklärlich erscheint.25 Die „Flüchtlingshilfe“ der SA, die Beschaffung von Sachgütern bei den Badener Juden, lief nach bewährter „Dachauer Art“ ab. Doch die Anschlusstage waren längst vorüber. Nun herrschte Ordnung. Stadtpolizeileiter Sammerhofer konnte ein Exempel statuieren an jenen, die sich nicht daran hielten. Dass er als SS-Mitglied eine Aversion gegenüber der SA hegte, ist gut möglich. Als Akademiker, Doktor beider Rechte und aktives Mitglied der deutschnationalen Studentenverbindung „Herulia“ wird der Akademiker womöglich nicht 23 StA B, GB 052/Parteiform. III; SA; Mappe Prozesse – Versteigerungsamt Dorotheum an Schmid (04.10.1938). 24 Ebd. – Bericht an die Gruppe Donau der SA Rechts- und Gerichtsabteilung (08.10.1938) . 25 Ebd.
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viele Sympathien für disziplinlose und betrunkene SA-Schlägertrupps gehegt haben. Anders als die SS, die sich als elitärer NS-Orden gebarte, haftete der SA eher der Ruf an, ein Sammelsurium an Kriminellen, Säufern und Freiern zu sein, die vor allem durch Feigheit, sexuelle Ausschweifungen, Homosexualität und eine grundsätzliche Zügellosigkeit auffielen. Männer wie der SA-Obertruppführer Franz Hamberger waren für die SS ein gefundenes Fressen. Hamberger, an sich ein alter und illegaler Kämpfer, stolperte sowohl über seine Vergangenheit als auch über seine Gegenwart. Im Zuge der üblichen Überprüfungen nach dem Anschluss kam ans Licht, dass er wegen Bigamie angeklagt gewesen war und, was noch schlimmer wog, ein Verfahren wegen Desertation während des Ersten Weltkrieges war ebenso anhängig. Dass er obendrein gewalttätig gegenüber seinen Kindern und seiner Frau war, Kettenraucher und einen Liter Wein „auf ex“ herunterkippen konnte, passte vortrefflich in das Bild eines verlotterten SA-Mannes.26 Dass die Schutzstaffel diesbezüglich selbst genug Dreck am Stecken hatte und alles andere als ein Orden der deutschen Ordnung war, bewies sie in Baden bereits kurz nach dem Anschluss. Was die Beitrittsdaten anbelangte, kam es auch hier zu kreativen Aufnahmemodalitäten. Wie das vonstattenging, schilderte ausgerechnet SS-Standartenführer Walter von Gimborn, Verantwortlicher für das Anlegen der SS-Karteikarten. Da einerseits in der SS seinerzeit sehr wenig illegale Mitglieder waren, andererseits auf eine möglichst große Anzahl von sogenannten illegalen Mitgliedern Wert gelegt worden ist, wurden szt. viele Neuaufnahmen zurückdatiert, dies insbesondere bei solchen durchgeführt, die schon vorher Parteimitglieder waren.27 Dass einzelne SS-Mitglieder auch mehr machten, als nur Datierungen zu verrücken, das wusste auch die SA. Nach den Hausdurchsuchungen im Zuge der „Flüchtlingshilfe“ verlangte die Sturmabteilung, dass die Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen würden. In ihr Visier geriet Polizeichef Sammerhofer, und auf ihre Retourkutsche musste die SA wahrlich nicht lange warten. Im Kapitel über die Novemberpogrome habe ich es bereits erwähnt – plötzlich hieß es, Polizeichef Karl Sammerhofer habe sich im Zuge der Novemberaktion zu seinen persönlichen Gunsten bereichert. Als hochdekoriertes SS-Mitglied, Vorsitzender-Stellvertreter im Partei-Kreisgericht sowie stellvertretender Kreiswirtschaftsberater, empfand Sammerhofer die folgenden Ermittlungen sowie Vorgehensweisen als Demütigung sondergleichen. Die Anschuldigungen führten dazu, dass eingeschaltete Ermittler in meiner Abwesenheit und ohne mich von den erhobenen Anwürfen zu verständigen, meine Kanzlei in der Kreisleitung bzw. im Polizeiamt durchsuchten. In weiterer Folge wurde er am 30. November 1938 am Vormittag von seiner Stelle als Polizeiamtsleiter enthoben und bereits am Nachmittag fristlos entlassen. Kreisleiter Ponstingl als sein Vorgesetzter in der Kreisleitung sowie Bürgermeister Schmid als sein Vorgesetzter als Polizeichef zogen augenblicklich die Reißleine. Sammerhofer ging nun selbst in die Offensive. Ich kündigte sofort an, dass ich ein Partei26 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Hamberger Franz (geb. 1887). 27 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hinger Ludwig (geb. 1910) – Walter Gimborn (geb. 1916) Aussage (13.02.1954).
Kapitel 15 Im neunten Monat
gerichtsverfahren gegen mich einleiten lassen werde, um meine schwer angegriffene Ehre wiederherzustellen.28 Er vermutete hinter der Aktion ein abgekartetes Spiel, und bei genauer Betrachtung hatte er nicht unrecht. Denn die ihm vorgeworfene Bereicherung betraf einen Betrag von 150 RM. Hinzu kamen dann Behauptungen, dass ich über meine Verhältnisse lebe. Ich hätte ein Auto, von dem man nicht wisse, wie ich dazu gekommen sei. Ich fahre damit in der Gegend umher, kein Mensch könne sagen, wer die Betriebskosten bezahle, da ich mir doch so etwas von meinem Gehalt nicht leisten könne. Ich hätte auch in der letzten Zeit Einkäufe getätigt, die nicht im Einklang mit meinem Einkommen stünden. Vorgeladen war die gesamte NS-Lokalprominenz: Bürgermeister Schmid, Kreisleiter Ponstingl als auch Landrat Wohlrab. Auf einmal lösten sich die Anschuldigungen in Luft auf. Die Ankläger ruderten zurück. Beweise gegen Sammerhofer, die vom SA- sowie Exekutivkomitee-Mitglied Karl Wiskocil gesammelt und an seinen Vorgesetzten SA-Standartenführer Strohmayer ausgehändigt worden waren, waren wie vom Erdboden verschluckt. Das Parteigericht stellte fest: Es wurden verschiedene Zeugen vernommen, und keiner von den Zeugen konnte sagen, dass Dr. Sammerhofer etwas getan hätte, was für die Partei nicht tragbar wäre. Mehr noch: Es wäre in diesem Falle wohl sogleich volle Klarheit geschaffen worden, wenn die Parteigenossen den Antragssteller Dr. Sammerhofer zur Aufklärung zugezogen hätten. Es ist dem Gericht vollkommen unklar, warum dies unterlassen wurde. Abgesehen von der Arbeit, die dadurch entstand, ist doch hauptsächlich Pg. Dr. Sammerhofer der Geschädigte, denn sein Ansehen hat in Baden einen schweren Schlag erlitten, der auch durch diesen Beschluss nicht voll und ganz aus der Welt geschaffen werden konnte.29Ärgerlich für Sammerhofer war zudem, dass er mit Dienstanzugsverbot von der SS beurlaubt wurde und er am 20. Jänner 39 durch den damaligen Führer der 89. SS-Standarte sowohl eine mündliche als auch schriftliche Verwarnung erhielt, die ihm zur Pflicht machte, seinen Handlungen künftig einen strengeren Maßstab anzulegen […] Seiner Charakterhaltung nach ist S. wohl dahingehend zu beurteilen, dass ihn sein Ehrgeiz dazu führt, die jedem Nationalsozialisten gesetzten Schranken mitunter zu übersehen.30 Verlierer gab es auf allen NS-Seiten. An Sammerhofer blieb eindeutig was „picken“. Sein Polizeichef-Posten war Geschichte, und das Misstrauen gegenüber der SA blieb unverändert. Als im Februar 1941 Umsiedler aus Bessarabien in Mayerling untergebracht wurden und die SA dort weltanschauliche Vorträge abhalten sollte, stellte sich dem Kreisschulungsamt die Frage, ja dürfen die denn das? Die SA galt weiterhin als nicht ganz integer, bzw. die kognitive Leistungsfähigkeit einiger Mitglieder wurde gelegentlich in Abrede gestellt. Nach außen bestehen selbstverständlich keine Bedenken gegen die Verwendung von geeigneten
28 StA B, GB 052/Personalakten: Sammerhofer Karl – Ansuchen um ein Parteigerichtsverfahren (30.11.1938). 29 Ebd. – Beschluss des Parteigerichtsverfahrens (17. 12.1938). 30 Ebd. – Gärdtner an SS-Standarte 89 (12.07.1940).
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SA-Führern und Unterführern […].31 Man wollte nur die jeweiligen Zuständigkeiten und Kompetenzen zwischen Kreisschulungsamt und SA in Erfahrung bringen und ordnungsgemäß abstecken. Salomonisch fiel die Einigung aus. Das Kreisschulungsamt referiert über weltanschauliche Dinge, die SA stand Rede und Antwort zu SA-Angelegenheiten. Und als sich herausstellte, dass einige Kreisredner auch SA-Mitglieder waren oder SA-Standartenschulungsleiter, herrschte ohnehin braune Harmonie. Aber wie gesagt, im Inneren gärte es. Misstrauen, Missgunst und unbeglichene alte Rechnungen, dazu verletzter Stolz, waren ein vortrefflicher Nährboden für einen internen Machtkampf, der nur durch das stete Zuarbeiten zum Führer gebändigt werden konnte. * Fasst man die Stimmung und die Themen 1938 zusammen, so dominierten Lohn- und Preisfragen, die Versorgung mit Gütern aller Art, Angriffe auf die Kirche und die Angst vor einem Krieg.32 Doch da ließ sich das Regime nicht beirren, zumal es noch vernachlässigbare Querschüsse waren und die generelle Bilanz schlussendlich nichts zu wünschen übrig ließ. Die Ostmark war gleichgeschaltet, und gut war‘s! Nun standen noch die ersten Weihnachten unter dem Hakenkreuz auf dem Programm. Eine nicht unheikle Situation in einem durch und durch katholischen Land. Doch auch das sollte gemeistert werden, und auf Teufel komm raus wurde alles aufgeboten, um die Festivität möglichst germanisch und nationalsozialistisch erstrahlen zu lassen. Statt Weihnachten gab es die Wintersonnwendfeier. Am 21. Dezember 1938 am Rudolfshof waren alle politischen Leiter der NSDAP und ihrer Gliederungen zur Teilnahme verpflichtet. Treffpunkt war der Grüne Markt, von dort ging es geschlossen und im Schweigemarsch zum Rudolfshof hinauf. Oben angekommen bekannte man sich nicht nur zum heißgeliebten Führer, sondern auch zum Licht, zur Reinheit, und man beschwor den Kampf gegen alles Verderbte und Unreine. Selbst für die armen Kinder reichte keine normale Weihnachtsfeier mehr, nein, es wurde die Volksweihnacht zelebriert. Die Weihnachtsfeier im Hotel „Stadt Wien“ wurde mit einem Treuegelöbnis und einem Betriebsappell kombiniert, und die Trottmann-Kunstmühle machte einen Kameradschaftsabend daraus – endlich braune Weihnachten.33 Bei jeder Feier, egal welchen Namen man ihr gab, sprudelten nur so die Dankesreden – zumeist adressiert an den Führer. Man bedankte sich für die Befreiung, für den Arbeitsplatz, für die erneute Großmachtstellung oder für den Frieden. Es waren regelrechte Dankesgebete, und er wurde gelobt und gepriesen. Das deutsche Baden wünscht ihm am ersten Weihnachtsfest der befreiten Ostmark alles an Gutem und Schönem, was ein deutsches
31 StA B, GB 052/Kreisleitung Baden; Fasz. I; Umsiedler im Kreis Baden – Gärdtner an Kreisschulungsleiter Rudolf Kluger (06.02.1941). 32 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 170. 33 Vgl. BZ Nr. 102 v. 21.12.2020, S. 1 und BZ Nr. 103 v. 24.12.2020, S. 3.
Kapitel 15 Im neunten Monat
Herz zu wünschen und zu ersehnen vermag.34 Die Umideologisierung des Weihnachtsfestes war in der Badener Zeitung dermaßen gründlich, dass Worte wie Christi, Jesus oder Gott einfach nicht vorkamen – eine sprachliche Leistung, die fast schon Bewunderung abverlangt. Ein, zwei Ausgaben später finden wir den gleichen Stil. Die Jahreswende stand unmittelbar bevor, und Gauleiter Hugo Jury schrieb: Wenn wir uns in den nächsten Tagen wieder der Wende eines Jahres nähern, dann, meine Volksgenossen, tun wir es mit frohem Herzen inmitten eines großen, starken Reiches. Es folgte eine erneute Replik auf das Elend vor dem Anschluss, doch der Führer hat diesem Jahrtausend einen neuen Sinn gegeben. Genauso dankbar und ergeben waren Schmids Zeilen, der die Hoffnung hegte, dass Baden eine schöne, aufblühende Kur- und Kunststadt im Reiche unseres heißgeliebten Führers werde.35 Es schwang wieder einmal die Sehnsucht mit, zum größten Schwefelkurort Großdeutschlands emporzusteigen. Rückblickend wissen wir, dass nichts davon eintreffen wird. Baden wird nicht zum größten Schwefelkurort Großdeutschlands werden. Die Sorgen der Menschen vor einem Krieg waren berechtigt, und die Sorge wurde Wirklichkeit – im Ausmaß einer bis dahin nicht vorstellbaren Wirklichkeit. Unvorstellbar war auch das Schicksal jener, die nicht als Menschen klassifiziert wurden. 1938 war erst der Anfang, doch selbst in diesem Jahr passierten bereits Ereignisse, die 1937 noch unvorstellbar gewesen wären. Und die nächsten Jahre sollten nicht anders sein. Jahr für Jahr wurde das Unvorstellbare Realität…
34 BZ Nr. 103 v. 24.12.2020, S. 1. 35 BZ Nr. 104 v. 31.12.2020, S. 1.
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1. Plakat: Baden bei Wien. Deutschlands größtes Schwefelbad (StA B; Inventarnummer: P 2021)
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2. Reibpartie Foto Pfarrplatz (StA B; Fotoarchiv; Ereignisse 1938-1945)
3. Reibpartie Foto Pfarrplatz (StA B; Fotoarchiv; Ereignisse 1938-1945)
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4. Schändung der Synagoge Grabengasse 14 (StA B; Fotoarchiv; Ereignisse 1938-1945) 5. Schändung der Synagoge Wassergasse 14 (StA B; Fotoarchiv; Ereignisse 1938-1945)
Fotostrecke 6. Schändung der Synagoge Wassergasse 14 (StA B; Fotoarchiv; Ereignisse 1938-1945)
7. Schändung der Synagoge Wassergasse 14 (StA B; Fotoarchiv; Ereignisse 1938-1945)
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9. Vizebürgermeister Emil Pfeiffer (StA B; Fotoarchiv; Porträts)
8. Bürgermeister Franz Schmid (StA B; Fotoarchiv; Porträts)
10. Ratsherr Anton Attems (StA B, GB/052/Karteikarten)
11. Stadtrat und Bäderverwalter Franz Blechinger (StA B, GB/052/ Karteikarten)
12. Stadtrat Josef Brandstetter (StA B, GB/052/Karteikarten)
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13. Ratsherr Franz Derntl (StA B, GB/052/Karteikarten)
14. Ratsherr und Ortsgruppenleiter von Baden-Weikersdorf Eduard Fischer (StA B, GB/052/ Karteikarten)
15. Ratsherr und Kreisamtsleiter Hans Gotz (StA B, GB/052/ Karteikarten)
16. Ratsherr Johann/Hans Grundgeyer (StA B, GB/052/ Karteikarten)
17. Ratsherr Walter Reiffenstuhl sen. (StA B, GB/052/Karteikarten)
18. Ratsherr Rudolf Schemel (StA B, GB/052/Karteikarten)
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19. Ratsherr Hans Lang (StA B; Fotoarchiv; Porträts) 20. Kreisleiter Hans Hermann und Bürgermeister Franz Schmid (StA B; Fotoarchiv; Ereignisse 1938–1945)
22. Kreisleiter Camilo Gärdtner (StA B, GB/052/Karteikarten) 21. Kreisleiter Johann/Hans Ponstingl (StA B, GB/052/Karteikarten)
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23–25.: Beurteilungsbogen
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26. Meldeblatt
27. Kreisleitung Strasserngasse 6 (StA B; Schenkung Grossinger, Sammlung Schärf.)
28. Hauptplatz Baden (StA B; Fotoarchiv; Ereignisse 1938–1945)
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29. Gaubühne (StA B; Fotoarchiv; Ereignisse 1938–1945)
30. Casino (StA B; Fotoarchiv; Ereignisse 1938-1945)
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31. Geplante Markthalle I (StA B; GB 332 Handel und Märkte II Fasz. I)
32. Geplante Markthalle II (StA B; GB 332 Handel und Märkte II Fasz. I)
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37. StA B, Kartensammlung, KA 0227
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33. Alois Klinger (StA B; Fotoarchiv)
34. Hans Meissner jun. Uniformiert (Privatarchiv Zgierski)
35. Hans Meissner jun. Porträt (Privatarchiv Zgierski)
36. Gertrud Maurer geb. Hauer (Privatarchiv Maurer)
Dritter Teil Expansion und Zenit Kriegsbeginn und Kriegsalltag, Siege und Stalingrad …
Kapitel 16 Ante bellum Oder: Vom nie enden wollenden Aufbruch und der nie enden wollenden Suderei
Am Anfang war das Provisorium. Schmid war provisorischer Bürgermeister bzw. kommissarischer Gemeindeverwalter. Definitiv Bürgermeister wurde er mit der Einführung und Übernahme der Deutschen Gemeindeordnung (DGO). Die erste Gemeinderatssitzung nach der DGO fand am 16. Jänner 1939 statt. Die Gemeindevertreter hießen nun Ratsherren. Es waren 24 an der Zahl und zum Teil uns keine Unbekannten mehr. Name Dr. Anton Attems Karl Bergauer Franz Derntl Karl Eichholzer Eduard Fischer Dr. Theo von Gimborn Johann Gotz Hans Grundgeyer Hans Hermann Dr. Edmund Hess Josef Hofmann Rudolf Höttl Josef Jäger Emmerich Klein Emmerich Kochwasser Hans Lang Josef Manhalter Anton Rampl Rudolf Rampl Dr. Walter Reiffenstuhl Maximilian Rothaler Rudolf Schemel
Lebensdaten 1899 1903–1944 1894 1896–1964 1887–1969 1875 1881 1896–1968 1900 1892 1874 1877–1942 1883 1897–1944 1889 1898–1971 1902 1908–1982 1903–1960 1880–1951 1899–1966 1892
Beruf
Parteibeitritt
Rechtsanwalt Maurergehilfe Croupier Installateur Bau- und Zimmermeister Fabrikant Gerichtsbeamter Kaufmann Postbeamter Prakt. Arzt Weinhauer Buchdruckereibesitzer Lehrer Gastwirt Sparkassenbeamter akad. Maler Fleischhauer Weinhauer Weinhauer Primarius Fürsorgebeamter Beamter
1932 1933 1938 1933 1931 1937 1921 1933 1919 1933 1940 Kein Mitglied 1933 1926 1932 1932 1932 Kein Mitglied 1941 1934 1921 1932
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Dritter Teil Expansion und Zenit
Julius Schopf Michael Stenzenberger
1892–1958 1908
Krankenkassenbeamter Tischler
1933 1929
Festgehalten wurde die erste ordentliche Gemeinderatssitzung durch den Stadtsyndikus (Schreiber) Dr. Anton Holzer. Jener trat 1938 der NSDAP und SA bei, stieg danach zum Stadtrat als Referent für Wohnungsbau-, Schul- und Personalwesen auf und war zudem als Geschäftsführer des Kreisamtes für Kommunalpolitik tätig.1 Die Ratsherren waren bestellt und nicht gewählt. Dem Wählen lasteten in den Augen der neuen Machthaber ein Mief, Streit, wüste Schimpforgien, Missgunst und die Spaltung der „Volksgemeinschaft“ an. Damit sei es nun vorbei, und Bürgermeister Schmid verkündete, die neuen Volksvertreter endlich ihrem genuinen Zweck zuzuweisen – dem friedlichen Verwalten und Gestalten der Stadtgemeinde Baden. Obendrein wäre die vergangene Gemeindepolitik ein Hort an Feigheit und Heuchelei gewesen. Denn früher, so der nationalsozialistische Duktus, hatten sich die Gemeindepolitiker hinter Parteien und anonymen Clubs versteckt, waren für nichts verantwortlich und lockten dadurch Feiglinge und Heuchler wie das Licht die Motten an. Jetzt hingegen gab es echte Männer (deutsche Männer), die zu ihrem Wort und ihrer Tat standen und dafür die Verantwortung übernahmen.2 Bereits im November 1938 hatte Schmid die Grundsätze der neuen Gemeindeverwaltung kundgetan: Sein Grundsatz ist die unbeschränkte Führerverantwortlichkeit. Autorität nach unten, unbeschränkte Verantwortlichkeit nach oben ist der Grundgedanke des nationalsozialistischen Staates.3 Den Festakt der ersten Gemeinderatssitzung nach deutschem Ritus der DGO wollte sich ein NS-Kapazunder wie Kreisleiter Ponstingl nicht entgehen lassen. Nationalsozialisten! Kameraden! Gerne komme ich der Aufforderung nach, in dieser ersten Sitzung des Rates der Stadt Baden zu sprechen. Längst ist die Zeit vorüber, wo in diesem Raume fruchtloser Parteikampf und Verantwortungslosigkeit herrschte. Die neue Zeit erfordert eine neue Form. Der Nationalsozialismus stellt als oberstes Prinzip die Leistung auf.4 Er bezeichnete die anwesenden Ratsherren als eine neue Elite und verteufelte, wie zu erwarten, das Ständestaat-Regime. Floskeln wie „Nichts für uns, alles für Deutschland“ durften nicht fehlen. Anschließend sprach der Badener Gestapo-Chef Herbert Friedl in Stellvertretung für Landrat Josef Wohlrab und danach wieder Schmid – Inhalt und Ausdruck waren deckungsgleich zum jeweiligen Vorredner: Ehre, Würde, Deutschland, Führer, Volk und Vaterland. Beendet wurde das Ganze nach einer Stunde um 19.00 Uhr mit einem dreifachen „Sieg Heil“. Dem festlichen Auftakt wurde am 27. Jänner 1939 der Inhalt nachgereicht – die DGO wurde in ihren Grundzügen erläutert. Das Amt des Bürgermeisters war ein Ehrenamt, allerdings mit einer jährlichen Aufwandsentschädigung. Ihm zur Seite standen ein ehren1 2 3 4
Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Anton Holzer (geb. 1900). Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 6 und BZ Nr. 3 v. 11.01.1939, S. 3. BZ Nr. 88/89 v. 05.11.1938, S. 2. StA B, Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 2.
Kapitel 16 Ante bellum
amtlicher erster Beigeordneter, ein hauptamtlicher Stadtkämmerer (dieser musste zumindest eine Mittelschule abgeschlossen haben, Handelsakademie bevorzugt und praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der Stadtfinanzen vorweisen), ein weiterer hauptamtlicher Beigeordneter (ebenso zumindest Mittelschulabschluss mit Erfahrungen auf dem Gebiet Kurwesen und Fremdenverkehr) sowie drei weitere ehrenamtlich Beigeordnete. Als Bürgermeister hatte Schmid das Recht, sechs Gemeinderäte zu bestellen, zwei hauptamtliche und vier ehrenamtliche. Weiters stand ihm zu, einen ehrenamtlichen Beirat einzuberufen, bestehend aus verdienstvollen Männern, die ihm beratend zur Seite stehen durften. Für die diversen Posten wurden in der Gemeinderatssitzung vom 25. April 1939 Emil Pfeiffer als erster Beigeordneter berufen, als Stadtkämmerer Hans Löw, Franz Blechinger und Josef Brandstetter wurden Stadträte. Die zweite Sitzung dauert eine halbe Stunde.5 In der dritten Gemeinderatsitzung am 8. Februar 1939 wurde es erneut feierlich. Die offizielle Amtseinsetzung und Vereidigung des ersten Nationalsozialistischen Bürgermeisters in der Stadtgeschichte stand am Programm. Prominenz aus Gau und Kreis waren zugegen. Gauleiter Hugo Jury gab die Richtung vor und benannte die anstehenden Herausforderungen. Ihnen, Herr Bürgermeister, erwächst die Pflicht, Baden, eine Perle im Kranz der Städte im Gaue Niederdonau, wieder zum alten Ansehen und zur vollen Geltung zu führen. Dass das umsetzbar war, untermauerten die Worte Ponstingls: Zur reichen Erfahrung vieler Jahre bringen Sie, Herr Bürgermeister, ein flammendes Herz mit, das sich in schwersten Tagen bewährt hat.6 Selbstverständlich durfte ein Rückblick auf die entbehrungsreiche, aber zugleich heroische NS-Geschichte nicht fehlen, in dem Schmid alles Revue passieren ließ, bis hin zu jenem historischen Abend vom 11. März 1938, als er in Baden am Hauptplatz den Zusammenschluss der deutschen Brudervölker verlautbaren hätte dürfen. Nach der glorreichen Vergangenheit, eine plötzliche Zäsur, zu der nicht allzu glorreichen finanziellen Gegenwart. Doch selbst da, aufgebauscht durch die Reden Jurys und Ponstingls, machte sich Schmid sogleich an die Arbeit. Die Schuldenthematik war noch immer brandaktuell und sollte es noch für Jahre bleiben. Hier konnte Schmid brillieren – zumindest konnte er es versuchen – und immerhin bot es die Gelegenheit, jedes Mal das Vorgängerregime und Kollmann nach allen Künsten der Verleumdung zu diskreditieren. Die Schuldenlast wurde bei seiner Amtsübernahme auf 14.317.690 RM beziffert, und im Juni 1938 mit 12.900.000 RM angegeben. 1939 kursierten in den Gemeinderatssitzungen und der Badener Zeitung ähnliche Größenordnungen – 12 Millionen RM langfristige Schulden und 1,2 Millionen RM offene Rechnungen. Für Schmid eine WahnsinnsHypothek, und er verurteilte den früheren Raubbau an den Gemeindeunternehmen. Seine Ratsherren gingen mit ihm d‘accord. Danach wurde der aktuelle Rechnungsabschluss grob erläutert. Einnahmen: 956.546 RM, Ausgaben: 1.187.792 RM, Abgang: 222.246 RM. Als Schmid nachfragte, ob man näher ins Detail gehen sollte, verneinten seine Ratsherren. 5 6
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 6. StA B, Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 71f.
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Stattdessen bedankten sie sich für seine schonungslose Ehrlichkeit und bestärkten ihn darin, der richtige Mann für diese Mammutaufgabe zu sein. Schmid hatte bereits 1938 alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Schuldenlast zu verringern. Jedes Mal, wenn hoher Besuch nach Baden kam, gab es eine Sightseeing-Tour durch die Kurstadt, und ein dezentes Nachfragen nach finanzieller Unterstützung. Egal wer da war, ob Göring, Reichsinnenminister Wilhelm Frick oder Heinrich Himmler, sie alle glänzten mit Zusagen, Himmler darüber hinaus mit markigen Sprüchen von Manneszucht und Gehorsam, doch die versprochene Finanzspritze blieben sie schuldig. Wobei ganz so war es dann doch nicht. Dankbar zeigte man sich (musste man sich zeigen) für die 400.000 RM Reichszuschuss, auch wenn es nur ein Tropfen auf den heißen Stein war.7 Doch die horrende Schuldenlast und die unerfüllten Versprechungen schreckten Schmid nicht davon ab, neue Projekte anzugehen. Schon im Oktober 1938 stand fest, dass Baden in puncto Rheumabekämpfung und Rheumaprophylaxe mit den Rheumabädern des Altreiches gleichziehen musste. Schmid ließ das Volksgesundheitsamt und das Unterrichtsministerium wissen, dass Baden die Quellen, das Personal und das Know-How besitze. Die Schwefelthermen von Baden weisen nach wirtschaftlichem Urteil derartige physikalische und chemische Eigenschaften auf, das erweiterte Indienststellung für die Volksgesundheit begründet erscheint. Was fehlte, war erstens ein modernes Rheumainstitut und zweitens der Zaster, um jenes zu errichten. Und den sollte das Altreich beisteuern. Gebetsmühlenartig wurde gepredigt, die Stadt Baden ist durch die früher entstandene Schuldenlast und durch die hinterlassenen ungedeckten Rechnungen derzeit in einer sehr schwierigen, bedrängten Finanzlage und daher nicht in der Lage, allein die Anstalt in dem Umfang und Ausmaße auszugestalten, wie man derartige Institute in den Kurorten des Altreiches findet.8 Eines darf man Schmid bei der Bekämpfung der finanziellen Tristesse nicht absprechen, seine an den Tag gelegte Vehemenz, Geldmittel aufzustellen. Neben der Demut vor der Größe Großdeutschlands, der Honigumsmaulschmiererei bei diversen NS-Granden, mimte er genauso den Ahnungslosen, der wider Erwarten mit unerwarteten Fälligkeiten konfrontiert wurde. Zur größten Überraschung der Stadt Baden erschien bei den Fälligkeiten im Jahre 1939, dass die Gemeinde der Landeshypothekenanstalt Niederösterreichs tatsächlich noch weitere 60.000 RM Regiekosten zu erstatten hatte. Niemand hätte der Gemeinde dergleichen mitgeteilt, nirgendwo sei diese Summe aufgeschienen, und so glaubt die Stadt Baden kein unbilliges Ersuchen zu stellen, wenn im Hinblick auf die verzweifelte Finanzlage […] die Umtauschprovision zur Gänze erlassen wird.9 Als wäre die Kurstadt der Nabel der Welt, brachte Schmid mit einer nonchalanten Selbstverständlichkeit solche Vorschläge zu Papier. 7 8 9
Vgl. BZ Nr. 68 v. 24.08.1938, S. 2 und BZ Nr. 25 v. 26.03.1938, S. 2 und WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 8. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1938 – Schmid an das Volksgesundheitsamt (10.10.1938). NÖLA, BH Baden, II – IV 1939, GR. II-5 1939; A 534 – Schmid an die Direktion der Landeshypothekenanstalt für NÖ (07.06.1939).
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Die Stadt Baden ist sich nun völlig im Unklaren, aus welchen Mitteln diese Überweisung erfolgen soll, da dieselben einfach nicht vorhanden sind. Diesmal ging es um 51.805,26 RM, die die Gemeinde an den Bezirksfürsorgeverband im Juli 1939 umgehend zu überweisen hatte. Schmids Klagelied war gegliedert in drei Akte: Der riesige Schuldenberg des Vorgängerregimes, sein heldenhafter Kampf, jenen zu bezwingen, und das Vertrauen in das gnädige Entgegenkommen des Großdeutschen Reiches. Denn einer Sisyphusarbeit gleich werde die Gemeinde nach der Kursaison nicht mehr in der Lage sein, ihren Verpflichtungen an Lohn- und Gehaltszahlungen sowie Zinsdiensten nachzukommen. Man käme einfach nicht um einen weiteren Reichszuschuss umhin. Einen anderen Ausweg weiß man h.a. nicht mehr. Allein den Badenern Geschäftsleuten schulde man 430.000 RM. Die Stadt Baden hat versucht, sich selbst herauszuhelfen, unter den geschilderten Umständen ist dies jedoch ganz ausgeschlossen.10 Schmids Suade bedachte die Landeshauptmannschaft Niederdonau drei Wochen später mit folgender Antwort. Dem Ansuchen der Stadt Baden […] kann mangels vorhandener Mittel nicht mehr entsprochen werden, dies umso mehr, als gerade die Stadt Baden im Wege der Entschuldungsaktion in einer Weise bedacht wurde, die einer Bevorzugung gegenüber anderen Gemeinden darstellt.11 Das war eine klare Ansage, aber aufgeben tut man bekanntlich einen Brief, und die Landeshauptmannschaft Niederdonau empfahl Schmid, sich an Berlin zu wenden. Aber eines sollte dabei nicht vergessen werden, Reichszuschüsse gab es nur gegen anständiges Datenmaterial und annehmbare Zahlen. Gesagt getan, doch leider kam Schmids dringendes Ersuchen vorerst nicht an. Der Landrat schickte es postwendend zurück, zwecks Nachbesserung. Es fehlte erstens der Zwischenhaushaltsplan von Jänner bis März 1939, und zweitens machte man Schmid darauf aufmerksam, dass es einen Reichsminister für innere und kulturelle Angelegenheiten nicht mehr gab – den hatte es im verflossenen Land Österreich gegeben – jetzt hieße es Reichsminister des Inneren. Neben dieser Peinlichkeit dann noch etwas: Weiters kann an eine Reichsstelle niemals ein „dringendes Ersuchen“ gestellt werden, da dieses nach der Auffassung im Altreich einer Forderung gleichkommt, sondern nur eine Bitte.12 G‘schamster Diener Schmid tat, was man von ihm verlangte, und lieferte auch die ordentlichen Zahlen – und das nicht zum ersten Mal. Während die Badener Ratsherrn ungern ins Detail gehen wollten, was den Jahresabschluss anbelangte, verlangte der Gau dann doch nach deutlich mehr Hintergrundinformationen. Unter anderem, wie es um die Raumordnung der Kurstadt bestellt sei. Wer weiß, wozu man die Kurstadt noch alles brauchen würde. Und Schmid lieferte (siehe Anhang: Flächennutzung und Besitzverhältnisse). Obwohl es katastrophal um die Finanzen bestellt war, ließ es sich die neue Stadtführung nicht nehmen, in großen (deutschen) Dimensionen zu denken, vergaß dabei zugleich nicht das Kleine – die kleinen Details. Der Ortsfremdenverkehrsverband Baden bezeichnete das 10 NÖLA, BH Baden, II – IV 1939, GR. II-5 1939; A 721 – Schmid an die Landeshauptmannschaft Niederdonau (20.07.1939). 11 Ebd. – Landeshauptmannschaft (09.08.1939). 12 Ebd. – Landeshauptmannschaft (05.09.1939).
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Stadtbild, im Besonderen die Fassaden privater und öffentlicher Gebäude, als jammervoll. Hierbei wäre als erstes anzusetzen, wenn schon die Ambition kolportiert werde, mit den Kurstädten des Altreiches auf Augenhöhe stehen zu wollen.13 Neben dem schäbigen Außenputz, der eines deutschen Kurortes nicht würdig wäre, wurden ernsthafte Einwände bezüglich des einheimischen Benehmens gegenüber dem Kurgast erhoben. Beginnend im April 1939 schaltete die Kurverwaltung regelmäßig in der Badener Zeitung extra Annoncen und berichtete von der totalen Fokussierung auf den Fremdenverkehr. Der Kurgast/ Tourist stand hierbei im Mittelpunkt. Nicht nur die Kuranstalten, das Gastgewerbe und die Hotellerie hatten die Pflicht, den Gast zu umsorgen und seinen Aufenthalt so angenehm wie nur möglich zu gestalten, sondern ein jeder einzelner Badener wurde hierfür in die Pflicht genommen. Der Kurbetrieb ist im erweiterten Sinne die Gesamtheit der Badener.14 Das bedeutete: dem Kurgast mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, einen Badener Lokalpatriotismus nach außen zu transportieren, ein kurörtlich mondänes Erscheinungsbild zu pflegen und mit einem vorbildhaften Verhalten im Alltag zu brillieren. Das wiederum bedeutete: kein Hupen der Autos, kein Lärmen in der Nacht, nicht drängen bei den Kassen oder Schaltern im Strandbad oder beim Greißler, sich nicht aufregen, wenn es mal länger dauert, kein Raunzen und kein Sudern. Eine stoische Deutschheit auszustrahlen, das war die neue Verhaltens-Maxime. Eine Bevölkerung, die zu sehr raunzte und voller Ungeduld war, war nicht das einzige gesellschaftliche und politische Problem, dem sich die neue Stadtverwaltung zu stellen hatte. Ein Themenkomplex, der in den kommenden Jahren noch ungeheure Schwierigkeiten bereiten würde, waren der Wohnbau und die akute Wohnungsnot. Um dem von vornherein Herr zu werden – was nie passieren sollte – wurde ein Wohnungsamt eingerichtet. Zugleich war Schmid stets in geheimer Mission unterwegs. Ansuchen um Reichsdarlehen für den Wohnungsbau, Auszahlungen von bereits genehmigten Darlehen durch die Landeshauptmannschaft Niederdonau und das Weiterleiten an Bauträger geschah oftmals hinter dem Rücken seiner Ratsherren – wobei jene, wie anfänglich angeführt, eh nichts wissen wollten, da sie vollstes Vertrauen in ihren Primus hatten.15 Und der ging auch hier engagiert an die Sache und schilderte im Juli 1939 Landrat Wohlrab: Sofort nach der Übernahme der Verwaltung der Stadt Baden nach dem Umbruch trat an mich die Aufgabe heran, dass in Baden bestehende Wohnungselend […] zu lindern.16 Sein erster Streich sah so aus, dass die Gemeinde Wohnraum schaffen würde, ohne sich dabei zu verschulden. Unentgeltliche Grundbeistellung an den Bauträger „Neue Heimat“ lautete die Zauberformel. Der Bauträger baut und verwaltet, und die großzügige Gemeinde erntet die Lorbeeren. Der passende Grund war schon erkoren, in der Braitnerstraße 115–119, die ehemalige Barackensiedlung. Drei Volkswohnneubauten sollten hier entstehen. Der 13 14 15 16
Vgl. StA B, GB 340/Baupolizei I; Fasz. III 1936–1945; 1939. BZ Nr. 46 v. 10.06.1939, S. 3. Vgl. NÖLA, BH Baden, II – IV 1939, GR. II-5 1939; A 721. NÖLA, BH Baden, II – IV 1939, GR. II-5 1939; A 678.
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erste Lokalaugenschein lag schon ein Jahr zurück, im Juli 1938. Übereinstimmend wurde damals festgestellt, wie verunzierend diese Elendsquartiere für das Stadtbild denn nicht wären.17 Seitdem war allerdings nichts passiert. Aber im Februar 1939, auf einer Bausitzung aller Gemeinden mit über 10.000 Einwohnern, wurde zuerst das Verfünffachen an Bausubstanz im Altreich nach 1933 beklatscht, um im Anschluss wertvolle Ratschläge erteilt zu bekommen, wie man die rückständige Ostmark doch noch auf Vordermann bringen könnte. Was es bräuchte, wäre die totale Zentralisierung, an deren Spitze ein Generalbevollmächtigter thronen sollte. Und weil es danach zu einem explosionsartigen Bauboom kommen würde, müsste man sich zugleich auf Engpässe an Baumaterial und Arbeitskräften einstellen. Grundsätzlich galt jedoch, der Wohnbau bedürfe einer Sonderbehandlung.18 Den Rat nach Zentralisierung zu Herzen genommen, folgte die Bündelung aller Wohnraumpolitik im Rathaus. Sämtlicher in Baden befindlicher Wohnraum sollte so schnell es geht erfasst werden. Ein Vermieten von freigewordenem Wohnraum durfte ohne behördliches Wissen und Genehmigung nicht mehr erfolgen. Es bestand Anzeigepflicht. Der freie Wohnungsmarkt war damit erledigt.19 Hinzu kam, dass bestehender Wohnraum oftmals nicht einmal ein Mindestmaß an Wohnqualität geboten hatte. Der Raum liegt unter dem Niveau der Hoffläche, ist einfenstrig und 4 x 5 x 2,2 m groß. Das „Zimmer“ ist muffig, eine Wand zeigt nasse (feuchte) Flecken, für menschlichen Aufenthalt gänzlich ungeeignet.20 Hierbei handelt es sich um die Heiligenkreuzergasse 3. Das Zimmer, das im Schreiben unter Anführungszeichen gesetzt war, wurde von der alleinerziehenden Anna Aberl und ihren beiden erwachsenen Söhnen, die sich ein Bett teilen mussten, bewohnt. Betrachten wir die anberaumten Großbauprojekte, die mit der Zeit zunehmen sollten, und gleichzeitig die finanzielle Situation, so ergibt sich eine Bipolarität zwischen „Wir sind pleite“ und „Wir werden Großdeutschlands größter Kurort“. Schmid war das Gesicht zu dieser Politik. Er träumte von Badens Größe und musste gleichzeitig mehrmals im Quartal zähneknirschend eingestehen, dass die versprochene Grandiosität nicht umgesetzt werden konnte – jedenfalls nicht in der versprochenen absehbareren Zeit. Dennoch herrschte kein Stillstand. Die umgesetzten städtischen Bauvorhaben waren halt „normal“, und nicht, wie propagandistisch herausposaunt, germanisch megaloman. Das Krankenhaus in Baden wurde saniert und modernisiert. Eine neue Geburtenstation öffnete ihre Pforten, und neue medizinische Geräte wurden angekauft. Ein Wirtschaftshof wurde errichtet. Eine Schweinemastanstalt sollte die Verköstigung der Patienten sicherstellen. Die Gelder stammten zum Teil aus Enteignungen, unter anderem aus der „Arisierung“ des jüdischen Waisenhauses in der Germergasse. Woher das Geld stammte, war damals nicht einmal sekundär von Interesse. Wichtig war, man wollte etwas vorweisen und ein modernisiertes und erweitertes Kran-
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Vgl. NÖLA, BH Baden, X 1939; X-139; 471. Vgl. StA B, GB 349/Bauamt I; Fasz. III 1938–1945 Einzelstücke; 1939. Vgl. BZ Nr. 10 v. 04.02.1939, S. 8. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Aberl Anna (geb. 1877).
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kenhaus konnte sich durchaus sehen lassen.21 Eine Expansion anderer Art erfuhr die gesamte Stadtverwaltung. Durch die Übernahme der Deutschen Gemeindeordnung (DGO) erweiterten sich massiv die Verwaltungsagenden der Gemeinde, was zu einem zusätzlichen Mehr an Personal führte. Reichsverteidigung, Luftschutz, Standesamt, Finanzverwaltung usw. kamen hinzu bzw. wurden ausgeweitet. Das Amtsgericht, das dieser Expansion zum Opfer fiel, weil die Gemeinde deren Räumlichkeiten beanspruchte, fragte gar beim Landrat nach, ob die Gemeinde denn das überhaupt dürfe.22 Während hier noch viel architektonische Theorie zirkulierte und bis zum bitteren NSEnde zirkulieren sollte, sah es bei Kunst und Kultur gänzlich anders aus. Hier herrschte ein nicht von der Hand zu weisendes Überangebot. Sommerarena und Stadttheater waren ausgelastet. Fast jeden Tag ein Schauspiel. Selbst während des Krieges mussten nur eine Handvoll Aufführungen abgesagt werden. Hinzu kamen zahlreiche Propagandaveranstaltungen und NS-Festivitäten. Im Sommer wurden Frauen, die das 70. Lebensjahr hinter sich gelassen hatten, zur Trinkhalle kutschiert und dort für ihren Kinderreichtum und ihre erlittenen Strapazen während des Ersten Weltkrieges ausgezeichnet. Kulturhöhenpunkt war das II. Beethovenfest vom 16. bis zum 23. Juli 1939, diesmal unter der Schirmherrschaft des Propagandaministers Josef Goebbels. In der Beschreibung überbot sich die Badener Zeitung in üblicher Manier mit Superlativen. Es war so atemberaubend weihevoll, voller weihevollen Gedenkens und weihevollen Vertiefens in die Werke der deutschen Meister. Das Niveau des Beethovenfestes des Vorjahres wurde nicht nur erreicht, sondern übertroffen, was zu einer stolzen Befriedigung führte. Neben den Stücken von Haydn und Bach spielte man Beethoven, Beethoven und nochmals Beethoven. Die Festivität schien ein voller Erfolg gewesen zu sein. Schweren Herzens mussten zahlreiche kulturbegeisterte Besucher aufgrund des Platzmangels nach Hause geschickt werden. Getröstet wurden die Abgewiesenen mit der Ankündigung, dass in absehbarer Zeit ein neues Festspielhaus mit gewaltigem Fassungsvermögen aus dem Boden gestampft werden würde – doch dies passierte nicht. Das zweite Beethovenfest war vorerst das letzte. Wieder richtig groß machte es 1979 Viktor Wallner – der spätere Bürgermeister und jener damals junge Mann, der 1938 mittels Flugblättern den Einmarsch der Wehrmacht zu hintergehen beabsichtigte.23 * Wir haben es bereits in Kapitel 15 angesprochen, und die Badener Zeitung verurteilte es auf das Heftigste: das ostmärkische Sudern und Raunzen. Denn Brot und Spiele reichten alleine nicht aus, um die „Volksgemeinschaft“ bei Laune zu halten. Zu plump gestaltete sich mancher Versuch. Poltische Festivitäten, samt pathetischen Reden und grandiosen Versprechungen, wiesen schon bald keinen Neuigkeitswert mehr auf und wurden nach kurzer Zeit 21 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 14f. 22 Vgl. NÖLA, BH Baden, II – IV 1939, GR. II-5 1939; A 534. 23 Vgl. BZ Nr. 60 v. 29.07.1939, S. 2 und WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 15, 18 und 22.
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schnell langweilig sowie unglaubwürdig. Denn dass die NS-Medien es mit der Wahrheit nicht so genau nahmen und mit Übertreibungen nicht geizten, war bald common sense. Stattdessen sorgte das, was 1938 für Unmut gesorgt hatte, 1939 weiterhin für Unmut. Festgelegte Höchstpreise freuten die Konsumenten, nicht die Produzenten, die den Verlust irgendwie anders hereinbringen mussten. Um das auszugleichen, war Kreativität gefragt, die ins Illegale abdriften konnte. Die Stadtgemeinde hatte andere Möglichkeiten, um ihr Budget aufzubessern. Das Vorhaben, zu Großdeutschlands größtem Schwefelkurort emporzusteigen, war mit enormen Kosten verbunden. Die Deutsche Gemeindeordnung DGO bot hierfür gewisse Instrumentarien – wie neue Steuern. Davon machte die Gemeinde reichlich Gebrauch. Eine Getränkesteuer wurde erlassen (Ausnahme: Milch und Bier) und mit 10 % festgesetzt – das war der Höchststeuersatz.24 Summa summarum, trotz sichtbaren Aufbruchs wurden Waren teurer, ein Teil wurde rationiert, der Mangel nahm zu, und obendrein verschlechterte sich die Qualität. Besonderen Unmut erregte das Fleisch. „Wenn man schon so „Heil Hitler“ herumgeplärrt hatte, dann muss man dieses Fleisch jetzt auch fressen“ – so in etwa der unbedachte Einwurf eines Fleischhauers aus Bad Vöslau gegenüber mehreren Kundinnen. Seine despektierliche Aussage brachte ihm 48 Stunden Arrest ein, trotz der Fürsprache der Gendarmerie vor Ort, die auf seine einfache Geistesbildung verwies.25 Neben der mangelnden Qualität kam der Mangel als Ganzes hinzu. Schon vor dem Krieg gab es Anzeichen, dass am Grünen Markt die Zuteilung von Obst und Gemüse nicht dem entsprach, was man sich vom NS-Staat erwartet hatte. Empört war nicht nur die Kundschaft. Schmid, nachdem er davon in Kenntnis gesetzt worden war, verfasste im März 1939 an den Gartenbauwirtschaftsverband ein Schreiben, das anfänglich einen geharnischten Charakter aufwies. Denn seiner Meinung nach stimmte nicht nur die Verteilung nicht. Nach den Aussagen der hierortigen Großverteiler soll dies darauf zurückzuführen sein, dass, weil die „Provinzstädte“ in diesen Artikeln angeblich weniger Bedarf haben, deshalb weniger beteilt werden. PROVINZSTADT!!! Baden als Provinzstadt zu bezeichnen, glich fast schon einem Sakrileg. Rigoros zählte Schmid sämtliche Kurhäuser der Stadt auf, vergaß weder auf das Krankenhaus noch auf die im Bau befindliche Kaserne oder die geplante Reichsautobahn hinzuweisen und auf all die demnächst nach Baden strömenden Kurgäste aus dem In- und Ausland. Aus diesem vorher Gesagten wollen Sie ersehen, dass die Stadt Baden in dieser Hinsicht nicht zu den „Provinzstädten“ zu zählen ist. Energisch pochte er auf eine befriedigende Zuteilung, doch sein Gegenüber, der Gartenbauwirtschaftsverband, zeigte sich offenbar nicht zum ersten Mal unbeeindruckt. Der geharnischte Stil kippte in Richtung resignativen Stil. Nun wurden wegen dieser nicht befriedigenden Zuteilung wiederholt bereits […] mündlich, schriftlich und telefonisch Vorstellungen erhoben, die aber leider ohne Erfolg blieben.26 Es war nicht nur das Obst und Gemüse, das einer ungleichen Verteilung anheimfiel. Als 24 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 8–10. 25 Vgl. BREZINA, ZGIERSKI, Bad Vöslau, S. 159. 26 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1939.
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sich das Kalbfleisch für das geliebte Schnitzel dem Ende zuneigte, musste die Badener Zeitung reagieren, um die Wogen – auf ihre Art und Weise – zu glätten. Die murrenden Hausfrauen wurden an die früheren Zeiten erinnert – damals hätte es überhaupt kein Kalbfleisch gegeben.27 Solch eine Denk-und Herangehensweise machte sich der Badener Kaufmann Hans Pokorny in der Annagasse zu Nutze, um seine NS-Feindschaft oder Enttäuschung öffentlichkeitswirksam und zugleich diskret kundzutun. Er drapierte in seiner Auslage ein Führerbild mit Quargelrollen und Knackwürsten. Es dauert nicht lange, da war die SA zur Stelle, um diesem blasphemischen Unsinn ein Ende zu bereiten. Doch der Kaufmann rechtfertigte sich damit, er hätte auf diese Weise nur sichtbar machen wollen, dass nun endlich der Überfluss über die Ostmark hinübergerollt sei.28 Ebenso durch die Blume, nur andersherum, begegnete die Badener Zeitung dem aufkommenden Fleischmangel. Neben den Einwänden, dass früher alles noch schlechter gewesen sei, nahm die Zahl der Artikel merklich zu, die für vegetarische Ernährung warben, inklusive schmackhafter Rezepte für das fleischlose Kochen. Ob das den Anreiz weckte, auf Fleisch zu verzichten, kann bezweifelt werden. Der wirkliche Verzicht kam erst, als es schlicht und ergreifend überhaupt kein Fleisch mehr gab. Bis dahin murrte die Mehrheit hinter hervorgehaltener Hand und pudelte sich vereinzelt beim Kaufmann ihres Vertrauens auf. Nicht so die Hilfsarbeiterin Johanna Perger. Sie geriet, als ihr die rationierte Magermilch nicht ausgehändigt wurde, dermaßen in Zorn, dass sie zuerst einen Radau in der Milchhandlung Wottawa in der Planetta-Straße (heute Pfarrgasse) veranstaltete, um im Anschluss die Polizeiwache im Rathaus aufzusuchen, um zu verkünden: Das ist schon das Letzte, wir Arbeiter müssen am meisten leisten, und auf die wird nicht geschaut. Es ist eine Schande, österreichischer Staatsbürger zu sein. Auf die Arbeiter gehe man los, andere fressen die Hühner, und der Arbeiter bekommt nichts. Weder die Polizeibeamten noch der zufällig anwesende Ratsherr Hans Gotz konnten die aufgebrachte Frau beruhigen. Sie verweigerte sogar, sich vor Letzteren auszuweisen, und lief stattdessen hinaus auf die Straße. Selbst danach, als man sie retour holte, zeigte sie keine Scheu, zu ihrer Meinung zu stehen. Und als sie danach zu der von ihr verursachten Eskapade vernommen wurde, machte sie klar: Beifügen möchte ich noch, dass ich meinen Namen dem Inspektor deshalb verweigerte, weil man mit mir herumgestoßen hat und mir mit dem Einsperren drohte. Sonst vermag ich in der Sache nichts anzugeben.29 Solche Szenen waren Gift für das NS-Regime. Für das Propagandaministerium und seinen Zampano Goebbels war es schon problematisch, wenn sich vor den Geschäften Schlangen bildeten. Welch ein Bild gäbe das Großdeutsche Reich dadurch ab, wo doch der Überfluss propagiert wurde. Welche Schlüsse würde die ausländische Presse daraus ziehen? Dem musste man entgegenwirken. Es erging der Befehl an die SA, die Wartenden darauf hinzuweisen, welch ungünstiges Licht das Warten hervorrufen könnte.30 Man stelle sich die 27 28 29 30
Vgl. BZ Nr. 61 v. 02.08.1939, S. 2. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 37. Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilung: Perger Johanna (geb. 1899). Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 166, 169 und BREZINA, ZGEIRSKI, Bad Vöslau, S. 159
Kapitel 16 Ante bellum
Situation vor: Man (zumeist die Hausfrau) wartet in der Schlange, hofft, dass man noch etwas ergattert, wohlwissend um die schlechtere Qualität, und wird währenddessen noch von der SA zurechtgewiesen. Grundsätzlich sollte es nicht nur der SA überlassen bleiben, „Aufklärungsarbeit“ zu leisten. Gewöhnliche Volksgenossen versuchten sich genauso in der Disziplinierung ihrer Mitmenschen. Das Denunziantentum wurde nicht nur gerne gesehen, sondern auch gerne gefördert. Als wieder einmal Badens Straßen nicht sauberzukriegen waren und die Badener weiterhin so viel lärmten, kam es, wie es kommen musste, und es wurden Organmandatsstrafen eingeführt. Die Badener Zeitung sprang sogleich auf den Zug auf und verpflichtete sich, das volksschädliche Verhalten einiger Unbelehrbarer schonungslos in aller Öffentlichkeit breitzutreten, ohne dabei den gesellschaftlichen Stand zu berücksichtigen.31 Eine andere Methode, um neben dem medialen Pranger auf Fehlverhalten hinzuweisen, waren „Leserbriefe“. Während des zweiten Beethovenfestes hieß es wieder: Alle Flaggen raus! Aber nicht alle Flaggen kamen raus! Dass die jüdischen Häuser nicht beflaggt werden durften, war klar, aber gab es denn tatsächlich noch so viele jüdischen Häuser, weil so viele Häuser nicht beflaggt waren? Solch eine Frage wurmte einen Kurgast, und er beschloss, dem auf die Schliche zu kommen. Zuerst legte er einen mehrstündigen Spaziergang hin, erstellte eine Liste nicht beflaggter Häuser und suchte anschließend die Redaktion der Badener Zeitung auf, um seine Ermittlungsergebnisse in gute Hände zu überreichen. Es folgte der lokalmediale Wink mit dem Zaunpfahl. Da es sich bereits herumgesprochen haben dürfte, dass gegenwärtig das zweite Beethovenfest in Baden im Gange ist und in wiederholten Aufrufen um Beflaggung der Häuser ersucht wurde, glauben wir arischen Hausbesitzern, die Wert darauf legen, nicht als Juden angesehen zu werden, zur ehesten Beflaggung ihrer Häuser raten zu sollen.32 Parteimitglieder und Funktionäre hatten sowieso die Pflicht, Volksgenossen mittels Anzeigen zu disziplinieren bzw. nach einiger Zeit erneut deren Lebenswandel unter die Lupe zu nehmen. Damit sollte sichergestellt werden, dass die „Volksgemeinschaft“ vor unanständigen Elementen geschützt werde. Wer nun anständig war und wer nicht, lag im Auge des Denunzianten. Zellenleiter Ludwig Lackinger und Blockleiter Viktor Zrost sammelten eifrig Informationen über unverlässliche und unsoziale Volksgenossen. In aller Kürze wurden Charakteristika erstellt wie: […] ist für Juden besonders eingenommen. Bei jeder Sammlung verhält sie sich abweisend, kritisiert dauernd. […] benützt jede Gelegenheit, Äußerungen gegen die Partei zu machen. (Ist Säufer). […] ist nach seinen Äußerungen als Gegner zu bezeichnen; doch sind seine Äußerungen nicht ernst zu nehmen, da er ein schwerer Alkoholiker und unzurechnungsfähig ist.33 Es musste nicht immer so mit der Tür ins Haus gefallen werden. Zellenleiter Ludwig Lackinger vermerkte bei knauserigen Volksgenossen, die nicht genug spendeten, ganz beiläufig in einem Nebensatz, dass jene aber schon in einer schönen Dreiund LONEGRICH, Goebbels, S. 405. 31 BZ Nr. 58 v. 22.07.1939, S. 3. 32 Vgl. BZ Nr. 57 v. 19.07.1939, S. 3. 33 StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Verfolgung – Viktor Zrost (geb. 1901).
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Dritter Teil Expansion und Zenit
Zimmer Wohnung mit Bad leben würden. Oftmals waren es totale Belanglosigkeiten, die zu einer Anzeige führen konnten. Im Juli 1939 saßen Elise Paky und Otto Grassinger beim Heurigen „Rampl’s Witwe“ in der Neustiftgasse 5.34 Alltag und Wetter bildeten die Themen. Nach einiger Zeit gesellte sich der ehemalige Schuldirektor Franz Obernhuber hinzu. Nicht wissend, dass der neue Tischnachbar seit 1932 der NSDAP angehörte und sich nach dem Anschluss zum Zellenleiter hochgedient hatte, fiel die zwanglose Plauderei Richtung möglicher Kriegsausbruch. Dabei überkam Elise Paky die Angst, ihren Sohn auf einem der Schlachtfelder zu verlieren. Und dafür, so die Mutter, hätte sie ihn nicht zwanzig Jahre lang großgezogen. Außerdem wäre es ihr nur recht gewesen, wäre Österreich klein geblieben, anstatt groß im Großdeutschen Reich aufzugehen. Franz Obernhuber wurde, wie er es formulierte, durch diese gehässige und zweifellos gegnerische Äußerung in helle Aufregung versetzt. Nach reiflicher Überlegung hielt ich es als politischer Leiter der NSDAP für meine Pflicht, Anzeige zu erstatten, die nach meiner Meinung den Zweck haben soll, solche Leute zu überzeugen, dass sie mit ihren Anschauungen im Unrecht sind.35 Mittels Anzeige sollte die Überzeugung vonstattengehen. Die Anzeige ging an den Landrat, an das Amtsgericht Baden und an die Gestapo. Juristischen Ärger, weil sie im angeheiterten Zustand über ihren kargen Verdienst und über Nazibonzen daherpalaverten, bekamen auch Wilhelm Böhm und Ernst Gardavsky nach einer Zugfahrt Ende März 1939 von Wien nach Baden.36 Enttäuscht und ihrer Enttäuschung Luft machend, sodass es auch jeder im Zugabteil mitbekam, irritierte ihr nicht zu überhörendes staats- und parteiverletzendes Gespräch mehrere Fahrgäste. Besonders bei zwei SS-Männern, einer von ihnen war ausgerechnet der frühere Kreisleiter von Baden, Andreas Hanak, sorgten Böhms und Gardavskys Unmutsäußerungen für ernsthafte Verstimmung. Er und sein Compagnon stellten die Suderanten zur Rede, doch die erwünschte Einsicht erfolgte nicht, die Disziplinierung mittels Anzeige- und Haftandrohung trug keine Früchte, weil Wilhelm Böhm war erstens nicht auf den Mund gefallen, und zweitens legitimierte er sich als SA-Mitglied. Als Illegaler, der nun alle seine illegalen Taten aufzählte, war er sowieso der Überzeugung, dass er, sollte er tatsächlich verhaftet werden, ohnehin in einer Viertelstunde wieder auf freiem Fuß wäre. Von Rat- und Fassungslosigkeit über solch freches Benehmen erfasst, blieb Hanak und seinem SS-Kameraden nichts anders übrig, als in Gumpoldskirchen auszusteigen und die Polizei zu verständigen. Derweil setzten Böhm und Gardavsky ihre Fahrt nach Baden unbekümmert fort. Erst als sie in der Kurstadt ankamen, wurden sie zuerst von der Exekutive in Empfang und in Gewahrsam genommen und anschließend dem Stadtarzt Dr. Otto Mayer vorgeführt, der ihren Trunkenheitszustand eruieren sollte. Der Vorfall bedurfte eines sechsseitigen Protokolls. Die gesamte Angelegenheit zog sich von März 1939 bis zum November 1939 hin.37 Gleiches wiederfuhr Guntram 34 35 36 37
Elise Paky (geb. 1895), Otto Grassinger (geb. 1888). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Obernhuber Franz (geb. 1873). Wilhelm Böhm (geb. 1918), Ernst Gardavsky (geb. 1921). Vgl. StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Böhm Wilhelm (geb. 1918).
Kapitel 16 Ante bellum
Aberer im Jänner 1939, der ebenso – aber nicht im Zug sondern im Gasthaus „Eiberger“ in der Marchetstraße 30 – über seinen geringen Lohn maulte und dadurch das Interesse der Stadtpolizei und der Bezirkshauptmannschaft auf sich zog. Und auch er rechtfertigte sich mit seinem angeheiterten Zustand – wie viele andere vor ihm und nach ihm.38 Unter reichlichem Alkoholeinfluss fielen die Hemmungen – in vino veritas. Aussagen bzw. Gebrülle unter dessen Einfluss, wie ich scheiße auf die Regierung, ich schrei lieber „Rot Front!“ […] Ich bin Kommunist und bleibe Kommunist. Ich pfeife auf Hitler. Früher war es viel besser, jetzt müssen wir mehr Hunger leiden als früher, konnten ungut enden, da als Widerstandsaktion interpretierbar. Solche „Widerstandskämpfer“ wie Anton Burger und Johann Zauner kämpften am nächsten Tag mit einem Filmriss. Kein Wunder, da beide angaben, dass jeder von ihnen gegen 18 Krügerl Bier getrunken habe und sich infolge voller Berauschung an die Vorfälle im Gasthaus Brandtner nicht erinnern könnte. Insbesondere seien sie sich nicht bewusst, abfällige Äußerungen über den Führer und die deutsche Regierung gemacht und sich als Kommunisten bekannt zu haben.39 Anton Hermann, der hingegen ganz genau wusste, dass er Kommunist war, „feierte“ seine Musterung und Tauglichkeit mit Gleichgesinnten ebenfalls mit reichlich Alkohol und dem verbalen Vorhaben: Ich scheiß auf den Führer, wir Kommunisten bringen ihn noch um, ich scheiße auf die ganze Führung. […] Für den Führer, den Hurnkerl, muss ich mich heute hergeben, ich scheiß auf den Führer. Auch er konnte sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern, nur dass der Alkoholexzess mit Bier begonnen hatte, zum Wein übergegangen war und mit Schnaps sein Ende gefunden hatte. Ich war so stark betrunken, dass ich nicht weiß, wie ich auf die Wachstube kam. Erstaunt war er über sich selbst, denn normalerweise: Ich bin nierenleidend und trinke nie einen Alkohol.40 Zu drohen, dass man auf den Führer seine Notdurft verrichten oder ihn gar umbringen werde, hätte ein fatales Ende nehmen können, wenn man bedenkt, dass selbst bei so läppischen Unmutsäußerungen wie: „Der Lohn ist zu gering“ oder „Das Faschierte zu trocken“, ernsthafte Konsequenzen drohten konnten. Das NS-Regime nahm vieles persönlich. Schließlich habe man Österreich befreit, bringe die NS-Herrlichkeit, mache die Ostmark groß, und das sei der Dank; ostmärkisches Suderantentum, soweit das Altreich-Augen reichte. * Der Aufruf, an der Disziplinierung seiner Mitmenschen mitzuarbeiten, hatte auch seine Schattenseiten. Denn so mancher Volksgenosse agierte diesbezüglich etwas übereifrig. Jene Menschen waren für das NS-Regime Fluch und Segen zugleich. Zu ihnen gehörte Milla Lautenschläger. Eines ihrer Opfer war der bereits vorgestellte Maler und Grafiker Franz 38 Vgl. ebd. – Aberer Guntram (geb. 1896). 39 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Burger Anton (geb. 1897) – Johann Zauner (geb. 1899). 40 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Herman Anton (geb. 1904).
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Bilko (siehe Kapitel 6). Mit Feuereifer betrieb sie dessen Demontage, indem sie unter anderem seine Verdienste um die Vaterländische Front in Erinnerung rief. Sie denunzierte ihn nicht bloß bei ihrem Block- oder Zellenleiter. Selbst die Ortsgruppen- und Kreisleitung waren ihr nicht gut genug – die Kanzlei des Führers sollte es sein. Und tatsächlich, sie weckte deren Interesse. Die zuständigen Stellen in Baden reagierten einerseits gelassen, andererseits genervt. Sie witterten hinter der Anzeige den bloßen Neid. Neid, dass der Führer Bilkos Werk die „Frühlingsblume aus dem Wienerwald“ erstanden hatte und nicht ein Werk ihres Mannes, Gustav Lautenschläger, der ebenso das Handwerk des akademischen Malers beherrschte. Für Bilko sprachen in dem Fall nicht nur seine Freunde und Gönner, sondern auch der negative Ruf der Denunziantin. Sie war als streitsüchtige Person stadtbekannt, deren Anzeigen die Ortsgruppe bis aufwärts zur Kanzlei des Führers beschäftigten/ belästigten. Obwohl Milla Lautenschläger wirklich eine sehr fanatische Anhängerin unserer Bewegung ist, dürften jedoch ihre vielseits gemachten Angaben nicht allzu ernst genommen werden.41 Neben ihrem Ruf litt wahrscheinlich auch der ihres Mannes. Erinnern wir uns an Kapitel 13. Wenn die Ehefrau – umgangssprachlich – zu sehr ihren Mann stand und dadurch ihren Ehemann überflügelte, lief jener Gefahr, an deutsch-männlichem Wert einzubüßen. Ideologischen Übereifer legte auch Dr. Lothar Kitschelt, Assistent am Kunsthistorischen Museum in Wien, an den Tag. Bei einem Casinobesuch im Januar 1939 wurde er Zeuge, wie ein seiner Meinung nach unzweifelhaft jüdisch aussehender Mann ausgelassen am Roulette dem Glückspiel frönte und dabei zwei Hakenkreuze am Revers trug. Fassungslos musste er mit ansehen, dass niemand etwas unternahm. Nach zwei Stunden, in denen er den Mann nicht aus den Augen gelassen hatte, konnte er seinen Grant nicht mehr zügeln und sah sich selbst dazu berufen, endlich etwas zu unternehmen. Er stellte den Mann jüdischen Antlitzes zur Rede und riss ihm dabei die Hakenkreuze hinunter. Seine Aktion rief allerdings nicht die von ihm erwartete Reaktion hervor. Ein anwesender Kriminalbeamter schritt ein. Aber anstatt den vermeintlichen Juden zu verhaften, wurde er selbst in die Schranken verwiesen. Zu allem Überfluss wurde noch ein Casino-Betretungsverbot über ihn ausgesprochen. Die Angelegenheit landete beim Kreisleiter. Dessen Nachforschungen ergaben, dass alles rechtens war. Der unzweifelhaft jüdisch aussehende Mann entpuppte sich als unzweifelhafter armenischer Staatsbürger, der in Graz ein Teppichgeschäft führte und gegen den nichts vorlag.42 Die Denunziation musste sich nicht immer gegen tatsächliche Feinde (bzw. als Feinde klassifizierte Menschen) des NS-Systems richten. Die Denunziation und ihre in der NS-Ideologie relevanten Aspekte, wie Anschuldigungen, dass jemand ein Kommunist oder Jude sei bzw. mit jenen verkehre oder mit dem Ständestaat paktiert hätte, konnten in ganz normalen zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen genauso Verwendungen finden. 41 StA B, GB 052/Personalakten: Lautenschläger Mila (geb. 1893) und Lautenschläger Gustav (geb. 1859). 42 Vgl. StA B, GB 334/Casino I; Fasz. II 1938–1945; 1939 – Lothar Kitschelt (1910–1944).
Kapitel 16 Ante bellum
Nachbarschaftsstreitigkeiten, innerfamiliäre Konflikte und sonstige Unstimmigkeiten zwischen Menschen wurden dadurch um zusätzliche Facetten bereichert. Nehmen wir z.B. den 20. April (Hitler-Geburtstag) als neu eingeführten Feiertag, den es selbstverständlich zu zelebrieren galt. Doch in einem Mehrparteienhaus in der Helenenstraße 68 waren nicht alle Mieter in Feierlaune. Während die einen ihre Fenster floral ausschmückten, unterließen dies andere vollkommen oder begnügten sich mit einer eher dezenteren Hakenkreuzflagge, die dem festlichen Rahmen so überhaupt nicht entsprach. Zellenleiter Richard Postl und Blockleiter Karl Kouff, Zeugen solch geringschätzender Dekoration, mahnten jene Mieter sogleich, bei der nächsten Gelegenheit einer Beflaggung sich eine große Fahne, wie sie in der Systemzeit von ihrem Haus geweht hat, anzuschaffen.43 Angesprochen war das Hausbesitzer-Ehepaar Anni und Eugen Pawel.44 Doch damit hatten die beiden offenbar in ein Wespennest gestochen, denn am selben Tag erschien ganz aufgebracht der im selben Haus wohnende Oberleutnant Reinhold Willamowski bei Blockleiter Karl Kouff, um seine Sicht der Dinge darzulegen. Allerding ging es ihm nicht vordergründig um die Ausschmückung, die, so Willamowski, von einem Offizier ohnehin nicht verlangt werden dürfte, sondern darum, weshalb er mehr Miete zahlen müsse als sein Gegenüber. Weshalb er Karl Kouff diese Frage stellte und nicht dem Ehepaar Pawel, steht auf einem anderen Blatt. Das Gespräch jedenfalls scheint leicht hitzig verlaufen zu sein. Karl Kouff beschwerte sich nachträglich, dass der Oberleutnant einen ungebührlichen Ton anschlagen hätte, noch dazu in Gegenwart seiner Frau. Reinhold Willamowski hatte da eine etwas andere Version auf Lager. Laut der hätte Karl Kouff zu Eugen Pawel Folgendes gesagt: Die Beflaggung Ihres Hauses ist ein Schmarren! Es gehört an das Haus eine Flagge, die vom Dach bis zum Erdboden reicht. – Auch die Offiziere haben zu flaggen. Ich werde schon der Wehrmacht zeigen, was ihre Pflicht ist. An jedem Fenster hat eine Flagge zu hängen.45 Die Fronten waren verhärtet, es stand Aussage gegen Aussage, und während hinter Karl Kouff die Ortsgruppe Baden I stand, stand hinter Willamowski das Flieger-Ausbildungskommando 17 – das zu jenem Zeitpunkt in Wischau (Mähren) stationiert war. Für die nächsten vier Monate schrieben sich die Ortsgruppe, das Fliegerausbildungskommando und die Kreisleitung gegenseitig Briefe – Baden-Wischau, Wischau-Baden. Die Anzeigen und Denunziationen entwickelten fallweise ungeahnte Eigendynamiken. Zusätzliche Brisanz erhielten solche Fälle, wenn zwei Alpha-Männchen aufeinandertrafen und wenn sich Politisches, Ideologisches und Berufliches vermengte. Dr. Walter Wachtler, Dermatologe, SA-Oberscharführer und SA-Standartenarzt, schrieb sich im Mai 1939 regelrecht in Rage. Auf neun A4-Seiten unterrichtete er in teilweise launigem Stil Joseph Bürckel über die schändlichen Zustände in der Badener Ärzteschaft. Ein Tummelplatz für Konjunkturritter, Märzveilchen und tiefschwarze CVler – die er als Cevauer auszuschreiben 43 StA B, GB 052/Personalakten: Kouff Karl (geb. 1879) – Schreiben an die Ortgruppenleitung (24.04.1939). 44 Anni Pawel (geb. 1882), Eugen Pawel (geb. 1871), Richard Postl (geb. 1898). 45 StA B, GB 052/Personalakten: Kouff Karl – Aussage Willamowski (22.05.1939).
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vermochte. An der Spitze dieser Cevauer machte er den Chirurgen und seit 1936 Leiter der chirurgischen Abteilung des Badener Krankenhauses Primarius Dr. Hannes Kopf aus. Dass überhaupt solche Verhältnisse möglich wären, lag laut Wachtler am Wesen der Kurstadt. Baden ist eine Stadt, auf der der etwas fadenscheinige Glanz der Habsburgerei mit Erzherzögen und Exzellenzen und von diesen schwerreich gewordenen schwarzen Verdienern auch heute noch liegt. Hier gibt es reichlich schwarze Brüder. Die Bevölkerung ist in ihrer Gesamtheit recht unproblematisch, hat in der Monarchie wirklich gute Zeiten erlebt […] liebt Speis und Trank, zwingt die Gaubühne, vorwiegend Operetten zu spielen, mit einem Wort, es ist eine Weingegend. Kein Wort gegen die Lebensauffassung. Jeder nach seiner Fasson. Aber in dem Unproblematischen dieser Bevölkerung liegt es begründet, dass Probleme nicht anerkannt werden und deshalb Handlungen begangen werden, die von einer anderen Warte absolut unverständlich. So war es für ihn kein Wunder, dass sich durch Schwefel, Wein und Kaisermythos ein zersetzender Hedonismus der Kurstadt bemächtigt hätte und die recht unproblematische Bevölkerung gegen ein Kaliber wie Hannes Kopf auf verlorenem Posten stand. Denn er, Kopf, ist ein Vorarlberger, aus dem schwärzesten Land der Ostmark, das uns zahllose Cevauer beschert hat, die sich durch besondere Jesuitenschläue auszeichnen. Er sollte jeden und alles operiert und sich dadurch Dankbarkeit erschlichen haben, wetterte Wachtler. Er sollte von allen schwarzen Badenern protegiert worden sein. Selbst die Badener Zeitung, als Kreisblatt, wäre ihm erlegen und selbst ein Teil der Badener Nationalsozialisten. Und als dann tatsächlich Kopfs tiefschwarz klerikale Vergangenheit Thema wurde und seine Absägung bevorstand, passierte laut Wachtler: zahllose Weiber, wahrscheinlich die ganze frühere katholische Aktion, begannen Unterschriften zu sammeln, und die Massenpsychose wurde so groß, dass Leute mitunterschrieben, die den Herrn Kopf gar nicht als Arzt gehabt hatten. Für Wachtler eine illegale Volksabstimmung. Das Ergebnis waren 3000 Unterschriften. In den Augen Wachtlers eine Riesenblamage für den Nationalsozialismus und ein Triumph für die Schwarzen und vor allem für Hannes Kopf. Er spaltet Baden in zwei Hälften, in dieser Sache stehen leider auch Nationalsozialisten gegen Nationalsozialisten. Schon deshalb muss Kopf weg.46 Primarius Dr. Hannes Kopf sah das erwartungsgemäß anders. Seine Ausbildung an der Stella Matutina (Jesuitenkolleg) in Feldkirch, seine Konfessionsgebundenheit und seine Mitgliedschaft in der Vaterländischen Front konnte er nicht in Abrede stellen. Das waren eindeutige Minusse im NS-Wertekanon, doch er hatte auch Plusse aufzuweisen. Seinen Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg, seine italienische Kriegsgefangenschaft, einen arischen Stammbaum, der bis ins Jahr 1750 nachweisbar war, und dass er, als erzwungener Hauptdienststellenleiter der Vaterländischen Front im Allgemeinen Krankenhaus Wien, es vermochte, den anfänglich 2 7% betragenden Stand der jüdischen Abteilungsärzte an dieser Anstalt auf 10 % (!) bis Sommer 1936 herabzudrücken, wodurch vielen deutschen Volksgenossen die Ausbildung an diesen Abteilungen wieder ermöglicht wurde.47 Zusätzlich warf er noch in die 46 StA B, GB 052/Personalakten: Wachtler Walter (geb. 1901) – Schreiben an Joseph Bürckel (13.05.1939). 47 StA B, GB 052/Personalakten: Kopf Hannes (geb. 1899) – Lebenslauf (30.10.1938).
Kapitel 16 Ante bellum
Waagschale, dass er damals die Einnahmen der chirurgischen Abteilung von 4000 Schilling auf 70.000 Schilling in die Höhe schnellen ließ. Für Wachtler waren diese Behauptungen wiederum alles nur jesuitische Blendgranaten. Für ihn war Kopf ein ultramontanes Glanzprodukt; er betreibe Sensationsmedizin bester jüdischer Provenienz, und die Bevölkerung fällt auf das Getue herein. Nach jeder Operation, selbst der banalsten, kämen sich alle Patienten […] lebensgerettet vor.48 Dabei war Wachtler ebenso kein Kind von Zurückhaltung und Bescheidenheit, wie aus seinem Lebenslauf herauszulesen ist. Wir finden zudem bestimmte Parallelen zu seinem verhassten Berufskollegen – besonders mit antisemitisch-aktionistischem Hintergrund. Als Kind eines Südtirolers und einer Nordmährerin verbrachte Walter Wachtler seine ersten sechs Lebensjahre zuerst in Mähren, den Rest ab 1907 fast durchgehend in Wien. Der Beruf des Mediziners stand nicht von Anfang an fest. Meine ursprünglichen Pläne, Maler zu werden, opferte ich den traurigen Verhältnissen der Nachkriegszeit (1921). Von Haus aus national erzogen, sein Vater war Schönerianer, wurde er jedoch mit den Korpsstudenten und Burschenschaften nicht richtig warm. Viel mehr zog es ihn Richtung Jugendbewegung. Im Rahmen dieser wurden die politischen Parteien zu Nichtigkeiten. So schien sich neben allen politischen Glaubensbekenntnissen eine gemeinsame Front einer gesunden Jugend aus allen Lagern bilden zu wollen. Es war erhebend, nationale, streng kirchliche und linksgerichtete Jugendbewegler in vielen Dingen in einer Linie zu sehen. Doch nach der Pubertät bzw. Spätpubertät kam es dann doch zu einer Politisierung. Eine Zeitlang lief ich im Trott der Großdeutschen Volkspartei. Doch diese hilflose Armseligkeit ließ mich langsam an dem bürgerlichen Nationalismus verzweifeln. Sieben Jahre dauerte die Verzweiflung, bis er 1927 austrat und sich im selben Jahr der SDAP anschloss – die er in seinem Lebenslauf als SPÖ bezeichnete. Aber es sollte eine spezielle Gruppierung innerhalb der Sozialdemokratie sein, die sein Interesse weckte. Wir waren alle Antisemiten durch und durch und wollten die jüdische Hydra in der S.P.Ö bändigen helfen. Er promovierte 1927 und kam mit einigen Freunden als arischer Block ins rote Spital der Stadt Wien. Doch dann ein Déjà-vu. Die Verzweiflung packte ihn wieder, dauerte diesmal aber nur fünf Jahre. Der unterirdische Kampf gegen das rote Judentum im Spital, wo sich die grausigsten Judengestalten ein Stelldichein gegeben hatten, brachte viel Enttäuschung und die Überzeugung, dass unser Weg ein Irrweg war. 1932 kehrte er den Sozialisten den Rücken, die Christlichsozialen hasste er ohnehin, also war sein zukünftiger Weg einzementiert, und ein Jahr später hatte er bereits Kontakt zur NSDAP geknüpft. Wobei, so traf ich nun wieder mit der Bewegung zusammen, der ich mit 18 Jahren ein Jahr angehört hatte. Damals war ich Mitglied der Partei Dr. Riehls gewesen. Ein interessanter Einschub in seinem handgeschriebenen Lebenslauf, der anfänglich, wohl aus dramaturgischen Spannungsgründen, keine Erwähnung fand. Der „neuen“ NSDAP trat er am 1. Jänner 1934 bei und wurde illegales Mitglied der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) im Krankenhaus der Stadt Wien. Sein Kampf gegen Klerikalismus und Verjudung ging weiter, doch die Situation verschlechterte sich rapide, erneut die Verzweiflung, so trug ich mich mit dem Gedanken, ins Altreich oder 48 StA B, GB 052/Personalakten: Wachtler Walter – Schreiben an Bürckel.
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nach Afghanistan auszuwandern. Doch letztendlich behielt er die Nerven, und knapp vor dem Umbruch hatte ich mich zur SA gemeldet, da ich trotz Berchtesgaden mit einem langen Kampf rechnete und bei der großen Endschlacht dabei sein wollte.49 Diese Endschlacht sollte nicht stattfinden. Dafür der trat er den Kampf gegen Johannes Kopf an, der sich zwar ebenso als Kämpfer „wider der medizinischen Verjudung“ profiliert hatte, aber letztendlich den Kürzeren zog. Er wurde im Mai 1939 von seinem Posten enthoben. Neben seiner angegeben 17 % „Juden-Reduktion“ soll er auch die Meinung vertreten haben, Hitler sei ein Verbrecher, und 10 Juden seien mir lieber als ein Nazi. Dr. Rudolf Ramm (Beauftragter des Reichsärzteführers für die Ostmark) erklärte ihm ferner, dass alle konfessionell eingestellten Ärzte abgesägt werden, und ich solle meine Kinder nicht so borniert erziehen, wie ich erzogen worden sei. Aufmunterndere Worte hatte da schon Gauleiter Jury parat, als er ihm mitteilte, ich sei ein anständiger Mensch […] aber Wiedergutmachung müsste sein, weil meine damalige Bestellung als Primarius auf Grund meiner politischen Einstellung erfolgte. Versöhnlich wurde erklärt, zeigen Sie jetzt Ihre Bewährung 1–2 Jahre lang, im Bedarfsfall wird man wieder auf Sie zurückgreifen.50 Hannes Kopf wurde von Oktober 1939 bis Jänner 1940 kommissarischer Leiter des Krankenhauses in Ostrowo (Posen). Danach schrieben sich Gestapo, NS-Ärzteschaft, die Wehrersatzinspektion Niederdonau und das Wehrbezirkskommando Baden gegenseitig etwas ratlose Briefe, was nun mit Kopf passieren sollte. Wenig überraschend wurde er eingezogen, wurde Sanitäts-Offizier, hatte zeitweise den Posten eines Stellvertretenden Chefarztes und die Leitung eines Lazarettes inne und erfuhr mehrere Beförderungen und Versetzungen. Ein kurzer Sprung in die Gegenwart. Durch Zufall traf ich eines Tages in Baden, ohne es zu wissen, mit seinem Sohn zusammen. Während ich ihm half, Bilder in sein Auto zu tragen, kamen wir ins Gespräch und waren beide sichtlich erstaunt. Er, weil er nie damit gerechnet hatte, dass sich nach 80 Jahren jemand noch für seinen Vater interessieren würde, und ich, weil ich gerade am Tag zuvor ausgerechnet die Akten zu seinem Vater vor mir liegen gehabt hatte. Er erinnerte sich an die Abstimmung mit den 3000 abgegebenen Stimmen und wie damals ein Mann in einem schwarzen Ledermantel samt Hakenkreuzarmbinde sie in ihrem Haus in Baden aufgesucht und nach dem Vater gefragt hatte. Leider war die Zeit zu kurz, um tiefer ins Detail zu gehen. Zu gerne hätte ich ihn gefragt, ob sein Vater den Rat des Beauftragten des Reichsärzteführers für die Ostmark befolgt hatte, seine Kinder nicht so borniert zu erziehen. Vielleicht beim nächsten Mal. * Der Feind konnte im Nationalsozialismus überall und omnipräsent sein. Das freie Wort gehörte der Vergangenheit an. Die Vernaderung hatte Konjunktur, und wir sind erst in der Anfangsphase – noch war der Krieg nicht ausgebrochen, der wiederum zusätzliche Denunziations-Facetten bot. Doch es gab auch genug Menschen, denen das oben Beschrie49 Ebd. – Lebenslauf (30.11.1938). 50 StA B, GB 052/Personalakten: Kopf Hannes – Befragung über die Gründe seiner Entlassung (28.09.1939).
Kapitel 16 Ante bellum
bene nicht wirklich auf die Stimmung schlug. Zu ihnen gehörte Hans Hesele. Über Politik wurde nur in den eigenen vier Wänden und nur mit vertrauten Personen gesprochen. Zu groß war die Angst vor Denunzianten. Aber das war die Welt der Erwachsenen. Für ihn als 13-Jährigen war Politik wenn überhaupt eine Nebensache. Motorradfahren bei der MotorHJ oder Modellfliegerbauen bei der Flieger-HJ, das waren Hauptsachen. Dort konnte man sich endlich austoben. In der Schule lehrten die Professoren brav nach den NS-Richtlinien, wir hörten es und lachten darüber insgeheim. Nur manche waren extreme Nazis, die ihre Parolen zum Besten geben mussten. Zwei, drei Generationen darüber hatte man eher weniger zu lachen, besonders bei nicht NS-affinen Menschen. Dort ging das Gespenst des Krieges um. Nach dem Einmarsch in die sogenannte Rest-Tschechei fragte man sich, wie lange sich die anderen Großmächte das noch gefallen lassen würden. Solche Fragen wurden ebenso bevorzugt im kleinen und vertrauten Kreis gestellt. Eine Frage aber, wie sich Hans Hesele erinnerte, fiel nicht einmal in der vertrautesten Diskussionsrunde. Warum die jüdische Bevölkerung aus dem Stadtbild verschwand, fragte man nicht. Über mehrere Ecken erfuhr es der Einzelne unter der Hand ohnehin. Gerüchte gingen umher, genaue Aussagen gab es keine. Keiner wollte bei den offiziellen Stellen auffallen. 51 Nur eines war sicher, noch waren nicht alle Juden weg. Und das musste sich schleunigst ändern, besonders aus Sicht der neuen Stadtherren.
51 WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 43.
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Kapitel 17 Exekution – Phase III Oder: Die endgültige Vernichtung der ehemals drittgrößten jüdischen Gemeinde Österreichs
Baden hatte am 10. April 1938 das Ziel, eine totale Führergemeinde zu sein, nicht erreicht. Ebenso durfte sich die Stadt nicht mit dem Prädikat „judenfrei“ schmücken. Die Gewalt der Anschlusstage und die Gewaltorgie der Novemberpogrome führten nicht dazu, dass sich die Kurstadt ihrer jüdischen Bewohner entledigt hatte. Als die NS-Obrigkeit einsah, dass Gewaltexzesse mehr Schaden als Nutzen verursachten, für die Stimmung innerhalb der „Volksgemeinschaft“ abträglich waren und obendrein die Gefahr drohte, dass Anarchie die staatliche Autorität der Gewaltanwendung schmälern könnte, wurde wieder der „Rechtsweg“ eingeschlagen. Nach den Novemberpogromen bis zum Beginn der Deportationen im Oktober 1941 schwappte eine beispiellose Flut an antisemitischer Gesetzgebung über das Land. Über 480 Gesetze wurden in diesem Zeitraum erlassen, die einzig und alleine dem Zweck dienten, das Leben von Juden so unerträglich wie nur möglich zu gestalten.1 Es waren Gesetze/Vorgaben, die zwar von oben kamen, die allerdings der Initiative und Umsetzung von unten bedurften. Da nach den Novemberpogromen radikalen Nationalsozialisten die Möglichkeit verwehrt wurde, Juden wahllos halb tot zu prügeln, ihre Häuser zu plündern und ihre Gotteshäuser anzuzünden, mussten jene Verbrecher es auf eine andere Art und Weise kompensieren. Beseelt von enormem Judenhass, gingen sie dazu über, ihre jüdischen Mitmenschen auf offener Straße „wenigstens“ zu beschimpfen, anzupöbeln oder sonst wie zu demütigen. Hier gab es wahre „Spezialisten“, die sich dahingehend einen regelrechten Ruf erarbeitet hatten – auf diese werde ich im Kapitel 24 noch ausführlich eingehen. Von oben kamen also die theoretischen (gesetzlichen) Vorlagen, um den Judenhass einerseits juristisch zu umrahmen und andererseits wohltemperiert am Köcheln zu halten. So wurden der „Volksgemeinschaft“ Szenarien in Erinnerung gerufen bzw. wurden solche konstruiert, in denen jüdische Arbeitgeber sie entlassen oder sie sonst auf irgendeine Art und Weise diskriminiert hätten. Man spielte besonders gerne auf die Verbotszeit an, in der es vorgekommen war, dass NS-Sympathisanten ihre Anstellung, ihre Aufträge oder ihren Kundenkreis verloren. Dass es solche Fälle gab, war unbestritten. Allerdings wurden sie nun absolut gesetzt und propagandistisch instrumentalisiert, um ein Märtyrertum zu erschaf1
Vgl. LONGERICH, Heinrich Himmler, S. 493.
Kapitel 17 Exekution – Phase III
fen, inklusive einem legitimierten Anrecht auf Vergeltung. Allerdings wollte man nicht nur die niederen Instinkte bedienen und bloß Rachefantasien befeuern. Mit der Rassenlehre des 19. Jahrhunderts hatte der Nationalsozialismus eine Wissenschaft bei der Hand (eine Wissenschaft nach dem Verständnis des 19. Jahrhunderts, die auch damals bereits umstritten war), die dem Hass einen pseudowissenschaftlichen Anstrich verpasste. Man testete deutsches Blut, vermaß Nasen, Zehen, Finger und Schädel, um eine Minderwertigkeit einer konstruierten jüdischen Rasse mittels dem Anschein nach wissenschaftlicher Kriterien nachzuweisen. Wie sinnlos das alles war, war selbst vielen NS-Ärzten und NSWissenschaftlern durchaus bewusst. Auch die Ahnenforschung brachte nicht immer das gewünschte Ergebnis. Um das alles abzukürzen, sparte man sich oftmals die Arbeit und behauptete, dass die jüdische Rasse sich ohnehin nie mit der arischen Rasse vermischt hätte.2 Für pseudowissenschaftliche Aussagen und Untermauerungen gab es trotzdem noch genug Raum. So schrieb die Badener Zeitung, dass das Judentum in der Musik nie etwas Neues geschaffen, sondern Altbekanntes nur wiederholt bzw. pervertierte hätte. Charakteristisch jüdisch in der Musik waren demnach eine platte Sinnlichkeit und eine übertriebene Vergeistigung.3 Wie allgegenwärtig der Antisemitismus damals war, wird dadurch deutlich, dass er in die verschiedensten Metiers eingebunden wurde oder ganz nebenbei, in einem Nebensatz, Verwendung fand. Überall in unserem deutschen Lande pulsiert das Leben neu und frisch. Die Gesichter strahlen, nur die der Juden nicht. Aber wir, wir lachen und freuen uns, dass uns der Himmel so wunderbare Frühlingstage beschert.4 Wir lasen einen Absatz in der BZ kurz vor der Pseudoabstimmung des 10. April 1938. Bei solchen Zuständen verwunderte es regelrecht, dass es weiterhin Juden gab, die der Kurstadt nicht schon längst den Rücken gekehrt hatten und stattdessen weiterhin blieben. Manche schrieben sogar Bittbriefe an Stadt und Kreis, wie der 81-jährige Carl Friedrich Weiss im Juli 1939, der darum bat, gemeinsam mit seiner 79-jährigen Gattin wenigstens noch bis Ende August ihren Kuraufenthalt in Baden verbringen zu dürfen, um seine angeschlagene Gesundheit zu kurieren. Sie wohnten in der Villa Steinbruchgasse 6, und der Mann fügte nicht nur an, dass sein einziger Sohn im Ersten Weltkrieg gefallen war, sondern auch, dass sicherlich weder die Nachbarschaft noch die Mitbewohner des Hauses gegen unser Weiterverbleiben etwas einwenden werden.5 Die Kreisleitung antwortete fünf Tage später. Der Bitte konnte nicht entsprochen werden, er und seine Gattin mussten sich an die Weisung des Kreiswirtschaftsamtes halten. Allein solche Ansuchen bargen für die NS-Behörden und Parteistellen etwas Unverschämtes. Noch unverschämter wurde es, wenn Juden gar Forderungen stellten. So geschehen durch Leopold Hirschfeld, französischer Staatsbürger und Villenbesitzer in der 2 3 4 5
Vgl. GERLACH Christian, Der Mord an den Europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen (München 2017), S. 168. Vgl. BZ Nr. 2 v. 07.01.1939, S. 4. BZ Nr.26 v. 30.03.1938, S. 2. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe III.
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Albrechtsgasse 39. Im September 1938 stahlen SS und SA – im Zuge der im Kapitel 10 beschriebenen „Hilfsaktion“ für sudetendeutsche Flüchtlinge – allerlei Haushaltsgegenstände. Leopold Hirschfeld, der sich nur die Sommermonate über in Baden aufhielt und ansonsten in Straßburg lebte, errechnete aufgrund der Angaben seines Hausverwalters, Franz Rupp, eine Schadensumme von 78.000 Franc. Für die Kreisleitung war diese Summe eine lediglich jüdische Frechheit. Selbst die von der Kreisleitung errechneten Schäden von 400 RM wurden als zu hoch angesehen. Man tendierte Richtung 200 RM. Um das auch deutlich zu machen, wurde einigen der geraubten Gegenstände, verzeichnet in einer Liste, das Adjektiv ALT beigefügt.6 Es genügte jedoch bei weitem nicht, nur die jüdische Bevölkerung Badens mit Hass zu übersäen. Der Teil, der mit der antisemitischen Politik des Nationalsozialismus nicht einverstanden war, musste genauso mit Hass bedacht werden. Sympathien oder gar Hilfestellung für jüdische Mitmenschen waren vom NS-System nicht vorgesehen. Es musste eine rigorose Spaltung und Separation sowie Verachtung vorherrschen. Wer das missachtete, war Volksfeind, Volkschädling, Volks- und Rasseverräter und vieles mehr. Um sicherzustellen, dass sich Volksgenossen an die rassische Trennung hielten, griffen die NS-Behörden auf das bewährte Denunziantentum zurück. Die Privatsphäre bot schon lange keinen Schutz mehr. Sachwalter Norbert Knotzer, ein überzeugter Legitimist, pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu dem Juden Walter Schönfeld, was von Zellenleiter Lackinger als besonders interessant erachtet wurde. Wobei, es ist jedoch verständlich, wenn man weiß, dass Knotzer ein Verhältnis zu der Freundin Walter Schönfelds, der Jüdin Lizzi Schnürrdreher, einer früheren Angestellten des K.u.K. Hoffotographen hatte.7 Das alles war unanständig und undeutsch, moralisch verwerflich und gefährlich. Mehr als unanständig, sondern schon skandalös verhielt sich Hedwig Imenzer in den Augen von Josefa Höffler. Am 10. November gegen ½ 5 Uhr nachmittags begegnete ich dem Juden Skriwaczek […] in Begleitung der Hedwig Imenzer, die lachend an seiner Seite ging. Ich musste vom Gehsteig auf die Straße ausweichen, da sie keine Miene machten, mir auszuweichen. Empört über das Benehmen der Imenzer, die, wie ihre Mutter, von der NSV unterstützt wird, sagte ich im ruhigem Tone: „Frl. Hedi, wie können Sie lachend mit einem Juden auf der Straße gehen, wo diese unsere deutschen Männer niederschießen!“8 Danach fielen bereits Zuschreibungen wie „Gemeines Weib“ und „Schlampe, elende“. Die SS wurde verständigt, Hedwig Imenzer in ihrer Wohnung aufgesucht, zur Rede gestellt, doch klein bei gab sie nicht. In Anwesenheit der SS-Männer wiederholte sie sogar die zuvor getätigten Beleidigungen. Es herrschte zeitweise eine regelrechte Hysterie vor. Selbst bei absurden Verdachtsmomenten und Unterstellungen konnte ein nicht ungefährlicher Sturm der Entrüstung aus6 7 8
Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge, f.10 und auszugsweise zusammengefasst in MAURER, WELLENHOFER, S wie „Schädling“, S. 27–33. Zitat: StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Verfolgung und GB 052/Polit. Beurteilungen: Knotzer Norbert (geb. 1898). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Höffler Josefa (geb. 1893) – Hedwig Imenzer (geb. 1909).
Kapitel 17 Exekution – Phase III
gelöst werden. Es war ein gewöhnlicher Tag, als Gertrud Maurer plötzlich von einem Geschrei im Elternhaus und Gasthaus „Zum Reichsapfel“ aus ihrem Alltag gerissen wurde. Ein Gast des Lokals marschierte am Weg zum Pissoir an einem Türstock vorbei, auf dem ein Behälter aus Blech angebracht war. Seine Schlussfolgerung: In diesem Behälter wird der Talmud aufbewahrt. Sogleich begann er loszubrüllen, wem das Haus denn gehöre, dass es arisiert werden müsse und weshalb dies noch nicht erfolgt sei!9 Die Angelegenheit konnte gütlich geklärt werden – Gertrud Maurer nahm das Ding einfach ab – und es erwuchsen keinerlei Konsequenzen aus diesem Vorfall. Allerdings, nicht jedes Ereignis dieser Art, wo Volksgenossen mit Juden oder dem Judentum in Verbindung gebracht wurden, endete so glimpflich als kuriose Episode für die Nachwelt – dazu später und immer wieder mehr. Neben einer subjektiven Emotionalität, einer aufgehetzten „Volksgemeinschaft“ mit eingefleischtem Judenhass, ließ der NS-Staat aber auch die sachgerechte NS-Objektivität nicht aus den Augen und verlangte nach Zahlen und Fakten. Wieder bzw. noch immer wurden Listen von allen möglichen Partei- und staatlichen Stellen erstellt, die dann jeweils an die übergeordnete Instanz weitergeleitet wurden. So ermittelte die Ortsgruppe Baden II (Leesdorf ) im August 1939, dass es in ihrem Ortsteil noch sieben jüdische Haushalte geben würde. Nun musste geklärt werden, warum dies denn so sei? Um wen handelte es sich überhaupt? Wie lange würden die Juden dort noch sein? Wann seien sie endlich weg? Wann würden die Mietverträge gekündigt? Die mit der Schreibmaschine verfassten Listen und Korrespondenzen wurden mit mit Bleistift geschriebenen Anmerkungen aktualisiert: Namen wurden ergänzt, Namen wurden gestrichen. Erklärungen wurden hinzugefügt: Jude nicht mehr vor Ort! Nach Wien gegangen! Haus vollkommen judenfrei! Liste überholt! Ein entscheidender Aspekt bei all den Ermittlungen und Nachforschungen betraf den Besitz und das Vermögen der Badener Juden.10 Die Enteignungen waren 1939 noch lange nicht abgeschlossen, und die Stadtführung drängte darauf, dass dies endlich geschehe – man wollte endlich „judenfrei“ sein. Und die Chancen standen gut. Denn nach den Novemberpogromen waren Juden dazu gezwungen, ihren Besitz zu verkaufen – es war die totale Enteignung, es begann die Phase III. Der ohnehin kaum zugestandene Spielraum der „Verkäufer“ ging jetzt vollkommen gegen Null. Viele Besitzer waren ohnehin nicht mehr vor Ort. Ihre Immobilien wurden durch Treuhänder verwaltet, und anschließend verkauft oder der Zwangsversteigerung zugeführt. Aus dem Schriftverkehr zwischen Kreisleitung, Stadtführung und weiteren lokalen NS-Machtträgern geht hervor, dass nach den Novemberpogromen in Baden um die 330 Häuser als jüdisch gezählt wurden. Zwei Drittel davon waren im November 1938 bereist versiegelt worden. Die zahlreichen Immobilien weckten das Interesse der Stadtführung bzw. das Interesse war schon längst geweckt. Bürgermeister Franz Schmid, unterstützt durch maßgebliche Herren der Kreisleitung, stellte am 24. November 1938 unverhohlen fest, dass es nur im Interesse der Allgemeinheit gelegen wäre, wenn die Stadt Baden die im jüdischen Besitz befindlichen 9 Vgl. WIESER, Baden 1938, S. 33. 10 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe II.
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ca. 300 Häuser einstweilen kaufen würde. Und genauso unverhohlen wurde festgestellt: Es braucht wohl nicht erst betont zu werden, dass alle diese Objekte trotz der selbstverständlich erfolgenden Schätzungen durch Sachverständige weit unter dem wirklichen Wert zum Verkauf gelangen werden. Wenn nun diese Objekte an Private verkauft würden, würde dies eine ungerechtfertigte Bereicherung Einzelner auf Kosten der Allgemeinheit bedeuten, ferner würde der Häuserspekulation Tür und Tor geöffnet werden. Schmids Plan war einfach und genial. Die Stadt würde sich die besten Objekte behalten und den Rest gewinnbringend verkaufen – natürlich ohne Wucher. Es gab nur einen einzigen Haken: Die Stadt Baden verfügt natürlich nicht über diesen Betrag. […] Aufgrund der vorgeschilderten Umstände, ersuche ich [Schmid] nunmehr, der Stadt Baden die Genehmigung zur Aufnahme eines Darlehns bis zur Höhe von drei Millionen Reichsmark für den angeführten Zweck zu erteilen.11 Dass der angehende größte Schwefelkurort Großdeutschlands knapp bei Kasse war, war sowohl der Gau- als auch der Reichsleitung in Berlin schon des Öfteren angetragen worden. Baden probierte es jedoch immer wieder, um immer wieder vertröstet zu werden. Denn Geld floss keines. Stattdessen herrschten ein Durcheinander und der Eindruck, die Stadtgemeinde käme zu den jüdischen Häusern und Wohnungen wie die Jungfrau zum Kind. Im Dezember 1938 schrieb Schmid erneut an die Landeshauptmannschaft Niederdonau, dass die zahlreichen jüdischen Immobilien einen Segen für die Wohnungsnot Badens darstellten und man bereits den Miet- und Wohnungsmarkt bedienen würde, aber es fehlt eine Verfügung über die Verwaltung der Judenobjekte. Schließlich ging es um mehr als 300 Immobilien. Bis jetzt hätten die oberen Stellen ihm (Schmid) bloß mündliche Zusagen gegeben. Etwas Handfesteres wäre ihm deutlich lieber gewesen, denn es ist dadurch derzeit niemand da, der einerseits die fälligen Mietzinse, Steuern und Abgaben von den Parteien einkassiert, was aber vielleicht noch wichtiger ist, es ist auch niemand da, der für die Instandsetzung und Instandhaltung dieser Objekte, die immerhin einen großen Teil unseres Volksvermögens darstellen, verantwortlich ist.12 Während Schmid & Co. also mit leeren Taschen große Pläne schmiedeten, ließ er zugleich durchblicken, dass die Stadt nicht auf das bloße Anhäufen jüdischer Immobilien aus wäre, trotz Wohnraummangel. Die in Dauerschleife vorgetragene Floskel „Gemeinnutz vor Eigennutz“ durfte nicht zu kurz kommen, doch das war die Theorie. In der Realität war es die wirtschaftliche Rentabilität, die den Ausschlag gab. Die selbstverständlich der Gemeinde zustehenden jüdischen Immobilien mussten deswegen auf Herz und Nieren überprüft werden. Das ehemalige jüdische Waisenhaus in der Germergasse 48 wollte man so schnell als möglich abstoßen. Die Investitionen, um es auf Vordermann zu bringen, überstiegen den Nutzwert als mögliches Zinshaus. Ein Käufer war bereits gefunden, der Geschäftsreisende Hermann Cauder aus Wien, der sogar bereit war, 5.000 RM mehr zu bezahlen, als der Schätzwert von 30.000 RM ausmachte. Nun wartete die Gemeinde im 11 StA B, GB 052/Personalakten; Schmid Franz; Fasz. II; 1938 – Schmid an BH-Baden (24.11.1938). 12 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe I – Schmid an Landeshauptmannschaft Niederdonau (21.12.1938).
Kapitel 17 Exekution – Phase III
November 1939 nur mehr auf eine genehmigende Unterschrift von oben.13 Mit größter „Sorgfalt und Voraussicht“ agierte Schmid auch im Falle der „Erbschaft“ von Raoul Fernand Jellinek-Mercedes. Laut einem am 16. Februar 1939 aufgesetztem Testament – zwei Wochen nach seinem Suizid – sollte die Gemeinde die Immobilien Wienerstraße 39–45, Germergasse 26–28 und das gesamte Grundstück Germergasse 24 erhalten. Im Gegenzug dafür musste sich die Gemeinde dazu verpflichten, seiner Ehegattin, Leopoldine Jellinek-Mercedes, eine monatliche Rente von 350 RM auszubezahlen. Falls die Gemeinde die Erbschaft nicht annehmen würde, würde sämtlicher Besitz an seine Ehefrau fallen. Zuerst folgte die Recherche, ob das Testament rechtsgültig zustande kam. Als nächstes stellte sich die Frage, ob denn ein Jude der Stadtgemeinde solche Auflagen überhaupt machen durfte. Verkomplizierend kam hinzu, dass der Betroffene sich nie als Juden gesehen hatte. Der Landrat verlangte dahingehend im April 1939 Aufklärung, da die Annahme von Schenkungen und letztwilligen Verfügungen von Juden als mit den Grundsätzen des nationalsozialistischen Staates nicht vereinbar erklärt wurde, ist zunächst die Vorfrage der rassischen Herkunft des Erblassers zu klären. Schmid antwortete drei Tage später und gab kund, die Erbschaft von Anfang an abzulehnen, weil sie mit einer lebenslänglichen Rente für die Witwe belastet war.14 Und laut ihm musste alles korrekt abgewickelt werden, Fallstricke jeglicher Art mussten vermieden werden. Damit war er ganz auf der NS-Propaganda-Linie. Niemand darf an den Arisierungen verdienen! – verkündete der Reichskommissar für die Wiederbereinigung Josef Bürckel. Auch er gab sich als Kämpfer für eine gerechte „Volksgemeinschaft“, keine Ausbeutung, kein Wucher, Neuvermietungszuschläge waren nicht zulässig, Mieterhöhungen zwar erlaubt, aber nicht gerne gesehen.15 Aber wie liefen diese ganzen „Arisierungen“ und Liquidierungen denn eigentlich ab? Wer durfte dann überhaupt arisieren? Welche Voraussetzungen waren erforderlich? Sehen wir uns im Folgenden einige Aspekte an, um diese Fragen anhand von Beispielen zu beantworten.
Die Aspiranten Um überhaupt an ein im NS-Jargon sogenanntes Judenhaus zu kommen, bedurfte es zuallererst einer Bewerbung und einer anschließenden Beurteilung durch die zuständigen NS-Stellen. Gewisse Kriterien sollten erfüllt sein. Die Bewerber mussten selbstverständlich Arier sein sowie anständige Volksgenossen, gegen die weder grobe politische noch moralische Verfehlungen vorliegen durften. Eine Parteimitgliedschaft war nicht zwingend, doch, wenig überraschend, äußerst hilfreich. Genauso hilfreich waren illegale Aktivitäten, vor 13 Vgl. NÖLA, BH Baden, II – IV 1939, GR. II-5 1939; A 1019 – Hermann Cauder (geb. 1902). 14 NÖLA, BH Baden, II – IV 1939, GR. II-5 1939. 15 Vgl. BZ Nr. 19 v. 08.03.1939, S. 3.
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allem nachweisbare illegale Aktivitäten während der Verbotszeit. Die Verdienste um die NS-Bewegung, die auf sich genommenen Opfer, wurden dann schriftlich in Szene gesetzt. Ich bitte daher allerhöflichst, mir in den vielen leerstehenden Häusern (jüdisch) über die Sommermonate eine Wohnung zuweisen zu wollen. […] Ich tue es nicht gerne, jedoch in Anbetracht meiner Familie verweise ich auf meine Illegale Tätigkeit in Baden hin, und bitte mir in Bezug darauf eine kleine Befürwortung angedeihen zu lassen.16 Höfliche Ausdrucksweise, kein Protzen, etwas Demut sowie gleichzeitig eine dezente Hinführung zum Wesentlichen machten sich allesamt gut in einem „Bewerbungsschreiben“ um ein „Judenhaus“. Nicht von Nachteil waren bei „Arisierungen“ Fürsprecher. So interessierte sich im Juni 1942 die Firma „Gebrüder Schneider“ für die Liegenschaft der Emaillierwerke Werke „David Anavi“ in der Dammgasse 26. Die Gründe waren zuvor von der Stadtgemeinde Baden erworben worden. Für den Erwerb der Liegenschaften durch die Firma „Gebrüder Schneider A.G. Wien, VI“ machte sich die Wehrwirtschaftsinspektion XVII stark und bat darum, bei den Verhandlungen großmöglichstes Entgegenkommen zu zeigen.17 Kein Wunder, denn das Werk „Gebrüder Schneider“ produzierte schwerpunktmäßig für die Luftwaffenfertigung.18 In manchen Fällen musste der Antragssteller nicht viele Worte verlieren und die Behörden nicht lange überlegen. Mühsame Beurteilungsprozedere wurden hintangestellt bei Leuten wie Andreas Kratochwill oder Heinrich Bozek, Männern des Exekutivkomitees. Sie mussten nicht groß argumentieren, weshalb und wieso ihnen ein Judenhaus zustehe. Kratochwill war 1936 aufgrund von Sprengstoffanschlägen zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilt worden. Von der Strafe hatte er 1 Jahr, 10 Monate und 22 Tage abgesessen. Das reichte vollkommen, dass ihm die Trafik in der Gutenbrunnerstraße 6 sicher war.19 Bozek war zu fünf Jahren Kerker in Karlau verurteilt worden. Ihm winkte das Möbelgeschäft Reiß in der Wassergasse 13 inklusive einer Erwähnung in der Badener Zeitung, unter der Überschrift: Für einen hochverdienten SA.-Mann.20 Doch so problemlos lief das nicht immer ab. Wie bei den Mitgliedern des Exekutivkomitees könnte man annehmen, dass auch die SA als Gliederung aus dem Vollen geschöpft hätte. Dem war nicht so. Die Badener SA-Standarte – nicht zu verwechseln mit der SABrigade, die ebenso in Baden stationiert war – verlangte das Haus der jüdischen Baroness Irma Mayer-Ketschendorf, Weilburgstraße 18, welche sich seit dem Anschluss nicht mehr in Baden befand.21 Im April 1940 wurde es der SA-Standarte 84 durch die Reichsstatthalterei zugewiesen. Als „Miete“ wurde eine jährliche Zahlung von 4000 RM verlangt. Die SA 16 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Petsche Josef (geb. 1892). 17 StA B, GB/052 Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz – Wehrwirtschaftsinspektion an die Gemeinde Baden (30.06.1942). 18 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/time (10.04.2023). David Anavi (geb. 1865) gelang die Flucht nach Argentinien. 19 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Kratochwill Andreas und NSDAP-Karteikarten groß. 20 BZ Nr. 71 v. 03.09.1938, S. 5 und StA B, NSDAP-Karteikarten groß: Bozek Heinrich. 21 Meldezettel: Irma Mayer-Ketschendorf (geb. 1866).
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konnte/wollte sich das nicht leisten, und es begann ein reger Schriftverkehr zwischen den beiden Institutionen bezüglich der Finanzierung. Im Jänner 1941 gab es immer noch keine ordnungsgemäße Zuweisung des Gebäudes Weilburgstraße 18 an die SA.22 Da sie dennoch dort zu finden war, kann von einer „Schwarz-Nutzung“ ausgegangen werden bzw. daran, dass zuständige Stellen einfach weggesehen haben, was wiederum dem deutschen Sinn nach Zucht und Ordnung widersprochen hätte. Wir sehen, obwohl eine ähnliche Ausgangssituation vorlag, musste in der Folge das Ergebnis nicht gleich ausfallen. Grundsätzlich bestand auch kein Automatismus, dass nur Parteimitglieder zum Zuge kommen durften oder nur, wenn gewichtige Fürsprecher wie die Wehrmacht im Hintergrund ihre Strippen zogen. Das Ehepaar Helene und Gustav Neweklovsky arisierte das Haus Schmidtgasse 14, gehörig Louise Blumenfeld und Franziska Weintraub. Weder Helene noch Gustav Neweklovsky waren Parteimitglieder. Helene Neweklovsky war nicht einmal Mitglied irgendeiner Gliederung. Beide waren erst 1940 nach Baden zugezogen, sodass man nichts Konkretes über sie wusste, außer dass sie klerikal eingestellt waren. Gustav Neweklovsky war sogar dermaßen kirchlich gebunden, dass er von Ortsgruppenleiter Rainer von Reinöhl seines Blockleiterpostens entbunden werden musste.23 Nicht von da, keine Parteimitgliedschaft und politisch nicht einwandfrei – probieren durfte es scheinbar jeder, und manchmal klappte es. So dachten wahrscheinlich auch Johann und Karoline Rampl, als sie sich um die Liegenschaft Eichwaldgasse 8 von Eugen Lemberger und seiner arischen Ehefrau Barbara Lemberger bewarben. Sie waren keine Parteimitglieder, bei keiner Gliederung dabei, in der Vergangenheit hatten sie mit den Kommunisten sympathisiert, gaben keinerlei Spenden und vor dem Anschluss regelmäßig mit Juden verkehrt. Dennoch versuchten sie ihr Glück. Erwartungsgemäß wurden sie abgelehnt. Einzig, dass sie keine gehässigen NS-Gegner waren, war ein ihnen zugestandener Pluspunkt.24 Fassen wir zusammen, so konnte „jeder“ sein „Arisierungs-Glück“ versuchen. Und es wurde probiert, sodass für die der „Arisierung“ zugeführten Immobilien – um im NSSprech zu bleiben – stets mehrere Interessanten parat standen. Gab es keine Bedenken bezüglich politischem und moralischem Habitus, mussten die zuständigen Stellen jeden überprüfen und die jeweiligen vorgebrachten Ansprüche abwägen. Mehrere Interessenten hatte zum Beispiel das Haus Marchetstraße 70 des jüdischen Besitzers Adolf Abraham Gottfried.25 Ursprünglich war das Haus am 30. September 1938 der SA-Brigade 93 zugeschanzt worden.26 22 Vgl. NÖLA; RStH ND Ia-10 K 58/071–1940/41 – Baden Weilburgstraße 18 und StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. I; SA-Standorte. 23 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. II; Schmidtgasse 14 – Helene Neweklovsky (geb. 1908), Gustav Neweklovsky (geb. 1907) und SCHÄRF, Jüdisches Leben, Arisierungstabellen. 24 Vgl. NÖLA; Arisierungsakten: Lemberger Eugen/Johann Rampl, Stammzahl 4221 – Johann (geb. 1887), Karoline Rampl (geb. 1888), Eugen Lemberger (geb. 1877), Barbara Lemberger (geb. 1875). 25 Adolf Abraham Gottfried (geb. 1864). 26 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. I; Marchetstraße 70 – Kreiswirtschaftsamt an SA Briga-
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Im März 1941 erfolgte eine gerichtlich angesetzte Zwangsversteigerung. Jeder Bewerber nannte unterschiedliche Gründe, weshalb er es verdienen würde, in den Besitz dieses Hauses zu gelangen. Hugo Roigk, der in Wien vier Häuser jeweils zur Hälfte besaß, wollte offensichtlich ein ganzes in Baden sein Eigen nennen dürfen, und zudem wollte er das Grundstück nur kaufen, um nach Baden übersiedeln zu können, wegen meiner Gelenkskrankheit.27Als NichtBadener müsse er ein mühsames Pendeln in Kauf nehmen. Eine Bleibe vor Ort würde die Heilungschancen mit ziemlicher Sicherheit erhöhen. Einem weiteren Bewerber, dem hiesigen Weinhauer Leopold Malina, würde der Erwerb den Vorteil bieten, meinen Weingartenbesitz um 2.5 ha zu erweitern und außerdem einen Garten von 6 ha zu erwerben, welche ich mit meinen 3 heranwachsenden Kindern und meiner Ehegattin leicht bewirtschaften kann.28 Interesse äußerte auch der Wiener Rechtsanwalt Dr. Hans Zallinger-Thurn. Allerdings zeigte er sich leicht pikiert, dass ein polizeiliches Sittenzeugnis von ihm verlangte wurde, bemerke ich doch, dass ich schon von Berufswegen unbescholten sein muss, so dass sich die Vorlage eines Sittenzeugnisses, dessen Beschaffung ziemlich zeitraubend ist, vielleicht erübrigt.29 Das Rennen machten schließlich das Landwirte-Ehepaar Franz und Hermine Knobl aus Siebenhirten.30 Die Verschlagenheit der Argumentation und die Selbstverständlichkeit, Menschen ihr Hab und Gut zu rauben, ist kaum zu überbieten, doch sprachlicher Usus in damaliger Zeit und in den Augen der NS-Behörden nichts, an dem Anstoß genommen wurde. Der Kummer lag woanders. Die Badener Zeitung wurde nicht müde, in Erinnerung zu rufen, dass „Arisierungen“ gewissen Regeln unterstanden. Wenn sich auch in Baden derzeit noch viele Häuser in jüdischem Besitz befinden, so darf nicht außer Acht gelassen werden, dass dieser Besitz der Arisierung zugeführt wird, und es sich daher auch in diesen Fällen um die Erhaltung von Volksvermögen handelt. Ein planloses Handeln gegen diesen Besitz bedeutet nicht nur eine allgemeine Schädigung, sondern auch einen Verstoß gegen die in dieser Richtung vorliegenden Weisungen.31 Planvoll, ordentlich, sauber – so sah die perfekte „Arisierung“ aus. Schauen wir uns ein paar Beispiele an, wie systematisch und geordnet es in der Wirklichkeit abgelaufen ist bzw. ablaufen konnte.
Die Komplikationen Um an das Haus der Jüdin Martha Kriwaczek in der Ferdinand Pichlergasse 20 bewarben sich im Oktober 1940 das Ehepaar Fritz und Leopoldine Hampel aus Tribuswinkel. Sie hatten eine politische und charakterliche Bedenkenlosigkeit vorzuweisen und zahlten den
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de93 (26.08.1938). Ebd. – Hugo Roigk (geb. 1877) an den Landrat (01.03.1941). Ebd. – Leopold Mailina (geb. 1896) an den Landrat (03.03.1941). Ebd. – Hanns Zallinger-Thurn (geb. 1900) an den Landrat (03.03.1941). Vgl. ebd. – Franz Knobl (geb. 1884), Hermine Knobl (geb. 1885). BZ Nr. 10 v. 04.02.1939, S. 8.
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Preis von 8.309,65 RM. Doch im Jänner 1941 erhielten sie plötzlich die Absage. Ihrem Ansuchen auf den Erwerb der Liegenschaft konnte nicht entsprochen werden, teilte ihnen die Reichsstatthalterei Niederdonau mit. Das Haus gehe an das Ehepaar Josef und Therese Pürgy aus Strengberg (Bezirk Amstetten). Das Ehepaar Pürgy hatte seine Besitzungen in Linz an die „Alpin Montan A.G. Hermann Göring-Werke“ abtreten müssen, die wiederum verpflichtet war, für Ersatz zu sorgen oder den Verkaufspreis in bar auszuzahlen. Obwohl das Ehepaar Hampel bereits den gesamten Kaufpreis bezahlt und einen Kaufvertrag in der Hand hatte, musste es nun erleben, wie weit es mit dem Rechtsstaat im NS-Staat her war. Die angekündigte planvolle Herangehensweise schien recht einseitig auslegbar zu sein. Allerdings hatte das Ehepaar Hampel Kreisleiter Hajda auf seiner Seite. Er intervenierte, bestätigte nochmals dessen vollkommene Einwandfreiheit, verwies auf die baldige Niederkunft von Nachwuchs und rief das prekäre Ein-Zimmer-Wohnverhältnis bei der Schwiegermutter in Erinnerung. Es folgten Berufungen, Abfragen, Beurteilungen, Rechtsanwälte wurden konsultiert und die verschiedensten Behörden bemüht. Am Ende kam das Ehepaar Hampel zu dem Haus. Nach 1945 wurde der Fall um eine, plötzlich vermehrt typische, „Nach-1945-Facette“ reicher. Laut dem Rechtsanwalt der Eheleute Hampel, Dr. Otto Scheff, stand das Haus der Martha Kriwaczek vor der Zwangsversteigerung, und seine Mandanten hatten noch vor der Zwangsversteigerung das Objekt erworben. Erst Jahre später haben Sie unter unendlichen Schwierigkeiten das Haus bekommen. Aus dem Preis und der Art der Erwerbung geht wohl klar hervor, dass es sich hier um keine sogenannte „Arisierung“ handelt.32 Aus den Ariseuren wurden schlichte Hauskäufer. Es lag demnach keine „Arisierung“ vor, sondern ein regulärer Kauf. Solches treffen wir in den Quellen hier und da an. Schließlich gab es Kaufanbahnungen und Verkaufsabsichten, die noch vor dem Anschluss ihren Anfang nahmen. Als der umfangreiche Besitz von Hermann Bettelheim der „Arisierung“ zugeführt werden sollte, erklärte Franz Eckert, der schon 1937 das Haus Weilburgstraße 61 erworben hatte und nun auch den restlichen Grund und Boden zu erwerben gedachte, dass es sich hier nicht um eine beabsichtigte Vermögenserwerbung im Zuge der jetzt üblichen Arisierungen handelt, sondern um eine rein wirtschaftliche Transaktion, deren Notwendigkeit bereits seit zwei Jahren als begründet erscheint. Im Übrigen steht das Eigentum des Juden Bettelheim nur rein am Papier, da, wie oben erwähnt, infolge der Überlastung des Grundstückes […] nicht einmal ein Grashalm mehr dem ursprünglichen Besitzer gehört.33 Um eine nachträgliche Genehmigung durch die Vermögensverkehrsstelle kam er dennoch nicht herum. Legal angebahnte Kaufgeschäfte vor 1938 waren durchaus anzutreffen, es waren dadurch keine „Arisierungen“, aber jene Fälle wurden natürlich durch den Anschluss und die folgende Gesetzgebung deutlich „modifiziert“ – sehr zu Ungunsten des jüdischen Besitzers. 32
Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung I, Fasz. I; Ferdinand-Pichler-Gasse 20 – Fritz Hampel (geb. 1900), Leopoldine Hampel (geb. 1913). Martha Kriwaczek (geb. 1866) gelang die Flucht in die Schweiz, vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023). 33 StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. I; Liegenschaft E.Z. 1145 Rauhenstein.
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Ein Beispiel wäre die Machetstraße 43–45. Bei dem Käufer handelte es sich um den Berliner Kaufhaus- und Realitätenbesitzer Johannes Horn, der 1940 nach Baden übersiedelte. Er selbst bezeichnete dies als einen legalen Kauf, da die Villa bereits aufgrund der massiven Verschuldung der Besitzer-Familie Gröbel lange vor 1938 zum Verkauf stand. Der Bankier Julius Gröbel hatte während der Wirtschaftskrise 1929 sein „gesamtes“ Vermögen verloren. Sein Sohn, Harry Gröbel, als Erbe der Villa, weilte derweilen in den USA, wo er den Namen Reginald Le Borg sowie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annahm und sich als Filmregisseur einen Namen zu machen gedachte.34 Horns Version des legalen Erwerbes wird auch von mehreren Zeugen bestätigt.35 Er selbst war nie Parteimitglied, was er als zusätzliches Argument anführte, dass es sich dadurch um keine „Arisierung“ handeln könnte, da seiner Meinung nach nur Parteimitglieder arisieren durften – was nicht den Tatsachen entspricht. Nachdem Julius Gröbel 1939 verstarb, seiner Ehefrau Regina Gröbel die Flucht in die USA gelang, stand dem Verkauf der Villa – Reginald Le Borg wurde durch seine Tante Josefine Haim vertreten – an Johannes Horn nichts mehr im Wege.36 Doch plötzlich hieß es, die Immobilie solle der „Arisierung“ zugeführt werden. In so einem Fall hätte sich Horn bewerben müssen. Um dem zuvorzukommen, fasste Horn den Plan, noch vor „Arisierungsausschreibung“ einen regulären Kaufvertrag – so regulär wie er 1940 zwischen einem Arier und einem Juden sein mochte – mit Reginald Le Borg auszuhandeln. Laut eigener Aussage bot er statt den geforderten 80.000 RM beinahe 100.000 RM an – genau genommen 99.400 RM. Reginald Le Borg ging darauf ein, doch der Kaufvertrag wurde durch die Kreisleitung torpediert. Daraufhin nutzte Horn seine Kontakte in Berlin, was letztendlich Gauleiter Hugo Jury dazu veranlasste, sich im Sinne Horns einzuschalten.37 Der Fall Marchetstraße 43–45 hinterließ einen umfangreichen Akt. Jedenfalls erwarb Horn das gesamte Areal von 10.707 m² inklusive der Villa um knapp 100.000 RM – bei einer Wertschätzung von 200.000 bis 250.000 RM.38 Wenn auch keine „Arisierung“ im klassischen Sinne vorlag, die nationalsozialistische Machtübernahme gab dem Kaufverfahren sicherlich beschleunigenden Impetus. Der Rechtsanwalt Dr. Ernst Schmid brachte es auf den Punkt: Es bleibt außer Zweifel, dass Horn das Haus bedeutend niederer erstanden hat, als
34 Vgl. ARNBORN Marie-Theres, Die Villen von Baden. Wenn Häuser Geschichten erzählen (Wien 2022), S. 157–163. 35 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Horn Johannes (geb. 1883); Mappe IV – Polizeidirektion Wien an Sicherheitsdirektion Niederösterreich (10.11.1944) und Aussage Hermine Köllner (29.06.1945). 36 Reginald Le Borg (1902–1989). 37 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Horn Johannes; Mappe V – Ernst Schmid an Bezirkshauptmannschaft Baden Sicherheitsreferat (03.12.1945) und Horn Niederschrift (28.11.1945). 38 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Horn Johannes (geb. 1883); Mappe IV – Stadtgemeinde Baden an Dr. Ernst Bausek (12.06.1947) und Mappe V – Stadtgemeinde Baden an Bezirkshauptmannschaft Baden (13.12.1945).
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er es hätte bezahlen müssen, wenn Reginald Le Borg nicht Jude gewesen wäre.39 Außerdem, so die Andeutungen Alois Klingers, habe Johannes Horn bei solchen Vorgehensweisen schon eine gewisse Routine, weil er als Direktor unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft schon in Deutschland vor 1938 das jüdische Kaufhaus Jonass & comp. in Berlin Alexanderplatz Nr. 2 unter arglistiger Täuschung und förmlicher Erpressung an sich gebracht habe.40 Der Fall ist unter einem weiteren Gesichtspunkt interessant. Die vollkommen widersprüchliche Charakterisierung von Johannes Horn durch sein Umfeld. Der Kreisleitung war er im März 1943 irgendwie suspekt. Er macht den Eindruck eines ausgesprochenen nüchtern (amerikanisch) denkenden Geschäftsmannes und ist in seiner politischen Haltung äußerst vorsichtig und berechnend. Gegen die n.s. Bewegung verhält er sich gänzlich teilnahmslos, wenn nicht ablehnend. Über sein soziales und sittliches Verhalten ist nichts Nachteiliges bekannt. Er schließt sich und sein Haus, das angeblich 18 Wohnräume zählt und nur von ihm und seiner Frau bewohnt wird, möglichst von der Außenwelt ab.41 Während es vor 1945 etwas geheimnisvoll um ihn stand, ging seine Charakterisierung nach 1945 in zwei gegenläufige Richtungen. Johannes Horn beabsichtigte nämlich nicht nur die Österreichische Staatsbürgerschaft zu erlangen, sondern sich der Anklage der „Arisierung“ zu erwehren. In den Augen der von ihm genannten Befürworter war er ein Mensch grundanständiger Gesinnung, der sich nichts sehnlicher als die baldige Niederlage des Dritten Reiches gewünscht hatte, der offen darüber sprach und offen darüber sprechen ließ. Des Weiteren wäre er ein achtbarer Kaufmann, und hätten wir österreichische Unternehmer gehabt, die sozial und politisch so dachten und handelten, wie ich es bei Herrn Horn gesehen habe, dann wäre es um uns besser bestellt gewesen.42 Horn selbst wandte sich im Juli 1945 an Karl Renner höchstpersönlich, wo er auf seine Sozialisierung einging, schon vom Elternhaus her, mit dem Gedankengut des Sozialismus vertraut, bin ich seit 1909 bis zum Jahre des Verbots 1933 Mitglied der sozialdemokratischen Partei Deutschlands gewesen. Es ist daher natürlich, dass ich bei dieser Erziehung und Einstellung niemals Mitglied der NSDAP geworden bin, deren Gewaltmethoden gegen Andersdenkende ich frühzeitig verabscheute und hassen lernte. Er schrieb von persönlichen Bekanntschaften zu Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Walter Rathenau. Nach der Machtübernahme hätte seine Abneigung dermaßen zugenommen, dass er dem Altreich den Rücken gekehrt hätte, er wählte deshalb dieses alte Kulturland Oesterreich, dem meine Liebe und Sehnsucht seit langem gehört, zum Wohnsitz und nahm meinen gesamten Haushalt und mein Vermögen dahin mit, weil ich erstens voraussah, dass am Ende dieses Krieges dessen Unabhängigkeit wieder her-
39 StA B, GB 052/Personalakten: Horn Johannes; Mappe V – Ernst Schmid an Bezirkshauptmannschaft Baden Sicherheitsreferat (03.12.1945). 40 Ebd. – Stadtgemeinde Baden an Bezirkshauptmannschaft Baden (13.12.1945). 41 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Horn Johannes; Mappe IV – Kreisleitung an den Sicherheitsdienst SD (11.03.1943). 42 StA B, GB 052/Personalakten: Horn Johannes; Mappe V – Leumundszeugnisse (14.07.1945), Zitat von Maria Leb. Weiter Zeugen: Rechtsanwalt Dr. Ernst Bausek und Dr. Alois Wagenbichler.
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gestellt werden würde, zweitens aber widerstrebte meine Natur, je älter ich wurde, immer mehr dem Nazi Bürokratismus und Militarismus.43 Die Stadtgemeinde Baden konnte dem nicht ganz zustimmen. Horn beschäftigt schon in seiner krankhaften Art und Weise alle nur irgendwie möglichen Behörden, Ämter und deren Organe mit seinen Anzeigen, Vorsprachen, Gesuchen etc. Hierzu muss noch bemerkt werden, dass die Villa Horn ein förmlicher Treffpunkt vieler Pg. war […], weil Schiebereien etc. stattgefunden hätten.44 Johannes Horn bildet ein förmliches Schulbeispiel eines lästigen Ausländers, der in Österreich am Wiederaufbau nirgends mitarbeitete. 1.) weil er infolge seines Alters von 63 Jahren und eines angeblichen Schlaganfalles manuelle Arbeit nicht leistet & 2.) sich lieber als Kriegs- und Nachkriegsgewinner betätigt und dadurch versucht, sich in Österreich förmlich zu mästen. Dieses Schreiben ist nicht unterschrieben, aber der Ausdruck lässt eindeutig auf Klinger schließen. Es ist sein Stil, wenn wir weiterlesen, dass der frühere Polizeichef Alfred Gutschke, samt Entourage, Stammgast der Villa Horn gewesen wäre, weil er Wein, Weib und Schmarotz nicht verachtet hat […] ganz in der Gewalt der Eheleute Horn sich befunden habe, woselbst sie an Festessen, Trinkgelagen etc. teilgenommen haben. Weiter ging es mit Anschuldigungen, wonach die Eheleute Horn österreichfeindlich eingestellt, Denunzianten sowie Querulanten gewesen wären, sich ihren Bediensteten gegenüber asozial und herrschsüchtig verhielten und allein 35 Tonnen Heizmaterial nur für ihre Villa beanspruchten. Die Bewohner von Baden finden es förmlich unfassbar, dass ein Berliner vom Schlage Horn, der immer über Österreich geschimpft hat und hier nichts arbeitet, die Staatsbürgerschaft in Österreich auf einmal anstrebt […]. Abschließend hieß es: Eine detaillierte Beschreibung über Horn & Genossen würde zu umfangreich werden und Baden ist kein Asyl von derlei Ausländern.45 Und dann gab es noch die Charakterisierung durch Horns Exfrau, die, gelinde gesagt, wenig schmeichelhaft ist. Aber schmutzige Wäsche dieser Art war und ist an keine Politik oder Ideologie gebunden und deswegen irrelevant. * Kommen wir wieder von den verworrenen „Arisierungen“, die die Behörden nach 1945 beschäftigten, zu den verworrenen „Arisierungen“, die die Behörden nach 1938 beschäftigten. Einen Vorgeschmack bot der anfänglich vorgestellte Fall Hampel. Alles schien nach Plan zu laufen, da pfuschten die Behörden dazwischen. Ähnlich war es bei Leopoldine Rubel. Sie trat im Februar 1939 als Interessentin für das Haus des jüdischen Oberstabsarztes Dr. Franz Fischer und dessen Gemahlin Louise Fischer (Kaiser Franz Joseph-Ring 32) 43 Ebd. – Horn an Karl Renner (23.07.1945). 44 StA B, GB 052/Personalakten: Horn Johannes; Mappe IV – Stadtgemeinde Baden an Dr. Ernst Bausek (12.06.1947). 45 StA B, GB 052/Personalakten: Horn Johannes (geb. 1883); Mappe V – Stadtgemeinde Baden an Bezirkshauptmannschaft Baden (13.12.1945).
Kapitel 17 Exekution – Phase III
auf.46 Der Kaufpreis betrug 18.000 RM, die Schätzung wurde von Stadtbaumeister Robert Schmidt erstellt. Franz Fischer war bereits von der Gestapo aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Das kostete ihn 14.000 RM. Die „Arisierung“ seines Besitzes wurde dann im Namen der Leopoldine Rubel durch den Rechtsanwalt Franz Eckert durchgeführt. Schmid, als Bürgermeister, hatte nichts dagegen einzuwenden, und auch die Kreisleitung gab grünes Licht. Leopoldine Rubels Argumentation konnten sie nur beipflichten. Einerseits wird die unverzügliche Ausreise eines jüdischen Ehepaares bewirkt, andererseits fließen namhafte Geldbeträge den Reichsfinanzen zu. Aus diesem Grunde scheint auch vom Gesichtspunkt des öffentlichen und wirtschaftlichen Interesses der beabsichtigte Ankauf zweckmäßig.47 Im März 1939 war es so weit, und alles schien nach einer glatt durchgeführten „Arisierung“ auszusehen. Doch im Juni 1940 wollte die Gestapo bei der „Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien“ in Erfahrung bringen, wie es mit den Vermögenswerten des Oberstabsarztes Dr. Franz Fischers in Baden aussehe. Im September desselben Jahres erfolgte die Erinnerung seitens der Gestapo, da sie offenbar keine Antwort erhielt. Im Dezember 1940 wollte die Gestapo wissen, wo der Kaufpreis abgeblieben wäre. Im Februar 1941 verwies die Reichsstatthalterei auf die Devisenstelle Wien. Es schien, dass nun der gesamte Besitz von Franz Fischer, der sich in Wien aufhielt, beschlagnahmt wurde und offenbar „niemand“ gewusst hatte, dass ein Teil bereits verkauft war.48 Für die neuen Besitzer bzw. Ariseure war das mit einer unguten Unsicherheit verbunden. So etwas sprach sich herum. Bedeutete das etwa, dass nicht einmal ein Kaufvertrag eine Garantie bot? Wo blieb die groß angekündigte deutsche Ordnung? Komplizierter wurde es auch, wenn unklare Besitzverhältnisse vorherrschten. Nicht minder unübersichtlich erwies sich der Fall Kaiser Franz Joseph-Ring 5. Die ursprüngliche Besitzerin, Brunhilde Biziste, hatte 1931 ihr Haus an das jüdische Ehepaar David und Frederike Kaufer unter der Bedingung verkauft, dass sie weiterhin ein Wohnrecht besitze und ihr eine lebenslängliche Leibrente ausbezahlt werde. Doch im Februar 1939 befand sich David Kaufer in Dachau, seine Ehefrau war verschollen und der ursprüngliche Verwalter verstorben. Der Kreiswirtschaftsberater Dr. Otto Matulke hatte sich dem Ganzen als selbst vorgeschlagener Verwalter angenommen, um wieder für ordentliche Verhältnisse zu sorgen.49 Denn aufgrund der äußeren Gegebenheiten erhielt die 79-jährige Brunhilde Biziste keine Leibrente mehr und blickte einer ungewissen Zukunft entgegen.50 Im Falle einer „Arisierung“ musste sie mitbedacht werden, zumal die Zahl der Ariseure stetig zunahm und die Besitzverhältnisse sowie die Frage, wie es mit der Verpflichtung zur Leibrente weiter-
46 Franz Fischer (geb. 1889), Louise Fischer (geb. 1902). 47 StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. I; Kaiser Franz Josef-Ring 32 – Leopoldine Rubel (geb. 1898) an das Kreiswirtschaftsamt (20.02.1939). 48 Vgl. ebd. – Beschlagnahmungsverfügung (26.02.1941). 49 Brunhilde Biziste (1860–1941), David Kaufer (geb. 1883), Friederike Kaufer (geb. 1890), Otto Matulke (geb. 1898). 50 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. I; Kaiser Franz Josef-Ring 5.
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gehen sollte, vorerst ziemlich unklar waren. Zumal diese Vereinbarung damals mit einem jüdischen Vertragspartner ausverhandelt worden waren. Und erinnern wir uns zurück an das Testament von Raoul Fernand Jellinek-Mercedes – hatten solche Übereinkünfte überhaupt noch Gültigkeit? Juristische Spitzfindigkeiten, behördliche Verworrenheit bzw. administrative oder parteipolitische Schlamperei konnten dazu führen, dass „Arisierungen“ sich über Monate wenn nicht Jahre hinzogen und damit der geforderten planvollen und geordneten Vorgehensweise zuwiderliefen. Ein weiterer Grund, weshalb nicht alles nach Plan lief, lag an den Volksgenossen bzw. den Ariseuren selbst. Die Interessenten waren schließlich Konkurrenten. Und wenn es darum ging, Häuser, Wohnungen oder Baugründe zum Schleuderpreis zu erwerben, da war es nicht weit her mit der so oft beschworenen „Volksgemeinschaft“. Dann menschelte es wieder gehörig. Um unliebsame Konkurrenz aus dem „Arisierungsprozess“ zu verdrängen, brauchte es nicht viel. Leben Sie wohl, gnädige Frau, ich komme noch öfters auf ein Plauscherl.51 Mit dieser Aussage hatte sich in den Augen von Ludmilla Preisz ihre Konkurrentin Alma Schwarz aus dem „Arisierungsrennen“ um das Haus Palffygasse 14 der Jüdin Marie Schönfeld katapultiert. Für Preisz war das ein Beweis für einen zu freundschaftlichen Verkehr mit Juden. Unterstützung erhielt sie durch die Ortgruppe Baden-Stadt, die Alma Schwarz moralische und politische Defizite nachsagte. Das Kreiswirtschaftsamt reagierte und widerrief Schwarz‘ Unbedenklichkeitserklärung. Das konnte Alma Schwarz wiederum nicht so stehen lassen. Sie fürchtete um ihren Ruf und rief ihre NSDAP-Parteimitgliedschaft in Erinnerung – die allerdings 1933 ein Ende genommen hatte und danach nicht mehr wieder aktiviert worden war. Bezüglich des Vorwurfs der jüdisch-freundschaftlichen Kontakte rechtfertigte sie sich, als Handelsfrau habe ich selbstverständlich, so wieder jeder andere Geschäftsmann, meine Waren auch an jüdische Kundschaft verkauft, darauf beschränkt sich aber meine ganze Fühlungnahme mit jüdischen Kreisen.52 Erfolg hatte sie damit keinen, ihre Konkurrentin jedoch ebenso nicht. Die Besitzerin Marie Schönfeld verweigerte die Unterschrift. Um nun etwas banal zu werden, wenn sich zwei streiten freut sich der Dritte. Arisiert wurde das Haus durch den Kreisschulungsleiter und Fachlehrer Wilhelm Prastorfer.53 Dass sich Parteigenossen in die Haare bekommen konnten, war menschlich und nachvollziehbar – auch für das NS-Regime. Auch dass es schwarze Schafe in den eigenen Reihen gab, musste man mehr oder weniger verkraften und annehmen. Aber es gab auch andere Gründe, weshalb Wochen, Monate und Jahre ins Land ziehen konnten, Gründe, die eigentlich so nicht vorgesehen waren und als Frechheit angesehen wurden. Denn es gab betroffene jüdische Besitzer, die sich zu Wehr setzten. 51 StA B, GB 052/Personalakten: Schwarz Alma (geb. 1894) – Ortsgruppe I nach Aussage von Ludowika Preisz (geb. 1896) an die Kreisleitung (13.02.1940). 52 Ebd. – Schwarz an das Parteikreisgericht s.d. 53 StA B, Meldezettel: Schönfeld Marie (geb. 1860) und NSDAP-Karteikarten groß: Prastorfer Wilhelm (geb. 1900).
Kapitel 17 Exekution – Phase III
Lange Zeit unklar war, an wen das Eckhaus Neustiftgasse 2/Wassergasse 19 fallen würde. Dabei hatte aus Sicht des Ariseurs Leopold Habres jun. alles so problemlos angefangen. Mit der Besitzerin Berta Ponzen hatte er im Dezember 1938 in Anwesenheit von mehreren Zeugen einen mündlichen Kaufvertrag aufgesetzt.54 Die Vermögensverkehrsstelle gab im April 1939 ihren Segen, doch statt den vereinbarten 20.000 RM standen nunmehr 19.000 RM als Kaufpreis am Papier. Berta Ponzen wollte das nicht hinnehmen, sie weigerte sich, den Vertrag notariell beglaubigen zu lassen und passenderweise konnte der abgeänderte Vertrag nicht zugestellt werden, da Berta Ponzen laut Postvermerk unbekannt wohin gezogen war. Es erfolgte keine Ersatzzustellung, sodass der Bescheid, womit die Übertragung der Liegenschaft an Habres genehmigt wurde, nicht rechtskräftig werden konnte.55 Habres jun. schaltet daraufhin die Gerichte ein. Eigentlich könnte man meinen, einen langwierigen Prozess werde es nicht geben, schließlich haben wir einen Arier und Parteigenossen, der gegen eine Jüdin vor Gericht zog. Doch dem sollte nicht so sein. Zumal plötzlich neue Akteure die Bühne betraten. Der im selben Haus ein Konfektionsgeschäft führende Leopold Jandl fürchtete – Spatzen pfiffen es von den Dächern – dass Habres ihm kündigen wolle, um sich seines Geschäftslokales zu bemächtigen.56 Um dem zuvorzukommen, bewarb sich Jandl nun ebenso um das Haus Neustiftgasse Ecke Wassergasse bzw. mehr noch, er setzte mit Berta Ponzen im Juni 1939 einen eigenen Kaufvertrag auf. Da er mehr bot als sein Konkurrent, war es Ponzen nur allzu recht, zumal sie mit Habres jun. aus ihrer Sicht keinen rechtsgültigen Vertrag abgeschlossen hatte. Zwar zog Jandls Rechtsanwalt das Ansuchen auf „Arisierung“ wenige Tage später zurück, um aber wenige Tage später den Rückzug zu widerrufen.57 Eine zusätzliche Brisanz erfuhr der Fall dadurch, dass sowohl Habres jun. als auch Jandl verdiente Parteigenossen und Illegale waren, gegen die politisch und moralisch nichts einzuwenden war – auch wenn das ihre jeweiligen Befürworter aus Ortsgruppen und Kreis anders sahen. Im Hintergrund lief währenddessen der Gerichtsprozess Habres jun. gegen Ponzen. Letztere verlor erwartungsgemäß, doch legte sie Berufung ein, es ging in die zweite Instanz, und hier war sie erfolgreich.58 Da intervenierte Habres‘ Rechtsanwalt Attems bei der Reichsstatthalterei und spielte sämtliche antisemitischen Register. Zur gleichen Zeit mischte sich eine dritte Partei in den „Arisierungsfall“ ein. Ein Nachbar und ebenso Parteigenosse wollte zwar nicht das Haus arisieren, aber er bestand auf eine Handvoll Quadratmeter Garten, um seinen Besitz abzurunden. Dem wiederum erteilte Habres jun., obwohl er selbst noch alles anders als des Hauses sicher war, eine klare Absage. Etwas genervt schrieb da schon der 54 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. II; Neustiftgasse 2 – Leopold Habres jun. (geb. 1904), Berta Ponzen (geb. 1867). 55 Ebd. – Reichsstatthalterei Niederdonau an Reichswirtschaftsministerium (24.10.1940). 56 Vgl. ebd. – Ortgruppe Baden I (30.05.1939), Leopold Jandl (geb. 1892). 57 Vgl. ebd. – Widerrufung der Zurückziehung (15.07.1939). 58 Vgl. ebd. – Reichsstatthalterei Niederdonau an Reichswirtschaftsministerium (24.10.1940).
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Kreiswirtschaftsberater Leopold Reumüller im November 1940: Dem Kreiswirtschaftsberater ist es nun ganz gleich, wer von der Vermögensverkehrsstelle das Haus zugewiesen bekommt. […] Es hat in dieser Angelegenheit schon ein ziemlich umfangreicher Schriftwechsel stattgefunden, der bei der Vermögensverkehrsstelle aufliegt.59 Um die Verwirrung perfekt zu machen, erklärten Jandl und sein Rechtsanwalt Julius Clemens Schuster im November 1940 die Hausbesitzerin Ponzen für bereits verstorben – wobei in den folgenden Schreiben nichts dergleichen vorkommt.60 Überspitzt formuliert, Berta Ponzens Hinterlassenschaft bestünde demnach aus einem juristisch-politischen Konflikt zwischen zwei einwandfreien Parteigenossen mit dem Willen zur „Arisierung“ und jeweils einem Kaufvertrag, wechselnden Rechtsanwälten und beschäftigten Behörden der Stadt, des Kreises, des Gaues und des Reiches in Berlin. Denn um den Fall zu entwirren, brauchte es tatsächlich das Reichswirtschaftsministerium. Im Jänner 1941 sprach dann die Berliner Behörde ein Machtwort. Habres jun. wurde neuer Besitzer.61 Bis in den Juni 1941 zogen sich dann noch die Details finanzieller Natur. Einen Teil hatte Habres jun. bereits bezahlt, und wie viel er noch schuldig war, das herauszufinden brauchte nun weitere sechs Monate. Und einer Posse gleich, im Juli 1941 war ein offenbar für den Fall Ponzen von der Reichsstatthalterei angeforderter Akt des Gauwirtschaftsamtes in der obigen Angelegenheit derzeit nicht auffindbar.62 Selbst zwei Jahre später lesen wir erneut über das Eckhaus. Im September 1943 wollte die Reichsstatthalterei Niederdonau Sonderdezernat IV d-S vom Landrat wissen, ob die Liegenschaft Ponzen bereits verkauft sei.63 Wir sollten uns, liebe Leserin oder lieber Leser, eines vergegenwärtigen: Es ging hier nicht um irgendwelche umfangreichen Ländereien oder ein Konglomerat an Industriebetrieben, geführt von Aktiengesellschaften oder irgendwelchen internationalen Konsortien. Es ging um ein Eckhaus in Baden, in der unteren Wassergasse! Und wir haben eine einzige Besitzerin. Allein dieser Fall dauerte vom Dezember 1938 bis Sommer 1941. Ebenso eine Beschwerde von Seiten der jüdischen Besitzer, einen Marsch durch mehrere Instanzen und das Bemühen des Reichwirtschaftsministeriums verursachte die „Arisierung“ Isabellastraße 22. Der Kaufpreis zwischen den Verkäuferinnen Berta und Therese Bruckner und dem Ariseur Josef Slawitsch belief sich im September 1939 auf 19.000 RM.64 Doch im Februar 1940 ergab eine Schätzung – man sprach von einer Nachschätzung – dass das Haus nur mehr 15.000 RM wert sei.65 Die Bruckner-Frauen legten Beschwerde bei der Reichsstatthalterei ein und forderten eine neue Schätzung. Schließlich wäre das Haus 59 60 61 62 63 64
Ebd. – Reumüller an Ortsgruppenleitung Oberwaltersdorf (06.11.1940). Vgl. ebd. – Kaufvertragsgenehmigung (12.11.1940). Vgl. ebd. – Kaufgenehmigung (16.01.1941). Ebd. – Gauleitung an Reichsstatthalterei (28.07.1941). Vgl. ebd. – Sonderdezernat an Landrat (23.09.1943). Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. I; Isabellastraße 22 – Kaufvertrag (20.09.1939), Berta Bruckner (geb. 1873), Therese Bruckner (geb. 1874), Josef Slawitsch (geb. 1899). 65 Vgl. ebd. – Anna Spielmann (geb. 1858).
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eigentlich mehr wert, aber wir haben mit Rücksicht auf unsere prekäre Situation das Haus ohnehin schon sehr billig verkauft und wir verlangen ja nicht mehr, als dass uns der Preis von RM 19.000.--, der schließlich auch dem Käufer angemessen erschien, belassen wird.66 Es kam zu einer erneuten Nachschätzung, für die die Bruckner-Frauen sowie auch Josef Slawitsch zur Kasse gebeten wurden. Letztendlich konnte man schätzen, was man wollte, das Reichswirtschaftsministerium ließ sich nicht beeindrucken. Ihre Beschwerde […] weise ich als unbegründet zurück. Diese Entscheidung ist endgültig.67 Mit der Schätzung für ihren Grund (Isabellastraße 5) war genauso die 82-jährige Anna Spielmann unzufrieden. Ein von Anton Attems vorgelegtes Gutachten, was jener durch einen ihr unbekannten Gutachter im März 1939 erstellen ließ, wies einen für sie viel zu geringen Quadratmeterpreis auf. Anna Spielmann konnte seine Schätzung in keiner Weise nachvollziehen. Sie insistierte im Juni 1939 bei der Vermögensverkehrsstelle. Man antwortete ihr, dass eine neue Schätzung an sich kein Problem darstelle, allerdings müsste sie die Kosten tragen. Derweil brachten sich die Ariseure in Stellung, doch eine „Arisierung“ sollte es nicht werden. Anna Spielmann „entschied“ sich für eine Schenkung, und zwar an Therese Jacobi, ihre Noch-Schwiegertochter.68 Die Scheidung war bereits eingereicht, und ihr Sohn bzw. Jacobis zweiter Ehemann war im August 1939 ausgewandert – um die Worte seiner Noch-Ehefrau zu gebrauchen. Wie die Behörden die Schenkung an sich sahen, geben die Quellen nicht her, aber Therese Jacobi musste auf alle Fälle überprüft werden. Sie war Arierin, sie war erwerbs- und mittellos, hatte für ein arisches Kind aus erster Ehe zu sorgen, stand nun kurz vor der Scheidung und beabsichtigte ein drittes Mal zu heiraten. Politisch war sie nie in Erscheinung getreten, obwohl es im Februar 1941 hieß, dass auf Grund der politischen Beschreibung der Gesuchstellerin die Übertragung der Liegenschaft an sie nicht wünschenswert erscheint.69 Mit Substanz konnte man diesen Vorwurf jedoch nicht füllen. Im April desselben Jahres wurde die Schenkung genehmigt. Die Genehmigung stand nicht von Anfang an fest. Schließlich bestand eine sogenannte jüdische Versippung. Aber dadurch, dass Anna Spielmann in der Zwischenzeit verstorben war, Therese Jacobi geschieden worden war und zum dritten Mal geheiratet hatte, nämlich einen Wehrmachtssoldaten, der in Finnland stationiert war, lösten sich gewisse Schwierigkeiten von selbst. Aber dennoch, das NS-Regime musste in solchen Fällen wachsam sein. Denn wie bei Juden, die sich zu Wehr setzten – was nicht so vorgesehen war – war ebenso nicht vorgesehen, dass ihnen womöglich Volksgenossen unter die Arme greifen würden. Um es flapsig zu formulieren, es kam hier und da zu „Arisierungen unter Freunden“.
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Ebd. – Beschwerde (13.06.1940). Vgl. ebd. – Reichswirtschaftsministerium (04.02.1941). Therese Jacobi (geb. 1903). NÖLA; Arisierungsakten 4277; Spielmann Anna (geb. 1858) – Reichsstatthalterei an Gauleitung (18.02.1941).
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Die volksverratenden Verweser Die Ariseure wurden im Großen und Ganzen genau unter die Lupe genommen, um deren Würdigkeit zu eruieren, aber auch um etwaige Absprachen mit den jüdischen Besitzern auf die Schliche zu kommen und gegebenenfalls zu sanktionieren. Es war für die zuständigen Stellen nicht einfach und oft nicht möglich, sämtliche unerwünschte Übereinkünfte zwischen Volksgenossen und Juden nachzuweisen und aufzuspüren. Verdachtsmomente beruhten üblicherweise auf Aussagen Außenstehender basierend auf dem Zusammenspinnen von möglichen Zusammenhängen. Das Haus Uetzgasse 11 wurde von Wilhelm Györi aus Wien verwaltet. Die jüdische Besitzerin, deren Vorname in den Unterlagen mal Esther, mal Erna, mal Eszter geschrieben wurde und der Nachname abwechselnd Dehnhof oder Denhof, wohnte währenddessen in Wien. Im Sommer 1939 kam es zu Unstimmigkeiten zwischen dem Verwalter Wilhelm Györi und den Zinsparteien. Die Gründe waren anfänglich recht gewöhnlich. Ihm wurde angekreidet, dass er das Obst aus dem Garten nach Wien schaffe sowie drei Kellerräume leer und unbenutzt stehen lasse. Hinzu kam, dass die Parterre-Wohnungen sehr feucht waren, ein Teil des Kellers ständig unter Wasser stand und die Aborte nicht einwandfrei funktionierten. Und was den Obstverkauf anbelangte, wurde gemauschelt, dass er den Ertrag dieses Obstgartens der jüdischen Eigentümerin zukommen lässt.70 Beweise lagen keine vor. Vor dem Gerede Anderer war nicht einmal ein Generalarzt wie Dr. Othmar Albrecht gefeit. Er kaufte/arisierte das Haus Hochstraße 16 im Oktober 1942. Regelmäßig wurde sein Wagen samt Chauffeur dort gesichtet. An sich nichts Ungewöhnliches oder Verdächtiges, wenn der Generalarzt denn dort auch gewohnt hätte. Stattdessen diente das Haus weiterhin Helene Payer-Thurn, einem „Mischling 1. Grades“, in den Sommermonaten als Bleibe. Ihr Vater war Universitätsprofessor Dr. Rudolf Ritter Payer von Thurn, ihre Mutter Charlotte Payer von Thurn, eine getaufte Jüdin.71 Ermittlungen ergaben, dass Othmar Albrecht zum 1932 verstorbenem Familienoberhaupt und dessen Ehefrau eine freundschaftliche Beziehung gepflegt hatte. Und zu der Tochter und Erbin – so das Gerede, fußend auf „exakter“ Beobachtung – soll die Beziehung mehr als nur freundschaftlich gewesen sein. Ein Berufskollege, Stabsarzt Dr. Hermann Grammetbauer, erinnerte sich bei einem Besuch, dass Helene Payer-Thurn den Generalarzt duzte, und man hatte das Gefühl, dass diese Frau vom Generalarzt immer im Tone „mein Mann“ sprach, doch kann er sich nicht genau entsinnen, ob sie diese Worte gebrauchte.72 Dabei wäre sie, so behauptete Othmar Albrecht, nur seine Wirtschafterin gewesen. Albrechts Präsenz sorgte nicht nur bei Berufskollegen für Irritation, auch die Volksgenossen in der Nachbarschaft waren in heller Aufregung, dass ein Generalarzt des Öfteren mit seinem Dienstwagen vorfährt, sich lange Zeit bei der Halbjüdin 70 StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. II; Uetzgasse 11 – Ortgruppe Baden III an Kreisleitung (19.10.1939). 71 Othmar Albrecht (geb. 1871), Helene Payer-Thurn (geb. 1911). 72 StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. I; Hochstraße 16 – Aktenvermerk (08.04.1943).
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aufhält, was von den Leuten so ausgelegt wird, als hätte er (Dr. Albrecht) mit der Halbjüdin ein Verhältnis. Außerdem ist dadurch der Lenker des Kraftwagens stundenlang ohne Beschäftigung. Der Generalarzt bestritt das vehement. Dass er dort Zeit verbringe, liege an diversen Übergangsangelegenheiten und der Wegschaffung verschiedener Wertgegenstände. Er leugnete keineswegs seine jahrelange Bekanntschaft zur Familie Payer-Thurn, insbesondere zum verstorbenen Familienoberhaupt. Und was seinen Kraftwagenlenker betrifft, stellte Dr. Albrecht fest. dass dieser (ich glaube, er hat es so ähnlich gesagt) infolge seines kranken Fußes sowieso nicht tauglich für den Wehrmachtsdienst sei.73 Nun stand nicht nur ein Verdacht einer Liebschaft im Raum, sondern dass es sich bei der Entjudung um eine Schiebung handelte. Zumal beim genaueren Studium des Kaufvertrages auffiel, dass ein Teil des Grundstücks weiterhin der Familie Payer-Thurn gehören würde.74 Die Optik war eindeutig schief. Othmar Albrecht war Offizier und Parteigenosse. Alleine dass er Helene Payer-Thurn, als „Mischling 1. Grades“, als seine Wirtschafterin führte, und beide mit dem Du-Wort hantierten, war skandalös genug. Alles darüber Hinausgehende wäre ohnehin in Richtung „Rassenschande“ gegangen. Bei der Beurteilung der Familie Payer-Thurn haben wir übrigens eine ebenso altbekannte Zuschreibung. Dass Charlotte Payer von Thurn sich vor 40 Jahren hatte taufen lassen, war wie immer egal, und was ihre Tochter betraf, so war es unter diesen Umständen wohl selbstverständlich, dass Helene Payer-Thurn der nat.soc. Bewegung nicht sympathisch gegenübersteht, doch konnten gegnerische Äußerungen oder Handlungen nicht in Erfahrung gebracht werden.75 Suspekt und der jüdischen Platzhalterei bezichtigt wurde auch der Schlosser Alois Rothaler, als er sich der Immobilie seiner jüdischen Vermieter Rudolf und Paula Loewe in der Eugengasse 10 annehmen wollte. Gegen ihn sprachen seine kommunistische Parteimitgliedschaft, sein abweisendes Verhalten gegenüber jenen Parteimitgliedern, die die Hauserhebung durchgeführt hatten, und sein Egoismus – wie auch immer man den ermittelt hatte. Letztendlich fiel die Immobilie an das Deutsch Reich.76 Aus Sicht des NS-Regimes waren solche „Schein-Arisierungen“ ein regelrechtes Verbrechen. Volksgenossen, die unter Verdacht gerieten, galten als Judenfreunde, Volksverräter, Volksschädlinge usw. Juden auf diese Weise zu helfen, barg ein großes Risiko. Goebbels erinnerte immer wieder an die Prophezeiung seines Führers, dass, wenn die Juden noch einmal einen Weltkrieg auslösten, sie vernichtet würden. Auf die Absurdität dieser Aussage braucht hier nicht eingegangen zu werden. Entscheidend war, dass Mitgefühl oder Mitleid als Gefühlsduselei verteufelt waren und Hilfe mit Verrat gleichgesetzt wurde. Der Jude war Volksfeind, und wer sich solidarisierte, war genauso Volksfeind und musste mit drakonischen Strafen rechnen.77 73 74 75 76
Ebd. – Aktenvermerk (17.04.1943). Vgl. ebd. – Landrat an Othmar Albrecht (18.03.1943). Ebd. – Polit. Beurteilung (25.05.1940). Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Rothaler Alois (geb. 1912) – Rudolf Loewe (geb. 1875), Paula Loewe (geb. 1879) und SCHÄRF, Jüdisches Leben (Arisierungstabellen). 77 Vgl. LONGERICH, Goebbels, S. 498.
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Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass nach 1945 die Zahl solcher „Arisierungen unter Freunden“ deutlich zunahm. Zu oft hieß es dann plötzlich wie im Falle Karl Spörk in Bezug auf seinen Parteibeitritt und die „Arisierung“: Meine Anmeldung nahm ich vor, um endlich die Widerstände zu überwinden, die mit bei der Erfüllung meines an Frau Weiss gegebenen Versprechens gemacht worden war. Diese war mit ihrer Nichte von ihrer Sommerwohnung in Baden, Weichselg. [2] 5 vertrieben worden und ersuchte mich wiederholt, das von mir gegebene Kaufversprechen rasch abzuwickeln.78 Skepsis ist hier nicht fehl am Platz. Was nach 1945 ebenfalls zunahm, war die Unlust, zu arisieren, und die Bedrängnis, es dennoch zu tun. Bei dem Ehepaar Friedrich und Anna Schmutzer aus Groß-Siegharts im Waldviertel war es laut eigener Aussage der herbeigeführte wirtschaftliche Ruin, bedingt durch die örtliche NSDAP, der sie dazu zwang, ihre Heimatgemeinde zu verlassen und sich nach einer neuen Liegenschaft umzusehen. Wir waren ohnehin im Zweifel, weil wir mit den Nationalsozialisten ohnehin schon so viel Schaden erlitten hatten und durch den politischen Boykott unseren Neubau, die schöne Wirtschaft mit ca. 120 Obstbäumen, Schweinezucht etc. in Gr. Siegharts, notgedrungen verkaufen mussten, weil wir Christlichsoziale waren.79 Ihre neue Heimat wurde Baden und ihre neue Bleibe die Strasserngasse 15. Mit der jüdischen Besitzerin Rosa Katz „handelten“ sie einen Kaufpreis von 22.000 RM aus, obwohl die Immobilie weitaus mehr wert war. Liest man die Erklärungen des Ehepaars, so verstanden sie sich ebenso als Opfer, denen nichts anders übrigblieb als zu arisieren. Schließlich musste man ja wo wohnen, und Rosa Katz wollte verkaufen bzw. hätte wohl oder übel ohnehin verkaufen müssen. All das klingt in den sieben Jahren NS-Herrschaft als furchtbar logisch – mit Betonung auf furchtbar.80 Aber selbst wenn sämtliche „Arisierungen“ einigermaßen im NS-Sinne geordnet und volksgemeinschaftlich vonstattengegangen wären, das Spannungsfeld Besitzer und NichtBesitzer bzw. zwischen Vermieter und Mieter blieb trotzdem. Die angepeilte Verrechtlichung und Bürokratisierung hatte die ungestüme Gewalt der Anschlusstage zwar kanalisieren können, doch die gleichzeitig angestrebte „Volksgemeinschaft“ – nun da der ausbeuterische jüdische Vermieter oder Geschäftsführer vertrieben war – kehrte nicht wie erhofft ein.
Die braune Disharmonie Es war unangenehm für die NSDAP, wenn sich zwei Parteigenossen bei „Arisierungen“ in die Haare gerieten. Das passte so gar nicht in das Bild einer Führerpartei, in der jeder 78 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Spörk Karl (geb. 1893) – Sidonie Weiss (geb. 1871). 79 StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. II, Strasserngasse 15 – Friedrich Schmutzer (geb. 1889) und Anna Schmutzer (geb. 1887) Aussage (18.09.1946). 80 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023) – Rosa Katz (geb. 1882) gelang die Flucht nach Ecuador.
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an einem Strick zu ziehen hatte. Als Parteigenossin Emma Fasching, nachdem ihr Mann im Oktober 1939 eingerückt war, ihr Geflügelgeschäft am Adolf-Hitler-Platz 4 mangels Ware sperren musste, suchte sie bei Parteikollegen Wilhelm Pfeiffer, Juwelier und Goldschmied sowie Ariseur desselben Hauses, um eine Mietzinsreduktion an.81 Doch dieser lehnte das Ansuchen ab. Ohne Erspartes, sondern nur mittels Darlehen den Kauf finanziert habend, fürchtete er, von den Darlehnszinsen aufgefressen zu werden. Der Zwist nahm seinen juristischen Behördenlauf und war im Oktober 1942 immer noch nicht beigelegt. Die Kreisleitung, die sich von nun an heraushalten wollte, um dem Spruch des Richters nicht vorzugreifen, hatte nur mehr die Hoffnung: Mit Rücksicht darauf, dass die beiden Vertragspartner Parteigenossen sind, wäre es jedoch sehr wünschenswert, wenn diese sich selbst im Sinne des Gesetzes einigen würden.82 Es war auch unangenehm für die NSDAP, wenn Volksgenossen im Zuge der „Arisierungen“ selbst unter die Räder kamen. In der Villa Sauerhofstraße 2 sollte eine Haushaltsschule entstehen. Dafür zuständig waren Cäcilie Eichholzer und Hermine Gerich. Beide Frauen waren bei der Badener NS-Frauenschaft als Ortsgruppenleiterinnen tätig. Der jüdische Besitzer, Samuel Schöngut, war nicht das Problem, der war bereits deportiert und sollte den Holocaust nicht überleben, sondern der dort wohnende Volksgenosse Franz Swoboda. Nach 1945 schilderte er den auf ihn ausgeübten Druck, möglichst schnell auszuziehen. Im September 1938 statteten ihm die beiden Frauen zwei bis drei Mal die Woche einen Besuch ab, ohne ihm jedoch eine Ersatzwohnung anzubieten. Schützenhilfe erhielten die beiden durch Kreispersonalamtsleiter Kurt Haun. Neben unverhohlenen Drohungen gab es ein Gerede von „Opfer bringen“ und einem übergeordneten Ziel. Franz Swobodas Entlastungsschlag kam nach einer persönlichen Intervention bei Bürckel – er kannte dessen Sekretär. Die Besuche und das Drängen hörten augenblicklich auf, und im April 1939 gab es sogar eine Ersatzwohnung für ihn. Die angekündigte „Volksgemeinschaft“ hatte er sich aber anders vorgestellt.83 Und es war auch unangenehm für die NSDAP, wenn Gerede von Schieberei und Freunderlwirtschaft laut wurde. Parteigenosse Dr. Otto Matulke arbeitete im Kreiswirtschaftsamt und war dort zuständig für enteignete Immobilien und deren Zuführung an Volksgenossen. Irgendwann kam der Verdacht auf, der sich alsbald bestätigen sollte, dass er das Realitätenbüro Bausch bevorzugte. Wenig überraschend, schließlich war er daran zu 50 % beteiligt. Zudem favorisierte er bestimmte Rechtsanwaltskanzleien und maß sich Rechte und Kompetenzen an, die ihm in seiner Funktion gar nicht zustanden. Im August 1939 wurde er seines Amtes erhoben und ein Parteiverfahren eingeleitet. Das Kreisgericht der NSDAP sprach im Mai 1941 eine Verwarnung aus und verurteilte ihn 81 Wilhelm Pfeiffer (geb. 1898). 82 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Fasching Emma (geb. 1888) – Pasching gegen Pfeiffer Wilhelm (geb. 1898). 83 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Eichholzer Cäcilie (geb. 1891) – Franz Swoboda (geb. 1879) Aussage (29.09.1949).
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zu eine dreijährigen Sperre für jegliche Parteiämter. Er legte Berufung ein, und ein Jahr später, im Mai 1942, strich das Gaugericht die drei Jahre und beließ es bloß bei einer Verwarnung.84 Nicht ganz durchsichtig war auch das Agieren des Ortsgruppenleiters Maximilian Rothaler. Einst in der Flamminggasse 25 wohnhaft – laut Klinger ein Refugium für Illegale und Illegales – entpuppte sich die Bleibe nach dem Anschluss als zu klein. Da kam es nur gelegen, dass er als Ortsgruppenleiter für die Unterbringung einzelner NSDAP-Dienststellen zuständig war und deshalb einen vortrefflichen Überblick über „frei werdende“ Immobilien besaß. Dazu gehörte die Villa in der Rainergasse 9, gehörend der polnischen Jüdin Adele Kroh, die nun Parteizwecken zugeführt werden wollte. Sie loszuwerden war nicht das Problem, problematischer wurde es hingegen bei dem dort eingemieteten Volksgenossen Ludwig Bilokapa.85 Nicht einverstanden mit seiner Delogierung, wandte dieser sich im Oktober 1938 an den Kreisleiter Ponstingl. Aber wenn Parteiinteressen vorliegen, redete der Kreisleiter ihm ins Gewissen, so muss das Haus unter allen Umständen geräumt werden, und zwar je früher desto besser, da ja durch das obzitierte Gesetz jederzeit die Möglichkeit gegeben sei, das Haus zu Parteizwecken in Gebrauch zu nehmen. Ludwig Bilokapa fügte sich seinem Schicksal, der Kreisleiter konnte zufrieden sein, bis zu dem Moment, als er in Erfahrung brachte, dass Bilokapas Nachmieter weder die Ortsgruppe noch eine NS-Gliederung war, sondern Ortsgruppenleiter Rothaler samt Familie. Vom peinlich berührten Kreisleiter zur Rede gestellt, entgegnete Rothaler, dass durch das unvermutete Freiwerden des jüdischen Waisenhauses ein besseres Objekt für die vorgesehenen Parteizwecke gefunden worden wäre. Das jüdische Waisenhaus ist nämlich plötzlich von seinen Insassen verlassen worden. Für die Kreisleitung war der Fall äußerst delikat, deswegen legt der Kreisleiter der restlosen Klärung der Angelegenheit größten Wert bei, da er niemals den Vorwurf riskieren kann, Parteiinteressen werden zu persönlichen Interessen missbraucht […].86 Das Parteigericht wurde nun hinzugezogen. Lange wurde nicht ermittelt, im November war der parteiinterne Spuk vorbei. Rothaler rechtfertigte sich damit, dass er schließlich drei Villen zur Verteilung habe und zwei davon auch Parteizwecken zugeführt habe. Und da er ohnehin auf Wohnungssuche sei, hätte er die Gelegenheit beim Schopf gepackt und beim dritten Objekt einfach zugegriffen. Aber von vornherein geplant war das natürlich nicht! Außerdem hätte ihn nicht nur der Verwalter der Villa dazu ermuntert, einzuziehen, auch seine Frau hätte ihm aber in Hinblick auf seine kleine Wohnung und auf seine zwei Kinder gebeten und sei in ihm gedrungen, das Anerbieten anzunehmen. Wirklich Verwerfliches konnte ihm das Parteigericht letztendlich nicht vorwerfen und er sehe ein, eine Ungeschicklichkeit begangen zu haben. Eine kleine Rüge musste er schon über sich ergehen lassen. Er hätte bedenken sollen, wie leicht seine Handlungsweise missdeutet werden konnte. Die erhöhte Verantwortung eines Hoheitsträgers hätte 84 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Matulke Otto (geb. 1898). 85 Ludwig Bilokapa (geb. 1904). 86 StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian; Mappe I – Kreisleitung an Kreisgericht (27.10.1938).
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ihm aus diesem Grunde größte Zurückhaltung nahelegen müssen.87 Interne Ermittlungen, das Hinzuziehen von Parteigerichten, all das war aus ideologisch-parteipolitischer Sicht unangenehm und peinlich genug. Fatal zudem war, diesmal aus rein praktischer Perspektive, dass es zusätzliche Schreibarbeit verursachte, wertvolle Arbeitskräfte band, nebenbei das gesamte „Arisierungsverfahren“ in die Länge zog und damit Zurufe und die Aufforderung provozierte, endlich schneller zu arbeiten. Was wiederum nichts anderes bedeutete, als dass man den zuständigen Behörden Ineffizienz vorwarf. Mit Rücksicht darauf, dass unsere erste Anfrage in dieser Angelegenheit an Sie am 31. Juli 1940 ergangen ist und erst am 3. Feber 1941 beantwortet wurde, bitte ich um Ihre neuerliche Stellungnahme innerhalb von 14 Tagen, da ich ebenfalls durch einen gerichtlichen Termin gebunden bin.88 Nicht nur die einzelnen Parteistellen pochten auf raschere Erledigung. Verhaltener im Ton, aber dennoch drängend, meldeten sich ebenso Volksgenossen zu Wort. Bei dem Ehepaar Alois und Alice Zimmermann war es die bereits verkaufte Liegenschaft in Wien samt Verpflichtung, die Wohnung unverzüglich zu räumen, die eine dringliche Behandlung unseres Ansuchens, das Landhaus von Dr. Karl Mosauer (Mitterberggasse 3) in Baden zu arisieren, bedurfte.89 Bei Viktor Seiko waren es gesundheitliche und praktische Überlegungen, die nach einer baldigen „Arisierung“ verlangten. Da sich nun sämtliche Unterlagen hierzu in Ihrem Archiv befinden, möchte ich sie höfl. ersuchen, trotz großer Beanspruchung meinem Ansuchen baldmöglichst gerecht zu werden und begründe meine Bitte damit, dass ich wegen meines hohen Alters dringendst des Aufenthaltes außerhalb der Großstadt bedarf, andererseits größere Erneuerungsarbeiten an dem Kaufobjekt zu machen sind, welche naturgemäß an die wärmere Jahreszeit gebunden sind.90 Ihm und seiner Ehefrau Marianne Seiko hatte es im Juni 1939 das Haus Rainergasse 5 von Johanna Felber angetan.91 * Zuletzt seien noch ganz besondere Unannehmlichkeiten vorzustellen, wodurch die gesamte Arisierungs- und Volksgemeinschaftsideologie ins Wanken geriet. Bei Wohnungen in jüdischen Häusern oder Wohnungen, die sich in arischen Häusern befinden, bisher aber von Juden benutzt wurden, ganz gleichgültig, durch welche Umstände diese Wohnungen frei geworden sind, haben die betreffenden Personen, denen ein event. Vermietungsrecht dieser Wohnungen zustünde, in jedem einzelnen Falle Weisungen im Wohnungsamt einzuholen. Eine Vermietung 87 Ebd. – Kreisgerichtsurteil (24.11.1938). 88 NÖLA; Arisierungsakten; Stammzahl 4277: Spielmann Anna – Reichsstatthalterei Niederdonau an die Gauleitung Niederdonau (18.02.1941). 89 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz I; Mitterberggasse 3 – Alois Zimmermann (geb. 1883) und Alice Zimmermann (geb. 1891) an die Vermögensverkehrsstelle (21.01.1939). 90 StA B, GB 052/Verfolgung I; Fasz. II; Rainergasse 5 – Viktor Seiko (geb. 1867) und Marianne Seiko (geb. 1879) an die Vermögensverkehrsstelle (18.07.1939). 91 Johanna Felber (geb. 1861).
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von freiwerdenden Wohnungen ohne Wissen des Wohnungsamtes ist daher in allen Fällen unstatthaft. […] Es widerspricht der gegenwärtigen Zeit, wenn Hauseigentümer unter Anwendung der schärfsten Zwangsmittel gegen die eigenen Volksgenossen vorgehen, anderseits wenn Mieter in der rücksichtslosen Weise und ohne jede Begründung gegen den Vermieter oder Hauseigentümer auftreten.92 Was mit den „schärfsten Zwangsmitteln“ auf Seiten der Hauseigentümer und der „rücksichtslosen Weise“ auf Seiten der Vermieter gemeint war, traf exakt die Problematik, die sich am Widerspruch zwischen NS-Rechtsstaatlichkeit und NS-Ideologie ergab. Manche neuen Verwalter/Eigentümer scheuten nicht davor zurück, sich an ihren arischen Mietern schadlos zu halten, indem sie den Vermieterwechsel nutzten, um die Mieten zu erhöhen. Zugleich gab es Mieter, die sich nach der Vertreibung jüdischer Vermieter einbildeten, ihre Schulden oder Mietrückstände nicht mehr begleichen zu müssen bzw. ungeniert Mietnachlässe einforderten. So verlangte die SA in Baden, egal ob sie nun das Haus Weilburgstraße 18 oder Marchetstraße 70 zu arisieren beabsichtigte, aufgrund ihrer maroden Finanzen selbstverständlich eine Mietzinsreduzierung. Der SA-Reitersturm Baden konnte sich nicht einmal eine Schreibmaschine um 186 RM leisten, stattdessen war man gezwungen, eine zu leihen – um Leihgebühren von 10 RM monatlich.93 Eine „strenge“ Vorgehensweise der neuen arischen Besitzer oder Verwalter – die nur auf den marktüblichen Mietpreisen bestanden – widersprach aus Sicht der SA schließlich diametral der gängigen NS-Propaganda. Jahrelang hatte man von blutsaugenden, gierigen und ausbeuterischen Juden krakeelt, und nun verhielt sich der Arier um nichts besser! Es folgte totale Entrüstung. Den Vogel dabei soll der Hausverwalter Julius Stach abgeschossen haben. Er soll der Prototyp des arischen Ausbeuters gewesen sein, der sogar zu Gunsten jüdischer Vermieter agierte, indem er zu hohe Mieten von arischen Mietern einkassierte und ohne Scheu Räumungsklagen durchzuboxen verstand. Aber sehen wir uns diesen Mann etwas genauer an. Julius Stach, geboren in Wien, Rechnungsdirektor i. R. war ein mit allen Wassern gewaschener Immobilienprofi. 1929 gründete er einen Verein für Vermieter, der sich alsbald über steigende Mitgliederzahlen nicht beschweren konnte. Stach hatte offenbar ein Talent, einen höheren Mietzins als vorgesehen aushandeln zu können. Seine Dienste als Verwalter waren dadurch sehr gefragt.94 Ferner war er der Schwiegervater von Dr. Franz Eckert, einem Rechtsanwalt und einem der prominentesten Heimwehrführer in Baden. Eckert war in Stadt und Bezirk Baden aktiv, er war Rechtsreferent des niederösterreichischen Heimatschutzes und hatte unterschiedliche Funktionen innerhalb der Vaterländischen Front inne. Er war zuständig für Stachs anfallende Rechtsgeschäfte in punkto Häuserverwaltung. Nach dem Anschluss wurde es für Franz Eckert deswegen sehr eng. Er soll zudem nicht rein 92 BZ Nr. 10 v. 04.02.1939, S. 8. 93 Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. III; Fast I SA; SA-Reiterstandarte und SA-Standorte. 94 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Stach Julius (geb. 1869); Mappe I – Blockleiter Strammer über Stach (27.02.1939).
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arischer Abstammung gewesen sein. Ihm wurde die Rechtsanwaltspraxis entzogen. Zum Glück hatte er aber seinen Schwiegervater, der ihn dann, so die Befürchtung der Ortsgruppe Baden-Stadt, als Häuserverwalter heranziehen könnte.95 Aber zurück zu Stach. Er hatte anfänglich weniger zu befürchten als sein Schwiegersohn. Im August 1938 rief er der Kreisleitung in Erinnerung, wie er damals mit Franz Schmid die NSDAP-Ortsgruppe gegründet hatte. In der illegalen Zeit hätte er sogar Spenden entrichtet, allerdings unter der Bedingung, dass ich nirgends mit meinem Namen verzeichnet werde, weil ich in meinem Alter Wöllersdorf kaum überlebt hätte und meine Pension als Bundespensionist eingestellt hätte werden können – dieser Einwand war nicht ganz aus der Luft gegriffen, der Mann war schließlich Jahrgang 1869. Und was seine politische Ausrichtung anbelangte, hieß es seinerseits: Wenn ich mich bis heute noch nicht um die Anerkennung der Partei bemüht habe, liegt das daran, weil ich den Ariernachweis aus Billwitz in Mähren noch nicht erbracht habe. Ich bin Arier, will aber dokumentarisch das nachweisen können.96 Ob die Kreisleitung ihm dies alles abnahm, sei dahingestellt. Aber er blieb weiterhin Hausverwalter und damit zuständig, Mieten, Mietschulden und sonstige Abgaben einzutreiben und bei groben Verstößen Delogierungen vorzunehmen. Das brachte ihn in Konflikt mit mehreren Volks- und Parteigenossen. In deren Augen war die Sachlage sonnenklar. Die Beute war besetzt und verteilt. Sie waren die neuen arischen und verdienten Besitzer/ Mieter und als solche nicht verpflichtet, Personen wie Stach, der schließlich früher für Juden Mieten eingetrieben hatte, irgendetwas zu bezahlen, geschweige denn sich von ihm delogieren zu lassen.97 Gegen solch widerspenstiges Verhalten legte Stach Protest ein, worauf ihm, laut eigener Aussage, von Seiten des Kreisgeschäftsführers Kurt Haun mit Schutzhaft gedroht wurde. Dies wollte sich Stach natürlich nicht bieten lassen, und er legte Beschwerde bei Bürckel und Jury ein. Er rekapitulierte seine Ortgruppen-Gründerzeit-Erzählung und dass sein Austritt aus der NSDAP nur deswegen erfolgt sei, weil mir das Programm vielfach unausführbar erschien […]. Stattdessen hätte er der NS-Bewegung entgegengearbeitet, indem er gespendet, Raum für konspirative Treffen geschaffen und die Produktion von Propagandamaterial und Böllern gefördert hätte. Entgegen anderer Meinung hätte er auch die Mieten für Arier gesenkt statt erhöht und Volksgenossen, die säumig mit ihren Mieten gewesen waren, genügend Spielraum gelassen hätte, jene zu begleichen, anstatt sie gleich auf die Straße zu setzen. Somit: Ist das ns. Gesinnung der Tat oder nicht, bitte? Bin ich ein Volksfeind oder ein Volksfreund?98 Seiner Selbstdiagnose stand die „Außen-NS-Sicht“ gegenüber. Hier war Stach jemand, der bei „Arisierungen“ mit eigenen Gutachtern operierte, die den Preis je nach Bedürfnis nach oben oder unten schätzen, Mieten bei Neuvermietungen verdop95 Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 103 und StA B, GB 052/Personalakten: Stach Julius; Mappe I – Ortsgruppe I (23.01.1939). 96 StA B, GB 052/Personalakten: Stach Julius; Mappe I – Stach an die Kreisleitung (01.06.1938). 97 Vgl. ebd. – Stach an das Wirtschaftsamt der Kreisleitung (28.03.1939). 98 Ebd. – Stach an den Gauleiter (Mai.1939).
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pelten und Kündigungsfristen verkürzten. Nun könnte man sagen, es stand Aussage gegen Aussage, doch einer dieser „Geschädigten“ war ausgerechnet Exekutivkomitee-Mitglied Karl Wiskocil. Und den gab es nur im „Doppelpack“ (siehe Kapitel 1). Denn hinter ihm stand Rechtsanwalt Anton Attems.99 Auch für Kreisleiter Ponstingl war Stach weder in wirtschaftlicher noch in politischer und auch nicht in moralischer Hinsicht einwandfrei. Dass er Spenden tätigte, darüber brauchte man nicht zu diskutieren, aber sein späteres Verhalten zeigte jedoch, dass es ihm mit seiner Einstellung nichts weniger als ernst war. Ein deutscher Mann, der mit besonderer Vorliebe gerade die Verwaltung von Judenhäusern übernimmt […], ja, so weit geht, dass er arische Mieter kündigte, um für jüdische Parteien Raum zu schaffen, ist zweifellos politisch schwer belastet und steht bestimmt in keiner wie auch immer gearteten Beziehung zur NSDAP.100 Stach verwaltete 33 Häuser in Baden, sieben davon gehörten Juden. An sich wäre nichts dagegen einzuwenden gewesen, aber gepaart mit all den Vorwürfen seiner doch gut vernetzten und NS-verdienten Ankläger verlor er im November 1939 seine Hausverwalterkonzession. Um nicht vollkommen ins NS-Mahlwerk zu geraten, war aus Stachs Sicht schleunigst eine politische Rehabilitation in Form eines Selbstreinigungsverfahrens dringend angebracht. Im Dezember 1939 schrieb er geknickt an Haun und Ponstingl, die Zurücknahme der Gebäudeverwaltungskonzession hat mich wie ein Blitzstrahl getroffen. Dass er wider die „Volksgemeinschaft“ gehandelt hätte, gestand er ohne Wenn und Aber ein. Er brächte nicht einmal für sich selbst Verständnis auf. Ich musste vom Teufel geritten worden sein, der mich ins Unheil dirigierte, alle Götter mussten mich verlassen haben. Meine Gattin hatte hunderte Male mich aufgefordert, alle Judenhäuser niederzulegen. Bezugnehmend auf sein Alter rechtfertigte er sich: Ich sehe heute ein, dass es mir trotz bestem Willen nicht gelungen ist, mich so rasch in das Wesen der Volksgemeinschaft einzuleben, wie dies einem jüngeren Menschen mühelos und rasch gelingt, da er keinerlei innere Hemmungen, die aus der früheren Zeit nachwirken, zu überwinden hat. Jetzt aber bin ich so weit innerlich umgestellt, dass mir niemals mehr ein Verstoß gegen die Pflichten aus der Volksgemeinschaft unterlaufen können wird.101 Seine theatralische Demutsbekundung und die wehmütigen Klagen waren gepaart mit einem juristischen Einspruch gegen seinen Konzessionsverlust – hinterlegt in der Reichskanzlei. Und tatsächlich, es klappte, er bekam seine Konzession zurück. Die Kreisleitung fühlte sich wieder einmal vor den Kopf gestoßen. Die Entscheidung, die offenbar irgendwo oben getroffen wurde, war ihr vollständig unverständlich.102 In seiner Beurteilung vom August 1940 schien Stachs Status wie festgefroren: Genannter war während der Systemzeit gleichgültig eingestellt und hat diese seine Einstellung bis heute nicht geändert. […] Nach der Machtübernahme arbeitet er sehr viel für Juden, bis ihm die Konzession entzogen wurde. Nach seinem Rekurs wurde ihm dann die Konzession von der Reichskanzlei wieder zuerkannt. Seine 99 100 101 102
Vgl. ebd. – Kreiswirtschaftsberater Zeller an Kreiswirtschaftsführer Haun (09.06.1939). Ebd. – Ponstingl an Gauleitung (09.10.1939). Ebd. – Stach an Kurt Haun (05.12.1939). Ebd. – Konzessionsentziehung Stach (11.06.1940).
Kapitel 17 Exekution – Phase III
Geberfreudigkeit bei Sammlungen ist hervorzuheben.103 Während auf Stach als Verwalter die oben zitierten „schärfsten Zwangsmittel“ zutrafen, war es bei einem seiner Widersacher, Karl Wiskocil, die „rücksichtslose Weise“. Denn mit ihm hatte auch Stachs Nachfolger, Wilhelm Györi, schwer zu kämpfen. Wiskocil weigerte sich weiterhin, die Miete zu zahlen, und häufte seelenruhig enorme Mietschulden an. Das brachte ebenso andere Mieter auf, wie zum Beispiel, Hermann Jülg, der für sein im selben Haus (Rainer-Ring 2) befindliches Geschäftslokal mehr Miete zahlen musste als Wiskocil – obwohl dessen Geschäft größer war.104 Alles Reden half nichts, jeder Versuch einer Übereinkunft wurde von Wiskocil abgeblockt. Im Jänner 1940 sah sich Wilhelm Györi veranlasst, der Kreisleitung mitzuteilen, dass Pg. Wiskocil, trotz der bei Ihnen gemachten Zusage, den Wohnungszins per Jänner 1940 bis heute nicht bezahlt hat. Sie werden aus diesem Vorgehen wohl ersehen, dass die von Wiskocil abgegebenen Erklärungen, selbst wenn solche auf der Kreisleitung erfolgt sind, nicht ernst zu nehmen sind, oder überhaupt vorsätzlich nicht eingehalten werden.105 Was die Kreisleitung genau antwortete, liegt nicht vor, aber einen Monat später war Györi wirklich sehr erstaunt, nach nunmehr fünf Monaten die Nachricht zu erhalten, dass ich mich mit Frau Wiskocil persönlich in‘s Einvernehmen setzen soll, da Sie [die Kreisleitung] jede weitere Intervention als aussichtslos ablehnen müssen. […] Es ist mir jedenfalls nicht erklärlich, dass man einen Wiskocil nicht zur Einhaltung seiner auf sich genommenen Verpflichtung zwingen kann. Wilhelm Györi war mit seinem Latein am Ende und wollte in Erfahrung bringen, welchen prinzipiellen Standpunkt ich als Verwalter einzunehmen habe, da ich weder als Judenschützling gelten noch durch Zustimmung zu einem ganz unzureichenden Anbot Grund zu Vorwürfen seitens eines arischen Hausbesitzers geben will. Denn dass in absehbarer Zeit das Haus in arischen Besitz übergehen wird, steht wohl außer Zweifel.106 Kreiswirtschaftsberater Karl Zeller antwortete einen Tag später und riet Karl Wiskocil auf Zahlung des Mietzinses bzw. auf Räumung zu klagen. Zuvor schob er noch die Verworrenheit des Falles seinem Vorgänger in die Schuhe und gab gleichzeitig seine Machtlosigkeit gegenüber einem NS-Kaliber wie Wiskocil offen zu. Ich selbst hätte Ihnen von allem Anfange an darüber keinen Zweifel lassen, dass ich keinerlei Mittel habe, Wiskocil zur Zahlung des Zinses oder aber zur Räumung der Wohnung und des Lokales zwangsweise zu verhalten.107 Karl Wiskocil war das Paradebeispiel eines Parteigenossen, der aufgrund seiner Verdienste/Verbrechen auf Sonderrechte pochte, da er sich als Teil einer neuen Elite betrachtete. An einen Juden Miete zu zahlen, das kam für einen Menschen wie ihn nicht in Frage. Auch wenn der jüdische Besitzer das Geld nie zu Gesicht bekommen würde, weil vollkommen entrechtet, und das Haus ohnehin von einem Parteigenossen verwaltet wurde, hier ging es 103 Ebd. – Polit. Beurteilung (Aug. 1940). 104 Vgl. ebd. – Hermann Jülg an die Kreisleitung. 105 StA B, GB 052/Personalakten: Wiskocil Karl – Gebäudeverwaltung Györi an Kreisleitung (12.01.1940). 106 Ebd.– Gebäudeverwaltung Györi an Kreisleitung (09.02.1940). 107 Ebd. – Karl Zeller an Gebäudeverwaltung Györi (10.02.1940).
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Dritter Teil Expansion und Zenit
ums Prinzip. Auf der anderen Seite brachte er dadurch das NS-Herrschaftsgefüge in Verlegenheit. Sein Fall war zwar die Ausnahme, aber solche Einzelfälle sprachen sich herum und unterminierten dadurch das propagandistische Daherschwadronieren von deutscher Ordnung und der Floskel von dem Gemeinnutz vor bla, bla, bla… Ein Einschub sei hier noch erlaubt: Wenn man bedenkt, wie skrupellos und selbstherrlich solche Menschen wie Karl Wiskocil gegen die eigenen Reihen und das eigene System vorgingen, kann man sich gut ausmalen, wie sie gegen Menschen vorgingen, die als Feinde und Volksschädlinge klassifiziert wurden. * Fassen wir die unterschiedlichen Enteignungsfälle zusammen, so konnte der Wunsch des NS-Regimes nach ordentlicher und planvoller „Arisierung“ und „Liquidierung“ nicht immer eingehalten werden. Aus unterschiedlichen Gründen gab es ein unerwünschtes Durcheinander, und die Enteignungen konnten sich über Monate und Jahre hinweg schleppen – inklusive volksgemeinschaftlicher und parteiinterner Streitereien, die in Gerichtsprozesse ausarteten. Das nagte am Image des NS-Staates. Die von mir vorgestellten Fälle sind nur ein Bruchteil der damals durchgeführten „Arisierungen“. Werfen wir einen Blick in das Buch „Jüdisches Leben in Baden. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“ von Thomas E. Schärf (heute Elie Rosen), so finden wir 300 enteignete Immobilien. Neben den Enteignungen finden wir in dem oben erwähnten Werk mit dem Stichtag 13. März 1938 noch 154 Gewerbebetriebe, Handwerker, Geschäfte usw. sowie 51 Ärzte, Rechtsanwälte und sonstige freie Berufe, die vom NS-Regime als jüdisch betrachtet wurden und der Liquidation anheimfielen. Daneben, oftmals vergessen, kam es zu zahlreichen Vereins- und Stiftungsauflösungen und der Konfiskation des jeweiligen Vermögens. Ein Teil wurde bereits 1938 vernichtet. Im August 1939 wurde die Todesco-Stiftung (unter anderem zuständig für bedürftige jüdische Badegäste) aufgelöst, und das dazugehörige Gebäude in der Johannesgasse 10 (zwei Stockwerke, 15 Zimmer, 5 Kabinette und 4 Kammern) samt Stiftungsvermögen der Stadt Baden zugesprochen bzw. durch die Gemeinde erworben. Der Schätzwert lag bei 30.000 RM. Als Ariseuer trat Rudolf Schwabl auf. Genauso an die Gemeinde übertragen wurde das jüdische Waisenhaus in der Germergasse 48. Die damit verbundenen Vereine „Kriegswaisenfonds der Agudas Jisroel“ und der „Förderverein Jdisches Waisenhaus“ wurden im selben Jahr gelöscht. Ferner aufgelöst wurde 1939 die Ortsgruppe Baden des „Zionistischen Landesverbandes Wien“, der 1925 gegründete „Badener Israelitische Wirtschaftsverein“, die 1936 gegründete „Jüdische Arbeitergemeinschaft von Baden“, der „Jüdische Klub“ – ein Art Dachorganisation für jüdische Jugendorganisationen in Baden – sowie der 1920 gegründete Sportklub „Unitas Baden – jüdischer Verein für Sport und Geselligkeit“.108 Das Genesungsheim des Vereines „Chewra Kadischa“ (siehe Kapitel 10) in der Braitnerstraße 23 war im September 1939 bereits geräumt. Zuvor hatte man dort 25 Juden zusam108 Vgl. www.jewishhistorybaden.com (10.04.2023) und StA B, Bauarchiv; Johannesgasse 10.
Kapitel 17 Exekution – Phase III
mengepfercht, die dann, wie es beiläufig hieß, nach Wien abgegangen wären.109 Von all den Enteignungen profitierten nicht nur die unmittelbar daran beteiligten Ariseure oder der deutsche Fiskus. Zahlreiche Menschen kamen indirekt mit den Enteignungen in Berührung. So konnte es passieren, dass eine Familie eine größere Wohnung zugeteilt bekam, sagen wir mit drei Zimmern. Frei wurde die Wohnung deshalb, weil die Familie, die zuvor dort gewohnt hatte, eine Vier-Zimmer-Wohnung arisieren durfte. Und jene Familie, die nun in der Drei-Zimmer-Wohnung eine neue Bleibe fand, hatte zuvor in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gewohnt, die nun wiederum jemandem zugutekam, der zuvor mit einem Kabinett auskommen hatte müssen. Und über das Kabinett freute sich ein anderer, der zuvor in einer feuchten Einzimmerwohnung hausen musste.110 Im Endeffekt haben wir eine einzige „Arisierung“ und eine Handvoll Profiteure – wobei die Mehrheit nicht unmittelbar mit der „Arisierung“ zu tun hatte. Oder denken wir an die Umsiedlungen der ehemaligen Barackenbewohner der Vöslauer- und Braitnerstraße, auch wenn die Aktion mehr schlecht als recht über die Bühne gelaufen war (siehe Kapitel 14). Dass sich jene Menschen, die zuvor in katastrophalen Bedingungen leben mussten, nicht unbedingt Gedanken machten, wie und weshalb nun genau der wohntechnische Aufstieg erfolgte, ist nachvollziehbar. Bei der Enteignung jüdischer Vermögenswerte musste man nicht unmittelbar mitmachen, um ebenfalls ein Stück des Kuchens abzubekommen. Die wenigsten Badener durften arisieren. Wesentlich mehr Menschen profitierten von den erzwungenen Verkäufen ihrer jüdischen Mitmenschen, die dringend Geld benötigten, um das Land verlassen zu dürfen. Oder von den beschlagnahmten Gütern, die im Nachhinein günstig verkauft oder versteigert wurden. Hier stoßen wir oft auf ein „Nach1945er-Motto“: Wenn ich es nicht kaufe, dann kauft es halt wer anderer. Vergleichbar mit den Erklärungen, weshalb man der NSDAP beigetreten war. Besser ich kaufe oder arisiere es, als ein Nazi. Ich würde darauf aufpassen und gegebenenfalls wieder zurückerstatten. Es war teilweise ein Schönreden, ein Nichtwahrhaben-Wollen, ein Verdrängen oder ein Nicht-Verstehen – was bei Kindern logischerweise der Fall war. Groß waren ihre Augen, wenn der Vater oder die Mutter plötzlich einen neuen Mantel trug, wenn sie aus neuem Geschirr aßen oder im Wohnzimmer ein neuer Esstisch stand. Sie freuten sich selbst, wenn sie neue Winterschuhe ihr Eigen nennen durften oder neues Spielzeug bekamen. An neue Bettvorleger und prachtvoll gestickte Sofapölster erinnerte sich Gertrud Maurer. Der Vater hingegen war nicht so begeistert, dass die Mutter für solche Dinge Geld ausgab, selbst wenn es sich um Schnäppchen gehandelt hatte. Aso das Göld außischmeißen, und „wir haben doch eh keinen Platz“, war und blieb des Vaters Zugang.111 Letztendlich fußte dies alles auf Betrug, Diebstahl, Raub, Vertreibung, auf dem Leid anderer Menschen und dem ihnen zugefügten Unrecht. Und das Tragische daran war, dass es selbst nach diesen Verbrechen noch wesentlich schlimmer kommen sollte… 109 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe II. 110 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 152. 111 WIESER, Baden 1938, S. 33 und MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 9f.
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Kapitel 18 Vulkane brechen aus, Kriege werden begonnen Oder: Von ersten Opfern, ersten Helden und ersten Kriegsweihnachten sowie von ausgezeichneten Müttern
Ticktack… Es war nur noch eine Frage der Zeit. Die Angst vor einem Krieg lag in der Luft. Berlin wusste es. In den Stimmungsberichten stand es schwarz auf weiß. Dabei war klar, dass ein Krieg unumgänglich war. Es stand in Hitlers „Mein Kampf“. In der medialen Berichterstattung hingegen eilte man von einer friedlichen Übereinkunft zur nächsten. Die Kriegstreiber waren immer die anderen, und stets war es Hitler, der die Friedenskohlen aus dem Kriegsfeuer holen musste. Andauernd brachte oder rettete der Führer den Frieden in Europa. Im August 1939 zogen erneut medial düstere Wolken am Horizont auf – der Polenterror suchte die deutsche Minderheit in der polnischen Republik heim. Die Badener Zeitung war ganz auf NS-Propaganda-Linie. Das polnische Parlament wurde als größenwahnsinnig bezeichnet, Fotos von irgendwelchen Munitionslagern wurden abgedruckt, der Einmarsch polnischer Truppen in die freie Stadt Danzig stand kurz bevor, Massenverhaftungen durch polnische Behörden sollen an der Tagesordnung gestanden sein, Gewalt, Terror, Vertreibung – man titelte: Flucht aus der polnischen Folterkammer. Illustriert wurden solche Berichte mit Fotos, auf denen deutsche Flüchtlinge zu sehen waren, ausschließlich Frauen und Kinder, die mit verängstigten und weit aufgerissenen Augen in die Kamera starrten. Und dann der nächste Paukenschlag – der Hitler-Stalin-Pakt! Fassungslosigkeit in weiten Teilen der Gesellschaft. Desillusion und Konfusion bei Dunkelrot und Braun. Der Chauffeur Johann Mochal war mehr als verwundert. Pakt zwischen Hitler und Stalin? Er hatte „Mein Kampf“ gelesen und ihm fiel ein, auf Seite 167 stand doch klipp und klar, nie werde ich mit Russland einen Pakt abschließen und solle man daher jetzt aus dem Buche das Blatt herausnehmen.1 Sein Hinterfragen brachte ihm eine Anzeige nach dem HeimtückeGesetz ein und kostete ihn seine Anstellung bei der Oetker-Fabrik in Baden. Im selben Atemzug keimte Hoffnung auf, dass womöglich wieder ein Krieg abgewendet würde und der Führer den Frieden zu bewahren wusste. Doch Pakt und Friedenshoffnung hin oder her, es war nicht zu übersehen, dass Musterungen und Einberufungen junger Männer wie am Fließband vonstattengingen. Schon im August 1938 begann in Baden die 1
Vgl. StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II; Mochal Johann (geb. 1892).
Kapitel 18 Vulkane brechen aus, Kriege werden begonnen
Aushebung und Musterung der Jahrgänge 1890 bis 1918. Die zu Untersuchenden mussten zuvor von einem Unteroffizier oder SA-Mann gedrillt werden – Antreten, Wegtreten, Marschieren, Wendungen, Stillstehen, Augen rechts, Augen links, Augen geradeaus, „rührt Euch“, strammes Ausstrecken des rechten Armes zum deutschen Gruß – waren aus dem Effeff zu können. Weitere Fertigkeiten, wurde angemerkt, seien nicht notwendig. Ferner wurden die zu Musternden aufgefordert, gewaschen, mit sauberer Wäsche und geschnittenem Haar im Gasthof Brandner in der Wassergasse 31 zu erscheinen. Hinzugefügt wurde, dass die zu Untersuchenden nüchtern erscheinen mussten (wobei nicht immer klar war, ob mit leerem Magen oder nicht alkoholisiert).2 Mit einer militärischen Ausbildung wurde die Jugend nicht erst bei der Wehrmacht konfrontiert. Wir haben bereits von den paramilitärischen Übungen der SA in Baden gehört und nicht zu vergessen von all den anderen Vereinen und Verbänden, egal welcher politischen Ausrichtung, die ebenso auf militärischen Drill setzten. Nun, nach dem Anschluss, kam der Reichsarbeitsdienst RAD hinzu – ein sechsmonatiger Arbeitsdienst für junge Menschen, bevor der männliche Part zum Gewehr greifen durfte und der weibliche in der Mutterrolle aufgehen. Das geographische Einsatzgebiet des RAD umfasste das gesamte Reichsgebiet. Bei manchen ging es gleich nach der Matura los – diese fand in Baden 1939 bereits im März statt. Herbert Krüger war einer von ihnen. Stationiert in Andau, untergebracht in irgendeinem Barackenlager, das nur mittels Passierschein betreten und verlassen werden durfte, hieß es für ihn das nächste halbe Jahr Drainagen graben. Zwischendurch sportliche Ertüchtigung, Exerzierübungen, strammes Stehen und etwas Kriegspielen – all das mit einem Spaten anstatt einem Gewehr. Diese „Maturareise“ ins Altreich, inklusive militärischer Ausbildung, wurde durch die Stadtgemeinde Baden mit einer Werbetour für die Kurstadt kombiniert – finanziert durch heimische Bankinstitute.3 Es war ein perfekter PR-Coup. Werbung für den Kurort, und die Werbeträger kamen militärisch gedrillt zurück. Gertrud Maurer war dieser Militarismus in Friedenszeiten nicht ganz geheuer. Am 26. August 1939 wurde der Vater eingezogen. Mit ihm zahlreiche andere Männer aus ihrem familiären und bekannten Umfeld, und man begann Pferde und Wagen zu requirieren. Was war da los? Und vor allem, weshalb in Friedenszeiten? Ihr fiel ihr Großvater ein, der als einer der wenigen vor dem Ersten Weltkrieg ein Auto besessen und es noch schnell vor Kriegsbeginn verkauft hatte. Als die Behörden es dann requirieren wollten, war es nicht mehr da. Aber da war bereits Krieg, so ihre Schlussfolgerung, und das Requirieren dadurch legitim. Aber im Frieden?4 Die Zweifel einer nun Zehnjährigen waren nicht das Einzige, was das NS-Regime zur Kenntnis nehmen musste. Eine Kriegsbegeisterung wie 1914 war bei weitem nicht auszumachen. Aus den Stimmungsberichten des Sicherheitsdienstes (SD) ging eindeutig hervor, die Stimmung war gedrückt, bedrückt und niedergedrückt. Lust auf ein Gemetzel wie 2 3 4
Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. I Erfassung und Musterung. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 28 u. S. 36. Vgl. MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 45.
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Dritter Teil Expansion und Zenit
zwischen 1914 und 1918 hatten die wenigsten Volksgenossen. Trotzdem mussten sämtliche Eventualitäten für den kommenden Krieg unters Volk gebracht werden. Am 30. August 1939 erklärte die Badener Zeitung unter dem Titel Jedem das Seine!, welche Regeln, nach der Einführung von Bezugsscheinen für bestimmte Waren, Lebensmittel und Verbrauchsgüter, befolgt werden mussten. Ziel war eine gerechte Verteilung. Bestimmte Lebensmittel, Hygieneartikel, Heizmaterial, Treibstoff, Spinnstoffwaren und Schuhwaren durften nur mehr mit behördlicher Genehmigung an Verbraucher ausgegeben werden. Zum Beispiel gab es in der Woche pro Kopf 700 Gramm Fleisch und Fleischwaren, Zucker 280 Gramm, Grütze/Grieß 150 Gramm, Kaffee oder Kaffee-Ersatzmittel 63 Gramm die Woche, Tee 20 Gramm. Andere Produkte durften jeden Tag ausgegeben werden. Milcherzeugnisse, Öle oder Fette 60 Gramm am Tag, Milch 0,2 Liter am Tag – Zusätze gab es für Kinder, Schwangere, Stillende und Schwerarbeiter.5 * Am 1. September 1939 passierte dann das, was die NS-Führung wollte. Der Krieg, der feststand, der immer nur verschoben wurde, begann endlich, indem das Deutsche Reich die Republik Polen überfiel. Ein Aufruhr und ein großes Wuseln, blieb Gertrud Maurer von diesem 1. September in Erinnerung. Und sie wunderte sich wie so oft in diesen Tagen. Wieso brach dieser Krieg aus? Ihre Frage war nicht unberechtigt und führt zu einer totalen Absurdität. Die außenpolitischen Erfolge der vorangegangenen Jahre hatten zu einer massenhaften, tief verankerten Akzeptanz des NS-Regimes geführt. Hitlers Mythos beruhte allerdings paradoxerweise darauf, dass diese Erfolge allesamt friedlich zustande gekommen waren.6 Genauso dachte die Zehnjährige. Sie nahm an, der Führer werde den polnischen Korridor in einer solchen Weise besetzen, wie er es mit Österreich, den Sudentengebieten und der RestTschechei getan hatte. Deswegen: Weshalb Krieg? Hätte der Führer nicht warten können, bis sich die friedliche Einigung bezüglich Danzigs und des Korridors hätte erzielen lassen?7 Ihr Vater kam am Nachmittag auf einen Sprung nach Baden und hatte ein Kilo Kakao für den Vorratsschrank dabei. Die Mutter war leicht entsetzt. Gleich ein ganzes Kilo? War das nicht zu viel? Wie lange wird denn dieser Krieg dauern, fragte sie sich.8 Es waren große Zeiten, wie es Gertrud Maurers Vater gegenüber ihr nach dem Anschluss formuliert hatte. Mit dem Kriegsbeginn schienen die Zeiten noch größer zu werden. Für Alois Brusatti hätten sie damals nicht groß genug sein können, als er Jahre später in seinem Tagebuch blätterte. Wie stolz er damals war, solch geschichtsträchtige Zeiten miterleben zu dürfen, und das als Soldat. Endlich konnten er und seine Kameraden, durchdrungen von NS-Propaganda und voller Naivität, dem schwächlichen Westen die Leviten lesen, indem sie die Grenzen des Deut5 6 7 8
Vgl. BZ Nr. 69 v. 30.08.1939, S. 2. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 196. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 47. Vgl. ebd. S. 45f.
Kapitel 18 Vulkane brechen aus, Kriege werden begonnen
schen Reiches nach Osten verschoben. Wir jungen Soldaten nahmen diesen Kriegsbeginn als Abenteuer hin, als einen weiteren Abschnitt eines von uns nicht zu durchschauenden Ereignisses.9 Doch zum Genießen dieser großen Augenblicke blieb nicht lange Zeit. Alles musste schnell gehen, erzählte der Automechaniker Robert Voll nach 1945. Chronos drängte. Am 25. August 1939 hatte er seine Einberufung erhalten. Zwei Stunden stellte man ihm zur Verfügung, um seinen KFZ-Betrieb stillzulegen. Ein paar Tage später war er schon an vorderster Front beim Überfall auf Polen mit dabei. Es war eine unvorstellbare Dynamik. Was längere Zeit beanspruchte, war die Feststellung, dass er gar nicht dem Idealtypus des deutschen Kriegers entsprach. Aufgrund eines Geburtsfehlers hatte er an jeder Hand nur drei Finger und war vier Wochen zuvor erst aus schwerem Krankenlager, wie er es formulierte, aufgestanden. Selbst die Fürsprache ihm wohlgesonnener Ärzte wie Dr. Hannes Kopf und Dr. Heinrich Nothnagel – die allerdings keinen guten Ruf bei den NS-Stellen genossen (siehe Kapitel 19 und Kapitel 3 Hospital) – änderte nichts an seinem wortwörtlichen Fronteinsatz. So begannen für mich die Schikanen, und ich musste volle 3 Jahre an den Fronten herumvegetieren, bis ich dann endlich von einem barmherzigen Arzt als Schwerkriegsbeschädigter abrüsten konnte.10 Die Schnelligkeit machte selbst vor der Berichterstattung nicht halt. Erst am 2. September 1939 erschien die erste „Kriegsausgabe“ der Badener Zeitung. Eine Schlagzeile in Frakturschrift: Gewalt gegen Gewalt! Es folgten zahlreiche Artikel zu neuen Gesetzen, Lebensmittelkarten, Rationierungen, zwischendurch Kriegspropaganda – wie dem Deutschen Reich der Krieg aufgezwungen wurde – und Tipps, wie man sparsam haushalten konnte. Streng aber korrekt und an alles wäre gedacht, solchen Eindruck beabsichtigten die NS-Behörden auszustrahlen. Die Verordnung zur vorläufigen Sicherstellung des lebenswichtigen Bedarfs des deutschen Volkes ist am 28. August 1939 in Kraft getreten. Auf Grund dieser Verordnung wurden bei den unteren Verwaltungsbehörden (Landräte) Ernährungsämter eingerichtet, die für die Ausgabe der Bezugsscheine und für die Versorgung der Bevölkerung zu sorgen haben.11 Das Ernährungsamt für den Landkreis Baden befand sich in der Germergasse 17 und wurde von Landesregierungskommissär Dr. Josef Enigl geleitet.12 Neben den behördlichen Verordnungen feuerte die NS-Propaganda aus allen Rohren. Den Kampf gegen diesen neuen Versuch, Deutschland zu vernichten, nehmen wir auf. Deutschland wird nicht mehr kapitulieren! Jedes Opfer für das Lebensrecht der Heimat. Jeder an seinen Platz – so klangen die Schlagzeilen in der Badener Zeitung.13 Das Konvolut an Drohungen und Strafen gegen jene, die gegen eine der neuen Spielregeln verstießen, nahmen quantitativ und qualitativ spürbar zu. In der folgenden Ausgabe 9 StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 17. 10 Sein Antrag wurde im Februar 1946 abgelehnt, im Oktober 1947 jedoch stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Voll Robert (geb. 1897). 11 Amts-Blatt des Landrates des Kreises Baden 65. Jahrgang. 1939, S. 73. 12 Josef Enigl (geb. 1914). 13 BZ Nr. 67 v. 06.09.1939, S. 1 u. 2.
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der BZ wurden bereits schwerste Strafen für „Volksschädlinge“ eingefordert, gegen Hamsterer und solche, die die Preise in die Höhe trieben. Empört meldete sich Gauleiter Jury zu Wort. Der Führer hat das ganze Volk zur Verteidigung der Ehre und der Freiheit Großdeutschlands aufgerufen. In schicksalsschwerer Zeit haben wir uns alle wie ein Mann um die Fahne unseres Reiches geschart.14 Geldstrafen, Arrest, Gefängnis, Lohnkürzung, Entlassung – um die „Volksgemeinschaft“ zu disziplinieren, hatte man bewährte Instrumentarien schnell bei der Hand. Um die Produktivität zu steigern, wurden diverse Arbeitszeitbeschränkungen, sei es bei der Jugendoder Frauenarbeit, außer Kraft gesetzt und Zuschläge gekürzt.15 Der Krieg verbot, selbst Fragen zu stellen. Das Recht des Krieges, das Recht und die Pflicht, Krieg zu führen, durften nicht angezweifelt werden. Der Krieg verschärfte alles. Jeder Versuch, die Geschlossenheit und den Kampfeswillen des deutschen Volkes zu zersetzen, ist rücksichtlos zu unterdrücken. Insbesondere ist gegen jede Person sofort durch Festnahme einzuschreiten, die in ihren Äußerungen am Sieg des deutschen Volkes zweifelt oder das Recht des Krieges in Frage stellt […]. Und wenn doch, dann wird auf höhere Weisung brutale Liquidierung solcher Elemente erfolgen […].16 Goebbels forderte gleich die Todesstrafe für das Hören ausländischer Sender, und Betroffene sollten rücksichtslos an den medialen Pranger gestellt werden.17 Von Anfang an war man darauf aus, die Wiederholung eines gängigen Geschichtsmythos aus dem Jahre 1918 im Keim zu ersticken, wonach eine verräterische Heimatfront der siegreichen „echten“ Front einen Dolch in den Rücken gerammt hätte. Hier regten sich jedoch interne Gegenstimmen. Wollte man die „Volksgemeinschaft“ nicht ganz verschrecken, musste die Sprache etwas abgemildert werden. Eine Weisung des Landrats Wohlrab und des NSKK-Sturmführers Franz Schawerde an das NSKK am 9. September 1939, legte großen Wert auf Höflichkeit bei der Anhaltung und Kontrolle motorisierter Volksgenossen. Auf die Höflichkeitsform wird dringendst aufmerksam gemacht, und ist diese höfliche Form unter allen Umständen einzuhalten, wenn sich auch der Fahrer nicht anständig benimmt!!! Zweck der Anhaltungen war das Ausfragen nach dem Auto, dem Treibstoff, dem Zielort und dem Grund der Ausfahrt. Doch stets höflich bleiben – das wurde insgesamt viermal betont. Letztendlich wurde dem Volksgenossen ins Gewissen geredet bzw. eine versteckte Drohung kommuniziert, weil heute, wo die Wirtschaft sparen muss und jeder Tropfen Brennstoff für wichtige und notwendige Zwecke nur zum Wohl des deutschen Volkes dringend benötigt wird, es nicht am Platze ist, Privat-, oder nicht gerade sehr dringende Fahrten, oder solche nur zum Vergnügen zu machen und gerade zu der Zeit, in welcher brave 14 BZ Nr. 72 v. 09.09.1939, S. 1. 15 Vgl. TÁLOS Emmerich, Sozialpolitik in der „Ostmark“. Angleichung und Konsequenzen. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 376–408, hier 382f. 16 LONGERICH, Himmler, S. 490, hier zitiert nach: BAB, R 8/243 (Bundesarchiv, Abt. Berlin, Reichstelle für gewerbliche Wirtschaft), auszugsweise gedr. in: Broszat, „Konzentrationslager“, S. 399. 17 Vgl. LONGERICH, Goebbels, S. 429.
Kapitel 18 Vulkane brechen aus, Kriege werden begonnen
Soldaten, heldenmütige Volksgenossen, ja sogar Kinder unter den größten Grausamkeiten und unter den größten Qualen, ihr Leben für das Wohl unseres Vaterlandes, lassen müssen. Es ist nicht nur beschämend, heute Ausflüge zu machen, nein es grenzt sogar an Sabotage.18 Neun Tage nach Kriegsbeginn konnte aus einer vergnüglichen Ausfahrt also ein Sabotageakt konstruiert werden. Konsequenzen sollte es vorerst keine geben. Die NSKK-Einheiten hatten nach der vollzogenen Aufklärung keine Befugnis, eine Weiterfahrt zu verbieten – nur eben höflich darauf hinzuweisen, die private Fahrt abzubrechen. Weigerte sich der Fahrer, dem guten Rat Folge zu leisten, durfte nur ein Vermerk getätigt werden – was in der NS-Zeit durchaus ausreichend sein konnte, um in Teufels Küche zu geraten. Neben den heftigen NS-medialen Peitschenhieben schimmerte hier und da auch ein wenig das Zuckerbrot durch. Sparsamkeit, Verzicht und Entbehrung mussten nicht immer mit martialischen Formulierungen einhergehen. Wir finden weiterhin Berichte, die auf Überzeugungsarbeit setzten. Die vegetarische Kost wurde als gesunde und günstige Alternative angepriesen, und die Hausfrauen würden sich wundern über die vielen schmackhaften Rezepte. Für den Anfang schlug die BZ sogar zwei fleischlose Tage in den Wirtshäusern vor.19 Und da das NS-Regime um das leibliche Wohl seiner Volkgenossen sehr besorgt war, durften mahnende Worte in Bezug auf den Alkoholkonsum nicht fehlen wie der Hinweis darauf, welche Schäden dieser für den individuellen Geist und Körper als auch auf den Volksgeist und Volkskörper habe. Trunkenbolden war es nunmehr verboten, stark alkoholisiert Lokale zu betreten.20 Der Kampf gegen die Trunkenheit war ausgerufen worden. Sperr- und Polizeistunden traten mit dem 11. September in Kraft. Heurigen hatten um 22 Uhr zu schließen, Gasthäuser um 23 Uhr, das Casino um 24 Uhr und Cafés sowie Bars um 1 Uhr früh.21 Weniger Fleisch und gedrosselter Alkoholkonsum – es waren beileibe keine populären Maßnahmen. Doch noch herrschte je nach gesellschaftlicher Schicht und politischer Sozialisation eine eruptive Euphorie vor. Selbst als aus dem Zweistaatenkrieg (Deutschland gegen Polen) mit der Kriegserklärung Frankreichs und Großbritanniens ein Weltkrieg entbrannte, jubelten in den Straßen Badens genug Menschen und winkten den vorbeimarschierenden Soldaten siegestaumelnd zu. Zigaretten, Zuckerln und Obst wurden an die Soldaten verteilt […] oder sie liefen immer wieder mit frisch gefüllten Bierkrügen auf die Straße und gaben den Soldaten zu trinken.22 Sie wollen den jungen Männern etwas Gutes tun, dachte sich Gertrud Maurer. Wir lesen über jubelnde Menschen, und jeder von uns kennt die diesbezüglichen Fotos. Das Jubeln in der Öffentlichkeit machte die Menschen sichtbar. Jene, die nicht auf der Straße jubelten, sondern vielleicht angsterfüllt in ihren vier Wänden ausharrten, blieben 18 19 20 21 22
StA B, GB 052/Parteiformationen IV; Fasz. I NSKK; 1939. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 29 und BZ Nr. 70 v. 02.09.1939, S. 3. Vgl. BZ Nr. 79 v. 04.10.1939, S. 2 und BZ Nr. 88 v. 04.11.1939, S. 2. Vgl. Amts-Blatt des Landrates des Kreises Baden 65. Jahrgang. 1939, S. 76. MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 46.
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hingegen unsichtbar – von jenen Menschen, die als Schädlinge klassifiziert wurden, ganz zu schweigen. Hildegard Zieger erinnerte sich, wie ihr Vater […] den Tränen nahe, Radio hörte und zu mir sagte: „Das ist das Ende!“.23 Laut Ernst Röschl waren 70 % der Badener antinationalsozialistisch eingestellt. Die restlichen 30 % waren die Nutznießer, die am ersten Kriegstag noch emsig damit beschäftigt, ihre Beute, Geschäfte, Wohnungen, Kanzlei etc. für sich und ihre Nachkommen zu sichern. Und sie waren siegessicher und stolz, dass der Führer etwas gegen die „Scheißpolacken“ unternimmt.24 Das Jubeln war nicht unbedingt ein Indikator für wahre Freude und Zustimmung. Manchmal war es die reine Neugier, die einen auf die Straße lockte – oder das Freibier. Es war alles möglich und menschlich, Angst und Freude, Siegeszuversicht und Untergangsstimmung in all den Schattierungen und der Wechselhaftigkeit. Hetze und Kriegspropaganda, Siegeseuphorie und eine Dämonisierung des Feindes, Menschen rüsteten sich für die Front, und andere für den Parteitag in Nürnberg 1939, auf dem der Friedenswille des Deutschen Reiches hätte kundgetan werden sollen. Aus dem Kreis waren 170 uniformierte politische Leiter, 235 Zivilparteigenossen, 90 SA-Männer, 50 SS-Männer, 45 Frauen der NS-Frauenschaft abbestellt worden. Der Parteitag, der am 2. September hätte stattfinden sollen, wurde abgesagt.25 Die Normalität, die zuvor schon anormal war, wurde noch anormaler. In der großen Politik, wie auch im Kleinen. Etwas Anormales im Mikrobereich passierte, als Gertrud Maurers Vater nach Kriegsbeginn seiner Familie einen Blitzbesuch zu Hause abstattete. Ausgerechnet jetzt war die Mutter nicht da. Nur die Tanten und die Oma. Und da passierte etwas, wovon Gertrud Maurer zuvor noch nie Zeugin geworden war, die Tanten samt Großmutter begannen zu weinen, und sie hatte noch nie einen Erwachsenen weinen gesehen.26 * Mit den Lebensmittelkarten, über deren unmittelbare Verteilung die Blockwarte wachten, hatte das NS-Regime eine gute Kontrollmöglichkeit, was die Konsumation seiner Volksgenossen anbelangte. Allerdings musste man bald feststellen, dass das „System Bezugsschein“ missbraucht werden konnte. Der Landrat gab deshalb in der Badener Zeitung bekannt, dass Volksgenossen, die über genug Vorräte verfügten, egal ob davor schon angespart oder erst durch die Lebensmittelkarten, verpflichtet waren, diese anzugeben, um nicht weitere Bezugsscheine zu erhalten. Falls nicht, lief man Gefahr der Hamsterei angeklagt zu werden.27 Das Zuteilungssystem erforderte regelmäßige Aufklärungsarbeit. Auf einer ganzen Titelseite wurden im November die Kleiderkarten erläutert. Die Kleiderkarten bestanden 23 24 25 26 27
WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 47. Ebd. S. 43. Vgl. BZ Nr. 67 v. 23.08.1939, S. 1. MAURER, Das 1000jährige Reich I, S.47 Vgl. BZ Nr. 91 v. 15.11.1939, S. 4.
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aus Papierabschnitten mit bestimmten Werteinheiten, und jedes Gewandstück wies einen unterschiedlichen Wert auf. Diese Papierabschnitte wurden vom Verkäufer ausgeschnitten, der Wert errechnet und dann das Kleidungsstück ausgehändigt. Auf einer Kleiderkarte befanden sich 100 Abschnitte, die vom 1. November 1939 bis 31. Oktober 1940 Gültigkeit besaßen. Das Sortiment war gesplittet auf Männer- und Frauenmode. Zum Beispiel musste eine Frau für ein Taschentuch einen Abschnitt hergeben, Männer für das gleiche Produkt zwei Abschnitte. Frauensocken kosteten vier Abschnitte, die der Männer fünf. Bei Nachthemden legten Frauen 18 Abschnitte hin, Männer hingegen 25. Das Teuerste bei Frauen war ein Kostüm um 45, bei Männern der Anzug für 60 Abschnitte. Kartenfrei waren Hüte und Trauerkleidung. Sonderregelungen gab es für Kinder.28 Die Rationierung betraf auch Toilettenartikel. Seit September 1939 wurde die Belieferung der Amtsstuben und Gemeindebetriebe mit Seife mit sofortiger Wirkung eingestellt. Für anfängliche Grübelei sorgten wenig später vermehrt schwarze Tapser auf allerlei zirkuliertem Schriftgut. Das Mysterium wurde alsbald gelüftet. Die Verwendung von Indigopapier und dem Mangel an Seife um sich nach Gebrauch ordentlich die Hände zu waschen, war des Rätsels Lösung.29 Schmutzig blieben auch die Böden in den Gemeindebüros. Öl für das Einölen von Linoleumböden wurde eingeschränkt bzw. ganz eingezogen. Ferner Wischtücher und Reinigungsmittel. Grundlegende Büroartikel standen dagegen in rauen Mengen zu Verfügung. Neben dem Schmutz zog die Kälte in die Amtsstuben. Im November 1939 gab Schmid bekannt, die Diensträume nicht über das Maß zu heizen. Ein Jahr später war er gezwungen, seine Anweisungen nochmals auszuschicken, denn Sorg- und Gedankenlosigkeit hätten in einzelnen Dienststellen zu einem überaus großen Brennstoffverbrauch geführt. Hinzu kam der Stromverbrauch, wo genauso wider den NS-Geist der Sparsam- und Enthaltsamkeit agiert wurde.30 Der Arbeits- und der häusliche Alltag war durcheinander gekommen bzw. der NS-Staat griff noch weiter in die Privatsphäre ein als bis dahin – nicht einmal Socken durfte man nach Lust und Laune einkaufen. Während die Reglementierung um sich griff, zeigte sich das NS-Regime selbst zugeknöpft. Die Veröffentlichung von statistischen Ergebnissen und Erhebungen, sei es Bergbau, Handel, Energie- oder Landwirtschaft, wurde im Oktober 1939 bis auf weiteres eingestellt. Selbst von der öffentlichen Bekanntgabe dieser Anordnung, teilte Landrat Wohlrab mit, wäre abzusehen.31 Änderungen, wenn auch nicht allzu große, betrafen die stadtbekannten Sammlungen. Sie wurden um bestimmte Parolen erweitert, schließlich herrschte Krieg. Das Winterhilfswerk mutierte zum Kriegswinterhilfswerk, und man sammelte für die Soldaten an der Front und nicht mehr ausschließlich nur für bedürftige Volksgenossen.32 Die NS-Pro28 Vgl. BZ Nr. 92 v. 18.11.1939, S. 1. 29 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. II Rohstoffe/Energie; Spinnstoff-Heizmaterial. 30 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1939 und Kriegsalltag II; Fasz. II Rohstoffe/Energie; 1940. 31 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag II, Fasz. I Ernährung; 1939. 32 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 30.
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paganda konnte sich hier nach Lust und Laune austoben. Aufbauende Sprüche, um die „Volksgemeinschaft“ auf den Krieg einzuschwören, finden sich in jeder Ausgabe der Badener Zeitung. Für jede gesellschaftliche Gruppe war etwas dabei. Für die Frauen zum Beispiel: Der Sinn des Frauenlebens heißt: Opfer. Wer das nicht wahrhaben will, rüttelt an den Grundordnungen des menschlichen Daseins, an den Grundlagen des nationalsozialistischen Staates.33 Für die Landwirte hieß es: Bauernarbeit ist heute mehr denn je Arbeit für Volk und Vaterland.34 Und für die Arbeiter: Ich rufe Euch auf, Männer und Frauen der Deutschen Arbeit, Betriebsführer und Gefolgschaft, jung und alt in Stadt und Land, tretet an und zeigt Euch unseren Soldaten würdig.35 Das Schwadronieren über Opfer, Ehre und Soldatentum führte allerdings nicht dazu, dass die von den Nationalsozialisten als monolithisch betrachtete „Volksgemeinschaft“ im Gleichschritt an die Front marschierte. Ganz flächendeckend bestand die Lust auf Krieg und Front dann doch wieder nicht bzw. das mit der Heimatfront konnte ganz anders interpretiert werden. Zwei Wochen nach Kriegsbeginn stellte Landrat Wohlrab im Namen des Wehrkreiskommandos XVII in einem Rundschreiben an die Bürgermeister des Kreises fest, dass die Zahl der Unabkömmlichkeitsanträge in der gleichen Zeit, in der unsere Truppen im schwierigen Ringen vor dem Feinde stehen, ungewöhnlich stark anwachsen. Er machte deutlich, dass noch mehr Männer eingezogen werden müssen. Ihm war klar, dass Arbeitskraft entzogen werde, doch der Krieg gehe nun einmal vor. Laut ihm müsste die Wehrmacht sinngemäß den Mittelpunkt des damaligen männlichen Daseins ausmachen. Die Spitzen des Wehrkreiskommandos XVII pochten auf eine rigorose Prüfung aller UK-Ansuchen, wobei von den deutschen Männern verlangt werden darf, dass sie auch unter Zurücksetzung eigener Bequemlichkeit die Belange der Wehrmacht an 1. Stelle berücksichtigen.36 Was gäbe es denn Wichtigeres als den Krieg! Inwiefern hier Naivität oder ein Wink mit dem Zaunpfahl vorlag, kann jeder selbst entscheiden, aber Tatsache war, so mancher Betriebsführer sah seine Arbeitskräfte lieber an der betrieblichen Heimatfront als an der Front in Polen. Besonders hart war es für Klein- und Kleinstbetriebe, die mit dem Entzug von Arbeitskräften stärker belastet waren als die Großen. Sie mussten nicht nur mit den Großbetrieben um Aufträge konkurrieren und mit den vielen Großbaustellen, die ihnen Arbeitskräfte entzogen, sondern jetzt zusätzlich mit der Wehrmacht.37 Dass dabei allerlei Schindluder getrieben wurde, steht außer Frage. Ich erinnere an die alten, zum Teil adeligen k.u.k. Offiziere oder Sozialisten, die in den Militär-Amtsstuben ihren Dienst verrichteten, aufgrund ihrer Sozialisation nicht unbe33 34 35 36
BZ Nr. 73 v. 13.09.1939, S. 2. BZ Nr. 74 v. 16.09.1939, S. 1. BZ Nr. 82 v. 14.10.1939 S. 3. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. I Erfassung und Musterung 1939 – Landrat an Bürgermeister (15.09.1939). 37 Vgl. EMINGER Stefan, Zwischen Überlebenskunst und Großunternehmen. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst et al. (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 2: Wirtschaft (Wien Köln Weimar 2008), S. 299–344, hier 318f.
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dingt NS-affin auftraten und UK-Stellungen fallweise recht freigiebig bewilligten. Und dass so mancher Bürgermeister auch ein bis zwei Augen zudrückte, soll genauso vorgekommen sein. Zumal der Landrat im Juli 1938 selbst noch Listen in Auftrag gab, welche Beamte und Angestellte unter die UK-Stellung fallen würden. Streng und gründlich, so nahm Wohlrab seine Bürgermeister an die Kandare, mussten die Auswahlkriterien ausfallen, ein hoher Maßstab sollte angelegt werden, und streng vertraulich war das alles zu behandeln.38 Kritik äußerte er ebenso an den laschen Musterungen. Die altbekannten Taktiken des Hinauszögerns, indem Dokumente „vergessen“ wurden oder „nicht auffindbar“ waren, mussten ab sofort beendet der Vergangenheit angehören. Des Weiteren sollte dem um sich greifendem Zuspätkommen endlich ein Riegel vorgeschoben werden, und ferner bestand kein Automatismus auf Zurückstellung bei speziellen Berufen. Die Gemeinden waren dazu verpflichtet, dass alles gesetzeskonform und ordentlich ablaufen sollte. Sie trugen außerdem die Kosten. Zwei Polizeibeamte waren abzustellen, Quartiere für Offiziere und die Anwesenheit des Bürgermeisters waren vorgesehen. Die Gegenwart des Stadtvorstandes sollte die Wichtigkeit der Musterung unterstreichen. Die Gemeinde hatte die Pflicht, einen beheizten Saal zur Verfügung zu stellen. Das eingeforderte Interieur bestand aus einer Waage, mindestens 30 Stühlen, 10 großen oder 20 kleinen Tischen, einer Waschgelegenheit, Handtüchern, Garderobenständen usw. Licht und Wärme mussten den Raum durchfluten sowie die Aura des Führers – manifestiert in einem eigens dafür aufgehängten Führer-Bildnis.39
Business as usual Verspätet, aber doch, wurde am 23. September 1939 die erste Gemeinderatssitzung nach Kriegsbeginn abgehalten. Die lange Pause erklärte Schmid mit der Umsetzung der Deutschen Gemeinderatsordnung DGO – da man zuvor immer noch recht provisorisch unterwegs war. Zu Sitzungsbeginn wurde sich zuerst gegenseitig gratuliert, auf den Krieg eingestimmt, um danach das Thema Verschuldung auf die Tagesordnung zu hieven. Bekannte Zahlen wurden jongliert, 12.907.387 RM langfristige Schulden, offene Rechnungen über 1.415.303 RM. Und der erhaltene Reichszuschuss, von 400.000 RM, wurde in 300.000 RM für die Schuldentilgung und der Rest für Investitionen aufgeteilt. Der nächste Punkt betraf die neuen bzw. die Erhöhung bestehender Steuern (Getränkesteuer, Gewerbesteuer). Argumentiert wurde dies sowohl mit dem Ziel, die Schuldenlast zu tilgen, als auch mit der Einführung der DGO. Jene führte dazu, dass die Personalkosten deutlich anstiegen und es einer Refinanzierung bedurfte. Von der Gemeindeverwaltung wurde es so dargestellt, als wenn keine andere Wahl bestünde, als haargenau die DGO abzuarbeiten. Gleichzeitig scheute man sich nicht, sämtliche Einnahmemöglichkeiten der DGO auszuschöpfen. 38 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1938. 39 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. I Erfassung und Musterung; 1939 u. 1940.
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Zusätzliche Einnahmen generierte die Gemeinde durch eine Konzessionsabgabe, die sich bisher im Jahr auf 50.000 RM belief. In der vertraulichen Sitzung kam noch der Verkauf des Elektrizitätswerkes zur Sprache, um den Wunschpreis von 680.000 RM, obwohl es nur 400.000 RM wert gewesen sein soll.40 Darauf war Bürgermeister Schmid ganz besonders stolz, am meisten auf sich selbst. Im September eröffnete er Landrat Wohlrab, dass er nicht nur einen sehr guten Preis herausschlagen habe können, sondern in weiser Voraussicht gehandelt hätte. Da laut ihm das Badener E-Werk seit 1930 keinen Strom mehr produziert, stattdessen nunmehr als Zwischenhändler der Wiener E-Werke fungiert hätte und es geplant gewesen wäre, die Zwischenhändler auszuschalten, hätte er als Wirtschaftsfachmann eiskalt zu geschlagen. Längeres Abwarten hätte den Preis gedrückt und schlimmstenfalls wäre am Ende ohnehin die Enteignung gestanden. Mit dem Verkaufsgewinn, so Schmid, würden hauptsächlich Schulden beglichen werden. 150.000 RM machten alleine die unbezahlten Strom- sowie Lieferantenrechnungen aus.41 Trotz Schmids Verkaufscoup und einem propagandistischen Größenwahn waren große Sprünge finanzieller Natur nicht zu erwarten und es galt, seine Ziele aus praktischer Perspektive erstmals klein zu halten. Dass Propaganda und Realität nicht im Gleichschritt marschierten, davon musste sich im November 1939 die Amtsgerichtsdirektion überzeugen. Da die Gemeinde die Gerichtsräumlichkeiten im Mai 1939 für ihre Zwecke eingezogen hatte, musste für Ersatz gesorgt werden. Passenderweise stand ein neues Gerichtsgebäude ohnehin auf der Agenda Schmids. Damit befand er sich mit dem Anliegen der örtlichen Justizverwaltung auf gleicher Wellenlänge. Doch dieser schwebten nicht bloß zustimmende Worte vor, sondern sich sehenlassen könnende Reichsmarkbeträge aus der Gemeindekasse. Ein Baugrund war auch schon ausgesucht – zwischen der Renn- und Beethovengasse. „Leider“ legte hier die Ministerialkommission ihr Veto ein, und auch Schmid und Wohlrab rückten davon ab. Erstens handelte es sich hierbei noch um „Systemzeit-Projekt“, und zweitens befanden sich dort stadteigene Häuser mit 38 Mietparteien. Die Weilburgstraße 10 war schon eher nach Schmids Geschmack und vor allem billiger – aber wenn bloß nicht die Realpolitik wäre, dachte sich Schmid, souffliert durch Landrat Wohlrab: Angesichts der wirtschaftlichen Lage der Stadt Baden kommt eine namhafte Beitragsleistung zur Errichtung eines Amtsgerichtsgebäudes an die Justizverwaltung zweifellos nicht in Frage.42 Ganz aus dem Schneider war die Stadt Baden erst im März 1941, als die Errichtung eines Amtsgerichtsgebäudes erneut auf die Tagesagenda kam. Die Reichsstatthalterei erklärte die Nichtzuständigkeit der Gemeinden bei der Finanzierung nichtgemeindlicher Verwaltungsgebäude. Als weiteres Argument diente die ohnehin angespannte Finanzgebarung vieler Gemeinden.43 Neben den Gemeindefinanzen lag der Fokus auf Kurbetrieb und Fremdenverkehr, wo ebenso Theorie und Realität sich in ungleiche Richtungen verabschiedeten, was Nieder40 41 42 43
Vgl. BZ Nr. 80 v. 07.10.1939, S. 1. Vgl. NÖLA, BH Baden, II–IV 1939, GR. II-5 1939; A 895. NÖLA, BH Baden, II – IV 1939, GR. II-5 1939; A 534. Vgl. NÖLA, BH Baden, II-VIII 1941; Gr.II-5 Allgemein, A 233.
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donau nicht davon abhielt, die Quadratur des Kreises anzustreben. Auf dem Papier durfte trotz Krieg die Einsatzbereitschaft und die Arbeitsfähigkeit der am Fremdenverkehr interessierten Stellen nicht leiden […], wenn auch die Kriegsereignisse naturgemäß den Fremdenverkehr beeinflussen. Um die kommende Not zu lindern, wurden gewisse Beiträge an den Landesfremdenverkehrsverband gestrichen, damit blieb den Kurorten mehr Geld in der Kasse, und es wurde Optimums verbreitet. Wenn wir berücksichtigen, dass die Kriegshandlungen im Osten so gut wie abgeschlossen sind, so kann damit gerechnet werden, dass viele Erholungsbedürftige und Kranke dem Fremdenverkehrsorten ihr Augenmerk zuwenden werden.44 Eine durchaus wünschenswerte Prognose für Baden, doch nach Kriegsbeginn setzte sich ein kurfeindlicher Kurs fort, der bereits zuvor von sich reden machte. Parteistellen und vordergründig die Wehrmacht begannen sich immer mehr in der Stadt breit zu machen und die örtlichen Kuranstalten in Beschlag zu nehmen. Schon im Sommer 1939 fanden Besprechungen in Berlin im „Ministerium für Innere und Kulturelle Angelegenheiten“ statt, deren Ziel es war, die „Staatlichen Heil- und Pflegeanstalten Peterhof und Sauerhof“ für NS-Zwecke zu adaptieren. Für den Sauerhof begann sich der Reichsarbeitsdienst (RAD) zu interessieren. Es ging zuerst um Eigentümer- und Nutzungsrechte sowie um die Modalitäten bei einer etwaigen Verpachtung. Der Sauerhof und der Peterhof sind gute Beispiele für den teilweise vielschichtigen Ablauf solcher Übernahmen einzelner Kureinrichtungen – durch wen auch immer – in Baden. Es waren Konfliktfelder betreffend Eintragungen/Übertragungen im Grundbuch, Umwidmungen, Schenkungen, Besitzrechte, Teilungensmodalitäten usw. Der RAD wünschte, den gesamten Sauerhof samt Nebengebäuden grundbuchkonform übertragen zu bekommen. Dem Peterhof würde man die Nutzungsrechte am Park überlassen. Dem verweigerte sich das Ministerium. Peterhof und Sauerhof waren Eigentum des Gaues Niederdonau, der mit dem Status quo durchaus zufrieden war bzw. entsprach das geplante Vorhaben nicht dessen Vorstellungen. Es folgte ein intensiver Schriftverkehr, in dem sich beide Seiten nicht ganz so freundlich gesonnen waren.45 Letztendlich kam es mit dem Reichsleistungsgesetz vom 1. September 1939 – RGBl. I S. 1645 sowieso ganz anders. Demnach durfte die Wehrmacht Krankenhäuser, Pflegeanstalten, Schulen, Beherbergungsbetriebe in Anspruch nehmen, wenn sie sie für Lazarettzwecke geeignet hielt. Für zivile Kurgäste waren Kur- oder Krankenaufenthalte in solchen von der Wehrmacht in Anspruch genommenen Einrichtungen weiterhin möglich, aber baulich mussten Zivilisten von Soldaten getrennt sein – eigene Speisesäle, eigene Eingänge, eigene Therapieräume usw. Das bedeutete im Falle Sauerhof und Peterhof zurück an den Start, alles musste neu ausgehandelt werden und der Disput flammte von neuem auf.46
44 BZ Nr. 80 v. 07.10.1939, S. 1. 45 Vgl. NÖLA; AZ 354 Kuranstalt Sauerhof Peterhof Verwaltungs u. Pfl. Pers. allg, K1128 – Übergabe des Sauerhofs an den RAD (02.06.1939). 46 Vgl. ebd. – Inanspruchnahme ziviler Anstalten u. dgl. zur Einrichtung von Reservelazaretten (05.10.1939).
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Gauleiter Jury zeigte guten Willen, dem RAD den Sauerhof in Aussicht zu stellen. Ein Kurheim war angedacht, das gerade der Heilung der für den RAD mit seinen zahlreichen Arbeiten in Wasser, Sumpf und Moor typischen Krankheiten dienen soll.47 Jury hatte nichts dagegen einzuwenden, doch ihm kam zu Ohren, dass der RAD den Sauerhof ohne jeglicher rechtlicher Grundlage der Wehrmacht überlassen wollte – was jene verneinten. Die Wehrmacht hingegen fackelte ohnehin nicht lange und schnappte sich den Peterhof, wobei sie vorerst auch zivilen Kurgästen ihre Pforten offenhalten musste – solange jene einen separaten Eingang benutzen würden und auch sonst baulich von den Soldaten getrennt wären. Es folgte eine detaillierte Aufstellung, zu welcher Uhrzeit wer welche Therapien erhalten sollte, Bäder besuchen dürfte, Essen zu sich nehmen könnte und die Haare geschnitten bekommen würde. Und da es sich um ein Lazarett handeln würde, war jeder Komfort zu vermeiden, es werden daher die bisher verwendeten Berndorfer Essbestecke (im Hotel und Gastgewerbe „Silber“ genannt) aus dem Betrieb genommen, sonach von der Lazarettverwaltung nicht übernommen und von dieser durch einfache Bestecke ersetzt. Das gleiche gilt für die Porzellanteller, an deren Stelle Steingut-Teller in Verwendung genommen werden.48 Mit eingebunden in die Verhandlungen und letztendlich Umsetzung war Amtsrat Rudolf Bock, leitender Verwalter der „Staatlichen Heil- und Pflegeanstalten Peterhof und Sauerhof“. Neben solchen Diskussionen, die zu Streitereien führen konnten, mussten des Weiteren die Finanzierung und die Durchführung baulicher Raumtrennungen und vieles mehr ausgehandelt werden. Es waren verworrene und mühsame Verhandlungen, an denen Wehrmacht, Gau, RAD, Stadtgemeinde und Reichsministerien teilnahmen. Dass sich die Gewichtung einzelner Akteure im Ungleichgewicht befand und wer letztendlich den Kürzeren zog, wird Ihnen, lieber Leser oder liebe Leserin, wohl jetzt schon bewusst sein – es war jedenfalls nicht die Wehrmacht. Bei der Übernahme des gesamten Kur-Komplexes Peter- und Sauerhof stoßen wir übrigens auf ein uns bereits bekanntes Problem der NS-Verwaltung – den Personalmangel. Denn der zuvor erwähnte Amtsrat Rudolf Bock, der als Leiter der Heil- und Pflegeanstalt ein nicht unwichtiges Wörtchen mitzureden hatte bzw. bei der Umsetzung aktiv mitarbeitete, war politisch alles andere als NS-Anhänger der ersten Stunde gewesen. Seine Beurteilung vom Dezember 1939 besagte: Ist ein Schützling des Kardinal Innitzer gewesen und auf dessen Befürwortung zu seinem heutigen Posten gekommen. In der Systemzeit hatten seine Untergebenen durch sein unsoziales Verhalten schwer zu leiden. Sein Beschützer ist ihm ein gutes Vorbild, wie man sich entsprechend der Zeit richtig einstellt.49 Entsprechende Meldung über Rudolf Bock lag schon im März 1939 vor. Dem Schreiben ist zu entnehmen, dass Bock von Kardinal Theodor Innitzer, der zur damaligen Zeit auch Sozialminister war, 1929 auf dem Posten des Kuranstaltsleiters installiert wurde, mit dem Auftrag, die Kureinrichtung auf Teufel komm raus von Rot auf Schwarz umzufärben. Einer seiner ersten „Großtaten“ war die Wiederinstandsetzung der Kapelle im Peterhof, was nach seiner Auffassung wichtiger war, 47 Ebd. – RAD an das Reichsministerium für Inneres (09.12.1939). 48 Ebd. – Protokoll betreffend er Übergabe des Peterhofs an die Wehrmacht (11.11.1939). 49 StA B, GB 052/Personalakten: Bock Rudolf (geb. 1885) – Beurteilung (18.12.1939).
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als die ihm zugeteilte Gefolgschaft zufrieden zu stellen. Die Kapelle war übrigens zuvor von der roten Führung als Lagerraum verwendet und damit entweiht worden. Man warf Bock vor, von Anfang an asozial gegenüber der Belegschaft agiert zu haben, egal ob sie rot oder braun ausgerichtet war. Seine Sparmaßnahmen im Betrieb wurden rücksichtslos auf Kosten der Bediensteten durchgeführt. Er hat auch den Versuch unternommen, die Pflegeschwestern in den staatlichen Kuranstalten durch Nonnen zu ersetzen.50 Seitenhiebe in die Privatsphäre hinein durften ebenso nicht fehlen. Einerseits ein Erzklerikaler, andererseits ein Judenfreund, und dass seine Ehefrau in erster Ehe mit einem Juden verheiratet war und er eigentlich eine geschiedene Frau geehelicht hatte, setzte dem Ganzen die Heuchler-Krone auf. Und nicht zu vergessen, seine rasche Integration ins NS-Regime nach dem Anschluss, die innerhalb von zwei Wochen abgeschlossen gewesen sein soll, abgesichert durch die Ankündigung mit wilder Gebärde die Drohung jedermann, der ihn klerikaler Gesinnung bezichtigt oder seine volle nationalsozialistische Einstellung und Überzeugung bezweifelt, gerichtlich zu verfolgen […]. Wir haben hier Parallelen zum Fall Johannes Kopf (siehe Kapitel 16), dem klerikal eingestellten Primarius des Badener Krankenhauses. Jenem wurde eine Jesuitenschläue angedichtet. Ähnliches bei Bock. Durch die genossene klerikale Erziehung verfügt er über eine sehr geschickte Taktik und versteht es, seine wahre Ansicht zu verschleiern und sein Gegenüber zu täuschen und zu hintergehen.51 Der Betroffene als Feind der Arbeiter, als „Asozialer“, als Judenfreund, als heuchlerisches Märzveilchen und verschlagener Mann Gottes – alles Ingredienzen eines verdorbenen Charakters. Als Zeugen wurde das Personal befragt. So mancher konnte seinem Vorgesetzten dadurch eines auswischen. Wie sollte nun im Falle Bocks vorgegangen werden? Eine Versetzung wurde vorgeschlagen. Ein Finanzposten im Altreich wurde erwogen.52 Der Zeitpunkt für eine Personalrochade war mehr als ungünstig, keine Frage, aber im Endeffekt war Bock das geringste Problem, denn egal wer Leiter gewesen wäre, der Wunsch, die Kureinrichtung im Sinne der Stadt Baden für zivile Kurgäste offen zu lassen, war in ganz weite Ferne gerückt. Nahe blieben allerdings die personellen Querelen. Der ehemalige Angestellte und Parteigenosse Franz Andre gedachte nach dem Anschluss, nachdem er 1930 gekündigt worden war, seinen ehemaligen Posten als Bademeister und Masseur in den „Staatlichen Heil- und Pflegeanstalten Peterhof und Sauerhof“ wieder zu erlangen, was jedoch auf keine Gegenliebe stieß. Die Gründe dafür lagen neun Jahre zurück und waren mit jenen Bocks identisch. Auch er soll durch Theodor Innitzer die Mission erteilt bekommen haben, die weitgehend rote Belegschaft schwarz umzufärben – wenigstens die Hälfte sollte der Christlichsozialen Partei beitreten, bat der Sozialminister und Kardinal in Personalunion. Gesagt getan, Franz Andre war ans Werk gegangen, hatte eine christlichsoziale Zelle gegründet und sich damit aber nicht nur das Missfallen seines roten Umfeldes, sondern auch jenes, des im großdeutschen Lager verwurzelten Direktionssekretärs Theodor 50 Ebd. – Ortsgruppe Weikersdorf an Kreisleitung (10.03.1939). 51 Ebd. – Meldung über Amtsrat Bock (20.08.1939). 52 Vgl. Ebd. – NSDAP-Amt für Beamte an Kreisleitung (22.08.1939).
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Boldrino zugezogen.53 Während der Unmut bei der Belegschaft eindeutig politischen Hintergrund besaß, schien es bei letzterem etwas Kurspezifisches gewesen zu sein. Die Feindschaft und Missgunst dieses Herren zog ich mir jedoch dadurch in besonderem Masse zu, dass ich einen von ihm propagierten Fichtennadelzusatz ablehnte mit der Motivierung, dass sich die Badegäste beschwerten, ihre Badeutensilien würden dadurch grün und auch die Haut bekäme einen ebensolchen Belag.54 Franz Andre schreibt von einem Kesseltreiben gegen seine Person. Der Druck wurde so groß, dass er in seiner Entlassung kulminierte. Nach dem Anschluss soll ihm Theodor Boldrino weiterhin wegen seinem Fichtennadelzusatz-Veto gegrollt und deswegen seine Wiedereinstellung blockiert haben. Und dann kam ihm noch zu Ohren, dass sein Kontrahent ihn hinterrücks der politischen Unzuverlässigkeit bezichtigte und ihm sogar nachsagte, ein Kommunist zu sein. Während die Unterstellung, dass er so wie Rudolf Bock ein ultramontaner Kardinalszögling gewesen wäre, noch halbwegs Hand und Fuß gehabt hätte, konnte sich die Behauptung, dass er dem Kommunismus nahestehen würde, keiner der Beteiligten erklären. Gefallen lassen konnte sich das Franz Andre jedenfalls nicht, schließlich hatte er nichts mit Kommunisten gemein und mit den Christlichsozialen hatte er auch nichts mehr am Hut und war stattdessen 1932 der SA und NSDAP beigetreten. Nun holte er zum Gegenangriff aus, zumal sein Gegner, im Gegensatz zu ihm, bloß Parteianwärter war. Seine schweren Geschütze belud Franz Andre mit dem Vorwurf, dass Theodor Boldrino nach außen zwar den Großdeutschen gemimt hätte, nach innen jedoch mit beiden Beinen fest im vaterländischen Lager verankert gewesen wäre und mit führenden Köpfen der Heimwehr ausgelassene Trinkgelage im Peter- und Sauerhof veranstaltet hätte. Bei den feuchtfröhlichen Runden wären Ständestaat-Größen wie die Minister Emil Fey und Odo Neustädter-Stürmer gern gesehene Gäste gewesen. Boldrino wies all die Anschuldigungen als haltlose Verleumdungen brüsk zurück. Bei solch verhärteten Fronten war ein Parteigerichtsverfahren die logische Konsequenz. Letztendlich wurde das Verfahren nach über einem Jahr, einem Selbstreinigungsverfahren und dem Zurückziehen getätigter Aussagen auf beiden Seiten im Dezember 1940 durch das Kreisparteigericht eingestellt. Beide Streitparteien erklärten sich damit einverstanden und versprachen, sich gegenseitig keinerlei Vorwürfe mehr an den Kopf zu werfen. Das Parteigericht war zufrieden, der Sühneversuch war als gelungen anzusehen.55 Ich möchte kurz innehalten und in Erinnerung rufen, dass, während sich der RAD, der Gau, die Wehrmacht und einzelne Reichsministerien in Berlin darüber stritten, wem und wo im Peter- und Sauerhof wie viele Zimmer, Gabeln und Messer zustünden, zur gleichen Zeit darüber debattiert werden musste, ob der eine nun ein Kommunist oder ein Schwarzer war, wer mit wem und wann ausgiebig und ob überhaupt Alkohol konsumiert hatte und was das alles mit einem Fichtennadelzusatz zu tun hatte, der Badekleidung samt Badegäste 53 Theodor Boldrino (1897–1950). 54 StA B, GB 052/Personalakten: Andre Franz (geb. 1887) – Antrag auf Rehabilitierung s.d. 55 Vgl. ebd. – Parteigerichtsurteil (07.12.1940).
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grün einfärbte. Und all das passierte im Antlitz einer ständig beklagt unzureichenden Personalbesetzung. * Welcher aufrechte Volksgenosse hätte gegen diesen dem Deutschen Reich aufgezwungenen Krieg aufbegehren sollen? Hitler, als der Friedensfürst, der alles dafür getan habe, um den Frieden in Europa zu wahren, wurde schließlich von Plutokraten, Bolschewisten, Kapitalisten, Kommunisten, Juden, Freimaurern und Jesuiten hintergangen. Da war es nur selbstverständlich, dass sich das deutsche Volk geschlossen hinter seinem Führer scharte. Hintergründe zu hinterfragen, kritisieren oder – Gott behüte – die NS-Erzählung und den eingeschlagenen Kurs abzulehnen oder gar gegnerisch aufzutreten, war Verrat, Sabotage, Terror. Es hieß wieder und weiterhin, deutsche Homogenität zu demonstrieren und energisch gegen Abweichler vorzugehen. Und wieder bzw. noch immer war es dem NS-Regime unmöglich, eine totale Gleichschaltung der Gesellschaft mit dem ihm zur Verfügung stehenden Personal zu erzielen. Und wieder bzw. noch immer blühte hierbei behilflich das Denunziantentum auf. Kriegsbedingt war es erweitert worden durch zusätzliche Vernaderungsinhalte wie Feigheit, Wehrkraftzersetzung und Defätismus. Stets stand das Große auf dem Spiel, der Sieg, der totale Sieg, und der bedurfte der totalen Ergebenheit der „Volksgemeinschaft“. Kleinste Ausreißer könnten alles zusammenbrechen lassen und statt der totalen Siegesherrlichkeit drohte dann eine apokalyptische Niederlage – dazwischen gab es nichts. In solch manichäischem Weltbild konnten Kleinigkeiten das nationalsozialistische Gemüt erzürnen. Dahingehend sensibel war offenbar der Direktor der Berndorfer Metallwerke, Aurel Kern. Als er im September 1939 im Sanatorium Gutenbrunn weilte und dort einer Führerrede lauschte, bemerkte er zwei Zuhörerinnen, die nach Beendigung der Rede den Deutschen Gruß nicht ausführten bzw. nicht so, wie es sich gehörte. Schlaff hob die eine den Arm empor, während die andere die Arme überhaupt verschränkt ließ. Aurel Kern zeigte die beiden Frauen kurzerhand an. Die Betroffenen, Lisa Penzig-Franz und Paula Baltazzi, Letzere war Jahrgang 1866, rechtfertigten sich mit Müdigkeit und ihren körperlichen Gebrechen, die sogar das Armhochheben fast verunmöglichten. Es mussten ärztliche Atteste herangezogen werden, die ihren Behauptungen Gewicht verliehen, wonach sie tatsächlich aufgrund von Entzündungen des Halsnervengeflechts und verschiedener anderer Nervenstämme nicht in der Lage waren, den Deutschen Gruß NS-konform auszuführen.56 Blasphemisch mutete hingegen die Antwort der Hilfsarbeiterin Helene Rothaler an, als sie die in den Raum geworfene Frage, was denn passieren würde, wenn Hitler den Krieg verliere, wie folgt beantwortete: Dem Führer bleibe sonst nichts anders übrig, als dass er sich eine Kugel in den Kopf jage.57 Ihre prophetischen Worte stießen auf Bestürzung, weckten 56 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Baltazzi Paula (1866–1945). 57 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Mochal Johann (geb. 1892), Helene Rothaler (geb. 1908).
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Denunziationsverlangen und brachten ihr eine Anzeige nach dem Heimtücke-Gesetze ein. Und ebenso unerhört war, dass am 23. September 1939 um 0:15 in der Braitnerstraße Richtung Josefsplatz aus fünf mit Alkohol gut geölten Arbeiterkehlen im Chor die „Internationale“ erklang. Laut dem Exekutivkomiteemitglied Erwin Osel und dem Oberlehrer Hermann Binder war das „Erkämpft das Menschenrecht“ in der gesamten Straße laut und deutlich zu hören.58 Durch den Krieg und die verschärfte Gesetzeslage gerieten stadtbekannte NS-Gegner verstärkt unter Beobachtung und waren vermehrt der Gefahr ausgesetzt, wegen irgendwelchen Belanglosigkeiten angezeigt zu werden. Blockleiter Hans Gamauf meldete der Ortsgruppenleitung, dass die seit eh und je monarchistisch eingestellten Eheleute Kiefhaber-Marzloff trotz Anschluss und trotz aufgezwungenem Krieg weiterhin Monarchisten blieben. Und das war noch nicht alles. Richard Kiefhaber-Marzloff sollte insgeheim für die Restaurierung der Habsburger hinarbeiten, so der Vorwurf. Als Beweise brachte der Blockleiter den dreimonatigen – obwohl nur vier Wochen zugestandenen – Aufenthalt der Familie Kiefhaber-Marzloff in Payerbach-Reichenau in der Villa Wartholz und die Aussage: Hier in der Ostmark, sowie in Bayern wird mit Hochdruck auf die Errichtung der Monarchie hingearbeitet, und Otto von Habsburg sitze in Paris.59 Selbst Ohrenzeuge dieser Aussage war er nicht. Sondern eine Angestellte der Typographie Baden (Theaterplatz 1), die es, sie sollte es dann leugnen, der Leiterin der Bücherei erzählte, die gab es dann an einen Kunden weiter und der wiederum erstattete beim Blockleiter Gamauf Meldung. Wir haben hier demnach eine Anzeige, die auf Hörensagen indirekter Aussagen beruhte. Es ist durchaus anzunehmen, dass solche Denunziationen auf ihrem Weg zur Behörde oder Parteistelle durch gewisse Ausschmückungen bereichert wurden. Wir finden eine ganze Menge an Gehörtem und Beobachtetem. Der Dienstwagen der Badener Bauleitung, zugeteilt an Wilhelm Bless, soll mannigfaltig Verwendung gefunden haben wie: Ins Theater nach Wien, zur Beförderung von seinem Hund in die Hundebadeanstalt eztr. verwendet.60 Der Chauffeur Friedrich Lassner benutzte ihn noch in der Mittagspause für Essensfahrten und sein eigenes Leichtkraftfahrrad für Spazierfahrten mit der Gattin.61 Die Kreisleitung mahnte ein, Benzin zu sparen, und sah solche Fahrten als Luxusfahrten an und damit als Verschwendung kostbaren Treibstoffes im Angesicht des Krieges. Dabei brauchte die Front jeden einzelnen Tropfen, um weiterhin siegreich zu sein. Wie wir sehen, selbst eine Spazierfahrt mit der Gattin und mit dem eigenen Gefährt bot der NS-Propaganda Gelegenheit, mit einer NS-moralistischen Bombastik um die Ecke zu kommen. Vor dem Krieg hatte Himmler noch höchstpersönlich versichert, dass der brave Volksgenosse die Staatsgewalt nicht fürchten müsse. Man verfolgte nur die Jünger Moskaus und 58 Vgl. StA B, 231/Polizeiakten 1938–1945 II; Gendarmerieposten Traiskirchen, Mappe II. 59 StA B, GB 052/ Personalakten: Kiefhaber-Marzloff Richard (geb. 1880) – Meldung von Hans Gamauf (1901–1975) vom (06.09.1939). 60 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Bless Wilhelm (geb. 1912). 61 Lassner Friedrich (geb. 1906).
Kapitel 18 Vulkane brechen aus, Kriege werden begonnen
unbelehrbare Reaktionäre. Man wäre hart gegenüber Feinden, wo es sein müsste, ansonsten verständnisvoll sowie großzügig, dort wo man könnte – das galt vor Kriegsbeginn. Danach sah alles ganz anders aus. Danach musste man immer und überall hart und unnachgiebig sein.62 Das betraf im besonderen Maße die in der Kurstadt verbliebenen Badener Juden. Der Krieg ermöglichte es, die ohnehin unerträgliche Situation für diese Menschen weiter zu verschärfen. Dabei wurden sämtliche NS-Register gezogen. Dass Juden im September 1939 in den ersten Vormittagsstunden ihre Einkäufe tätigten, wäre ein Schlag ins Gesicht jedes anständigen Volksgenossen. Dadurch würden sie sich die frischesten Waren sichern. Weiters benützen diese Juden auch gerne die Gelegenheit, mit Volksgenossen Gespräche einzuleiten und Unzufriedenheit in die Bevölkerung zu tragen […].63 Wirtschaftsberater Bruno Dietz verlangte die Einkaufzeiten für Juden auf 14 bis 16 Uhr festzulegen und am Markt nur auf eine Stunde zu beschränken. Hier pflichtete ihm der Ortsbeauftragte der DAF Josef Hammerschmidt uneingeschränkt bei. Seit gewisse Waren verknappt sind, kann die Wahrnehmung gemacht werden, dass sich die Juden in ihrer gewohnten Aufdringlichkeit in die betreffenden Geschäfte drängen. […] Besonders am hiesigen Markte ist dringliche Abhilfe notwendig. Es kann unmöglich dieser Umstand geduldet werden, dass ein Jude z.B. ein Huhn wegträgt, während ein Volksgenosse keine mehr bekommt.64 Als jüdische Einkaufsstunde schlug er 17 bis 18 Uhr vor. Kreisleiter Ponstingl verlegte die Einkaufsstunde auf 11 bis 12 Uhr und wiederholte die verschiedentlichen „Wahrnehmungen“, wonach Juden über entsprechend viel Zeit und zum Teil auch Geld verfügen, schon am frühen Morgen bei einzelnen Geschäften angestellt sind, um hier bei der Warenausgabe zum Zuge zu kommen. Dies ruft bei der arischen Bevölkerung Unwillen hervor, der noch dadurch gesteigert wird, dass die Juden in einzelnen Fällen sich frech und anmaßend benehmen.65 Ein freches Gustostückerl sondergleichen legte die 84-jährige Helene Hlavacek hin. Laut NS-Außenwahrnehmung war sie Jüdin, laut Selbstwahrnehmung eine seit 57 Jahren getaufte Katholikin. Also weshalb sollte sie sich an jüdische Einkaufszeiten halten. Stattdessen war sie zeitig am Markt, was Josef Hammerschmidt als Ortsbeauftragten der DAF und Fischhändler zum Schäumen brachte. Aber die Höhe kam erst noch. Am Freitag verweigerte ich dieser famosen Jüdin den Verkauf eines Fisches, weil ich nicht gesonnen bin, mit dieser verknappten Ware die Juden zu füttern, worauf sie die Frechheit besaß, aufs Marktamt zu gehen und dort zu erklären, sie sei keine Jüdin. Daraufhin musste ich dieser Jüdin einen Fisch geben und einen Volksgenossen dafür abweisen!!!66
62 Vgl. LONGERICH, Himmler, S. 218. 63 StA B, GB 052/Verfolgung II, Fasz I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe III – Bruno Dietz an Kreisleitung (27.09.1939). 64 Ebd. – Josef Hammerschmidt an Kreisleitung (27.09.1939). 65 Ebd. – Kreisleitung an den Einzelhandel (03.10.1939). 66 StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef – Anzeige der Stadtpolizei (05.11.1939), Helene Hlavacek (geb. 1855).
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Und als noch größere Frechheit empfanden Männer wie Dietz, Hammerschmidt und Ponstingl nicht nur Juden, die außerhalb der Einkaufzeiten ihre Besorgungen tätigten, sondern genauso Volksgenossen, die ihren jüdischen Mitmenschen hierbei unter die Arme griffen. Bruno Dietz verlangte deswegen: [S]ämtliche Lebensmittel- und Bezugsscheinkarten sind ersichtlich mit dem Aufdruck „Jude“ zu bezeichnen damit verhindert wird, dass allzu mitleidige „Volksgenossen“ für den Juden die Einkäufe besorgen.67 Auch hier pflichtete ihm Ponstingl bei, der es für eine selbstverständliche Pflicht eines jeden deutschen Volksgenossen [hielt], eine Besorgung von Einkäufen für Juden auf jeden Fall abzulehnen.68 Aber es gab offenbar diese Unbelehrbaren. Hammerschmidt, der zum Beauftragten für das Marktwesen Baden aufstieg, beschwerte sich noch im Juni 1940 bei der Kreisleitung, dass die jüdischen Einkaufsregelungen mehr schlecht als recht eingehalten würden. Baden ist derart verjudet, auch geistig, dass unsere Bevölkerung dieses Verbot anscheinend nicht begreift. Auch Parteigenossen scheinen noch einen besonderen Respekt vor dem auserwählten Volk Gottes zu haben. Auch hier muss durchgegriffen werden. Gleich nach der Verordnung hatte er dutzende Tafeln mit den jüdischen Einkaufszeiten drucken lassen und sie an alle Händler verteilt. Heute finden Sie überhaupt keine solche Tafel mehr in den Geschäften. Das Thema setzt dem Mann sichtlich zu. Er verlangte eine grundsätzliche Klärung. Entweder es besteht noch das Verbot, oder aber es wird aufgehoben.69 Der Aktionsradius, Juden zu helfen, ohne in ernsthafte Schwierigkeiten zu kommen, wurde immer enger. Das Betreten einer Wohnung, in der Juden lebten, oder ein flüchtiger Wortwechsel auf der Straße, und schon konnten diskrete Hinweise an Block-, Zellen- und Ortsgruppenleiter oder an die Sicherheitskräfte erfolgen, wonach eine rassisch widernatürliche Verbrüderung mit Juden bestehe. Denunziation, Ausgrenzung und Gewalt gegen Juden galten dem NS-Regime als etwas Selbstverständliches, sogar als Bürger- bzw. Volksgenossenpflicht. Dass Juden etwas Minderwertiges waren, wurde die NS-Propaganda nicht müde zu betonen. Sie wurden gleichgesetzt mit Schmutz, Dreck und Unordnung. Die gleichgeschaltete Badener Zeitung veröffentlichte einen Artikel unter der Überschrift Jüdische „Wohnkultur“. Dabei ging es um Räumlichkeiten eines älteren Mannes, der nach Wien deportiert wurde. Ein Blick durchs Fenster genügte. Die grenzenlose Verwahrlosung der Räume, das kohlschwarze Mauerwerk, die Ansammlung von total verschmutztem, defektem ekelerregenden Hausgerät – der Tisch geradezu ein „Stillleben“ – das sind nicht etwa Merkmale der letzten Jahre, in denen etwa Alter und Krankheit die Insassen behinderte, sie sind Zeugen einer 25- oder 30-jährigen Verluderung, einer polnisch-jüdischen Wirtschaft, wie sie krasser gar nicht mehr vorkommen kann.70 67 StA B, GB 052/Verfolgung II, Fasz I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe III – Bruno Dietz an Kreisleitung (27.09.1939). 68 Ebd. – Kreisleitung an den Einzelhandel (03.10.1939). 69 StA B, GB 052/Personalakten: Werner Fam. – Josef Hammerschmidt an Kreisleitung (08.06.1940). 70 BZ Nr. 72 v. 09.09.1939, S. 3.
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Wie teilweise absurd es zugehen konnte, davon zeugt die Meldung gegen den in der Nähe des Wasserleitungsreservoirs wohnenden Juden Breuer. Ein Kommen und Gehen von Juden war bei ihm im Oktober 1939 beobachtet worden. Noch dazu hatten die Juden alle eine Aktentasche. Das musste auf alle Fälle unter Beobachtung bleiben.71 Eigentlich wundert es mich regelrecht, dass aus den vorliegenden „Sachverhalten“: Juden-Verschwörer, Aktentaschen-Bomben und Wasserreservoir-Sprengung keine jüdischen Terroranschlagspläne herbeifantasiert wurden. Über Schikane und die brutalste Vorgehensweise gegenüber Juden werden wir noch zur Genüge lesen. Entscheidend ist, dass seit Kriegsbeginn die Diffamierung um den Kriegsaspekt bereichert wurde. Juden bzw. Menschen, die als solche galten, die außerhalb der Einkaufszeiten ihre Einkäufe besorgten oder sonst gegen eines der hunderten antisemitischen Gesetze verstießen, handelten nicht bloß „frech“, sondern betrieben damit Wehrkraftzersetzung. Denn schließlich entzogen sie der „Volksgemeinschaft“ Güter, stahlen Zeit, sorgten für Arbeitsmehraufwand, raubten wertvolle Energie, die doch so dringend anderwärtig für die Heimatfront benötigt wurde. Die Herrenrasse in der Heimat musste stark und wehrhaft bleiben. Und die dort draußen, im Felde, die sowieso. * Laut Badener Zeitung gab es am 5. September 1938 in Baden den ersten Helden, der den Heldentod in Polen erleben durfte. Es war ausgerechnet Karl v. Kloss, der um ein Jahr ältere Bruder von Rainer v. Kloss, jenem Studenten, der in den Anschlusstagen auf die SA gefeuert hatte.72 Wenig später stieg der 21-jährige Viktor Zeugswetter zum Helden empor, Sohn des hiesigen Polizei-Obermeisters Karl Zeugswetter.73 In das deutsche Heldenpantheon sollten ihnen noch viele folgen. Für Nachschub an gesundem Menschenmaterial war gesorgt – eine Mütterehrung im Landkreis stand auf dem Programm. In Baden gab es 233 zu prämierende Frauen. 72 erhielten das Goldene, 117 das Silberne und 44 das Bronzene Ehrenzeichen. Kreisleiter Ponstingl dankte für vieles, vor allem für die Söhne, die nun an der Front ihr größtes Opfer darbrachten. Es folgten wohlbekannte Phrasen, wonach die Aufgabe der deutschen Frau die Mutterschaft sei usw. Nach seiner Ansprache durften die Mütter andächtig Rudolf Heß lauschen, dessen Rede per Rundfunk übertragen wurde.74 Nicht nur die Mütter wurden ausgezeichnet, sondern selbstverständlich auch die Badener Soldaten. Zu den ersten gehörte Anton Doblhoff, Sohn von Ministerialrat Rudolf Doblhoff. Er erhielt das Eiserne Kreuz, wurde zum Wachtmeister befördert und auf die Offiziersschule abkommandiert. Johann Fischer wurde ebenso das Eiserne Kreuz verliehen und 71 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Verfolgung. 72 Vgl. BZ Nr. 75 v. 20.09.1939, S. 2 – Karl v. Kloss (1915–1939). 73 Vgl. BZ Nr. 80 v. 07.10.1939, S. 1 – Viktor Zeugswetter (1918–1939), Karl Zeugswetter (geb. 1886). 74 Vgl. BZ Nr. 80 v. 07.10.1939, S. 4.
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Johann Pigler das Eiserne Kreuz zweiter Klasse.75 Nach Auszeichnungen und Heldenverehrung wurde es am 11. Dezember 1939 wieder sachlicher und materieller, die letzte Gemeinderatssitzung des Jahres wurde abgehalten. Wie so oft ging es um den schnöden Mammon. Einnahmen in der Höhe von 4.999.152,53 RM standen Ausgaben von 6.978.713,40 RM gegenüber. Aufgelistet wurden die Ein- und Ausgaben aller städtischen Institutionen und Betriebe. Bei einigen Dienstposten wie der Polizei oder dem Fürsorgewesen war es klar, dass nichts auf der Einnahmeseite stehen würde. Bei der Kultur- und Gemeinschaftspflege wies man Einnahmen von 117.250 RM und Ausgaben von 113.500 RM auf. Erwartbar defizitär war das Schulwesen. Einnahmen von 19.300 RM standen Ausgaben in der Höhe von 79.089,93 RM gegenüber. Finanziell sah es immer noch schlecht aus. Das einzig Gute war die Einigkeit. Man war einig: Schuld an allem hatte der Ständestaat und Kollmann. Bekannt und vertraut klangen nicht nur diese Schuldzuweisungen. Bekannt und vertraut klangen auch die Worte Ponstingls zum Ende des Jahres hin – diesmal die ersten Kriegsweihnachten unter dem Hakenkreuz. Mitten im vollen Aufbau unserem von Natur aus so gesegneten, vom System aber völlig vernachlässigten Kreises erklang der Appell an die Waffen: der Ruf, das Werk des Friedens gegen den neidischen Feind zu verteidigen.76 Dann noch so Sprüche wie: Der Soldat an der Front, der Arbeiter an der Maschine, die Frau im Haushalt – alle sind sie zum Kämpfer für den Sieg geworden. Neben Ponstingl durfte sich dieses Mal Kreispresseamtsleiter Walter Wunderlich in Ausdruck und Stil austoben. Schon strömen die versprengten Blutsteile unseres Volkstums herbei und stoßen den Pflug in diese zukunftsträchtige Erde, die in diesem Jahre zum letzten Mal deutsches Heldenblut getrunken haben soll; denn ein fester Wall aus Fleisch und Blut wird im Osten wachsen und wird das Land davor bewahren, dass dort je wieder Fremde zu Herren werden.77 Es sollte nicht das letzte Jahr gewesen sein, in dem im Osten deutsches Heldenblut in Strömen vergossen wurde. Einzig Polen war besiegt. Die Sowjetunion sollte erst folgen. Das Unternehmen Barbarossa sollte noch genug Heldenblut zu Tage fördern und der Rückzug nach dem Desaster von Stalingrad sowieso. Noch aber war die Sowjetunion ein guter Verbündeter – Reichsmark und Rubel rollten. Während in der Badener Zeitung die übliche Propaganda zu lesen war, glaubte Gertrud Maurer, dass es mit ihrem Vater zur Weihnachtszeit, er war wieder zurück, das übliche Programm geben würde – Eislaufen und Schlittenfahren. Doch dieses Jahr sollte anders werden. Der Vater war da und dann plötzlich wieder weg. Keiner sagte ihr, warum er eigentlich im Peterhof war. Erst später hieß es, der Vater hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt. Und dann passierte wieder etwas, was sie zuvor noch nie erlebt hatte. Zwar hatte sie dieses Jahr bereits Erwachsene weinen gesehen. Aber es waren die Tanten und die Oma – das hätte man mit weibischer Sentimentalität noch erklären können. Doch jetzt sah sie zum ersten Mal den Vater weinen. Sie war entsetzt. Ihre Welt geriet aus den Fugen. Der Vater, 75 Vgl. BZ Nr. 88 v. 04.11.1939, S. 1. 76 BZ Nr. 102 v. 23.12.1939, S. 1. 77 BZ Nr. 102 v. 23.12.1939, S. 2.
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das Familienoberhaupt weinte. Sie nahm daraufhin ihre kleine Schwester an die Hand und zog sie in ein anderes Zimmer. Sie dachte sich, es war bestimmt nicht recht, dass Kinder dabei waren, wenn Erwachsene weinten!78
78 MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 61.
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Ein Deutsches Jahr in der europäischen Geschichte! – titelte die Badener Zeitung und ließ Josef Goebbels das Jahr 1939 rekapitulieren.1 Der Propagandaminister, und nicht nur er, konnte hoch zufrieden sein. Die durch die plutokratischen Westmächte angestachelten „Polaken“ im Osten waren innerhalb von wenigen Wochen mit tatkräftiger Unterstützung der verbündeten Sowjetunion niedergerungen worden. Im Landkreis Baden rollte eine neue Versammlungswelle an. Diesmal unter dem Motto: Auch du bist Front.2 Der Anschluss an das Großdeutsche Reich brachte nicht nur militärischen Triumph, sondern endlich eine deutsche Volksgemeinschaft, die in Baden und Pfaffstätten wuchs und gedieh. 1937 waren 418 Menschen zur Welt gekommen, und 200 Paare hatten sich das Jawort gegeben. 1938 hatten 434 das Licht der Welt erblickt, und 346 Hochzeiten waren zu verzeichnen gewesen. Und 1939 waren es bereits 778 Geburten gewesen, und 589 Paare waren vor den Altar getreten, um nach der Hochzeitszeremonie eine Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ überreicht zu bekommen, inklusive segnender Ansprachen, sich mit Leben, Blut und Gut für jenes Größte einzusetzen bis zum letzten Atemzug; „Für das Vaterland, durch das allein jeder zu wirken und zu sein vermag.“3 Und dann noch gleich Anfang des Jahres eine ostmärkische Premiere und Adelung der Kurstadt. Am 15. Jänner 1940 sollte in Baden, auf den von der Stadtgemeinde großzügigerweise zur Verfügung gestellten Waidmannsgründen, die erste Lehrbaustelle der Bauindustrie der Ostmark eröffnen. Gauleiter, Kreisleiter, Landrat, Bürgermeister, sie alle waren da, feierten den Spatenstich und priesen den Ort, an dem demnächst deutsche Facharbeiter ausgebildet werden sollten. Selbst bei der Lehre durfte das martialisch-militärische Pathos nicht zu kurz kommen. Jedes Stück Boden ist deutsche Front, jede Arbeit ist Waffentat für die Heimat. Durch gediegene Facharbeit sollen sich alle, die das Glück haben, an der Lehrstelle ihre Ausbildung zu genießen, in die Front der Schaffenden einreihen.4 1 2 3 4
BZ Nr. 1 v. 03.01.1940, S. 1. BZ Nr. 2 v. 06.01.1940, S. 3. Vgl. BZ Nr. 6 v. 20.01.1940, S. 2. Vgl. BZ Nr. 5 v. 17.01.1940, S. 1.
Kapitel 19 Vom ersten zum zweiten Kriegswinter
Wenn es Fehler im System gab, wurden sie sofort ausgemerzt. Deswegen wurde Anfang 1940 etwas richtiggestellt, das angeblich seit Jahrhunderten nicht originalgetreu und wahrheitsgerecht und deswegen fast schon entartet dargestellt worden war: das Badener Stadtwappen. Die beiden badenden Figuren, Mann und Frau, sollen ursprünglich nicht in einer Wanne gebadet haben, sondern in einem Wildbad. Initiiert wurde die Korrektur durch Stadtrat Franz Blechinger, der künstlerischen Richtigstellung nahm sich Ratsherr Hans Lang an.5 Diese Korrektur fußte nicht etwa auf neu entdeckten historischen Quellen, sondern auf einem verklärten NS-Germanenbild. Badens germanische Urväter und Urmütter hatten aus NS-Sicht sicher in keiner dekadent verweichlichten römisch-romanischen Wanne geplanscht, sondern in einem urig wilden germanischen Wildbad. Solche Rekapitulationen und Stimmungen Anfang 1940 sind zig Mal der gleichgeschalteten Badener Zeitung zu entnehmen. Der Realität entsprach es nicht. Unschönes, das der „Volksgemeinschaft“ oder dem Großdeutschen Reich widerfuhr, gab es genauso, nur wurde darüber nicht berichtet. Man muss ja nicht über alles schreiben, in der Familie gibt es schließlich auch Themen, über die nicht gesprochen wird, wie es die BZ bereits zwei Jahre zuvor erklärt hatte. Gott sei Dank steht uns nicht einzig die BZ als Quelle zu Verfügung. Denn trotz militärischer Siege, von denen noch etliche kommen sollten, war die Situation in der Kurstadt nicht deckungsgleich mit jener deutschen Herrlichkeit, die das Lokalmedium uns vermittelte. Die Finanzlage blieb weiterhin katastrophal, Schuld hatte weiterhin Kollmann, und Schmid selbst kämpfte weiterhin wie ein (erfolgloser) Löwe gegen die erdrückende Schuldenlast. Im Februar 1940 teilte er seinen Ratsherrn mit, dass er vor kurzem in Berlin bei den verschiedenen Ministerien gewesen sei, um dort an Ort und Stelle aufzuzeigen, wie die Gemeinde stehe. Er habe sich 4 Tage hindurch in den Ministerien mit maßgebenden Herren über die Angelegenheiten unterhalten, sei jedoch bereits am 1. Tag zu der Überzeugung gekommen, dass im gegenwärtigen Zeitpunkt mit einer Hilfe aus Berlin nicht gerechnet werden könne […]. Geld hatte er zwar keines heim in die Kurstadt gebracht, aber ein kleiner Seitenhieb auf Berlin und ein neidiger Blick auf Wien war schon drin, sei es doch verwunderlich, dass die Berliner Herren angeblich von den Zuschüssen und zinslosen Darlehen, die Wien bekommen hat, nichts wissen.6 Finanzpolitische Lichtblicke hatte das Jahr 1939 aber dennoch zu verzeichnen gehabt, wie die Einführung neuer Steuern/Gebühren, die Anhebung bestehender und die Umsetzung gewisser Sparmaßnahmen. So konnte am 13. März 1940 im Gemeinderat noch ein Festakt – zwei Jahre Anschluss – zelebriert werden, doch dann, in der nächsten Gemeinderatssitzung am 23. April 1940, diesmal in einer nicht öffentlichen, war der finanzielle Scherbenhaufen erneut das zentrale Thema. Das einzig Positive aus Sicht des Stadtkämmerers Hans Löw: Das Schlusswort des Rechnungsprüfers der Landeshauptmannschaft, das 5 6
Vgl. WOLKERSTORFER Otto, Baden 1940. Das erste Kriegsjahr Die innere Front (Baden 2000), S. 23. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 182.
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wiederum aufzeigt, dass die Gemeinde ohne fremde Hilfe aus ihrer katastrophalen Finanzlage nicht herauskommen könne, sei in diesem Sinne für uns sehr günstig.7 Um den Schuldenberg abzubauen bzw. zumindest nicht größer werden zu lassen, war im Vorjahr das Elektrizitätswerk an die Gemeinde Wien abgestoßen und ein günstigerer Tarif ausgehandelt worden. Das Gaswerk hingegen war aus der Hoheitsverwaltung herausgelöst worden, um in Zukunft nach den Vorschriften der Deutschen Gemeindeordnung (DGO) als wirtschaftliche Unternehmung und als Eigenbetrieb der Stadtgemeinde geführt zu werden. Man versprach sich wirtschaftlichen Wettbewerb und sprudelnde Gewinne. Die Eingliederung des Wasserwerks sollte folgen. Damit waren die „Stadtwerke Baden“ im April 1940 gegründet. Als Technischer Werkleiter bestellt wurde Josef Perz, als Kaufmännischer Leiter Ludwig Lackinger, und als seinen politischen Vertreter installierte Franz Schmid seinen Intimus Josef Brandstetter.8 Die Schaffung der „Stadtwerke Baden“, um die Badener mit Gas und Wasser optimal zu versorgen und gleichzeitig Gewinne zu erzielen, konnte kriegsbedingt nicht wirklich fruchten. Weiterhin musste aufs Geld geschaut werden. Öffentliche Stellen wie Büros und Schulen durften nur während der Betriebszeiten geheizt werden, und Landrat Wohlrab empfahl weiterhin eine maximale Raumtemperatur von 18 Grad.9 Ob dadurch ausreichend Mammon in die leeren Stadtkassen gespült werden konnte, war zu bezweifeln. Auf Anraten Wohlrabs wandte sich Schmid im August 1940 erneut an Berlin. Nachstehend gestatte ich mir die trostlose Finanzlage der Stadt Baden eingehendst zu schildern und den Nachweis zu erbringen, dass es ganz unmöglich ist, in Baden aus eigener Kraft, selbst bei Durchführung der strengsten Sparmaßnahmen, den Ausgleich im Gemeindehaushalt herzustellen.10 Er tat es auf 11 A4-Seiten, mit dem Ziel, einen Reichskredit von 13 Millionen RM – was der gesamten Schuldenlast entsprach – bei einer Verzinsung von 2 % genehmigt zu bekommen. Berlin antwortete im Oktober desselben Jahres. Aufgrund der zahlreichen Eingaben, Vorsprachen und Revisionen war die Kurstadt der Reichshauptstadt keine Unbekannte mehr. Trotz oder vielleicht deswegen blieb man in Berlin zurückhaltend. Konkrete Zusagen konnten wie immer keine gegeben werden. Dafür gab es für die Badener tröstende Worte, und die Zusicherung und Aufforderung, die Sache im Auge zu behalten und mir in absehbarer Zeit die Entscheidung, die Innen- und Finanzministerium im beiderseitigen Einvernehmen pflegen müssen, bekannt [zu] geben.11 Es erinnert an die Besuche von NS-Granden der vergangenen Jahre, bei denen außer großen Worten und markigen Sprüchen nichts Monetäres dabei herauskam. Es ist anzunehmen, dass es beim Besuch von Reichsminister für Ernährung und
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Ebd. S. 233. Vgl. BZ Nr. 32 v. 20.04.1940, S. 2 und BZ Nr. 37 v. 08.05.1940, S. 6 und WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 22f – Josef Perz (geb. 1878). 9 Vgl. BZ Nr. 7 v. 24.01.1940, S. 4. 10 StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. III Finanzen und Ermittlungen; Finanzen Stadt – Ansuchen (27.08.1940). 11 Ebd. – Besprechung in Berlin (27.10.1940).
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Landwirtschaft Walther Darre in Baden im Oktober 1940 nicht anders abgelaufen war, auch wenn man sich angeblich ausschließlich über den Weinanbau unterhalten hatte.12 Was Geld einbrachte, allerdings nicht in die Gemeindekasse, waren die bewährten und rituellen Sammlungen. Neben den Eintopfsonntagen, dem Kriegswinter-Hilfswerk (KWHW), bei dem die Spender als Dankeschön Schmetterlinge und sonstiges Getier aus Keramik oder irgendwelche Kunststoffplaketten erhielten, spendeten die Badener zusätzlich für ausgebombte Menschen aus dem Altreich. Die SA, SS, HJ, BDM, NSV, DAF und das Deutsche Rote Kreuz zogen prozessionsartig mit ihren Spendenbüchsen durch die Straßen. Man konnte das Jahr in die unterschiedlichen Sammelaktionen einteilen, inklusive der Zwischendurch- und Extrasammlungen. Im März rief Göring eine Metallsammlung aus. Zinn, Messing und Nickel waren gefragt. Wohnungen, Keller und Garagen wurden nach den begehrten Metallen abgesucht, welche an die NS-Stellen vor Ort abgegeben wurden. Ganz eifrige Badener schickten sie direkt nach Berlin in die Reichskanzlei.13 Gertrud Maurer war bei jeder Sammelaktion mit dabei. Sie und andere Kinder und Jugendliche machten sich einen Spaß daraus, eine Art Wettkampf. Die Konkurrenz untereinander spornte zu Höchstleistungen an. So war Gertrud Maurer überaus stolz, als sie einmal 129 Kilo Altpapier zusammentragen konnte. Ein anderes Mal waren es Heilkräuter, die in der Schule abgegeben werden mussten.14 Ganz anders ihre Großmutter. Als Göring die Metallsammlung ausrief, brachte diese sogleich ihren Messingmörser in Sicherheit. Den hatte sie bereits im Ersten Weltkrieg bei einer angeordneten Metallsammlung nicht hergegeben und hatte es diesmal genauso wenig vor. Was der Kaiser nicht bekam, sollte der Führer noch weniger bekommen.15 Berlin hatte es aber nicht nur auf die Messingmörser alter Frauen abgesehen. Denkmäler aus Bronze und Kupfer standen genauso zur Disposition. Was hätte die Kurstadt da so anzubieten, wollte das Reich im Oktober 1940 wissen. In vorgefertigten Formularen listete die Gemeinde folgende Denkmäler auf: eine Kaiser Josef II.-Büste und eine von Franz Grillparzer, beide befanden und befinden sich im Kurpark, ebenso das Lanner-StraussDenkmal. Hinzu kam noch die Muse Erato vor dem Stadttheater und das Kriegerdenkmal am Pfarrplatz. Die genannten Denkmäler erachtete die Gemeinde als erhaltenswürdig und legte Wert auf deren Verbleib. Ihr Dasein zierte den Kurort, sie wären Teil der städtischen Identität und zugleich zollte man den in Bronze gegossenen Wohltätern der Stadt dadurch Dank und Hochachtung. Auf was man verzichten konnte, waren zwei Kaiser-Franz-Josef-Büsten. Die eine stand im Bahnhofspark, geschlagen 1898 durch Lambert Glank, mit einem Gewicht von 50 kg, und war laut der Stadtgemeinde klein und unansehnlich. Die zweite Büste brachte es schon auf 100 Kilo, entstanden 1897 aus der Hand des Bildhauers Anton Brenek, finanziert durch Arthur Krupp und aufgestellt anlässlich des 50. Thronjubi12 13 14 15
Vgl. BZ Nr. 83 v. 16.10.1940, S. 2. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 9–11. Vgl. ebd. S. 35 und 38. Vgl. MAURER Rudolf, Das 1000jährige Reich I, S. 64.
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läums des Kaisers im Festsaal des Badener Gymnasiums Biondekgasse. Nach dem Anschluss war die Büste im Depot des Rollettmuseums verschwunden. Auf den Erhalt beider Büsten legte die Stadtgemeinde keinen Wert.16 Worauf man allerdings Wert legte, war eine durchdachte Demontage. Denn das Abtragen von Denkmälern konnte sich negativ auf die Stimmung auswirken. Im November 1942 informierte Landrat Wohlrab seine Bürgermeister im Auftrag des Reichsministeriums für Inneres, dass bei etwaigen Einziehungen der Denkmäler auf die Gefühle der Bevölkerung Rücksicht genommen werden sollte. Dass der Vorgang an sich nicht zur Diskussion stand, war klar, aber man müsste die Abbrucharbeiten nicht unbedingt an einem Gedenktag ansetzen, der im Zusammenhang mit dem Denkmal stehe. Wichtig war zudem, dass die Denkmäler keinesfalls durch Kriegsgefangene demoliert werden durften – ein wenig historische Pietät musste man doch walten lassen. Anders ausgedrückt, am besten böten sich Nacht- und Nebelaktionen an. Selbst die Veröffentlichung dieses Schreibens hatte zu unterbleiben.17 Ein Blick in die Gegenwart offenbart, dass die von der Stadtgemeinde als wertvoll eingestuften Denkmäler wie eh und je auf ihren Plätzen blieben und auch eine der als wertlos eingestuften Kaiser-Franz-Josef-Büsten entging dem Hochofen. Jene von Lambert Glank steht heute vor dem Kaiser Franz Josef-Museum in Baden. Einzig der Verbleib jener von Anton Brenek konnte bis dato nicht eruiert werden. Aber auch ohne eingeschmolzene Denkmäler konnte sich die Kurstadt spendentechnisch profilieren und dadurch profitieren. Durch die Sammlungen des DRK konnten ein Rettungsauto finanziert sowie bauliche und sanitäre Verbesserungen am Badener Krankenhaus vorgenommen werden.18 Andererseits, selbst wenn die Badener Zeitung, genauso wie die eifrig sammelnden Kinder, jedes Mal Rekorde vermeldete, war das in Bezug auf die Gemeindeschulden ein Tropfen auf dem heißen Stein. Den Ratsprotokollen und der BZ sind immer wieder ähnliche Zahlen zu entnehmen. Eine 2. Nachtragshaushaltssatzung der Stadt für das Rechnungsjahr 1939/40 besagte Einnahmen von 5.229.159,53 RM und Ausgaben in Höhe von 7.331.300,10 RM.19 In einer in der BZ wiedergegebenen Ratsherrnsitzung vom 17. Mai 1940 werden 12.902.387 RM längerfristige Schulden angegeben und Rückstände von 1.415.303 RM.20 Das Thema Verschuldung und die Kommunikation darüber waren und blieben propagandistisch zweckgebunden. Wollte man das Vorgängerregime angreifen, so war die Schuldenlast katastrophal. Wollte man seine eigenen Sparmaßnahmen und sonstigen Verdienste dahingehend aufzeigen, so wurde es versöhnlich, die budgetäre Zukunft war auf einmal gar nicht mehr so trostlos, da erstrahlte plötzlich Licht am Ende des Tunnels. In den Ratsprotokollen war dann zu lesen, dass die Schuldenlast der Stadt Baden Ende 1940 von 14 Millionen RM um 890.000 RM reduziert werden hätte können, obwohl keine Finanzspritze aus Berlin eingetroffen wäre. In weiten Teilen konnte das 16 17 18 19 20
Vgl. StA B, GB 052/Kriegsalltag II; Fasz. II Rohstoffe/Energie; Denkmäler für die Metallspende. Vgl. StA B, GB 052/Kriegsalltag II; Fasz. II Rohstoffe/Energie; 1942. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 22. Vgl. BZ Nr. 13 v. 14.02.1940, S. 4. Vgl. BZ Nr. 93 v. 20.11.1940, S. 3.
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Jahr 1940 mit den Jahren zuvor gleichgesetzt werden. Die Schulden konnten nicht getilgt (jedenfalls nicht in der gewünschten Höhe) und die Verheißungen des Dritten Reiches nicht erfüllt werden.21 Parallelen finden wir auf dem Gebiet der Kurpolitik. Am 17. Juni 1940 eröffnete das Erholungsheim des „Reichsbundes Deutscher Beamten“ in Baden. Das Haus war zuvor als Beamtenkurhaus vom Verein „Goldenes Kreuz“ geführt worden. 50 Betten standen für erholungsbedürftige Staatsdiener bereit. Trotz Krieg war man bemüht, kurörtliche Aufbauarbeit zu leisten.22 Die Ankündigung des Gaues, dass der Kurbetrieb vom Kriegsgeschehen so wenig wie möglich beeinflusst werden sollte, besaß weiterhin Gültigkeit. Gleichzeitig intensivierte sich die militärische Präsenz der Wehrmacht und ihr Streben nach Lazarett- und Kurbetten nahm immer mehr zu. Die Debatte um den Peterhof und Sauerhof ging munter weiter. Im Jänner 1940 war es Schmid, der Gauleiter Jury eindringlich bat, den Peterhof und Sauerhof nach dem Krieg wieder der zivilen Nutzung zuzuführen, und zwar an die Stadt Baden. Schmid war bewusst, dass zur Zeit des größten Kampfeinsatzes des deutschen Volkes und insbesonders unserer Front im Westen den Kämpfen für Deutschlands Größe und Lebensrecht die entsprechenden Reserve-Lazarette während des Krieges zur Verfügung stehen, aber nach Beendigung dieses Kampfes soll auch den Volksgenossen der Heimatfront wieder die staatl. Heilanstalt zur Verfügung stehen.23 Damit verbunden waren natürlich finanzielle Einnahmen bzw. derweilen Einbußen – da die Militärs keine Kurtaxe entrichten mussten. Das interessierte die Wehrmacht nur sehr wenig. Für sie waren die im Schnitt 80 zivilen Kurgäste trotz der baulichen Trennungsmaßnahmen das fünfte Rad am Wagen, das man am liebsten sogleich loswerden wollte. Eine Abschiebung in den Sauerhof wäre ihr nur recht gewesen. Hellhörig geworden, igelte sich der RAD im Sauerhofe gleich einmal ein und postierte im Februar eine Wache vor dem Haupttor – obwohl das Gebäude noch leer stand.24 Nun begann, weil Schmid erfolgreich in seiner Eingabe war, die Verhandlung mit dem RAD, um ihm ein anderes Kurhaus schmackhaft zu machen. Doch im März hieß es dann wieder, dass die Wehrmacht den gesamten Komplex Peter- und Sauerhof übernehmen werde. Damit kam der Sauerhof zivilen Kurgästen zugute, aber es mussten erneut Teilungsmodalitäten getroffen werden – hinsichtlich der Küche, der Wäsche, den Schlammpackungen und der Frisörbesuchstermine.25 Bei der gesamten Angelegenheit mischten Wehrmacht, RAD, Gauleitung, die Ministerien für Inneres, Finanzen, Wirtschaft und Arbeit mit – dazwischen immer wieder Schmid mit seiner entfallenen Kurtaxe. Zur Ruhe kam der Mann wahrlich nicht, denn Anfang des Jahres begann die Luftwaffe, das Sanatorium „Gutenbrunn“ ins Visier zu nehmen, und eröffnete damit eine weitere 21 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 5 u. 19. 22 Vgl. BZ Nr. 58 v. 20.07.1940, S. 1. 23 NÖLA; AZ 354 Kuranstalt Sauerhof Peterhof Verwaltungs u. Pfl. Pers. allg, K1128 – Schmid an Jury (25.01.1940). 24 Vgl. ebd. – Aktenvermerk (02.02.1940). 25 Vgl. ebd. – Protokoll (21.03.1940).
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„Kurfront“. Für mindestens 80 Soldaten mussten Bettenkapazitäten geschaffen werden, der Rest durfte weiterhin in ziviler Hand verbleiben. Am Papier war die Luftwaffe zwar nur Mieter, aber ein durchaus gewichtiger, mit besonderem Mieterschutz und allerlei Sonderwünschen. So traf das Führerbild im Mannschaftssaal so überhaupt nicht den Geschmack der Luftwaffe. Ebenso die Führerbüste war der Luftwaffe nicht zentral genug platziert. Sie soll irgendwo in einen Seitenkorridor abgeschoben ein unwürdiges Dasein gefristet haben. Empörung erregte ferner das Kaiser-Franz-Joseph-Wandgemälde im Speisesaal. Die Sanatoriumsleitung gelobte Besserung, das Wandgemälde sollte demnächst übermalt werden, die Büste zentraler platziert, nur beim Führerbild wusste man nicht so recht weiter, schließlich handelte es sich um ein Standardgemälde. Beschwichtigend und auf gute Nachbarschaft hoffend, verwies die Sanatoriumsleitung darauf, dass das Haus zwischen 1914 und 1918 ebenso das Militär beherbergen hatte dürfen und dass das damalige divide et impera zwischen Soldaten und Zivilisten sich durchaus bewährt hatte. Doch es schien, als wären die k.u.k. Truppen umgänglicher gewesen, denn das Auskommen zwischen Luftwaffe und dem Sanatorium Gutenbrunn wurde in den folgenden Wochen, Monaten und Jahren immer wieder auf die Probe gestellt. Beschwerden häuften sich. Zerfetzte Tischtücher, Dreck im Speisesaal, ungenügende Essensportionen, Holzuhrengehäuse ohne Inhalt, suspektes und arbeitsscheues Personal, mangelhafte Instandhaltung, fehlendes Klosettpapier, Türen, die nicht schlossen, und zu allem Überfluss gab es 1942 sogar eine Wanzenplage in Zimmer 64.26 Ein kleiner Trost für die Sanatoriumsleitung war, dass Bürgermeister Schmid alles in seiner Macht Stehende tat, um dem Kurhaus den Rücken zu stärken. Im Mai 1940 wandte er sich an das Abgabeamt Niederdonau, sprach die angespannte Finanzlage des Sanatoriums Gutenbrunn an, bat um einen Kassennachlass von 50 % auf alte Verbindlichkeiten und unterstrich das städtische Interesse, das Sanatorium Gutenbrunn am Leben zu erhalten. Zugleich streute er dem Betriebsführer Dr. Otto Aufschnaiter trotz dessen Parteilosigkeit (er war italienischer Staatsbürger) Rosen vor die Füße, versicherte seine Treue zur NS-Bewegung und hob dessen Bemühen hervor, das Unternehmen endlich wieder in schwarze Zahlen zu navigieren. Und dann, ganz nebenbei, zwischen zwei Gedankenstrichen versteckt, war plötzlich zu lesen: das Sanatorium hat seit dem Umbruch durch das Ausscheiden von jüdischen Kurgästen eine gewaltige Einbuße erlitten.27 Zwei Jahre zuvor hatte man noch großspurig verkündet, dass man auf jüdische Kurgäste verzichten könne, weil jene mehr schaden als nutzen würden, und jetzt solch eine Aussage! Breit diskutiert wurde diese Randbemerkung nicht, zumindest geben die Quellen nichts her. Bezüglich Peterhof und Sauerhof änderte sich im Sommer 1940 die Situation erneut. Der Peterhof sollte ausschließlich für Soldaten zugänglich sein, der Sauerhof ausschließlich für Zivilisten. Der RAD ging leer aus bzw. er erhielt kein eigenes Kurhaus. Da der Sauerhof 26 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. III Luftschutz/Luftwaffe; Luftwaffenlazarett Sanatorium Gutenbrunn. 27 Ebd. – Schmid an das Abgabeamt Niederdonau (22.05.1940).
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jedoch zu wenig Betten hatte (es waren 100, und der Peterhof hatte 480), wurde zusätzlich die leer stehende „Pension Johannesbad“ für die Sommersaison gepachtet.28 Des Weiteren kam es zu administrativen Anpassungen. Das ganze Konstrukt wurde am 1. April 1940 der Reichstatthalterei Niederdonau übergeben, um als Gauselbstverwaltung betrieben zu werden (Eigentümer war der Gau bereits), denn die zentrale Aufsicht und Führung (Peterhof und Sauerhof ) lag zuvor beim Ministerium für Inneres und Kultur. Die formelle Übernahme der beiden Anstalten wird nach beendigter Auseinandersetzung über den Betrieb der Anstalten als Reservelazarett und Zivilanstalt zwischen dem Kommandeur der Sanitätsabteilung Niederdonau und der zivilen Verwaltung der Anstalt erfolgen.29 Es war ein kleiner Sieg für die Kurstadt, da zumindest der Sauerhof in ziviler Hand blieb – vorerst. Was 1940 passierte, war einfach nur das, wofür Schmid 1938 Vorarbeit geleistet hatte, als er der Bezirkshauptmannschaft die Belegungskapazitäten der Kurstadt erläutert hatte. Zur Erinnerung: Laut der letzten Volkszählung waren in Baden 22.195 Menschen wohnhaft, dazu kamen in der Kursaison weitere 30.000 Kurgäste hinzu. Bereits im Jahre 1938 war Baden ständiger Garnisonsort (Flakregiment 25). 100 Offiziere und 3000 Soldaten waren in Baden stationiert. Noch war die Kaserne nicht errichtet. Die Militärs waren in öffentlichen und privaten Gebäuden einquartiert. Außerhalb der Saison, so Schmids Schätzung, könnte der Kurort noch weitere 2000 Mann aufnehmen und wenn nötig nochmals 500 – zumindest für eine Woche. Als Unterbringung dachte er an Gasthöfe und Turnsäle.30 Rechnet man die Zahlen zusammen, so konnte ein Viertel der Bevölkerung Badens aus Uniformierten bestehen. Es ist schwer zu sagen, wie Schmid wirklich darüber dachte. Blickt man in die Vergangenheit, waren in Baden einquartierte Soldaten nicht unbedingt gerne gesehen, vor allem nicht über längere Zeiträume. Schmids Vorgänger Kollmann hatte stets versucht, Einquartierungen im Zaum zu halten. Immer wieder hatte er darauf hingewiesen, dass es keinen Platz gäbe und dass Militärs dem Bild und dem Image einer Kurstadt eindeutig widersprechen würden. Und auch sein Vorgänger, Franz Trenner, wusste während des Ersten Weltkrieges, welche Nachteile die massenhafte Einquartierung von Soldaten mit sich bringen konnte. Vielleicht dachte Schmid ähnlich. Nach außen hatte er es nie wirklich kommuniziert. Die Wehrmacht war sakrosankt, vor allem im Krieg, und so sagte Schmid regime- und ideologiebedingt zu allem Ja und Amen. * Von Anmietungen/Beschlagnahmungen waren nicht nur Kureinrichtungen betroffen. Die Pfarrschule und die Helenenschule wurden genauso von der Wehrmacht besetzt. Dabei 28 NÖLA; AZ 354 Kuranstalt Sauerhof Peterhof Verwaltungs u. Pfl. Pers. allg, K1128 – Reichsstatthalterei Niederdonau an die Leitung der Kuranstalten Sauerhof und Peterhof (04.06.1940). 29 Vgl. ebd. – Reichstatthaltere Niederdonau an die Abteilungsleiter (20.06.1940). 30 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allg. 1938–1945; 1938 allg.
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entstanden Schäden. Schmid reklamierte. Passiert ist nichts. Seine Hilflosigkeit kam am 16. August 1940 in einer nicht öffentlichen Gemeinderatssitzung zum Vorschein: Er habe deshalb sofort bei allen zuständigen Stellen vorgesprochen, doch war nichts zu erreichen.31 Dennoch waren die Kur und die damit zusammenhängende Kunst und Kultur in der Kurstadt (noch) nicht dem Untergang geweiht. Wir haben bereits von der Eröffnung des Beamtenerholungsheimes „Goldenes Kreuz“ gelesen. Etwas tat sich. Das Wohl des Kurgastes stand an erster Stelle. Damit die Kurgäste registrierten, dass die Gemeinden es ernst meinten, war es Fremdenverkehrsbetrieben in Baden und Bad Vöslau vom 1. Mai bis 1. Oktober 1940 verboten, Ruhetage einzulegen.32 Im Oktober 1941 hatte man die Zahlen für das Jahr 1940 – und die waren nicht schlecht. Die Zahl der Übernachtungen betrug 508.852. Im Schnitt wies die Kurstadt im Juli pro Tag 2900 Gäste auf, im Oktober immerhin noch 1900. Im Juli 1940 hatten 2220 Gäste in Hotels und Pensionen übernachtet, 680 in Privatquartieren. Im Oktober 1940 waren es 950 gewesen, die in Hotels genächtigt hatten, und 450 in Privatquartieren. Betrachtet man die Jahre zuvor, so war die Zahl der Bäderbesuche in den Hauptmonaten Juli bis August gestiegen: 1938 waren es 5050, 1939 eine deutliche Zunahme auf 8291, und 1940 sogar auf 11.645.33 Die Zahl der Besucher und der Nächtigungen stieg 1940 um 7 Prozent. Der ansehnliche Anstieg konnte sich sehen, allerdings auch leicht erklären lassen: Kriegsversehrte Soldaten und Ausgebombte aus dem Altreich (sprich Flüchtlinge) zählten nicht unbedingt als klassische Kurgäste, fanden aber als solche Eingang in die Statistik. Die Zahl der ausländischen „echten“ Kurgäste ging in Wirklichkeit zurück.34 Und noch etwas kam hinzu, das mit der Katze, die sich in den eigenen Schwanz beißt, umschrieben werden kann. Der Anstieg an Kurgästen, egal ob jetzt die echten oder unechten, verschärfte die ohnehin angespannte Versorgungslage. Mehr Menschen bedeuteten einen Mehrverbrauch an Gütern, sei es Nahrungsmittel oder Heizmaterial. Hier traten erneut die Versorgungsschwierigkeiten deutlich in Erscheinung. Die Portionen wurden kleiner, und die Unterkünfte wurden kälter. Einzelne Bäder wurden offiziell wegen Sanierungsmaßnahmen geschlossen. Inoffiziell, weil eine adäquate Beheizung nicht mehr möglich war. Das konnte mit der kühnsten NS-Propaganda nicht unter den Teppich gekehrt werden.35 Um bei kurörtlicher Unzufriedenheit nicht gleich mit Sanktionen zu drohen und damit noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, setzte die NS-Propaganda lieber auf Ablenkung. Im Falle Badens wurde das Kulturangebot an vorderster Front platziert. Mit der Gaubühne hatte die Kurstadt eine nicht unbeachtliche Kulturinstitution Niederdonaus in ihrer Mitte, die Prominenz aus dem gesamten Reichsgebiet anlockte. NS-Größen wie der bereits erwähnte Reichsnähr31 32 33 34 35
Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 257. Vgl. BZ Nr. 34 v. 27.04.1940, S. 6. Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 346f. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 24. Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz I Ernährung; 1940 und Fasz. II Rohstoffe/Energie; 1940 und WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 25.
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standminister Walther Darre oder Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti gehörten zum politischen Staraufgebot.36 Unter der Schirmherrschaft des Gauleiters Jury wurde die Gaubühne und das GauSymphonieorchester zum „Zweckverband für Kulturpflege Niederdonau“ zusammengefasst. Laut Zeitzeugen wurde das künstlerische Niveau weiterhin gehalten, der Konzertreigen drehte sich unaufhörlich, und dass die Musik nicht verstummen durfte, gehörte zur obersten Maxime, weil sie für die Bildung des Menschen und die Stärkung seiner inneren Widerstandkraft, vor allem in ungewöhnlichen Zeiten, besondere Bedeutung hat.37 Zum neuen Intendanten der Gaubühne wurde der ehemalige Spielleiter der Wiener Volksoper, Fritz Klingenbeck berufen.38 Sein Vorgänger Kroll wechselte nach Gablonz a. d. Neisse. Kapellmeister wurde der aus dem bayerischen Wald stammende Josef Nigl. Der Spielleiter für das Sprechstück hieß Theo Fritsch-Gerlach. Als neuer Intendant eröffnete Klingenbeck das Haus für die Malerei und Bildhauerei. Die ersten Ausstellungen gehörten den akademischen Malern und Parteimitgliedern Hans Lang und Franz Bilko. Für weniger Glamour, aber doch eine ordentliche Portion Unterhaltung sorgten drei Modenschauen in der Trinkhalle oder eine Kriegsmeisterschaft im Tischtennis.39 Der hohe Stellenwert, den Kunst und Kultur genossen, bedeutete allerdings nicht, dass ihnen dadurch ein Freibrief ausgestellt worden wäre. Denn zugleich hieß es in einem Schreiben „Konzertwesen während des Krieges“ vom Deutschen Gemeindetag im März 1940, dass auch auf dem Gebiet von Kunst und Kultur Einschränkungen und der Sparstift angesetzt werden müssten. Die Gliederungen der NSDAP wurden in die Pflicht genommen; hier vor allem die Unterorganisation der Deutschen Arbeiterfront (DAF) „Kraft durch Freude“ (KdF). Die Austragung von Konzerten sollte den städtischen Kulturinstitutionen überlassen werden. Das KdF erhielt die Order, sich hierbei zurückzunehmen und nur dort einzugreifen, wo die Gemeinden über keine eigenen Orchester verfügten – was in Baden nicht der Fall war. Ansonsten bestand ihre Mission darin, den Besuch von Kulturveranstaltungen zu bewerben und selbst mit gutem Beispiel voranzugehen. Der Besuch der Kulturkonzerte ist Ehrendienst an der Kultur; an diesem Ehrendienst sollten vor allem die in den Ämtern der Partei, des Staates und der Stadt führend tätige Männer teilnehmen.40 In der Berichterstattung der Badener Zeitung war von dem „Sichzurücknehmen“ des KdF nicht viel zu spüren. Hauptaugenmerk des KdF lag 1940 auf der Feierabendbetreuung von Badenern, Kurgästen und Wehrmachtsangehörigen. Die kolportierten Zahlen besagen, dass im Vorjahr 17.000 Theaterbesuche ermöglicht/organisiert wurden. Weiters wurden für das erste Halbjahr 1940 an die 37 Varietéevorstellungen mit 10.600 Zusehern genannt, 20 Vorstellungen der Bauernbühnen mit etwa 6100 Zuschauern, fünf Operetten 36 37 38 39 40
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 32 und BZ Nr. 97 v. 04.12.1940, S. 2. StA B, GB 053/Kriegsalltag I, Fasz. II Allgemein; 1940. Fritz Klingenbeck (1904–1990). Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 29 – Fritz Klingenbeck (1904–1990). StA B, GB 053/Kriegsalltag I, Fasz. II Allgemein; 1940.
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mit 3300 Zusehern, dann weitere Tanzabende, Dichterlesungen, Wanderungen, Kammermusikabende usw.41 Im Jahre 1940 gab es zwar kein Beethovenfest mehr, doch mit Beethoven ließ sich auch ohne Fest etwas anfangen, und so veranstaltete die „Beethovengemeinde“, deren Vorsitzender Schmid war, mehrere „normale“ Beethoven-Konzertveranstaltungen. Weitere Höhepunkte waren die Münchner Philharmoniker, die der Kurstadt einen Besuch abstatteten, und die Raimund-Festwoche – zum 150. Geburtstag des Dichters. Raimunds Wirken, davon war man überzeugt, war mit Badens biedermeierlicher Landschaft eng verwoben, und es ist bezeichnend, dass Raimund der Stadt Baden in seinen ersten Stücken gedenkt. Der Großstadt Wien entfliehend, suchte er die gesamte Umgebung Badens auf, um in den geliebten Wäldern des Piestingtales neue Kraft zu gewinnen oder die Wunden zu fühlen, die die Stadt seinem empfindsamen Gemüt geschlagen hatte.42 Dass Raimund ebendort einen Suizidversuch unternommen hatte und an den Folgen Tage später verschieden war, blieb unerwähnt. Neben Schauspiel und Musik gehörten genauso Lesungen in das Kulturprogramm der Kurstadt. Der Schriftsteller Max Halbe, der ausrief, Baden zu einer Weihstätte für Großdeutschland auszustatten, war genauso Gast der Kurstadt wie der Dichter Josef Weinheber, dessen Werke zeitgleich vollkommen entstofflicht und Form geworden waren und das Ewige ebenso fühlbar machten.43 Zugegebenermaßen, das Programm und Angebot konnte sich sehen lassen. Wir finden kein Brachland auf dem Gebiet Kur, Kunst und Kultur vor. Allerdings waren viel Kosmetik und gleichgeschaltete Presse mit dabei. Eines darf ebenso nicht vergessen werden, bei all den phantastischen Zahlen und erstaunlichen Festivitäten, dem hohen künstlerischen Niveau – dem durchschnittlichen Badener waren die Gedichte Weinhebers, ob sie nun entstofflicht, in Form oder sonstigen Aggregatzustand waren, mehr als nur sekundär. Es herrschten seit Monaten Krieg und bereits Mangel – Mangel an sehr vielem. Und dem Mangel, in all seinen Facetten, wollen wir uns jetzt widmen. * Als die Schutzpolizei in Baden auf 30 Mann aufgestockt wurde, war das eine kleine Katastrophe. Nicht nur eine finanzielle Mehrbelastung schlug zu Buche, sondern genauso die personelle. Die neuen Polizisten und deren Familien brauchten eine Bleibe. Dabei war Wohnraum schon längst rar geworden. Das Ende 1938 ins Leben gerufene Wohnungsamt unter der Führung von Emil Pfeiffer hatte bei seiner Gründung 61 Wehrmachtsangehörige und 687 Zivilpersonen auf seiner Warteliste. Anfang 1940 waren bereits 1060 Wohnungssuchende vermerkt. Mitte des Jahres lesen wir von 131 Militärs und 1763 Zivilpersonen, und Ende 1940 stieg die Zahl auf 2400. Einem Wohnungssuchenden wurde vom Kreis41 Vgl. BZ Nr. 5 v. 17.01.1940, S. 2 und BZ Nr. 70 v. 31.08.1940, S. 2. 42 BZ Nr. 5 v. 25.05.1940, S. 2. 43 WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 31.
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leiter sogar die Nummer 4001 zuerteilt, als er mit einer Wohnungsanfrage konfrontiert wurde.44 Emil Pfeiffer, der das Wohnungsreferat als sein trostlosestes Referat bezeichnete, machte seinen Ratsherrnkameraden nichts vor. Die Wohnungsnot sei ungeheuer, und es werde wohl noch Jahre dauern, bis sie aus der Welt geschafft sei.45 Bis dahin wurden Alternativen und Provisorien großgeschrieben, wie im Falle von Margarethe Zahn, einer Südtirolerin, die, wie es so schön hieß, aufgrund eines zwischenstaatlichen Übereinkommens ihre Heimat Richtung Baden verlassen hatte. Seit 17. Mai in Baden, bis heute unmöglich ein leeres Zimmer zu finden. Ich bewohne die primitivsten feuchten Kabinette.46 Ihr verzweifeltes Schreiben an die Gauleitung und die Reichsstatthalterei Tirol fand Gehör. Man bat die Kollegen in Baden, sich ihres Falles doch bitte anzunehmen. Wohnungsreferent Emil Pfeiffer war wieder einmal gefordert, Aufklärungsarbeit zu leisten. Er gab sein Bestes, mehrere Räume (feuchte Kabinette) waren ihr schon vorgeschlagen worden, und ein Mansardenzimmer wäre demnächst bezugsbereit, aber infolge des großen Mangels an geeigneten Arbeitskräften kann natürlich der Zeitpunkt, bis wann das Zimmer beziehbar ist, nicht genau festgesetzt werden. Es schien, als würde er sich, adressiert an eine Behörde, die hunderte Kilometer entfernt im Westen lag, den Frust von der Seele schreiben wollen. Ohne Umschweife und Schönrederei legte er die katastrophale Wohnsituation dar, zumal im selben Jahr ein Hochwasser ganze Häuserzeilen fortgeschwemmt hatte, sodass weitere 35 Familien ihr Obdach verloren hatten, welche heute ohne Ersatzwohnungen und getrennt in Heimen untergebracht sind. 119 Familien wohnen in halbverfallenen Baracken, über 500 Familien in feuchten und ungesunden Wohnungen, ganz abgesehen von einigen hundert Fällen, wo 5- und mehrköpfige Familien in Zimmer und Küche hausen. Schonungslos gab er zu verstehen, dass es für die Umsiedlungsaktion absolut nicht empfehlenswert erscheint, wenn Rückwanderfamilien nach Baden bei Wien überstellt werden, weil nicht die geringste Aussicht besteht, diese Familien selbst in der bescheidensten Weise unterzubringen. Jedenfalls kann die Stadt Baden hierfür keinerlei Verantwortung übernehmen.47 Wenig Hoffnung hatte auch die Südtirolerin Margarethe Zahn. Wäre ich in Eppan geblieben, dort hatte ich gute Menschen, nicht lauter Feinde! Was soll aus mir werden.48 Wenn es nach den „Nach-Kriegsplänen“ Hitlers gegangen wäre, hätte Margarethe Zahn sicherlich nach Südtirol zurückkehren können, aber nicht in ihr Südtirol. Da saß der italienische Verbündete fest im Sattel, aber für Ersatz wäre gesorgt gewesen. Ihr neues Südtirol, wenn des Führers Wahn Wirklichkeit geworden wäre, wäre auf der Krim gelegen. Dass die Wohnungssituation bereits 1940 richtig dramatisch war, beweist der Umstand, dass selbst das Wohlwollen eines Landrats Wohlrab kaum Wert besaß. Als sich der Medi44 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 20f. 45 Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 184 und WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 20f. 46 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Zahn Margarete – Zahn an Gauleitung Tirol (12.07.1940). 47 Ebd. – Pfeifer an Gauleitung Tirol (25.07.1940). 48 Ebd. – Zahn an Gauleitung Tirol (12.07.1940).
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zinalrat Dr. Franz Gansberger an ihn mit der Bitte wandte, er möge doch im Rathaus ein gutes Wort für ihn einlegen, konnte Wohlrab einzig und allein versprechen, Bürgermeister Franz Schmid zu bitten, ihn an bevorzugter Stelle zu berücksichtigen – mehr aber auch nicht.49 Was konnte die Gemeinde gegen derartige Zustände am Wohnungsmarkt unternehmen? Schließlich hatte man großtuerisch allen Volksgenossen ein trautes Heim versprochen und versprach es noch immer – von der Stadtgemeinde aufwärts, über Jury und Göring bis zum Führer höchstpersönlich. Zum einen konnte/musste man auf Zeit spielen und auf die Zeit danach vertrösten, die Zeit nach dem Sieg. Bis dahin galt es, Pläne zu schmieden und zu Papier bringen – forderte zumindest die Reichstatthalterei ein. Und wenn dann endlich der deutsche Sieg da wäre, würden all die Sofort-Wohnbauprogramme frisch vom Reißbrett sogleich in die Tat umgesetzt werden können.50 Es blieb also theoretisch und prophetisch. Mantraartig rief Schmid in Erinnerung, die katastrophale Wohnsituation von Kollmann und seinem Regime geerbt zu haben. Laut ihm wäre es zwar nach dem Anschluss bergauf gegangen, doch dann seien die plutokratischen Weltmächte dazwischengegrätscht, indem sie dem Deutschen Reich diesen Krieg aufgezwungen hätten. Und dann noch dieser strenge Winter 1939/40. Seine Rede vor der Ortsgruppe Baden-Leesdorf erntete tosenden Applaus, trotz konfuser Schlussfolgerung. Denn obwohl der Mangel stetig überhandnahm und er darüber breit referierte, waren seine Schlussworte, die am Endes seines Vortrages in einen zu Herzen gehenden Appell ausklangen, dass wir stolz und dem Schicksal dankbar sein müssen, diese historische Zeit des Wiederaufstieges unseres Vaterlandes miterleben zu dürfen.51 Während Schmid hier theoretisierte und die Wohnungsnot vorläufig am Reißbrett zu lösen beabsichtigte, griffen andere einfach zur Tat. Für die Offiziere und Unteroffiziere der Luftwaffe gab es eigene Reichswohnungsbaudarlehen. Im September 1940 begannen hiesige Baumeister, reichseigene Wohnungen für das Luftwaffenpersonal in der Habsburgerstraße zu errichten.52 Dass die erneuten Sonderbehandlungen des Militärs nicht unbedingt zu einem gütlichen Beisammensein beitrug, war anfänglich noch nicht der Rede wert, denn noch siegte die Luftwaffe und bombte eine feindliche Stadt nach der anderen ins Mittelalter zurück. Aber das sollte nicht immer so bleiben. Um etwas vorzugreifen, die Herkulesaufgabe, die Wohnungsnot zu lösen, konnte nie bewältigt werden, nicht einmal im Ansatz. Hierbei scheiterte die Gemeinde bzw. das Dritte Reich auf ganzer Linie. Noch dazu wurde ein weiterer Mangel spürbar, der jedwede Unternehmung noch schwieriger gestaltete – der Personalmangel. Der Fronteinsatz machte nicht vor Gemeindepolitikern oder Gemeindeangestellten halt. Sie mussten genauso einrücken und fehlten dadurch in den Amtsstuben. Ersatz gab es in den meisten Fällen keinen, dafür nahmen Arbeitspensum und Belastung derer, die 49 50 51 52
Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten A–J bis 1945, Franz Gansberger. Vgl. NÖLA, BH Baden, X/141 1940; 316. Vgl. BZ Nr. 44 v. 01.06.1940, S. 3. Vgl. NÖLA, BH Baden, X/141 1940; 387.
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an der Heimatfront verblieben, erheblich zu. Betroffen davon war ausgerechnet auch das Wohnungsamt, das aufgrund des Personalmangels seinen Parteienverkehr einschränken musste.53 Da im NS-Staat die Devise „Befehl ist Befehl“ vorherrschte, nutzte ein Lamento wenig bis gar nichts – aber probieren konnte man es trotzdem. Landrat Wohlrab wandte sich im Jänner 1940 an die Reichsstatthalterei und beklagte das Abhandenkommen von tüchtigen Beamten. Schon im April 1938 hatte er Dr. Wilhelm Schlesinger Richtung Waidhofen a.d. Thaya ziehen lassen müssen. Der seit 1936 in der Bezirkshauptmannschaft Baden als Landesregierungsrat im Gewerbe- und Jagdreferat tätige Mann hatte damals den Posten des Bezirkshauptmanns übernommen.54 Nun, im Jänner 1940, bat Wohlrab die Reichstatthalterei Niederdonau, ihm zumindest den Regierungsassessor Dr. Albin Pecnik zu lassen, einen der wenigen verbliebenen rechtskundigen Beamten. Fachkräfte wie Dr. Herbert Mauthner und Dr. Kuno Schalich waren bereits eingezogen worden. Ein Jahr später, im Oktober 1941, musste Wohlrab wieder um Albin Pecnik zittern. Er versicherte der Reichstatthalterei Niederdonau, dass Pecniks Ausscheiden für mein Amt einen mir schwer zu ersetzenden Ausfall bedeutet.55 So wie Wohlrab in seinem Landrat, so kämpfte auch Schmid in seinem Rathaus gegen den personellen Aderlass. Es gab verschiedene Möglichkeiten. Schmid versuchte es fallweise mit den Unabkömmlichkeitsstellungen (UK-Stellungen). Auf Leute wie seinen langjährigen Wegbegleiter, den Bäder- und Fremdenverkehrsverwalter, hauptamtlichen Beigeordneten im Gemeinderat, Ortsgruppenleiter und illegalen SA-Führer Franz Blechinger, wollte Schmid auf keinen Fall verzichten. Bis zum März 1940 wurde die UK-Stellung ausgehandelt. Und als 1941 wieder die Wehrmacht an die Türe klopfte, warf sich Schmid erneut vor seinen besten Mann, den er als wichtigsten Dezernenten der gesamten Gemeinde- und Kurverwaltung bezeichnete. Wenn derselbe einberufen würde, wäre der wichtigste Zweig der Gemeindeverwaltung verwaist und ohne verantwortlichen Leiter, da die anderen Beigeordneten der Stadt auf diesem Gebiete einerseits nicht die notwenige Erfahrung haben, andererseits mit Arbeiten infolge des kriegsbedingten Personalmangels jetzt schon überlastet sind.56 Die UKStellung wurde bis zum März 1942 verlängert. Jedoch waren das alles eher Ausnahmefälle. Genauso wie Wohlrab war auch Schmid in den allermeisten Situationen gegen die Einberufungen zum Wehrdienst faktisch machtlos. So fokussierte er sich darauf, zumindest kein weiteres Personal an die Privatwirtschaft zu verlieren. Um den Gemeindedienst schmackhafter zu gestalten, schlug er dem Reichsminister für Inneres Wilhelm Frick vor, die Themen Pensionsbeitragszahlungs-, Pensionsrückzahlungs- und Pensionsstilllegungsverfahren, die im Zuge der Umstellungen auf die 53 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 5 u. 19 und BZ Nr. 51 v. 26.06.1940, S. 4. 54 Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Schlesinger Wilhelm (geb. 1892) und AmtsBlatt der Bezirkshauptmannschaft Baden 64. Jahrgang. 1938, S. 31. 55 Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Pecnik Albin (geb. 1906). 56 StA B, GB 052/Personalakten: Blechinger Franz – Schmid an das Wehrbezirkskommando (06.10.1941).
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Deutsche Gemeindeordnung (DGO) erfolgten, womöglich zu überdenken. Dass der Krieg und die Wehrmacht das eigentliche Übel waren, war ihm zwar weiterhin bewusst, doch so etwas offen auszusprechen konnte womöglich noch als Defätismus ausgelegt werden. Zumal er mit seinen vorgebrachten Vorschlägen den Status vor dem Anschluss präferierte und dadurch indirekt einräumte, dass früher unter dem Kruckenkreuz doch nicht alles so schlecht gewesen war. Wenn er die Wehrmacht für den personellen Schwund verantwortlich zu machen gedachte, dann natürlich nur durch die Blume. So umschrieb er galant, wenn sich nichts ändere und die Privatwirtschaft weiterhin Personal absauge, bedeute das gerade für die Gemeinden, denen vielen neue Aufgaben übertragen wurden, ohne dass junge Kräfte angestellt werden können, da diese ja meistens mit der Waffe in der Hand für Großdeutschland Dienst versehen, eine schwere Benachteiligung.57 Die erzwungene Abwanderung von Mitarbeitern Richtung Westfront war jedoch nicht nur militärischer Natur. Die okkupierten Gebiete in Frankreich benötigten geschultes und fähiges Verwaltungspersonal. Die dafür geeigneten Frauen und Männer erblickte Landrat Wohlrab – wobei er nur als reichsstatthalterischer Handlanger agierte – in den Gemeindestuben seines Landkreises. Die Begeisterung dort hielt sich vermutlich in Grenzen, die ohnehin dünne Personaldecke noch mehr auszudünnen. Die Gemeinde Bad Vöslau hätte theoretisch den im Ruhestand befindlichen Polizeiwachtmeister Josef Wildner anzubieten gehabt, wenn er denn nicht selbst von der Gemeinde in den aktiven Dienst wieder reaktiviert worden wäre. In Ebreichsdorf war ein geeigneter Kandidat bereits eingezogen und in Oberwaltersdorf eine passende Kandidatin nicht mehr bei der Gemeinde beschäftigt – sie hatte die Privatwirtschaft vorgezogen. Und die Kandidatur eines Gemeindesekretärs aus Schönau fiel deswegen ins Wasser, weil der Besagte vor seiner Amtsüberstellung zu vier Monaten schweren Kerkers verurteilt worden war. Wohlrab gab sich am Papier einsichtig, er wusste um die vielen Einrückungen und den jetzt schon bestehenden Personalmangel und die Überlastung verbliebener Kräfte, aber die außerordentlichen Dringlichkeiten und zwingenden Notwendigkeiten verlangten zur Lösung der neuerwachsenen Aufgabe, von ihnen die äußerste Anspannung aller Kräfte und die größte Hilfsbereitschaft zu fordern.58 Und die fehlenden Gemeindemitarbeiter und Politiker könnten laut ihm problemlos durch Rechtsanwälte, Steuerberater, Architekten oder wirtschaftlich vorgebildete Kaufleute ersetzt werden. Sie wären ein guter Ersatz für die Experten aus den Gemeinden, die nun im Westen dringend benötigt würden. Ferner wäre gegen die Wiederbeschäftigung von pensionierten Beamten nichts einzuwenden, und notfalls könnte man Männer durch Frauen ersetzen – dahingehend war noch viel Luft nach oben.59 Parat hatte der Landrat noch weitere Vorschläge, diesmal um die Ressource Zeit noch effizienter auszunutzen. Im Juli 1940 riet er den Bürgermeistern im Landkreis, etwaige ehrenamtliche Beschäftigungen bei öffentlichrechtlichen Körperschaften vorerst ruhen zu lassen. Allen voran bei allem, was mit der 57 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenzen; 1940. 58 Vgl. NÖLA, BH Baden, II-VIII 1941; Gr. II-5 Allgemein, A 220. 59 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1940.
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katholischen Kirche zu tun hatte, wie der Tätigkeit in einem Pfarrgemeinderat. Denn das Hauptaugenmerk galt dem Krieg und der Heimatfront.60 Bereits im Juli 1939 hatte er seine Bürgermeister über ihre erweiterten Pflichten unterrichtet, wie eine ständige Erreichbarkeit. Verlangt wurde eine tadellose Wegmarkierung zur Privatwohnung des Bürgermeisters, und zwar von jeder in den Ort führenden Straße. Jeder Wehrmachtsangehörige sollte problemlos das Stadtoberhaupt ausfindig machen können. Das Gleiche galt selbstverständlich für das Rathausgebäude.61 Zusätzliches Personal und Zeit benötigten ferner die zur Umsetzung bestimmten Ostmarkgesetze. Die Landkreise wurden zu Selbstverwaltungskörperschaften, die unter eigener Verantwortung öffentliche Aufgaben zu erfüllen hatten – zuvor waren die Bezirkshauptmannschaften nicht im Besitz körperschaftlicher Rechte gewesen.62 Um dem gerecht zu werden, durfte der Landrat sechs Landkreisräte ernennen, die ihm beratend und verwaltend zur Seite stehen mussten. Ausgesucht und ernannt wurden am 24. Jänner 1941: Richard Haselsteiner (Ortsgruppenleiter von Ebreichsdorf ), Josef Mikulovsky (Bürgermeister von Traiskirchen), Alois Ott (Bürgermeister von Pottendorf ), Alois Wanzenböck (Bürgermeister von Pottenstein), Ernst Ziegler (DAF-Kreisobmann) und Franz Schmid (Bürgermeister von Baden). Für die sechs Herren bedeutete die Ernennung Prestige und zusätzliche Arbeit. Erster Punkt, den der Landrat ansprach, waren ausgerechnet Wohnungen für die neuen Beamten des Landkreises. Da der Landrat (Institution) in Baden angesiedelt war, hatte Schmid wieder einmal die Aufgabe, Wohnraum in seiner Kurstadt ausfindig zu machen. Zu bieten hatte der Landrat dafür Dankesworte bezüglich der bisherigen guten Zusammenarbeit und die Prognose, dass es in Zukunft mehr Arbeit bei geringerem Personalstand geben werde.63 Es war fast schon ein Fluch, diese ständigen militärischen Siege. Die deutschen Truppen brauchten Männer an der Front, genauso wie die eroberten Gebiete Verwaltungspersonal. Landrat Wohlrab war bereit, die Amtsstuben im Landkreis in Richtung Frankreich zu leeren und gleichzeitig benötigte er selbst zusätzliches Personal. Dabei waren er und die Wehrmacht nicht die einzigen, die dazu übergingen, Menschen an alle Ecken und Enden des Großdeutschen Reiches, samt unterworfenen Gebieten, zu verschicken. In ganz anderen geographischen Dimensionen dachte der Reichskolonialbund. Der hätte die Badener Volksgenossen rund um den gesamten Globus verteilt, denn eines war sicher, Kolonien, Kolonialverwaltung, Siedlerwesen und die gesamte Thematik dahinter, würde bei solch schnellen militärischen Vorstößen bald schlagend werden. Interessenten bat man mit Julius Hauck, Wilhelmsring 56, in Kontakt zu treten, um erst einmal zumindest den Ortsverband personell aufzustocken.64 60 61 62 63 64
Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1940. Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1939. Vgl. BZ Nr. 81 v. 09.10.1940, S. 1. BZ Nr. 104 v. 28.12.1940, S. 2 und BZ Nr. 8 v. 25.01.1941. Vgl. BZ Nr. 86 v. 26.10.1940, S. 1.
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Der Personalmangel wies noch eine weitere systemstörende Komponente auf neben der bloßen Mehrbelastung verbliebener Mitarbeiter. Da zahleiche Nationalsozialisten abgezogen wurden, musste man auf Personal zurückgreifen, das nicht unbedingt den moralischen und politischen NS-Standards entsprach (siehe Kapitel 11). Dies wiederum erzeugte Unmut bei den eingefleischten Nationalsozialisten, die sich auch 1940 nicht damit abfinden konnten, dass solche Elemente weiterhin in den Amtsstuben oder sonstwo ihren Dienst versehen durften. Im Wirtschaftsamt war es Dr. Ferdinand Haid, der bei Kollegen und Vorgesetzten für Empörung sorgte. Seinen Dienst begann er im Juni 1940 und reichte sogleich ein Urlaubsgesuch für den August desselben Jahres ein. Bei dieser Dreistigkeit sollte es nicht bleiben. Josef Enigl, Leiter des Wirtschaftsamts und Sachbearbeiter für Preisbildung und Preisüberwachung, beklagte Ferdinand Haids gewohnheitsmäßige Unpünktlichkeit vor Dienstbeginn und nach jeder Mittagspause. Während der Arbeitszeit sitzt er über seinen Akten und studiert, streckt sich bisweilen im Sessel zurück und schaltete gelegentlich auch eine kleine Arbeitspause, die er am Fenster verbringt, ein. Und dass er sich vor Dienstschluss bereits auf den Nachhauseweg machte, soll ebenso gelegentlich vorgekommen sein. Für den Badener Amtsarzt Dr. Robert Fischer war aus medizinischer Sicher der Fall klar: Bei Dr. Haid handelt es sich im einen Psychopathen; derzeit ist er in einem Remissionsstadium einer Psychoneurose. Haids Urlaubsabwesenheit wurde deswegen im Büro mit Wohlwollen aufgenommen. Als er am 26. August wieder in Amt und Würden zu erscheinen hatte, blieb er seiner Unpünktlichkeit treu, er erschien erst am 11. September. Dem Ganzen setzte er dadurch die Krone auf, dass er es nicht der Mühe wert gefunden [hatte], um eine Verlängerung seines Urlaubes anzusuchen oder sich für sein eigenmächtiges Fernbleiben zu entschuldigen. Als ihn Wohlrab daraufhin zu Rede stellte, zuckte der die Achseln.65 Damit war der Bogen überspannt, und das Dienstverhältnis wurde mit dem 1. Oktober für beendet erklärt. Mit anderen „vorbelasteten“ Personen musste das NS-Regime allerdings einen Modus vivendi finden. Über Justizinspektor Albin Peta, seit 1935 im Amtsgericht Baden tätig, hieß es im März 1940: Peta stand immer im gegnerischen Lager und dürfte seine Gesinnung auch heute noch nicht geändert haben. Das Vertrauen der Partei genießt er keinesfalls.66 Aber man beließ ihn auf seinem Posten. Es reichte, dass sein Verhalten nicht gehässig war. Ebenso bei Wilhelm Nawratil in der Gebietskrankenkasse. Als früherem Landwirtschaftsführer im Freiheitsbund und überzeugtem Christlichsozialen, hielten sich seine Sympathien für den Nationalsozialismus stark in Grenzen, noch dazu war er Vertrauensmann des verhassten Direktors der Badener Gebietskrankenkasse Josef Dengler gewesen. Laut seiner Beurteilung vom Oktober 1940 wirkte er aber nach außen angepasst, für eine Vertrauensstelle im NS-System kam er natürlich nicht in Frage.67 Der Buchhalter Emil Fink galt sogar als eine Kreatur Kollmanns, als dessen Protektionskind, das sich erlauben konnte, betrunken 65 Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Haid Ferdinand (1904–1986). 66 StA B, GB 052/Personalakten: Peta Albin (geb. 1893). 67 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Nawratil Wilhelm (geb. 1895).
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im Dienst zu erscheinen. An sich ein klarer Fall, doch die politische Beurteilung vom Jänner 1940 ergab: Ich habe in dieser Sache an die 20 Zeugen vernommen, von denen ungefähr die Hälfte feststellt, dass Vg. Fink in der Systemzeit kein offensichtlicher Gegner der NSDAP war, ja teilweise sogar Spenden für die NSDAP gegeben hat, während die andere Hälfte feststellte, dass er ein politisches „Farbkastel“ war.68 Nach diesem Schema ging es munter weiter. Ein streitsüchtiger und gehässiger Trinker und Gegner der NS-Bewegung einerseits, anderseits ein harmloser Volksgenosse, Fachmann auf seinem Gebiet und deswegen dringend benötigte Kraft, die halt gerne zu tief ins Glas schaut, aber wer lebt schon ohne Sünde. Ende 1941 erhob Kreispersonalamtsleiter Stumpf, wenngleich politische und moralische Bedenken bestanden, keinerlei Einwände, Emil Fink als Helfer in Steuersachen zuzulassen. Mit beschränkten Mitteln, einer stärker beanspruchten, reduzierten und nicht ganz einwandfreien Mannschaft, musste die Stadtgemeinde nicht nur die Wohnungsnot in den Griff bekommen, sondern den Mangel zahlreicher Güter managen. Das Repertoire an Lösungsmöglichkeiten bestand aus der Devise: Kürzen! Die Lebensmittel- und Brennstoffrationierungen wurden für Hotels schon im März 1940 gekürzt. Sie erhielten nur noch 50 % ihrer ursprünglichen Anspruchsmenge.69 Der Kohlemangel war aus Sicht des NS-Regimes leicht erklärt: Die Witterungsverhältnisse hatten zu Transportschwierigkeiten geführt. Sparsam musste die „Volksgemeinschaft“ sowieso sein, und wer es bereits war, hatte dies zu melden, damit er nichts zusätzlich bekomme – Hamsterei-Gefahr! Um auf Nummer sicher zu gehen, wies der Landrat die Kohlehändler an, ausnahmslos jeden Haushalt als Kleinhaushalt einzustufen und dadurch nur ein solches Kohlekontingent auszuhändigen.70 Dass die Gemeinde mit gutem Beispiel voranging, bewies sie dadurch, dass sie Bäder in der Städtischen Kuranstalt schloss, um sie nicht beheizen zu müssen – offiziell natürlich wegen dringend gewordener Herrichtungsarbeiten. Als Ausweichbad wurde der Mariazellerhof angeboten.71 Es war kalt 1940. Als der Frühling kam, stiegen zwar die Temperaturen, doch machte sich der nächste Mangel bemerkbar: Die Nahrungsmittel wurden knapp. Zellenleiter Ludwig Lackinger und seine Blockleiter wurden mit Beschwerden überhäuft, wonach es zu Engpässen oder gar zu Totalausfällen von Magermilch gekommen war, obwohl es geheißen hatte, für Frauen mit kleinen Kindern werde es immer etwas geben. Genauso sah es beim grünen Gemüse aus. Gähnende Leere bei Salat, Spinat und Karfiol. Fleisch und Hülsenfrüchte waren ebenfalls Mangelware. Und aus den zugeteilten mickrigen Fleischrationen konnte selbst die geschickteste Hausfrau nicht mehr als vier bis fünf Mahlzeiten zubereiten. Weiters fehlte es an Zucker und entrahmter Frischmilch. Damit lag die Fabrikation von Mehlspeisen darnieder.72 68 69 70 71 72
StA B, GB 052/Personalakten: Fink Emil (geb. 1901). Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. II Rohstoffe/Energie; 1940. Vgl. BZ Nr. 7 v. 24.01.1940, S. 4. Vgl. BZ Nr. 8 v. 27.01.1940, S. 2. Vgl. StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Wirtschaftsberichte – Berichte vom Februar und April 1940.
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Die Gemeinde versuchte adäquat zu reagieren. In einer öffentlichen Gemeinderatsitzung vom 23. April 1940 war fehlendes Gemüse Tagesthema. Als Deus ex Machina erschien der bulgarische Gemüsegärtner Ivan Dimitroff, der offenbar auf vier Joch Acker Wunder vollbracht hatte, was Anbau und Ernte anbelangte. Ratsherr Hans Gotz schlug vor, dem Mann weitere sechs Joch zu verpachten. Damit wäre die Gemüseversorgung für Baden gesichert. Schmid begrüßte den Vorschlag, denn es sei ja bekannt, dass die Bulgaren die besten Gemüsebauern seien.73 Woher er dieses Wissen besaß, gab er nicht preis. Allerdings, sich einzig auf einen Ausländer zu verlassen, barg Gefahr. Man empfahl der „Volksgemeinschaft“ grundsätzlich, erfinderisch zu sein. Nichts sprach dagegen, jeden Quadratmeter deutschen Bodens zu beackern und zu bepflanzen. Gesammelte Küchenabfälle sollten an Schweine verfüttert werden, nichts durfte der Verschwendung anheimfallen. Schweine sind ein gutes Stichwort. Die Badener Zeitung berichtete über gemästete Fettschweine, 34 waren es allein in Baden und 175 fette Schweine im gesamten Kreis. Nach Adam Riese, errechnete die BZ, ergäbe das in ein paar Monaten 20 Tonnen Fett. Bei solch fetter Ausbeute entwarf das Lokalmedium Zukunftsszenarien, in denen Stoffe und Seide aus Holz sowie Benzin und Gummi aus Kohle fabriziert werden könnten. Eine Welt der kurörtlichen Autarkie tat sich auf, wer braucht schon das Ausland oder die Ausländer – außer den Bulgaren Dimitroff.74 Neu waren die Autarkiefantasien nicht. Schon im August 1938 hatte der Gau wissen wollen, wie viele Gärfutterbehälter und Gärfuttervorräte es im Landkreis gegeben hatte. Alles lief darauf hinaus, die Erträge der deutschen Böden zu steigern. Im April 1939 lag der Fokus auf der landwirtschaftlichen Nutzbarmachung städtischer Abwässer. Schmid war hier allerdings zurückhaltend. Wolle man Felder und Äcker mit hiesigem Dünger versorgen – kommend aus der Kläranlage Tribuswinkel – müsste zuerst eine Pumpanlage errichtet werden. Die Kosten würden jedoch laut Schmid den Nutzen bei weitem überragen.75 Wichtig war der Reichstatthalterei aber, dass die Gemeinden nicht zu übermütig würden. Grün- und Ackerflächen, ob nun durch „Arisierungen“ oder sonst wie erworben, sollten vornehmlich in die Hände von Berufslandwirten fallen. Gemeinden sollten sich, was das anbelangte, im Hintergrund halten.76 Wenn man schon zu „garteln“ trachtete, so wäre die Förderung von Kleingärten weitaus effektiver, auch aus ideologischem Gesichtspunkt. Die Kleinsiedlung soll den deutschen Arbeiter wieder mit dem Heimatboden verbinden und der Selbstversorgung der Familie mit Gartenerzeugnissen und den Erträgnissen der Kleintierzucht dienen.77 Um dem angehenden Kleintierzüchter noch mehr unter die Arme zu greifen, wurden baupolizeiliche Normen nach unten korrigiert. Nicht zu engherzig verfahren, re73 Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 240 – Ivan Dimitroff (geb. 1915). 74 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 13f. 75 Vgl. NÖLA, BH Baden, VI-IX 1939; IX 113. 76 Vgl. NÖLA, BH Baden, II-VIII 1941; Gr. II-5 Allgemein, A 328. 77 NÖLA, BH Baden, VI-IX 1939; IX 113; ZI.IX-292.
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dete Landrat Wohlrab den Baubehörden ins Gewissen, wenn der Kleintierstall nicht den vorgeschriebenen Anforderungen entspräche. Der Baustoffmangel erfordere nun einmal ein wenig Provisorium. Und Hühner, Gänse und Kaninchen können schließlich auch mit behelfsmäßigen Behausungen vorliebnehmen.78 Doch trotz selbstversorgerischer Blut- und Bodenpolitik im kleinbürgerlichen Schrebergartensinn war dem Mangel an Lebensmittel nicht beizukommen – dafür aber kam böses Blut zum Vorschein. Denn manchen Volksgenossen würde nicht entgehen, so Zellenleiter Lackinger, dass die Reichen, die es sich leisten können, sich immer mehr in die Hotels, Sanatorien und Pensionen „zurückziehen“, sich dort um nichts kümmern brauchen und doch besser leben, weil diese Anstalten bevorzugt beliefert werden.79 Für ihn war das ein Skandal, und er gab er zu bedenken: Selbst angenommen, es handelt sich bei den in diesen genannten Anstalten untergebrachten Personen um wirklich Leidende, so sind dies doch in erster Linie Gicht- und Rheumakranke, die – um nur ein Beispiel anzuführen – gar keinen Salat essen sollten.80 Schlaraffenland-Gerüchte drangen auch aus dem Casino. Während dort Geflügel zu entsprechenden Preisen serviert worden wäre, gäbe es für gewöhnliche Volksgenossen am hiesigen Markt seit Weihnachten kein Federvieh mehr zu erstehen. Schuld daran war, man glaubt es kaum, diesmal nicht der Jude, sondern die Geldsäcke in den eigenen Reihen – insbesondere jene aus der Stadt Wien. Wieder einmal wurde wiederholt beobachtet, dass zahlreiche Wiener nach Baden reisten und mit schlecht ausgefüllten Essensmarken den Badenern die Nahrungsmittel vor der Nase wegkauften. Besonderen Unmut erregten gutbetuchte und geschminkte Damen im Pelzmantel, die sich in Geschäften vordrängten und selbst rare Waren verschmähten, wie Kekse, weil sie ihnen nicht gut genug gewesen wären.81 Für Zellenleiter Lackinger war der Unmut offensichtlich. Es lässt sich nicht verkennen, dass unter der Bevölkerung derzeit eine ziemliche Spannung, Nervosität und teilweise sogar Missstimmung herrscht.82 Es war eine wunderbare Zeit für Feindbilder. Badener gegen Kurgast, Badener gegen Wiener, arme Badenerinnen gegen betuchte Wienerinnen usw. Die Gemeinde war dahingehend machtlos. In der Gemeinderatssitzung vom November 1940 hieß es noch, dass die Bevölkerung nicht zur Ruhe käme wegen der ungerechten Lebensmittelzuweisung, die ausschließlich die Kureinrichtungen bevorzuge.83 Solche Stimmungen liefen der NS-Propaganda schmerzlich zuwider. Die NS-Ideologie, die sich auf ihre Fahnen den Kampf gegen die Plutokratie und den Kapitalismus „jüdischer Ausprägung“ geheftet hatte, stand plötzlich mit dem Rücken zur Wand, als „einfache“ Volksgenossen auf NS-Bonzen losgingen oder Kurgäste beschimpften, weil denen angeb78 79 80 81 82 83
Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. I Ernährung; 1940. StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Wirtschaftsberichte – (22.04.1940). Ebd. Wirtschaftsberichte (08.04.1940). Vgl. ebd. Wirtschaftsberichte (27.02.1940). Ebd. Wirtschaftsberichte (22.04.1940). Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 290.
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lich alles in den Rachen geschoben werde. Jene Bonzen würden in den Sanatorien alles aufgetischt bekommen, während die einfache deutsche Frau, auch wenn sie noch so sparsam und erfinderisch den Haushalt schupfte, nicht mehr wusste, wo hinten und vorne war. Die Block- und Zellenleiter reagierten bei solchen Vorwürfen etwas ratlos. Wie sollten sie bei solchen Beobachtungen NS-korrekt argumentieren? In derartigen Fällen stand Landrat Wohlrab gerne mit Rat und Tat zu Seite. Deeskalation hieß das Zauberwort. Er riet der Hausfrau bzw. der NS-Frauenschaft, Obst zu sieden, um von vornherein gegen Mangel gewappnet zu sein.84 Die Entspannung der angespannten Ernährungslage lag somit in den Händen und Kochkünsten der deutschen Frau und ihrem Schlachtfeld, der Küche. Nicht als Schlachtfeld, viel eher als Refugium von Wärme, Geborgenheit und Nähe empfand Gertrud Maurer die Küche ihrer Großmutter, in der sie Stunden verbringen konnte. Dort erlebte sie genauso den Mangel, und wie ihr Vater einen Pseudokaffee bzw. Eichelkaffee „genießen“ musste, wenn man über den Schleichhandel keinen ordentlichen Kaffee ergattern konnte.85 Theoretisch hätte man auf Kaffee verzichten können, weil er ein Genussmittel/Suchtmittel war. Genauso wie der Alkohol, dessen restriktive Handhabung durch das NS-Regime einer Weingegend wie Baden nicht unbedingt zu Gesicht stand. Das rief vor allem die Weinhauer auf den Plan, deren Vertreter, Ratsherr Anton Rampl, als Obmann des Weinbauvereines allerlei Vorschläge unterbreitete, um das Buschenschankgesetz weinhauerfreundlicher zu gestalten. Er schlug vor, wenigstens die Verkaufszeiten zu verlängern, die Verkaufsmengen zu vergrößern oder das Einheben einer zusätzlichen Abgabe zu gestatten. Doch Schmid blieb hart und erteilte diesen Vorschlägen eine Absage. Der Weinverkauf über die Gasse durfte nur bis 12 Uhr erfolgen und betrug maximal zwei Liter.86 Während für die Anliegen der Weinhauer und Weintrinker Anton Rampl eintrat, war es beim Genuss- und Suchtmittel Tabak Bruno Dietz, ehrenamtlicher Kreisfachgruppenleiter der Berufsgruppe Tabak. Er setzte sich für Trafikanten ein, kümmerte sich auch um die Einhaltung von Mittagspausen und beklagte, dass die Zigaretten-Kontingentierung bei weitem nicht mehr den alltäglichen Anforderungen entspreche. Die Saison stand kurz vor der Tür, immer mehr Gäste strömten nach Baden, immer mehr Menschen dürstete es nach dem blauen Qualm, und der blieb aus. Dietz schlug vor, dass jeder Ort individuell geprüft werden sollte, welche Mengen er an Zigaretten benötige, anstatt dass alles zentral geregelt werde. Es war nicht die einzige Anregung seinerseits, die er der „Wirtschaftkammer-Wirtschaftsgruppe Einzelhandel-Bezirksfachgruppe Tabak Wien-Niederdonau“ unterbreitete. Umgesetzt wurde offenbar nichts davon, viel mehr schrieb er von einem Nichtwollen höherer Stellen und einer grundsätzlichen Nicht-Kenntnisnahme seiner Vorschläge. Resigniert beantragte er im Juni 1940 seine Enthebung als Leiter der Fachgruppe Tabak im Kreis Baden. Als seinem Wunsch entsprochen wurde, kommentierte er anschließend sarkastisch: 84 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 12. 85 Vgl. MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 62. 86 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Rampl Anton (geb. 1908).
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Bei dieser Gelegenheit muss ich feststellen, dass keine der bisherigen Anregungen und Wünsche eine so rasche und widerspruchslose Erledigung gefunden haben als mein Ersuchen um Enthebung von meiner ehrenamtlichen Tätigkeit.87 Doch sein Fernbleiben als Fachgruppenleiter Bezirksstelle Tabak war nicht von langer Dauer. Nur zwei Monate später war er wieder im Einsatz. So einen verdienten und zuverlässigen Parteigenossen wollte man auf keinen Fall ziehen lassen. Höchstwahrscheinlich fehlte die kompetente Alternative. Ob es an Dietz und seinen Vorschlägen lag oder nicht, im September 1940 wurden die Trafiken und Trafikanten von Baden einer Überprüfung unterzogen – nicht zum ersten Mal. Man wollte in Erfahrung bringen, ob es sich rentieren würde, neue zuzulassen. Grundsätzlich war man mit diesem Gewerbe in Baden zufrieden. Die meisten Trafikanten und Händler von Zeitschriften und Tabakwaren waren politisch unbedenklich bis einwandfrei. Probleme bereiteten Robert Woharczik und seine Trafik Leesdorfer Hauptstraße Ecke Prinz Solms-Straße. Er war verschrien als Kommunist und Querulant. Letzteres soll auch auf Theresia Wurtinger zugetroffen haben, politisches Verhalten schwankend, meckert gerne mit alten Weibern mit. Sie durften jedoch ihre Geschäfte behalten. Bei der Betreiberin des Kiosks am Josefsplatz, Folkmann, die mit einem Juden verheiratet gewesen war und Mutter von vier Kindern, wurde hingegen die Abnahme der Trafik vorgeschlagen.88 Zuletzt sei noch Robert Michalek erwähnt. Er kam in Schwierigkeiten, weil er den evangelisch getauften „Halbjuden“ Arthur Biach in seiner Trafik beschäftigt hatte, und das als Parteigenosse. Ende 1940 war Robert Michaleks Parteikarriere beendet. Er wurde ausgeschlossen.89 Im NS-Sinne ärgerlich und unschön war ebenso der Konflikt um die freigewordene Trafik Annagasse 17. Ein passender Kandidat war schnell gefunden, ein Kriegsinvalide, der durch seinen Kriegseinsatz das Augenlicht verloren haben sollte. Doch plötzlich stellte sich heraus, dass nicht der Krieg für seine Invalidität ursächlich war, sondern angeblich eine Geschlechtskrankheit. Da fiel die Wahl auf Olivia Paukner. Sie war zwar nicht kriegsversehrt, dafür punktete sie mit ihrem Ehemann, Emil Paukner, einem verdienten Parteigenossen und Blutordensträger, der seinen Einsatz für die NS-Bewegung 1940 mit seinem Ableben bezahlt hatte – aufgrund von ihm durch die Austrofaschisten zugefügten Misshandlungen. Für die Kreisleitung ein Märtyrer, in dessen Martyrium sich seine Witwe durchaus sonnen durfte. Doch hatte die Kreisleitung nicht mit dem Reichsdeutschen Blindenverband gerechnet. Als jener erfuhr, dass einer von ihnen übergangen wurde, intervenierte der Blindenverband bei der Gauleitung und durchkreuzte damit sämtliche Pläne der Kreisleitung.90 87 StA B, GB 052 Personalakten: Dietz Bruno (geb. 1893). 88 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. II Allgemein; Trafiken und Bauarbeiter – Robert Woharczik (geb. 1888). Bei Folkmann könnte es sich um Elisabeth oder Marie Folkmann handeln (siehe Adressbuch 1933/34), Theresia Wurtinger war in Bad Vöslau wohnhaft, Arthur Biach (geb. 1871). 89 Sein Antrag wurde 1945 abgelehnt, 1947 jedoch stattgegeben. Vgl. GB 054/Registrierungslisten: Michalek Robert (1909–1982). 90 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Paukner Olivia (geb. 1902) – Emil Paukner (1901– 1940).
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* Wir hatten bereits Mangel bei Wohnraum, Personal, bestimmten Lebensmitteln, Brennstoffen, Genussmitteln, doch war das bei weitem nicht alles. Ich erinnere an den Treibstoff, der nicht für sinnlose Vergnügungsausfahrten verschwendet werden durfte. Und wehe, jemand ließe sich dazu verleiten, warnte die Badener Zeitung, dann werde unnachsichtlich streng geahndet – ganz im Sinne des Reichsverkehrsministers Julius Dorpmüller.91 Im Mai 1940 richtete der Landrat den Gendarmerieposten und Schupo-Abteilungen im Landkreis aus, wie im Falle missbräuchlicher Fahrzeugbenutzung vorzugehen sei. Mit Strenge, Kompromisslosigkeit und einer scharfen Handhabe, ohne Ansehung der Person, sollte nutzlosen, unberechtigten und bloß kraftstoffverbrauchenden Ausfahrten ein Riegel vorgeschoben werden. Es galt mehr zu kontrollieren und schneller abzuurteilen. Eine missbräuchliche Fahrt war augenblicklich zu unterbinden. Gegebenenfalls war der Führerschein einzuziehen. Kontrolliert werden sollten die Wienerstraße Richtung Pfaffstätten, die Waltersdorferstraße und die Germergasse.92 Dermaßen eingeengt, verlagerte sich die private Mobilität auf das Fahrrad. Doch selbst hier kam es zu einer restriktiven Gesetzgebung. Für die Bereifung von Fahrrädern benötigte man Bezugsscheine. Einen Fahrradschlauch einfach so zu kaufen, war nicht mehr möglich.93 Des Weiteren durfte über die Art der Benutzung eines Fahrrades nicht mehr frei verfügt werden. Hier waren es die jungen Volksgenossen, denen ernsthaft ins Gewissen geredet werden musste. Bei dieser Sachlage geht es nicht an, dass Jugendliche mit ihren Fahrrädern auf den Straßen Kunststücke vorführen. Sie gefährden damit nicht nur den Verkehr, sondern vernichten auch wertvolles Volksvermögen und erregen Ärgernis bei jenen Volksgenossen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. […] Ein Schulweg kann innerhalb einer geschlossenen Ortschaft gewiss auch zu Fuß zurückgelegt werden, und der Nachmittag kann auch mit Spaziergängen oder Spielen ausgefüllt werden, wenn nichts Wichtigeres zu tun ist.94 Abschließend wäre noch fehlendes Büromaterial anzuführen. Josef Enigl, Leiter des Wirtschaftsamtes im Landrat, beschwerte sich im November 1940 bei seinem Vorgesetzten Josef Wohlrab nicht nur, dass er aufgrund des Personalmangels nun auch für die Bestellungen der Bürobedarfsartikel zuständig war, sondern dass diese auch in unzureichenden Mengen geliefert würden. Mehrere Mitarbeiter müssten mit einem einzigen Stempelkissen gleichzeitig vorliebnehmen – früher hätte es das nicht gegeben. Er verwies ferner darauf, dass man schließlich eine Kriegseinrichtung sei und doch bitte mit einer Grundausstattung versorgt werden müsste. Ob seine Kritik etwas bewirkte, geben die Quellen nicht her. Einzig, dass er im Mai 1941 zur Wehrmacht einberufen wurde.95 Das NS-Regime schaffte es 91 92 93 94 95
Vgl. BZ Nr. 50 v. 22.06.1940, S. 2. Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenzen; 1940. Vgl. BZ Nr. 11 v. 07.02.1940, S. 4. BZ Nr. 50 v. 22.06.1940, S. 3. Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten A–J bis 1945, Josef Enigl (geb. 1914).
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nicht, den Mangel in den Griff zu bekommen. Wenn, dann in homöopathischen Dosen. Man probierte vieles, man war sicherlich bemüht und versuchte redlich, die Situation der „Volksgemeinschaft“ zu verbessern. Im Endeffekt blieb es bei 08/15-Ratschlägen: Gemüse sieden, Zimmer nicht mehr als auf 18 Grad aufheizen oder jeden Quadratmeter beackern. Andere Möglichkeiten bestanden darin, wenn das Jammern und Murren zu laut wurde, die Gemeinschaft der deutschen Rasse zu beschwören, jene zu bedrohen, die davon abwichen, auf frühere Zeiten zu verweisen, wo es noch schlechter gewesen sein sollte, oder man riet der Bevölkerung, erfinderisch zu sein. Und siehe da, Letzteres fand zunehmend Anklang. Die „Volksgemeinschaft“ wurde tatsächlich erfinderischer. Nur wurde dabei nicht unbedingt der legale Weg eingeschlagen. Allerdings brachten die neuen Zeiten eine Realität, die es stellenweise unmöglich machte, nicht kriminell zu agieren, um dem Mangel effektiv zu begegnen. Der Grat zwischen Erfindungsreichtum und volksschädlichem Verhalten war schmal. Bevor es weitergeht, möchte ich eines in Erinnerung rufen, wir schreiben das Jahr 1940. Die Mängel und Engpässe waren bereits Anfang 1940 spürbar. Da dauerte der Krieg erst vier Monate!
Verrat und Verräter Es ist in letzter Zeit bemerkt worden, dass viele Volksgenossen Fahnen an sich vorbeiziehen lassen, ohne sie zu grüßen.96 Offenbar trieb in der Kurstadt der Frevel weiterhin sein Unwesen. Fahnen und Flaggen der Partei und ihrer Gliederungen sowie der Wehrmacht waren nämlich mit dem Deutschen Gruß zu würdigen. Bei absichtlicher Nichtleistung dieser Ehrenbezeugung kündigte die Badener Zeitung Sanktionen an. Ein gedankenversunkener Spaziergang konnte demnach auf dem Polizeikommissariat sein Ende finden. Betrachtet man die Polizeiberichte in der BZ, so dominieren neben gewöhnlichen Rechtsvergehen hauptsächlich Vergehen wie die Nichtbeachtung von Verdunkelungsvorschriften, unerlaubtes Benutzen von Kraftfahrzeugen und Fahrrädern sowie die Nichteinhaltung der Sperrstunde – das Nicht-Fahnen-Grüßen bildete eher die Ausnahme. In einer neuen Artikelserie „Vor Gericht“ wurden solche „Übeltäter“ und andere tatsächliche Verbrecher oftmals namentlich genannt und medial an den Pranger gestellt. Ein weiteres Thema war das als defätistisch angesehene Feindsender-Abhören. Um hierbei ermittlungstechnische Erfolge vorweisen zu können, waren die Behörden auf „Nachbarschaftshilfen“ angewiesen – wobei das nicht immer erforderlich war. So ließ es sich Gertrud Maurers Mutter, Julia Hauer, als Französischlehrerin nicht nehmen, um ihre Sprachkenntnisse aufzupolieren, französische Radiosendungen in entsprechender Lautstärke, und das bei offenem Fenster, zu konsumieren. Für ihre Tochter war die Mutter dadurch das gesetzesloseste Wesen, das ihr bis dato untergekommen sei. Für einen anständigen Blockwart im NS-Sinne – auch wenn anzunehmen war, dass die Mutter sicher nicht das „Freie Frankreich“ lausch96 Vgl. BZ Nr. 22 v. 16.03.1940, S. 2.
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te, sondern eher Sendungen des verbündeten Vichy-Regimes – wäre das ein gefundenes Fressen. Doch es blieb in der Familie. Schließlich war August Hauer selbst der zuständige Blockwart. In den Augen seiner Tochter war er allerdings ein harmloser Mensch. Trotzdem musste er in diesem Fall ein innerfamiliäres Machtwort sprechen.97 So wohlwollend und harmlos waren nicht alle Volksgenossen. Margarete Valente erzählte ihrer Mutter Karoline Koschitz, dass ihre Nachbarn, das Ehepaar Johann und Margarethe Unger in der Leesdorfer Hauptstraße 38 zuerst Feindsender hören und danach staatsfeindliche Äußerungen von sich geben würden. Eine dünne Ziegelwand zwischen den Wohnungen machte die Denunziation möglich. Karoline Koschitz erzählte Gehörtes dann der Hilfsstellenleiterin der NSV, Margarete Uhlik, jene dem Leiter des Kreisamtes für die NSVolkswohlfahrt, Hermann Janisch, dieser dem Kreisleiter Gärdtner, und dieser wiederum erstattete Anzeige bei Bürgermeister Franz Schmid, von wo aus der Fall auf den Schreibtisch des Polizisten Josef Schlager gelangte.98 Die Ermittlungen wurden aufgenommen, Johann Unger leugnete sämtliche Vorwürfe – vergebens. Drei Monate Kerker und Untersuchungshaft musste er über sich ergehen lassen sowie den Verlust seines Radioapparates. Man kann es nicht oft genug betonen, Denunziationen politischer Natur hatten oftmals eine „profane“ Vorgeschichte. Zwar waren einige Protagonisten in diesem Fall, wie Janisch, Schmid, Gärdtner und Margarethe Uhlik eingefleischte Nationalsozialisten – bei Margarethe Uhlik bestätigte die NSDAP im Dezember 1938, dass sie in der Systemzeit Sprengstoff für die NS-Bewegung versteckt hatte, nach 1945 hatte ihre Hilfe aus ihrer Sicht aus bloßen Strickarbeiten für die NS-Bewegung bestanden – doch waren es bei weitem nicht alle. Ein Teil der Beteiligten waren „gewöhnliche“ Menschen, die nun ihre Nachbarschaftskonflikte mit neuen Möglichkeiten, die der NS-Staat bot, ausfochten. Während Margarethe Uhlik aus politischer Überzeugung handelte – sie behauptete obendrein, dass Margarethe Unger einer asozialen Familie entstammte – waren es bei Karoline Koschitz und ihrer Tochter Grete Valente vordergründig andere Motive, denn zwischen ihnen und dem Ehepaar Unger, wie andere Nachbarn aussagten, kam es wiederholt aus nichtigen Ursachen zu Streitigkeiten, und es ergab sich dadurch ein gespanntes Verhältnis.99 Den NS-Machthabern konnte das nur recht sein. Hass und Paranoia sind die Lebenselixiere eines totalitären Regimes, gewürzt mit mannigfaltigen Schreckensszenarien und Drohkulissen. Die Badener Zeitung brachte es schwarz auf weiß: Wer den Kampf des deutschen Volkes um sein Leben benutzt, um sich zu bereichern, wird in seiner Existenz vernichtet werden.100 Es ging ums Hamstern, um die Schieberei, den Schleichhandel und den Schwarzmarkt sowie illegale Schlachtungen. Otto Wolkerstorfers Erinnerungen zeugen davon, dass damals zumeist drei oder vier Schweine zu Schlachtungen angemeldet wurden, insgeheim 97 Vgl. MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 72. 98 Margarete Valente (geb. 1909), Karoline Koschitz (geb. 1882), Johann Unger (geb. 1903), Margarethe Unger (geb. 1901), Margarete Uhlik (geb. 1899). 99 StA B, GB 052/Personalakten: Fam. Uhlik – Gerichtsurteil (20.01.1949). 100 BZ Nr. 101 v. 18.12.1940, S. 2.
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wurden mehr gekeult. Als zu Weihnachten unangemeldet ein Kontrolleur auftauchte und man gerade ein offizielles und ein inoffizielles Schwein abstach und zerteilte, räumte man hastig die illegale Hälfte weg und präsentierte dem Amtsmenschen die legale. Bei genauerem Hinsehen hätte man jedoch glauben können, es müsste sich um eine Notschlachtung gehandelt haben, denn das Schwein war eine eindeutige Missgeburt. Es hatte drei Vorderhaxen und einen Hinterhaxen. Der Kontrolleur drückte bei dieser bemitleidenswerten Anomalie ein Auge zu. Das Zudrücken wurde mit dem besten Stück Fleisch entlohnt.101 Die Familie hatte Glück. Denn solche Geschichten konnten auch ganz anders ausgehen. Ein Vermerk in irgendwelchen Akten und Listen, Geldbußen, Arrest, Kerker, Dachau – alles war möglich. Um illegale Schlachtungen unmöglich zu machen, musste jede Hausschlachtung ab 1. Jänner 1941 gemeldet werden, und ein Fleischbeschauer musste zugegen sein. Die Beschau war eine polizeiliche Aufgabe.102 Die Illegalität konnte weitaus größere Ausmaße erreichen als die Handvoll Schweine, die Otto Wolkerstorfer nicht ordnungsgemäß angab. Im April 1940 flog die „Wochner-Affäre“ auf. In der Badener Zeitung lesen wir über den Fleischhauermeister Johann Wochner, der seinen Kunden bedeutend mehr Fleisch hatte zukommen lassen, als es ihnen aufgrund ihrer Marken zugestanden wäre. Zusammen mit seinem Bruder, Rudolf Wochner, der für die Buchhaltung zuständig war, und den Stechviehhändlern Josef Hanak und Gustav Kranzl, waren in Summe an die fünfzig Kälber, fünf Rinder sowie weitere 1000 Kilo Fleisch, die dem Wirtschaftsverband Wiener Neustadt mittels doppelter Verrechnung entzogen worden waren, unberechtigterweise auf den Tellern zahlreicher Volksgenossen gelandet.103 Die Badener Zeitung gab sich ansonsten etwas zugeknöpft. Angemerkt wurde nur: diese Vorfälle waren in den letzten Tagen Gegenstand breiter Erörterungen und vieler Gerüchte.104 Was nicht verwunderte, denn Wochners Kundenstamm umfasste an die 700 Personen. Als eine Liste jener Kunden erstellt wurde, welche den Mehrbezug an Fleisch direkt anforderten, war das Ergebnis „ernüchternd“. Dass die Angeklagten Wochner und Hanak Parteigenossen waren, war schon bitter genug, aber auf der Liste fanden sich unter anderem Ortsgruppenleiter Fritz v. Reinöhl, SS-Mitglied und Kinobesitzer Arthur Rotter, mehrere illegale und alte Parteigenossen wie Primararzt Dr. Ambros Singer, Karl Zweymüller oder der Blockleiter und Hotelier des „Deutschen Hauses“ Karl Harner. Manche Parteigenossen schickten auch nur ihre Frauen zum Einkaufen vor. Hinzu kamen juristische Personen wie die Kammgarn-Fabrik in Bad Vöslau, die Enzesfelder Metallwerke, der Herzoghof als Gemeindebetrieb, das Kur-Casino-Restaurant und die Kur-Casino-Direktion sowie weitere Badener Gastwirtschaften.105 Johann Wochner gestand auch ein, dass außer den hier an101 102 103 104 105
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 42. Vgl. BZ Nr. 104 v. 28.12.1940, S. 8. Gustav Kranzl (geb. 1897), Rudolf Wochner (geb. 1894). BZ. Nr. 30 v. 13.04.1940, S. 3. Singer Ambros (geb.1902), Arthur Rotter (geb. 1893), Andreas Lammer (geb. 1894), Karl Harner (geb. 1883).
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geführten Kunden […] fast 90 % unserer gesamten Kunden mehr Fleisch [bezogen,] als sie laut Karte berechtigt waren.106 Das Bild war verheerend. Um den Schaden einzugrenzen, wurde umgehend verlangt, die Beschuldigten, soweit sie der Partei angehören, parteigerichtlich zu belangen, da der Führer gerade von der Parteigenossenschaft unbedingte Korrektheit und Sauberkeit und beispielhaftes Verhalten den Volkgenossen gegenüber fordert.107 Es kam zu Ermittlungen und Parteigerichtsverfahren gegen den Sachbearbeiter bei der Kreisbauernführung Andreas Lammer, der genauso auf der Liste zu finden war, und gegen den ehemaligen Kreisleiter Franz Eckel, der ebenso als Sachbearbeiter der der Kreisbauernführung sein Auskommen gefunden hatte. Es war ein Moloch an Schlamperei und einem institutionellen Wegschauen. All das waren un-nationalsozialistische Wesenszüge, die augenblicklich der Ausmerzung zugeführt werden mussten. Während die meisten mit einer Verwarnung davonkamen, hieß es im Oktober 1940 für Josef Hanak fünf Jahre Zuchthaus, für Johann Wochner sieben Jahre Zuchthaus und 5000 RM Geldbuße und für Rudolf Wochner ein Jahr und sechs Monate Zuchthaus. Ein mildes Urteil, denn als Parteigenossen oblag ihnen eine besondere Verantwortung und Vorbildfunktion, und ein Fehlverhalten schädigte schließlich die gesamte Partei und damit den gesamten NS-Staat – Josef Hanak war Fachschaftsleiter der Viehverteiler und Johann Wochner Innungsobermeister. Milde auch deswegen, weil ebenso die Todesstrafe nach der „Lex Nationalsozialistica“ gerechtfertigt gewesen wäre.108 Nicht umsonst lautet die Überschrift in einem dem Akt beigelegten Zeitungsartikel: Hart an der Todesstrafe vorbei.109 Solche Affären boten stets einen Anlass, um zyklisch, teils öffentlichkeitswirksam, teils intern, in den eigenen Reihen für Ordnung zu sorgen. Die untragbaren Zustände in der Kreisbauernschaft waren nicht die einzige Baustelle im lokalen Rahmen. Besonders schief hing der NS-Segen in der Spielbank. Den Anstoß gab der Casino-Präsident Robert Hammer, als er im Juni 1940 einen recht geharnischten Brief der Belegschaft zukommen ließ. Die zu erfüllenden Dienste sollen nicht vorschriftsgemäß umgesetzt worden sein, ferner hätte sich eine unerträgliche Nachlässigkeit eingebürgert, und erst die Disziplin am Spieltisch! Gespräche der Croupiers am Spieltisch vor den Gästen, Bemerkungen über diese und Glossieren der Spielgäste, sind, man kann fast sagen, Selbstverständlichkeiten geworden. Um solcher Unprofessionalität den Garaus zu machen, erstellte Robert Hammer eine neue Arbeitsordnung, verlangte deren schleunigste Umsetzung, und jeder, der sich nicht daran halten würde, wäre sofort zu melden. Und niemand durfte sich durch unangebrachte Kameradschaftlichkeit dazu verleiten lassen, Verstöße gegen die mit dieser Arbeitsordnung erlassenen Vorschriften wissentlich zu übersehen.110 Ihm gegenüber stand Hans Scheiner, der streitbare Betriebsobmann, der im Namen der Belegschaft solche Anschuldigungen auf keinen Fall 106 107 108 109 110
StA B, GB 052 Personalakten: Wochner Johann (geb. 1889) – Aussage Wochner (16.04.1940). Ebd. – Gärdtner an das Parteikreisgericht (10.05.1940). Vgl. BZ Nr. 83 v. 16.10.1940, S. 2. StA B, GB 052/Personalakten: Hanak Josef (geb. 1881). StA B, GB 334/Casino I; Fasz. II; 1940 – Hammer an die Gefolgschaft (20.06.1940).
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unkommentiert stehen lassen konnte. Gegen die Beschuldigungen, welche wohl die Ehre jedes deutschen Menschen auf das Gröblichste verletzt, wird seitens der Gefolgschaft starke Kritik geübt und führt natürlich zu größeren Debatten im Betriebe.111 Scheiner bot nicht nur dem Casinopräsidenten Hammer Paroli, er wandte sich noch am selben Tag an die Gauleitung, um diese über die wahren Probleme im Betrieb zu unterrichten. Diese lägen sicher nicht an der Belegschaft, die aus 170 Gefolgschaftsmitgliedern bestand, von der ein Drittel eingerückt war. Viel mehr läge es an der Führungsetage, wo offenbar erstens die Dependance, das Wiener Büro, überbesetzt sei und zweitens niemand in der Führungsriege Verantwortung zu übernehmen bereit wäre. Stünden wichtige Entscheidungen an, herrsche Wochen, wenn nicht Monate lang Funkstille. Die Herren da oben, entrüstete sich Scheiner, würden alles nur mehr weiterreichen oder sich auf den Gauleiter herausreden.112 Schützenhilfe erhielt Scheiner durch den DAF-Kreisobmann Ernst Ziegler. Gemeinsam suchten sie Kreisleiter Gärdtner auf, um diese über undurchsichtige Arbeitsverträge zu informieren und über nicht nachvollziehbare Tarifordnungen. Es folgten Anschuldigungen, wonach die Casinoführung den Gaustellen gegenüber Informationen zurückhalte, im Namen des Gauleiters das reinste Schindluder betrieben werde, der Dienstweg umgangen werde und niemand den Mut aufbringe, die Fehlentwicklungen endlich beim Schopf zu packen.113 Und dann eskalierte es vollkommen. Hammer unterrichtete Kreisleiter Gärdtner und DAF-Kreisobmann Ziegler, dass er Scheiner von seiner Funktion als Betriebsobmann abberufen hatte. Außerdem hatte er ihn aufgefordert, eine schriftliche Entschuldigung zu verfassen, die dann öffentlich ausgehängt werden sollte. Hauptvorwürfe waren die Aufwiegelung der Belegschaft, ein Fehlen jeglicher Führungseignung, ein schwankender Charakter und, was das Verwerflichste war, sein Arbeitsethos bewege sich in rein gewerkschaftlichen Begriffen. Nicht nur einseitig, immer, auch in den ungerechtesten Angelegenheiten für die Gefolgschaft und immer gegen den Betrieb, sondern sogar noch innerhalb der Gefolgschaft für eine Gruppe derselben, nämlich der Croupiers.114 Hammer griff hier tief in die Ideologiekiste. Denn Sinn und Zweck der ganzen NS-Arbeitsbetriebsideologie bestand darin, eben keine gewerkschaftlichen Strukturen zuzulassen, denn diese standen für den verhassten Klassenkampf, den man schließlich überwinden wollte. Und dieses Überwinden bestand darin, dass die Belegschaft und die Betriebsführung gemeinsam als „Betriebsgemeinschaft“ gemeinschaftlich im Betrieb für Recht, Ordnung und Harmonie sorgen sollten. Damit stand das NS-Regime seinem Vorgängerregime in Österreich um nichts nach. Auch der Ständestaat hatte dieselben naiven „Klassenkampfverhinderungsstrategien“ parat, um die Interessensgegensätze zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufzuheben. Nur sorgten dort nicht die Betriebsgemeinschaften für gute Stimmung, sondern die Werksgemeinschaften. 111 112 113 114
Ebd. – Scheiner an Hammer (17.07.1940). Ebd. – Scheiner an Gauobmann Forst (17.07.1940). Ebd. – Aktenvermerk Gärdtner (27.07.1940). Ebd. – Hammer an Ziegler (23.07.1940).
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Um auf Hans Scheiner zurückzukommen, genau dieses ganze ideologische NS-Geschwafel von „Egal ob Arbeiter oder Direktor, wir alle sind der Betrieb“, soll er durch seinen Aktionismus hintertrieben haben und sich damit in den Bahnen eines gewerkschaftlichen Betriebsratsobmannes unseligen Angedenkens bewegt [haben].115 Vorwürfe, gewerkschaftlich unterwegs gewesen zu sein, musste sich auch Ernst Ziegler anhören. Dass er nur an die Casino-Belegschaft denke und nicht an den Betrieb als Ganzes, verneinte er entschieden und bekräftigte bei jedem Vergehen, egal von wem begangen, hart durchzugreifen. Als einmal das Ergebnis der Winterhilfswerk-Sammlung kläglich ausgefallen war, habe ich die soziale Einstellung der Gefolgschaftsmitglieder einer schonungslosen Kritik unterzogen. Und siehe da, beim nächsten Mal klingelte es bereits ordentlich in der Spendendose. Und noch etwas habe er sofort innerhalb der Belegschaft korrigiert. Ich sah mich überdies gezwungen, gegen die sensationslustigen Übertreibungen einiger Frauen der Gefolgschaftsmitglieder Stellung zu nehmen, welche Betriebsfremden gegenüber die Höhe der Gehälter mit einem doppelten und dreifachen Betrag angaben, um darauf entstehenden Unruhen in den anderen Betrieben zu verhindern.116 Gegen all die Anschuldigungen setzte sich auch Hans Scheiner energisch zur Wehr. Er vermutete ein abgekartetes Spiel, denn man wollte nicht nur ihn los werden, sondern sein gesamtes Kabinett.117 Und so wie sein Konterpart, so wusste auch er in der Ideologiekiste zu kramen, um sein Gegenüber anzupatzen. Hammers arisierte Villa, hieß es, sei nicht „arisierungskonform“ erworben worden. Seine Mutter hätte Kreisleiter Ponstingl und Landrat Wohlrab, die einmal persönlich vorbei gekommen waren, um eine Spende abzuholen, den Hitler-Gruß verwehrt, die Spende sei noch dazu sehr geringfügig ausgefallen, und so ganz nebenbei, der Casinopräsident sei schließlich auf der „Wochner-Liste“ der „Premiumkunden“ zu finden.118 In etwa zur gleichen Zeit im Sommer 1940 war das Casino ebenso Thema in einer nichtöffentlichen Gemeinderatsitzung. Es ging nicht um die turbulente „Causa Personalie“, aber dennoch um Unerfreuliches, nämlich um die magere Gewinnausschüttung. Die Ratsherren wollten in Erfahrung bringen, wie es mit der Vereinbarung zwischen Stadt und Gau bezüglich der 50 Prozent Reingewinn-Abschöpfung Richtung Gemeindekasse aussähe, die im Vorjahr mit ziemlich hoch – so die „Summenangabe“ im Protokoll – prognostiziert worden war. Bevor Schmid antwortete, merkte er vorsichtshalber an, dass die Antwort vertraulich zu behandeln sei – in einer nichtöffentlichen Gemeinderatssitzung! Schriftlich hätte er immer noch nichts, erklärte er, dafür schrumpften die 50 Prozent auf 35 Prozent. Schmid versprach bzw. bekräftigte sein Versprechen, die Angelegenheit nicht ruhen zu lassen, um gleich darauf festzustellen, er habe erst kürzlich eine Eingabe gemacht und ziffermäßig nachgewiesen, dass die Stadt Baden in der Systemzeit vom Casino mehr gehabt habe, als dies augen115 116 117 118
Ebd. – Hammer an Ziegler (23.07.1940). Ebd. – Ziegler an Gauhauptmann Sepp Mayer (28.06.1940). Ebd. – Feststellung Scheiner (06.08.1940). Ebd. – Aktenvermerk Gärdtner (27.07.1940).
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blicklich der Fall sei.119 Damit hatte Schmid dieses Jahr zum zweiten Mal zu verstehen gegeben, dass damals unter Kollmann und dem Ständestaat nicht alles so schlecht gewesen sei. Doch zurück zum Casino, wo nun auch Kreisleiter Gärdtner im Sommer 1940 der Kragen platzte. Im Wiener Büro herrscht eine typische Parasitenwirtschaft. Seit sechs Wochen interessierte sich bereits der Rechnungshof für die dortigen Machenschaften. Die reichten von riesigen Geldbeträgen, die nicht mehr auffindbar waren, bis hin zu einer nicht ganz plausiblen Dienstwagenbeschaffung durch den Casino-Direktor Robert Hammer. Um dem endlich Herr zu werden, plante Kreisleiter Gärdtner gemeinsam mit Gauhauptmann Sepp Mayer, das Wiener Büro nach Baden zu verlegen, die Betriebsführung auszuwechseln und zugleich das gesamte Personal einer strengen Prüfung zu unterziehen. Denn die gesamte Gefolgschaft sei so zerstritten, dass man nicht einmal einen aus den eigenen Reihen an die Spitze setzen könnte und deswegen jemand von außen engagiert werden müsste. Das ganze Unternehmen stand unter der Devise: Bereinigung des Kasinos von untragbaren Elementen.120 Wie reinigend man auch immer durch die eigenen Reihen gefahren war, einen Monat später strebte Dr. Haberl, Leiter der Fachabteilung „Banken und Versicherungen“ ein Parteiverfahren gegen Hans Scheiner an, weil jener ihn in seiner Ehre verletzt haben soll, während gleichzeitig die Kreisleitung ein Parteiverfahren gegen Haberl einforderte, weil jener bei seiner Beschwerde gegen Hans Scheiner nicht den korrekten Beschwerdeweg eingeschlagen hatte.121 Hans Scheiner tat, was er auch zuvor getan hatte, die Interessen der Belegschaft vertreten. Die Diensteinteilung wird durch den Stand der Eingerückten von Woche zu Woche schlechter und ist jetzt neuerlich durch das Abgehen von 7 Arbeitskameraden nach Warschau wesentlich schärfer geworden. Begreiflicherweise weist die Gefolgschaft darauf hin, dass uns der Betrieb in Warschau ja schließlich nichts angeht und der Dienst nur bei den wirklich arbeitenden Gefolgschaftsmitgliedern verschlechtert wird, nicht aber bei Inspektoren und Direktoren. Die Arbeitsüberlastung, verursacht durch das enorme Arbeitspensum, führte mittlerweile dazu, klagte Scheiner, dass die Gefolgschaft in dieser Zeit kaum essen kann und die meisten Kameraden an Magenerkrankungen leiden.122 Und wer glaubte, dass es nicht schlimmer kommen könnte, der irrte. Denn im Oktober 1940 musste Kreisleiter Gärdtner Aufklärungsarbeit leisten. Der Wehrbezirkskommandeur, Oberst Bednar, sagte mir, dass er das Kasino bislang für die überflüssige Einrichtung, das als A.G. nur dem Profit einzelner diene, gehalten habe und deshalb uk-Stellungsanträge von Gefolgschaftsmitgliedern nicht bewilligte. Gärdtner schaffte es zwar, den Wehrbezirkskommandanten gnädig zu stimmen, jener soll das Casino danach in einem anderem Licht gesehen und eingebrachte uk-Stellungsanträge nicht gleich vom Tisch gewischt haben, doch war die Spielbank als solches damit noch lange nicht aus der Affäre. Ausgerechnet der Kreisleiter ließ durchblicken, Sympathien für Wehrbezirkskommandeur Bednars Blickwinkel auf das 119 120 121 122
Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 266. StA B, GB 334/Casino I; Fasz. II; 1940 – Aktenvermerk Gärdtner (29.08.1940). Vgl. ebd. – Kreisleitung an Gaugericht (21.09.1940). Ebd. – Scheiner an Ziegler (14.10.1940).
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Casino zu hegen, weil ich selbst auch der Meinung bin, dass die Aufrechterhaltung des Spielbetriebes nicht zu den Lebensnotwendigkeiten zählt.123 Der Spielbetrieb war angezählt, aber noch nicht k.o. geschlagen – dazu später mehr. Aber Gott sei Dank durften der NS-Staat bzw. seine Provinzepigonen in Baden Betriebe nicht nur tadeln, sondern auch loben. Zahlreiche Volksgenossen verhielten sich schließlich vorbildlich, und wer sich besonders vorbildlich benahm, der war eine Meldung in der BZ wert. In fast jeder Ausgabe lesen wir über eine Ehrung oder Auszeichnung für einzelne Personen oder ganze Betriebe. Während im Casino Sodom und Gomorrha Einzug gehalten hatte und der Schriftverkehr darüber mit einem „Streng vertraulich“-Stempel versehen war, wurden die „Dr. A. Oetker-Werke“ in Baden mit dem „Gaudiplom für hervorragende Leistungen“ ausgezeichnet und prominent auf der Titelseite der BZ platziert: Festappell des Musterbetriebes Dr. A. Oetker in Baden. Das „Gaudiplom“ war beileibe keine inflationär verteilte Auszeichnung. Im gesamten Gau gab es 1940 nur sechs Betriebe, denen solch eine Ehre zuteilwurde. Betriebsführer Walter König fühlte sich überaus geehrt und schilderte, welche Steigerung der Betrieb nach dem Anschluss hingelegt hatte, welch sensationelle Zusammenarbeit zwischen Betriebsführung und Gefolgschaft bestehe, und lobte das sofortige und hilfsbereite Einspringen der weiblichen Gefolgschaftsmitglieder für die zum Wehrdienst eingerückten männlichen Arbeitskameraden. Danach ergriff DAF-Kreisobmann Ernst Ziegler das Wort und rühmte in seiner markanten und hinreißenden Art alle eingeführten Neuerungen, wie bezahlte Pausen, einen besseren Mutterschutz, höhere Kinderzulagen, Heiratshilfen, ein ausgeweitetes Betreuungsangebot und sonstige finanziellen Zuschüsse aller Art. Seine Ausführungen schloss er mit der Mahnung, immer nur an Deutschland und den Führer zu glauben, denn der Führer hat immer recht!124 So eine Auszeichnung sollte dazu motivieren, noch besser zu werden, und andere Betriebe anspornen bzw. unter Druck setzen, es den Oetker-Werken gleich zu tun. Angesprochen wurde damit die Weberei von Maximilian Tremer in der Dammgasse 26. Hier winkte kein Gaudiplom, sondern die Stilllegung des Betriebes. Als Inhaber und Betriebsführer wurde dem aus den Sudetengebieten stammenden Offizier und Weltkriegsteilnehmer zur Last gelegt, ein unsoziales Verhalten gegenüber der Gefolgschaft an den Tag gelegt zu haben. Noch dazu sollen die Arbeitsschutzbestimmungen nicht eingehalten worden sein, was das ständige Eingreifen der DAF verlangt. Und dann noch die Ungereimtheiten bezüglich seiner Parteimitgliedschaft. Je nach Angabe soll jene 1929, 1930 oder 1931 erfolgt sein und seit dem Anschluss weder durch ein Parteibuch – das laut seiner Aussage bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt worden sein soll – noch durch bezahlte Mitgliedsbeiträge eine Bestätigung gefunden haben. Der Ortsobmann der DAF Josef Hammerschmidt schlussfolgerte, die Schließung herbeisehnend: Die Gefolgschaftsmitglieder werden auf anderen Arbeitsplätzen eingesetzt, und für den Betriebsführer haben wir, aus geschilderten Gründen kein wie immer
123 Ebd. – Aktenvermerk Gärdtner (22.10.1940). 124 Vgl. BZ Nr. 44 v. 01.06.1940, S. 1.
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geartetes Interesse, uns zu erwärmen.125 Noch im selben Jahr wurde Maximilian Tremer eingezogen. Seinen Dienst versah er als Offizier zuerst in den Beneluxstaaten, danach an der Ostfront. Im November 1941 wandte sich seine Ehefrau an das Wehrbezirkskommando und erbat für ihren Mann einen Wirtschaftsurlaub. Sie selbst wäre alleine nicht mehr in der Lage, den Betrieb weiterzuführen. Außerdem sei ihr Mann an der Ruhr erkrankt und hüte nunmehr das Lazarettbett. Zwei Tage später erhielt sie Antwort. Da der Urlaub für das Ostheer noch gesperrt ist, kann Ihr Ansuchen vom 27.11.1941 derzeit nicht weitergeleitet werden.126 * Wie wir gesehen haben, ob nun bei Maximilian Tremer, an der Kreisbauernschaft oder der Spielbank, eine Parteimitgliedschaft bedeutete noch lange keine Narrenfreiheit. Es wurde von Zeit zu Zeit durchgegriffen, wobei natürlich manche Parteimitglieder „gleicher“ waren als andere. Das sorgte für Verbitterung. Von unzufriedenen und enttäuschten Parteigenossen haben wir immer wieder gelesen, davon wie deren Vorstellungen von einem Leben in Saus und Braus nach dem Anschluss nicht in Erfüllung gingen. Manche merkten das bereits im Anschlussjahr 1938 und wurden nicht müde, wortgewaltig, und das über Jahre, darauf aufmerksam zu machen. Ich glaube, dass das der Dank ist für die Verbotszeit, weil ich Tag für Tag, Nacht für Nacht im Dienst der Bewegung und für die Bewegung für die Partei und SA den Kampf aufgenommen habe, Hunger leiden, keine Arbeitslosenunterstützung, alles in das Torotheum tragen musste, das ist der Dank dafür, alle meine Sachen habe ich vom Torotheum nicht beheben können, weil ich von keiner Seite eine Hilfe bekommen habe und so nicht auslösen konnte, mussten alle meine Sachen verfallen und jetzt ist es das 2 Te mal so wie in der Verbotszeit, wo man hinkommt, findet man nur Schwarze oder von der ehem. Heimwehr und andere Strolche drinnen, nur nicht einen alten Kämpfer. […] Weiters bitte ich Sie, mir sofort in die Hand zu gehen zu wollen und zu helfen, ehe es zu spät ist, sonst mache ich mit meinem Leben Schluss und nehme meine Familie mit, damit sie nicht weiter Opfer werden anderer.127 So sah die Welt des Hilfsarbeiters und Alten Kämpfers Karl Czecselitsch zwei Jahre nach dem Anschluss aus. 1930 der Partei und SA beigetreten, genoss er den Ruf eines strammen NS-Anhängers und ordentlichen SA Mannes. Nach 1933 folgte die Illegalität, die er mit mehrmaligen Verhaftungen sühnte sowie der Deportation in das Anhaltelager Wöllersdorf, wo er in den Hungerstreik ging und danach aufgrund von Haftunfähigkeit entlassen werden musste. Karl Czecselitsch war ein opferbereiter Nationalsozialist wie aus dem Bilder125 StA B, GB 052/Personalakten: Tremer Maximilian (geb. 1894) – Hammerschmidt an das Gauwirtschaftsamt (15.02.1940). 126 Ebd. – Wehrbezirkskommando an Magdalena Tremer (29.11.1941). 127 StA B, GB 052/Personalakten: Czecselitsch Karl (1907–1963) – Zwei Briefe an Stadtrat Pfeifer (16.07.1940) und an die Betreuungsstelle der Gauleitung (18.07.1940).
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buch. Doch das Bild bekam Sprünge, besonders nach 1938. Er gehörte zu jenen Parteimitgliedern, die sich nach dem Anschluss übergangen fühlten. Nach dem Umbruch war CZ. der Überzeugung, dass er als alter Kämpfer einen entsprechenden Posten erhalten müsse, der ihn aller Lebenssorgen überheben würde. Da seine Hoffnungen nicht in Erfüllung gingen, wuchs in ihm eine Art verstockten Trotz auf, der sich in zahlreichen Eingaben und Briefen an die verschiedenen Parteidienststellen, unter anderen auch an den Gauleiter Bürckel, Luft machte.128 Penibel zählte er dem „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ seine Verdienste im Dienste der NS-Bewegung auf: Entbehrung, Verfolgung, Einkerkerung, Gewalt seitens der Exekutive inklusive bleibender Schäden. Nach dem Anschluss verlangte er bloß das, was ihm zustünde, doch [im Wortlaut] auf meine diesbezuegliche Vorsprache erklaerte mir der Badener Ortsgruppenleiter Pg. Max Rotthaler, dem ich meine Wuensche und Beschwerden vorbrachte, in cynischer Weise, wobei er sich auf die Schreibtischplatte setzte,: „Wegen Dir mueszten wir alle Schwarzen und die anderen abbauen, damit fuer den Herrn Czecselitsch ein Platz frei wird!“ In diesem Ton soll es munter weitergegangen sein. Wohin auch immer ich mich in der Folgezeit wandte, ob Ortsgruppen- oder Kreisparteileitung, ueberall wurde ich ironisch mit Spott und Hohn abgefertigt und abgewiesen, an welchem Benehmen der vorgesetzten Stellen ein alter illegaler Kaempfer, der stets ohne Furcht fuer die Verwiklichung der Parteiideale selbst unter Einsatz seiner Gesundheit und seines Lebens gekaempft hat, in seiner Ueberzeugung bestimmt wankend und irre gemacht werden kann.129 In seinen schriftlichen Eingaben bezichtigte er all seine alten Weggefährten der Undankbarkeit und warf ihnen allesamt Verrat vor. Denn während er in einer feuchten Kellerwohnung hausen musste, würden andere mit weit weniger dargebrachten Opfern in geräumigen Judenvillen residieren. Eines durfte der NSDAP nicht abgesprochen werden, sie bemühte sich wahrlich um ihren etwas aus der Spur geratenen Kameraden. Zuerst unterstützte man seinen Wiedergutmachungsantrag. Doch entsprach die Entschädigungssumme nicht den Vorstellungen des Karl Czecselitsch, der bereits da eine persönliche Vendetta witterte. Seine ihm danach zugeschanzte Anstellung bei der Post, inklusive finanzieller Sonderzuschüsse, beendete er nach einigen Monaten von selbst. Grund war der aus seiner Sicht gezahlte Hungerlohn und ein Konflikt mit seinem Vorgesetzten, dem Ortsgruppenleiter und zukünftigen Kreisleiter Hans Hermann. Einen vorgeschlagenen Posten bei der städtischen Kurverwaltung oder als Wachmann nahm er erst gar nicht an, und seine Karriere als Billeteur im Beethovenkino war ebenfalls nur von kurzer Dauer. Die Kreisleitung lud ihn sogar zu einer Aussprache ein, die er jedoch prompt zurückwies und lapidar mitteilte, von der Kreisleitung nichts mehr zu erwarten, und seine Angelegenheit befinde sich nunmehr in Berlin, wo er als alter Parteigenosse und Kämpfer sein Recht erhalten werde.130 Mit Parteigenossen wie ihm hatte die NSDAP ihre liebe Not. Für Kreisgeschäftsführer Mikulovsky war die Sache klar: Der Fall Czecselitsch scheint sich zu einer jener unleidlichen 128 Ebd. – Aktenauszug (16.10.1940). 129 Ebd. – Czecselitsch Karl an Bürckel (17.08.1938). 130 Ebd. – Aktenauszug (16.10.1940).
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Angelegenheiten zu entwickeln, die Eigenmächtigkeiten und fortwährende Unzufriedenheit einst wohl verdienter Pgn. zur Grundlage haben.131 Genauso sah es Hans Hermann, er kenne Cze. schon lange und hielt ihn für einen gutmütigen und anständigen Mensch, der jedoch an Verfolgungswahn leidet, sich überall bedroht und verfolgt fühlt und außerdem ein gewisses innerliches Obstruktionsgefühl mit sich trägt. Dessen Auflehnen gegen jede geordnete Staatsgewalt hat ihn in der Kampfzeit zum aktiven Kämpfer gemacht, scheint ihm aber jetzt den Weg von der Illegalität zur Legalität schwer finden zu lassen.132 Selbst der um Ausgleich bemühte Bürgermeister Schmid war langsam, aber doch mit seinem Latein am Ende. Wenn mir die Parteigenossen Badens mit ihren persönlichen Wünschen 7–8 Seiten lange Briefe zumitteln würden, käme ich kaum zu den mir laut der Deutschen Gemeindeordnung aufgetragenen Arbeiten.133 Schmid legte zu diesem Zeitpunkt noch Zweckoptimismus an den Tag – vielleicht könnte man den alten Kämpfer zurück auf Linie bringen. Dem sollte nicht so sein. Ende des Jahres 1940 riss der NSDAP endgültig der Geduldsfaden. Karl Czecselitsch wurde als verlogen, disziplinlos und untragbar bezeichnet, als zutiefst undankbar, da er all die ihm zugewiesenen Arbeiten mehr schlecht als recht ausführte. Einzige Konstante wäre sein durchgehend parteischädigendes Verhalten. Noch dazu war er mit den Mitgliedsbeiträgen ein Jahr im Rückstand. Darauf angesprochen und gemahnt, soll er Ortsgruppenleiter Hans Hermann ins Gesicht entgegnet haben: Wenn es nur auf das Zahlen ankommt, pfeife ich auf die Partei.134 Dezember 1940 wurde er aus der NSADP ausgeschlossen. Die Revolution bekam wieder einmal Appetit und fraß ihre ungezogenen Kinder. Danach verschwindet Czecselitsch aus den Quellen, taucht nach 1945 erst wieder auf, um dann etwas zu tun, was Leute seines Schlages in ganz seltenen Fällen taten – ein wenig Einsicht zeigen. Anfänglich hatte er sich wie manch anderer Nationalsozialisten nicht registrieren lassen, schließlich war er seit 1940 kein Parteimitglied mehr. Als man ihm auf die Schliche kam, reagierte er dann aber mit einer Offenheit wie kaum ein anderer. Ich habe mich deshalb nicht registrieren lassen, weil ich hoffte, dass keinerlei Unterlagen von der NSDAP und SA über meine Zugehörigkeit zu denselben vorhanden sind und mir daher niemand beweisen würde können, dass ich Mitglied der NSDAP und SA war. Auf Vorhalt dieses vorgefundenen Aktenmaterials der NSDAP und SA anerkenne ich meine große Unterlassungssünde und bin daher bereit, meine Konsequenzen zu ziehen und nichts zu verheimlichen.135 Karl Czecselitsch war bei weitem nicht der Einzige, der nach dem Anschluss aufgrund seiner NS-Vita ein sorgenloses Leben unter der braunen Sonne des großdeutschen Imperiums für sich reklamierte. Nachdem sich in letzter Zeit die Fälle häufen, dass gegen verdiente Pg. von irgendwelchen Seiten ganz unbegründete Klagen und Anwürfe erhoben werden, beantrage ich, dass alle jene, die unbegründet und unstichhaltig solche Anwürfe erheben unnach131 132 133 134 135
Ebd. – Mikulovsky an die Gaustabsleitung (05.08.1940). Ebd. – Notiz Hans Hermann (01.10.1940). Ebd. – Schmid an Czecselitsch (05.08.1940). Ebd. – Parteiausschluss (03.12.1940). Ebd. – Aussage bei der BH-Baden (11.04.1946).
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sichtlich dafür zur Verantwortung gezogen werden. In diesem Falle ist dies der Pg. Pallecek, der schon einige Male die Partei durch derartiges von ihrer eigentlichen Tätigkeit abgehalten und gezwungen hat, seinen unbegründeten Anschuldigungen nachzugehen. […] Zu seiner Entlastung möchte ich anführen, dass Paleczek mit Recht nicht ernst genommen werden kann, da er als, nur gelinde ausgedrückt, Mensch mit Wahnvorstellungen gilt. Andererseits muss endlich damit aufgeräumt werden, dass derartige Menschen, welche ja auch einmal Verdienste um die Partei erworben haben, ihre ganze Daseinsberechtigung heute darin erblicken, zwischen Ansuchen um Wiedergutmachung, besseren Lebensstellungen, Krediten und Anschuldigungen gegen alle möglichen Pg. sowie Eingaben bei allen Dienststellen von der Ortsgruppe bis zur Reichskanzlei hin und her pendeln. Sie verursachen damit unnötige Arbeit, kränken verdiente Parteigenossen und schaden somit unserer Bewegung.136 All das hätte eins zu eins auf Karl Czecselitsch umgemünzt werden können, doch ging es hierbei um Alexander Paleczek – dessen Name ebenso wie der des Karl Czecselitsch in den verschiedensten Varianten vorliegt. Was Hans Hermann hier im August 1940 von sich gab, war nur die Spitze des Eisbergs, denn Alexander Paleczek wusste schon ab 1938 sämtliche Parteidienststellen auf Trab zu halten. Bereits in den 20er Jahren hatte sich der Mann aktiv für die NSDAP engagiert. Als Müllmeister, Techniker und Großkaufmann stellte er Geld, Betrieb und seinen Fuhrpark in den Dienst der NS-Bewegung. Sein politisches Engagement kam den Kriegsinvaliden teuer zu stehen. Seine Auftragsbücher leerten sich, die schwarze Stadtführung begann, was Gemeindeaufträge anbelangte, einen großen Bogen um ihn zu machen – er selbst schrieb von Boykott. Er verlor sein Lagerhaus und zwei Geschäfte, was 1929 zu seinem finanziellen Ruin führte. Statt die NS-Bewegung weiterhin zu sponsern, war er seit 1931 nicht mehr in der Lage, den Mitgliedsbeitrag zu entrichten, und wurde selbst Empfänger von sozialkaritativen Unterstützungsmaßnahmen – sei es durch die NSDAP oder staatliche Stellen. Aber selbst dann wankte er nicht, sondern begann die feindlichen Wehrverbände zu infiltrieren. Nach dem Anschluss sollte es um keinen Deut besser werden. Die Partei gestand ihm durchaus zu, dass er ein verdienter Parteigenosse war und dass sein Einsatz für die NS-Bewegung schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für ihn mit sich gebracht hatte. Aber das alles gehörte der (seiner) guten alten Zeit an. Heute würde er nur mehr durch sein Querulantentum und seine Vielschreiberei auffallen und dadurch selbst viel Schreibarbeit verursachen. Besonders umfangreich fiel sein Brief an das Oberste Parteigericht in München aus, wo er auf 12 A4-Seiten, teils voller Wut und Hass, teils mit viel Wortwitz, sich seinen Frust von der Seele schrieb. Undank war der Dank: Der Mohr hat seinen Dienst getan, er kann gehen. Die Zitrone ist ausgepresst, man wirft sie einfach weg. Er schilderte wiederholt die erlittenen Schikanen durch die berühmte „Kollmannpolizei“, die beste Polizei der „Welt“, der christlichsozialen Welt, konnte endlich ihre Daseinsberechtigung nachweisen, indem sie ihm das Leben zur Hölle machte. Eine besondere Gemeinheit wiederfuhr ihm kurz vor dem Anschluss, als er ein drei Meter hohes, beleuchtetes Hakenkreuz aufstellen ließ, um gegen 136 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Schwertführer Karl (1899–1941) – Streitfall: PaleczekSchwertführer, Aussage Hans Hermann (02.07.1940).
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die Schuschnigg-Abstimmung zu demonstrieren, da wurde mir von dem Bürgermeister der allerchristlichsten Stadt Österreichs (Baden) der elektrische Strom ausgestellt.137 Seinen Zorn und seine Enttäuschung bekamen alle ab, quer durch die Bank. Von Juden, Schwarzen, Roten und den Dunkelroten, die Göring- und Hitlerbilder als Toilettenpapier verwendeten und dennoch Karriere bei der SA machten. Aber am meisten hatte er es auf die eigenen Reihen abgesehen. Dort wimmelte es nur so von Konjunkturrittern, von Chamäleons, Schwindlern, von verkappten Schuschniggkreaturen, Republikanern und Schulz-Anhängern, unfähigen Ortsgruppenleitern, Hinterlandsdrückebergern, Kommunistenfreunden. Laut ihm ein regelrechtes Sammelsurium an kläglichen Figuren. Selbst Bürgermeister Schmid kam nicht gut weg. Selbstverständlich und zu seiner Ehre sei gesagt, Franz Schmid blieb auch dann noch kameradschaftlich, wenn auch etwas reserviert, es war ja auch die Zeit, wo er sich ein Personenauto anschaffen konnte, denn seine Einnahmen, Postdirektorgehalt plus Landtagsabgeordnetendiäten, ergaben eine runde über 12 oder 1300 betragende Summe, nebst einer Reihe dem Volksvertreter zustehender Begünstigungen und schließlich und endlich, wozu ist man denn Respektsperson?138 Der so in den Himmel gelobte Anschluss hätte laut ihm in Baden nichts geändert. Es folgten die altbekannten Bausteine – diejenigen, die die langen Jahre nur gegen die NSDAP gehetzt, losgedroschen, intrigiert, verhaftet und eingesperrt hatten, sitzen heute schön warm an öffentlichen Stellen […]. Die alten Nationalsozialisten hingegen, wie er einer war, können betteln gehen, oder sie können, wenn sie noch können, Kohleschaufeln oder Erdarbeiten oder irgendwo beim Straßenbau um 48–57 Reichspfenning schuften, während sich die Cevauer, christliche und rote Protektionskinder auf ihren so sauer erworbenen Bonzenstellen zigarettenrauchend räkeln.139 Doch offiziell gäbe es in Baden ausschließlich alte Kämpfer, schrieb er spöttisch, und demnächst wird eine Statistik der Nachwelt verkünden, dass sämtliche Badener, inklusive Kommunisten sowie Sozialdemokraten und selbstverständlich alle öffentlichen Ämter und Behörden, schon zu Dollfusszeiten zu 150 % nationalsozialistisch eingestellt und alle von diesen und ihren Machthabern erfolgten Hausdurchsuchungen, Verhöre, Durchprügelungen, Einkerkerungen nur zum bloßen Schein durchgeführt worden sind! In Wirklichkeit waren sie samt den Kollmann und Juden Nazifreunde!140 Er behauptete sogar, dass nach dem Anschluss kein einziger von den Systemleuten hätte büßen müssen. Stattdessen konnten alle auf das Pardon Schmids rechnen, der gesagt haben soll: „die Arreste sind nicht dazu da, dass sie angefüllt werden, wir kennen keine Rache“!!! Dies war dann der Generalpardon für die gesamte Untermenschen Liga, die wir hier hatten und die jetzt erst recht sahen, dass ihr ganzes, jahrelanges Verbrechen ungesühnt sein wird.141 Dass dem 137 StA B, Personalakten: Paleczek Alexander – Schreiben an das Oberste Parteigericht in München (04.10.1938), S. 2. 138 Ebd. S. 5. 139 Ebd. S. 2. 140 Ebd. S. 7. 141 Ebd. S. 3.
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nicht so war, beweisen die Inhaftierungen und Folterungen im Badener Rathaus und in all den anderen provisorischen Folterkellern. Dieses Leid scheint an ihm vorbeigegangen zu sein. Stattdessen trumpfte er mit einer recht gewagten Theorie auf, denn er sei das erste Opfer überhaupt des Nationalsozialismus hier in Baden. Seine Behauptung hatte etwas Zweideutiges, denn es ging ihm einerseits um die erlittene Verfolgung durch die Behörden und anderseits um den schmählichen Verrat und Undank seiner Kampfgefährten. Wer würde denn glauben, dass dieser alte Nazi, der schon vor 12 Jahren der erste Sturmführer der NSDAPHitlerbewegung war, ohne jede Parteiunterstützung mitsamt seinen zahlreichen Kindern hungern und betteln muss, damit seine Kinder nicht in dieser Stadt verrecken […], der seinen Namen, sein Vermögen, seine Ehre und Leben einsetzte, wo die heutigen nationalsozialistischen Herren dieser Stadt sich hinter den Schreibtischen verkrochen haben, denen meine Wahlpropaganda im Jahre 1924 für die NSDAP auf die Nerven ging, der 1929, 1930, wo noch kein Nazi eingesperrt, schon als erstes Opfer aller österreichischen Nationalsozialisten eingekerkert war unter einem Vorwand, und sein Vermögen durch Judenaktionen enteignet, seine Familie infolge dieser Intrigen auseinanderfiel, auseinanderfallen musste, denn welche Frau bleibt denn bei einem Mann, der von seinen eigenen Freunden verlassen, verkauft und verraten ist und dessen Geschäft durch politische Aktionen zu Grunde geht, zu Grunde gehen musste.142 Ein dermaßen verkannter und gedemütigter Charakter sah nur einen Ausweg: Denn mir graust es schon vor solchen Zuständen, und ich habe mir vorgenommen, aus dieser Stadt, sobald ich nur anderswo eine Existenz finde, auszuwandern, denn hier bin ich nur in jeder Weise verleumdet und ausgenützt worden, während meine gehässigen Gegner auf guten Stellen sitzen, und nachdem ich in jeder Weise ausgeplündert bin, noch mit Verrat und Gemeinheiten umgeben.143 Paleczek beackerte nicht nur „die da oben“. Kreisleiter Ponstingl musste sich ebenso seine Suaden anhören, und als jener sich weigerte, ihn persönlich zu empfangen, ließ Paleczek ihn ungeniert wissen: Ich konstatiere, dass der Herr Gauleiter Jury für mich Zeit hatte, Sie aber nicht einmal eine Minute, obwohl ich einer der ältesten Pg. und Sturmführer bin, aus der Zeit, wo Sie noch nicht an die NSDAP gedacht haben.144 Das Oberste Parteigericht in München reagierte übrigens und fragte in Baden nach, was da los sei in der Kurstadt rund um den verdienten Parteigenossen Paleczek. In Baden begannen die Parteistellen seine Anschuldigungen und Behauptungen nun Schritt für Schritt zu entkräften. Der Wert seiner viel zitierten Spionagetätigkeit bei der Heimwehr, bog der Gerichtsbeamte Hans Gotz zurecht, sie soll angeblich gleich Null gewesen sein, weil er sogleich als Spitzel erkannt wurde. Hans Gotz war der Überzeugung, dass Parteigenosse Paleczek weitaus mehr erreichen hätte können, er hat nur einen Fehler, und das ist sein überaus vieles, oft vollkommen wertloses Reden.145 Und das mit seinem finanziellen Ruin 1929 wurde von Ortgruppenleiter Fritz von Reinöhl nicht minder differenziert gesehen. Sein Geschäft ging 142 143 144 145
Ebd. S. 7. Ebd. S. 12. StA B, GB 052/Personalakten: Paleczek Alexander – Paleczek an Ponstingl (26.10.1938). Ebd. – Bericht Hans Gotz (27.10.1938).
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dann zugrunde, wobei zum Teil seine persönliche Wirtschaftsführung, zum Teil auch sein öffentliches politisches Auftreten schuld sein mag. Reinöhl rief ferner in Erinnerung, dass Paleczek auch ein Erfinder gewesen sein soll, dessen Erfindungsgeist recht skurrile Züge angenommen habe. In den letzten Jahren scheint sich aber seine Verschrobenheit so geändert zu haben, dass man ihn ruhig als harmlosen Narren erklären könnte. Er zehrte von den Wahnideen seiner Erfindung, ist auch als Querulant und Stänkerer verrufen. Mir selbst z.B. hat er in den Jahren des Abessinienkonfliktes einen mächtigen Briefumschlag voller Skizzen und Entwürfe gezeigt, der an den damaligen Negus [Kaiser von Äthiopien] nach Adis Abeba gerichtet war und diesen bei Annahme seiner Erfindungen zum unfehlbaren Sieger über Italien gemacht hätte. Dies nur zur näheren Illustration.146 Zwei Jahre lang schien man ihn irgendwie bei Laune gehalten zu haben, doch dann explodierte er wieder. Auslöser war eine unberechtigte Zuerkennung des goldenen Ehrenzeichens an einen Parteigenossen. Der nunmehrige Adressat seiner Brandschrift hieß Rudolf Hess, der Angeklagte Karl Schwertführer.147 Es kam zum Duell der Giganten, denn Paleczek war 1923 der Partei beigetreten, Schwertführer 1924 – die Nummer 52.308 gegen Nummer 53.447. Um von vornherein festzuhalten, dass Karl Schwertführer nicht würdig des goldenen Parteiabzeichens wäre, setzte Paleczek bei ihm Parteigenosse oder Pg. durchgehend unter Anführungszeichen. Für ihn war Schwertführer als ehemaliges Mitglied der Vaterländischen Front nichts anderes als ein Günstling der hiesigen Systembonzen, der, tätig für das Mutterschutzwerk und verantwortlich für die Unterstützung kinderreicher Familien, überaus gehässig gegenüber Nationalsozialsten vorgegangen wäre. Unterstützung hätten nur jene erhalten, die ihm zu Gesicht gestanden wären, und er (Paleczek) habe offenbar nicht dazugehört. Dabei war er, der um seine Existenz gebracht worden sei, auf die Unterstützung durch das Mutterschutzwerk, als Vater von elf Kindern, dringend angewiesen gewesen. Dass so jemand wie Schwertführer das Goldene Parteiabzeichen bekäme, konnte Paleczek nicht hinnehmen. Aber die erste Schmach erfolgte gleich nach dem Anschluss. Schwertführer hätte ein feines Judengeschäft zur „Arisierung“ bekommen, damit er, der „Kinderreiche“, mit nur einem Kind, nicht zu Grunde geht.148 Derweil hatte Alexander Paleczek dem Führer und dem Deutschen Reich eine ganze Fußballmannschaft an Kindern gezeugt bzw. war für diese Zahl zuständig. Ein Umstand, den auch Rosa Wedorn zu spüren bekam. Sie wurde durch Paleczek und dessen zweite Gattin Anna Paleczek mit drei bis vier Anzeigen im Monat überhäuft.149 Der Grund ihrer Anzeigen war meist darauf zurückzuführen, dass ich ihr nicht die entsprechende Achtung als Mutterkreuzträgerin entgegenbrachte.150 Dabei war Rosa Wedorn selbst Parteimitglied. 146 Ebd. – Ortsgruppenleitung an Kreisleitung (18.08.1938). 147 Karl Schwertführer (1899–1941). 148 StA B, GB 052/Personalakten: Paleczek Alexander – Brief an Hess (25.03.1940). 149 Anna Paleczek (geb. 1902). 150 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Paleczek Alexander – Rosa Wedorn (geb. 1895) Niederschrift (14.04.1947).
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Auch diesmal reagierte München, wollte wissen, was da wieder los sei, und wieder musste die Kreisleitung korrigierend gegensteuern. Zuerst einmal wurde Karl Schwertführer in Schutz genommen. Er hat sich während der Vorverbotszeit wie auch in der Verbotszeit in jeder Weise als Nationalsozialist gezeigt und bei allen nur möglichen Aktionen seinen Mann gestellt. Die Mitgliedsbeiträge übertrafen bei ihm trotz Notlage ein Vielfaches der Pflichtbeiträge. Mit anderen Worten, er ist berechtigter Träger des Goldenen Parteiabzeichens, und es ist gegen diesen Mann absolut und in keiner Weise etwas einzuwenden. Bei Paleczek wiederholte man hingegen Altbekanntes, stellte seine Verdienste nicht in Abrede, gab aber mit auf den Weg, seine Äußerungen und vielen Beschwerden, die von der Ortsgruppe bis an die Reichskanzlei des Führers aufliegen, sind absolut nicht berechtigt. […] Er wird von hier aus als Querulant und Stänkerer geschildert, und es wäre nur zu wünschen, wenn solche Leute, die anscheinend nichts Anderes zu tun haben, als alte verdiente Kämpfer zu beleidigen und kränken, zur Verantwortung gezogen würden.151 Letztendlich fiel das Urteil im Falle Paleczek gegen Schwertführer recht salomonisch aus bzw. für Paleczek durchaus entgegenkommend. Dass ihn Karl Schwertführer bei der Verteilung von Lebensmitteln geschnitten hatte, konnte durch Zeugen bestätigt werden. Das war wahrscheinlich auf die ständige Warenschuld des Paleczek bei Schwertführer zurückzuführen. Und was Paleczeks Beschwerde anbelangte, so hätte er über den aktiven Einsatz für die Bewegung des Pg. Schwertführers keine Kenntnis gehabt, sondern in diesem einen guten „Vaterländer“ gesehen haben. Aus diesem Grunde nimmt das Kreisgericht an, dass der Antragsteller in gutem Glauben über Pg. Schwertführer Beschwerde führte.152 Der Konflikt der beiden alten Parteigenossen umschrieb das Parteikreisgericht als von persönlicher Natur. Obwohl Paleczek zahlreichen Parteistellen vielfache Arbeit verursachte, blieb die NSDAP ihm gegenüber gnädig. Anders als bei Karl Czecselitsch, der aus der Partei ausgeschlossen wurde, wurde Paleczek, nachdem er seit 1931 aufgrund seiner finanziellen Lage keine Parteibeiträge mehr bezahlt hatte und damit eigentlich kein Parteigenosse mehr war, wieder offiziell in die Partei aufgenommen. Sein Kontrahent, Karl Schwertführer, konnte sich hingegen seines überaus verdienten Goldenen Parteiabzeichens nicht mehr lange erfreuen. Er erlag mit 43 Jahren als Unteroffizier und Teilnehmer des Feldzuges gegen Polen und Frankreich am 12. Februar 1941 in einem Kriegslazarett seinen Verletzungen.153 *
151 StA B, GB 052/Personalakten: Paleczek Alexander – Kreispersonalamt an Gauleitung (04.07.1940). 152 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Paleczek Alexander – Kreisgericht der NSDAP (30.08.1941). 153 Vgl. BZ Nr. 18 v. 01.03.1941, S. 7 und BZ Nr. 19 v. 05.03.1941, S. 2.
Kapitel 19 Vom ersten zum zweiten Kriegswinter
Die Mär von den geschlossenen und disziplinierten Reihen der NSDAP – von der „Volksgemeinschaft“ gar nicht zu reden –, lässt sich an zahlreichen Beispielen widerlegen. Neben Exzentrikern wie Karl Czecselitsch oder Alexander Paleczek und all der Arbeit, die jene verursachten, gab es genug „normale“ Konflikte, die sich teilweise um belanglose Details drehten, die Jahre zurücklagen, dennoch hervorgekramt wurden, die ebenso die reinsten Zeitfresser waren, weil sie vor Parteigerichten landeten, von diesen bearbeitet werden mussten, und das alles bei schwindenden Personalreserven. Das Jahr 1940 möchte ich noch nicht abschließen. Es fehlen noch einige Aspekte, die im nächsten Kapitel zur Sprache kommen. Doch wenn wir eine kurze Bilanz ziehen, so war die Situation bereits stellen- und zeitweise sehr angespannt. Der Krieg dauerte erst ein paar Monate, und es herrschte bereits ein spürbarer Mangel, der Gürtel musste enger geschnallt werden und das NS-Regime zog gleichzeitig die Zügel fester an. Enttäuschung machte sich breit und machte selbst vor alten und verdienten Parteigenossen nicht halt. Aber es gab auch die Zufriedenen. Man musste nur eine andere Perspektive einnehmen, vielleicht die einer Elfjährigen, jene von Gertrud Maurer. Sie war so glücklich, wie nur ein Kind glücklich sein kann. Ihr Alltagsleben war so einfach und unkompliziert, so voll Freude und Lust.154
154 MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 81.
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Kapitel 20 Von Fremden, Frauen, Front und der Ferne Oder: Von Fremden, die Mitgefühl erfuhren, störten oder als Schädlinge angesehen wurden. Von Frauen in alten und neuen Rollen. Von der Front, die fern, nahe, tödlich und heroisch war sowie sich verdoppelte. Und von der Ferne, dem Exil, das in Baden liegen konnte oder am anderen Ende der Welt.
Das Fremde war dem Großdeutschen Reich gar nicht so fremd, und das Großdeutsche Reich war nicht so durch und durch deutsch, wie es gerne gewesen wäre. Die Präsenz von Minderheiten und Ausländern war gang und gäbe. Was für das Großdeutsche Reich Geltung besaß, galt auch für Baden. In der Kurstadt tummelten sich Fremde aus den unterschiedlichsten Ländern. Uns begegnen 1940 Menschen aus den damals verbündeten und neutralen Ländern, aus den Satelliten- und Klientelstaaten und den vollkommen annektierten und damit von der Landkarte verschwundenen Gebieten. Hierbei geht es nicht um die Fremd- und Zwangsarbeiter, die in Massen nach Großdeutschland verschleppt und verfrachtet wurden und bald ein Zehntel der Bevölkerung ausmachten – auf jene Menschen werde ich gesondert eingehen. In diesem Kapitel geht es um Fremde und Ausländer, wie den bulgarischen Gemüsebaueren Ivan Dimitroff aus dem vorherigen Kapitel oder den stadtbekannten italienischen Schuhhändler Augustino Cangemi aus Kalabrien, der sich in der Kurstadt niedergelassen hatte. Als der Mann erfuhr, dass Italien dem Krieg auf Seiten Hitlers beigetreten war, schlüpfte er in seine schwarze Faschisten-Uniform und führte, Mussolinis Gehabe imitierend, einen rasch organisierten Triumphzug durch die Kurstadt Richtung Kurpark an.1 Ein weiterer NS-Anhänger in Baden mit germanisch/romanischem Hintergrund war Dr. Heinrich Josef Pirro Sarabia, dessen Wesen eine Internationalität und politische Uneindeutigkeit anhaftete. Sohn eines Spaniers und einer Wienerin, kam er 1886 in Liverpool zu Welt. Bis 1906 war er spanischer, von 1906 bis 1919 ungarischer und danach österreichischer Staatsbürger – manchem Denunzianten der 30er Jahre galt er als Grieche. 1903 kam er nach Baden, maturierte 1906 und trat im selben Jahr der Großdeutschen Volkspar1
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 40 – Meldezettel Archiv Augustino Cangemi (geb. 1903).
Kapitel 20 Von Fremden, Frauen, Front und der Ferne
tei (GDVP) bei, und der deutschnationalen Studentenverbindung „Herulia“. Den Ersten Weltkrieg verbrachte er als ungarischer Offizier im Justizdienst in Budapest. 1919 rüstete er ab und verblieb die nächsten beiden Jahre in Spanien bei seinem Vater. Zurück in Österreich wurde er Bankbeamter, reaktivierte seine völkischen Kontakte, liebäugelte immer mehr mit der NS-Bewegung und geriet dadurch in Konflikt mit Bürgermeister Kollmann. 1933 wechselte er dann endgültig von den Großdeutschen zu den Nationalsozialisten, nicht ohne vorher Rücksprache zu halten, ob denn seine spanische Abstammung ein Problem darstellen würde. Sie tat es nicht, einem Beitritt schien nichts mehr im Wege zu stehen. Doch dann entschlossen sich seine neuen Parteigenossen, mit Handgranaten auf Menschen zu werfen. Die NSDAP wurde verboten und sein Anmeldeformular verschwand in den Wirren der Verbotszeit. Wenn wir nun den Quellen folgen, scheint es fast, dass wir es von nun an mit zwei Personen zu tun hätten. Die eine Person trat als Rechtsbeistand für 22 angeklagte Nationalsozialisten auf, hielt völkische, antisemitische und nationalsozialistische Vorträge, wetterte gegen die republikanische Regierung Spaniens, war Angriffen und Schikanen Kollmanns ausgesetzt und galt einem Teil der Badener als einer der Haupthetzer der NSDAP in Baden.2 Die andere Person war eifriger Anhänger der Systemregierung, freiwilliges Mitglied der Vaterländischen Front in Funktion eines Rechtsberaters, die eine enge Freundschaft mit dem VF-Bezirksleiter Rudolf Woisetschläger pflegte, sich dessen Gunst erfreute und wenn sie Nationalsozialisten vor Gericht vertrat, das wurde nicht geleugnet, so ließ sie sich nicht nur von der Partei, sondern zusätzlich von den jeweiligen Klienten extra bezahlen. Den Versuch, die beiden Naturen zusammenzuführen, unternahm Ortsgruppenleiter Hermann. Durch seine nationalsoz. Gesinnung hat er [Heinrich Josef Pirro Sarabia] keine Nachteile erlitten, eher durch seinen Gesinnungswechsel, da ihm weder die einen noch die anderen mehr trauten.3 Sein neuerlicher Versuch, der NSDAP beizutreten, wurde deswegen von der Ortsgruppe und der Kreisleitung nicht befürwortet – vom Kreisgericht der NSDAP aber schon. Für sie konnte Heinrich Josef Pirro Sarabia alles plausibel erklären. Trotzdem blieb der in Großbritannien geborene, sich als spanisch stämmig bezeichnende, fallweise als Grieche gesehene, auf ungarischer Seite kämpfende, reichsdeutsche Staatsbürger und Nationalsozialist Heinrich Josef Pirro Sarabia der NSDAP nie ganz geheuer. Als er im Januar 1943 verstarb, war seinem Nachruf nirgendwo das Kürzel Pg. zu entnehmen. Dafür lesen wir, dass er in Baden seine zweite Heimat gefunden hatte und er war hier wegen seiner Frohnatur und seines stets liebenswürdigen Wesens sehr bekannt und beliebt.4 Nicht von hier war auch die 1861 geborenen Schauspielerin Stefanie Heilbronn. Als Stefanie Dlugolecki in Bielitz-Biala (Schlesien) zur Welt gekommen, verheiratete Körvenau und unter dem Künstlernamen Heilbronn lebend, hatte sie als Theaterschauspielerin die 2 3 4
Vgl. ZGIERSKI Kruckenkreuz, S. 75. StA B, GB 052/Personalakten: Sarabia Josef Pirro (1886–1943) – Ortsgruppe an Kreisleitung (29.09.1938). BZ Nr. 6 v. 23.01.1943, S. 3.
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Bühnen von Paris, Budapest und Wien bespielt. Als ihr Stern langsam zu sinken begann, sich die Theaterauftritte von den Metropolen in die Provinzen verlagerten, zog sie 1893 nach Baden und gab Französischunterricht, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nach dem Anschluss bezog sie eine Rente von 46 RM. Wenig überraschend ging von der Pensionistin keine Gefahr aus. Allerdings sprach nichts dagegen, sie dennoch einer Beurteilung zu unterziehen, um sicherzugehen, dass sie harmlos war, und festzustellen, dass sie einen starken polnischen Akzent aufwies und in der Systemzeit sogar mit der NS-Bewegung sympathisiert hatte. Aber: Von politischer Zuverlässigkeit kann bei der 80-jährigen Polin nicht ernstlich die Rede sein. Sie lobt aber die Nationalsozialisten, weil sie ihre Fürsorgerente erhöht haben, und bekennt sich als dankbar.5 Ausländer und Fremde waren an sich nicht das Problem, vor allem in einer Kurstadt wie Baden. Gehen wir nur ein paar Jahre zurück, so fanden sich hier alles ein – von „Zigeuner“, welche regelmäßig das Handwerk des Scherenschleifers anboten, bis hin zu Monarchen fremder und teils exotischer Länder, die hier der Politik und der Kur nachgingen. Man könnte seitenlang über allerlei Prominenz und dergleichen schreiben, von inländischer und ausländischer Schickeria und allem, was dazu gehörte. Nach dem Anschluss blieb es weiterhin international. Gastauftritte von Künstlern wie dem Schauspieler und Theaterintendanten Raoul Aslan waren keine Seltenheit. Geboren in Thessaloniki, mit armenischen, osmanischen und österreichischen Wurzeln, dazu homosexuell, streng katholisch und Wiederzufindender auf der „Gottbegnadeten-Liste“ (eine Anhäufung von Künstlern, die den Nationalsozialisten als wichtig erschienen), beglückte er die Gaubühne in Baden, und das nicht nur einmal.6 Des Weiteren war die Kurstadt Austragungsort internationaler Kongresse, Tagungen und sonstiger Veranstaltungen. Das Weltgewandte verschwand mit dem Anschluss nicht einfach so aus dem kurörtlichen Alltag. Allerdings wurde beim „Internationalen“ mit der Zeit das „Inter“ weniger und das „Nationale“ mehr. Deutlich mehr Gäste und Besucher kamen jetzt aus dem Altreich. Wenn wir uns der NS-Rasselehre bedienen, so wurde es rassisch homogener. Entscheidend war, dass die Fremden 1940 anders fremd und fremder wurden, weil sie unter einer anderen Prämisse und in einem anderen Kontext die Kurstadt aufsuchten bzw. aufsuchen mussten. Zum einen waren da die Einquartierungen fremder Soldaten und die stets wachsende Zahl der Ausgebombten aus dem Altreich. Da der Nordwesten des Deutschen Reiches am stärksten und als erstes von britischen Bombern heimgesucht wurde, treffen wir in Baden auf Kinder aus Nordrhein-Westfalen, insbesondere aus dem Ruhrgebiet. In diesem Fall konnte sich die örtliche NS-Führung von ihrer sozialsten Seite präsentieren und die Badener Zeitung sich in den schwülstigsten Phrasen suhlen. Ende Juli 1940 trafen 70 Kinder aus dem Ruhrgebiet in Baden zur Erholung ein. Mit offenen Herzen von den Badenern empfangen, erwartete sie obendrein eine liebvolle Obsorge durch Pflegeeltern. NS-Volkswohlfahrt (NSV) und die NS-Frauenschaft (NSF) liefen zur Höchstform auf – Letztere 5 6
StA B, GB 052/Personalakten: Heilbronn Stefanie (geb. 1861). Vgl. BZ Nr. 21 v. 17.03.1943, S. 3 und Wikipedia Artikel zu Raoul Aslan (23.01.2021).
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war das größte Sozialwerk aller Zeiten, das der Führer geschaffen hatte. Ein paar Wochen später trafen weitere 270 Kinder aus dem Ruhrgebiet ein. Wieder war die NS-Frauenschaft gefordert, wieder fanden sich Vertreter von Kreis und Stadt ein, die Musikkapelle spielte auf, Jausen wurden an die kleinen Gäste verteilt, welche anschließend auf Pflegeeltern aufgedröselt wurden.7 Ebenso weitgehend in Frauenhand – Bürgermeister, Kreisleiter oder Landrat waren eher darauf spezialisiert, die Ankommenden auf den Bahnhöfen mit Reden willkommen zu heißen – lag die Versorgung und Betreuung der sogenannten Rückwanderer aus Bessarabien, die im Zuge der „Heim ins Reich“-Aktionen ins Deutsche Heimatreich übersiedeln mussten. Im Oktober 1940 kamen 520 Angehörige der deutschen Minderheit aus Bessarabien nach Baden und wurden von der NSV, der NSF und dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) in Empfang genommen. Die Badener Zeitung berichtete von glücklichen Gesichtern, die endlich wieder mit ihren deutschen Brüdern und Schwestern vereint waren. Die bei weitem nicht so freiwilligen Rückwanderer wurden im Landkreis Baden aufgeteilt: Mayerling, Ebreichsdorf, Fahrafeld, Unterwaltersdorf und Baden – hier einquartiert im Schloss Leesdorf. Wenn man bedenkt, dass diese Menschen aus ihrer angestammten Heimat herausgerissen wurden, dort ihre eigene Kultur und Sitten gepflegt und über teilweise große Ländereien verfügt hatten, so hielt sich die Freude über die Vereinigung mit den ihnen vollkommen fremden deutschen Brüdern und Schwestern in Baden wohl in sehr engen Grenzen. Zynisch war dahingehend die Berichterstattung der BZ. Dem Lokalblatt war bewusst, dass Bauern ihrer Scholle, ihrem Grund und Boden sehr verbunden sind, aber letztendlich attestierte man jenen Menschen eine viel größere, eine wahrhaftige Liebe zum Führer. Auf den Ruf des Führers jedoch haben sie ihre mit Liebe und Fleiß gepflegte Scholle verlassen und sind heimgekehrt in ihr Vaterland, das ihre Vorfahren vor mehr als einem Jahrhundert verlassen hatten. […] Diese Treue zum Deutschtum war größer als die zähe Anhänglichkeit zur Scholle. Es wäre eine Win-win-Situation für alle gewesen, denn die Rückkehrer kamen ja nicht mit leeren Händen zurück, sondern mit dem großen deutschen Volkssegen, dem Kinderreichtum. Das ist die schönste Gabe, die sie dem deutschen Volke mitbringen konnten.8 Dass der Kinderreichtum keine hohle Phrase war, beweisen die Aufzeichnungen von 20 rumänischen Rücksiedlern im Schloss Leesdorf. Zumeist waren es junge Ehepaare, Jahrgänge 1910 bis 1922. Im Schnitt hatten sie zwischen vier bis sechs Geschwister, der Rekord lag bei 18.9 Sollten diesen Ehepaare genauso produktiv sein wie ihre Elterngeneration, war eine baldige kleine Bevölkerungseruption zu erwarten. Ob die Badener tatsächlich so entzückt über die vielen Fremden und ihren mitgebrachten volkssegnenden Kinderreichtum waren, lässt sich eher bezweifeln. Erstens brauchten alle diese Menschen ein Dach über dem Kopf – mitten in einer Zeit des akuten Wohnraummangels. Durch ihre Unterbringung im Schloss Leesdorf mussten 7 8 9
BZ Nr. 61 v. 31.07.1940, S. 1 und BZ Nr. 64 v. 10.08.1940, S. 2. Vgl. BZ Nr. 83 v. 16.10.1940, S. 1. Vgl. GB 052/Allgemein II; Fasz. II; Rumänische Aussiedler.
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einige Badener, die durch ein im selben Jahr hervorgetretenes Hochwasser ihre Bleiben verloren hatten und zwischenzeitlich im Schloss einquartiert waren, jenes wieder räumen.10 So etwas förderte nicht unbedingt ein harmonisches Zusammenleben und löste stattdessen Angst, Zorn und Rechtsstreitigkeiten aus, wie im Falle Katharina Weilands. Sie hatte im April 1941 ihre Badener Wohnung in der Sackgasse 5 für drei Monate der Gemeinde überlassen, um dort Flüchtlinge unterzubringen. Die ausgemachten drei Monate verstrichen, Katharina Weiland und ihr Ehemann beabsichtigten daraufhin nach Baden umzuziehen, da sie aufgrund ihres Alters die Funktion als Hausbesorger in Wien nicht mehr ausüben konnten, doch siehe da, die Gemeinde wollte die Wohnung nicht mehr rausrücken. Die einquartierten Rückwanderer, Michael und Marie Slawik sowie ihre vier Kinder, würden nun einmal „mehr wert“ sein als zwei pensionierte Hausbesorger aus Wien, begründete das Wohnungsamt. Katharina Weiland ließ jedoch nicht locker und beschwerte sich im Oktober bei Landrat Wohlrab, nicht ohne anzufügen, dass ihre Angelegenheit sowohl dem Wiener Gauleiter Baldur von Schirach als auch dem Gauleiter von Niederdonau Hugo Jury bekannt sei.11 Zweitens, in Zeiten des Mangels waren es hunderte Menschen zusätzlich, die Nahrungsmittel, Kleidung und sonstige Güter benötigten, die ohnehin zuvor durch die NSV und die NSF zusammengetragen worden waren. Salopp formuliert bzw. der damaligen Realität und dem Denken entsprechend, waren das alles weitere Mäuler, die in Zeiten von Nahrungsmittelengpässen gestopft werden mussten. Die Freude der Badener war auch hier enden wollend. Drittens, es waren zwar „Germanen“, aber doch anders sozialisiert, mit anderem kulturellen Hintergrund und zugleich mit zahlreichen Kindern – eine Mischung, die bis in die Gegenwart für Unmut sorgt. Die soziokulturellen Unterschiede konnten nicht ignoriert werden, auch wenn die Rückwanderer aus Bessarabien genauso wie ansässige Volksgenossen einer Prüfung unterzogen wurden. Hermann und Ruth Kobbe, Deutschstämmige aus Rumänien, er ein Major aus dem Buchenland, der bis 1940 in der rumänischen Armee gediente hatte und dann in die Wehrmacht übernommen worden war, kamen in der Andreas Hofer-Zeile unter. Ihr Verhalten zu Partei und Staat ist mustergültig, ihr soziales Verhalten beispielgebend. Beide sind von geradem, aufrechtem Charakter.12 Mustergültig war auch die Gesinnung eines Vater und Sohn Gespannes, angestellt in der Fassbinderei von Josef Wolkerstorfer. Johann Kranl als Arbeitskollege erinnerte sich: Sie waren Rückkehrer und dementsprechend vom Nationalsozialismus begeistert. Der Jüngere befasste sich mit Erfindungen, er wollte für Führer und Endsieg unbedingt einen Panzer mit Propeller entwickeln.13 Sie waren das Paradebeispiel, um erneut in die Gegenwart zu springen, einer gelungenen Integration. 10 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 20. 11 Vgl. NÖLA, BH Baden, X–XIII (1941), II–XIII (1942); XIII 195–208, 1941 und StA B, Meldezettelarchiv: Michael Slavik (geb. 1912), Maria Slavik (geb. 1914). 12 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Kobbe und Ruth Hermann. 13 WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 40.
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Doch traf das nicht auf alle Deutschstämmigen aus dem Balkan zu. Vorwürfe mangelhafter Integration waren genauso zu hören. So hätten Umsiedler 1941 nach einer Überschwemmung in Ebreichsdorf im Gegensatz zu den hiesigen Volksgenossen an den Aufräumarbeiten nicht teilgenommen, sondern laut Landrat Wohlrab zum Fenster heraus gesehen und auf die Aufforderung mitzuarbeiten, dass Sonntag wäre [geantwortet]. (Von der Kirche gepredigter Standpunkt). Andere Länder andere Sitten, so dachte offenbar Kreisleiter Gärdtner. Dennoch bat er den zuständigen Ortsgruppenleiter, zu den Umsiedlern zu sprechen und diesen den Begriff Volksgemeinschaft klar zu machen und sie dann zu erinnern, dass sie hier Gastrecht genießen und dass man als Gast auch gewisse kameradschaftliche Pflichten zu erfüllen hat.14 Plötzlich waren das keine deutschen Brüder und Schwestern mehr, sondern nur noch Gäste. Weniger taktvoll ging es im Lager Schloss Vöslau zu. Beschwerden der Umsiedler über ungerechte Fleischzuteilung wurden von der Köchin mit einem „Sie mögen wieder hingehen, woher sie gekommen seien, wenn ihnen etwas nicht recht sei“ quittiert.15 Das waren zugegebenermaßen Kleinigkeiten, kleine zwischenmenschliche Zwistigkeiten – aber Kleinvieh macht auch Mist und das summierte sich. Und viertens, durch die Fremden aus Bessarabien und anderen Teilen des Balkans wurden die Badener Behörden auch mit den Anliegen dieser Personen konfrontiert. Viele dieser Menschen sahen ihren Aufenthalt in der Kurstadt als zeitlich befristet an. Der Wunsch, wieder zurück in die Heimat zu kehren war da. Die Sorge um den zurückgelassenen Besitz war ebenfalls groß. Josef Pazdersky, Rückwanderer aus Jugoslawien, kam 1940 ins Reich und beschäftigte ab da die Behörden mit seinem Ansuchen, seine beschlagnahmten Ländereien in Jugoslawien wiederzuerlangen. Die Kreisleitung sah sich außerstande, ihm weiterzuhelfen, verwies ihn an die Gauleitung, die ihn wiederum an die Militärverwaltung „Südost“ und an die Deutsche Gesandtschaft in Agram.16 In Anbetracht der nicht vorhandenen Kompetenzen örtlicher NS-Stellen und der fehlenden personellen Kapazitäten waren solche Bitten sinnlose Unterfangen und zum Scheitern verurteilt. In Falle von Josef Pazdersky wären umfangreiche Recherchearbeiten von Nöten gewesen. Bei ihm handelte es sich um Waldbesitz, der 1924 durch die jugoslawische Regierung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Königreiche) beschlagnahmt, jedoch 1936 durch den König wieder freigegeben worden war. Wenn wir überhaupt davon ausgehen, dass die Absicht bestand, sein Ansuchen ernsthaft anzugehen, so war jegliche Theorie schon längst durch die äußeren Umstände überrollt worden, vor allem je länger der Krieg andauerte. 1940 gab es kein SHS-Königreich mehr und das 1929 herbeigeputschte Königreich Jugoslawien sollte ein Jahr später durch den Einmarsch der Achsenmächte untergehen. Unter dem Deckel des Zweiten Weltkrieges tobten danach in Südosteuropa unübersichtliche und mörderische separate Kriege, Bürgerkriege und ethnische Säuberungen. Die kroatisch-faschistischen Us14 StA B, GB 052/Kreisleitung Baden; Fasz. I; Umsiedler im Kreis Baden. 15 StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. IV NSF/DFW Ortsgruppen; Bad Vöslau. 16 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Pazdersky Josef (geb. 1886).
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tascha-Einheiten, die Wehrmacht, serbische Tschetniks, Bosniaken in Wehrmachts- und SS-Uniformen, Titos Partisanen und sonstige Freiheitskämpfer/Widerstandskämpfer/Terroristen jeglicher Couleur weckten nicht unbedingt Lust, sich für die Belange der hier gestrandeten heimgekehrten Brüder und Schwestern einzusetzen. Manche Menschen, die das Etikett „Rückwanderer“ umgehängt bekamen, gingen wieder, manche blieben. An sie und ihre Geschichte erinnern unter anderem ein Denkmal am Badener Stadtpfarrfriedhof oder vereinzelte Grabinschriften: Hier ruht Herr Eduard Rösner, Landwirt u. Mühlenbesitzer. geb. 2.II.1890 gest. 4.IX.1942. Deutscher Dobrutscha Rückwanderer. Was Gott tut, das ist wohlgetan. Wenn wir das alles zusammenfassen, wurden die Fremden in Baden anfänglich durchaus wohlwollend aufgenommen. Es folgte eine klassische Entwicklung, solange es wenige waren und genug Ressourcen zu Verfügung standen, gab es „keine“ Probleme. Doch mit der Zeit, dem Krieg und dem Mangel wurden sie immer mehr zum Ballast – die anfängliche Willkommenskultur ging alsbald den Bach runter. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Sudetendeutschen in Baden. Über sie und ihre Lobby wurde in den lokalen Medien unabhängig von der Parteifarbe regelmäßig berichtet. Eine Zweigstelle des Sudentendeutschen Heimatbundes in Baden wurde 1920 ins Leben gerufen, von Hans Axmann 1923 als Obmann übernommen und seither geführt. Von Anfang an kam es zu etlichen Zusammenkünften, Vorträge wurden abgehalten und Sammlungen initiiert.17 Nach dem Anschluss waren die Sudentendeutschen ein wunderbares Instrument für die NS-Propaganda. Sie wurden zu Flüchtlingen, Opfer eines Tschechen-Terrors. Über die trennende Grenze flüchten in unaufhaltsamen Strom gequälte deutsche Brüder und Schwestern zu uns ins Reich. Von der Arbeit weg müssen die Männer sich retten; notdürftig gekleidet irren deutsche Frauen, Mütter und Kinder durch die Wälder und suchen das sichere Reich. Alles, Haus, Hab und Gut, die Heimat und die Lieben, müssen sie im Stich lassen – nur weil sie Deutsche sind. Ihnen gilt unsere Hilfe. Wir reichen ihnen unsere Hände und öffnen ihnen unser Herz.18 Selbstverständlich gewährte ihnen die Stadt Baden Geld- und Sachspenden sowie Asyl. Als am 25. September 1938 Vertriebene aus dem Sudetenland per Bahn nach Baden kamen, standen bereits Tausende geduldig und warteten, um „unsere“ Flüchtlinge zu begrüßen, ernst und würdig, ohne Ruf, ohne Reden, mit dem schlichten deutschen Gruß, mit einer verhaltenen Herzlichkeit, die unserem Volke eignet.19 900 Menschen entstiegen den Waggons. Begrüßt wurden sie offenbar wortlos von Landrat Wohlrab, wenn wir der Badener Zeitung Glauben schenken wollen, wonach keine Reden zum Besten gegeben wurden. Die Badener waren damals so hilfsbereit, dass jeder Einzelne von ihnen den Neuankömmlingen unbedingt den Koffer tragen wollte. Am 4. Dezember 1938 wurde für die rassisch-blutsverwandten 17 Vgl. BZ Nr. 43 v. 28.05.1938, S. 2. 18 StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Korrespondenz – Aufruf Ponstingl (23.09.1938). 19 BZ Nr. 78 v. 28.09.1938, S. 2.
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Neubürger, die in den nun „heimgekehrten Gebieten“ vor 1910 das Licht der Welt erblickt hatten, eine Pseudoergänzungswahl zum Großdeutschen Reichstag aufgeführt. An dem plebiszitär scheindemokratischen Spiel durften im Landkreis Baden 1.226 Personen mitwirken. 1.177 gaben ihre Stimme ab. Davon waren 1.170 gültige Ja-Stimmen, drei Nein-Stimmen und vier ungültige. Die mit Abstand meisten Sudetendeutschen befanden sich in der Stadt Baden (468 Stimmberechtigte), gefolgt von Traiskirchen (95 Stimmberechtigte).20 In Friedenszeiten wurden die Sudetendeutschen mit Solidarität überschüttet. Erst nach Kriegsbeginn und mit der sich verschlechternden Versorgungslage änderte sich das Stimmungsbild. Was keiner Veränderung unterzogen wurde, war, dass die Betreuung und Versorgung dieser Menschen durchgehend fest in weiblichen Händen lag. * Die Arbeit mit und rund um die „Heim ins Reich-Gekehrten“ war von großer Bedeutung. Sie wies zivilisatorische und kolonialistische Komponenten auf, die für die Zukunft des deutschen Imperiums von entscheidender Bedeutung waren. Unsere erzieherische Mitarbeit ist dort dringend notwendig, da ja die Lagerinsassen in Kürze angesiedelt und deshalb vorher mit der Art des Lebens im Dritten Reich vertraut werden sollen; sind sie doch wieder dazu ausersehen, Hort und Bollwerk des Deutschtums im Osten zu werden.21 Im November 1941 befanden sich auf dem Kreisgebiet 16 sogenannte Rückwandererlager. Die Leitung und Betreuung lag seit 1938 in der Verantwortung der Kreisabteilungsleiterin „Grenze/Ausland“ Elfriede Hess, Ehefrau des Kreisärzteführers Edmund Hess.22 Betrachten wir ansonsten den Tätigkeitsbereich der NS-Frauenschaft, finden wir dieselben Betätigungsfelder wie zuvor. Personell kam es zu Wechseln auf Orts- und Kreisebene. Die bisherige Ortsfrauenschaftsleiterin Baden I, Gusti Reichert, gab krankheitsbedingt ihren Posten an Alice Zimmermann weiter, die bis dahin Organisationsleiterin gewesen war.23 Und der aufgrund ihrer Vergangenheit gestolperten Cäcilie (Lilli) Eichholzer (siehe Kapitel 13) folgte als Kreisfrauenschaftsleiterin Marie Hendrich nach, die gleich gelobte, die Frauenschaft des Kreises mit ganzem Herzen, mit ganzer Kraft, mit ganzem Mute, aber auch mir aller Strenge zu leiten.24 Eine Erweiterung bzw. Intensivierung ihres Aufgabenbereiches erfuhren Frauen durch ihren verstärkten Einsatz in den Fabriken im Landkreis Baden. Immer wieder dankten Betriebsführer oder DAF-Leiter einzelnen Frauen oder der NS-Frauenschaft als Ganzes, weil sie für ihre Männer eingesprungen waren, hervorragende Arbeit an den Werkbänken 20 Vgl. NÖLA, BH Baden, II, V/48, 1938; Sudetendeutsche Ergänzungswahlen. 21 StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. IV NSF/DFW Ortsgruppen; Ebreichsdorf. 22 Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. II NSF/DFW Korrespondenz; Nov. 1941 und NSDAP Karteikarten groß: Elfriede Hess (geb. 1897). 23 Vgl. BZ Nr. 2 v. 06.01.1940, S. 2. 24 Vgl. BZ Nr. 26 v. 30.03.1940, S. 2, Maria Hendrich (geb. 1881).
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leisteten und bereits ein Drittel der Beschäftigten ausmachten. Zugleich betonte man den Frauen-Arbeitsschutz und sprach die Doppelbelastung an – in ziemlich holprigem Ausdruck, der den Inhalt nicht besser machte. Besondere Beachtung verdient die Frau deshalb, weil sie durch das ihr eigene mit ihrer naturgegebenen Konstitution und ihren häuslichen wie mütterlichen Pflichten beschränkt einsatzfähig ist. Aus diesem Grunde müssen oft genug auch die Betriebsverhältnisse ihr angepasst werden, soll ihre beste Leistung erreicht, ihre Arbeitsfreude und Gesundheit nicht beeinträchtigt werden.25 Besser ausformuliert wurde die Problematik durch Kreisfrauenschaftsleiterin Hendrich. Zuerst zeigte sie sich noch ganz männlichmartialisch: Trotz Sorge um Haus und Familie, trotz mancher anderer Mehrarbeit, die ihnen erwächst, stehen sie auf ihren Posten und verlassen ihn nicht, wenn es ihnen auch manchmal schwer fallen mag. Wissen sie doch, dass sie Soldaten unseres Führers sind, Soldaten an der Heimatfront und dass ihnen große Aufgaben gestellt sind […]. Aber: Haben sie diesen Urlaub von der Fabrik erhalten, dann müssen sie die zu ihrer Erholung bestimmte Zeit dazu verwenden, erst in ihrem Haushalt und in ihrer Familie nach dem Rechten zu sehen; erst jetzt kommen sie dazu, manches in ihrem Haushalt zu ordnen, wozu ihnen während der Zeit ihres Fabrikseinsatzes die Zeit fehlte. Haben sie nun alles in Ordnung gebracht, dann ist auch meist ihr Urlaub zu Ende und an eine Erholung nicht mehr zu denken.26 Die Lösung bestand in einer dritten Urlaubswoche, ermöglicht durch einen „Fabriksehrendienst“. Was nichts Anderes bedeutete, als dass für die dritte Urlaubswoche eine andere Frau einspringen musste. Im Endeffekt, die Leistung, wer auch immer sie erbrachte, musste geliefert werden. In der Theorie blieb man hierbei noch zurückhaltend. Als es im März 1941 hieß, dass demnächst im Kreis eine große Zahl an weiblichen Arbeitskräften gebraucht werden würde, war strengstens darauf zu achten, dass keinerlei Zwang oder Druck in irgendeiner Form ausgeübt wird, sondern dass die Frauen zum freiwilligen Einsatz bewogen werden.27 Um etwas nachzuhelfen, sollte richtig kräftig in die Propagandatrommel geschlagen werden. Vorträge, Kinoveranstaltungen und direktes Ansprechen waren die Mittel der Wahl. Hinzu kamen Aufforderungen, in sich zu gehen und Gewissenserforschung in Sachen Ehrendienst zu betreiben. Die passenden Fragen und Denkanstöße wurden sicherheitshalber mitgeliefert. Was ist notwendig? Mithelfen oder Kaffeehaus, schöne Kleider, Spazierengehen! Oder Felder bestellen – Fabrik?28 Dass manchmal mahnende und erbauende Worte nicht ausreichten, um Frauen auf den rechten Weg zu geleiten, bewiesen Vorkommnisse im Frauenlager der Luftwaffe in Kottingbrunn im September 1939, die der Bürgermeister als anstandswidrig bezeichnete und mit einer Anzeige bedachte. Die DAF wurde alarmiert, und Landrat Wohlrab in Kenntnis gesetzt. Was war passiert? Das Lager für weibliche Arbeitskräfte befand sich aufgeteilt auf mehrere Baracken ursprünglich am dortigen Flugfeld. Aber: Durch die Gefahr, die die 25 Vgl. BZ Nr. 81 v. 09.10.1940, S. 1. 26 StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. IV NSF/DFW Ortsgruppen: Erbreichsdorf. 27 StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. II NSF/DFW Korrespondenz; März 1941 – Einsatzaktion „Deutsche Frauen helfen siegen!“ (21.03.1941). 28 Ebd.
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Nähe der Männer bedeutete, wurden die Frauen in das Schloss Kottingbrunn übersiedelt. Hier musste leider festgestellt werden, dass die Frauen versuchten, Männer einzuladen. Diese liederlichen Versuchungen mussten sogleich im Keim erstickt werden. Der Landrat organisierte eine Wache, postierte sie vor dem Schloss und versicherte dem auf Zucht und Ordnung pochenden Bürgermeister, dass von jetzt an keine Missstände in der Lebensführung dieser Frauen eintreten.29 Neben dem Einsatz in den Fabrikshallen haben wir weiterhin die unterschiedlichsten Betreuungsaufgaben. Neben den Menschen aus Bessarabien oder Kindern aus dem Ruhrgebiet kümmerte sich die NS-Frauenschaft um Soldaten in den Lazaretten und Kurheimen. Durch die sogenannten Frauenschaftsbesuche, wie zum Beispiel im Oktober 1940 im Peterhof und im Sanatorium Gutenbrunn, sollte den Kriegsversehrten mittels leichter Unterhaltung der Alltag ein wenig versüßt werden. Aufgewärmt wurde zu Anfang mit dem Lied „Grüaß di God“, gefolgt von lustigen Kurzgeschichten, bis hin zu mit der Zieharmonika begleiteten Heurigenliedern. Als abschließende Krönung gab es 20 Guglhupfe, 60 Lebkuchen, zwei Strudeln, vier Flaschen Likör, 71 Liter Wein und was wahrscheinlich am meisten freute, waren die 5980 Zigaretten.30 Damit Guglhupf, Kuchen und Strudel auch gelängen, gab es für junge Frauen von 17 bis 21 vom NS-Werk „Glaube und Schönheit“ themenspezifische Vorträge in der Frauengasse. Es werden Fragen der Kleidung, der Mode, Wohnungseinrichtung und aller Dinge, die das Heim behaglich werden lassen, besprochen. Kochen und Nähen, Weben, Sticken bereitet große Freude, und die Mädel sind stolz, wenn die Zubereitung schmackhafter Speisen gut gelingt.31 Solch ein Frauenbild wurde nicht nur durch die NS-Propaganda am Leben gehalten, sondern genauso durch die profane Werbung. Eine vielsagende Überschrift über der Reklame eines neuartigen Haushalts-Waschapparates in der Badener Zeitung lautete: „Die Automatische Waschfrau“32 Mit Heim und Herd hatten Frauen ferner die Macht über die Ernährung in der Familie. Der Volkskörper musste gesund bleiben. Der Fleischverzicht wurde weiterhin propagiert, genauso das Vollkornbrot. Hierbei treffen wir wieder auf eine propagandistische Aufladung von angeblichen Tatsachen. Die Volksgesundheit hätte nämlich durch das Weißbrot verderbliche Formen angenommen. Gebissverfall, Stoffwechselerkrankungen, Magen-, Darmund Krebserkrankungen sowie Herzleiden – die deutsche Rasse schien dem Untergang geweiht, zumindest wurde sie weich, weich wie das Weißbrot. Die Lösung hieß: körniges deutsches Vollkornbrot, damit die deutsche Rasse wieder hart wird, hart wie das Vollkornbrot. Der Gau startete die Propagandamaschinerie, hunderte Bäckermeister wurden in Niederdonau bereits in der Vollkornbrotherstellung geschult, um einzig und allein den
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Vgl. NÖLA, BH Baden, II – IV 1939, GR. II-5 1939; A 892. Vgl. BZ Nr. 84 v. 19.10.1940, S. 2. BZ Nr. 13 v. 14.02.1940, S. 2. BZ Nr. 38/49 v. 11.05.1940, S. 8.
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Zweck, durch das Vollkornbrot der Gesundheit des deutschen Volkes zu dienen.33 Weniger absurd waren die Antiraucherkampagnen. Man unterstrich die Gefahren von Tabakkonsum während der Schwangerschaft oder Stillzeit und wie das Rauchen die Leibesfrucht schädigt.34 Die berechtigte Sorge um die schädliche Wirkung von Nikotin wurde jedoch von der NS-Ideologie einverleibt. Körper und Geist gehörten nicht mehr einem alleine. Man besaß nicht die Verfügungsgewalt, sondern der Führer, das Volk und das Vaterland. Körper und Geist mussten heil bleiben, denn das NS-Regime hatte noch viel damit vor. Das zu beherzigen, bedurfte einer Indoktrinierung von klein auf. Die Aufnahme mit zehn Jahren in das Deutsche Jungvolk DJ (Buben) und den Jungmädelbund JM bedeutete für die Kinder: Der Inhalt ihres Lebens darf nicht mehr Spiel sein, sondern jetzt ruft sie die Pflicht, für Führer und Volk zu leben.35 Die Kinder und Jugendlichen mussten sich beweisen und als würdig erweisen. In der Trinkhalle, bei einem Treffen der Badener Jugend, verlangte Gauamtsleiter Bründl: Jugend sei würdig der Opfer, die um dich gebracht werden.36 Das Erziehungssystem im Nationalsozialismus verlangte insgeheim, dass Kinder dem Elternhaus entzogen werden. Genauso wie dem etablierten Schulsystem misstraute das NS-Regime auch den meisten Eltern, dass sie ihren Nachwuchs nach dem Ebenbild des Nationalsozialismus formen würden. Da die Kindererziehung hauptsächlich in Frauenhänden lag, misstraute man damit den meisten Müttern. Im selben Atemzug wurde die Frau in ihrem Muttersein überhöht. Sie hatte die Rolle der Gebärerin und im Idealfall der Soldatenmutter. * Im Jahre 1940 tobten die Kampfhandlungen in sehr weiter Ferne von der biedermeierlichen Kurstadt. Hauptsächlich kannte man den Krieg aus der Theorie, durch die Berichterstattung der Medien oder durch Erzählungen der zahlreichen Soldaten und Flüchtlinge. Fühlbar war der Krieg für jene, die Familienangehörige an der Front verloren hatten und die dann „tröstende“ Worte der Badener Zeitung entnehmen konnten. Ihr heldisches Sterben hat ihr Leben geadelt, hat sie in die große Kette eingefügt, die die dreieinhalb Millionen deutschen Soldaten des Weltkrieges zusammenschweißte, die vor Deutschlands Grenzen bis zum Tage des Erwachsens mahnende Wächter waren.37 Die Badener Zeitung war voll davon, voll von diesem Heldenpathos, der sich genauso auf die Formel „Jetzt erst recht“ herunterbrechen ließ. Abermals hat sich in unserem SS-Sturme das Gemeinschaftsgefühl unter Beweis gestellt und ist ein Zeichen dafür, dass sich dieses nach dem Sieg in diesem uns aufgezwungenen
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BZ Nr. 43 v. 29.05.1940, S. 2. Vgl. BZ Nr. 19 v. 06.03.1940, S. 3. BZ Nr. 33 v. 24.04.1940, S. 1. BZ Nr. 31 v. 17.04.1940, S. 1. BZ Nr. 72 v. 07.09.1940, S. 2.
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Kampfe um das Lebensrecht jedes einzelnen deutschen Menschen umso mehr vertiefen wird.38 Das starke Gemeinschaftsgefühl stand im Fokus, nicht der Tod, der ohnehin mystisch überhöht wurde. Neben der Auszeichnung für das heldische Sterben dominierten anfänglich noch die Auszeichnungen für das heldische Kämpfen. Anfang 1940 waren 50 Soldaten aus dem Landkreis Baden mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden.39 Betrachten wir die Gefallenenzahlen, fielen im ersten Kriegsjahr 14 Soldaten aus Baden/Pfaffstätten, 1940 waren es schon 31.40 Aber alles in allem, der Krieg und die Front blieben weiterhin fern. Anfang 1940 hatten die Kampfhandlungen sowieso einmal „Pause“. Gertrud Maurer war im Bilde. Die Polen waren besiegt, die Franzosen saßen hinter dem Grenzwall und die Engländer hinter dem Ärmelkanal. Eigentlich sollte nichts passieren. Erleichtert war sie auch, als ihr Onkel an die ungarische Grenze zum Grenzschutz abkommandiert wurde. Da man mit den Ungarn nicht im Krieg war, musste sie sich zumindest um ihn keine Sorgen machen.41 Besonders froh stimmte sie, dass der Vater wieder zurück war, selbst wenn er sich verändert hatte. Während seines Erholungsurlaubs in Kärnten schickte er nur eine einzige Postkarte. Und zu Hause musste er behandelt werden wie ein rohes Ei. Jedes Wort musste man auf die Goldwaage legen, um keinen Wutanfall oder – noch ärger – einen Weinkrampf zu provozieren.42 Die Waffen im Westen sollten nicht auf ewig schweigen. Im Mai wurden die Kämpfe wiederaufgenommen. Denn, so schrieb die Badener Zeitung: Belgien und Holland brechen die Neutralität – Deutschland stellt diese mit allen Machtmitteln sicher – Luxemburg in die Sicherung einbezogen.43 Der anschließende Feldzug gegen Frankreich gestaltete sich als militärischer Triumphzug. Da brauchte die NS-Presse gar nicht so zu übertreiben. Alois Brusatti und seine Kameraden, alles angehende Offiziere, glaubten schon zu spät zu kommen. Auch wir wollten uns beweisen. Eine Massenbegeisterung hatte uns ergriffen – wir schienen unschlagbar zu sein – die Erfolge und die Propaganda erzeugten einen Rausch.44 Ansonsten finden wir wieder die gleiche Art der Berichterstattung und Nicht-Berichterstattung: Hitler hatte diesen Krieg nie gewollt! Er wurde ihm aufgezwungen! Plutokratisch-jüdische Verschwörungen und Hetze im Hintergrund! Hitler als Befreier Europas und die Wehrmacht als die großartigste Armee der Welt! Den militärischen Leistungen zollten selbst Kritiker und NS-Gegner Respekt. Hans Meissner fasste die Stimmung in seinem Umfeld wie folgt zusammen: Hitler beherrschte Kontinentaleuropa. Das Reich Karls des Großen, was braucht er noch mehr? Die Historiker und Journalisten, aber auch private Gesprächspartner überschlugen sich in regierungsfreundlichen
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StA B, GB 052/Personalakten: Cociancig Rudolf (geb. 1893) – Zisser an Cociancig (10.12.1940). Vgl. BZ Nr. 11 v. 07.02.1940, S. 2. Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; Liste der Kriegssterbefälle. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 61–63. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 63. BZ Nr. 38/39 v. 11.05.1940, S. 1. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 22.
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Aussagen, die ausnahmsweise nichts mit billigem Nazismus, wenn auch mit „bloßem“ Deutschnationalismus zu tun hatten. Der Hitler muss ja nicht ewig bleiben. Jetzt genoss man einmal eine historisch erst- und einmalige Situation: So etwas wie das vereinte Europa. Natürlich war es eine Denkpause. Dass die Schlacht um England mittlerweile fast unbemerkt verloren ging, diskutierte man nicht an.45 Das mit den Briten wurmte tatsächlich, doch die Badener Zeitung ließ sich auch hier nicht beirren. Die Briten waren am Ende, Churchill war am Ende, jederzeit stand die Kapitulation bevor, und die Tonnagen an Bomben, die über London niedergingen, wurden medial mit jeder Ausgabe gesteigert. Gertrud Maurer war über das Frontgeschehen nicht nur durch die Gazetten im Bilde. In den Schulen gab es neben den täglichen Frontberichterstattungen zusätzliche Vorträge und Festivitäten militärischen Inhalts. Als eine Rede Görings übertragen wurde, saßen alle Schülerinnen in einem Saal und hörten gebannt zu. Gertrud Maurer war besonders davon angetan, mit den älteren Mädchen bzw. jungen Frauen beisammensitzen zu dürfen.46 Nach dem Sieg über Frankreich gab es sogar eine Filmvorführung. Vieles blieb ihr nicht im Gedächtnis. Das Einzige, das sie beeindruckte und ihr in Erinnerung blieb, waren deutsche Panzer, die in eine französische Rinderherde hineinfuhren und die Rinder zermalmten.47 Während Gertrud Maurer Frankreich auf der Leinwand erlebte, war Hans Meissner real vor Ort. Allerdings noch nicht als Soldat der Wehrmacht, sondern als Arbeiter des Reichsarbeitsdienstes (RAD). Bevor es soweit war, machten RAD-Horrorgeschichten über Schleiferei und Schinderei die Runde. Doch hatte Hans Meissner offenbar Glück. Gearbeitet wurde nicht, sondern ein bisschen exerziert und unterrichtet.48 Sein Reichsarbeitsdienst begann nach der Matura im April 1940, in einem Barackenlager bei Neukirchen bei Lambach. Nachdem Frankreich im Mai 1940 von der Wehrmacht überrollt worden war, erfolgte seine Verlegung Richtung Front. Zuerst nach Trier, dann Luxemburg, Belgien und letztendlich an die französische Grenze. Zum 1.mal Krieg pur nicht weit hinter der Front. Ich war 17. Das Erlebnis des völligen Aufgehens als Masse. Der Anblick der eroberten Maginotlinie, ein ästhetischer Genuss, ohne Spur von Kampf.49 Seinen weiteren Aufenthalt und Einsatz fasste er als durchwachsen zusammen. Einmal war ein größerer Einsatz, und ich wurde allein in einer Art Waschküche auf freiem Feld zurückgelassen, wo ich den ganzen Tag Fichtes Reden an die deutsche Nation las. Lehrreich. Artillerie weit weg. Kein Mensch. Ich hatte nicht einmal eine Waffe bei mir; ein schöner Wachtposten. Lehrreich war nicht nur die Lektüre philosophischer Klassiker. Probanden für etwaige Charakterstudien gab es zu Hauf. Denn einer unserer Zugführer, ein Norddeutscher, ließ in seinem Rausch seinen Zug ein Dorf angreifen und spielte Krieg. Er war nicht der einzige Fall moralischer Korruption, der „Spieß“, ein Rheinländer, 45 46 47 48 49
StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 9. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 66. Vgl. ebd., S. 71. StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S 6. Ebd. S. 6.
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wurde wegen Betrügereien verhaftet.50 Sein Reichsarbeitsdienst fand im September 1940 sein Ende. Hans Meissner zog aus seinem RAD eher philosophische Schlüsse, Hannelore Schwab war hingegen praktischer orientiert. Ihren RAD absolvierte sie im Altreich auf einem Bauernhof. Was sie dort lernte, kam ihr nach 1945 in Baden sehr zugute, wohin sie ihrem während des Krieges angetrauten Ehegatten Karl Wiesmann gefolgt war. In der Annagasse ein Haus bezogen, setzte sie mit ihrem gelernten Wissen 200 Tomatenpflanzen ein, die in einer Zeit der Nahrungsmittelknappheit prächtig wuchsen, gediehen und damit den Hunger stillten.51 Während Hans seinen RAD rückblickend eher als harmlos/sinnlos charakterisierte, Hannelore ihren als lehrreich empfand, war er für andere junge Menschen purer Horror. Es gab nicht wenige, bei denen entpuppte sich der Reichsarbeitsdienst als straffe militärische Ausbildung. Jung, naiv und unbeschwert ist man ins Lager hineingegangen, ernster, innerlich gezeichnet und verändert wieder herausgekommen.52 Fern der Heimat waren sehr viele Badener, und das aus ganz unterschiedlichen Gründen. Eva Kollisch, das Mädchen/die junge Frau, das uns vor zig Seiten über die Brutalität ihres Schulalltags in der Frauengasse erzählt hat (siehe Kapitel 10), war im Juli 1939 mit ihren Brüdern Peter und Stephan in einem Kindertransport nach England verschifft worden. Sie kam nach London, ihre Brüder nach Bristol. Ihre Brüder hatten Glück bei der Unterbringung, sie hingegen konnte der Gewalt weiterhin nicht entkommen. Als ihr Vater, Otto Kollisch, nachkam, veranstaltete die Pflegefamilie ein Fest und steckte sie in ein neues Kleid. Für gewöhnlich behandelten sie mich wie eine Dienerin; sie gaben mir kaum Essen, gaben mir die Hühnerflügel, die verbrannte Toastrinde. Ich musste auf dem Dachboden schlafen, im selben Bett wie die uralte Großmutter, obwohl es im Haus leere Zimmer und Betten gab […].53 Dabei war das nicht das Einzige, das die Verzweiflung nicht verstummen ließ. Ihre Brüder waren zwar in Sicherheit, jedoch nicht bei ihr, und die Mutter, Margarete Kollisch, saß noch immer in Österreich fest. Nur der Vater war da. Doch das Verhältnis zu ihm war mehr als angespannt. In ihrem Buch widmete sie ihm ein eigenes Kapitel. Sogar jetzt, mit all dem, was ich weiß, muss ich dich zwingen, aufzutauchen. Du bittest mich, dir keine Gewalt anzutun, dich nicht so spät ans Licht zu zerren. Du hast keine Hoffnung, verstanden zu werden, du, der du dich möglicherweise selbst nie verstanden hast. Aber ich bin noch nicht fertig mit dir, Vater.54 Zwei Seiten später heißt es: Mein Vater war ein Tyrann. Noch ein paar Seiten später schildert sie, wie sie Hitler zum ersten Mal sprechen/schreien hörte und sein Gehabe sah – die Parallelen zu ihrem eigenen Vater waren erschreckend. Fassen wir zusammen, sie hatte Angst um ihre Mutter, sie vermisste ihre Brüder, sie war bei einer Pflegefamilie, die sie
50 Ebd. S. 7. 51 Nach Aussagen von Hannelore Wiesmann (geb. 1928), Karl Wiesmann (1921–2001); Privatarchiv Dominik Zgierski. 52 BAUER, Die dunklen Jahre, S. 146. 53 KOLLISCH Eva, Der Boden unter meinen Füßen. Mit einem Nachwort von Anna Mitgutsch (Wien 2010), S. 78. 54 Ebd. S. 69.
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schlecht behandelte, und der Einzige, der damals bei ihr war, war dieser Vater. Sie war zu jenem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt. Vereint wurde die Familie erst im April 1940 in Staten Island, USA. Ihr Vater war im September 1939 als erster vor Ort. Die Mutter schaffte es einen Monat später. Eva und ihre Brüder verließen England im April 1940, auf einem der letzten Schiffe. In den USA lebten sie anfänglich in einer billigen Wohnung, in einem alten Gebäude, im italienischen Viertel. Die Mutter gab Flüchtlingsfreunden Englischunterricht, da sie die Sprache bereits beherrschte. Der Vater musste sie erst noch lernen. In Baden war er Architekt gewesen. Sein Einkommen war gut. Nun war er Staubsaugerverkäufer und ging von Tür zu Tür. Das erinnerte Eva Kollisch an die jüdischen Hausierer aus Osteuropa, die ihnen Kämme und Bürsten angeboten hatten, als sie mit ihrer Familie noch vor gar nicht langer Zeit in Baden, in der Dörflergasse 23, gewohnt hatte.55 Während Eva Kollisch mit einem Kindertransport Österreich verließ, bedurfte es bei Karl Pfeifer einer Odyssee durch Europa, um in Sicherheit zu gelangen. Karl Pfeifer war damals jener zehnjährige Bub, dessen Elternhaus in der Marchetstraße 57 arisiert wurde (siehe Kapitel 10). Sein Vater Ludwig Pfeifer hatte in der ungarischen Armee gedient, fühlte sich als Ungar und beantragte nach dem Anschluss für seine Familie ungarische Pässe. Er bekam tatsächlich welche, doch von einer direkten Einreise nach Ungarn wurde ihnen abgeraten. Sie bräuchten ein paar Stempel in den nagelneuen Pässen, empfahl damals die ungarische Botschaft – damit es korrekter aussehe. Deswegen ging es im Juli 1938 mit dem Zug zuerst in die Schweiz. Im Zugabteil wimmelte es von Uniformierten und SS Männern. Meine Eltern waren leichenblass, meine Mutter zitterte, und mir hatte sie verboten, überhaupt zu sprechen.56 Von der Schweiz, wo ein Onkel mütterlicherseits wohnte und in der sie aufgrund ihrer Mittellosigkeit keine Chance auf Aufenthalt gehabt hätten, ging es weiter Richtung Italien. Am riesigen Mailänder Bahnhof verpassten sie zuerst einmal den Anschlusszug nach Venedig. Der Verzweiflung nahe, klappte es dann doch noch, den nächsten Zug zu erwischen. Von der Lagunenstadt ging es über Triest nach Rijeka und dann nach Varasdin in Kroatien, wo ein weiterer Onkel mütterlicherseits lebte. Dort trafen sie wieder mit dem Vater zusammen, der etwas später die Schweiz verlassen hatte. Danach ging es nach Novisad und nach einer Übernachtung bei entfernten Verwandten endlich nach Ungarn, zu einem weiteren Onkel, diesmal väterlicherseits. Da Karl Pfeifer der ungarischen Sprache nicht mächtig war, wurde ihm beim Grenzübertritt erneut verboten, den Mund aufzumachen. Untergekommen sind sie in Buda, in guter Lage, die Verwandten hatten vorgesorgt. Gerade einmal angekommen, musste der zehnjährige Karl so schnell wie möglich Ungarisch lernen. Er kam auf ein Internat, eine rein ungarische Umgebung – sehr vorteilhaft für den Spracherwerb. In Ungarn war die Familie sicher, doch manches sollte sich einfach nicht ändern. Kaum war ich in die Nähe des [jüdischen] Gymnasiums gelangt, als mich Schüler einer Nachbarschule als „stinkenden“ und „schmutzigen“ Juden beschimpften. Meine Mitschüler taten so, als ginge sie das nichts an. Mich aber trafen diese Zurufe, vor allem 55 Ebd. S. 79f. 56 PFEIFER Karl, Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg (Wien 2013), S. 24.
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aber die Untätigkeit der Erwachsenen, die nichts dagegen taten […]. Ich sah keinen großen Unterschied zu dem, was ich in Baden ein Jahr zuvor, im Frühjahr 1938, erlebt hatte.57 Ihm wurde klar, es gab weder einen Gott noch ein auserwähltes Volk. Solche Ansichten teilten in seiner Klasse nicht viele. Nur eine Minderheit, zu der er sich hingezogen fühlte, und die Kontakte zu den anderen Außenseitern begannen sich zu intensivieren. Langsam erfuhr ich, in welcher Gesellschaft ich gelandet war. Es war die zionistisch-sozialistische Jugendbewegung Schomer Hazair.58Als Kommunisten verschrien, war diese Organisation auch aufgrund ihrer zionistischen Ausrichtung in Ungarn verboten. Die Parallelen zu Baden betrafen nicht nur den Antisemitismus. Ein paramilitärischer Dienst für junge Männer war in Ungarn genauso vorgesehen. Damit alles seine Ordnung hatte, musste er als Jude dabei eine gelbe Armbinde tragen. Ausgrenzung und Diskriminierung von Juden waren international. Das Jahr 1940 erbrachte für ihn einen weiteren Schicksalsschlag: Seine Mutter, Margit Pfeifer, erkrankte an Leberkrebs. Als er sie das letzte Mal sah, war sie ganz gelb im Gesicht und erkannte ihn aufgrund der Morphininjektionen nicht mehr. Es kam für ihn die Zeit der Einsamkeit, da der Vater oft außer Haus beruflich unterwegs war, eine Hinwendung zu der Jugendbewegung Schomer Hazair, die als Ersatzfamilie immer wichtiger wurde, und es war die Zeit der üblichen und gleichbleibenden antisemitischen Schikanen. Als Schwierige Jugendjahre in Budapest betitelte er sie.59 * Für die örtlichen NS-Stellen in Baden war es hingegen eine Wohltat, dass so viele Juden endlich weg waren. Aber mit der Zeit bemerkte man, dass nicht alle ihre Reichsfluchtsteuer entrichtet hatten. In der Badener Zeitung fanden sich öffentliche Kundmachungen von Anzeigen, wie jene gegen Chaskel und Charlotte Ingwer, wohnhaft Vöslauerstraße 40/42, nun unbekannten Aufenthaltes. Sie wurden wegen Steuerflucht angeklagt und aufgefordert, am 15. Februar 1940 vor Gericht zu erscheinen.60 Gleiches galt für Josef Friedrich und Alice Strauß, Trostgasse 16. Sie hatten am 18. September 1940 im Wiener Neustädter Landesgericht aufzutauchen.61 Beide Ehepaare erschienen nicht. Das Ehepaar Strauß befand sich zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich schon in den Niederlanden.62 Bei Dr. Josef Bergmann, Hausbesitzer Eugengasse 18, klagte die Sparkasse Baden mittels BZInserat wegen fehlender Geldbeträge. Da der Angeklagte unbekannten Aufenthalts war, wurde zum Kurator der Rechtsanwalt Dr. Herbert Bayer bestellt. Gleiches bei Josef und Ida Jolles aus Bad Vöslau, die Sparkasse verlangte Geld, sie waren nicht auffindbar, zum Kurator 57 58 59 60 61 62
Ebd. S. 28. PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 31. Vgl. PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 35. Vgl. BZ Nr. 7 v. 24.01.1940, S. 4. Vgl. BZ Nr. 60 v. 27.07.1940, S. 5. Vgl. http://www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023).
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wurde bei ihnen Anton Attems ernannt. Sowohl Josef Bergmann als auch das Ehepaar Jolles hatten sich am 14. Februar 1940 im Gericht, Zimmer Nr. 2, einzufinden.63 Wer dafür tatsächlich zurückkam, wenn auch nur temporär, war die Mutter von Karl Pfeifer, Margit Pfeifer. Mit ihrem ungarischen Pass reiste sie im Sommer 1940 nach Baden. Zuerst schien das gar nicht möglich. Kein Hotel in der Kurstadt würde an eine stadtbekannte Jüdin ein Zimmer vermieten. Aber ihre ehemaligen Vermieter, die Familie Weber, nahmen sie für ein paar Tage auf. Vor der Flucht hatten die Pfeifers der Familie Weber einen Teil ihrer Dokumente, Versicherungspolizzen und etwas Schmuck anvertraut und darum gebeten, darauf zu achten. Die Familie Weber hielt Wort. Sie verwahrten und händigten alles wieder aus. Das Beispiel der Familie Weber zeigt, niemand war gezwungen, Juden zu drangsalieren oder ihr Eigentum zu arisieren, und dass es auch in diesen Zeiten Menschen gab, die sich – weil sie an ihren Werten festhielten – anständig benahmen.64 Die 1940 weiterhin in Baden lebenden Juden bzw. als solche klassifizierten Menschen wurden nicht nur als etwas Fremdartiges, sondern als etwas Schädliches und Feindliches betrachtet. Um den Hass aufrecht zu erhalten, gab es unter anderem am 11. Februar 1940 in der Filmbühne Breyerstraße eine Vorstellung „Plutokratie und Judentum“. Den Badener Volksgenossen wurde dringend geraten, der Vorstellung beizuwohnen, um sich ein noch besseres Bild über den erbittertsten Feind des Deutschen Reiches zu verschaffen.65 Erbittertsten deswegen, weil die Royal Air Force deutsche Städte bombardierte und Leid und Verderben brachte und für das NS-Regime stand hinter jeder Bombe ein Jude. Die Bombardierung deutscher Städte wurde durch die NS-Propaganda bis zum Geht-nicht-mehr ausgeschlachtet. Um gegen den britischen Luftterror gewappnet zu sein, waren der Luftschutz, die Verdunkelungsvorschriften und alles, was dazugehörte, durchgehendes Thema in der Badener Zeitung. So überlebenswichtig die Thematik auch war, galt sie den allermeisten Badenern 1940 noch als eine eher lästige Angelegenheit. * Erste Luftschutzübungen gab es schon lange vor dem Anschluss, als Baden in den 30ern aus der Luft mit Sandsäcken beworfen wurde. Nach dem Anschluss war die Luftschutzthematik bereits in der BZ-Ausgabe vom 11. Juni 1938 auf der Agenda. Vorsorgemaßnahmen bestanden darin, dass die Badener all ihr Hab und Gut schriftlich festhalten sollten – nur für den Fall, falls das Haus durch Bomben beschädigt werde. Es gab Luftschutzwarte, Luftschutzkeller, Luftschutzübungen und Luftschutzhandspritzen, die regelmäßig kontrolliert wurden, die in jedem Haushalt verfügbar sein mussten, um die durch Brandbomben ausgelösten Brände eindämmen zu können. Die Sache blieb theoretisch hochaktuell, praktisch jedoch fern. Bombenangriffe fanden noch weit weg von Baden statt. Nur die ausgebomb63 Vgl. BZ Nr. 12 v. 10.02.1940, S. 5. 64 PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 33. 65 Vgl. BZ Nr. 12 v. 10.02.1940, S. 2.
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ten Flüchtlinge, deren Zahl sich noch in Grenzen hielt, erinnerten vor Ort daran, dass Großbritannien noch immer nicht in die Knie gezwungen worden war. Luftschutz stand dennoch am Programm. Dennoch müsste alles, was mit Luftschutz zu tun hatte, ernst genommen werden, appellierte die Badener Zeitung. Da es aber genug Badener gab, die sich äußerst säumig verhielten und die Appelle der BZ links liegen ließen, begann das Lokalblatt wie üblich zu drohen.66 Beinahe in jeder Ausgabe fanden sich Anzeigen wegen Nichteinhaltung der Verdunkelungsvorschriften und gleichzeitig Artikel, wie die Verdunkelungsmaßnahmen ordnungsgemäß umzusetzen seien. Zum Beispiel vor dem Schlafengehen ja nicht das Licht anmachen, wenn man noch das Fenster schließen wollte. Man schrieb von Kurzsichtigkeit und Unbelehrbarkeit mancher Badener und dass es in der Kurstadt verdunkelte Gehirne anstatt verdunkelter Lichtquellen gab. Die Vergehen gegen Verdunkelungsvorschriften konnten mit der sonstigen NS-Ideologie kombiniert werden. Die Raucher, die Schädiger des Volkskörpers, verursachten durch die Glut ihrer Zigarette eine Lichtquelle. Genauso die Alkoholtrinker, die Heurigenbesucher, wenn sie betrunken nach Hause torkelten und dort in ihrem Rausch verantwortungslos die Lichter aufdrehten. Durch ihre Sucht und Maßlosigkeit setzten diese Volksgenossen die Stadt der Gefahr aus, von britischen Bombern in der Nacht gesehen und in Schutt und Asche gebombt zu werden. Die Polizei war dazu aufgefordert, hart durchzugreifen. Die BZ bot ihren medialen Pranger an, und sie bat zugleich die Hausgemeinschaften, gegen die unbelehrbaren und gefährlichen Mitbewohner und Nachbarn vorzugehen. Die Aufrufe zeigten Wirkung, es kam zu Streitereien und Handgreiflichkeiten.67 Allerdings besaßen die Verdunkelungsvorschriften selbst für die Stadtgemeinde Baden nicht oberste Priorität. Ein Jahr zuvor, im März 1939, wandte sich Bürgermeister Schmid an den Landrat, da die finanziellen Verhältnisse der Stadt Baden auf das Alleräusserste gespannt sind, ersucht die Stadt Baden um Weisung, ob es nicht möglich wäre, dass statt des verlangten Betrages […] entweder im Jahre 1939 überhaupt kein Beitrag durch die Stadt Baden oder nur ein kleiner Beitrag geleistet werden könnte. Der Betrag betrug übrigens 1 Rpf pro Einwohner, was 230 RM ausmachte – umgerechnet auf den heutigen Kaufwert würde das 1.336,63 Euro ausmachen. Landrat Wohlrab zeigte sich not amused. Ich missverkenne das Bedenken der Stadtgemeinde Baden bei ihrer angestrengten finanziellen Lage sicherlich nicht, ersuche aber dennoch in diesem Fall um Ihre gefällige Zustimmung, da der Luftschutz heute doch von unendlicher Wichtigkeit ist und die Ortsgruppen für ihre bescheidenen Regien aufkommen müssen.68 Das obige Zitat stammte noch von vor Kriegsbeginn, im Antlitz des Schuldenberges verständliche Extrawürste, doch die Sonderbehandlungswünsche rissen nicht ab. Schon im Februar 1940 66 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 6–8. 67 Vgl. BZ Nr. 80 v. 05.10.1940, S. 2 und BZ Nr. 64 v. 10.08.1940, S. 2 und BZ Nr. 70 v. 31.08.1940, S. 2. 68 Vgl. NÖLA, BH Baden, II–IV 1939, GR. II-5 1939; A 333.
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hatte die Gemeinde beim Luftgaukommando um eine Verdunkelungserleichterung angesucht. Man bat, die Straßenlaternen weiterhin brennen lassen zu dürfen, wenigstens an Straßenkreuzungen. Damit wären zwar sämtliche Verdunkelungsmaßnahmen konterkariert worden, doch die Stadtgemeinde gab zu bedenken, man ist Kur- und Fremdenstadt, die ständig viele kranke und gebrechliche Personen sowie sonstige Fremde beherbergt; für dieselben bedeutet die totale Verdunkelung mangels Ortskenntnis eine besondere Gefahr, noch dazu, weil Baden eine alte Biedermeierstadt mit vielen sehr engen und winkeligen Gassen ist. Als Ortskundiger wüsste ich persönlich zwar nicht, wo diese engen und winkeligen Gassen wären, aber es schien, als ob die Verdunkelung für die Kurstadt eine größere Gefahr darstellte, als ein möglicher Fliegerangriff. Die Gemeinde scheute dabei nicht einmal, indirekt der Wehrmacht eine Teilschuld zu geben: Baden hat eine große Garnison mit vielen Kraftfahrzeugen, deren Verkehr in der Dunkelheit sowohl für die Fahrzeuge selbst als auch für die Straßenpassanten eine große Gefahr bedeutet. Ein Horrorszenario wurde an die Wand gemalt, wohin man blickte, überall Finsternis und zusammengeführte Kurgäste, die dann logischerweise keinen Fuß mehr in die Kurstadt setzen würden. Und um die enorme Sprengkraft aufzuzeigen, wurde nicht einmal in dieser Causa verzichtet, darauf hinzuweisen, dass Baden eine der stärkst verschuldeten Gemeinden der Ostmark ist – rund 3.000 RM täglich müssen für die Verzinsung der Schulden aufgebracht werden – und zwar nur auf die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr angewiesen ist, da im ganzen Stadtgebiet keine nur irgendwie nennenswerte Industrie besteht.69 Ein paar Tage zuvor hatte man noch eine andere Strategie ausprobiert. Das Luftgaukommando XVII hat für den Luftschutzort Wien unter bestimmten Voraussetzungen die Einschaltung der Straßenbeleuchtung bewilligt.70 Und was der Großstadt zustand, das wollte die Kurstadt erst recht. Im Jahre 1940, nach der erfolgreichen Überrollung Polens und Frankreichs, konnten die Badener den Luftschutz tatsächlich noch auf die leichte Schulter nehmen. Wie konnte man auch etwas ernst nehmen, was man nicht sah, hörte oder jemals zuvor erlebt hatte. Dass britische Bomber ganz Deutschland überfliegen würden, um südlich von Wien einen Kurort zu bombardieren, war schlicht und ergreifend absurd. Vor allem, wenn die Wehrmacht bisher unaufhaltsam über jeden Feind hinweggefegt war und der Brite laut der medialen Berichterstattung sowieso bald niedergerungen sein würde. Dahingehend – Verdunkelung und Luftschutzübungen – konnte man sich ein wenig den Schlendrian leisten und Ungezwungenheit an den Tag legen. Relativ ungezwungen war auch noch das Leben von Gertrud Maurer, die einen Sammelrekord nach dem anderen einfahren wollte oder das von Hans Meissner nach Beendigung seines Reichsarbeitsdienstes. Sein Studentendasein nahm im Wintersemester 1940 seinen Anfang. Er überlegte, inskribierte, wechselte die Studienfächer mehrmals, letztendlich wurden es Geschichte, Deutsch und Englisch. Später kam Russisch hinzu. Doch einfach so 69 StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. III Luftschutz/Luftwaffe; 1940 – Gemeinde an Luftfahrkommando (08.02.1940). 70 Ebd. – Landrat an Gemeinden (01.02.1940).
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zu studieren, das ging nicht. Irgendwo musste man dabei sein, bzw. dies war ratsam. Aus der HJ herausgewachsen, stand die nächste NS-Gliederung vor der Tür, der NS-Studentenbund. Er erhielt eine Einladung zu einem Wochenendausflug in den Wienerwald samt Wanderung Richtung Sulz. Auf der Burg Wildegg gab es Bewirtung mit „brainwashing“, also Ideologie auf irgendwie akademischem Niveau, Beitrittswerbung fast unauffällig inbegriffen. Ich kann mich an keine weitere Einladung erinnern und ich dachte (im wörtlichen Sinn) nicht daran freiwillig beizutreten. Da ihm bewusst war, dass er sein Studium aufgrund des Militärdienstes höchstwahrscheinlich nicht abschließen würde können, legte er sich gewisse Prioritäten zurecht. Der Einberufungsbefehl konnte täglich kommen. Dementsprechend war mein Interesse an Prüfungen gering, an interessanten Vorlesungen dagegen immens.71 Von denen gab es damals genug, inklusive prominenter Professorenschaft. Srbik für die Neuzeit gab sich wie ein Gott eigner Provenienz, der nicht sprach, sondern verkündete, mit leiser Stimme und ohne Rücksicht, ob ihn jemand verstand, so dass die ersten 10 Sätze verloren waren; denn nach dem Hitlergruß musste man sich zuerst einmal setzen, viele am Boden, wegen des Andrangs; Götter nehmen keine Rücksicht, das ist ein allgemein akzeptiertes Markenzeichen. Natürlich war er Großdeutscher oder Großösterreicher und lebte im 19. Jahrhundert. […] Der zweite Hochrangige war Brunner, ein toller Mediävist, der die Figur und die dazugehörige Stimmgewalt eines Schwerathleten hatte. Sein Buch „Land und Herrschaft“, ein absolutes Muss, um das Mittelalter zu verstehen.72 Das akademische Dasein dauerte drei Trimester, bevor im Oktober 1941 die Einberufung kam und er Teil der Wehrmacht wurde. Sein Vater hingegen war es schon längst. Man möchte meinen, dass ein Mann wie Meissner sen., der dem NS-System treu ergeben war, für den Führer durch die Hölle gehen würde, doch als dann tatsächlich die Uniform und damit die Front in greifbare Nähe rückte, wurde zuerst auf Zeit gespielt bzw. mit einer UK-Stellung geliebäugelt. Seine Illegalität sowie auch seine fachliche Kompetenz in den, mit dem Gaudiplom ausgezeichneten Badener Oetker-Werken erlaubten Meissner sen. durchaus, auf eine UK-Stellung zu spekulieren. Walter König als sein Vorgesetzter unterrichtete im November 1939 das Wehrbezirkskommando von dessen Unabkömmlichkeit und brachte die Oetker-Fabrik als kriegswirtschaftlichen Betrieb ins Spiel, weswegen alle Mitarbeiter, besonders die Qualifizierten, systemimmanent seien. Die Wehrersatzinspektion prüfte und kam zu dem Schluss, dass Meissner sen. tatsächlich unabkömmlich war, allerdings nicht für die Oetker-Werke, sondern für die Wehrmacht, und zwar als Reserveoffizier. Ab Juli 1940 stand er nunmehr im Sold neuer Vorgesetzter. Seine Tauglichkeit als Reserveoffizier stellte er ab August als Kontrolloffizier im Kriegsgefangenenlager Kaisersteinbruch sowie in Kriegsgefangenenlagern im Bereich Villach unter Beweis.73 Senior und Junior hatten, was das anbelangte, wenige Gemeinsamkeiten. Die Laschheit und das Desinteresse, mit dem Hans Meissner jun. dem Nationalsozialismus be71 StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 9. 72 Ebd. S. 10. 73 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Meissner Hans sen. (geb. 1898).
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gegnete, und sein – im übernächsten Kapitel beschriebenes – unsoldatisches Dasein als Wehrmachtssoldat widersprachen diametral den Werten seines Vaters bzw. den NS-Werten allgemein. Dabei fehlte nicht mehr viel zum „Endsieg“. Im Dezember 1940 berichtete die Badener Zeitung von einem Großbritannien, das durch pausenlose deutsche Luftschläge am Abgrund stehe, dessen Bevölkerung von einer plutokratisch-parlamentarischen Clique unterdrückt werde, während hier im Reich der Führer als Christkind auftrat: Das Geschenk an unser Volk – Der Frieden muss erkämpft werden.74 Und dann die Ankündigung fürs nächste Jahr: Das Jahr 1941 wird die Vollendung des größten Sieges unserer Geschichte bringen.75 Und wieder eine Ausgabe später, des Führers Kriegsziele: Dieser Krieg ist nicht ein Angriff gegen die Rechte anderer Völker, sondern nur gegen die Anmaßung und Habgier einer dünnen kapitalistischen Oberschicht […]. Indem wir aber für dieses Glück der Völker kämpfen, glauben wir, uns auch am ehesten den Segen der Vorsehung zu verdienen. Der Herrgott hat bisher unserem Kampf seine Zustimmung gegeben.76 Ein Flugblatt der Kreisleitung, nur einen Monat später im Februar 1941, verkündete: Nach den unvergleichlichen Erfolgen unserer Wehrmacht treten wir nun in den letzten entscheidenden Abschnitt dieses uns aufgezwungenen Krieges ein. Was noch fehlte, war ein Opfer, ein Sonderopfer. Das Ziel war so nahe! Der Führer hatte es schließlich vorhergesagt, inklusive Rückendeckung von ganz, ganz oben – Gott will es! Deswegen forderte der Kreisleiter die Bevölkerung des Kreises auf: Wenn daher in diesen Tagen die Männer der NSDAP an jeden einzelnen herantreten, um von ihm sein Opfer zu fordern, dann wollen wir als verschworene Gemeinschaft beweisen, dass der Kreis Baden durch seine Leistung sich den Heldentaten seiner Söhne an der Front würdig erweist. Und denk daran: Der Soldat sieht auch Dein Opfer!77 Wie große die Würde nun war, lässt sich nicht beziffern, aber die Zahl der Opfer, und diese Zahl ging steil nach oben. Denn das NS-Regime hatte sich dazu entschieden, dass die jüdisch-plutokratischen Briten als Feinde nicht mehr ausreichten. Sie mussten um die bolschewistisch-jüdischen Russen ergänzt werden. * Als der Überfall auf die Sowjetunion erfolgte, war Alois Brusatti an vorderster Front mit dabei. Zuvor war er als Besatzungssoldat in Polen stationiert gewesen. Die Demarkationslinie zwischen dem nationalsozialistischen und dem sowjetischen Reich, die quer durch Polen verlief, kannte er nur allzu gut. Er hatte Kontakte zu den verbündeten sowjetischen Soldaten, anfänglich auch zu der örtlichen polnischen und ruthenischen (ukrainischen) Bevölkerung und auch zu Juden. Es war für ihn eine „überraschende“ Welt. Als wir uns zurückzogen, flehten uns die dort ansässigen Ruthenen an, doch zu bleiben und zogen mit uns mit. Die Angst vor den Sowjets war stärker als die vor den deutschen Soldaten. Und als er mit 74 75 76 77
Vgl. BZ Nr. 101 v. 18.12.1940, S. 1 und BZ Nr. 102/3 v. 21.12.1940, S. 1. BZ. Nr. 1 v. 01.01.1941, S. 1. BZ. Nr. 1 v. 04.01.1941, S. 2. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1941.
Kapitel 20 Von Fremden, Frauen, Front und der Ferne
einem Kameraden bei einer ruthenischen Bauernfamilie zum Essen eingeladen war, hörten wir Reden vor der Tür, wir erfuhren, dass es Flüchtlinge aus Lemberg seien, die unbedingt ins von Deutschland besetzte Gebiet kommen wollten. Dabei erfuhren wir, dass es sich um Juden handelte, von denen einer, der als älterer Mann noch in der österreichischen Monarchie gedient hatte, Deutsch konnte. Er berichtete, dass tausende Juden auf der Flucht vor den Sowjets waren, weil sie bei den Deutschen auf mehr Schutz hofften.78 Da sich die Kontakte zu Juden mehrten und Tauschgeschäfte stattfanden, wurde alsbald der Befehl erlassen, jeglichen Kontakt zu unterlassen. In etwa zur gleichen Zeit erfuhr er auch vom Tod seines Vaters (Alois Brusatti) in Baden – jenem Sparkassendirektor, der von den örtlichen NS-Machthabern der Kurstadt demontiert und sowohl psychisch als auch physisch gebrochen wurde (siehe Kapitel 4 Mammon I). Er war gerade bei irgendwelchen Dörfern in der Nähe von Radom, als ihn die Todesnachricht erreichte. Ich war zutiefst betroffen und ich weinte tief; etwas, was mir sonst fremd ist. Dann war ich wieder verlegen, weil ich mich wegen der Tränen vor den anderen schämte.79 Alois Brusatti war mittlerweile ein erfahrener Frontsoldat. Blicken wir in seine Krankenakte, sehen wir eine soldatische Bilderbuchkarriere: Feldzugsteilnehmer gegen Polen, Durchbruchskämpfe in Westgalizien, Verfolgungskämpfe über die Dunajee, Neda und San, Schlacht bei Lemberg und Tomaszow, Einsatz im besetzen Polen, Einsatz im rückwärtigen Operationsgebiet im Westen, Sicherung des Generalgouvernements.80 Erfahrung war reichlich vorhanden. Im November 1940 erfolgte die ersehnte Beförderung zum Leutnant. Ich war damals sehr stolz, und ich freute mich, da ich noch einige Monate vorher als kleiner Gefreiter der letzte Dreck in der Kompanie war.81 Danach wurde er einer anderen Einheit zugeteilt, und es ging wieder ostwärts. Als Offizier hatte er nun einen anderen Aufgabenbereich, verantwortungsvolle Aufgaben, wie er sagte, die er zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten meisterte. Den Dienst in Ostpolen, die Wochen vor dem Angriff auf die Sowjetunion blieben ihm in guter Erinnerung, ein Winter mit viel Schnee, polnische Kinder, die er mit Zuckerln beschenkte, ein Kompaniechef, der viel von ihm hielt, und als der Winter sich dem Ende zuneigte, waren es wunderbare Frühlingstage, wir lagerten im Wald oder an der Grenze zur russisch besetzten Zone, machten Patrouillengänge, Feldübungen usw. Vor allem imponierten mir die jungen Buchenwälder im frischen Grün – unwirklich schön und friedvoll.82 So friedvoll hätte es ruhig weiterlaufen können. Dass man die Sowjetunion angreifen würde, war zwar Thema, aber theoretischer Natur. Am 20. Juni 1941 saßen sie noch beisammen, es wurde diskutiert und getrunken, und man fragte sich, wann denn dieser Bluff endlich vorbei sei. Denn dafür hielten sie es, als immer mehr Truppen an der Grenze 78 79 80 81 82
StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 20. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 21. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Brusatti Alois. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 23. WOLKERSTORFER Otto, Baden 1941. Dem Sieg, dem Krieg verpflichtet (Baden 2001), S. 44 – Die gesamte Schilderung Alois Brusattis in dem Band S. 44–48.
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zusammengezogen wurden, für einen Bluff, für eine Machtdemonstration Hitlers, um Stalin zu imponieren. Wahrscheinlich werde es demnächst nach Hause gehen oder an einen anderen Frontabschnitt, das waren die gängigeren Theorien. Vielleicht der Balkan? Denn dort hatten laut Badener Zeitung der britische Imperialismus und die jüdische Hochfinanz es im April 1941 wieder einmal geschafft, Europa und seine Völker in immer neue innere Kriege zu verwickeln und sie damit zu schwächen. Jugoslawien wurde infiltriert, verführt und aufgewiegelt, und diese Vorgänge wurden von den gleichen Kreaturen inszeniert, die schon im Jahre 1914 durch das Attentat von Sarajewo die Welt in einen namenloses Unglück gestürzt hatten. Ein Déjà-vu, aber der jetzt angegriffene Staat ist nicht das damalige Österreich, sondern das heutige Deutsche Reich!83 Auch hier folgten die propagandistischen Phrasen, wonach der Führer diesen Krieg nie gewollte hätte, weder gegen die Slowenen, Kroaten oder Serben Groll hegte, nur eines musste schon klar gesagt werden: Jugoslawien wird als der Staat der Selbstaufgabe und der prämierten politischen Dummheit in die Geschichte eingehen, denn am Ende dieser Auseinandersetzung wird es ebensowenig einen jugoslawischen Staat geben, wie es in dem Staat von heute ein jugoslawisches Volk gegeben hat.84 Im Grunde war es Brusatti und seinen Kameraden egal, gegen wen sie in den Kampf ziehen würden. Die Kompanie war sehr gut ausgerüstet und auch mental in Ordnung. Weiter dachte keiner von uns, weder mit politischen oder moralischen Skrupeln behaftet.85 Einen Tag darauf, am Vormittag des 21. Juni 1941, erfuhr Alois Brusatti, dass am nächsten Tag der Angriff auf die Sowjetunion erfolgen werde. Bei dem Boten handelte es sich um einen Offiziersburschen, der, nach seiner Quelle gefragt, eine polnische Küchenaushilfe angab, die sich bereits aus dem Staub gemacht hatte. Brusatti nahm den Offiziersburschen nicht ernst, und die flüchtige Küchenhilfe schon gar nicht. Doch als um 15.00 Uhr desselben Tages das alberne Gerede bestätigt wurde, wurde es ernst. Seine Mission bestand darin, in Schlauchbooten den Bug zu überqueren und am gegenüberliegenden Ufer einen Bunker einzunehmen. Feuerschutz wurde garantiert. Die Überraschung darüber, dass es tatsächlich passierte, war ihm offensichtlich ins Gesicht geschrieben, denn sein Major fuhr ihn an, ob ich nicht wollte und ob ich zurückzucke…86 Um 3.45 Uhr erfolgte der Angriff. Artillerie und schwere Maschinengewehre ballerten – wahrscheinlich viel zu viel und wir bestiegen die Schlauchboote, die wir in ein paar Minuten über den dort nicht zu breiten Fluss brachten. Über die Böschung zum ersten Bunker, der noch nicht fertig gebaut war, und nahmen dort ganz junge russischen Soldaten, die vollkommen verstört waren, gefangen und übergaben sie den Truppen hinter uns. Nur Augenblicke später, und wir hatten die ersten Verluste; meinem Zugsmelder wurde das linke Bein abgerissen – erste grausige Wirklichkeit. Die nächsten sollten nicht lange auf sich warten lassen. Ein Soldat warf zwei gezündete Handgranaten in den Bunkerschlitz. Die müssen verheerend gewirkt haben; wir 83 84 85 86
BZ. Nr. 29 v. 09.04.1941, S. 1. BZ. Nr. 30/31 v. 12.04.1941, S. 1. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 24. Ebd. S. 25.
Kapitel 20 Von Fremden, Frauen, Front und der Ferne
fanden dann später nur mehr verstümmelte Leichen…87 Es folgten Gefechte, Gewaltmärsche und herrliche Sommertage. Militärisch gab es nichts auszusetzen, es ging voran. Seine Befehle führte er ohne Fehl und Tadel aus. Als es hieß ein Dorf zu erobern, tat er dies mit seinen Männern. Und als es hieß, ein Getreidefeld nach versprengten sowjetischen Soldaten durchzukämmen, führte er auch diesen Befehl zu vollster Zufriedenheit aus. Doch dann kam etwas, was mich bis heute bedrückt. Sie machten 30 Gefangene, gut genährte und gut ausgerüstete sowjetische Soldaten. Ein Feldwebel wurde beauftragt, die Gefangenen den nachfolgenden Einheiten zu übergeben. Brusatti und seine Einheit marschierten weiter. Nur Minuten später wurden sie Ohrenzeugen, wie 30 sowjetische Gefangene von einem sturzbetrunkenem Feldwebel und seinen nicht minder betrunkenen Männern erschossen wurden. Einer der Bewacher lief ihnen sogar hinterher, fuchtelte mit einer Pistole herum und rief (auch er war betrunken): Die sind erledigt. Wir waren erschüttert, und ich gab dem, der uns die Nachricht überbrachte, einen Schlag, der sah mich nur blöd an.88 Im ersten Moment wollte er die Täter zur Rede stellen. Es kamen Schuldgefühle hoch. Er hatte doch gesehen, dass der Feldwebel betrunken war, und anhand seiner bösartigen Fratze war doch klar, dass der nichts Gutes im Schilde führen würde. Doch für all das war nicht die Zeit und nicht der Ort. Feindliche Artillerieeinschläge, die aufziehende Nacht und ein nächtliches Gewitter brachten seine Idee, Recht und Gerechtigkeit ins Chaos zu bringen, zum Verstummen. Es ging weiter. Der Vormarsch wurde schwieriger. Was sich nicht änderte, war die Faszination für die endlosen Weiten – Getreide- und Wassermelonenfelder, soweit das Auge reichte. Ein weiterer Badener an der russischen Front war Dr. Wilhelm Martschini. Am 3. Juni 1941 war das bequeme Leben eines Rekrutengefreiten für ihn vorbei. Bevor es an die Front ging, gab es noch ein paar freie Tage in Baden und im Wiener Prater. Sentimentalitäten oder gar Ängste wollte keiner der Männer zeigen, weil sich einer vor dem anderen schämte […] so lachten und brüllten und sangen alle durcheinander, kein jüngeres weibliches Wesen blieb unbehelligt, die Leute von den Straßen, Häusern, Gärten winkten und schrien uns zu, besonders Frauen und Mädeln.89 Am 24. Juni 1941 beschoss er bereits sowjetische Panzer mit Panzerabwehrkanonen, und die sowjetischen Panzer schossen zurück. Am 12. Juli 1941 notiert er in seinem Kriegstagebuch: Verwundete schreien, Kameraden rufen den Sanitäter herbei. Unteroffizier Eisele konnte es nicht erwarten, stürmte vor und kriegt einen Brustschuss. Der Richtschütze Zach ist gefallen. So geht das weiter…90 Den Angriff auf die Sowjetunion brachte die Badener Zeitung in der Ausgabe vom 25. Juni 1941 unter dem Titel: Moskaus Verrat an Europa. So wie bei jedem Überfall, den der verbrecherische NS-Staat bisher verübt hatte, wurden erneut die medial haarsträubendsten Erklärungen geliefert. Von einem Komplott zwischen Juden und Demokraten, Bolschewiken und Reaktionären war die Rede, von einer erpresserischen Sowjetunion, von einer 87 88 89 90
Ebd, S. 25. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 27. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 49. Ebd. S. 49.
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Sowjetunion, die kurz davor war, Rumänien, Bulgarien und die Türkei zu überfallen, die ihre militärischen Kräfte an der Grenze konzentrierte und am 17. und 18. Juni deutsches Reichsgebiet überfiel. Damit aber ist nunmehr die Stunde gekommen, in der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-anglosächsischen Kriegsanstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten.91 All die Artikel zuvor, die den sowjetischen Partner in den Himmel lobten, mussten jetzt irgendwie annulliert und korrigiert werden. Fest stand nur – zur Abwechslung das Gleiche – Hitler wollte immer nur den Frieden, auch dieser Feldzug war aufgezwungen, und deshalb galt der Angriff selbstredend als gerecht, sinnvoll und notwendig. Einen Monat später schien der gerechte Krieg bereits zu Ende, denn die Badener Zeitung titelte am 23. Juli 1941: Viktoria – Sieg Deutschlands an allen Fronten. Sieg gegen Juden, die Plutokraten, den Bolschewismus.92 Der schnelle militärische Vorstoß war tatsächlich beeindruckend, doch besiegt war der Russe nicht und sollte es nie werden. Am 11. Juni oder Juli 1941 erlitt Alois Brusatti seine erste Kriegsverletzung, einen Beinschuss am linken Oberschenkel, den er im ersten Moment als einen heißen Schlag wahrnahm. Der Lazarettaufenthalt bot Zeit zur Reflexion. Zum ersten Mal erfuhr meine naive Gläubigkeit bezüglich unserer moralischen Überlegenheit einen Dämpfer…93 Die Vorstellung, an der Spitze der Nahrungskette zu stehen, bekam erste Risse. Es folgte ein Kuraufenthalt in Franzensbad und anschließend die Verlegung als Ausbildungsoffizier in die Etappe. Das war deutlich ungefährlicher, eine problemlose Zeit, wie er schrieb, und er war gerne Ausbildungsoffizier, doch er meldete sich zurück an die Front – warum, ist heute schwer zu erklären: vielleicht wollte ich wieder aktiv sein, meinem damaligen Ehrbegriff entsprach es, Frontdienst zu tun – ohne Rücksicht auf das, was mich an der Front gegen die Sowjets erwarten wird. Im November 1941 sollte es wieder soweit sein. Ich befand mich in einer eigentlich hektischen Stimmung. Außerdem hatte ich das Eiserne Kreuz erhalten. Ich war sehr stolz.94 Doch kommen wir zurück zu seinem Kuraufenthalt im Juli, zwar nicht nach Franzensbad, sondern nach Baden, mitten in die Kursaison 1941. So wie an Brusatti das Ehrgefühl nagte, an die Front gehören zu müssen, so nagte an Baden weiterhin der Drang, Deutschlands größter Schwefelkurort zu werden. Das Vorhaben bestand immer noch und strotzte vor Größenwahn. Werfen wir deswegen einen Blick darauf, wie die Realität die Wunschträume und Phantasien schonungslos zurechtstutzte, sodass von Badens Kurherrlichkeit bald nichts mehr übrigbleiben sollte. Vollständigkeitshalber sei erwähnt, Wilhelm Martschini wurde am 25. August 1941 ebenso schwer verwundet. Seine Genesung erfolgte im Rudolfspital in Wien.95 91 92 93 94 95
BZ Nr. 51 v. 25.06.1941, S. 1f. Vgl. BZ Nr. 59 v. 23.07.1941, S. 2. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 27. Ebd. S. 28. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 46–51 und vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 32.
Kapitel 21 Pech und Schwefel Oder: Vom Aufbäumen des tönernen Kurgiganten, von feuchten Wohnungen und einem Kamel, das nicht verdunkeln wollte
Die städtische Bauplanung 1941 hatte es in sich.1 Die oftmals angekündigten Renovierungen, Restaurierungen und Modernisierungen der bestehenden Bäder und Kureinrichtungen wirkten fast schon bescheiden im Vergleich zu den noch anstehenden Projekten. Diese waren dermaßen raumgreifend, dass selbst bestehende Badegebäude vom Antlitz der Kurstadt hätten weichen müssen. Zuerst wäre das Josefsbad an der Reihe gewesen, aus verkehrstechnischen Gründen hätte es dem Erdboden gleichgemacht werden sollen. Detto das Leopoldsbad. Man brauchte Raum, Raum, wo sich der Verkehr entfalten könnte, und Raum, wo Menschenmassen in Formation marschieren und Spalier stehend ausharren würden. Der Grüne Markt/Brusatti-Platz wurde zum „Platz der SA“, ein Platz der Masse und der Massenveranstaltungen. Rundherum waren das Landratsgebäude, das Haus der Kreisleitung und ein Sparkassen-Gebäude geplant. Dabei handelte es sich selbstverständlich um pompöse Neubauten. Und weil man schon dabei war, in der Weilburgstraße war ein neues Gerichtsgebäude vorgesehen, das Deutsche Rote Kreuz (DRK) würde im Zentrum einen eigenen Neubau erhalten, und der Bahnhofsplatz galt ohnehin als nicht repräsentativ genug. Sobald der Gast aus dem Zug gestiegen war, musste ihn eine architektonisch-faschistoide Bombastik förmlich übermannen. Als Ersatz für die zwei abgerissenen Bäder (Josefsbad und Leopoldsbad) gäbe es ein Hallenbad und eine Volksbadeanlage im Badener Stadtteil Leesdorf, die durch das daneben befindliche Gaswerk und die dort entstehende Vertikalkammerofenanlage beheizt werden würden. Wem das alles zu wenig Badeherrlichkeit war, der hätte ins Helenental ausweichen können, um sich dort im geplanten Helenentaler-Stausee dem kühlen Nass hinzugeben. Der Stadtgemeinde aber ging es nicht nur um den profan-vergnüglichen Badespaß. Mit einem städtischen Rheuma-Forschungsinstitut, untergebracht im Mariazellerhof, und einer Schlammverwertungsanlage sollten Wissenschaft und Technologie ihren Einzug in die Kurstadt finden. Stadtrat Blechinger hatte bereits Kontakt mit verschiedenen Universitäten geknüpft. Gespräche fanden mit dem Vorstand des Pflanzen-physiologischen Institutes der Wiener Universität, Prof. Dr. Karl Höfler, mit dem Internisten und Chefarzt des Sanatori1
Vgl. StA B, GB 340/Baupolizei I; Fasz: III; 1941. Ähnlicher Quellenbestand in NÖLA; Stadt Baden bei Wien, Planungen, K 2.
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ums „Esplanade“ in Baden, Univ. Prof. Dr. Edmund Maliwa, und dem Physiker Dr. Walter Kosmath statt. Das Wissen rund um die Balneologie musste generiert werden. Man wollte mehr in Erfahrung bringen, über die Mikroflora der Schwefelquellen, über die Aufnahme des Schwefelwassers durch die Haut, das Eindringen in die Blutgefäße und all die Heilwirkungen. Bis jetzt hätte es nämlich weitgehend nur private Forschungen auf diesem Gebiet gegeben. Das Ding hatte bereits einen Namen: „Bäderwissenschaftliches Forschungsinstitut der Stadt Baden“2 Kommen wir von der Wissenschaft und Technologie zurück zum Vergnügen. Im Helenental, dort wo die Schwechat zu einem See aufgestaut werden sollte, war zusätzlich ein Großgolfplatz angedacht. Ein Kleingolfplatz käme in den Doblhoffpark, und der sich bisher dort befindende Vergnügungspark würde in die Vöslauerstraße verlegt werden. Um der Kunst und Kultur Genüge zu tun, bedurfte es eines neuen Lesesaales im Kurmittelhaus am Kaiser Franz-Ring, und ein neues Konzert- und Festspielhaus war sowieso ein Must-have. Die Museumslandschaft in Baden musste ebenfalls einer Generalsanierung und Umstrukturierung unterzogen werden. Rollettmuseum und Kaiser Franz Josef-Museum, beide lagen für die NS-Machthaber viel zu peripher und würden dadurch, wie man flapsig formulierte, eh nie besucht. Das musste sich ändern. Als neue Heimatstätten waren das Florastöckl und das Augustinerkloster auserkoren worden – das Mädchengymnasium Frauengasse. Dieses hätte weichen müssen, und die Klassenzimmer wären zu Ausstellungssälen umfunktioniert worden. Für das leibliche Wohl war ebenso Großes angedacht. Man war der Meinung, die Kurstadt habe kulinarisch wenig zu bieten. Die bestehenden Caféhäuser galten als überholt, der Stil veraltet, unzeitgemäßer Alt-Wiener-Caféhaus Flair, unnötige Monarchie-Schwärmerei, deswegen Neubauten in einem „neuzeitlichen Stil“. Nicht fehlen durfte ein Ratskeller oder Stadtkeller, ein Ort für 150 bis 200 Weintrinker und Esser. Im Auge dafür hatte man die „Restauration Klein“ in der Antonsgasse 9 oder das „Café Zentral“ am Adolf Hitler-Platz 4. Um dem Andrang auf die vielen neuen Attraktionen gerecht zu werden, bedurfte es natürlich unterirdischer Klosettanlagen und Parkplätze. Und damit die Lebensqualität nicht gleichzeitig vom Autoverkehr und dem Lärm zu sehr beeinträchtigt werde – man war schließlich eine Kurstadt – war eine Umfahrungsstraße das Selbstverständlichste auf der Welt. Für die Zeit nach dem Krieg wurde ferner ein radikaler Schulneubau anvisiert. Kein Wunder, bestehende Schulgebäude wurden von der Wehrmacht besetzt und beschädigt. Die Pfarrschule am Pfarrplatz sollte überhaupt abgerissen werden, und das Mädchengymnasium Frauengasse war als Museum vorgesehen. Befeuert wurde das Ganze noch im Glauben an eine Bevölkerungsexplosion. Drei bis vier Kinder pro Familie wurden eingeplant bzw. eingefordert. Dass wären bei 600 neuen Wohnungen im Westen von Baden – die dann bereits fertig sein würden – zusätzliche 2000 deutsche Kinder. Weitere Kinder würden mit der geplanten Eingemeindung von Pfaffstätten und Tribuswinkel hinzukommen. Mit 20 Kindern pro Klasse wurde gerechnet. Darüber, wo die neuen Schulgebäude errichtet 2
Vgl. BZ Nr. 22 v. 15.03.1941, S. 4.
Kapitel 21 Pech und Schwefel
werden sollten, war man sich noch uneins. Aber angedacht waren: drei neue Volksschulen, eine Hauptschule, eine Wirtschaftsschule, eine Wirtschaftsoberschule, eine Mädchenoberschule und eine Berufsschule. Um all das realisieren zu können, benötigte die Stadtgemeinde Grund und Boden. Auf der Wunschliste finden wir: den Doblhoffpark, die Sukfüll-Gründe in der Renngasse, das Haus Finerlheim und das Haus Sorgenfrei am Kaiser Franz-Ring, den Zellerhof, eine unbestimmte Anzahl an Parzellen in der Marchetstraße (um dort reihenweise Kurhotels zu errichten), ferner die Anavi-Fabrik, den Metternichhof und die gesamte Haidhofsiedlung. Für ortsunkundige Leser, die mit den Straßen-, Gebäude- und Platznamen nichts anfangen können, sei nur eines gesagt: Es war absurd. Leider sind bis auf eine geplante Markthalle keine Entwürfe erstellt worden oder erhalten geblieben. Aber alleine diese reicht aus, um die Größenordnungen sichtbar zu machen. Alles innerhalb der Annagasse, Grabengasse und dem Fischertor wäre zu einem Markthallen-Areal umgebaut worden (siehe Bildteil).3 Manches von diesem Phantasma sollte alsbald in Angriff genommen werden, manches erst nach dem „Endsieg“. Augenblicklich musste hingegen die Unart abgestellt werden, seinen Mist in die Schwechat zu schmeißen. Das der Kurstadt unwürdige Verhalten mancher Badener hatte zu einer Rattenplage geführt, die mit dem Image einer Kurstadt von Reichsformat nicht vereinbar war. Um als solche zu gelten, bedurfte es des Einsatzes aller Badener, und insbesondere der Hausbesitzer. Verlangt wurden Hausfassaden in einem picobello Zustand, und dazu gehörte ein Aufputz vom Boden bis zum Dach. Offenbar hatte sich die sichtbare Unsitte eingeschlichen, die Fassaden nur bis zu zwei Meter Höhe sanieren zu lassen.4 Einen zusätzlichen Aufwand hatten jene Hausbesitzer, deren Häuser im Zentrum lagen und als denkmalgeschützt eingestuft waren. Wilhelm Luksch, Hausbesitzer des „Magdalenenhofs“ (Frauengasse 10), machte sich nichts aus der Tatsache, dass dort einmal Beethoven und Grillparzer verkehrt hatten. Da Beethoven und Grillparzer durch mehrere Jahrzehnte ihren Sommerurlaub in Baden verbrachten und dabei alljährlich ein anders Haus auswählten, müssten ja zahlreiche Häuser in Baden aus diesem Grund unter Denkmalschutz gestellt werden […]. Eine historische Eigenart seines Hauses konnte er nicht ausmachen. Der geschichtsträchtigen Nostalgie gegenüber wenig aufgeschlossen, bedeutete sie für ihn bloße Baueinschränkungen und einen Kostenmehraufwand. Für Luksch war nicht nur die historische Komponente ein Witz, genauso die künstlerische. Für dieses Haus überhaupt den Begriff „künstlerisch“ anzuwenden, ist eine Schändung des Namens der Kunst, da sich etwas unkünstlerisches, profaneres und nüchterneres nicht denken lässt.5 Und er musste es schließlich wissen. Er war angesehener Architekt, und die Stadt Baden verdankte ihm unter anderem den Beethoventempel, die Fassade des Herzoghofs, und das Bad in Bad Vöslau ging genauso auf seine Kappe. Als er 1942 starb, widmete ihm die Badener Zeitung einen Nachruf, in 3 4 5
Vgl. StA B, GB 332/Handel u. Märkte II; Fasz. I Marktwesen; Markthalle-Entwurf. Vgl. StA B, GB 340/Baupolizei I; Fasz: III; 1941. StA B, GB 341/Hochbau II; Fasz. III Bauwesen allg.; 1940.
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dem nicht nur ihm gedacht wurde, sondern ausgerechnet auch seinem denkmalgeschützten Haus – wo Beethoven komponiert und der kurzzeitige Napoleon II, besser bekannt als Herzog von Reichstadt, seine Runden gedreht hatte.6 * Der Denkmalschutz konnte zum Problem werden. Ebenso der schnöde Mammon – vor allem wenn er nicht vorhanden war. Denn um die megalomanen Kurgebilde umzusetzen, brauchte die Stadtgemeinde erstens Grund und Boden, zweitens teilweise den „Endsieg“, und drittens Geld. Denn das, was der Bürgermeister und seine Ratsherrn planten, war nicht weniger, als Baden, bis auf den Teil des biedermeierlichen Stadtkerns, ein vollkommen neues architektonisches Gesicht zu geben. Schmids erste Adresse im Jänner 1941 war Gauleiter Hugo Jury. Seine Zeilen beinhalteten eine Mischung aus Schmeichelei, man wäre so froh über Jurys bisheriges Wohlwollen der Kurstadt gegenüber. Angeberei, was man als Stadtgemeinde bisher alles geleistet hatte, und das trotz 13,5 Millionen RM Schulden, Ständestaat, Kollmann usw. Und die Bitte, Baden weiterhin Unterstützung angedeihen zu lassen, damit die zukünftigen Bauvorhaben Wirklichkeit würden. Doch eines war Schmid sehr wichtig, als Schnorrer wollte er nicht dastehen, und er versicherte: Es werden in der Folge alle gegebenen Mittel ausgeschöpft, damit sich Baden als größtes und ergiebigstes Schwefelthermen-Heilbad ehestens an die Seite der Heilbäder im Altreich stellen kann.7 Schmid unterrichtete Gauleiter Jury über die von ihm und seinen Ratsherrn ausgearbeiteten bzw. angedachten Projekte. Den Stausee im Helenental ließ man noch außen vor, aber über den rigorosen Wohnungsbau, den massiven Ausbau von Kureinrichtungen und der Schulinfrastruktur, da hielt man sich nicht hinterm Berg. Und was die Schulen anbelangte, da waren tatsächlich massive Investitionen notwendig, da untragbare Zustände vorgeherrscht hatten. Im Gymnasium Biondekgasse waren 1941 in einigen Klassenzimmern die Holzfensterrahmen dermaßen undicht, dass manche Schüler im Mantel dasitzen mussten, andere hingegen, die neben dem Ofen saßen, klagten über Hitze, schlechte Luft und ständige Müdigkeit.8 Nicht anders soll es im Krankenhaus zugegangen sein. Aber hier hatte man es laut Schmid geschafft, das Haus in einen tadellosen Zustand überzuführen, obwohl man es in einem nicht zu beschreibenden Zustand von der Systemregierung übernommen hätte. Seine volle Aufmerksamkeit erhielt allerdings die Jugend und die HJ. Ihnen überließ er eine schöne Villa mit 14 Räumen, einen Park und einen Sportplatz, der zu den schönsten Sportplätzen Niederdonaus gezählt haben soll. Die Kosten seiner Bauvorhaben, der ganzen Kurhäuser, Leseräume, Festsäle, Bäder usw. bezifferte Schmid in etwa auf 2,5 Millionen RM.9 6 7 8 9
Vgl. BZ Nr. 1 v. 03.01.1942, S. 2. Vgl. NÖLA; Stadt Baden bei Wien, Planungen, K 2. Vgl. GAMAUF: Bitte, damals habe ich gefehlt, S. 237. Vgl. NÖLA; Stadt Baden bei Wien, Planungen, K 2.
Kapitel 21 Pech und Schwefel
Bewohner und Kenner Badens werden wissen, dass von den Prunk- und Protzbauten nichts in die Realität umgesetzt wurde, nicht einmal ein Spatenstich bei den anberaumten Abrissarbeiten wurden gesetzt. Das Josefsbad und Leopoldsbad stehen noch immer an gleicher Stelle, genauso wie die Volksschule am Pfarrplatz. Das Rollettmuseum ist weiterhin im ehemaligen Rathaus der Gemeinde Weikersdorf untergebracht sowie das Gymnasium Frauengasse im ehemaligen Augustinerkloster. Es entstanden keine neuen und modernen Caféhäuser, keine pompösen Prachtbauten, geschweige denn Stauseen oder Großgolfplätze. Es waren Luftschlösser, finanziert vom Geld, das man nicht hatte, und errichtet auf Gründen, über die man nicht verfügte. Wie unterirdisch es um die Gemeindefinanzen stand, bewies auch Stadtrat Blechinger im Mai 1941. Der Umbau der unmöglichen Klosettanlagen in Baden wäre nach Möglichkeit schon während des Krieges zu betreiben. Vielleicht wird es möglich sein, diesbezüglich Hilfe bei der Reichstatthalterei zu finden.10 Man brauchte finanzielle Unterstützung bei der Modernisierung einer Klosettanlage! Grundsätzlich bestand der Eindruck, dass die Reichsstatthalterei jeglichen Fantastereien auf Gemeindeebene einen Riegel vorzuschieben gedachte. Vielmehr sollten sich die Gemeinden auf ihre Finanzen konzentrieren, denn hier sah es mehr als nur besorgniserregend aus. Bei durch den Landrat angeordneten Kontrollen wurden Zustände angetroffen, die auf keinen Fall länger geduldet werden können. In manchen Fällen sind Verbuchungen von Einnahmen und Ausgaben oft durch Monate nicht mehr vorgenommen worden.11 Auf der anderen Seite muss hinzugefügt werden, dass die Pläne der Reichstatthalterei, aus dem Gau Niederdonau das Mustergau des Dritten Reiches schlechthin zu kreieren, mit gleichsam theoretischer Potenz daherkamen, während im Hintergrund die praktische Finanzier- und letztendliche Umsetzbarkeit durch Impotenz brillierte – also gleich ihrer Epigonen auf Gemeindeebene. Die tatsächlich umgesetzten Bauten und modernisierten Institutionen in der Kurstadt während der NS-Zeit waren bescheidener Natur. Am 18. April 1941 wurde die Stadtbücherei in der Renngasse feierlich eröffnet. Neben der Gaubühne sollte die Bücherei einen weiteren Kulturpfeiler der Kurstadt bilden. Anwesend war der Kulturbeauftragte Josef Kraupp, der sich überaus zufrieden zeigte, und er pries die vielen neuen Bücher, die die Badener weltanschaulich und kulturpolitisch auf eine neue Ebene heben würden. Werke wie „Mein Kampf“ und sämtliche Bücher des NSDAP-Chefideologen Alfred Rosenberg sollen ständig vergriffen gewesen sein.12 Einen Monat später, am 23. Mai 1941, eröffnete die Geburtshilfeabteilung, auch Gebärklinik genannt, deren Spatenstich im April 1940 erfolgt war.13 Der Zubau an das bestehende Krankenhaus bot Platz für 30 bis 35 Frauen, um dort sogenannten erbgesunden Nachwuchs zur Welt zu bringen. Die Betonung lag auf „erbgesund“, und die Badener Zei10 11 12 13
StA B, GB 349/Bauamt I; Fasz. III Einzelstücke; 1941. Vgl. NÖLA, BH Baden, II-VIII 1941; Gr. II-5 Allgemein, A 380. Vgl. BZ Nr. 33 v. 23.04.1941, S. 1. Vgl. BZ Nr. 43 v. 28.05.1941, S. 2 und BZ Nr. 1 v. 01.01.1941, S. 5.
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tung machte klar, für den Fortbestand unseres Volkes ist nicht nur die bloße Zahl maßgebend, sondern auch die Güte und Beschaffenheit des einzelnen Menschen. Gerade die Familien mit wertvollem Erbgut müssen gefördert werden, weil sie dem Volk die Führerschicht zu stellen haben. Alles Minderwertige muss von der Fortpflanzung ausgestoßen werden.14 Ob es im Badener Krankenhaus zur Ermordung behinderter Neugeborener kam, lässt sich derzeit nicht genau beantworten. Aber nichts spricht dagegen, da die Morde teilweise dezentral und „nebenbei“ durchgeführt wurden. Über die Morde an Menschen mit Behinderung in Baden werde ich gesondert eingehen. Der Ausbau des Krankenhauses war ein erfreuliches Ereignis. Nichtsdestotrotz machte sich auch beim Medizinpersonal der Mangel bemerkbar. Die Fronten zogen Ärzte und Krankenschwestern ab. Die Wartezeiten nahmen zu, und bei anstehenden Hausbesuchen mussten die Ressourcen Zeit und Treibstoff mit einkalkuliert werden.15 Über lange Wartezeiten klagten weiterhin die Kurgäste in den Kureinrichtungen, wenn das Essen nicht schnell genug auf dem Tisch stand. Die Beschwerden landeten beim Kurbeauftragten, Stadtrat Blechinger, der wiederum im Gemeinderat Bericht erstatten musste. Bei der nichtöffentlichen Sitzung vom 24. Oktober 1941 sprach er über das geplante Forschungsinstitut, unter ausgiebiger Verwendung des Konjunktivs. Die Lieferung von Einrichtungsgegenständen und medizinischen Behelfen, sofern es die Situation erlaubt hätte, wäre möglich gewesen. Fast fertig wäre die Schlammaufbereitungsanlage, und Fortschritte seien bei der Innenausstattung des Herzoghofs und des Mariazellerhofs gemacht worden. Anfänge gäbe es beim Kurmittelhausprojekt.16 Vergleichen wir die städtischen Bauvorhaben vom Jänner 1941 und die Zwischenbilanz Oktober 1941, so war der Output überschaubar. Peinlich berührt mussten Schmid und seine Ratsherren wieder einmal einsehen und eingestehen, dass ihnen in den meisten Fällen die Hände gebunden und sie zu bloßen Befehlsempfängern ohne wirkliche Gestaltungskraft degradiert worden waren. Die allermeisten Vorhaben wurden gestanzt, verschoben oder blieben Skizzen, Modelle und Entwürfe, wie die geplante Mädchen-Oberschule am heutigen Weikersdorferplatz. Die Finanzierung wäre sogar gesichert gewesen, bezahlt hätte es das Reich, aber erst nach dem „Endsieg“ und da wieder frühestens nach fünf Jahren. Dennoch nahm die Träumerei kein Ende, und auf dem Wunschzettel war von gigantischen Sportanlagen und Arenen zu lesen – da der Badener Fußballverein BAC (Badener Athletiksport Club) offenbar ganz gute Ergebnisse lieferte.17 Doch die Machtlosigkeit der Stadtführung und der Umstand, dass sie schon lange nicht mehr das Heft in der Hand hatte, wurden der Kurstadt immer dann am deutlichsten vor Augen geführt, wenn ihr die nächsten Kureinrichtungen abhandenkamen.
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BZ Nr. 55 v. 09.07.1941, S. 2. Zur Bibliothek und Geburtenabteilung. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 28f. Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 348f. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 27f.
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Anfang 1941 schien der Luftwaffe das Sanatorium Gutenbrunn nicht mehr auszureichen. Vielleicht lag es an den zerfetzten Tischtüchern, die im Jahr zuvor beanstandet worden waren oder der hässlichen Führerbüste oder den Wanzen, jedenfalls begann sich die Luftwaffe für den Sauerhof zu interessieren, was für die Kurstadt nichts Gutes bedeutete, und die nächste Hiobsbotschaft ließ nicht lange auf sich warten. Die Stadtgemeinde erfuhr, dass der Peterhof mit seinen 480 Betten nach dem Krieg nicht wie versprochen an die Zivilverwaltung zurückfallen werde, und der Sauerhof mit seinen 150 Betten wurde nun wieder dem RAD versprochen. Schmid tat, was er in solchen Fällen immer tat, er griff zur Feder, schrieb Gauleiter Jury und lamentierte über die kurörtlichen Schäden, die durch die Einquartierungspolitik des Reiches verursacht wurden. Der Kurort würde einen sehr schweren und auf viele, viele Jahre kaum auszugleichenden Schaden erleiden.18 Bereits im März 1938, so Schmids Philippika, hätten staatliche Behörden, das Militär und die verschiedenen Parteistellen der Kurstadt an die 1000 Betten entzogen und sie damit um eine Menge Kurtaxen gebracht. In seinem Schreiben vom Jänner 1941 hatte er sich noch gerühmt, was die Kurstadt trotz der immensen Verschuldung nicht alles geleistet und erreicht hätte. Jetzt verwies er auf dieselben Schulden und darauf, dass die Stadt kein Geld mehr hatte, um neue Kurhäuser zu errichten, um die Verluste an Kurbetten und Fremdenzimmern aufzufangen. Ganz im Gegensatz zur Wehrmacht und der Heeresverwaltung. Die hätten genug finanzielle Ressourcen, um ihre eigenen Kurhäuser zu bauen. Die Kurstadt fiel nicht nur aufgrund der Militärs um ihre Kurtaxe um. Kinder und ihre Mütter aus luftgefährdeten Gebieten waren ebenso davon ausgenommen. Allein hier, so Schmid, hatte die Kurstadt finanzielle Einbußen von 33.600 RM. Dass dafür eine zusätzliche Kurtaxe fällig wurde, wenn Gäste länger als 30 Tage blieben, machte das finanziell marode Kraut auch nicht fett.19 Jury ließ sich wieder erweichen und teilte seine Vorhaben dem Reichminister des Inneren Wilhelm Frick mit, darunter auch, dass diese Absicht auch durch die wiederholten Vorstellungen des Bürgermeisters der Kurstadt – 2 Eingaben sind in Abschrift beigeschlossen – bestimmt [würde].20 Was das Verschwinden von Kurbetten und ganzen Kureinrichtungen anbelangte, bekam in der medialen Berichterstattung nicht die Wehrmacht den Schwarzen Peter zugeschoben, sondern die Industrie, und zwar der die Kurstadt umgebende Industriering. Wieder einmal kamen die umliegenden Orte wie Bad Vöslau, Traiskirchen bzw. das gesamte Triestingtal zum sündenböckischen Handkuss. Durch die vielen Angestellten und Verwaltungsbeamten würden nämlich die Badener Fremdenverkehrsbetriebe als Büros und Wohnungen zweckentfremdet werden und obendrein der Industriering für die Dezimierung des Grüngürtels rund um Baden sorgen. Auf die 1000 verlorenen Betten in Schmids Schreiben an Jury 18 NÖLA; AZ 354 Kuranstalt Sauerhof Peterhof Verwaltungs- u. Pfl. Pers. allg, K1128 – Schmid an Jury (06.01.1941). 19 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1941 und 1942. 20 NÖLA; AZ 354 Kuranstalt Sauerhof Peterhof Verwaltungs u. Pfl. Pers. allg, K1128 – Reichsstatthalterei an Reichsministerium für Inneres (19.03.1941).
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legte die BZ weitere 500 drauf.21 Wie auch immer, im April 1941 ging das Ringen um den Sauerhof munter weiter, und es begann ein ähnliches Spiel wie zuvor beim Peterhof; halbehalbe. Sprich: halb militärische Kuranstalt, halb zivile Kuranstalt. Kurbetten wurden wieder hin- und hergeschoben bzw. ganze Kureinrichtungen wurden hin- und hergeschoben. Im Oktober 1941 versuchte die Verwaltung des Sauerhofs der Wehrmacht den Julienhof am Kaiser Franz-Ring schmackhaft zu machen. Hier war wieder Schmid nicht sonderlich angetan und schlug zuerst andere Realitäten in folgender Reihenfolge vor: Frauenhof, Hotel Grüner Baum und erst dann eventuell den Julienhof, und wenn es wirklich keine andere Möglichkeit mehr gäbe, dann sollte/musste es halt der Sauerhof sein. Hier wiederum spielte der Oberstabsarzt Dr. Hans Szerdotz aus dem Peterhof nicht mit und stufte die vorgeschlagenen Objekte als ungeeignet ein. Er brachte stattdessen den Mariazellerhof ins Spiel, den Schmid aus guten Gründen außen vor gelassen hatte, da er sich in städtischer Hand befand. Hans Szerdotz argumentierte, sich in die Lage der Kurstadt durchaus hineinversetzen zu können, und war sich der etwaigen wirtschaftlichen und kurörtlichen Schäden bewusst. Doch sollte die Stadtgemeinde nicht außer Acht lassen, welch unbezahlbare Werbung es für Baden wäre, weitere Soldaten aufzunehmen. Die Vorteile würden die Nachteile bei weitem überwiegen. Man müsste doch nur eines bedenken: Die Stadtgemeinde Baden werde nach dem Kriege, gerade durch die selbsttätige Propaganda, welche erkrankte Militärangehörige durch ihre Genesung in Baden im ganzen Reiche ausüben, ungeahnte Vorteile herausziehen.22 Man werde der Kurstadt die Türen einrennen. Für Baden hieß es zumindest vorerst zurückstecken, sprich investieren und dann abkassieren. Anders ausgedrückt, es ging um Nachhaltigkeit. Das ganze Herumdoktern und Herumfeilschen um Kurbetten und Kureinrichtungen fand schließlich ein Ende, als die Wehrmacht den ganzen Sauerhof kurzerhand ohne Wenn und Aber beschlagnahmte – sie tolerierte jedoch weiterhin die zivile Nutzung. Es folgte das Johannesbad, und weil man schon dabei war: Den Herzoghof nahm man auch gleich dazu. Mit Letzterem waren auf einen Schlag 905 Betten der kurörtlichen Zivilverwaltung entzogen worden. In der nicht öffentlichen Gemeinderatssitzung vom 17. Dezember 1941 sprach Schmid offen von Beschlagnahmung und dass er sich mit allen ihm gebotenen Mitteln zur Wehr gesetzt habe. Aber wie immer: vergebens.23 * Da Schmid, so wie die Badener Zeitung, nicht offen der Wehrmacht die Schuld für das Ausbleiben von Kurgästen geben konnte – wenn, dann in Briefen an den Gauleiter und selbst hier durch die Blume – und der ominöse Industriering um Baden propagandistisch 21 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 32f. 22 Vgl. NÖLA; AZ 354 Kuranstalt Sauerhof Peterhof Verwaltungs u. Pfl. Pers. allg, K1128 – Anforderung des Sauerhofs durch die Wehrkreisverwaltung (02.10.1941). 23 Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 361.
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zu wenig hergab, konnte man Motorrad- und Autofahrer beschuldigen, die mit ihren Vehikeln eine wahre Lärmplage darstellten und damit den Kurfrieden stören. Blechinger forderte daher im Mai 1941, jetzt schon mit der Aufstellung von Tafeln zu beginnen, die an den Ortseingängen angebracht werden und darauf hinweisen, dass es sich um ein Heilbad handelt und die Motorrad- und Autofahrer auf die Kranken Rücksicht nehmen mögen.24 Oder man konnte die Quartierbetreiber und die Kurgäste an die Kandare nehmen, denn hier soll es zu allerlei Ungereimtheiten, Missständen und damit zu volksschädlichem Verhalten gekommen sein. Spatzen pfiffen von den Dächern, dass illegale Kurverlängerungen schon längst keine Ausnahmen mehr waren. Stadtrat Blechinger mahnte ein, dass eine Kur drei, maximal vier Wochen andauern durfte. Es war strengstens verboten längerfristige Verträge abzuschließen. Des Weiteren war es untersagt, den Kuraufenthalt als gewöhnlichen Erholungsurlaub zu missbrauchen. Die Heilsuchenden hatten absoluten Vorrang. Die Quartierbetreiber, vom Kurhotel bis zur Familienpension, wurden in die Pflicht genommen, die vierwöchige Kur genauestens einzuhalten, und jene Gäste, die schon übermäßig lange hier Aufenthalt genommen haben, aufzufordern, den anderen Kurbedürftigen Platz zu machen. Da aber nicht der Eindruck entstehen sollte, Baden pfeife auf seine Kurgäste, war diese Anordnung so aufzufassen, wie sie eben gemeint ist, und nicht als Unfreundlichkeit der Stadt gegen ihre Gäste.25 Ein weiteres kurschädigendes Verhalten betraf die Zweckentfremdung von Fremdenzimmern. Es hatte sich herauskristallisiert, dass es lukrativer war, Fremdenzimmer als Wohnungen und Büroräume zu vermieten – an den berüchtigten Industriering – als darin Kurgäste einzuquartieren. Mediale Strafandrohungen bis hin zu einem Führererlass waren die Konsequenzen. Darin hieß es, dass ein Schutzwall gegen den in letzter Zeit häufig beobachteten Vorgang der „Zweckentfremdung“ errichtet worden sei. Unmissverständlich heißt es weiter, Hotels und Fremdenheime dürfen nicht mehr zu Umwandlung in Bürohäuser, Gefolgschaftsheime oder private Erholungsstätten veräußert beziehungswiese erworben werden.26 Mit diesem Führererlass war theoretisch der Missbrauch beendet. In der Praxis war jedoch ein Fundament gelegt worden, auf dem gutes Geld zu verdienen war. Da die Zahl der Neuankömmlinge in Baden weiterhin stieg, kann man sich vorstellen, wie das durch die NS-Ideologie verpönte kapitalistische Dogma von Angebot und Nachfrage sowie die dazugehörige freie Preisbildung, in der Kurstadt fröhliche Urständ feierten. Dass trotz aller NS-pseudoantikapitalistischer Rhetorik die allermeisten Volksgenossen der Kurstadt im Stadium eines Homo oeconomicus verharrten, wurde genauso durch die Vorgehensweise der Stadtgemeinde oder der Kurbetriebe augenscheinlich, wenn es hieß, Geld zu sparen oder Gewinne zu lukrieren. Als der Sauerhof im Mai 1941 in seinem Gesellschaftsraum einen Radioapparat aufstellte, stand bereits die Stadtgemeinde mit der Vergnügungssteuer vor der Tür. So wie es aussah, hatte der Sauerhof für die 50 m² Gesellschaftsraum täglich 25 Rpf an den Stadtfiskus zu entrichten – da der Steuersatz pro 10 m² am Tag sich auf 5 Rpf belief. Prompt kam Einspruch aus 24 StA B, GB 349/Bauamt I; Fasz. III Einzelstücke; 1941. 25 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 32f und BZ Nr. 60 v. 26.07.1941, S. 3. 26 Vgl. BZ Nr. 76 v. 20.09.1941, S. 1.
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dem Sauerhof. Weshalb sollte eine Vergnügungssteuer fällig sein, wenn der Radioapparat primär als Nachrichtenempfänger genutzt werde? Von Vergnügen könnte hier keine Rede sein, deswegen dächte man nicht daran, eine Vergnügungssteuer zu entrichten.27 Das Vergnügen während der Kur war wieder ein eigenes Kapitel. Denn es gab gern gesehenes Vergnügen und nicht gern gesehenes Vergnügen. Im Juli 1941 entsandte der Reichsfremdenverkehrsverband einen Schnellbrief an die Bäderreferenten. In letzter Zeit haben sich die Klagen über schlechtes Verhalten einzelner Gäste in Erholungsorten gehäuft. Es handelt sich dabei um Einzelfälle, die – so schwerwiegend sie auch sein mögen – nicht verallgemeinert und zu einer fremdenverkehrsfeindlichen Einstellung Anlass geben dürfen. Umso schärfer müssen aber Einzelexzesse bekämpft und ausgemerzt werden. Dazu gehören insbesondere alkoholische Exzesse und Hamsterkäufe; während der sommerlichen Hauptreisezeit aber auch ungebührlich lange Aufenthalte, die über das normale Erholungsmaß von 3 bis 4 Wochen oder über die im Einzelfall vom Arzt verordnete Kurdauer hinausgehen. Statt Schwefel und Schlammpackungen gönnten sich manche Kurgäste einen Rausch und deckten sich mit Waren frisch vom Schwarzmarkt ein. Für die Obrigkeit war dieses HalliGalli eindeutig Verrat und undeutsches Verhalten. Dem Schnellbrief war ein Rundschreiben beigefügt, das den Kurgästen ins Gewissen reden sollte. An unsere Gäste! Wer sich in einem Erholungsort aufhält, muss immer daran denken, dass sich Deutschland im schwersten Kampf um seine Lebensrechte befindet. Er muss sich stets so verhalten, dass er sich vor den Soldaten an der Front nicht zu schämen braucht.28 Solche Propagandafloskeln laden förmlich ein, sich der Polemik hinzugeben. Man stelle sich vor, wie Wehrmachtssoldaten irgendwo in Russland an der Front, im Winter, ohne ausreichende Winterausrüstung und in ständiger Lebensgefahr, sich über das Trinkverhalten mancher Kurgäste in Baden echauffierten. Solche Propagandaphrasen sind Gebilde der Theorie, und da ist bekanntlich alles möglich. So wie der Aufruf an den Reichsbund der Körperbehinderten (RBK), körperbehinderte Menschen stärker in den Arbeitsprozess einzubinden. Durch Prothesen und Sportkurse wurden die gebrechlichen Körper dermaßen auf Vordermann gebracht, dass diese Menschen wertvolle Arbeit zu leisten im Stande waren.29 Offenbar gingen selbst die Frauen aus, die die eingerückten Männer ersetzten. Der Krieg brachte es mit sich, dass sämtliche Reserven mobilisiert werden mussten, egal wie der Körper beschaffen war. Baden als Kurstadt war dafür ideal. Der heilsuchende und kurbedürftige Mensch sollte hier genesen, Körper und Geist sollten Heilung und Erholung erfahren, um anschließend möglichst schnell wieder dem Arbeitsprozess zugeführt zu werden bzw. kriegswirtschaftliche Verwendung zu finden. Die Lazarette und Kurhäuser wurden dadurch zu Reparaturfabriken beschädigten Menschenmaterials. So eine mechanistische Welt war das NS-gesellschaftliche Endziel – totale Planbarkeit, totale Kontrolle, totale Überwachungen. Die 27 Vgl. NÖLA; AZ 354–1 Kuranstalt Sauerhof Peterhof, Haushalt u. Finanzen, K1128. 28 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1941. 29 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 7.
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hinter dieser Theorie stehende Bürokratie existierte bereits – all die Parteistellen und Gliederungen, die die Gesellschaft durchdrangen. Spannend wurde es dann, wenn die bürokratische NS-Maschinerie mit Unvorhergesehenem konfrontiert wurde. So geschehen im Sommer 1941, als im Strandbad Baden der Meisterspringer James aus Wien erschien. Der Bademeister war vor den Kopf gestoßen, denn bei dem Meisterspringer James handelte es sich laut der NS-Rassenlehre um einen „Negermischling“. Nach anfänglichem Zögern gewährte man ihm den Einlass, da der Mann eine Bewilligung vorweisen konnte, die durch seine arischen Begleiter verifiziert wurde. Misstrauisch und pflichtbewusst meldete es der Bademeister dennoch bei der zuständigen Ortsgruppenleitung, die gleich darauf Bürgermeister Schmid aufsuchte. Man wollte wissen, darf ein „Negermischling“ überhaupt ins Strandbad? Und wer besaß die Befugnis, so eine Bewilligung auszustellen? Bürgermeister Schmid war überfragt und leitete die Angelegenheit an die Kreisleitung. Sicherheitshalber schrieb er den Namen James in Lautschrift, also „Tschems“, nieder, damit ein jeder wusste, wie man ihn aussprach. Der Kreisleiter war ebenso perplex und konnte sich keinen Reim darauf machen. So etwas überschritt eindeutig seinen Kompetenzbereich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die nächste Instanz zu bemühen, die Gauleitung. Hier war man genauso ratlos. Von einer Bewilligung solcher Art hatte man noch nie etwas gehört, geschweige denn eine ausgestellt. Wenn, dann hatte das Sippenamt in Wien etwas damit zu tun. Und so landete der Meisterspringer James auf den dortigen Schreibtischen. Aber auch hier Fehlanzeige. Die Ahnungslosigkeit im Sippenamt wurde der Gauleitung mitgeteilt, diese reichte es an den Kreisleiter weiter, der an den Badener Bürgermeister – in der Zwischenzeit hatte der Meisterspringer James dem Strandbad weitere Besuche abgestattet. Für den Bademeister, ganz unten in der bürokratischen Nahrungskette, gab es nur den Ratschlag, beim nächsten Mal die Polizei zu verständigen. Doch es sollte kein nächstes Mal mehr geben, denn der Meisterspringer James ward danach in Baden nie mehr wieder gesehen.30 Zeit für ein Kurresümee. 1941 hatte Baden im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs von 1.400 Kurgästen, und die Bäderbesuche stiegen von 11.645 auf 12.138. Die Badener Zeitung lobte den unermüdlichen Einsatz aller Beteiligten, hob die kriegsbedingten Herausforderungen hervor und verschwieg nicht einmal mehr den Personalmangel in den Kurbetrieben und dass dadurch die Wartezeiten gefühlt elendslang dauerten. Nicht dass es unmöglich gewesen wäre, realitätsferne Artikel voller Kurherrlichkeit abzudrucken, aber offenbar war der Schlamassel zu offensichtlich, als dass man ihn verschweigen oder propagandistisch zurechtbiegen hätte können. Das Ungemach kam näher, und nichts verdeutlichte dies besser, als dass im Mai 1941 die Fremdenlisten aufgrund des Papiermangels eingestellt werden mussten.31 Dabei handelte es sich um eine Publikationsreihe, die in der guten alten Biedermeierzeit ihren Anfang genommen, als noch der gute alte Kaiser Franz in Baden zur Kur geweilt hatte. Kein Ende wollte hingegen der Mangel nehmen. 30 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilung: James. 31 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 32f und Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 345–349.
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* Weiterhin ungelöst war die Wohnungsnot, und die Stadtbevölkerung wuchs unaufhörlich durch Zuzug. 1939 waren es 22.981 ständige Bewohner, und Ende 1941 bereits 28.542.32 Das Elend der Wohnungslosen und jener Menschen, die in wohnkonformwidrigen Umständen leben mussten, nahm zu. Doch zu Anfang des Jahres – ein kleiner Hoffnungsschimmer am Firmament. Am 31. Jänner 1941 erklärte Reichstatthalter Hugo Jury die Stadt Baden zum Wohnsiedlungsgebiet. Im Endeffekt bedeutete dies, dass Teilungen, Übertragungen oder Bebauungen von Grundstücken, die Vergabe von Nutzungsrechten an andere Volksgenossen usw. der Bewilligung des Landesrats bedurften. Es wurde an der Reglementierung und Bürokratisierung geschraubt. Nichtsdestotrotz hieß es, die Kurstadt wäre verpflichtet, einen exakten Wohnungsbau-Wirtschaftsplan auszuarbeiten.33 Aber selbst wenn die Geschichte zu Gunsten des NS-Staates sich gestaltet hätte, der Hoffnung Schmids, sich nach dem Sieg als Bau-Tycoon einen Namen zu machen, wurde schon im Februar 1941 durch die Reichsstatthalterei eine Absage erteilt. Die Gemeinden werden voraussichtlich bei den nach dem Kriege durchzuführenden großen Siedlungs- und Wohnungsbauten weitgehende Aufgaben zur Miterledigung erhalten. […] jedoch gehört es nicht zu ihren Aufgaben, Grundstücke zu bebauen oder bebaute Grundstücke zu erwerben, um darin einzelne private Wohnungssuchende unterzubringen.34 Schmid blieb nichts anderes übrig, als zumindest weitere Maßnahmen aus den neuen Bebauungsvorschriften, wie die Vorgabe, bei Neubauten vorrangig Baulücken zu schließen, unters Volk zu bringen. Ein verstreutes Bauen war nicht mehr erlaubt, und selbst Dachneigungen waren nicht mehr frei wählbar, sondern wurden vorgegeben.35 Damit die Thematik nicht gar so trocken und technisch daherkomme, führte Landrat Wohlrab liebliche und anschauliche Beispiele ins Feld. Keine Müllberge oder Schutthaufen, gepflegte Straßen, keine aufdringlichen Reklametafeln, stattdessen herausgeputzte und tadellose geschichtliche und kulturelle Denkmäler, sowohl liebevoll gepflegte Parkanlagen als auch Fensterblumen, aber auch die Gaststätten des Dorfes sollen den Charakter der Landschaft offenbaren und frei jedem Kitsch eine echte Dorfgastlichkeit zum Ausdruck bringen. Wohlrab wusste, dass nichts von heute auf morgen passieren werde, außerdem war Krieg, aber zumindest die Planungen könnten bereits in Angriff genommen werden. Es ist jeden Bürgermeisters Pflicht, unter Mithilfe seiner Gemeindebewohner und unter Aufwand größerer oder kleinerer Geldbeträge die Ortschaft so schön wie möglich zu gestalten, damit jeder Volksgenosse mit Recht sein Dorf liebt und stolz darauf ist.36 Das heißt, wir hatten neue Vorgaben, Regelungen, Verordnungen und Imaginationen, aber gebaut wurde noch immer nichts – stattdessen wie schon im Vorjahr und Vorvorjahr ausgiebig theoretisiert. 32 33 34 35 36
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 26. Vgl. StA B, GB 340/Baupolizei I; Fasz: III; 1941 und BZ Nr. 14 v. 15.02.1941, S. 8. Vgl. NÖLA, BH Baden, II-VIII 1941; Gr. II-5 Allgemein, A 205. Vgl. BZ Nr. 18 v. 01.03.1941, S. 8. StA B, GB 349/Bauamt I; Fasz. III Einzelstücke; 1941.
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Etwas konkreter wurde es mit der zur Deutschen Arbeiterfront (DAF) gehörenden Wohnbau- und Siedlungsgenossenschaft „Neue Heimat“, die auf Reichskosten 80 neue Volkswohnungen in Baden zu errichten gedachte. Ein Deal, den Schmid nach zähen Verhandlungen mit Berlin nach Hause brachte. Doch der Erfolg war ein Teilerfolg, die Krux an dem Ganzen lag in dem Spruch: Wer zahlt schafft an. Da die Reichshauptstadt zahlte, hatte die Kurstadt kein Mitspracherecht bei der Vergabe der 80 Volkswohnungen. Um dem zu begegnen, plante Schmid, eine eigene Wohn- und Siedlungsgesellschaft ins Leben zu rufen bzw. kam es zu Verhandlungen mit der ansässigen Gesellschaft „Heimstätte Donauland“. Die Vorgehensweise war die gleiche wie die Jahre zuvor: Die Gemeinde kauft Gründe, die Gesellschaft baut darauf. Heinrich Doblhoff-Dier, als Badener Großgrundbesitzer, trat als Verkaufspartner der Kurstadt auf den Plan.37 Im Juni 1941 kaufte ihm die Gemeinde fast fünf Hektar Grund ab, und einen Monat später gab es sogar eine unentgeltliche Grundund Bodenspende – ein Verbindungsweg in der Sandwirtgasse.38 Doch im September 1941 entpuppte sich Schmids Teilerfolg als gänzlicher Misserfolg. In der nicht öffentlichen Ratsherrnsitzung vom 16. September 1941 musste Schmid eingestehen, dass kriegsbedingt Berlin leider doch keine 80 Volkswohnungen beisteuern könnte. Eventuell nach dem Krieg. Da auch in dieser Situation Schmid nicht der Wehrmacht, dem Krieg oder Berlin die Schuld geben konnte, musste erneut die Industrie samt ihren Angestellten herhalten. Nicht nur, dass die Firmen ihr Personal illegalerweise in Sommerwohnungen unterbrächten, Schmid sah schon die Rauchschwanden aus den Industrieschloten über der Kurstadt aufsteigen. Baden war in Gefahr. Seiner Ansicht nach müssten alle Anstrengungen gemacht werden, um eine weitere Industrialisierung zu verhindern.39 Wie das gehen sollte? Angeblich gab es bereits einen Führererlass, der das alles unterbinden würde. Schmid führte weiterhin entschlossen seinen Kampf gegen den Industriering und gegen aufmüpfige Vermieter. Im Mai 1941 ließ er anordnen, dass frei werdender Wohnraum nur mehr an Personen vermietet werden durfte, die bei der Gemeinde als wohnungssuchend gemeldet waren. Sollte sich der Vermieter nicht entscheiden können, wurde ihm nach zwei Wochen jemand zugewiesen.40 Welche Konsequenzen das mit sich brachte, illustriert der Fall Sophie Wasilewski. Ihren Status bezeichnete sie als politischer Flüchtling. Als Deutschstämmige aus Polen hatte sich ihr Ehemann für das Deutschtum vor Ort eingesetzt und war deswegen im Februar 1941, wie sie es formulierte, durch polnische Chauvinisten ermordet worden. Versetzt in Angst und Schrecken, flüchtete sie gemeinsam mit ihrem Sohn in die Ostmark. Sie versicherte Wohlrab, niemandem zur Last zu fallen, da sie vermögend sei und den Aufenthalt aus eigener Tasche finanzieren zu können. Außerdem würde ihr ein befreundetes Ehepaar 37 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 26f. 38 Vgl. NÖLA, BH Baden, IX/113 Aktenübersicht 1 (ONr 501–E) – IX/132 1941; IX-113 und BH Baden, X/141 1940; 291. 39 Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 331. 40 Vgl. BZ Nr. 44/45 v. 31.05.1941, S. 8.
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eine Dreizimmerwohnung vermieten. Was sie bräuchte, war bloß eine Aufenthaltsgenehmigung. Wohlrab leitete das Ansuchen an Schmid weiter, doch dieser argumentierte mit der Warteliste, auf der bereits über 3000 Namen verzeichnet waren. Ein Vordrängen gab es nicht. Übereinkünfte zwischen Vermieter und Mieter ohne den Segen der Gemeinde rochen nach Verrat. Eventuell ein Zimmer zur Untermiete hätte Schmid gerade noch organisieren können. Von der Zuweisung einer Wohnung kann längere Zeit keine Rede sein.41 Es hieß warten, geduldig warten. Und wer ungeduldig wurde, dem drohte die Streichung von der Warteliste. Im September 1941 schrieb Karl Wilhelm Henn aus Bad Vöslau an den Bürgermeister von Baden. Wenn wir Ihre, in Anbetracht der Verschlechterung der Wohnungsverhältnisse, geschaffene Lage, voll zu würdigen wissen, müssen wir jedoch unbedingt bitten, die Streichung aus der Wohnungsliste zu unterlassen, da wir diese Streichung leider nicht zur Kenntnis nehmen können. Gegenfalls müssten Sie dieses Schreiben, wenn nötig als Beschwerde betrachten und dem Landrat zwecks Entscheidung vorlegen.42 Schmid, pikiert durch das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen seines bürgermeisterlichen Verdikts, wandte sich selbst an Landrat Wohlrab, um sich seiner Rechte der Ansuchensabweisung und Listenstreichung zu vergewissern. Schlecht sah es für Schmid nicht aus, denn Karl Wilhelm Henn verfügte in Bad Vöslau über eine Bleibe, demnach gab es keinen Grund, um nach Baden zu übersiedeln, und ein offizielles Beschwerderecht gab es im NS-Staat dahingehend schon gar nicht. Mit dem Wohnungsamt und dessen Leiter Hans Löw hatte Schmid einen engen Vertrauten an seiner Seite, um gegen widerspenstige Vermieter vorzugehen. Als Löw im November 1941 zu Ohren kam, in der Marchetstraße 51 gäbe es drei unbewohnte Kabinette, die laut dem Vermieter unbewohnbar wären, musste dem selbstverständlich nachgegangen werden. Ebenso in der Haidhofstraße 22 hieß es von Seiten der Vermieterin, unbewohnbar, doch die nur vier Tage später stattfindende Begehung ergab etwas anderes.43 Was in der Sache des Wohnungsmangels kaum zu Sprache kam, war, dass die NSDAP sowie die Stadt- und Bezirksverwaltung ebenso ihren Raum brauchten. Allein der Landrat Baden hatte seine Dienststellen in der Braitnerstraße 26, am Kaiser Franz-Ring 9, in der Theresiengasse 10 und am Hötzendorf-Platz 6. Weiters haben wir das Forstamt der Reichsforstverwaltung (Holz-Rechenplatz 1), das Arbeitsamt (Leesdorfer Hauptstraße 8), das Wehrbezirkskommando (Helenenstraße 1), das Wehrmeldeamt (Christallniggasse 7), den Gendarmerieposten (Bahngasse 14), die Landstraßenaufsicht (Vöslauerstraße 50), das Katasteramt (Hötzendorf-Platz 8), das Steueramt (Renngasse 11), das Städt. Fürsorgeamt (Boldrinigasse 1), die Kartenstelle (Theresiengasse 10), die Kurverwaltung (Kaiser FranzRing 7), das Reichsarbeitsdienst-Meldeamt (Helenenstraße 6) oder das Deutsche Rote Kreuz (Kaiser Franz-Ring 11). Und dann haben wir noch die NSDAP-Dienststellen und deren 41 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Wasilewski Sophie (geb. 1912) – Schmid an Wohlrab (18.09.1941). 42 NÖLA, BH Baden, X–XIII (1941), II – XIII (1942); XIII 195–208, 1941. 43 StA B, GB 341/Hochbau III; Amtsberichte an das Wohnungsamt; 1941 – Marchetstraße 51 u. Haidhofstraße 22.
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Gliederungen. Allein die Kreisebene bestand aus der Kreisleitung (Strasserngasse 6), der Kreiswaltung der NSV (Wassergasse 31), der Kreiswaltung der DAF (Weilburgstraße 1), der Kreisdienststelle KdF (Weilburgstraße 1), dem HJ-Bann 511 (Rainergasse 7), der SAStandarte 84 (Weilburgstraße 18), der Kreisbauernschaft (Germergasse 15), der Kreishandwerkerschaft (Adolf-Hitler-Platz 12).44 Hinzu kamen die Dienststellen der einzelnen Ortsgruppen von I bis III und deren jeweiligen Gliederungen wie NSV, NSF, DAF usw. Was die Wohnsituation beträchtlich verschärfte, war nicht nur der Mangel an Wohnraum, sondern auch die katastrophalen Zustände, in der sich manche Wohnungen befanden – auch hier gab es keine nennenswerten Verbesserungen im Vergleich zum Vorjahr. Und das, obwohl das Wohnungsamt und dessen Leiter Hans Löw sicher nicht die Arbeit scheuten. Allein im Jahr 1941 gab es fast hundert Eintragungen im Erhebungsbericht in Sachen Wohnungsgebrechen und deren Instandsetzung. Zu vermietende Wohnungen, freie Zimmer, leerstehende Räumlichkeiten aller Art wurden überprüft und wenn möglich der Vermietung zugeführt. Dabei stoßen wir auf „Wohnungen“ wie in der Wassergasse 5, mit einer ein Meter breiten Küche, ohne Fenster, alles eineinhalb Meter unter dem Erdniveau gelegen, zugänglich durch eine schlecht schließende Glastür, umschlossen mit einem vollkommen durchnässten Mauergewölbe. In solchen Zuständen wohnten Menschen, und das war bei weitem kein Einzelfall. In der Vöslauerstraße 48 haben wir eine Wohnung, die zuvor ein Kleintierstall gewesen sein soll. Kein Rauchfang, nur ein Blechrohr, wo der Wind den Qualm jedes Mal zurück in die Wohnung blies, eine Brettertür ohne Schloss und Drücker, vermorschte Wände, eine verfaulte Schindeldecke, durch die es durchregnete und die aufgrund ihrer Einsturzgefahr nicht einmal eine ordentliche Begehung zuließ. In dieser „Wohnung“ lebte die 68-jährige Marie Kernitz. In manchen Fällen erübrigte sich selbst eine notdürftige Sanierung, wie bei einem mit Dachpappe gedeckten Häuschen mitten im Weingarten, ohne Wasseranschluss und Kanalisation. Dem Bauamt war eine Instandsetzung zu teuer, man nahm davon Abstand. Dass es angedacht war, dieses Objekt überhaupt einer Vermietung zuzuführen, verdeutlicht allein die gesamte Notlage. Bei einem Haus in der Walterdorferstraße 26 bestand sogar Gefahr in Verzug für die dort lebende alleinerziehende Mutter und ihre Tochter. Die Mauern zeigen in den Ecken meterlange Sprünge und es ist eigentlich nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass bisher ein Einsturz nicht erfolgte.45 Katastrophal war ebenso die Situation für Josef Frank, wohnhaft Kaiser Franz-Ring 42. Die Wände bei ihm waren dermaßen nass, dass sie nur mehr einen muffig-feuchten Geruch absonderten, seine Frau bereits über Kopfschmerzen und sonstige Unpässlichkeiten klagte, und noch dazu waren sie beide Eltern eines sieben Monate alten Kindes. Die Familie bat um eine neue Wohnung. Doch zuerst mussten ihre Angaben auf Richtigkeit überprüft 44 Vgl. Amts-Blatt des Landrates des Kreises Baden 67. Jahrgang. 1941, S. 40. Aufliegend im StA B, Z4/1940/1941. 45 StA B, GB 341/Hochbau III; Amtsberichte an das Wohnungsamt; 1941 – Walterdorferstraße 26 (28.03.1941).
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werden. Bei der Begehung, die diesmal zweieinhalb Monate auf sich warten ließ – während, wenn es um ungenutzten Wohnraum ging, das Wohnungsamt innerhalb weniger Tage zu Stelle war – konnte man zwar feststellen, dass die Wände bis auf eine Höhe von einem Meter vierzig durch die aufsteigende Grundfeuchte nass waren, aber dass das ein Grund wäre, die Wohnung als nicht bewohnbar einzustufen, diese Ansicht teilte man nicht. Eine Holzverschalung auf die ein Meter vierzig und fertig. Kostenfaktor 130 RM, und das Zimmer ist für Wohnzwecke geeignet.46 Bei den allermeisten Begehungen und Überprüfungen waren Feuchtigkeit und Schimmel das größte Problem. Am Ende stellte sich immer die Frage, wer musste es sanieren und wer dafür bezahlen. In der Franz Gehrer-Straße 33 gab man dem Besitzer zum Beispiel vier Monate Zeit, um den bis auf zwei Meter feuchten Putz abzuschlagen und einen Luftkanal einzubauen. Ansonsten würde die Gemeinde einschreiten und auf die Sanierungskosten noch eine Strafzahlung draufschlagen.47 Während sich die Gemeinde auf der Mikroebene in Schimmelsporen und Nässe verstrickte, hatte man auf der Makroebene wohnbautechnisch wieder einmal Pech. Im Dezember 1941 platzte Schmids nächster Traum vom Bau-Mogul-Dasein. Schmids Vorhaben, eine eigene gemeindenahe Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft zu gründen, musste ad acta gelegt werden. Alle Vorarbeiten hierfür seien bereits erledigt gewesen. Doch wieder stellte sich Berlin quer. Der Reichskommissar für den sozialen Wohnungsbau stehe nämlich auf dem Standpunkt, neue gemeinnützige Bauträger bis auf weiteres nicht zuzulassen.48 Schützenhilfe bekam der Reichskommissar vom Generalbeauftragten Fritz Todt, dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition. Dieser verwies auf den bestehenden Zementmangel, der durch den Kohlemangel schlagend wurde. Gemeinden mit über 20.000 Einwohnern mussten dies stets im Hinterkopf behalten. Kohle als Energieträger war für die Zementerzeugung entscheidend – weniger Kohle, weniger Zement, weniger Bauten.49 Somit gab es für Schmid weder den Sanctus von oben, noch genug Geld oder ausreichend Ressourcen, um jedem Badener Volksgenossen ein Dach über dem Kopf zu spendieren. Doch Schmid war, wie so oft, weit davon entfernt, die Flinte ins Korn zu werfen, und strotzte stattdessen nur so vor neuen Ideen. Die schon bestehende gemeinnützige Wohngenossenschaft in Baden sollte mit Gemeindekapital vollgepumpt werden, sodass die Genossenschaft nach dem Krieg ohne finanzielle Engpässe mit Vollgas Wohnungen aus dem Badener Boden stampfen könnte. Die ersten Hürden waren bereits genommen. Die Genossenschaft hatte ihre Statuten geändert, der Einfluss der öffentlichen Hand war nunmehr statutenkonform. In einer außerordentlichen Generalversammlung wurde Schmid Obmann des Vorstandes, und sein Intimus Brandstetter wurde zum Vorsitzenden des Auf-
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Ebd. – Kaiser Franz-Ring 42 (27.11.1941), Josef Franz (geb. 1913). Vgl. NÖLA, BH Baden, X/138 – XIII (1943), V/50 (1944); X 141 – 1943. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 379. Vgl. StA B, GB 349/Bauamt I; Fasz. III Einzelstücke; 1941.
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sichtsrates „gewählt“.50 Offenbar war in Ausnahmefällen eine Wahl nicht verpönt. Ansonsten wurde man stets nur ernannt, weil dem Wählen so etwas Demokratisch-Parlamentarisches anhaftete – und diese Zeiten waren schließlich Gott sei Dank vorüber. Während die einen also zu Obmännern und Vorstandsvorsitzenden aufstiegen, mussten die meisten Badener andere Wege beschreiten, um den kriegsbedingten Wohnraummangel und sonstige Krisen zu meistern. Denn, Sie können es sich bereits denken, liebe Leser oder Leserinnen, die Ernährungslage und alles, was damit zusammenhing, lagen 1941 genauso im Argen. Wobei – hier muss differenziert werden. Nicht an allem gab es einen eklatanten Mangel. Was Schweine anbelangte, war die Kurstadt sehr gut aufgestellt. Die Schweinemast schien zu florieren. Das von der NS-Volkswohlfahrt ins Leben gerufene Ernährungshilfswerk, finanziert und ausgebaut von der Stadtgemeinde, betrieb am Schafflerhof eine Schweinemast, die aus 197 Schweinen 16 Tonnen Fleisch herausholte. Die schlachtreifen Tiere wurden nach ihrer Mästung an die Fleischverteiler zu einem vorgeschriebenen Preis verteilt, um von dort an die Haushalte verkauft zu werden. Eine weitere Idee, den Fleischkonsum zu sichern, war die Einbehaltung aller in der Umgebung Badens erlegten Wildtiere. Schmids Idee ging an den Landrat, von dort an die Reichsstatthalterei, die sich allerdings querlegte. 25 Prozent des geschossenen Wildes stünden der Stadt von Rechts wegen zu, und dabei sollte es bleiben.51 Um nichts dem Verderb preiszugeben, wurden zusätzlich Fleischbetriebe, genauso wie Sanatorien, Heil- und Pflegeanstalten, Speisehäuser und Hotels dazu verpflichtet, Fettabscheider einzubauen. Dem Wirtschaftsamt in der Theresiengasse 10 war bis zum 20. Oktober 1941 Bericht zu erstatten. Die Fettrückgewinnung war mehr als nötig, und mit der Zeit wurden immer mehr Betriebe dazu verpflichtet. Ab täglich 800 ausgegebenen warmen Portionen musste ein Fettabscheider her. Für Knochenkochereien, Darmzubereitungsanstalten und Transiedereien war er sowieso verpflichtend.52 Weiterhin nicht zu leugnen waren die massiven Probleme bei der Versorgung mit frischem Obst. Im Juni 1941, in einer nicht öffentlichen Gemeinderatssitzung, waren die Klagen im Ratssaal nicht zu überhören. Bemängelt wurde, dass es keine zentrale Lenkung gäbe, dass der Schleichhandel auf diesem Gebiet floriere und aufgrund des Personalmangels bei der Exekutive ein effektives Gegensteuern nicht möglich sei.53 Die Schuldfrage wurde ausgelagert, der Sündenbock saß wieder in Wien, denn dort, in den Sammel- und Verteilerstellen, musste es irgendwen geben, der es auf die Kurstadt abgesehen hatte und sie ständig bei der Obstbelieferung außen vor ließ. Um dem aus eigener Kraft entgegenzuwirken, packte Schmid die Badener Weinhauer bei ihrem karitativen Gewissen. Um die Versorgung der Bevölkerung mit Weintrauben zu garantieren, wurden die Weinhauer um eine Gabe gebeten, damit sich wenigstens für jede Badener Familie ein Kilo Weintrauben ausgehe. Theoretisch 50 51 52 53
Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 379. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 15. Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. I Ernährung; Fettabscheider. Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 320.
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wäre das in Summe an die 8000 Kilo Weintrauben gewesen. Praktisch kamen nur 1730 Kilo zusammen. Schmid war über das asoziale Verhalten empört. Wofür hatte er jahrelang Gemeinnutz vor Eigennutz gepredigt? Offenbar hatten zudem die kleineren Weinhauer mehr hergegeben als die Badener Platzhirsche. Schmid konnte solch volksschädliche Umtriebe nicht ungestraft durchgehen lassen und drohte beim nächsten Mal mit öffentlicher Anprangerung.54 Vernaderung und eine Neiddebatte waren in solchen Situationen schnell bei der Hand, und Schmid war hier in seinem Element. Er als Vertreter der kleinen Volksgenossen – zugleich als Obmann, Vorstand, Aufsichtsrat, Mitglied in verschiedensten Genossenschaften, Gesellschaften, Gremien, Banken, Casino usw. – gegen die Bonzen da oben, gegen den Industriering, gegen die Wiener oder die örtlichen Großgrundweinhauer. Neben drakonischen Strafandrohungen folgten die üblichen Ratschläge bezüglich Sparsamkeit, um dadurch den Mangel effektiv auszumerzen. An die Frauen gerichtet, empfahl bzw. befahl die Badener Zeitung auch im Jahre 1941, Schuhe schonend zu tragen, Kleidung schonend zu waschen und Speisen richtig zu kochen, was gleichbedeutend war mit sparsamem Kochen.55 Das war auch bitter nötig, denn der Gürtel musste enger geschnallt werden. Regelmäßig verlautbarte der Landrat, dass die Tauschwerte der Essensmarken oder anderer Bezugsscheine nach unten korrigiert werden mussten. Abschnitt 38 der rosa Nährmittelkarte, betreffend die Mehlzuteilung, war im März 1941 nicht mehr 750 g Mehl wert, sondern betrug nur mehr 500 g Mehl. Ausnahmen galten für Schwerarbeiter.56 Um etwas Liberalismus ins Spiel zu bringen, war es möglich, als die Einmachsaison vor der Tür stand, Brotkarten gegen Zuckerkarten einzutauschen.57 Getauscht werden konnte auch Ersatzkaffee gegen Bohnenkaffee, allerdings im Verhältnis 125 g zu 60 g – außer für Zivil- und Kriegsgefangene, denen stand überhaupt kein Bohnenkaffee zu.58 Doch selbst wenn die Hausfrau alle Kochratschläge exakt befolgt hätte, war dennoch alles für die Fische, wenn kein Gas aus der Gasleitung strömte. Josef Brandstetter, als Referent der im Jahr zuvor gegründeten Badener Stadtwerke – jenes Konstrukt, das die Badener mit Gas und Wasser optimal zu versorgen hatte – musste eingestehen, dass die Gasversorgung nicht gesichert war. Die Gasanlage galt als veraltet und überlastet. Ein Ausbau war geplant – nach dem „Endsieg“ natürlich. Bis dahin riet Brandstetter den aufgebrachten Hausfrauen, die ständig bei ihm insistiert haben sollen, weil sie ihre Mittagessen nicht fertigkochen konnten, Gas ausschließlich zum Kochen zu verwenden und nicht zum Heizen. Demnach waren die Hausfrauen selbst schuld an der ganzen Misere, weil sie nicht in der Lage waren, mit dem Gas sparsam umzugehen.59 Doch Obacht, mit Kohle durfte man auch nicht urassen, weil hier auch ein Mangel vorherrschte. Schließlich brauchte man Kohle für die Zementherstellung – wo ja genauso gespart werden musste. Von seiner sparsamen Seite 54 55 56 57 58 59
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 15. Vgl. ebd. S. 6. Vgl. BZ Nr. 19 v. 05.03.1941, S. 4. Vgl. BZ Nr. 55 v. 09.07.1941, S. 5. Vgl. BZ Nr. 84 v. 18.10.1941, S. 3. Vgl. BZ Nr. 92 v. 15.11.1941, S. 2.
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zeigte sich auch Bürgermeister Schmid. Als im September 1941 Ratsherr Bergauer bezüglich etwaiger Ersatzkandidaten für die eingerückten Ratskollegen im Rathaus nachfragte, entgegnete Schmid, dass er nicht daran denke, während des Krieges größere Veränderungen vorzunehmen.60 Schmid hätte sicherlich gerne mehr Personal zu Verfügung gehabt. Das zuzugeben war natürlich nicht möglich. In solchen Fällen wurden NS-Floskeln bemüht, wie, dass ein jeder, auch die Ratsherren, ein Opfer, etwa ein erhöhtes Arbeitspensum, erbringen müssten, in diesem dem Deutschen Reich aufgezwungenen Schicksalskampf. Den Rotstift anzusetzen, da kam man auch eine Ebene höher, im Landrat, nicht umhin. April 1941 wurde das „Amtsblatt des Landrates“ eingestellt. Die neue und ausschließliche mediale Plattform wurde die Badener Zeitung, die nun sämtliche Vorschreibungen publizieren musste. Die Einstellung war, wie bei den Kurlisten, dem Papiermangel geschuldet. Für die BZ war es nach außen ein weiterer Gunsterweis der Obrigkeit und eine zusätzliche Ehre, sich in den Dienst der NS-Verwaltung stellen zu dürfen. In Wirklichkeit gingen die Vorschreibungen des Landrats auf Kosten des Inseratenteils. Damit gingen dem Lokalblatt Einnahmen flöten. Denn aufgrund des Papiermangels konnte die BZ keine zusätzlichen Seiten drucken, um wieder Platz für Inseratsschaltungen zur Verfügung zu stellen.61 Dafür waren die Leser sogleich informiert, dass bis spätestens 30. Juni 1941 sämtliche in Privatbesitz befindlichen Fahrräder zu melden waren oder dass Fahrzeugbesitzer, deren Fahrzeuge noch kein Kennzeichen besaßen, sich bei der zuständigen Wehrersatzinspektion melden mussten.62 Einer Meldung folgte oftmals die Konfiskation. Eines durfte jedoch bei aller geratenen Sparsamkeit nicht vergessen werden; was das Spenden anbelangte, da sollten die volksgemeinschaftlichen Geldbörsen locker sitzen. Wie die Jahre davor schepperten die Spendenbüchsen erneut durch die Straßen der Kurstadt. Traditionell eröffnete das Winterhilfswerk (WHW) – bzw. 1941 war es bereits das 2. Kriegswinterhilfswerk (KWHW) – den Sammelreigen. Diesmal wollten die Betreiber etwas mehr Lokalkolorit in die Sache bringen. Den Spendenausweis schmückten Bilder von seltenen Vögeln des Neusiedler Sees. Im Februar waren es hingegen Tierkreiszeichen, und die Sicherheitskräfte, als sie am „Tag der deutschen Polizei“ durch die Straßen prozessierten, verteilten Anstecker in Form von Verkehrszeichen. Der ganze Tag hatte Volksfestcharakter. Jung und Alt bestaunten exotische Lamas, und Kinder ritten auf Ponys und Kamelen – zur Verfügung gestellt von dem in Baden überwinternden Zirkus Helene Hoppe. Dabei dürfte der deutsche Humor nicht zu kurz gekommen sein. Einem Kamel hatte man eine Schärpe mit der Aufschrift Ich verdunkle nicht umgehängt, ein humoristischer Denkanstoß für die Unbelehrbaren – sehr lehrreich und sehr lustig deutsch zugleich. Im März durfte dann wieder das KWHW ran und im April stand schon das Deutsche Rote Kreuz in den Startlöchern.63 60 61 62 63
Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 335. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 3 und BZ Nr. 27 v. 02.04.1941, S. 4. Vgl. BZ Nr. 49 v. 18.06.1941, S. 5 und BZ Nr. 20 v. 08.03.1941, S. 7. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 13.
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* Der Krieg mit all seinen Einschränkungen und seiner Gewalt war prädestiniert, um sich in „andere Welten“ zu flüchten. Es konnte die Vielschreiberei sein, wie bei Karl Czecselitsch oder Alexander Paleczek (siehe Kapitel 19), oder man streifte Zirkustieren lustige Schärpen über oder die Kunst und Kultur streckte einem die Hand entgegen, um der Realität ein wenig zu entkommen. Dahingehend war Baden weiterhin sehr gut aufgestellt. Bisher hatte man Beethoven und Raimund abgearbeitet, nun folgte Grillparzers 150. Geburtstag und Mozarts 150. Todestag. Sein „Ave Verum“, größtenteils in Baden komponiert, wurde rauf und runter gespielt, während Propagandaminister Goebbels und HJ-Oberjugendführer Baldur v. Schirach über das Treiben die Schirmherrschaft übernahmen.64 Aus den alten Meistern der Musik und Dichtung ließ sich immer etwas herausholen. Außer für jene Badener, in deren Häuser diese Meister gewohnt, übernachtet oder drei Strophen komponiert hatten, und die als Hausbesitzer deshalb unter die Fittiche des Denkmalschutzes genommen wurden. Wie in den Jahren zuvor bot die Gaubühne 1941 eine kulturelle Ablenkung vom kriegsbeeinflussten Alltag. In der Hauptsaison wurden nicht weniger als zwölf Konzerte in der Woche aufgeführt – das Gausymphonieorchester war Dauergast. Lautsprecher im Kurpark ließen jene an der Musik teilhaben, die keinen Platz im Theater ergattern konnten.65 Kunst und Kultur waren Chefsache. Der Vorsitzende des Deutschen Gemeindetags, Reichsleiter und Oberbürgermeister von München Karl Fiehler, hatte gemeinsam mit dem Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda sowie den Reichstheaterkammern beschlossen, dass die Zusammenarbeit zwischen den Theatern und der Unterorganisation der DAF, dem „Kraft durch Freude“ (KdF), nach Kräften zu fördern sei. Bei Spannungen sollte sogar eine Mediation angeboten werden.66 Will man dem Glauben schenken, so wäre dies ein eindeutiges Novum. Normalerweise wurde befohlen und gehorcht, und hier sollte bei Unstimmigkeiten ein Gespräch stattfinden – ein Dialog in einer gleichgeschalteten Kulturlandschaft! Wirklich kohärent war das Ganze sowieso nicht, denn ein Jahr zuvor hatte es noch geheißen, der KdF sollte sich nobel zurückhalten und die Kunst- und Kulturpolitik den Gemeinden überlassen (siehe Kapitel 19). Nachvollziehbarer war hingegen die Zensurpolitik, denn selbst wenn die Zerstreuung durch Musik und Schauspiel den Kriegsalltag auflockern sollte, zur Aufführung durfte nicht alles gelangen. Hierfür bietet eine Liste der aufzuführenden Stücke der Gaubühne Niederdonau, welche an das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda zu Händen des Reichsdramaturgen Dr. Rainer Schlösser im Mai 1941 entsandt wurde, einen interessanten Einblick. Der Spielplan für die Sommer- und Wintersaison erforderte dessen Durchsicht. Der Reichsdramaturg zeigte sich weitgehend zufrieden. Nur vereinzelt strich er 64 Vgl. BZ Nr. 6 v. 18.01.1941, S. 1 und BZ Nr. 72 v. 06.09.1941, S. 2. 65 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 36. 66 Vgl. NÖLA, BH Baden, II-VIII 1941; Gr.II-5 Allgemein, A 280.
Kapitel 21 Pech und Schwefel
etwas von der Liste. Die Operette „Pepina“ von Robert Stolz durfte, wie alle seine Werke, nicht aufgeführt werden. Bei den Sprechstücken wurden William Shakespeares „Hamlet“, Alexandre Dumas‘ „Die Kameliendame“ und Bernhard Shaws „Pygmalion“ entfernt. Der Reichsdramaturg bevorzugte Werke deutscher Autoren, am besten solcher mit Fronterfahrung – vor allem aktueller. Wobei er gegen Shakespeare an sich keine Bedenken empfand. „Ein Sommernachtstraum“ durfte ohne weiteres zur Aufführung gelangen. Bedenken hatte er bei der Operette „Die schöne Galathee“ von Franz von Suppè. Das Stück durfte zwar aufgeführt werden, allerdings im zeitgenössischen Format – dass die Rolle des Kunstliebhabers Mydas „judelt“, durfte einfach nicht mehr sein.67 Zeitgenössisch hieß in diesem Fall „judenfrei“. Schließlich lebte man in neuen und modernen Zeiten, und die neuen und modernen Zeiten erforderten eine neue Form und Art der Kunst und Kultur – nicht nur neue und moderne Caféhäuser in Baden. Der Reichsdramaturg sah es in seiner Verantwortung, die Gaubühne vor einem Unheil zu bewahren. Drei Jahre NS-Herrschaft waren ins Land gezogen, und auf den Brettern der Gaubühne sollte immer noch gejudelt werden! War das den Badenern zumutbar? Wer zeitgenössisch sein wollte, musste progressiv sein, und wer progressiv sein wollte, musste Ballast loswerden. Und wenn die Theaterfigur Mydas schon nicht mehr judeln durfte, was durften dann die in Baden noch lebenden Badener, die als Juden klassifiziert waren?
67 Vgl. DÖW, Akt des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda über Spielpläne des Stadttheaters Baden b. Wien. Abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/archive (10.04.2023).
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Kapitel 22 Paradise Lost Oder: Von Problemjuden, schwarzen Brüdern, roten Schwestern und den Unwürdigen in den eigenen Reihen
Bei eingefleischten Nationalsozialisten saß der Frust tief. Dass nach drei Jahren NS-Herrschaft immer noch Juden in der Stadt und im Landkreis Baden lebten und dass noch immer nicht alle Häuser und Wohnungen einer ordentlichen „Arisierung“ zugeführt worden waren, war einfach nur skandalös. Die lange Bearbeitungsdauer, die sich ewig in die Länge ziehenden Wartezeiten, diese Bürokratie, dazwischen das Rosinenpicken einiger NS-Bonzen, ließen Wut und Empörung anwachsen. Einer im Kreis, dem der Kragen platzte, war Anselm Urbanek, Ortsgruppenleiter von Weissenbach-Neuhaus. Erzürnt hatte er der Kreisleitung bereits im Oktober 1940 vorgeworfen, dass er bei der Beschlagnahmung jüdischen Besitzes keinerlei Unterstützung erhalten hätte, stattdessen würde er im Stich gelassen werden. Ihm schwebte ein Vorgehen à la SS und SA vor, wie es während der Anschlusstage praktiziert worden war. Den Juden ihren Besitz einfach wegnehmen – einfach so. Dabei malte er altbekannte antisemitische Klischees an die Wand. Es ist geradezu lächerlich, dass heute noch diese Juden, die teilweise längst ausgewandert sind […] heute noch über geräumige Villen verfügen, während unsere Volksgenossen in dumpfen Kellern sitzen müssen. Seine Lage schien verzweifelt. Die gesamte Situation ging ihm schon so auf die Nerven, dass ich meine Stelle als Ortsgruppenleiter ebenfalls niederlegen werde, falls hier nicht eine sofortige und radikale Lösung erfolgt. Hinzu kam natürlich der Personalmangel, wo er zeitweise ganz alleine auf weiter Flur Dienst versah, und dadurch bin ich derartig überanstrengt und ich [habe] außerdem noch ein schweres Magenleiden, […]. weil ich keine Nacht vor 12 bis 1 Uhr ins Bett komme und zeitlich in der Früh aufstehen muss […]. Knapp vor einem Nervenzusammenbruch, beabsichtigte er, einen Schlussstrich zu ziehen, wenn sich niemand seiner Anliegen annehmen würde. So muss ich heute jede weitere Korrespondenz als vollkommen unnötig in diesen Judensachen ablehnen.1 Für den Adressaten dieser Brandrede, Kreisleiter Ponstingl, antwortete Kreisamtsleiter Gärdtner. Für diesen hatte sich der Ortsgruppenleiter eindeutig in seiner Wortwahl vergriffen. Die Drohung, das Amt niederzulegen, stand für den Kreisleiter nicht einmal zur Debatte. Der Nationalsozialismus kannte keine freiwillige Amtsniederlegung. Wenn, dann wurde man abberufen. Letztend1
StA B, GB 052/Ortsgruppen Kreis Baden; Weißenbach-Neuhaus – Urbanek an Gärdtner (13.10.1940).
Kapitel 22 Paradise Lost
lich sprach er dem aufgebrachten Ortsgruppenleiter mittels des väterlichen Ratschlags, in diesen für ihn doch so schwierigen Zeiten ins Gewissen: Nicht nur Sie und ich, sondern auch der Gauleiter und der Führer und andere maßgebliche Parteigenossen haben manchen Kummer und dringen mit ihren Plänen oft nicht so rasch durch, wie sie das möchten. Das wird immer so sein. Deshalb darf keiner an die Grenze der Disziplinlosigkeit kommen oder den Mut verlieren wollen.2 * Emotionalität war fehl am Platz. Korrektes und anständiges „deutsches Handeln“ war gefragt, und das brauchte manchmal eben seine Zeit – wie die lückenlose und endgültige Liquidierung der jüdischen Kultusgemeinde Badens. Nach dem Anschluss oblag es Heinrich Fleischmann, die Auswanderung bzw. Flucht von Gemeindemitgliedern mit zu organisieren sowie die Liquidierung jüdischen Gemeindevermögens abzuwickeln.3 Um die ihm vom NS-Regime aufgetragene Arbeit durchzuführen, wurde ihm und seiner Ehefrau Jetty Fleischmann gestattet, in ihrem gemeinsamen Haus Marchetstraße 21 vorerst noch wohnen zu bleiben. Im Geheimen diente ihr Haus als der letzte Versammlungsraum für die verbliebenen Gemeindemitglieder, nachdem die Synagoge beschlagnahmt und die darauffolgenden Treffen im Hotel „Schey“ (Annagasse 23) ebenfalls untersagt worden waren.4 Als seine Dienste nicht mehr erforderlich waren, wurde sein Haus im März 1941 der „Arisierung“ zugeführt. Heinrich Fleischmann trat als Verkäufer auf, Franz Leichtfried war der Käufer, und aufgesetzt wurde der Kaufvertrag von Julius Hahn. In seiner Kanzlei erschienen Käufer und Verkäufer, ferner Fleischmanns Geschwister Eugenie Fleischmann und Hermine Brandweiner. Rechtsanwalt Julius Hahn beschrieb den Vertragsabschluss nach 1945 als überaus entspannt, und so hatte ich den Eindruck, dass beide Parteien im besten Einvernehmen standen. Dem konnte Franz Leichtfried nach 1945 nur beipflichten. Nachdem er Heinrich Fleischmann sein Interesse an dessen Haus bekundete hatte, wäre jener selbst nach einiger Zeit an ihn herangetreten und hätte dabei sogar die Bemerkung fallen lassen, er würde es lieber mir verkaufen, als irgendeinem Nazi – Franz Leichtfried war kein Parteimitglied. Mehrere Zeugen wiesen jedoch nach 1945 darauf hin, dass Heinrich Fleischmann sehr wohl bedrängt und bedroht worden war, sein Haus alsbald zu verkaufen. Was Heinrich Fleischmann unmittelbar zum Verhängnis wurde, war ausgerechnet eine Vereinbarung, die unter vier Augen zwischen ihm und Franz Leichtfried getroffen worden war. Die Möbel sollte Leichtfried um 2000 bis 3000 RM extra erstehen – so, ohne Rechnung bar auf die Hand, damit das Geld nicht auf einem Sperrkonto lande. Als Heinrich Fleischmann sich wenig später nach dem Geld erkundigte – Franz Leichtfried bestritt nach 1945 solch eine Nebenvereinbarung, seine Frau bestätigte sie hingegen und sagte aus, 2 Ebd. – Gärtner an Urbanek (21.10.1940). 3 Heinrich Fleischmann (1874–1944). 4 Vgl. www.jewishhistorybaden.com (10.04.2023).
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ihr Rechtsanwalt hätte ihnen abgeraten, die Summe auszuzahlen – hatte laut dem Polizeibeamten Josef Schlager Franz Leichtfried bei der hiesigen Dienststelle die Anzeige erstattet, dass der Genannte stets zu ihm von Wien nach Baden kommt und an ihn eine Geldforderung stellt.5 Infolgedessen wurde Heinrich Fleischmann von der Gestapo vorgeladen und am 28. Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert. Dort verblieb er fast zwei Jahre. Am 15. Mai 1944 wurde er nach Auschwitz überstellt und offenbar kurze Zeit später ermordet. Seine Frau, Jetty Fleischmann, musste das alles nicht mehr miterleben. Sie starb im gemeinsamen Haus am 9. September 1940. Da eine Bestattung in Baden auf dem jüdischen Friedhof nicht mehr möglich war, wurde sie auf dem jüdischen Friedhof in Wien beerdigt. Die Schätzungsgutachten zu den Immobilien der jüdischen Kultusgemeinde wurden von Adalbert Seyk durchgeführt. Das Wohnhaus Grabengasse 12 schätze er im Juni 1939, aufgrund alter Bausubstanz und da seit Jänner 1938 keine Investitionen mehr vorgenommen wurden, auf 19.550 RM.6 Im November 1940 war die Grabengasse 12 etwas im Schätzwert gestiegen – 21.800 RM. Der daneben liegende Tempel samt Nebengebäude (Grabengasse 14) hatten an die 21.100 RM eingebracht. Vorhanden waren noch Weingärten, der jüdische Friedhof und das Badehaus in der Vöslauerstraße 31. Alles zusammen machte an die 66.000 RM aus.7 Gekauft hatte es die Stadtgemeinde, wobei Schmid darüber alles andere als glücklich war. Während er mit dem Tempel und den Nebengebäuden durchaus etwas anfangen konnte, hätte er das Badehaus so nie erworben, sondern nur auf Drängen des Sonderbevollmächtigen für das Vermögen der Israel. Kultusgemeinden der Ostmark verschiedene Liegenschaften von der Israel. Kultusgemeinde Baden gekauft.8 Dass er selbst im November 1938 um Millionenzuschüsse angesucht hatte, um die über 300 jüdischen Immobilien in Gemeindehand zu bringen (siehe Kapitel 17), hatte er offenbar vergessen. Sein Lamento über das unrentable und ihm aufgeschwatzte Badehaus erging an den Landrat, doch dank seines kaufmännischen Geschicks konnte er selbst diesen Ladenhüter an den Mann bringen bzw. an Karl und Aloisia Frank.9 Neben Geduld bedurfte es einer weiteren Tugend, um in der damaligen NS-Zeit endlich „judenfrei“ zu werden: Ordnung. Grundlegende Dinge mussten klar sein. Wie viele Juden gab es denn 1941 eigentlich noch in Baden? Um dies zu eruieren und die Ergebnisse anschaulich darzustellen, bedurfte es erneut der unterschiedlichsten Listen.10 Für März 1941 lesen wir von 104 gemeldeten „Volljuden“ in Baden (darunter auch Zweitwohnungsbesitzer). Auf einer anderen Liste stehen 96 Namen. Auf den Listen sind die Namen teilweise durchgestrichen, unterstrichen, abgehakt, kommentiert. Betrachten wir die Geburtsdaten, so finden sich zumeist Menschen zwischen dem 60. und 90. Lebensjahr. Die 5 6 7 8 9 10
StA B, GB 052/Personalakten: Leichtfried Franz (geb. 1874). Vgl. StA B, Bauarchiv, Grabengasse 12. Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierung, Liquidierung, Repression; Mappe IV. NÖLA, BH Baden, IX/113 Aktenübersicht 1 (ONr 501 – E) – IX/132 1941; IX-113. Karl Frank (geb. 1889), Aloisia Frank (geb. 1892). Auszugsweise zusammengefasst in MAURER, WELLENHOFER, S wie „Schädling“, S. 16–24.
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älteste Person war Fanny Dörfler, geboren am 20. August 1845. Begreift man dieses Datum, so kam diese Frau zu einer Zeit auf die Welt, als es noch keine Österreich-Ungarische Doppelmonarchie gab. Die Frau kam im Kaiserreich Österreich zu Welt, als noch Ferdinand der Gütige herrschte und Metternich regierte, also Zeitgenossen von Franz I., Napoleon, Goethe oder Beethoven. Bürgermeister der Kurstadt war zu dieser Zeit Johann Nepomuk Trost, Jahrgang 1788, und Baden bestand aus der heutigen Fußgängerzone, umgeben von Feldern und den Herrschaften Weikersdorf, Leesdorf, Gries, Thurmgasse, Alland, Braiten und Rohr – die allesamt nichts mit Baden zu tun hatten, sondern der Obrigkeit von Klöstern oder adeligen Grundherren unterstanden. Wenn man so will, war Fanny Dörfler noch in der Zeit des Feudalismus zur Welt gekommen. Und nun mussten Menschen wie sie die Stadt verlassen, weil sie als „jüdischer Schädling“ mit ihren 96 Jahren eine Gefahr für den Kurort darstellte. Auf separaten Listen wurden „Mischlinge“ und Juden in „Mischehen“ aufgelistet. Wir zählen 52 „Mischlinge“ und 36 Juden in „Mischehen“.11 Den Überblick zu behalten war nicht leicht, und wir finden eine umfangreiche Korrespondenz zwischen den unterschiedlichsten Behörden, von lokalen Parteistellen bis zu den Machtträgern in Berlin, weil alles Mögliche in Erfahrung gebracht werden musste. So verlangte Bürgermeister Schmid eine Auflistung von leerstehendem Wohnraum. Hier gab es zeitraubende Sonderfälle, weil nicht eindeutig war, ob der Besitzer der Immobilie Jude, „Halbjude“, in einer „Mischehe“ lebend, Inländer, Ausländer oder sonst etwas war. Zusätzlich befasste sich die Stadtführung mit Menschen, die der jüdischen Religion den Rücken gekehrt und womöglich zum Katholizismus konvertiert waren oder die Staatsbürgerschaft gewechselt hatten. Es gab zahlreiche Parameter, die Schmid als Stadtoberhaupt berücksichtigen musste bei der zu planenden Vertreibung seiner Mitmenschen. Ein nicht alltäglicher Fall betraf den ehemaligen Konsul aus Uruguay, Ernesto John. Er wohnte seit 26 Jahren in der Kurstadt. 1941 hatte er den Auftrag erhalten, das Konsulatsarchiv zusammenzustellen – er wurde auch durch die Regierung Uruguay entlohnt – was die Kreisleitung nicht daran hinderte, ihn aufzufordern, innerhalb von einer Woche die Stadt zu verlassen. Er suchte, unterstützt vom Generalkonsul Julio Cubarlez, um einen Zeitaufschub an, schließlich benötigte er mehr Zeit, um seine Arbeit ordnungsgemäß abzuschließen – eine Antwort der Kreisleitung liegt leider nicht vor.12 Um die verbliebenen Juden loszuwerden, wurden dieselben Argumente wie vor drei Jahren vorgebracht. Baden als Kurstadt muss mit Rücksicht auf den jetzt im Frühjahr einsetzenden Fremdenverkehr unbedingt judenrein werden. Hinzu kam die Wohnungsnot, die eine weitere Duldung dieser Juden, die durchwegs eigene Wohnungen besitzen, schon aus politischen Gründen unmöglich machte. Ferner wurde Wohnraum für die deutschen Kinder der Aktion-Kinderlandverschickung gebraucht, und außerdem befinden sich in Baden und der nächsten Umgebung wichtige militärische Objekte, so dass auch aus wehrpolitischen Gründen der Abtransport dieser Volljuden notwendig ist.13 11 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge; Mappe I f.32, 37 u. 38. 12 Vgl. ebd. f. 48 u. 49 – Ernst John (geb. 1871). 13 Ebd. f. 34 – Hajda an Schmid (27.03.1941).
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Die Zeit drängte, und dem ungeduldigen Berlin versicherte Kreisleiter Franz Hajda, dass bis zum 8. April 1941 alle Juden die Kurstadt verlassen und der Kultusgemeinde Wien unterstellt würden. Damit alles seine Gesetzmäßigkeit und Ordnung haben sollte, wollte der Kreisleiter auf keinen Fall Fehler begehen und vergewisserte sich selbst bei „Kleinigkeiten“ der Zustimmung des Gaues. Da die Badener Juden in der nächsten Zeit ohnehin die Stadt verlassen müssen, ersuche ich um umgehende Mitteilung, ob ich auf Grund irgendeiner gesetzlichen Bestimmung berechtigt bin, vor der Abwanderung die [Radio-]Apparate einzuziehen. Da die Rechtslage dahingehend offenbar nicht ganz eindeutig war, ersuchte er um Präzisierung. Außerdem, uns fehlen ohnehin in den Umsiedlerlagern der Rückwanderer und auch noch bei einigen Ortsgruppendienststellen Rundfunkgeräte.14 Die Gauleitung gab zwei Wochen später grünes Licht und schickte anbei drei A4-Seiten erklärendes Beiwerk mit den neuesten Informationen zur „Juden-Schikane“ mit. Der 8. April 1941, die Frist, bis zu der alle Juden aus Baden vertrieben werden sollten, konnte nicht eingehalten werden, dann am 19. Mai 1941 erging erneut die Weisung, dass Juden die Stadt binnen acht Tagen zu verlassen hätten.15Auch dieser Termin konnte nicht eingehalten werden. Allerdings hieß es von Seiten Kreisleiter Hajdas am 4. Juni 1941, die Schwierigkeiten, die sich in der Frage der Wohnungsbeschaffung für die Umsiedlung der Juden nach Wien ergaben, sind nach Mitteilung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung behoben. Es lag nun an Schmid, die Juden davon in Kenntnis zu setzen, die Stadt innerhalb von drei Tagen zu verlassen zu müssen. Der Kreisleiter fügte hinzu: Die bei mir aufliegenden Gesuche der Juden um Verlängerung bzw. Bewilligung zum Verbleiben in Baden aus gesundheitlichen Gründen usw. lasse ich unberücksichtigt, da ich auf dem Standpunkt stehe, dass Ausnahmen bei Juden nicht gemacht werden können.16 Doch dem Kreisleiter passierte just ein Missgeschick. Nur einen Tag später informierte er Schmid, in meinem gestrigen Schreiben an Sie habe ich irrtümlich in der Liste der Juden einige Mischehen und Ausländer angeführt, die für eine Abwanderung nicht in Frage kommen.17 Dies betraf 13 Menschen. Es waren Badener, die seit Jahren in Angst und Schrecken leben mussten, und plötzlich kam der Befehl zur Deportation – nur um am folgenden Tag widerrufen zu werden. Für die NS-Machthaber war dieser eine Tag auch schon egal. Der nächste Termin war der 7. Juni 1941. Die Schutzpolizeidienstabteilung hatte den Auftrag, die noch in der Stadtgemeinde ansässigen Juden abzuschieben – 25 Namen standen noch auf einer Liste. Darunter finden wir wieder Menschen, die weit über achtzig Jahre alt waren. Wieder wurden Namen gestrichen, hervorgehoben, kommentiert und Ausnahmeregelungen getroffen. Am 10. Juni 1941 wurde Bilanz gezogen. 16 Personen waren bereits nach Wien abgereist – wie es im NS-Sprech hieß. Fünf weitere Menschen sollten am Tag darauf die Stadt ver14 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierung, Liquidierung, Repression; Mappe I – Kreisleitung an Gauleitung (29.03.1941). 15 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge; Mappe I f. 47. 16 Ebd. f. 41. 17 Ebd. f. 42.
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lassen, und vier durften mit Genehmigung der Kreisleitung bleiben – wobei sie eine Woche später sicherheitshalber einer erneuten Prüfung unterzogen wurden.18 An sich schien damit alles geklärt, aber wieder gab es Querschüsse. Obwohl zugesagt, die Stadt zu verlassen, war Johanna Weiss am 18. Juni 1941 noch immer nicht weg. Die Schutzpolizei rückte aus und stellte fest, die Genannte will sich mit einem Herzleiden verantworten, worauf ihr bedeutet wurde, dass dies gar nicht in Frage kommen kann, da sie den ganzen Tag in der Stadt sich herumtreibt.19 Johanna Weiss schrieb an die Kreisleitung, flehte um Aufschub, verwies auf ihren hochgradigen Schwächezustand. Und tatsächlich, Kreisleiter Hajda gewährte ihr, bis zum 30. Juni 1941 in Baden zu bleiben. Als sie jedoch am 1. Juli Baden noch immer nicht verlassen hatte, wurde sie in Schutzhaft genommen. Die jüdische Auswanderungsstelle in Wien wurde telefonisch kontaktiert, die wiederum verständigte die Kultusgemeinde, damit diese Jüdin endlich abgeholt und nach Wien überstellt werde.20 Der Wille der Stadtgemeinde Baden, endlich „judenfrei“ zu werden, blieb ungebrochen. Die Deportationen konnten nicht schnell genug vonstattengehen, Rückschläge waren bitter, aber für richtige Irritation sorgten Juden, die 1941 nach Baden zurückkehren wollten. Zu ihnen gehörte der pensionierte Oberst Leo Kugel. Dass er getaufter Katholik war, spielte zwar keine Rolle, was aber eine Rolle spielte, war seine Ehe mit einer Arierin, Friederike Kugel.21 Doch da er 1934 aufgrund möglicher Ehezerwürfnisse Baden Richtung Wien verlassen hatte und 1939 auch offiziell abgemeldet worden war, bestand für die Stadt und Kreisleitung kein Grund für seine Rückkehr nach Baden. Doch Leo Kugel war da anderer Meinung, und er hatte sogar über den ihm bekannten Generalleutnant Heinrich Stümpfl bei Baldur v. Schirach um eine Aufenthaltsbewilligung für Baden angesucht.22 Erwartungsgemäß waren Kreisleiter Hajda und Bürgermeister Schmid strikt gegen seine Einreise. Während Hajda nicht großartig argumentierte, triefte Schmids Argumentation nur so vor Scheinheiligkeit. Die Stimmung in der Bevölkerung ist eine derartige, dass für die Sicherheit der Juden keine Gewähr gegeben ist. Ich bitte Sie, eine Übersiedlung des Juden Israel Leo Kugel zu verbieten.23 Damit suggerierte Schmid, dass es eigentlich nicht an ihm persönlich lag, weshalb Leo Kugel nicht zurückkommen könne. Es war der Volkswille bzw. der Volkszorn, der ihm die Hände band. In dieselbe Argumentationskerbe schlug Ortsgruppenleiter Reinöhl, als er Kreisleiter Hajda im Juli 1941 über diverse Vorkommnisse in seiner Ortsgruppe unterrichtete. Die Gräueltaten der Bolschewiken, von denen die Presse und Rundfunk berichten und die hauptsächlich den Juden zuzuschreiben sind, haben die Erregung der Bevölkerung gegen die Juden 18 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe IV – Liste (06.06.1941). 19 Vgl. ebd. – Schutzpolizeibericht (18.06.1941), Johanna Weiss (geb. 1887). 20 Vgl. ebd. – Schutzpolizeibericht (01.07.1941). 21 Leo Kugel (geb. 1872), Friederike Kugel (geb. 1885). 22 Heinrich Stümpfl (geb. 1884). 23 StA B, GB 052/Verfolgung II, Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe III – Schmid an Hajda (03.06.1941).
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gesteigert. Die Bevölkerung findet es unverständlich, dass sich die Juden frei bewegen dürfen […].24 Folgt man diesen Argumentationen, so waren diese lokalen NS-Epigonen wie Schmid und Reinöhl die letzte Bastion deutscher Zivilisation, und nur sie waren in der Lage, den zornerfüllten Mob daran zu hindern, über die verbliebenen Juden herzufallen. Dass Reinöhls Schilderungen maßlos übertrieben waren, das registrierte selbst Hajda und empfahl, hierbei die Kirche im Dorf zu lassen. Meines Erachtens kann die Bevölkerung das freie Bewegen der Juden in Baden nicht mehr unverständlich finden, denn es gibt nur mehr drei Familien, die infolge ihres Alters und Krankheit nicht mehr auf die Straße gehen würden.25 Fassen wir zusammen, so taten sich bei der organisierten Vertreibung von Menschen aus der Kurstadt Richtung Wien für die örtlichen NS-Stellen zahlreiche Problemfelder auf, die Parallelen zur „Arisierungsthematik“ aufweisen. Einzelne Fälle zogen sich in die Länge, sie mussten der Situation nach angepasst werden, es gab Einsprüche, Aufschübe, Fristverlängerungen, und es herrschten in einigen Fällen Unklarheiten vor, welcher genauen Rassenkategorie diese Menschen laut den Nürnberger Rassengesetzen angehörten oder ob es sich bei den jeweiligen Personen überhaupt um Juden handelte. Für Betroffene bedeutete dies, schnellstmöglich einen Beweis zu erbringen, dass man eben kein Jude war. Weshalb manche Badener dies überhaupt tun mussten, dafür standen nicht selten haltlose Gerüchte und kaum überprüfbare Aussagen Pate. Ein Verdacht, dass jemand irgendwie jüdisch wäre, weil die Großmutter angeblich „gejudelt“ hatte, kam leicht über die Lippen und konnte durchaus respektable NS-Karrieren wie die des Rechtsanwaltes Dr. Robert Meixner in Gefahr bringen. Grundsätzlich galt er als national eingestellter Mensch, er hatte in den 20er Jahren im nationalsozialistischem Lokalmedium „Weckruf“ inseriert, Nationalsozialisten vor Gericht vertreten und war selbst in den 30er Jahren wegen regierungsfeindlicher Äußerungen angezeigt worden.26 Ortsgruppenleiter Reinöhl diagnostizierte ein tapferes Verhalten Meixners im Weltkrieg, welches durch seine Auszeichnungen und seine schwere Invalidität erwiesen ist […]. Er lobte dessen Einsatz für Parteigenossen in der Systemzeit und das er mit bewundernswerter Willenskraft – er ist nicht fähig zu gehen – sich eine Rechtsanwaltspraxis aufgebaut [hatte]. Ferner zählten zu Meixners hervorstechendsten Eigenschaften Aufdringlichkeit und Eigennützigkeit. Als Rechtsanwalt galt er als Halsabschneider. Wirklich problematisch wurde es jedoch, als sein Ariernachweis, der noch dazu von den in Ungnade gefallenen Franz Bilko ausgestellt worden war (siehe Kapitel 6), Skepsis hervorrief. Denn zwei Bekannte von Reinöhl hatten wiederholt behauptet zu wissen, dass Meixner Judenstämmling sei […]. Seine Wesensart und sein Erscheinungsbild hatten viel Jüdisches.27 Richtige Beweise gab es dafür nicht, zumal von diesen zwei Bekannten Reinöhls einer bereits verstorben und der andere eingerückt war.
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StA B, GB 052/Personalakten: Trenner Elisabeth – Reinöhl an Hajda (10.07.1941). Ebd. – Hajda an Reinöhl (15.07.1941). Weckruf v. Anfang Oktober 1924, S. 3. StA B, GB 052/Personalakten: Meixner Robert – Reinöhl an Kreisleitung (09.04.1941).
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Solch „wissende Vermutungen“ waren ideal und äußerst praktisch bei allerlei Streitigkeiten, egal ob am Gartenzaun, in der Arbeit oder auch in der eigenen Familie. Jene, die solche Methoden anwandten, mussten in der Regel ihre Behauptungen nicht untermauern. Im Mai 1941 kam der Verdacht auf bzw. wurde erneut hervorgeholt, dass der Schriftleiter der Badener Zeitung, Franz Laval, ein Nazifresser, ein christlichsozialer Agitator und ein Jude wäre. Dem nicht genug, munkelte man, dass er als früherer Mitarbeiter bei den Salzburger Festspielen in einen Finanzskandal verstrickt gewesen war und sich danach einem Selbstreinigungsverfahren beim Disziplinaruntersuchungsausschuss des Reichsverbandes der Deutschen Presse unterziehen hätte müssen. Die Kurstadt Baden und die Mozartstadt Salzburg mussten dem nachgehen. Stichhaltige Beweise blieben aus, gesichert war nur, Franz Laval war 1935 nach Baden übersiedelt, Pressereferent der Spielbank gewesen und ab 1938 war ihm der Posten des verantwortlichen Schriftleiters der BZ überantwortet worden. Zu den Vorwürfen aus Salzburg zeigte man sich in Baden zurückhaltend. Kreisleiter Hajda vermutete persönliche Differenzen im Hintergrund, und er wollte diese Beurteilung aus diesem Grunde nicht als endgültig ansehen.28 Dass den gegen ihn vorgebrachten Vorwürfen nicht gleich Glauben geschenkt und sie hinterfragt wurden, noch dazu von Kreisleiter Hajda, war ein Riesenglück für Franz Laval. Solche Fälle konnten bekanntlich auch anders ausgehen. * Rassische Klassifizierungsverfahren mit nicht eindeutigem Ergebnis, „Arisierungen“, die kein Ende nahmen, unvollständige Deportationen, Juden, die noch immer in den Straßen zu sehen waren – dass die „Judenfrage“ selbst 1941 noch nicht gelöst worden war, war für manche Nationalsozialisten unverständlich. Und es schien kein Ende zu nehmen. Selbst jene Juden, die nicht mehr in Baden waren, verursachten weiterhin Arbeit. Im August 1941 wollte das Finanzamt Baden wissen, wo sich denn Dr. Paul Rosenthal und dessen Frau Ottilie Rosenthal aufhielten, da sie erstens für eine Parzelle am Mitterberg noch die Grundsteuer schuldig waren und zweitens ungeklärt war, wer nun für die Schneeräumung im Winter zuständig sei. Oder: Was war mit der Parzelle am Mitterberg von Ernst Holzer – er war nach Argentinien geflüchtet – handelte es sich dabei um einen Wald oder Bauland? Wir haben etliche Fälle, wo sich unterschiedliche Behörden untereinander Fragen dieser Art stellten. Es ging um alle möglichen Liegenschaften, ob nun Weingärten, Äcker oder Wälder, die verstreut in Baden lagen und wo nicht ersichtlich war, wem das Grundstück nun gehörte, wer es verwaltete, verpachtete oder bewirtschaftete bzw. ob sich dafür überhaupt irgendwer verantwortlich fühlte.29 Das alles bedeutete Arbeit bzw. Überstunden, die dem Kreiswirtschaftsberater Reumüller offenbar über den Kopf gewachsen wuchsen, sodass er im Februar 1941 dem Sonderdezernat 17d-8, das für die „Arisierungen“ und „Liquidierungen“ zuständig war, seine Überlastung kundtat, und er sogar Mitgefühl ern28 StA B, GB 052/Personalakten: Lavall Franz (geb. 1886). 29 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II, Fasz. I Arisierunge, Liquidierungen, Repression; Mappe V.
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tete. Auf die Einwendung Pg. Reumüllers, dass ja der ganze Kreis Baden ein einziges jüdisches Vermögen gewesen sei, erklärte ich [Dr. Paul Hönigl30], deshalb liege uns die Angelegenheit umsomehr am Herzen und gab ihm den Rat, einige Mitarbeiter herauszuziehen, da er die Arbeit eingesehenermaßen ja nicht allein machen könne.31 Und wie im Vorjahr lesen wir 1941 genauso in der Badener Zeitung, dass sich Juden zu Gerichtsterminen einzufinden hätten. Rudolf Lackenbacher schuldete dem Deutschen Reich noch 1.397,25 RM. Der Mann war bereits 1938 samt seiner Ehefrau Ida Lackenbacher in die USA geflüchtet. Ob das dem Gericht bekannt war, lässt sich nicht herauslesen. Den für ihn behördlich bestellten Kurator, Dr. Julius Clemens Schuster, hätte Rudolf Lackenbacher aber auch noch entlohnen müssen.32 Zeitgleich mit dem bürokratischen Mehraufwand ging die Stigmatisierung und Diskriminierung der verbliebenen Badener Juden unaufhörlich weiter. Der Judenstern war ein weiterer Gipfel der Schikane. In der nicht öffentlichen Gemeinderatsitzung vom 16. September 1941 ging Schmid kurz darauf ein und erläuterte, wer nicht davon betroffen war: 1) Juden, die in Mischehen leben und aus deren Ehe Kinder stammen. 2) Jüdinnen, die in einer Mischehe leben, ohne Rücksicht darauf, ob Kinder vorhanden sind oder nicht, so lange als die Ehe besteht.33 Kurioserweise stellte der gelbe Judenstern für die Stadtgemeinde ein zweischneidiges Schwert dar. Denn damit wurden die Juden sichtbar, und dadurch wurde der Stadtführung ihr Versagen, endlich „judenfrei“ zu werden, deutlich vor Augen geführt. Zumindest konnte man symbolisch das Judentum aus dem Stadtbild tilgen. Schmid ließ in seiner Stadt sämtliche Straßennamen entfernen, deren Träger mit dem Judentum in Verbindung standen. Die Raabstraße (benannt nach Dr. Emil Raab, dem jüdischen Gemeindearzt von Weikersdorf ) wurde in Herzogstraße unbenannt, die Epsteingasse (benannte nach dem jüdischen Bankier und Industriellen Gustav Ritter von Epstein) wurde zur Kornhäuselstraße, und zu guter Letzt verschwand die Eliasgasse (womöglich nach Abraham M. Elias benannt, einem Gönner der Todesco-Stiftung) von der Straßenkarte, statt ihr war die Sauerhofgasse aus der Taufe gehoben worden.34 Damit waren zumindest die jüdischen Spuren vom Stadtplan eliminiert. Von Wert waren Juden nur, wenn es darum ging, NS-Gegnern nachzustellen. Denn, wenn man dem politischen aber eindeutig arischen Feind nichts Rassisch-Jüdisches andichten konnte, so doch zumindest, dass er früher ausgiebige Kontakte zu Juden gepflegt 30 Paul Hönigl (geb. 1895), seit 1932 bei der NSDAP, Illegaler, Juli-Putsch Teilnehmer, ab 1938 im Sonderdezernat Entjudung in der Reichstatthalterei Niederdonau, von 1938 bis 1943 stellvertretender Landrat, von 1943 bis 1945 Landrat von Mistelbach. Vgl. https://docplayer. org/178074124-Nie-wieder-gau-wien-und-niederdonau.html. (23.04.2023). 31 StA B, GB 052/Verfolgung II, Fasz. I Arisierunge, Liquidierungen, Repression; Mappe I. 32 Vgl. BZ Nr. 32 v. 19.04.1941, S. 8 und www.jewishhistorybaden.com/life (10.04.2023). 33 Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 330ff und WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 30. 34 Vgl. BZ Nr. 44/45 v. 31.05.1941, S. 2.
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hätte. Das lokal prominenteste Opfer solcher Kampagnen war der ehemalige Bürgermeister Badens, Josef Kollmann.
Die Untreuen… Josef Kollmann hätte man sehr vieles anhängen können, doch wenn zusätzlich noch die „jüdische Karte“ gespielt werden konnte, warum denn nicht. Dem „Kollmann Prozess“, der am 2. Oktober 1940 seinen Anfang nahm, gingen Dutzende Anzeigen, Verhöre sowie seine Einkerkerung und der Hausarrest einher, die bereits in Kapiteln zuvor angesprochen wurden. Über den Kollmann-Prozess liegt der Gerichtsakt vor sowie eine von Kollmann 1946 herausgegebene Publikation „Der Prozess Kollmann“, eine Transkription des stenographischen Protokolls. Eine umfangreiche Zusammenfassung bietet ferner die Biographie Kollmanns von Hans Meissner.35 Die Hauptanklage lautete Amtsmissbrauch bzw. eigenmächtige und widmungswidrige Zahlungen. Erschwerend kam hinzu, dass Kollmann die vermeintlich eigenmächtigen und widmungswidrigen Zahlungen einem ehemaligen Berater in der Casinoangelegenheit zukommen und ihn über ein Jahr gratis im Kurhotel Herzoghof samt Gattin residieren hatte lassen – der Berater hieß Bruno Wolff und war Jude bzw. konvertierter Katholik. Bereits am 19. Juli 1938 unterrichtete Schmid die Staatsanwaltschaft in Wiener Neustadt in Bezug auf die Beherbergung Bruno Wolffs unterrichtet: Mit diesem Beispiel ist ein Beweis frauduloser Wirtschaft der früheren Gemeindeverwaltung, unter dem Vorsitz des Exbürgermeisters Josef Kollmann erbracht.36 Darauf baute ein großer Teil der Anklage auf – letztendlich ein Hirngespinst. Denn die Gelder für Kost und Logis Wolffs stammten aus dem „Kollmannfonds“, der 1926 durch eine üppige Spende ins Leben gerufen worden war und über den Kollmann frei verfügen durfte. Allerdings ließ er den Fonds über die Gemeinde verwalten. Als 1929 der Kollmannfonds mit der gemeindegehörigen Bürgerspitalsstiftung zusammengelegt werden sollte, scheiterte das Vorhaben daran, dass die Gemeinde, wie es Kollmann als Voraussetzung eingefordert hatte, aufgrund finanzieller Schwierigkeiten keine 20.000 Schilling zusätzlich beizusteuern im Stande war. Damit blieb der Kollmannfonds gemeindeunabhängig, sodass von der Veruntreuung öffentlicher Gelder keine Rede sein konnte – auch wenn das Konstrukt bei gewissem Lichteinfall durchaus eine schiefe Optik aufwies. Zwischen 1929 und 1938 hatte Kollmann 19.570,63 Schilling aus dem Kollmannfonds entnommen – davon entfielen 3968,72 Schilling auf Bruno Wolff. Der Rest waren Spenden oder Darlehen an verschämte Arme, wie es im Akt hieß, die namentlich nicht genannt werden wollten. Für das NS-Gericht lagen keine Schädigungsabsichten von Seiten Kollmanns vor, Anschuldigungen dieser Art waren für den Richter unerklärlich. Außerdem: Die übrigen in 35 Vgl. MEISSNER, Kollmann, S. 206–209. 36 NÖLA, KG Wr. Neustadt 31 VR-1939,1940; VR 11/40 Kollmann Josef.
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der Hauptverhandlung vernommenen und im Vorstehenden nicht berücksichtigten Zeugen konnten über die Schuldfrage nichts Wesentliches angeben.37 Der Prozess, den Schmid zur Chefsache erklärte, war von Anfang an politisch motiviert. Aber selbst als er persönlich vor Gericht als Zeuge auftrat, wirkten seine Anschuldigungen und Aussagen ziemlich allgemein. Er blieb sich jedoch treu und referierte über Schuldenlasten, Fehlinvestitionen und Misswirtschaft. Er führte aus, als er sich als Bürgermeister daran gemachte hätte, die Gemeinde einer deutschen Ordnung zuzuführen, wäre er rein zufällig auf die finanziellen Ungereimtheiten und den Juden Wolff gestoßen. Im Zuge der Befragung hielt ihm der Verteidiger Kollmanns, Dr. Hans Gürtler, eine Broschüre vor, die Schmid unterschrieben hatte, auf der das Strandbad und die Trinkhalle als herrliche Schöpfungen bezeichnet werden – allesamt Bauten, die unter Kollmann errichtet worden waren. Rechtsanawalt Gürtler schlussfolgerte, dass offenbar doch nicht alles so schlecht war damals unter Kollmann.38 Dass bei den weiteren Zeugen, ehemaligen Parteifreunden und Weggefährten wie Otto Sulzenbacher, Julius Hahn und Ernst Zeiner eine Befangenheit vorgelegen hatte, lag und liegt auf der Hand. Selbst der damals leitendende Beamte im Herzoghof, Roman Zimmermann, bestätigte, dass bei der Bewirtung Wolffs alles mit rechten Dingen zugegangen war. Nicht einmal der ehemalige Großdeutsche Franz Trenner (Kollmanns Vorgänger als Bürgermeister) konnte etwas Gesetzeswidriges in der Vorgehensweise seines Nachfolgers feststellen. Obendrein gab es Lob für Kollmanns Persönlichkeit. Er wäre zwar der politische Gegner gewesen, aber dass es außerhalb des Bereiches des politischen Kampfes keine Gelegenheit gegeben hat, wo sich Bürgermeister Kollmann mir gegenüber unkorrekt benommen hat. Auch seiner Wirtschaftspolitik und ökonomischen Expertise zollte Trenner Respekt und verwies auf das ehemals von Kollmann geführte Textilien-Geschäft. Ich wäre froh, wenn ich es hätte.39 Bei Trenner könnte man ebenso noch Befangenheit ausmachen, da ihn Kollmann, obwohl Trenner kein Christlichsozialer war, ihn dennoch bis zum Anschluss im Gemeinderat gewähren hatte lassen. Doch selbst der Sozialist Franz Schulz aus der Badener SDAP belastete den christlichsozialen Bürgermeister Kollmann in keiner Weise, viel eher bestätigte er dessen weiße Weste. Für ihn hatte Kollmann die Gemeinde wie ein Geschäft geführt – gewinnorientiert. Von Korruption oder Misswirtschaft konnte keine Rede sein. Um den Gewinn zu steigern, hatte Kollmann das Bürgermeisteramt ehrenamtlich geführt – und weitgehend auf Diäten verzichtet. Gerade das hatten ihm die Sozialisten angekreidet. Dass Kollmann als erfolgreicher Geschäftsmann, so Schulz, auf ein Einkommen als Bürgermeister nicht angewiesen war, war schön für ihn, aber nicht für einen Nachfolger ohne prosperierendes Geschäft im Hintergrund. Schulz gab außerdem zu bedenken: Ich war Führer der Opposition und habe als Obmann des Kontrollausschusses bestimmt gesucht, […] ihm ein „Kampfl“ anzuhängen. Das muss ihm aber jeder nachsagen, dass
37 Ebd. – Urteilsspruch S. 7 38 Vgl. KOLLMANN, Der Prozess, S. 58 und S. 61. 39 Ebd. S. 62.
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er absolut reine Hände gehabt hat.40 Genauso sein Parteigenosse SDAP-Mandatar Alexander Berka, der bestätigte, dass alles korrekt abgewickelt worden war, und er müsste es ja wissen, hätte er doch dem Fürsorgeausschuss angehört. Probiert hatte es die Anklage noch mit dem Gemeindeschreiber Anton Holzer. Dieser war jedoch erst seit September 1938 in Baden ansässig. Seine Anwesenheit auf der Zeugenbank machte selbst den Vorsitzenden stutzig und war für ihn nicht ganz nachvollziehbar. Kollmanns Rechtsanwalt, Hans Gürtler, stellte Anton Holzer nicht einmal eine einzige Frage, da dieser seiner Meinung nach ohnehin nichts wissen konnte.41 Doch Schmid und Konsorten ließen sich nicht abbringen und versuchten es weiter, indem sie weitere Anschuldigungen vorbrachten. Beschlüsse aus den 20er Jahren wurden ausgegraben, die angeblich ohne Gemeinderatsbeschluss zustande gekommen waren. So wurden 3000 RM Schaden errechnet, weil Kollmann acht Jahre lang dem hiesigen Rinderzuchtverein kostenlos die Schlempe der Brennereigenossenschaft zukommen hatte lassen. Dass das Zeug für die Gemeinde keinen Wert besaß, da man keine Viehzucht betrieb, die Schlempe ohnehin noch mit Spreu, Rüben oder Mehl angereichert werden musste, bevor es die Rindviecher fraßen und der Rinderzuchtverein sowieso von der Gemeinde subventioniert wurde, solche Tatsachen bewahrten nicht vor haltlosen Korruptions- und Freunderlwirtschaftsunterstellungen. Und als die Pächter des Strandbad-Restaurants, die Gebrüder Schwanke, statt Gewinnen nur Verluste erwirtschaftet hätte, empörte sich Schmid, wäre es seinem Vorgänger nicht die Mühe wert gewesen, diese Pächter zu kündigen, sodass am 1. Jänner 1938 bereits ein Schuldenstand von S. 48.400,31 erwuchs, somit die Stadt Baden einen Schaden von S. 22.000.- erleidet, der, zumal die Familie Schwanke mittellos ist, für die Stadt Baden uneinbringlich erscheint.42 Letztendlich half alles nichts. Schmid scheiterte. Im Mai 1941 fand der Kollmann Prozess mit einem zweiten Freispruch in zweiter Instanz vor dem Berufungsgericht in Leipzig sein Ende. Der erste Prozess hatte in Wiener Neustadt stattgefunden.43 Interessant an dem Prozess ist ferner, wie Kollmann fallweise seine Verteidigung aufbaute – indem er sich antisemitischer Klischees bediente. Als ihm vorgeworfen wurde, dass er judenfreundliche Politik betrieben hätte, entgegnete er, dass, wenn 75 Prozent der Kurgäste jüdisch waren, er sich einen Antisemitismus à la NS-Vorstellungen nicht leisten hätte können. Das wäre für die Kurstadt tödlich gewesen. Genauso sah es Kammerrat Rudolf Sigmund, als er nach den Konsequenzen für die Kurstadt gefragt wurde, wenn Kollmann einen antisemitischen Kurs gefahren wäre. Sicher geschadet, weil die Juden zusammengehalten haben. […] Die Juden hätten Baden boykottiert.44 Außerdem, so Kollmann: Ich war Bürgermeister in der Zeit, in der es noch keine Nürnberger Gesetze gab, in der ich bei der Wahl 40 41 42 43 44
Ebd. S. 78. Ebd. S. 56. NÖLA, KG Wr. Neustadt 31 VR-1939, 1940; VR 11/40 Kollmann Josef. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 40. KOLLMANN, Der Prozess, S. 44
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von einem Höheren, vom Bezirkshauptmann, daraufhin angelobt wurde, die österreichischen Gesetze zu achten und zu halten, und dazu gehörte auch die Gleichheit aller Nationen und Konfessionen vor dem Gesetz.45 Eine weitere Anspielung in Richtung Antisemitismus war, dass der Jude Bruno Wolff, wobei Kollmann eindeutig darauf hinwies, dass jener zum Katholizismus konvertierte, als Fachmann für Finanzen, Geld und Glücksspiel galt, und er den Auftrag erhielt, die Einnahmen der Stadt zu erhöhen, was ihm auch gelang. Der Mann galt als Investition. Finanzen, Geld, Glücksspiel – also „jüdisches Metier“. Für Kollmann bedeutete der Freispruch keine Kerkerhaft und keine Gerichtsverhandlungen mehr. Frei war er trotzdem nicht. Er verhielt sich danach weiterhin still, unauffällig und wurde erst gegen Ende der NS-Herrschaft aktiv. Damit tat er es den vielen anderen sowohl politisch Gleichgesinnten als auch ehemaligen Gegnern aus der roten Reichshälfte gleich. Unter Beobachtung standen sie dennoch alle. Als im Sommer 1941 SS-Oberscharführer Hans Zisser seinem SS-Kameraden SS-Scharführer Hermann Willsch zum Tod von dessen Tochter kondolierte, erblickte er darin eine Vorsehung, die dieses Opfer eingefordert hätte. Er schwadronierte vom Kampf der Kameraden und ihrer Hingabe zum Führer. Was Baden anbelangte, daheim herrscht Ruhe, wenn auch ein paar alte Dumme noch immer auf ein Reifen ihrer Saat hoffen. Sie haben sich diesmal verrechnet, dafür ist gesorgt.46 Er spielte auf die ehemaligen politischen Kontrahenten an, und wie jene Menschen sich nach drei Jahren NS-Herrschaft und zwei Jahren Krieg verhielten. Was deren Benehmen anbelangte, so war auch Badens Polizeichef Alfred Gutschke zufrieden. Monarchistische, rote und schwarze Kreise haben sich in der Berichterstattung nicht bemerkbar gemacht.47 Um trotzdem auf dem Laufenden zu sein, waren sporadische Überprüfungen das A und O. Mittlerweile war bei vielen ehemaligen NS-Gegnern von Angepasstheit und Unauffälligkeit zu lesen, wie bei dem Zimmermann Anton Siegmund. Zuerst der SDAP angehörend, wechselte er zu den Schwarzen und mauserte sich dort zum ausgesprochenen Gegner der NS-Bewegung. Nun, nach dem Anschluss, tat er sich mit politischer Teilnahmslosigkeit und Zurückhaltung hervor sowie sporadischen Kontakten zum Klerus.48 Ähnlich verhielt es sich bei Josef Wolkerstorfer – ehemals CSP-Mitglied, wies er 1941 ein einwandfreies politisches Benehmen auf, obwohl Gerüchte besagten, er hätte in der Systemzeit NS-Anhänger wegen dem Singen von NS-Liedern angezeigt.49 Und auch bei dem Lotteriegeschäftsinhaber Paul Pendl, der dem christlichsozialen Lager angehört hatte, sich dort führend betätigt hatte und gegenüber der NS-Bewegung gegnerisch eingestellt gewesen war, lesen wir von angepasstem und unauffälligem Verhalten. Auffällig wurde er erst im März 1944, als die Behörden feststellen, dass er ohne Genehmigung seit 1943 eine Sammlung für das „Pater-Abel-Denkmal-Komitee“ führte. Er wurde verhaftet, wegen Ver45 46 47 48 49
Ebd. S. 17 StA B, GB 052/Personalakten: Willsch Hermann (geb. 1910). Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz 1938–1945; 1942. Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Siegmund Anton (geb. 1892). Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Wolkerstorfer Josef (geb. 1901).
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breitung „religiöser Weissagungsschriften mit zersetzendem Inhalts“ angeklagt und sollte die Haft erst am 1. Mai 1945 verlassen.50 Andere Formulierungen lauteten, dass jene Personen mit der Zeit gegangen waren. Manchmal schien das NS-Regime sogar ein bisschen stolz zu sein, wenn man solche charakterlichen „Reifungen“ ehemaliger Gegner betrachtete. Die Badener Zeitung zeigte sich angetan, als sie dem früheren SDAP-Gemeinderat Alexander Berka zu seinem Geburtstag gratulierte. Der rüstige 70-Jährige, der zehn Jahre als Gemeinderat und zwanzig Jahre bei der Gebietskrankenkasse tätig gewesen war, leistete nun fleißig und tatkräftig als Blockwart des Reichs-Luftschutzes seinen Dienst an der „Volksgemeinschaft“. Welcher Partei er angehört hatte, wurde nicht erwähnt, nur dass er sich auf sozialpolitischem Gebiete bewegt hatte.51 Aber solch eine fabelhafte Integration funktionierte nicht bei allen. Schwer zu fassen war Rene Kober, von dem man in Erfahrung bringen wollte, ob er als Wehrmachtsoffizier geeignet wäre. Es begann damit, dass man nicht wusste, wo und ob überhaupt ein Apostroph bei seinem Vornamen zu setzen war. Seiner aktuellen Adresse wurde man anfänglich auch nicht habhaft. Offensichtlich hatte keiner bemerkt, dass er 1939 aus Baden nach Wien übersiedelt war und dort in die Tulpengasse, aus der durch Schlamperei die Pielpengasse wurde. Damit kursierte sein Beurteilungsbogen erst einmal mehrmals zwischen Wien und Baden hin und her. Fest stand nur, dass er Anhänger der Systemregierung war, dass er in monarchistischen Kreisen verkehrte, sich selbst als Baron titulierte und angeblich als Fechtlehrer der kaiserlichen Familie in Spanien tätig gewesen sein soll. Ob man die spanischen Bourbonen unabsichtlich von Königen zu Kaisern emporgehoben hatte oder ob die Habsburger damit gemeint waren, ist nicht ersichtlich. Fast schon klischeehaft fand Rene Kober während des Ständestaates eine Leiterstellung im Casino, um später in einen Unterschlagungsskandal verwickelt zu werden und in Untersuchungshaft zu landen.52 Monarchistisch angehaucht, doch im Gegensatz zu Rene Kober eindeutiger in ihrem Auftreten, verhielt sich die Küchenleiterin des Kinderheimes „Ostmärkische BeamtenKrankenfürsorgeanstalt“, genannt „Melanie“ (Weilburgstraße 17), Wetti Weingartsberger. Im März 1941 beschwerten sich mehrere Mütter aus dem Altreich bei der Kreisleitung, dass die Küchenleiterin in Gesprächen eine ausgesprochen volks- und staatsfeindliche Gesinnung an den Tag lege. Als sie ihr am 13. März, zu diesem Freudentag, gratulierten, soll Wetti Weingartsberger entgegnete haben: Das ist für euch ein Freudentag, für uns ist es ein Trauertag. Als ob das nicht genug wäre: Unser Kaiser Otto ist in Amerika beim Roosevelt und Amerika wird uns schon helfen. Wir wollen wieder allein sein, wenn es auch noch ein paar Jahre dauert. Und beim Umbruch im Jahre 1938 hätten sich in Österreich Tausende erschossen oder wären erschossen worden. Auf den Einwand einer fassungslosen Mutter aus dem Altreich, 50 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Pendl Paul (geb. 1882) und www.doew.at Opferdatenbank: Pendl Paul (10.04.2023). 51 Vgl. BZ Nr. 11 v. 07.02.1942, S. 3 – Alexander Berka (1872–1963). 52 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Kober Rene (geb. 1884).
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weshalb dann so viele einer letztens abgehaltenen Rede Goebbels zugejubelt hätten, erwiderte Weingartsberger, die Fabriken hätten ja schließen müssen, damit Leute auf den Straßen wären.53 Kreisleiter Hajda verlangte, dass die Frau augenblicklich zu entfernen sei. Die Generaldirektion der Ostmärkischen Beamten-Krankenfürsorgeanstalt reagierte vorerst mit einer Beurlaubung. Dem NS-Regime feindlich gesinnt war die gesamte Familie Leeb. Allerdings hätte sie nicht auf die Restauration der Habsburger gesetzt, sondern auf Schützenhilfe aus Moskau. Als Ernst Leeb jun. einer Beurteilung unterzogen wurde, hieß es, seine Familie ist stark kommunistisch verseucht und wird polizeilich überwacht. Die Mutter, Antonia Leeb, galt vor dem Anschluss als Gegnerin der NS-Bewegung, genauso wie ihr Ehemann, Ernst Leeb sen. Und nach dem Anschluss, war mit Sicherheit anzunehmen, dass sie selbst, als auch ihr Mann vom Nationalsozialismus nichts wissen wollen. Dermaßen politisch unzuverlässig, war abzusehen, dass Antonia Leebs Bewerbung um einen Posten im öffentlichen Dienst unbedingt abgelehnt werden musste. Während hier die NS-Reihen geschlossen blieben, konnte ihr Sohn kurzzeitig durchschlüpfen und fand sich, aufgrund einer genehmen Beurteilung, in der Höhle des braunen Badener Löwen wieder – bei der Post. Doch Hans Hermann bemerkte den Fehler und stellte kurzerhand die zuständige Ortsgruppe zur Rede. Eine kurze Rückfrage bei der Polizei hätte feststellen können, dass die ganze Familie Leeb als kommunistisch bekannt ist und den schlechtesten Leumund geniest und dass dies auch der Grund war, dass Leeb, als er vom Arbeitsamt dem Postamt zugewiesen wurde, sofort zum Arbeitsdienst abgeschoben wurde. Er verlangte sogleich zu wissen, welche Zellen- und Blockleiter für diesen Schlamassel verantwortlich waren. Solch stadt- und polizeilich bekannte Fälle müssen auch dem Blockleiter bekannt sein, wenn er seine ihm zugewiesenen Hausgemeinden, wie es seine Pflicht sein soll, kennt.54 Die Ortsgruppe rechtfertigte sich damit, dass auf Weisungen des Bürgermeisters die Stadtpolizei den Ortsgruppen keine Auskünfte dieser Art mehr erteilen durfte. Außerdem leide die Parteiarbeit unter einem ständigen Blockleiterwechsel. Die Ortsgruppe sprach hier Entscheidendes und Altbekanntes an. Der Krieg, die Einrückungen rissen ein gewaltiges Loch in die ohnehin dünne Personaldecke und dieses Loch sollte noch viel größer werden. * Neben dem politischen Gegner gab es ausreichend Durchschnittsvolksgenossen, die es zu beobachten und zu disziplinieren galt. Die Unsitte, Dreck und Schmutz auf die Straße zu schmeißen, riss offensichtlich auch nach drei Jahren NS-Herrschaft nicht ab. Genauso verdreckt mussten die Schwechat und ihre Ufer gewesen sein. Neben gewöhnlichem Unrat konnte man auf unsachgemäß entsorgtes Nachtgeschirr, Dung und Tierkadaver stoßen. 53 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Weingartsberger Wetti (geb. 1894). 54 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Leeb Antonia (geb. 1906), Leeb Ernst sen. (geb. 1899), Leeb Ernst jun. (geb. 1922).
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Unwürdig eines Kurortes, polterte Schmid: Leichtigkeit und Bequemlichkeit haben in dieser Hinsicht schwere gesundheitliche Gefahren und Schädigung der Wasserwerksbetriebe und der Fischerei verursacht und dem guten Ruf unserer Kurstadt geschadet.55 Nehmen wir einen durchschnittlichen Polizeibericht von Anfang Juni 1941 bzw. die publizierte Zusammenfassung in der Badener Zeitung zur Hand, lesen wir in einer Woche von: 89 Anzeigen und 27 Verwarnungen wegen Übertretung der Straßenverkehrsordnung, 17 Verstößen gegen Verdunkelungsvorschriften, 16 Personen wurden ohne gültigen Personalausweis aufgegriffen, zehn Personen wegen mangelhafter Entrümplung bestraft, sieben wegen Überschreitung der Höchstpreisgrenze, neun aufgrund der Übertretung des Jugendschutzgesetztes, fünf wegen Benzin-Missbrauchs und dann haben wir noch zwei Überschreitungen der Sperrstunde und eine mangelnde Preisbeschilderung.56 Die Vergehen oder Verbrechen auf dem Gebiet der Preisbeschilderung, Preisüberschreitung oder falschen Handhabe bei Essensmarken waren nicht immer wohldurchdachte und damit vorsätzliche Handlungen. Wenn wir auf die Rationierungen, Preisgestaltungen und Bezugsscheinverwendung einen Blick werfen, so herrscht hier für das ungeübte Auge weiterhin eine rege Unübersichtlichkeit, teilweise Widersprüchlichkeit, vor, bedingt durch die Sprunghaftigkeit des NS-Systems. So verlautbarte der Landrat im Mai 1941, dass Trauerkleidung immer noch keiner Bezugsbeschränkung unterlag, trotzdem eine Bescheinigung des zuständigen Amtes von Nöten war. Nachbesserungen betrafen Frauenkniestrümpfe mit Band – jene wurden offensichtlich nicht gut angenommen und blieben liegen. Damit sie nicht entsorgt werden mussten, bedurfte deren Abgabe keine Abtrennung eines Bezugsscheinnachweises, allerdings nur, wenn die Verbraucherin eine erwachsene Frau war und kein Mädchen. Bei Kindern gab es Sonderregelungen, wobei es hier ohnehin bereits zuvor Sonderreglungen gegeben hatte. Noch komplizierter wurde es, wenn Kinder Sondergrößen benötigten. Der Skurrilität aus heutiger Sicht waren keine Grenzen gesetzt. Einer neuen Regelung bedurften Stricksocken, nachdem man festgestellt hatte, dass sie nicht alle gleich viel wogen – unterschiedliches Gewicht bedurfte unterschiedlicher Werteinheiten.57 Unter die „Verordnungsneunovellierungswelle“ ist unter anderem der Photograph und Kreisfachschaftswalter der DAF Eduard Piron gekommen. Als er im Frühling im Schloss Leesdorf für Innenaufnahmen engagiert wurde, machte er sich mit einem Gehilfen auf den Weg, nur um vor Ort festzustellen, dass er nicht das passende Equipment dabeihatte. Statt gewöhnlichen Innenaufnahmen, wie es ihm zuvor versichert wurde, waren es Gruppenaufnahmen von Kindern – die offenbar andere Gerätschaften verlangten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu seinem Geschäft zurückzukehren und die richtige Apparatur zu organisieren. Während dieser Zeit musste er sein Geschäft schließen, und das ausgerechnet in der kundenstärksten Zeit. Um den Verlust wettzumachen, verrechnete er bei dem Kinder55 Vgl. BZ Nr. 16 v. 22.02.1941, S. 8. 56 Vgl. BZ Nr. 46 v. 07.06.1941, S. 4. 57 Vgl. BZ Nr. 44/45 v. 31.05.1941, S. 5.
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shooting mehr als normalerweise. Damit handelte er sich eine Anzeige wegen Preisüberschreitung ein und eine Ordnungsstrafe von 500 RM.58 Den Überblick über die aktuelle Gesetzeslage zu behalten, war eine gewisse Herausforderung. Hinzu kam das Denunziantentum, vor dem kein Volksgenosse sicher sein konnte. Im März 1941 sollte Josephine Stadelmann der Prozess gemacht werden, weil sie spaßhalber einem Soldaten, der sich auf Fronturlaub befand, die Frage stellte: „Na sind Sie nicht mehr bei dem Leichenverein?“59 Diese Aussage fiel unter das Heimtückegesetz und ließ das Landesgericht in Wiener Neustadt tätig werden. Auch wenn das Verfahren im September letztendlich eingestellt wurde, eine unbedachte Aussage plus eine Portion Pech – während sich zwei Ohrenzeugen an nichts erinnern konnten, der dritte Ohrenzeuge allerdings schon – und schon konnte ein jeder vor dem Richter stehen. Im Oktober 1941 geriet hingegen die Finanzangestellte Eugenia Braun in die Bredouille – wegen des lauten Zuziehens von Fensterläden. Dadurch hatte sie nämlich die Rede des Kreisleiters bei der Heldenehrung am Pfarrplatz gestört. Zu ihrer Rechtfertigung hat sie angegeben, dass sie beim Herablassen der Fensterrollläden bestimmt nicht die Absicht hatte, die Heldenehrung zu stören. Sie habe lediglich ihrer Wohnung verdunkeln wollen, um Koffer packen zu können, weil sie am 1.11.1941, in der Früh, nach Wien fahren müsse. Die Angaben der Braun erscheinen wenig glaubhaft und ist gegen sie eine Anzeige nach Artikel VIII EGVG. dem Herrn Landrat vorgelegt worden.60 Und im April 1941 geriet eine Gruppe Schülerinnen der Frauengasse in behördliche Bedrängnis. Sie wurden dabei ertappt, wie sie die Frauenkirche aufsuchten, beim Altar mit dem Pfarrer sprachen, der etwas verteilte und dann gemeinsam mit den Mädchen Kirchenlieder zum Besten gab. Denunziert wurden die Schülerinnen von zwei anderen Schülerinnen, die weder gehörten hatten, was da besprochen, noch gesehen was dort verteilt worden war. Aber da ihnen das Treiben dermaßen verdächtig erschien, erstatteten sie Meldung bei der Polizei und der Ortsgruppe Baden-Stadt.61 So bedeutend die Beobachtung für die zwei jungen Denunziantinnen auch gewesen sein mochte, jede Anzeige bedeutete für die zuständigen Stellen Arbeit. Besonders anonyme Hinweise, gesäumt mit kaum greifbaren und überprüfbaren Behauptungen, waren mehr Fluch als Segen – obwohl der Überwachungsapparat des NS-Regimes auf dem Vernadern anderer aufgebaut war. Deswegen mussten Leute wie Kreisleiter Hajda hier und da regulativ eingreifen. Ich mache ausdrücklich aufmerksam, dass ich anonyme Zuschriften grundsätzlich nicht behandle. Ich verlange von jedem Volksgenossen, dass er für derartige Angaben mit seinem vollen Namen einsteht.62
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Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Piron Eduard (1891–1968). StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II; Stadelmann Josephine (geb. 1915). Ebd.; Braun Eugenia (1897–1959). Vgl. StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Geistliche-Gestapo; Mappe I f. 151 und MAURER, MAURER, Gestapo – Vertraulich!, S. 64. 62 Vgl. BZ Nr. 64 v. 09.08.1941, S. 3.
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… und die Abgekommenen Wenn wir ein Stück zurückgehen, zu den Aussagen von Zisser und Gutschke, wonach die politischen Feinde sich ruhig verhielten und die Repression von Erfolg gekrönt war, so konnten sich ausgerechnet diese Erfolge bei der Verfolgung von Feinden als zweischneidiges Schwert erweisen. Wurde laufend von erfolgreichen Ermittlungen, Razzien und Verhaftungswellen berichtet, konnte das ebenso als systemische Erfolglosigkeit interpretiert werden. Man konnte meinen, dass man das Problem mit den NS-Gegnern nicht in den Griff bekam, wenn ständig irgendwo Feinde ausgehoben werden mussten und es kein Ende finden würde. Wäre man allerdings ein für alle Mal total erfolgreich, wäre zugleich der Feind weg. Es war anfänglich ein austariertes Propagandaspiel, das jedoch immer neuer Feindbilder und Bedrohungsszenarien bedurfte. Aber wenn tatsächlich alle Roten, Schwarzen, Juden und Monarchisten wegfielen, was dann? Das terroristische NS-Räderwerk durfte nicht zum Stillstand kommen, weil der Terror ideologieimmanent war. In solch einer Situation gab es noch die eigenen Reihen, die durchforstet werden konnten. Hier gab es immer wieder Phasen, wo mal intensiver, mal weniger intensiv durchgesiebt wurde. Beanstandet werden konnte vieles, von behördlicher Schlamperei bis zu einem untragbaren Verhalten von Parteigenossen. Hierbei war es entscheidend, nicht zu forsch und gleichzeitig nicht zu lasch vorzugehen. Als die Kreisleitung mit der Handhabe der „Warnkarteien“ durch die Ortsgruppen nicht zufrieden war und die Arbeit als schleppend und gleichgültig zusammenfasste, regte sich der Unmut. Dass es immer mehr Beschwerden über widerspenstige Amtsleiter gegeben hatte, machte die Sache nicht besser. Die Ortsgruppen rechtfertigten sich mit dem enorm angestiegenen Arbeitspensum und bekrittelten ihrerseits die umständlichen und fehlerhaften Formulare, mit denen sie hantieren mussten. Und es wurde angemerkt: Ein Treten vergrämt die ohnedies fleißig tätigen Bearbeiter der Kartei.63 Es war eine Gratwanderung zwischen hartem Durchgreifen und der Angst, dass die „Volksgemeinschaft“ eventuell mitbekäme, dass innerhalb des NS-Systems nicht alles so rosig war. Denn das K im Nationalsozialismus stand für Kameradschaft und das H für Harmonie. Streit und sonstige Dissonanzen gehörten der verabscheuungswürdigen parlamentarischen Vergangenheit an, und deswegen war es überaus verpönt, wenn interne Konflikte nach außen drangen oder gar vor Augen der „Volksgemeinschaft“ ausgetragen wurden. So geschehen im Jänner 1941, als der Gendarmerieinspektor Franz Freillinger, Angestellter beim Landrat im Wirtschaftsamt, am Telefon von Oberinspektor Ignaz Jeitschko zur Sau gemacht wurde.64 Freillinger erinnert sich an eine schreiende männliche Stimme und daran, dass ich kaum ein Wort verstehen konnte und war ich sofort überzeugt, dass ich mit jemandem zu tun habe, der sich vor Wut nicht mehr so viel beherrschen könne um verständlich sprechen zu können. Ich sagte begütigend etwas wie „na da braucht man sich doch nicht gleich den Kopf abreißen“, dann hörte ich noch so etwas wie „danke“, worauf ich „bitte“ sagte und 63 StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. II; Warnkartei. 64 Franz Freillinger (geb. 1882).
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auflegte. Doch damit nicht genug. Ignaz Jeitschko stürmte danach noch sein Büro, fragte Freillinger, ob er wüsste, mit wem er vorhin gesprochen hätte, und machte dort weiter, wo er telefonisch aufgehört hatte. Ich bejahte, worauf er nicht etwa laut sprechend, sondern derart schreiend, dass es auf dem Gang und den Nebenzimmer gehört werden musste, mir in einen Schwall von kaum verständlichen Worten und ganz unverständlichen Sätzen klar machen wollte, dass ich eine sehr schwere Verfehlung gegen seine Person begangen hätte.65 Für Franz Freillinger war das nicht nur verstörend, unerhört und demütigend, sondern er machte sich zugleich Gedanken um die Außenwirkung. Was würden sich die einfachen Volksgenossen bei einem solch unwürdigen Schauspiel bloß denken? Die Nazis beflegeln sich öffentlich im Amt! Was machen die erst, wenn sie unter sich sind! Solche Menschen haben nun die Macht! Solchen Menschen sind wir nun ausgeliefert! Die sollen über uns herrschen, haben aber selbst keine Selbstbeherrschung! Nach außen hui, innen pfui! Chatskandale aus dem Jahre 2021 lassen grüßen! Welche Konflikte und Animositäten dahinter auch gesteckt haben mögen, Landrat Wohlrab packte die Gelegenheit beim Schopf, um in eigener Sache vorstellig zu werden. Denn Ignaz Jeitschko würde Gerüchte über ihn verbreiten, wonach er Treibstoff für private Jagdausflüge veruntreut hätte. Nebenbei angemerkt, die Grußpflicht ihm als Landrat gegenüber wäre bei Jeitschko ausbaufähig. Dabei hatte alles so gut angefangen, resümierte Wohlrab, als er 1938 die Bezirkshauptmannschaft in Baden übernommen hatte. Damals war Jeitschko von den 40 Beamten einer der wenigen mit Parteibuch gewesen. Um sich mit einem verdienten Nationalsozialisten gutzustellen, hatte ihn Wohlrab sogar zu Jagden eingeladen, wobei er schnell gemerkt hatte, welch ein Verhalten dieser Mann anderen Volkswie Parteigenossen entgegenbrachte. Ich halte den Reg. Ob. Insp. Pg. Jeitscko für einen mit sich und der Welt unzufriedenen Menschen, der des Mitleids wert wäre, wenn seine Gehässigkeit nicht untragbare Formen angenommen hätte. Wohlrab sprach von unverständlichem Hass, persönlichen Beleidigungen und haltlosen Anschuldigungen gegen seine Person. Aber nicht nur gegen ihn soll Jeitschko vorgegangen sein, sondern gegen sämtliche Volks- und Parteigenossen. Dies ging laut Wohlrab sogar so weit: Wiederholt drohten mir Parteien, sie ließen sich sein Benehmen nicht mehr gefallen und besonders Radikale drohten, mit handgreiflicher Züchtigung gegen ihn vorzugehen.66 Jeitschkos Fall kam vor das Parteigaugericht. Im Juni 1942 wurde ein strenger Verweis ausgesprochen, und im Jänner 1944 wurde er in den Ruhestand versetzt. Bei dem Ingenieur Anton Tölk war es nicht sein hitziges Gemüt, das ihm die Ungunst der Partei einbrachte und ihn im Februar 1941 die Aufnahme in die NSDAP kostete, sondern die Unterstützung von Juden. Mit solchen subversiven Elementen und Verrätern wollte man nichts zu tun haben. Sechs Jahre hatte es gedauert, bis die NSDAP dahinter kam, dass Anton Tölk, der seit 1935 den illegalen Sozialisten angehörte, gegen das Regime 65 Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Jeitschko Ignaz (1895–1975) – Franz Freillinger Gedächtnisprotokoll. 66 Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Jeitschko Ignaz – Wohlrab (15.06.1942).
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eingestellt war und wissentlich mit anderen Genossen 1938 der NSDAP beigetreten war – Stichwort: Einsickerungsaktion. Er kam vor das Parteigericht und weckte das Interesse der Gestapo. Nach 1945 galt er als aktiver Widerstandkämpfer und wurde Ehrenmitglied des „U-Boot-Verbandes“ – Menschen, die versteckten Juden (U-Booten) geholfen hatten. Seinen Widerstand bezahlte er mit dem Status eines Schwerinvaliden. Kein Wunder also, dass er, nachdem er sich auch geweigert hatte, 1944/45 dem Volkssturm beizutreten, und sich stattdessen nach Kärnten abgesetzt hatte, nach seiner Rückkehr äußerst pikiert reagierte, dass er weiterhin als Nationalsozialist geführt wurde. Ich empfinde es direkt als Hohn, dass ich mich – der ich als einer der anerkannt rührigsten und vielseitigsten „Aktiven Freiheitskämpfer Österreichs“ mit der Ausweisnummer 223 geführt werden – heute als Anwärter der Nazipartei registrieren lassen muss. Ich sehe zwar auch ein, dass man für mich kein eigenes Gesetz machen kann.67 Über „Widerstand mit Parteibuch“ werden wir noch einiges lesen. Eher einzigartig mutet hingegen das beantragte Parteigerichtsverfahren gegen Felix Leeb an. Der Mann war Beauftragter für den politischen Stoßtrupp der DAF – soweit so gut –, aber gleichzeitig führendes Mitglied der Mazdaznan-Sekte. An was die Mazdaznaner so glaubten und machten, dazu bedurfte es der Recherche des Sicherheitsdienstes (SD). Es handelt sich um eine völlig international eingestellte Sekte, die einen ausgesprochenen freimaurerischen Charakter hat und ausgesprochen pazifistisch zu bezeichnen ist. Angeführt wurde sie durch einen Dr. Rauth als Reichskanzler der internationalen und interdenominationalen Bewegung der Mazdaznanbotschaft und Offenbarung. Und was besonders interessierte, war, dass aus „Gesundheitsgründen“ die Beschneidung der Männer propagiert wird.68 Wie nun weiter zu verfahren, schwierig, denn Felix Leeb gab von sich, niemals dieser Sekte angehört zu haben, er habe sich nur für deren Lehren interessiert, und: Vorweg sei erklärt, das „Masdasnan“ keine Sekte, sondern das älteste praktische phylosofische Lehrsystem darstellt, das in der Menschheitsgeschichte überhaupt bekannt ist.69Angetan hatten es ihm die vegetarische Ernährungsweise sowie die alkohol- und nikotinfreie Lebensführung. Das Pazifistische lehnte er hingegen ab – was im April 1943 dem Kreisgericht jegliche Grundlage nahm, ihn aus der Partei auszuschließen. Ungut aufzufallen oder beschuldigt zu werden, „über die Stränge geschlagen“ zu haben, passierte nicht bloß gewöhnlichen oder angehenden Parteimitgliedern. Um nochmal auf Ignatz Jeitschko einzugehen, dass er von Landrat Wohlrab angefeindet wurde, lag nicht allein an seinem aufbrausenden Charakter, sondern dass der Mann genau wusste, wovon er sprach. Denn Jeitschkos Gerüchte, wonach der Landrat Benzinzuteilungen missbräuchlich verwendete, „ent-gerüchteten“ sich. Im November 1941 musste Wohlrab eine Zurechtweisung des Landeswirtschaftsamtes über sich ergehen lassen. Denn die Höhe der monat67 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Tölk Anton (geb. 1904). 68 StA B, GB 0231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II; Leeb Felix (geb. 1880) – Gaustellenleitung (03.04.1942). 69 Ebd. – Leeb ans Kreisgericht (27.08.1943).
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lichen Zuteilungen in Ihren Dienstwagen und ihre Steigerung in den letzten Monaten trotz der allgemeinen Kürzungen der Kontingente ist unverständlich.70 450 Liter hatte Wohlrab für den Juli 1941 beantragt. Stutzig machte das Wirtschaftsamt, dass er im Juli 1941 aber auf Urlaub war. Unerhörte Anschuldigungen, erwiderte Wohlrab, für ihn nichts weiter als eine Rufmordkampagne. Sicherheitshalber schrieb er sogleich an den Regierungspräsidenten von Niederdonau Dr. Erich Gruber, um sich dessen Rückendeckung zu versichern. Was folgte, waren Dementi unterschiedlichster Natur. Er erklärte, was ihm als Landrat so von Rechtswegen zustehe, dass er niemals Benzin verschwenden würde, dass das Benzin nicht für ihn wäre, und außerdem, dass ich selbst bei schlechtem Wetter jeden Gang zu repräsentativen Vertretungen, sei es Theater, sei es eine gesellige Zusammenkunft, Versammlung, seien es Beratungen, Tagungen u. dgl. zu Fuß mache […].71 Der Mann war also ökonomisch und ökologisch gut unterwegs. Das Landwirtschaftsamt drückte halt ein Auge zu, beließ es bei einer Zurechtweisung und gab mit auf den Weg, beim nächsten Mal genauere Angaben zu tätigen, was die Verbuchung, Vormerkung und Vermerkung anbelangte – dann würde es auch mit der nicht schiefen Optik klappen. Ebenso aus der Kreisebene, nur halt nicht aus der Verwaltung, sondern aus der Partei, geriet Ende 1941 DAF-Kreisobmann Ernst Ziegler in Verdacht des volksschädlichen Verhaltens. Ob nun harmlose Gerüchte oder gezielte Intrigen, in seinem Fall hatte man da etwas gehört, was ein anderer angedeutet, weil irgendwer etwas gesehen hatte und sich Ziegler grundsätzlich irgendwie eigen benahm.72 Bruchstückhaft wurden Gespräche mit angehört, in denen es um ein Auto ging, das vor einem Wirtshaus vorgefahren sei, wo ein Paket übergeben, die Autotür eiligst zugeschlagen und schnell weggefahren wurde. Man wollte Näheres wissen und wieder hörte jemand etwas, (darunter waren meine Schreibkräfte gemeint), sie hätten bei Pg. Ziegler im Klosett Lebensmittel gesehen. Und daraus kombinierte ich, dass dieser Umstand mit dem Paket in Verbindung gebracht werden könnte.73 Die Ermittlungen wurden aufgenommen. Bei dem Paket hätte es sich auch um eine Stroh- oder Korbtasche handeln können, aber da so etwas laut dem Fahrer nie übergeben wurde, war die Frage eigentlich obsolet. Aber das Paket im Klosett, das war laut einer Zeugin, die bei Ziegler geladen gewesen war und die Toilette hatte aufsuchen müssen, ein längliches Paket, das in ein weißes blutiges Papier eingeschlagen war. Ich vermutete in diesem Paket Fleisch, habe aber nicht hineingesehen und weiß daher bis heute nicht, das drinnen war. Nachdem zwei Tage später eine Arbeitskameradin bei Pg. Ziegler eingeladen war und dort Fisch bekommen hat, ist mir nachträglich die Vermutung aufgekommen, dass im Paket etwa dieser Fisch enthalten war. Ein paar Tage später hieß es bereits, dass ich beim damaligen Besuch beim Kreisobmann Fleisch
70 NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Wohlrab Josef – Wirtschaftsamt an Wohlrab (01.11.1941). 71 Ebd. – Wohlrab an Gruber (07.11.1941). 72 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Ziegler Ernst – Gedächtnisprotokoll (15.01.1942). 73 Ebd. – Aussage Erich Hochstöger (04.12.1941).
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und Würstel gesehen hätte.74 Und das Wirtshaus entpuppte sich als geschlossener Fleischhauer. Eine andere Zeugin bzw. außenstehende Beobachterin denunzierte „treffend“: Gefühlsmäßig hatte ich das Empfinden, als ob der Pg. Ziegler selbst in Verdacht stand. Ihr gefühlsmäßiges Empfinden fußte letztendlich auf einem Scherz samt humorvollem Fortgang, ausgelöst durch das Vetrauensmitglied der Leobersdorfer Maschinenfabrik Friedrich Hasl. Instrumentalisiert sei er worden, wehrte er sich dann bei seiner Einvernahme, denn ich empfinde daher den tiefen Eindruck, dass man meine bedauerliche scherzhafte Äußerung als sehr erwünscht in Benützung zog, um einerseits die innerhalb der Kreisdienststelle lastende Spannung einiger Mitarbeiter zu entfalten […].75 Dieser Fall war harmlos, gar unterhaltsam, aber genau solche Mechanismen – ich kann es nicht oft genug betonen –, dass irgendwer irgendwas irgendwo wahrgenommen hatte und sich dann später aber eh nicht mehr ganz genau daran erinnern konnte, konnten Menschenleben kosten. * Es war ein Drahtseilakt – wen und wie man rügte, strafte, aus der Partei ausschloss oder in Pension schickte. Es ist zugleich aus heutiger Perspektive nicht immer klar, warum in dem einen Fall so und in dem anderen so gehandelt wurde. Vor allem wenn von Ehre und Würde geschwafelt wurde und wenn diese gröbliche Verletzungen davontrugen. Denn wie schon öfters erwähnt, die NS-Ehre stand über allem. Welches Verhalten als unwürdig galt und welches nicht, unterlag ebenso keinem festen Schema. Es war wie so vieles im NS-Staat diffus und widersprüchlich. Oftmals gab es einen Komplizen und Einflüsterer, der zum unwürdigen Verhalten verführte: Alkohol. So stänkerte Parteigenosse Hans Kaltenegger im alkoholisierten Zustand gewohnheitsmäßig wildfremde Personen beim Heurigen an. Er galt als gewalttätig, als Provokateur, der keiner Schlägerei aus dem Weg ging. Seine Brutalität trieb er im April 1942 auf die Spitze, als er im Gasthof Pausch in der Gutenbrunnerstraße eine wildfremde Frau anpöbelte, diese sich das nicht gefallen ließ und ihm gar Kontra gab. Alkoholisiert und gekränkt in seiner Ehre, machte er die Bemerkung, passt’s auf, der schmier‘ ich eine, was von seinen Tischgenossen nicht ernst genommen wurde. Doch Hans Kaltenegger meinte es ernst, er folgte seinem Opfer auf die Toilette, dann waren nur noch Schreie zu hören. Zeugen rannten herbei und sahen, wie Kaltenegger die Frau bearbeitete und schlug, sodass ihr vom Gesicht Blut herabrann. Da stürmte schon der Begleiter der unbekannten Frau herbei. Es entbrannte eine heftige Schlägerei, bei der Aschenbecher und ein Siphonflaschenkopf zum Einsatz kamen sowie eine Fensterscheibe zu Bruch ging. Man versuchte Kaltenegger zurückzuhalten, wobei K von dem Fremden noch ein paar tüchtige Fausthiebe ins Gesicht erhielt. […] Bezeichnend für die ganze Situation ist, dass alle Anwesenden gegen Kaltenegger eingestellt waren und es ihm 74 Ebd. – Aussage Lore Fessl (04.12.1941). 75 Ebd. – Aussage Friedrich Hasl (04.12.1941).
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nicht gelang, Helfer zu finden, da er sich offensichtlich in das Unrecht gesetzt hatte und sich für einen politischen Leiter vollkommen unwürdig benahm. Dermaßen im Stich gelassen, verließ er die Lokalität, aber nicht wie man annehmen sollte, um nachhause zu gehen, sondern begab sich in den Gasthof Auer und suchte dort Mitleid zu finden. […] „Seht’s nur an, sowas muss man sich von einem Cechen gefallen lassen. So behandelt man einen Illegalen, morgen gehe ich zum Bürgermeister und Kreisleiter, dieser H…laden muss gesperrt werden.76 Es war nicht das erste Mal, dass Parteigenosse Kaltenegger ein unwürdiges Verhalten zum Besten gegeben hatte. Erst ein paar Wochen zuvor war der letzte alkoholische Exzess passiert, der mit einer Schlägerei geendet hatte, bei der er nicht einmal – wie extra hervorgehoben wurde – das Parteiabzeichen abgelegt hatte. Dabei war das alles kein Geheimnis. Der Mann hatte acht Vorstrafen und war bereits 1932 aus der NSDAP ausgeschlossen worden. Doch dann kam ihm die Illegalität zugute, wo seine „Stärken“ und „Vorzüge“ perfekt hineingepasst hatte. Kaltenegger war stets ein treues Mitglied. Seine erlittenen Strafen wegen Rauferei sind teilweise auch seiner politischen Tätigkeit als Nationalsozialist zuzuschreiben.77 Eindeutige Parallelen finden wir bei Parteigenossen Hans Heinzl, der es mit dem Gesetz nicht so ernst nahm, aber dafür mit dem Alkohol. Kreispersonalamtsleiter Hans Hermann stellte es dem Ortsgruppenleiter offen, wie mit jenem weiter zu verfahren war. Aber laut ihm, da die Vorstrafen geringfügiger Natur sind, wäre bei sonstiger Verwendbarkeit und Verlässlichkeit des Betreffenden nichts dagegen einzuwenden.78 Doch die Ortsgruppe hatte genug von Hans Heinzl. Er wurde von seinem Blockleiterposten und dem des Presseleiters enthoben. Die Gründe lauteten: Trunksucht, Interessenlosigkeit und Unverlässlichkeit. Und die Vorstrafen geringfügiger Natur waren dann doch: leichte Körperverletzung, Veruntreuung, versuchte Körperverletzung, Trunkenheit und gefährliche Drohung im trunkenem Zustand mit einer Waffe. Zwei altbekannte Facetten sind hier hervorzuheben: Personalmangel und die Krux, was mit verdienten Parteigenossen machen, die sich nach wie vor nicht an die „Nach-1938-Spielregeln“ hielten und stattdessen weiterhin in der Welt von „vor 1938“ lebten. Und dieses Problem hatte das NS-Regime durchgehend. Exekutivkomitee-Mitglied Heinrich Bozek verlor im Oktober 1939 im alkoholisierten Zustand beim Sanatorium Esplanade die Kontrolle über seinen PKW, touchierte einen Gartenzaun sowie einen Holunderbaum und kam erst bei der rückwärtigen Einfahrt des Strandbades zum Stehen. In das Wachzimmer in die Rathausgasse beordert, weigerte sich Bozek anfänglich, dieses zu betreten. Da jedes begütigende Einwirken von Seiten der Sicherheitsorgane fruchtlos blieb, musste er „Im Namen des Gesetzes“ aufgefordert werden, Folge zu leisten. In dem Moment sah der Illegale und Blutordensträger rot. Mit verbalen Drohungen, dass die Beamten bald auf der Straße stehen würden, wobei er die Worte „elende Kreaturen“ und „Systemwürst’ln“ verwendete, riss er anschließend seine Dienstpistole – ja, 76 StA B, GB 052/Personalakten: Kaltenegger Johann/Hans (geb. 1896) – Aufgenommener Tatbestand im Auftrag der Ortsgruppe (15.04.1942). 77 Ebd. – Kreisgericht der NSDAP (09.05.1939). 78 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Heinzl Hans (geb. 1892).
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er war uniformiert und bewaffnet „verhaftet“ worden – aus seinem Halfter und schleuderte sie einem Polizeibeamten auf den Schreibtisch. Für die Sicherheitskräfte endete seine Einvernahme ziemlich unbefriedigend. Nach erfolgter ärztlicher Untersuchung durch Dr. Leyerer, wurde Bozek […] ohne jede Einvernahme entlassen, da sich Gefertigter [Schupobeamter Friedrich Seidl] veranlasst sah, unter solchen Umständen keinesfalls die Amtshandlung weiter durchzuführen.79 Ähnliches Verhalten war von seinem Exekutivkomitee-Kameraden, SA-Truppführer Robert Hilgarth, zu erwarten. Als es im September 1938 um drei Uhr früh im Café Luegmayer (Wassergasse 3) zu einer Schlägerei kam und die eingetroffene Polizei nicht Herr der Lage wurde, musste die Gendarmerie zu Hilfe eilen. Angeblich hatte irgendwer Hitler beleidigt, das „Götzzitat“ war gefallen, und als der Gendarm Rudolf Posamentier mehr über die Hintergründe in Erfahrung bringen wollte, entgegnete ihm der betrunkene Hilgarth: Das ist meine Sache, wollen Sie einschreiten oder nicht? Ich gebe ihnen den Befehl, 4 Leute, die sich im Lokal befinden, zu verhaften. Sie haben mir dabei Assistenz zu leisten. Wenn Sie nicht Folge leisten, werde ich mich an die Gestapo und an die Brigadeführung wenden.80 Die Gendarmen taten es nicht, sie nahmen nur die Personalien der Beteiligten auf, was für Hilgarth eine Frechheit war. Noch am selben Tag erschien er beim Gendarmerieposten, verlangte den Kommandanten zu sprechen oder mit der Gestapo zu telefonieren. Das „Gespräch“ zwischen Hilgarth und den Gendarmen wurde sicherheitshalber durchs Fenster geführt. Kein Wunder, denn er habe sich gegenüber den Beamten in einer Weise benommen, die die Annahme zu unterstützen geeignet ist, dass Hilgarth nicht zurechnungsfähig ist.81 Am Ende hieß es recht lapidar, es handelte sich lediglich um einen Gasthausexzess, welcher in vorgerückter Stunde und im angeheiterten Zustand der Beteiligten in einem Nachtcaféhaus stattgefunden hat und welcher schließlich zu einem politischen Ereignis ausgenützt wurde.82 Berühmt und berüchtigt für die Kombination Alkohol und Gewalt war auch der Trafikant Andreas Kratochwill. Am 22. Juni 1941 riss er im schwer alkoholisierten Zustand die Türe der Schutzpolizeidienststelle auf, schlug sie fest hinter sich zu und verlangte augenblicklich zu wissen, weshalb er vorgeladen wäre. Doch da die anwesenden Beamten nichts davon wussten, es sich offensichtlich um ein Missverständnis handelte, versuchte der Polizeibeamte Franz Löberbauer jenes nun aus der Welt zu schaffen.83 Bemüht, die Sachlage zu bereinigen, stieß er jedoch bei Kratochwill auf keinerlei Verständnis, denn Kratochwill gab darauf im schreienden und erregten Tone freche Antworten, fuchtelte mit seinen Händen umher und schlug mich dabei ins Gesicht. Das Ganze endete für Kratochwill in der Ausnüchterungszelle und mit einem Geschrei: „Jetzt ist es ja noch schlechter als zu Schuschniggs Zeiten“
79 80 81 82 83
Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Bozek Heinrich (geb. 1905). StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Hilgarth Robert – Amtsbericht (09.09.1938). Ebd. – BH-Baden an Gestapo (28.10.1938). Ebd. – Stadtpolizei an Bürgermeister Schmid (12.12.1938). Franz Löberbauer (geb. 1902).
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und „Ihr Gauner, ihr Bülcher, ihr werdet es bereuen, morgen bin ich beim Bürgermeister.“84 Eine Anzeige wurde nicht erstattet. Es reichte, dass jener Mann, der einem Polizisten ins Gesicht geschlagen hatte, den Vorfall bedauerte und die beleidigenden Ausdrücke zurücknahm. Immerhin ist es zu einer Verwarnung gekommen. Der Mann war kein Unbekannter, weil einer von den „Verdienten“. In der Meldung wurde der Satz, dass Kratochwill NSDAP-Mitglied und Blutordensträger sei, rot unterstrichen. Der SA 1933, der NSDAP 1936 beigetreten, folgte eine ansehnliche Karriere als Illegaler, die Anfang 1935 gleich einmal mit fünf Jahren schweren Kerkers honoriert wurde.85 Man schätzte, dass er an die 20 Metallböller, sprich Rohrbomben, gezündet hatte und das in den frühen Abendstunden, wo die Straßen der Kurstadt noch durchaus frequentiert waren. Hinzu kam eine nicht mehr eruierbaren Zahl an NS-Schmieraktionen und NS-Flugzettelstreuungen. Als er wegen Letzteren 1934 befragte wurde, so waren es stets unbekannte Burschen, die ihm Flugzettel zugesteckt oder Farbe bei ihm in der Wohnung eingelagert hätten. Und die bei einer Hausdurchsuchung gefundenen Flugschriften, gehörten nicht ihm, sondern dürften selbe von meiner 14-jährigen Tochter […], versehentlich dort verwahrt worden sein.86 Von den fünf Jahren saß er zwei in Graz-Karlau ab. Im Februar 1938 wurde er begnadigt, er war wieder ein freier Mann, zwar arbeitslos, aber mit einem Blutorden an der Brust. Lange musste er dann nicht mehr warten, um wieder auf die Beine zu kommen. Er wurde Koch in der Flak-Kaserne. Ausgerechnet ein Fahrradunfall führte wenige Wochen später zu seiner Arbeitsunfähigkeit. Doch wieder sprang „sein“ Regime ein, die Aktion „Adolf-Hitler-Dankt“ sollte ihm mit einer monatlichen Rente von 120 RM und der „Arisierung“ der Trafik Gutenbrunnerstraße 6 unter die Arme greifen.87 Die Inhaberin Angela Berger wurde 1941 nach Theresienstadt deportiert und kam von dort nicht mehr lebend zurück.88 Vom gleichen Kaliber war der ehemalige Mühlenbesitzer aus Schönau a.d. Triesting, Blutordensträger SS-Obersturmführer Johann Polsterer. Im Jahre 1933 trat er der NSDAP bei. Nach dem Anschluss wurde er Ortsgruppenleiter und Bürgermeister von Schönau. Beide Funktionen füllte er bis zu seiner Einrückung 1941/1942 bzw. bis zur Zusammenlegung Schönaus mit Günselsdorf aus. Nach seiner Entlassung aus der Wehrmacht 1942 verblieb er bis zum Kriegsende Hauptabteilungsleiter bei der Kreisbauernschaft.89 Ein überaus verdienter Parteigenosse und eine perfekte Systemstütze, die leider aber auch dem Alkohol zugetan war. Im September 1943 gegen zwei Uhr morgens wurde sein Wagen am Weg von Bad Vöslau Richtung Leobersdorf durch den Gendarmeriebeamten
84 85 86 87 88 89
StA B, GB 052/Personalakten: Kratochwill Andreas (geb. 1892) – Meldung (22.06.1934). Vgl. ebd. – Volksgerichtsurteil (16.04.1949). Ebd. – Aussage (13.06.1934). Vgl. ebd. – Bericht (17.11.1938). Vgl. ebd. – Ermittlungen Klinger (1948). Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Polsterer Johann (geb. 1900) – Urteil des Obersten Gerichtshofes (01.07.1950) und Gnadengesuch an den Bundespräsidenten (1948).
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Leopold Maurer zwecks Kontrolle angehalten. Aus dem Auto stieg der stark alkoholisierte Johann Polsterer aus und schrie: Mit welchem Recht können Sie mich anhalten, verschwinden Sie von hier, ich werde Ihnen noch was zeigen! Ehe Leopold Maurer etwas sagen konnte, stieg Polsterer auch wieder ein und fuhr davon. Danach suchte Maurer seinen Dienstposten in Leobersdorf auf, wo kurze Zeit später Johann Polsterer mit zwei weiteren SS-Männern auftauchte und ihn aufforderte, unverzüglich in den Hof zu kommen. Als Maurer in den Hof trat, versetzte ihm der Angeklagte einige Faustschläge in die Magengrube […]. Polsterer schrie hierbei: „Jetzt bin ich Euer Kommandant!“, folgte dem Angeklagten, der in die Postenkanzlei flüchtete, mit 2 SS-Männern nach, ergriff den am Schreibtisch des Gendarmerierevierinspektor Maurer liegenden Leibriemen samt Pistole und die Kappe Maurers und warf sie zur Kanzleitür in den Hof hinaus. Mit den Worten: „Der muss ausgezogen werden, der gehört weg von der Gendarmerie!“ drängte der Angeklagte Maurer in die Ecke, riss ihm die Bluse herunter und versuchte, ihm auch das Hemd und die Hose auszuziehen, was ihm aber infolge der heftigen Gegenwehr Maurers nicht gelang.90 Leopold Maurer erstattete Anzeige. Schließlich hatte er durch den Angriff ein Magenleiden erlitten und wurde für die nächsten drei Wochen dienstunfähig geschrieben. Johann Polsterer – der, nachdem er sich seinen Rausch ausgeschlafen hatte und die entwendete Uniformbluse, die Kappe und Leibriemen samt Dienstwaffe, am nächsten Tag mittels eines Boten rückerstattete – sühnte die gesamte Aktion mit einem Obolus von 100 RM – umgerechnet 564,36 €. Ich erinnere, für ein falsch verrechnetes Kinderfotoshooting wurden Eduard Piron 500 RM Strafe auferlegt. Nach 1945 erstattete Leopold Maurer erneut Anzeige, diesmal wegen Verletzung seiner Menschlichkeit und Menschenwürde. In erster Instanz wurde zu seinen Gunsten entschieden, in zweiter nicht. Schließlich konnte er sich damals zur Wehr setzen, argumentierte die zweite Instanz, und er hatte Polsterer damals auch angezeigt. Dafür wurde die dreijährige Haftstrafe seines Angreifers für all seine Verbrechen um ein Jahr reduziert. In einem Schreiben an den Bundespräsidenten erklärte Polsterer seine Beweggründe für seinen Parteibeitritt und seine Gewaltexzesse. Meinen Beitritt zur NSDAP vollzog ich aus rein ideellen Ansichten und die Ausschreitungen, die ich mir als ehemaliger Ortsgruppenleiter zu Schulden kommen ließ, waren lediglich dem starken Alkoholkonsum zuzuschreiben.91 * So ein Benehmen war mehr als nur peinlich oder nervend, weil elendslang zwischen allen möglich Stellen korrespondiert werden musste – ich verweise hier wieder auf Karl Czecselitsch oder Alexander Paleczek (Kapitel 19). Wir haben hier Parteigenossen, die keine Scheu davor hatten, Sicherheitskräfte zu bedrohen oder auf sie einzudreschen. Und den Sicherheitskräften waren mehr oder weniger die Hände gebunden bzw. mussten andere Deeskalationsstrategien Anwendung finden, wenn einem verdienten Illegalen, Blutordens90 Ebd. – Urteil des Obersten Gerichtshofes (01.07.1950). 91 Ebd. – Gnadengesuch an den Bundespräsidenten s.d.
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träger, SS- oder SA-Irgendwas die Sicherungen durchbrannten. Im Falle von Bozek brach man lieber die Einvernahme ab, bei Hilgarth führte man das Gespräch sicherheitshalber durch das Fenster und beim Polsterer lief man am besten davon. Wirklich adäquat belangt wurde keiner von denen. Der Historiker Lutz Raphael brachte es auf den Punkt. Ihre Gewalttätigkeit und Radikalität bedrohten Ruhe und Ordnung, zwei Eckpfeiler der autoritären Regime, ihre antibürgerlichen Posen und Rituale stießen die „bessere“ Gesellschaft und damit die einflussreichen konservativen Unterstützer ab. Andererseits waren sie aber als Bündnispartner bei der Verfolgung und Terrorisierung linker und demokratischer Oppositioneller willkommen.92 Doch es sollten nicht sie sein, die für einen der größten innerparteilichen Skandale in Baden sorgten. Dies erledigte jemand, den es so und in der Position eigentlich gar nicht geben durfte. Es flogen weder Fäuste, noch spritzte Blut, und dennoch war es dermaßen unangenehm, dass man die Sache am liebsten unter den Teppich gekehrt hätte. Verursacht durch einem Mann, der die berechtigte Frage provozierte: In Baden fragt man sich vergeblich, wie so etwas in einem geordneten Staatswesen überhaupt möglich sei.93 Es geht um den Geschäftsführer des Kreiswirtschaftsamts, kommissarischen Verwalter jüdischer Immobilien und Ariseur Hellmuth Zech. Geboren 1895 in Ottendorf in Sachsen, zuständig nach Ostrau und damit tschechoslowakischer Staatsbürger, führte er bis 1925 in Passau ein Spezereiengeschäft. Im selben Jahr ließ sich seine Ehefrau wegen erlittenen Misshandlungen von ihm scheiden, nahm die Tochter mit nach Agram, während er 1926 sich in Graz wiederfand, wo er eine Direktorentochter um den Finger wickelte und auf Kosten ihrer Eltern bis 1932 ein Leben zwischen Glücksspiel und teuren Geschenken führte. Danach ging es für ihn ins Ausland, nach Ungarn, Jugoslawien und die Schweiz, wo er wegen betrügerischen Bankrottgehens in Verruf geriet. Zurück in der Ostmark, tauchte er in Leoben und Gratwein auf, wo er dort weitermachte, wo er im Ausland aufgehört hatte. Allerdings wurde die NSDAP-Ortsgruppe Gratwein auf ihn aufmerksam. Im Jahre 1935 kam Hellmuth Zech nach Baden, wo er erneut dem Glücksspiel frönte, erneut nicht sein Geld einsetzte, sondern das seiner neuen Liebschaft. Sie war Inhaberin einer gutgehenden Trafik in Leoben gewesen, die auf seinen Wunsch hin verkauft wurde, schließlich musste sein flotter Lebensstil irgendwie finanziert werden. Als das Geld bzw. ihr Geld weg war, musste die Dame nach Italien auswandern, um als Kinderfräulein für ein Einkommen zu sorgen. Er selbst bekam Spielverbot, machte weitere Schulden und laut Ermittlung soll es ihm recht schlecht gegangen sein. Aber der Redewendung „Pech im Spiel, Glück in der Liebe“ entsprechend, schaffte er es, sich die Gunst seiner späteren Verlobten und Ehefrau, Traude Stolzenthaler, – die damals 14 Jahre alt war – und deren Eltern zu „erarbeiten“, sodass er finanztechnisch erneut liquid wurde. Währenddessen erreichten ihn aus Italien bis April 1938 regelmäßig finanzielle Zuschüsse
92 RAPHAEL Lutz, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945 (München 2011), S. 195. 93 StA B, GB 052/Personalakten: Zech Helmuth (geb. 1895) – Aktenauszug (05.10.1940).
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seiner alten Liebschaft, die er mit sehnsuchtsvollen Briefen dankbar entgegen nahm.94 Anders ausgedrückt bzw. aus dem Munde Kreisleiters Hajdas: In Baden lebte er zunächst von den Unterstützungen seiner Bräute, vom Schuldenmachen und vom Spiel im Kasino.95 Den Coup seines Lebens machte Zech jedoch im Frühjahr 1938. Er schaffte es, das Vertrauen der Kreisleitung zu gewinnen und insbesondere des damaligen Badener Polizeichefs Karl Sammerhofer, der zugleich Kreiswirtschaftsberater war. Obwohl Zech kein Parteigenosse war – er war schließlich kein deutscher Staatsbürger, sondern tschechoslowakischer bzw. danach Protektorats Angehöriger – gab er sich als solcher aus, trug demonstrativ das Parteiabzeichen, betätigte sich vom Juli 1938 bis April 1939 im Kreiswirtschaftsamt, war in die Novemberpogrome involviert und wurde kommissarischer Verwalter von drei jüdischen Lederwarengeschäften, von denen er sich zwei, wie es hieß, selbst „zuarisierte“. Gerissen wie er war, trat er nicht persönlich in Erscheinung, sondern schickte Strohmänner vor, während im Hintergrund Karl Sammerhofer seine schützende Hand über ihn hielt. Auf diese Weise erwarb er das Lederwarengeschäft des Maximilian Deutsch (Wassergasse 14) und das Warenlager von Siegfried Teltscher (Rainer-Ring 2). Als sich im Herbst 1938 der Parteigenosse Alois Grammer um eines dieser Lederwarengeschäfte bewarb, wurde er kurzerhand von Zech abgewiesen, worauf der Geschasste im Oktober eine Anzeige bei der Vermögensverkehrsstelle einbrachte. Und dann ging‘s los! Ob nun die Ortsgruppe, die Polizei, die Vermögensverkehrsstelle, die Kreisleitung oder der Sicherheitsdienst (SD), die Ermittler kamen aus dem Staunen nicht heraus. Der Mann, der von Juli bis September 1939 in Untersuchungshaft saß, angeklagt wegen Heiratsschwindel, Falschaussage, Erpressung, Hochstapelei, Betrug, Urkundenfälschung usw., wurde also, nicht wie alle Welt in Baden erwartete, verurteilt, sondern das Strafverfahren gegen ihn wurde eingestellt. In Baden herrscht darüber eine begründete Missstimmung. 96 Dass er noch die Chuzpe besaß, nach seiner Freilassung eine Haftentschädigung einzufordern, setzte dem Ganzen die Krone auf. Die Ortsgruppe führt weiter aus, der Fall Zech bilde in Baden geradezu einen öffentlichen Skandal. Nach ihrer Ansicht wäre es im ausgesprochenen Interesse der Partei gelegen, wenn auf die tunlichst beschleunigte Beendigung des anhängigen Strafverfahrens gedrungen würde, um der durch die Enthaftung des Zech in der Badener Bevölkerung entstandenen irrigen Meinung entgegenzutreten, als ob die gerichtliche Untersuchung eingestellt oder niedergeschlagen worden wäre und dass unter der Ägide des Nationalsozialismus unlautere und sogar strafbare Aktionen von der Art des Arisierungsfalles Zech straflos möglich gewesen seien. […] Die öffentliche Meinung geht dahin, Zech als asoziales Element in dauernde Verwahrung zu nehmen.97 In einem anderen Schreiben sieht das Fazit wie folgt aus: Zech ist der Typus der Umbruchshyäne, so wie er es mit seinen Frauen machte, so machte er es mit dem ehem. Kreisleiter 94 95 96 97
Ebd. – Aktenauszug (05.10.1940) und SD-Ermittlungen (07.03.1941). Ebd. – Kreisleitung an Wohnungsamt (02.04.1941). Ebd. – Aktenauszug (07.03.1941). Ebd. – Aktenauszug (05.10.1940).
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Ponstingl, und mit Sammerhofer. Dadurch, dass alle Personen von einer Strafverfolgung zurücktraten, konnte ihn das ordentliche Gericht nicht verurteilen, seine Anklage beim Parteigericht musste zurückgezogen werden, weil er kein Parteigenosse ist. Es gibt somit scheinbar keine Stelle, welche Zech, der als geborener Betrüger erscheint, zur Rechenschaft ziehen könnte. […] Er hat sich fälschlich als Parteigenosse ausgegeben, auf Grund dieser falschen Angaben ein Geschäft arisiert, und kein Mensch kann ihm was anhaben. Die Kreisleitung Baden sieht sich außer Stande, im Fall Zech einzugreifen, und erwartet vom SD, dass diese himmelschreiende Angelegenheit in irgendeiner Form aus der Welt geschafft wird.98 Alois Klinger schien sich nach 1945 durch den Bericht etwas inspirieren haben zu lassen, wenn er schieb: So gehört Zech zu der übelsten Sorte von Konjunkturrittern, welche sich nach Hyänenart, bei der Annexion von Österreich durch Deutschland im Jahre 1938, überallhin auf Beutemachen begeben haben.99 Dass man sich in Baden längere Zeit bedeckt gehalten hatte und der Fall Zech erst durch Amalie Hirschler, der Tante von Traude Stolzenthaler, und ihrer Anzeige im Juli 1940 bei der Reichskanzlei aufpoppte, lag daran, dass Zech es schließlich geschafft hatte, trotz seines Vorlebens und trotz Warnungen der Ortsgruppe Gratwein, von der Ortsgruppe Baden über das Rathaus und den Landrat bis hin zur Kreisleitung alle zu täuschen und sogar für seine Zwecke einzuspannen. Wie peinlich das war, beweist der Umstand, dass letztendlich alle ihre Anklagen zurückgezogen hatten, von Ponstingl bis Sammerhofer angefangen, um nicht noch mehr Staub aufzuwirbeln und damit nicht noch mehr kompromittiert zu werden. Schließlich war man sehenden Auges einem Hochstapler auf den Leim gegangen. Und dass man den SD bat, das Problem aus der Welt zu schaffen, weil man als Kreisleitung nicht dazu in der Lage war, spricht überhaupt Bände. Wollte man Zech einfach in einem KZ verschwinden lassen? Für den SD an sich kein Problem. Gemacht wurde es jedenfalls nicht. Und selbst seine betrogenen Liebschaften – während der Ermittlungen kamen noch einige dazu – zogen ihre Vorwürfe zurück, weil sich Zech mit ihnen letztendlich irgendwie monetär arrangiert hatte. Und die Causa Zech war noch lange nicht zu Ende. Es wäre anzunehmen, dermaßen angeschlagen, sollte der Mann zumindest einen Gang zurückschalten, doch weit gefehlt. Im April 1941 bewarb er sich, als ob nichts gewesen wäre, für eine Wohnung. Kreisleiter Hajda warnte, doch da war es bereits zu spät. Zech hatte den Mietvertrag bereits unterschrieben und eine Vorauszahlung geleistet. Eine Annullierung des Vertrages wurde verlangt. Aber der Kreiswalter des NS-Rechtswahrerbundes (NSRB) Dr. Julius Clemens Schuster gab zu bedenken, ein Rückzug der Vermieterin würde nur eine Schadensersatzklage seitens Zechs heraufbeschwören. Und weil wieder mit Anstand und Moral dahergekommen wurde, blieb Schuster juristisch trocken: Die moralischen Qualitäten Zechs spielen seiner Ansicht nach in diesem Falle keine Rolle.100 Der Fall Zech ist wirklich bemerkenswert. Zwei Jahre später, 1943, klagte Kreisleiter Hermann der Gauleitung: Leider ist es seinerzeit trotz aller Anstrengungen nicht gelungen die 98 Ebd. – Aktenauszug (07.03.1941). 99 Ebd. – Klinger an Landesgericht Wien (05.06.1947). 100 Ebd. – Aktenvermerk Wohnungsamt (24.04.1941).
Kapitel 22 Paradise Lost
Fehler der Vergangenheit gutzumachen und Zech aus den Genuss der Arisierung zu bringen.101 Nicht nur, dass er weiterhin die sich zuarisierten Immobilen sein Eigen nennen konnte, Ende 1943 plante er mit der Grazer Schuhfabrik Humanic, in Baden eine „Kriegsbetriebsgemeinschaft“ auf die Beine zu stellen. Da die Humanic-Filiale in Baden aufgrund der Stilllegungsaktion geschlossen wurde, bot Hellmuth Zech, als Retter in der Not, sein Geschäft an, um weiterhin Produkte der Schuhfabrik Humanic in Baden zu vertreiben. Kontakte zur Zentrale in Wien hatte er bereits geknüpft, nun brauchte er nunmehr grünes Licht durch die örtlichen Stellen. Da sein Lebenslauf nicht ganz einwandfrei war, fühlte er sich bemüßigt, Kreisleiter Gärdtner auf sechs A4-Seiten erstens all die behördlichen und parteilichen Steine aufzuzählen, die ihm bei seinem Vorhaben „Kriegsbetriebsgemeinschaft“ in den Weg gelegt wurden und zweitens all die Mühen darzulegen, die er in das Projekt gesteckt hatte. Seine Ausführungen sind, gelinde gesagt, „abenteuerlich“, besitzen aber die üblichen Ingredienzien solcher Charaktere, wie er es nun einmal war. Er war stets das Opfer, und alle waren gegen ihn. Deshalb forderte er als Mensch, der täglich 14 bis 16 Stunden arbeitete: Mein Zellenleiter muss meine einwandfreie politische Haltung genau so bestätigen, wie mir die Polizei ein makelloses Leumundszeugnis ausstellen muss. Die größten Ungerechtigkeiten und schwersten Kränkungen konnten zwar meine Arbeitskraft lähmen, niemals aber meinen Glauben an den Führer und die Bewegung zum Wanken bringen.102 Doch Gärdtner ließ sich nicht beirren. Sein Okay zur Kriegsbetriebsgemeinschaft hatte Zech nicht. Doch Zech wäre nicht Zech gewesen, hätte er sich davon entmutigen lassen, wenn trotz des ablehnenden Standpunktes der Kreisleitung führt Lederhändler Zech noch immer Schuhwaren der stillgelegten Humanic-Filiale Baden.103 Um das wieder abzustellen, entwarfen Ortsgruppe, Kreisleitung und Gauleitung diverse Schreiben, ließen sie sich gegenseitig zukommen, um abzuklären, wer nun formell dafür zuständig sei. Laut eigener Angabe wurde Hellmuth Zech im August 1944 eingezogen. Im Mai 1945 kehrte er nach Baden zurück. Und weil er nie Parteigenosse gewesen war, war er auch nicht registrierungspflichtig. Dafür blieb er sich ansonsten treu. Laut Klinger setzte er sich infolge seines schon bereits an den Tag gelegten Vorgehens und Charakters ganz einfach über die staatlichen Einrichtungen und Vorschriften in Österreich hinweg, wodurch er die Behörden und Ämter fortwährend beschäftigt und es könnte seinem ganz maßlosen Treiben nur durch eine Landesverweisung Einhalt geboten werden, weil die Kurstadt Baden doch nicht das Asyl für derlei Elemente und lästige Ausländer bilden kann.104 Denselben „ausländerfeindlichen“ Vorschlag hatte Klinger übrigens auch im Falle Johannes Horn (siehe Kapitel 17) anzubieten gehabt. *
101 102 103 104
Ebd. – Hermann an Gauleitung: (30.10.1943). Ebd. – Zech an Kreisleitung (18.12.1943). Ebd. – Kreis an Gau (11.01.1944). Ebd. – Klinger an Bezirksgericht (27.03.1947).
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Die Ehre war ein kostbares Gut. Man konnte sie schnell verlieren. Doch bei all den ehrlosen Eskapaden und Ausrutschern seiner Partei- und Volksgenossen, der Nationalsozialismus wollte diesbezüglich niemanden im Stich lassen und bot mannigfaltige Möglichkeiten, um Rehabilitierung zu erlangen und Reue zu zeigen aber auch um Ruhm und Ehre zu erwerben. Das NS-Regime sprach sogar von einem Feld der Ehre – gemeint waren die Front bzw. die Fronten. Hier konnte man Lorbeeren einheimsen, sei es in den klirrenden russischen Weiten, in der Hitze Afrikas oder an der Heimatfront, in der Fabrik an der Werkbank oder im Haushalt am Küchenherd. Deswegen werfen wir erneut einen Blick auf die verschiedenen Fronten und auf die Frage, wie ehrenvoll es da zuging. Wir beginnen und befinden uns im dritten Kriegswinter 1941/42. Der allgegenwärtige Mangel, über den Sie, liebe Leser, schon so viel lesen mussten, wurde nun durch etwas ergänzt, das es in Baden seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte – den Hunger.
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad Oder: Von Hunger und Kälte, Kriminal und Tod sowie Väterchen Frost und den vier Reitern der Apokalypse
1942 hungerte man schon. Die Ernährungslage wurde immer schlechter, mit dem was man auf die Karten bekam, war kein Auslangen mehr. […] Sogar Erdäpfel wurden im Sommer so rar […], dass man nicht mehr wusste, was man kochen sollte – täglich machte der Papa Krach wegen des „Sautrankls“, das auf den Tisch kam. Und als ihre Schwester Nora im Herbst eingeschult wurde, wog sie trotz kinderärztlicher Betreuung nur 17,60 kg, was direkt einen Aufruhr unter der Lehrerschaft hervorrief.1 Das war Alltag 1942 für die mittlerweile 13-jährige Gertrud Maurer in ihrer Heimatstadt Baden – dem größten Schwefelkurort Großdeutschlands. Ein Blick in die Badener Zeitung genügt, damit ihre Worte Bestätigung und Gewicht erfahren. Der Wert der Essensmarken schwand zusehends. Wenn ausnahmsweise die Rationen aufgestockt wurden, wie Ende Jänner die Butter, so wurde gleichzeitig die Margarineration gesenkt.2 Der Unmut des Vaters über das ewig gleiche Essen war sicher nicht nur im Hause Maurer an der Tagesordnung. Kulinarische Abwechslung war durchaus möglich, allerdings zu überteuerten Preisen frisch vom Schwarzmarkt. Mehrere tausend Kilometer entfernt, irgendwo im Osten, finden wir Ähnliches. Fett mit Einheitsgeschmack, semper idem sine variatione. Dauerbrot u. Konserven! Unvergesslich! Und doch wiederholbar.3 So der mittlerweile 20-jährige Hans Meissner, der nicht mehr in Baden weilte, sondern geradewegs per Zug Richtung Kaukasus unterwegs war – dazu später mehr. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Heimatfront und Ostfront betraf das österreichische Kulturgut schlechthin. Der Kaffee ist einfach säuisch u. wird übergangen; durchschn. alle 5 Tage einmal Bohnenkaffee.4 Egal ob Kurstadt oder Kaukasus – die Kaffeehauskultur hatte schon bessere Zeiten erlebt. Gertrud Maurer schrieb nicht nur über ihre untergewichtige jüngere Schwester, die mit ihren 17,6 Kilo sogar das altersbedingte Mindestgewicht von 19,80 Kilo unterschritt. Die Erwachsenen um sie herum verloren ebenso an Gewicht und wurden sichtlich dünner. Es geschahen Dinge, die sie vor kurzem noch für unmöglich gehalten hätte. Wer hätte gedacht, 1 2 3 4
WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 43f. Vgl. BZ Nr. 9 v. 31.01.1942, S. 3. ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 11. Ebd. S. 13.
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dass einmal Erdäpfeln rar werden würden! Ein Gang durch die Stadt oder ein Blick aus dem Fenster eröffnete ihr ein Straßenbild, das durch geschlossene oder leerstehende Geschäftslokale gezeichnet war. Weshalb aufsperren, rechnete sie eins und eins zusammen, wenn es keine Waren zum Verkaufen gab.5 1938 war die Stadt doch noch voller neuer Eindrücke gewesen, überall gab es was zu entdecken, neue Geschäfte, Fassaden wurden neu gestrichen, Reklametafeln ausgehängt. Ende 1942 wurde klipp und klar in einer nicht öffentlichen Gemeinderatssitzung das Desaster beim Namen genannt. Die Gemüselieferungen wären den Umständen entsprechend, nur mit der Kartoffellieferung ist es nun zu Ende. An eine solche ist nicht mehr zu denken.6 Die Politik des Nationalsozialismus hatte sich schon längst am Esstisch bemerkbar gemacht. Nicht nur die Speisen nahmen an Quantität und Qualität ab. Sogar beim Ambiente, wie dem Tischtuch, mussten Abstriche vorgenommen werden. Wo einst Leintücher in kräftigem Weiß erstrahlt waren, lagen nun schnöde Stücke Wichsleinwand. Textilien wurden bzw. waren keine Selbstverständlichkeit mehr. Kleider für den weiblichen Otto Normalverbraucher waren in Baden nicht mehr aufzutreiben.7 Dafür gab es das ewiggleiche mediale Gerede von Sparsamkeit, Rationierung und wie man das alles am besten umsetzt – Licht erst dann einschalten, wenn es dunkel wird, hieß es zum Beispiel im Jänner 1942.8 Offenbar war diesbezüglich Aufklärung vonnöten. Die Teller blieben also leer, die Kleidung verschlissen und in den eigenen vier Wänden blühten die Eisblumen auf den Fenstern, da die Versorgung mit Brennstoffen dramatisch war. Die Situationsberichte, aus dem Landrat an die Reichstatthalterei gerichtet, die die Stimmung der Kreisbevölkerung einfangen sollten, brachten es im Jänner 1942 schwarz auf weiß. Es traten bereits Fälle ein, dass in einigen Gemeinden tagelang überhaupt kein Brennstoff vorhanden war. […] Die zuständige Stelle des Wirtschaftsamtes wird von hunderten von brennstoffsuchenden Parteien belagert und überlaufen. Ich bitte um raschesten Zutransport von Kohle. Es gab zwar Alternativen, wie Holz, doch hatte der Gesetzgeber anderes damit vor, doch das wurde von der Bevölkerung nicht eingesehen, warum kein Holz abgegeben wird, obwohl solches vorhanden ist und eher im Walde vermodern muss, als dass es dem dringenden Bedarf zugeführt wird. Diese Zwangsmaßnahmen in der Holzbewirtschaftung werden dazu führen bezw. haben schon dazu geführt, dass die Bevölkerung Holzdiebstähle verübt.9 Der Krieg wirkte ermüdend auf die kurstädtische „Volksgemeinschaft“, fasste Polizeichef Gutschke, in seinem Stimmungsbericht vom Jänner 1942, zusammen. Die Ermüdung manifestierte sich laut ihm in der verpönten Meckerei und Suderei, aber auch in den üblichen und gerechtfertigten Klagen wegen fehlenden Wohnraums, fehlenden Obstes und dem Mangel an Heiz- und Brennstoffen. Zum wiederholten Male diagnostizierte Gutschke, dass dadurch der Neid gedeihe, Neid auf die deutschen Brüder und Schwestern aus dem 5 6 7 8 9
Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 108–110. Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 499. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 42. Vgl. BZ Nr. 5 v. 17.01.1942, S. 2. Vgl. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Jänner 1942.
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
Altreich. Die Fronten „Hier Altreich! – Hier Ostmark! Bestehen weiter. Gutschke bemerkte einen sich breitmachenden Galgenhumor und der Schwarzmarkt sowie der Schleich- und Tauschhandel gediehen prächtig vor sich hin Benzin und Fleisch sollen gegen Wein angeboten werden. Wie dem beikommen? Für Gutschke gab es nur eines: Es können hier nur harte Strafen ohne Unterschiede helfen. Bei den Einvernahmen der Übeltäter hört man immer wieder Meinungen, die gerade für Baden typisch zu sein scheinen: „Ich bin ein alter Badener!“, „Ich zahle hohe Steuern!“, „Ich bin schon lange in der Partei!“ u.ä. Dass Gemeinutz vor Eigennutz zu gehen hat, wird in Baden noch schwer verstanden.10 Der Polizeichef sprach hier etwas Essentielles an. Das kriminelle Konglomerat aus Schwarzmarkt, Schleich- und Tauschhandel war ein mehrschichtiges Problem. Wie es zu bekämpfen wäre, da schieden sich die NS-Geister. Die über-übergeordneten Stellen, allen voran Goebbels in Berlin, pochten auf drakonische Strafausmaße – Arrest, Kerker, KZ, Todesstrafen. Diese Zack-zack-zack-Methoden hatten am Papier sicher ihre abschreckende Wirkung, doch in der Praxis mussten sie von den unteren Stellen/Behörden fallweise aufgeweicht werden. Zu viele Menschen waren in den Schleich- und Tauschhandel involviert, zu viele Menschen profitierten vom Schwarzmarkt – vom einfachen Volksgenossen bis zum angesehenen Parteimitglied. Das „Kriminelle“ konnte den „normalen“ Alltag der einfachen Bevölkerung vereinfachen bzw. erst ermöglichen. Die Illegalität schaffte etwas, wozu das „legale“ NS-Regime eben nicht in der Lage war – den Hunger und Mangel im Winter 1941/42 effektiv zu bekämpfen. Für den nationalistischen Sozialismus ein Armutszeugnis sondergleichen. Das war bekannt, weil eben alltäglich erlebbar, und die NSDAP war sich dessen bewusst. Es wurde darüber gesprochen. Allerdings nicht öffentlich, sondern intern und behördlich abgestempelt unter „streng vertraulich“. Öffentlichkeitswirksame Versuche, gegen illegale Alltäglichkeiten vorzugehen, wie Razzien, Haus- und Wohnungsdurchsuchungen oder Taschen- und Rucksackkontrollen auf Bahnhöfen brachten zwar gewisse Erfolge, doch war der Aufwand meist größer als das, was am Ende dabei herausschaute. Als im Februar 1942 am Badener Bahnhof eine Kontrollaktion über die Bühne lief, stand plötzlich ein einsamer Koffer am Bahnsteig, keine Spur vom Besitzer, dieser war bereits über alle Berge. Im Koffer vorgefunden wurden Weinflaschen und Zigaretten sowie 2,07 kg Fleisch, 4,14 kg Schweinespeck, 0,23 kg Wurst und weitere Waren, die der Rationierung unterworfen waren. Alles wurde bis auf das Gramm genau abgewogen und protokolliert. Vorschriftsgemäß holten die zuständigen Sicherheitskräfte beim Landrat Wohlrab die Erkundigung ein, wohin mit den leicht verderblichen Lebensmitteln? Die sichergestellten Waren wurden auf den Peterhof und auf eine bedürftige Familie aus Baden – jeweils gegen eine Empfangsbestätigung – aufgeteilt.11 Während der Kofferbesitzer erfolgreich das Weite gesucht hatte, konnten in anderen Fällen die Schmuggler und Schleichhändler dingfest gemacht werden. Das Repertoire an 10 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942 – Gutschke an Reichsstatthalterei (26.01.1942). 11 Vgl. StA B, GB 231/Preis- und Lebensmittelkontrolle I; Februar 1942.
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Ausreden konnte sich sehen lassen. Beliebt war, dass alles für den Eigenbedarf wäre oder dass es sich um Geschenke steiermärkischer oder kärntnerischer Verwandter, Bekannter, Nachbarn oder Freunde handelte, deren Namen man jetzt auf die Schnelle vergessen hatte. Nicht jede Rechtfertigung/Ausrede klang dermaßen kindlich-pubertär. Die jeweiligen Aussagen der Ertappten und Erwischten von vornherein als Lug und Trug zu entlarven, erwies sich oftmals als schwierig, manchmal als unmöglich. Es war ein Kampf gegen Windmühlen. Wenn es hingegen tatsächlich zu Ermittlungserfolgen kam, Schmuggelrouten aufgehoben, Schmugglernetzwerke zerschlagen oder Verstecke ausfindig gemacht werden konnten, dauerte es nicht lange, und die Menschen fanden neue Wege und andere Möglichkeiten, um die Nachfrage nach den knappen und verlangten Gütern zu befriedigen. Statt mit dem Rucksack unterwegs zu sein, begann man, Pakete per Post zu verschicken, statt der Bahn nahm man den Zug, statt über die Weinberge marschierte man durch den Wald, statt tagsüber war man nachts unterwegs. Erschwerend kam hinzu, dass es gar nicht so leicht war, einen Überblick über die Gesetze, Regelungen, Richtlinien, Verordnungen und die ständig durchgeführten Korrekturen und Anpassungen zu bewahren. Die Praxis hat ergeben, dass verschiedene örtliche Bewilligungen der Ernährungsämter und des Viehwirtschaftsverbandes den Schleichhandel begünstigen bzw. die Überprüfung unmöglich machen.12 Wenn sich bereits Behörden schwer taten, wie ging es erst den Kleinhändlern oder Kleinsthändlern bzw. Hausierern? Was, wie, wo und zu welchen Mengen und zu welchem Preis etwas verkauft, gehandelt und angeboten werden durfte, war fast schon eine Wissenschaft. Als Magdalena Pinezich im Februar 1942 mit fünf Kilo Bettfedern nach Baden kam, um hier von Tür zu Tür ihre Ware an den Mann oder die Frau zu bringen, wurde sie kurz darauf aufgehalten, kontrolliert, festgenommen, verhört und ihre Ware beschlagnahmt. Sie konnte keine Genehmigung für die fünf Kilo Federn vorweisen. 250 RM Strafe wurden ihr schon angedroht, als sich Landrat Wohlrab persönlich einschaltete. Er räumte ein, dass eigentlich keine rechtliche Handhabe vorliege, um gegen Magdalena Pinezich behördlich vorzugehen, jedenfalls nicht nach dem Gewerberecht. Sicherheitshalber erstattete er dennoch Anzeige beim Wirtschaftsamt und der Preisüberwachungsstelle. Vielleicht wüssten die Kameraden dort mehr.13 Alleine dieser eine Fall, es ging um 5 kg Bettfedern, verursachte eine Vielschreiberei zwischen den unterschiedlichsten Behörden und Parteistellen. Es konnte leicht passieren, dass bei solchen läppischen Vergehen die NSDAP-Ortsgruppen, das Rathaus, Landrat, Kreiswirtschaftsamt, Bauernschaft, Polizei, Gestapo – um nur ein paar zu nennen – eingeschaltet werden mussten, um sich mit Dingen wie geschmuggelter Wurst, Wein, Socken oder Wolle auseinanderzusetzen. Das bannt kostbare Ressourcen: Geld, Zeit und das kostbare, weil wenige Personal. Als Gau und Kreis weitere, größere und strengere Kontrollen anordneten, sollte es letztendlich am Personalmangel scheitern, was Kreisleiter Hajda im April 1942 12 StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. I Ernährung; Schleichhandel u. Hamsterei. 13 Vgl. StA B, GB 231/Preis- und Lebensmittelkontrolle I; Februar 1942 – Magdalena Pinezich (geb. 1884).
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
nicht überraschte. Auch der Landrat teilt mir in seinem Bericht mit, dass die Überwachungsmaßnahmen in Folge der äußerst geringen Gendarmeriestände derzeit im gewünschten Umfang nicht durchführbar seien.14 Dabei wurden bereits die SS, SA, HJ, NSKK usw. herangezogen, um den Sicherheitskräften tatkräftig unter die Arme zu greifen. Gemeinsam sollte gegen widerspenstige Volksgenossen vorgegangen werden. Hier biss sich allerdings die Katze in den eigenen Schwanz. Gegen Menschen vorzugehen, die man teilweise kannte, von ihren illegalen und halblegalen Machenschaften wusste, weil man eventuell genauso involviert war und damit Dreck am Stecken hatte, war nicht jedermanns Sache. Deswegen war das „Augenzudrücken“ eine Möglichkeit, sich anstrengende, wenig ergiebige und vor allem unangenehme Arbeit zu ersparen, wie bei der Hausschlachtung von Schweinen. Deren Mästung sowie die anschließende Keulung bedurften einer behördlichen Genehmigung. Manche Kartenstellenleiter haben die Hausschlachtung zu leichtgenommen und gewisse Ausnahmen zugelassen und befürwortet. Als dann nachträglich die Genehmigung revidiert wurde, kam es zu unliebsamem Auseinandersetzungen und nachträglichen Beschlagnahmungen, welche sich auf die politische Stimmung auswirkt.15 Selbst wenn also zig Augen zugedrückt wurden, so wurden dennoch genug Menschen festgehalten, verhört, eingeschüchtert, bestraft und verurteilt. Manchmal brauchte es eben, teilweise im wahrsten Sinne des Wortes, ein Bauernopfer. Und selbst hier wurde manchmal Gnade walten gelassen, da es sich oftmals um Volksgenossen handelte, die schlicht und ergreifend aus purer Not nach dem illegalen Strohhalm gegriffen hatte. Hierbei zeigte sich Bürgermeister Schmid kulant. Diese Hamsterer sind meist Leute aus dem Volk, welche bei guten Bekannten oder Verwandten, welche Selbstversorger sind, Lebensmittel zu ihren eigenen Gebrauch im beschränkten Umfang erhalten. Gegen diese Art von Leuten wird mit einer besonderen Toleranz vorgegangen, wenn die mitgeführten Lebensmittel einen Umfang haben, der die Verbrauchsregelung kaum beeinflussen kann.16 Die Situation war bedenklich und eigentlich des NS-Systems unwürdig. Die Menschen gingen in einem hochtechnologisierten Land zum Tauschhandel über. Propagandistisch hätte man das noch als ein „back to the roots“ hinbiegen können, zurück zu den alten Germanen, in die gute alte Zeit, als die deutschen Stämme noch nicht durch römische Dekadenz verweichlicht wurden oder durch jüdischen Kapitalismus geknechtet. Doch das wäre höchstwahrscheinlich zu viel des NS-Guten. Trotzdem, die Realität sah so aus, dass man Anfang 1942 für Strümpfe und Socken Zucker und Mehl erhielt. Wein war das neue Zahlungsmittel. Neben Fleisch und Benzin konnte genauso ein elektrischer Ofen dadurch erworben werden.17 Im März 1942 gestand Schmid ein, außer dem Schleichhandel und der Hamsterei blüht in unserer Stadt der Tauschhandel, dem fast überhaupt nicht beizukommen
14 StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. I Ernährung; Schleichhandel u. Hamsterei – Kreisleitung an die Gauleitung (09.04.1942). 15 Ebd. – Bericht (26.03.1942). 16 Ebd. – Bericht (28.03.1942). 17 Ebd. – Kreisleitung an die Gauleitung (09.04.1942).
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ist, weil er von beiden Seiten mit größter Vorsicht getätigt wird.18 Für die hiesigen Weinhauer war es lukrativer, sich dem Schwarzmarkt sowie Schleich- und Tauschhandel hinzugeben, als auszustecken. Trotz all der Hiobsbotschaften und der düsteren Szenarien, die aus dem Rathaus, dem Landrat und der Kreisleitung unkten und entgegen seinen späteren Ausführungen, ließ Gutschke seinen Stimmungsbericht vom Jänner 1942 wie folgt beginnen: Die Stimmung muss im allgemeinen als gut bezeichnet werden.19 * Ob etwas gut ist oder nicht, ist bekanntlich Geschmacks- und Auslegungssache. Sicher nicht gut war, dass die Bezeichnung Ostmark weiterhin in vieler Munde war und selbst in offiziellen Schriftstücken zu finden. Im April 1942 mokierte sich der Reichsfremdenverkehrsverband über die Sammelbezeichnung „Reichsgaue der Ostmark“. Weshalb wäre dieser politisch unkorrekte Ausdruck, wetterte der Reichsfremdenverkehrsverband, nicht längst aus dem Sprachgebrauch getilgt? Es wäre schließlich nicht zu viel verlangt, alle sieben Reichsgaue aufzuzählen. Im Notfall durfte man von Alpen- und Donaureichsgauen sprechen, aber nur, wenn dazu eine Notwenigkeit besteht, und eine Aufführung der einzelnen Reichsgaue aus besonderen Gründen nicht angebracht ist.20 Solche Wortspielereien konnten gut dafür herhalten, um von wahren Problemen abzulenken. Weiterhin en vogue war es, stets nur das Positive hervorzuholen, wenn es darum ging, das verflossene Jahr 1941 zu rekapitulieren. Im Jänner 1942 teilte Gutschke der Statthalterei Niederdonau noch mit, die Wohnungsnot in Baden scheint sich katastrophal zu entwickeln. Die Einwohnerzahl steigt auffällig. Bauvorhaben erscheinen nicht, und wenn schon, nur im kleinen und kleinsten Umfange.21 In der Badener Zeitung klang das Anfang 1942 gar nicht mehr so dramatisch, wenn auf den Ankauf des Doblhoffparks und der Langäcker (die Gründe zwischen Vöslauerstraße und der Trasse der Vöslauer-Elektrischen) eingegangen wurde und das Versprechen, hier werde demnächst Wohnraum aus dem Boden gestampft. Gebaut wurde nichts, erst in Zukunft, aber immerhin, der Kauf war vollzogen, Grund und Boden war erstanden.22 Dabei handelte es sich um Transaktionsgeschäfte inklusive diverser Klauseln. Solange die Gemeinde keine Häuser auf den Gründen errichtete – was bis 1945 nie geschehen sollte – durfte sie der Verkäufer, Heinrich Doblhoff-Dier, weiterhin nutzen.23 Da die Gemeinde in Sachen Wohnbaupolitik vollkommen versagt hatte – der Wille war da, sonst jedoch nichts – spielte sie den Ball (wie so oft) den Badener Haus- und Woh-
18 Ebd. – Bericht (26.03.1942). 19 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942 – Gutschke an Reichsstatthalterei (26.01.1942). 20 Ebd. – Reichsfremdenverkehrsverband an die Landesfremdenverkehrsverbände (29.04.1942). 21 Ebd. – Gutschke an Reichsstatthalterei (26.01.1942). 22 Vgl. BZ Nr. 1 v. 03.01.1942, S. 3. 23 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 15.
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nungsbesitzern zu. Für zusätzlichen Wohnraum zu sorgen, war nun deren Aufgabe. Die Gemeinde geizte dabei nicht mit Ratschlägen. So eine Zwischenwand einzuziehen oder so ein kleiner Zubau an bestehende Wohnsubstanz, und mir nix dir nix wären schon neue Wohnräume geschaffen. So etwas wäre den Haus- und Wohnungsbesitzern in Baden doch zumutbar. Aus Sicht der Stadtführung läge es eindeutig im Rahmen des Machbaren und man köderte mit Reichszuschüssen.24 Dass im Jahr davor groß und breit über Baustoffmangel referiert wurde, war offenbar nicht mehr aktuell. Doch nicht nur die Gemeinde verteilte großzügig Ratschläge, sie selbst wurde ebenso zum Empfänger solcher. Im Februar 1942, bei einem „Wohnbauseminar“ für Gemeinden mit über 10.000 Einwohnern, erfuhren Vertreter aus Baden, dass Baulücken geschlossen werden sollten, sparsames Bauen zur obersten Devise auserkoren wurde, sich bei Bauvorhaben nicht allzu viel Zeit gelassen werden dürfte und dass der gesamte Bauvorgang zentralisiert ablaufen müsste. Das Zauberwort Zentralismus war hoch im Kurs. Schlagend sollte es nach dem Sieg werden, wenn es dann mit dem Bauboom so richtig losgehen würde. Ein weiteres Schlagwort war Normierung. Massenproduktion an Fertigbaumodulen sollte gute und praktische Wohnkultur ermöglichen, ausgerichtet nicht nur auf den deutschen Kunststil oder das Praktikable an sich, sondern vor allem betreffend einer bestimmten Personengruppe: Norm soll gutes Wohnen und die Erleichterung und Verkürzung der Hausfrauenarbeit, besonders der Mutter zum Ziele haben. Hier finden wir wieder „die“ Frau bzw. die Frauenrolle, der allerdings durchaus Wichtigkeit zuerkannt wurde. Alle Bauschaffenden aber, Planer, Architekten, Ingenieure und Techniker, werden mit den Hausfrauen zusammenstehen müssen beim Aufbau und bei der Gestaltung des neuen deutschen Wohnbaues […]. Planung und Ordnung waren gefragt, und nachdem Zentralisierung und Normierung abgearbeitet waren, kam die Entschandelungssatzung auf den Tisch. Die Orte müssten endlich entschandelt werden – kein „Kraut und Rüben-Bauen“ mehr. Schuld trug: Wir alle wissen, dass das abgelaufene liberale Zeitalter ein unorganisches Wachstum der Städte gebracht hat. Doch es war nicht nur die liberale Vergangenheit, die Bausünden und Geschmacksverirrungen zu verantworten hatte. Nun kam das Individuum an die Reihe. Und so manches Individuum hat sich wohl beim Lesen folgender Zeilen, in der falschen Diktatur gesehen. Wir alle wissen, dass ein wirklicher Städtebau nur dann möglich ist, wenn wir die Möglichkeit haben, den im Stadtgebiet liegenden Grund so zu schützen, wie es den städtebaulichen Anforderungen entspricht. Das heißt, das Eigentum im Grundbesitz muss im Interesse der Allgemeinheit eingeschränkt werden.25 Neben unklarer Baupolitik stand auch der Jahresbeginn für die anstehende Kursaison 1942 unter keinem guten Stern. Im Februar verlangte das Staatssekretariat für Fremdenverkehr, sämtliche unnötige Reisen zu unterlassen. Unter die Definition „unnötiges Reisen“ fiel die Erholung. Demnach war Erholung im Urlaub etwas Unnötiges. Außer für Menschen, die sich durch Leistungen für das kriegführende Großdeutschland ausgezeichnet hatten. Damit gehörten die Fremdenverkehrsorte und die Transportmöglichkeiten 24 Vgl. BZ Nr. 6 v. 21.01.1942, S. 5. 25 StA B, GB 349/Bauamt I; Fasz. III Einzelstücke; 1942.
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dorthin zuallererst den Soldaten – was für Baden nichts Neues war.26 Im Rathaus läuteten diesbezüglich schon längst und ununterbrochen die Alarmglocken. Wenigstens konnte Anfang 1942 finanzpolitisch etwas Aufbruchsstimmung aufkommen – wenn auch nur auf dem Papier. Der Abgang war kleiner als erwartet. Die Mehrverschuldung betrug nur noch 16.609,19 RM. Des Weiteren konnte die Prognose gewagt werden, wonach der Haushaltsplan für 1942 ausgeglichen sein könnte. Das lag unter anderem daran, dass kriegsbedingt keine Investitionen vorgenommen wurden. Dringliche Arbeiten und Anschaffungen sollten erst nach dem „Endsieg“ verwirklicht werden. Letztlich war es die kriegsbedingte Tatenlosigkeit und Ohnmacht der Stadtgemeinde, die die budgetären schwarzen Zahlen in greifbare Nähe brachten und kein genialer finanzpolitischer Schachzug. Aber – es wäre ein Wunder gewesen, wenn es kein „Aber“ gäbe – die Erstellung des ausgeglichenen Haushaltsplans könnte sich aufgrund des Personalmangels zeitlich verzögern. Positiv auf dem Papier waren auch die steigenden Besucherzahlen des Vorjahres. Doch auch hier wurde das Bild trübe, wenn man nur ein bisschen genauer hinsah. Da der Kuraufenthalt bzw. überhaupt der Aufenthalt für Ortsfremde behördlich auf drei Wochen begrenzt war, erhöhte sich automatisch die Fluktuation. Ähnlich ging man im Falle der Strandbadbesucherzahlen vor. Die Tageskarten mutierten zu Halbtagskarten und schon schnellten die Zahlen in die Höhe.27 Demnach: The same procedure as every year, Mister Schmid… Und wie es sich gehörte, gab es Ausnahmen von diesen gesetzlich verordneten drei Wochen. Kinder, Soldaten, Schrebergartenbesitzer und ähnliches Klientel durfte bei Vorlage einwandfreier Ausweispapiere länger bleiben. Bei Verstößen, mahnte die Badener Zeitung, drohten Geldstrafen von 150 RM oder Haftstrafen von bis zu sechs Wochen.28 In der darauffolgenden Ausgabe musste Propagandaminister Goebbels noch eins draufsetzen und drohte mit der Internierung in KZ-Lagern, sollten sich Volksgenossen dazu hinreißen lassen, nur spaßhalber und damit unnötig eine Reise anzutreten oder sonstwie gegen die Kurregelungen zu verstoßen.29 Touristen und Kurgästen im Vorhinein mit KZ-Lager zu drohen, konnte sich fatal auf kommende Besucher- und Nächtigungszahlen auswirken. So etwas hatte der Propagandaminister sicherlich nicht auf seinem Radar, wenn, dann war es ihm sicher egal, und die Stadtgemeinde musste zähneknirschend, längst in eine Statistenrolle gedrängt, das Beste daraus machen. Es war nicht leicht, Optimismus zu verbreiten. Altbekannte Floskeln liefen sich tot. Wie oft konnte man noch auf die Zeit vor dem Anschluss verweisen, sie dämonisieren und dadurch versuchen, die Stimmung innerhalb der „Volksgemeinschaft“ zu heben? Wie oft konnte man noch auf die Zeit nach dem Anschluss verweisen, sie glorifizieren, und dadurch versuchen, die Stimmung innerhalb der „Volksge26 Vgl. BZ Nr. 15 v. 21.02.1942, S. 2. 27 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942 und Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 435ff. 28 Vgl. BZ Nr. 23 v. 21.03.1942, S. 5. 29 Vgl. BZ Nr. 24 v. 25.03.1942, S. 3.
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meinschaft“ zu heben? Und wie oft konnte man noch auf die Zeit nach dem Sieg verweisen, sie anpreisen und dadurch versuchen, die Stimmung innerhalb der „Volksgemeinschaft“ zu heben? Hier lag übrigens der nächste Hund begraben. Die wenigen lokalpolitischen Lichtblicke aus dem Jahr 1941, wie die neu errichtete Geburtenstation, verloren Anfang 1942 an Strahlkraft. Der Putz begann im übertragenen Sinne zu bröckeln. Denn der Krankenhauszubau überstieg die geplanten Kosten von 140.000 RM um 25.216,27 RM. Für Schmid und seine Mannen war die Sache klar, der Gau zahlte. Im Februar 1942 legte er dem Ansuchen um Betrags-Überweisung die zuvor ausgehandelte Kostenaufteilung und Kostenberechnung und auch eine Zahlkarte bei. In einem Begleitschreiben ersuchte er höflich um die Überweisung des Restbetrages, wobei er später das Wort „ersuchen“ durch „bitten“ ersetzte. Außerdem dankte er Reichstatthalter Hugo Jury für dessen unermüdlichen Einsatz, ohne den es niemals gelungen wäre, den für die Volksgesundheit und Volksvermehrung so essentiellen Krankenhauszubau fertigzustellen. Während es für Schmid offenbar außer Diskussion stand, dass Niederdonau den Mehrbetrag zahlen würde, war Niederdonau einer Diskussion nicht abgeneigt. So leicht ließ sich die Statthalterei nicht das Geld aus der Tasche ziehen. Prompt wurden Rechnungen verlangt, die Schmid in seinem ersten Briefkonglomerat nicht beigelegt hatte. Auf vier Seiten wurden von Seiten der Gemeinde sämtliche Firmen aufgelistet, welche am Bau beschäftigt gewesen waren, wer was ausgeführt hatte und welche Kosten wodurch entstanden waren. Aber selbst die vier Seiten waren der Statthalterei zu detailarm. Stutzig machte eine Rechnung der Firma „Novoszad Warmwasser- und Pumpanlagen“. Hier forderte Niederdonau eine noch detailliertere Kostenaufstellung samt Voranschlag ein. Damit war die Büchse der Pandora geöffnet. Immer mehr Details schienen jetzt aufklärungsbedürftig. Der zuständige Stadtrat Löw kam in Bedrängnis. Er musste Rechenschaft ablegen, weshalb es überhaupt zu dieser Kostenüberschreitung gekommen war. Der Krieg wäre schuld, war zwischen seinen Zeilen – und nur dort – zu lesen. Offener wurde der in die Ecke gedrängte Finanzstadtrat erst, als er gekonnt das Augenmerk auf die Ärzteschaft lenkte. Auf Grund obiger Aufstellung ergibt, dass gegenüber dem der Bewilligung zugrunde liegenden Voranschlag die Kosten der Röntgenanlage, insbesondere wegen der unbedingt nötigen Aufstellung eines neuen Transformaten und sonstiger Wünsche der Ärzte, die anfänglichen nicht bekannt waren, sich wesentlich erhöht haben […].30 Es waren also die Ärzte schuld mit ihren Extrawünschen. Schuld waren die Anderen – immer. Wenn keine konkrete Personengruppe ausfindig gemacht werden konnte, so musste das Wetter herhalten bzw. der strenge Winter, wie im Falle des Obst- und Gemüsemangels. Hier war es nicht Finanzstadtrat Löw, sondern die Badener Zeitung, die für Aufklärung und Schuldzuweisung sorgte. Gegen den strengen Winter wäre man halt machtlos. Da helfe es auch nicht, auf den Führer zu schimpfen. Außerdem, so das Lokalmedium, wäre der Obstund Gemüseverbrauch bereits vor dem Anschluss im Steigen begriffen gewesen. Damit 30 NÖLA; AZ 319–15. Krkh. Baden Bauten und Anschaffungen, K1126.
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gab es einen wunderbaren Schwenk zum Ständestaat, um dem Schuschnigg-Regime den schwarzen Peter zuzuschieben. Dort nämlich, so die BZ-Argumentation, wären bereits die Obst- und Gemüse-Versorgungsweichen falsch gestellt worden. Dem Nationalsozialismus sei dann nichts anderes mehr übrig geblieben, als den Schlamassel mittels korrigierender Rationierungspolitik zu beheben.31 Wie korrekt und ordentlich die Rationierungspraxis aussah, war regelmäßig der Badener Zeitung zu entnehmen. Große Mengen an Petroleum waren im März an die Verbraucher abgegeben worden, ohne dass zuvor die Marken durch die Händler eingezogen worden waren.32 Reflexartig wurde ein schädlingshaftes Verhalten herbeigeschrieben. Die Ausgabemodalität von Petroleum war bei weitem nicht das Einzige, das in dieser Zeit durcheinandergekommen war und einer Nachjustierung, bzw. zumeist einer Verschärfung, bedurfte. In den Schulen, ansonsten ein Hort der Stabilität und Struktur, gerieten die Stundenpläne aufgrund des Personalmangels komplett aus den Fugen.33 Zeitweise musste man froh sein, dass überhaupt Unterricht stattfand. Des Weiteren zwang der Brennstoffmangel, die Schulen im Landkreis Baden vom 26. Jänner 1942 bis zum März 1942 in die Winterpause zu schicken – sprich zuzusperren. Das Lehrpersonal wurde derweilen anderwärtig eingesetzt. Ein Teil kam in die Fabrik an die Maschinen und Werkbänke, ein anderer Teil verrichtete Büroarbeit bei verschiedenen Behörden oder Parteistellen.34 Als im März die Schulpforten wieder öffneten, kam theoretisch der Schulalltag wieder, der für Gertrud Maurer dem von vor ein paar Jahren jedoch sichtlich widersprach. Die Schule schien fast nur mehr aus Sammlungen, Sport, Wettspielen, Einsatz und Appellen zu bestehen.35 Nicht zu vergessen die Führerreden, die jeweils am darauffolgenden Schultag in der Klasse zu rekapitulieren waren. Bei dieser Geschichte gab es für Gertrud Maurer einen Haken. Der Führer sprach meistens am Abend über die Volksempfänger zu seinem Volk, gerade dann, wenn es für die 13-Jährige hieß: Schlafenszeit! Am frühen Morgen blieb ihr nichts anders übrig, als ihre Mutter noch rasch auszufragen, was der Führer so alles von sich gegeben hatte. Jene konnte ein paar Phrasen wiedergeben, die Gertrud Maurer allerdings am Schulweg regelmäßig vergaß. Das war für sie sehr ärgerlich, denn sie, wie sie sich selbst einschätzte, war doch sonst eine der besten, konnte die längsten und verzwicktesten Geschichten kurz und klar zusammenfassen, warum also konnte sie sich nicht merken, was der Führer sagte?!36 Dabei war es grundsätzlich nicht schwer, die Quintessenz herauszuhören, zu lesen und sich zu merken. Der Variationsreichtum hielt sich in Grenzen. Der Führer sprach: Die Hei-
31 32 33 34 35 36
Vgl. BZ Nr. 55 v. 11.07.1942, S. 2. Vgl. BZ Nr. 24 v. 25.03.1942, S. 5. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 111. Vgl. BZ Nr. 34 v. 29.04.1942, S. 3. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 115. Ebd. S. 112.
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mat wird jedes, auch das letzte Opfer bringen!37 Das Kriegs-Winterhilfswerk KWHW war auf gleicher Linie. Diesmal waren es keine Spenden, diesmal waren Opfer darzubringen. Etwas später wurde aus dem zu erbringenden Opfer ein Sonderopfer. Wir dürfen nicht vergessen, trotz Mangel an Heizmaterial und Lebensmitteln lief der Sammelmechanismus wie ein Uhrwerk unaufhörlich weiter und weiter.38 Um anständige Sammelergebnisse vorweisen zu können, wurde der Heimatfront stets ins Gedächtnis gehämmert: Was sie der Ostfront schuldig war – wie eben der Slogan des Opfersonntages vom 8. März 1942. Der Kreis sammelte daraufhin 677.114,48 RM zusammen. Davon entfielen auf die Stadt Baden 175.451 RM.39 Bei der zuvor abgehaltenen Wollsammlung zeichnete sich im Landkreis die Stadt Berndorf mit dem besten Ergebnis aus. Besonders lobenswert hervorgehoben wurden die NS-Frauenschaften. Wenn heute große Mengen plastisch dargestellt werden sollen, wird oftmals in Badewannen oder Schwimmbecken gerechnet, damals waren es Waggons. Elf an der Zahl konnte der Landkreis bis an die Decke mit Winterkleidung anfüllen. Am meisten wurden Socken gespendet bzw. geopfert – 16.629 Paar. Am zweitmeisten sind Schals abgegeben worden, 10.813 Stück, und am drittmeisten Hauben, 10.048. Am wenigsten entbehrlich schienen Schianzüge und Ledermäntel, mit jeweils 79 und 51 Exemplaren.40 An die Sammlungen und Spendenaufrufe hatten sich die Badener längst gewöhnt und medial wurden regelmäßig Rekordergebnisse verkündet. Stolze Worte stolzer Herren aus dem Badener Rathaus, der Kreisleitung, der Gauleitung und gar dem fernen Berlin waren der übliche Dank. Doch das ganze Sammeln und die erzielten Sammelrekorde hatten einen fahlen Beigeschmack. Kritische Geister begannen sich kritische Gedanken zu machen und sie auszuformulieren. Gutschke ging in seinem Stimmungsbericht vom Jänner 1942 darauf ein. Aus den Lazaretten des Altreiches gelangte die Kunde nach hier, dass dort viele Soldaten aus Russland mit erfrorenen Gliedern eingetroffen seien. Aus diesen Redereien entwickelte sich wohl hauptsächlich die bei der Pelz-, Wollsachen- und Skiersammlung oft gehörte Auffassung, dass die Sammelaktionen reichlich spät erfolgt sei.41 Die Wehrmacht errang im Osten Sieg für Sieg, eine bolschewistische Stellung nach der anderen wurde ausgehoben, der Sowjet weit zurückgedrängt, eingekesselt, vernichtet, und trotzdem brauchte es dringend Wintersocken? Bereits 1941, ob in der Badener Zeitung oder im Unterricht, Jung und Alt lasen, lernten und staunten über unzählige sowjetische Gefangene, zerstörte feindliche Panzer und vom Himmel geschossene sowjetische Kampfflugzeuge. Jedes Mal, wenn irgendwo eine Ortschaft mit einem unaussprechlichen slawischen Ortsnamen wie Slawjansk, Roslawl oder Berdjanski von der Wehrmacht eigenommen worden war, wurde irgendwo, ob am Schulhof, im Kurpark, vorm Rathaus oder am Josefsplatz, triumphal eine Hakenkreuz37 38 39 40 41
BZ Nr. 1 v. 03.01.1942, S. 1. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 23–25. Vgl. BZ Nr. 20 v. 11.03.1942, S. 1. Vgl. BZ Nr. 3 v. 10.01.1942, S. 1. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942 – Gutschke an Reichstatthalterei (26.01.1942).
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flagge gehisst. Für viele war der Krieg ein indirekter Geographie-Unterricht. Neben Don, Rostov, Nischni Nowgorod und dem Kaukasus wurde der Maghreb aufgerollt. Kämpfe bei Bir el Gobi, Bir Shegga, Sidi Omar und dem Halfaya-Paß kamen hinzu, und als der japanische Verbündete in Südostasien in die Offensive ging, las man von Kämpfen und Eroberungen rund um Johore, Seremban, Yenangyoung, Kola oder Bahru.42 Auf dem gedruckten Papier war das beeindruckend. Den Frontverläufen anhand der Badener Zeitung zu folgen, hatte sicherlich für viele etwas Spannendes, zumindest konnte das Interesse – gleichgültig welche Motivation dahinterstand – geweckt werden. Doch nicht jeder Badener ließ sich von den militärischen Triumphen und den Siegesfanfaren hinters Licht führen. Zu ihnen gehörte der Architekt und Beamte Gustav Hermann. Im Friseursalon des Ehepaar Karl und Franziska Griessenberger in der Marchetstraße 4 analysierte er Ende November 1941, als Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges, den aktuellen Kriegsverlauf und hinterfragte das Gerede von dem dem Deutschen Reich aufgezwungenem Krieg. Die Bolschewisten hätten nie angegriffen, sie haben nie gerüstet, denn ihre Parole war nie wieder Krieg, doch sind sie vom Führer angegriffen worden […]. Zugleich soll er von sich gegeben haben, dass er keine Zeitungen lese, in kein Kino gehe und sich auch keine Wochenschau ansehe, weil er vom Kriege nichts willen wolle und vom früheren Kriege noch genug habe. Und zu allem Überfluss waren seiner Meinung nach die Juden nicht so schlimm. Die Empörung war groß, besonders bei dem anwesenden Buchalter der Enzesfelder-Metallwerke Otto Schwenk.43 Während das Ehepaar Griessenberger bei dem folgenden Verhör angab, Hermanns Aussagen zum Krieg keinen besonderen Wert beigemessen zu haben – sie schwächten sie sogar ab und bezeichneten es als gewöhnliches Gespräch, zumal sich Hermann zuvor nach ihrem eingerückten Sohn erkundigt hatte – und an eine Aussage bei der es um Juden gegangen wäre, konnten sie sich sowieso nicht erinnern, hingegen erinnerte sich Otto Schwenk sogar daran, dass Hermann auf meinen Gruß „Heil Hitler“ mit Adje oder gutem Tag, allenfalls aber nicht mit Heil Hitler geantwortet [hatte]. Bei seiner eigenen Einvernahme stand Gustav Hermann zu seinen getätigten Aussagen, wenn er sie auch anders interpretierte. Eine politische Bedeutung legte er seiner Meinung nicht bei und als jemand, der 52 Monate an der Front gestanden hatte und nun als Architekt und Beamter beim Fliegerhorst Bad Vöslau tätig war, maß er sich eine gewisse militärische Expertise durchaus zu. Und in Bezug auf die Juden, als ihm seinerzeit die Hauswegnahme blühte und er von den Banken keinen Kredit erhalten habe, sei als Vermittler der Jude Max Bittner aufgetreten, der sein Haus zu meinem Vorteil bestens verkauft [hatte].44 Dadurch sei ihm die Hauswegnahme erspart geblieben, ergo, durften daher so manche Juden nicht so schlimm gewesen seien, als so manche christliche Geldgeber.45 Nun folgte das, 42
Vgl. BZ. Nr. 98 v. 06.12.1941, S. 4 und BZ Nr. 2 v. 07.01.1942, S. 1 und BZ Nr. 52 v. 01.07.1942 und BZ Nr. 49 v. 20.06.1942, S. 1. 43 Otto Schwenk (geb. 1893), Karl Griessenberger (geb. 1884), Franziska Griessenberger (geb. 1898). 44 Max Bittner (geb. 1872). 45 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Hermann Gustav (geb.1890) – Stadtpolizei
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was immer folgte, Menschen wie Gustav Hermann mussten „vernichtet“ werden. Plötzlich war sein politisches Verhalten schon immer negativ gewesen, er hätte ständig gemeckert, nichts gespendet, dafür französischen Kriegsgefangenen Zigaretten zugeworfen. Es hieß: Hermann ist ein Egoist übelster Sorte.46 Gustav Hermann kam trotz allem noch sehr glimpflich davon. Es blieb bei einer Verwarnung. Man musste aber kein kriegserprobter Frontsoldat gewesen sein, um Zweifel gegenüber der NS-Kriegspropaganda zu hegen. Kritisch und misstrauisch, allerdings nicht öffentlich kundgebend, agierte die 13-Jährige Gertrud Maurer. Als Leserin von Backfischliteratur, wie der Mädchenbuchreihe die „Kränzchen-Bibliothek“, fiel ihr jener Band ein, der sich um Napoleon und seinen Russlandfeldzug drehte. Besonders prägend war die Beschreibung des russischen Winters – kalt, frostig, eisig und mörderisch. Von da an war sie überzeugt, der Feldzug gegen die Russen war nicht zu gewinnen. Bedeutete das etwa, kam Gertrud Maurer ins Grübeln, dass womöglich der ganze Krieg nicht mehr zu gewinnen war? Ein weites Feld an Fragen tat sich für sie auf. Ich forschte jetzt vorsichtig in der Familie, wie das Ende des 1. Weltkrieges gewesen sei, um zu erfahren, was auf uns zukam, aber es ist noch viel schlimmer gekommen.47 Dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, davon war der Versicherungsvertreter und kroatische Staatsangehörige Heinrich Kostial-Zivanovic im März 1942 überzeugt. Seine Überzeugungen machte er wieder auf eine ganz andere Art publik. Stark alkoholisiert und deswegen vom Ausschank weiterer alkoholischer Getränke im Casino ausgenommen, begann er seine defätistischen Kriegsszenarien, dass Großdeutschland den Krieg verlieren werde, für alle hörbar kundzutun und gleichzeitig Altreichdeutsche, Ostmärker und den Nationalsozialismus als Ganzes mit Vulgarismen zu belegen. Am nächsten Tag konnte er sich an nichts mehr erinnern. Die anderen Casinobesucher allerdings schon. Er wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Heinrich Kostial-Zivanovic‘ Prophezeiung sollte sich nicht bewahrheiten. Er gab dem NS-Regime noch ganze sechs Jahre und verschätzte sich dabei um drei.48 Andere und wesentlich miserablere Zukunftsprognosen lieferte turnusmäßig die Badener Zeitung. Das Blatt hatte in seiner Ausgabe vom 11. Oktober 1941 den Ostfeldzug bereits für beendet erklärt – der Sieger hieß Deutschland. Dass dem 1942 nicht so war, wussten besonders jene, die an der Ostfront waren oder dorthin zurück wollten. Wie Leutnant Alois Brusatti, den es, nach seinem Lazarett- und Kuraufenthalt sowie der Zeit als Ausbildungsoffizier in Kremsier, wieder zurück nach Russland an die Front lockte.
an den Landrat (31.01.1942). 46 Ebd. – Bericht (01.12.1942). 47 WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 42. 48 Vgl. DÖW, Heinrich Kostial-Zivanovic (geb. 1891) heimtückische Aussage, abgerufen auf www. jewishhistorybaden.com/archive (10.04.2023).
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Das Mysterium vom Leben und Sterben Mitte November 1941 erfolgte für Alois Brusatti und weitere Offizierskameraden die Verlegung zurück an die Ostfront. Zuvor gab es einen Zwischenstopp in Warschau. In einen Offiziersclub eingekehrt, tranken sie Sekt, der ihnen nicht schmeckte, und beobachteten dabei angeheiterte SS-Offiziere, wie sie polnischen Schauspielern Geld zuwarfen und jene es ängstlich vom Boden klaubten. Einer der SS-Offiziere blieb ihm besonders unangenehm bzw. wie er es formulierte widerlich in Erinnerung, da er uns ansprach und etwas von Heldenmut faselte und nur bemerkte, dass es ihm nicht möglich sei, sich an der Front für Hitler einzusetzen zu dürfen. Uns berührte diese an sich damals übliche Phrasendrescherei wenig.49 Denn die Theorie des Krieges und die gelebte Praxis stimmten schon längst, auf mehreren Ebenen, nicht mehr überein. Als Brusatti bei seiner Einheit ankam, bis Moskaisk gab es noch eine Eisenbahn und es war Ende November 1941, traf er auf eine demoralisierte Kompanie von 80 Mann, die zuvor durch eine Stalinorgel bei Wjasma deutlich dezimiert worden war, die kaum Winterbekleidung hatte und wo die Gewehre aufgrund der Kälte stockten, da das falsche Öl geliefert worden war. Das war sein Material an Mensch und Gerätschaft, mit dem es galt, Stalins Imperium niederzuringen.50 Richtig los ging es für Brusatti und seine Männer am 12. Dezember 1941. Die Sowjets eröffneten das Feuer, wir konnten nichts erkennen; aber plötzlich verlagerte sich der Gefechtslärm, zu den hinteren deutschen Linien. Bereits da hatte er als Kommandant jeglichen Überblick über das Kampfgeschehen verloren. Nur eines wusste er, es gab die ersten Verluste, ein Mann stand schreckensbleich mit Bauchschuss neben mir. Ich ließ ihn auf ein Panjetfahrzeug bringen. Ob es zurückkam, weiß ich nicht.51 Was blieb, war ein chaotischer Rückzug. Es verging etwas Zeit, bis er und seiner Männer sich endlich orientieren konnten. Als er in einer gewissen Entfernung andere Wehrmachtseinheiten wahrnahm, machte er sich mit einer Leuchtkugel bemerkbar. Er wurde bemerkt, von seinen Leuten und den Sowjets. Augenblicklich erfolgte ein Granatenbeschuss. Die erste Granate verfehlte ihr Ziel. Die zweite detonierte neben ihm und er wurde bewusstlos. Nach einiger Zeit – es wurde ganz still um mich und über mir der graue Himmel; ohne Gefühlsregung stellte ich nüchtern fest: Das ist das Ende… ich dachte nur an den Abschied von meiner Mutter!52 Es war für ihn nicht das Ende. Aber er spricht hier etwas immens Wesentliches an, das Sterben an der Ostfront und die Mutter an der Heimatfront. Beides gehörte oft zusammen. Zumeist waren es die Eltern, die vom Heldentod ihres Sohnes benachrichtigt werden mussten, denn die meisten Gefallenen waren junge Männer, unverheiratet und ohne Nachwuchs. Der Kampf und das Sterben wurden in der NS-Ideologie auf eine Metaebene emporgehoben und mit NS-Gloria und NS-Mythos verbrämt. Und Goebbels sprach: Unsere Toten 49 50 51 52
StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 29. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 47. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 31. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 47.
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stehen auf der anderen Seite des Lebens schon in seinem strahlenden Licht. Wir sind die Suchenden, sie die Vollendeten. Sie haben früh ihre Zeit erfüllt, die vor uns noch mit tausend Rätseln und Aufgaben liegt.53 Der Gefallene wurde zum Vollendeten, ein Auserwählter, der offenbar über Raum und Zeit erhaben war – eine NS-Jenseitsvorstellung. Aus heutiger Sicht war es ein Jonglieren mit schwülstigen und pathetischen Metaphern. Die Medien, in unserem Fall die Badener Zeitung, hatten dahingehend einen umfangreichen Phrasen-Vorrat, um den Angehörigen zu Hause Trost zu spenden. Er liegt nicht irgendwo einsam und verlassen im fremden Land. Vielmehr kommen tausend und abertausend Soldaten an seinem Grab vorüber, und jeder von ihnen denkt voll Liebe und Ehrfurcht auch an ihn, den unbekannten Soldaten. […] Er war ein prächtiger Soldat. Du darfst stolz sein auf ihn…54 Wir finden hier zum einen Trost durch die soldatische Gemeinschaft und zum anderen Trost durch Stolz. Und Trost war bitter nötig. Die Gefallenenzahlen nahmen von Jahr zu Jahr zu. 1939 fielen 14 Soldaten aus Baden/ Pfaffstätten, 1940 waren es 31, 1941 bereits 73 und 1942 sollten es 123 sein.55 Die Todesnachrichten wurden unter anderem von NSDAP-Amtsleitern persönlich überbracht. Es dauerte nicht lange, da löste ihr Erscheinen auf den Straßen Angst aus. Welches Haus würden sie diesmal ansteuern? Gab es dort Söhne, Ehemänner oder Väter, die an den Fronten stationiert waren? Die NSDAP wusste um den schlechten bzw. tragischen Ruf der Todesnachrichtüberbringer, die der Volksmund bald als Todesengel titulierte. Eine Imagepolitur war nötig. Es erging die Order, auch gute Nachrichten persönlich zu überbringen, wie Hochzeitsglückswünsche oder Geburtstagsgrüße.56 Bei einem Aufeinandertreffen mit Angehörigen gefallener Familienmitglieder, von Angesicht zu Angesicht, war es nicht mehr so leicht, sich in mystische Phrasen zu flüchten und von Vollendung zu fabulieren. Irgendwie tröstend musste der Inhalt schon sein oder wenigsten ein plausibler Grund musste angeben werden, weshalb der Sohn oder Ehemann nie wieder zurückkommen werde. Als der 22-jährige SS-Sturmmann Adolf Seidel am 17.November 1941 bei Rostow fiel, verfasste Schmid einen Kondolenzbrief an dessen Mutter. Er schrieb, dass er als Bürgermeister in dieser schweren Stunde, stets bei den Hinterbliebenen wäre. Dieser harte Schicksalsschlag, der mich innerlich ganz zu Ihnen führt, ist wohl das größte Opfer, das Sie für unseren Führer und für das deutsche Volk bringen konnten. Ihr Sohn hat mit beigetragen, die große Bolschewikengefahr, die Deutschland bedroht hat, abzuwenden, den Lebensraum unsers arbeitssamen Volkes zu gestalten und einen dauerhaften Frieden zu erkämpfen.57 Die Badener Zeitung kondolierte ebenso, nur setzte sie andere Prioritäten. Mit ihm verlor die Familie [...] ihren zweiten und letzten Sohn. Wie sein vor wenigen Monaten gefallener
53 LONGERICH, Goebbels, S. 543, hier zitiert nach Das Reich, 27. Dezember 1942. „Die Vollendeten“; Goebbels‘ Tagebücher 16. Dezember 1942. 54 BZ Nr. 103 v. 24.12.1941, S. 3. 55 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; Liste der Kriegssterbefälle. 56 Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 338. 57 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Adolf Seidel (1919–1941).
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Bruder fand auch er nur im Einsatz in der vordersten Front seine Befriedigung.58 Es war oftmals vom Opfer und der Aufopferung die Rede sowie der bolschewistischen Gefahr. Etwas konkreter und finanziell greifbarer wirkte die Ankündigung Schmids, dass Frauen von gefallenen Gefolgschaftsmitgliedern für jedes Kind 500 RM bekämen und für Kinder ab dem 14. Lebensjahr sollte ein Sparbuch, mit einem Guthaben von 100 RM, angelegt werden.59 Das Überbringen der Todesnachricht beinhaltete neben einer Glorifizierung des Todes auch ehrliche Anteilnahme – wobei man medial hier nicht zu „weinerlich“ erscheinen durfte. Polizeichef Gutschke gab zu bedenken: Die Traueranzeigen der Presse, in denen betont wird, dass der „einzige“, oder nun auch unser „zweiter“ oder der „letzte“ Sohn gefallen ist, fordert viel Mitleid und Rederei heraus.60 Und man konnte nie wissen, zu viel Rederei könnte womöglich noch grundsätzlich Zweifel an diesem gerechten Krieg hervorrufen. Der tröstende Aspekt musste NS-ideologisch gerecht verpackt werden. Als im Juli 1941 der 21-jährige Kurt Lanca bei Berestervec fiel, war es überaus tragisch, aber: Sein Heldentod trat infolge eines Kopfschuss sofort ein.61 Und damit haben wir einen weiteren tröstenden Aspekt – ein schneller und schmerzloser Tod. Genauso bei Unteroffizier Friedrich Kopp, der mit 19 Jahren der SA und NSDAP beitrat, in Polen und Frankreich kämpfte, verwundet und ausgezeichnet wurde, bis ihn im Mai 1942 in Charkow sein letztes Gefecht ereilte. Seine Mutter erhielt folgende Zeilen: Unteroffizier Kopp war augenblicklich tot. Er starb ohne Schmerzen und ohne um seinen Tod zu weinen. […] Der Angriff, in dessen Verlauf ihn der Tod ereilte, konnte in mehrstündigem Kampf abgewehrt werden. Sein Opfer für die Zukunft des Reiches gebracht, war und wird nicht umsonst gewesen sein.62 Wenn der Tod nicht augenblicklich eintraf, wie zumeist bei einem Kopfschuss, so war das Sterben wenigstens frei von Schmerzen, wie bei Walter Chaloupski aus Baden. Der 21-Jährige erlag im Mai 1942 seinen schweren Verletzungen, aber, wie der Mutter versichert wurde, hatte er wenig Schmerzen erdulden brauchen, da ihm gleich von einem Arzt eine schmerzstillende Spritze verabreicht werden konnte.63 Das Gleiche wurde im März 1943 Rosina Ernstthaler versichert, als ihr Sohn Ludwig gefallen war. Zuerst setzte man sie davon in Kenntnis, dass sich Granatsplitter in den Unterkiefer und die Brust ihres damals 22-jährigen Sohnes gebohrt hatten, um nur wenig später hinzuzufügen, dass er sogleich ins Lazarett verfrachtet worden war und dort ohne Schmerzen zu verspüren und ohne Todeskampf ist Ihr Sohn am 2.3.1943 um 17 Uhr seiner Verwundung erlegen. Dann kam noch etwas, das wahrscheinlich für Trost sorge sollte. Der rasche Tod hat ihn vor einem langen Krankenlager und schweren Siechtum bewahrt. […] Möge Ihnen und Ihrer Familie ein kleiner Trost für dieses schwere Opfer sein, dass er sein Leben ließ, gehorsam und treu
58 BZ Nr. 3 v. 10.01.1942, S. 4. 59 Vgl. BZ Nr. 93 v. 19.11.1941, S. 3. 60 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942 – Gutschke an Reichstatthalterei (26.01.1942). 61 StA B, GB 052/Personalakten: Lanca Kurt (1920–1941). 62 StA B, GB 052 Personalakten: Friedrich Kopp (1917–1942). 63 Vgl. StA B, GB 052 Personalakten: Chaloupsky Walter (1921–1942).
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seinem Fahneneid im Glauben an den Führer und an das große Ziel, dass uns allen vorschwebt: „Deutschlands Größe und Deutschlands Sieg“. Er wurde auf dem schönen Heldenfriedhof zu Sabolotje, 12 km westlich von Staraja-Russa, an der Seite vieler Kameraden beigesetzt. 64 Der Tod galt bei ihm als Erlösung. Die Mutter sollte doch froh sein, dass ihr Sohn keinem langen Siechtum ausgesetzt gewesen war. Das Gleiche riet man der Mutter von Raimund Müller. Ihr 21-jähriger Sohn verstarb am 22. Mai 1943, drei Tage nachdem er ins Lazarett eingeliefert worden war, an einem schweren Bauch-, Becken- und Blasendurchschuss. Man wusste um den tragischen Verlust und „voller Empathie“ verwies man auf einen positiven Aspekt, dass Ihr lieber Sohn keinerlei Schmerzen zu leiden hatte und sanft hinübergeschlummert ist. Ja, angesichts der Schwere seiner Verwundung muss man von einer Erlösung durch den Tod sprechen, denn der Gedanke, dass Ihrem Sohn Zeit seines Lebens ein schweres Krankenlager beschieden gewesen wäre, ist doch sicherlich weit schlimmer als der Tod.65 Hier kam wiederum der schöne Tod ins Spiel, die „Euthanasie“, der Tod als Erlösung. Die Mutter wurde dahin gelenkt, besser um einen toten Kriegshelden zu trauern, als sich um einen lebenden Krüppel und Pflegefall sorgen zu müssen. Ob das immer der Wahrheit entsprach, das mit dem schnellen und schmerzlosen „Hinüberschlummern“, sei dahingestellt bzw. ist stark zu bezweifeln. Denn nicht immer waren die genauen Todesumstände „angehörigen-gerecht“. Im Fall von Walter Wendling aus Teesdorf und neun weiteren Kameraden, die im Oktober 1942 vor der afrikanischen Küste den Tod fanden, informierte das Zentralbüro des Kreisleiters Baldur von Schirach die Kreisleitung, dass die Leiche des Genannten sei bisher noch nicht gefunden und sie wird auch nach menschlichem Ermessen nicht gefunden werden. (Vorliegenden Berichten zufolge sind die Männer in Atome zerrissen worden. Dies kann man den Eltern natürlich nicht sagen).66 Generell scheinen die Mütter und Ehefrauen bei Todesnachrichten würdige Haltung an den Tag gelegt zu haben – so jedenfalls die Frauenschaftsleiterin von Altenmarkt im Dezember 1941. Nur am Hafnerberg schien es zu einer unwürdigen Reaktion gekommen zu sein. Doch man hatte Verständnis. In einem Falle war die Mutter eines Gefallenen schwer zu trösten, da sie schon im Weltkriege den Mann und einen Sohn verloren hatte. Im ersten Schmerz hat die Frau wahrscheinlich eine Äußerung gemacht, die von Außenstehenden aufgebauscht wurde. Von einer allgemeinen Missstimmung kann keine Rede sein.67 Und damit immer und überall die Würde vorherrsche, verpflichtete das Gaupropagandaamt die Kreisleitungen für den Muttertag 1942 unter anderem auf die folgende Richtlinie: Die Veranstaltungen dürfen auf keinen Fall zu Trauerfeiern für Gefallene werden, sondern sollen in würdigem Rahmen gehalten werden und den Sinn des Tages entsprechen, dem Lebenswillen unseren Volkes Ausdruck geben.68 64 65 66 67 68
StA B, GB 052/Personalakten: Ernsthaler Ludwig (1921–1943). StA B, GB 052 Personalakten: Müller Raimund (1922–1943). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Wendling Walter. StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. IV NSF/DFW Ortsgruppen; Altenmarkt. StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. III NSF/DFW Allgemein; Mütter und Muttertag.
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Einen anderen Weg schlug Adelheid Podobsky ein. Zwei Mal hatte sie bereits das NSGeschwurbel von Ehre, Tod und Bla, bla, bla lesen müssen und um es kein drittes Mal lesen zu müssen, schrieb sie im Juni 1942 an den Generalstabsarzt des Wehrkreiskommando XVII: Gestützt auf den Führererlass, bitte ich um Zurückziehung meines letzten Sohnes, des Assistenzarztes Dr. Otto Podobsky […] aus der kämpfenden Truppe. Mein Gatte, das Mitglied des Wiener Philharmonischen Orchesters Alois Podobsky, ist im Juli 1941 in Ausübungen seines Dienstes auf tragische Weise verunglückt. Der ältere Sohn Dr. Karl Podobsky […] ist nach einer mir eben zugegangenen Mitteilung vor dem Feind gefallen. Mein zweiter Sohn […] ist also der letzte Sohn und Namensträger. Daher stelle ich die Bitte, ihn aus der kämpfenden Truppe herauszuziehen.69 Ihr Ansuchen wurde von Seiten der Gemeinde wärmstens befürwortet. Ob es die Bitte der Mutter war oder die Befürwortung der Gemeinde, Otto Podobsky erlitt nicht das Schicksal seines Vaters und Bruders. Als Assistenzarzt der Reserve versah er seinen Dienst in mehreren Lazaretten hinter der Front und überlebte den Krieg. Das Sterben an der Front war purer NS-Heroismus. Es war dieses Auserwähltsein inklusive Vorbildfunktion. Denn das Sterben und Todsein konnte auch als eine persönliche Reinigung, als eine Katharsis im NS-Sinne instrumentalisiert werden. Der SS-Mann Adolf Tröthan, stationiert in der Festung Theresienstadt, benötigte aus Baden eine Bestätigung seiner Illegalität. Er behauptete, dass er während der Systemzeit eine Hakenkreuzflagge in einem Wiener Schulcasino gehisst hätte. Die Kreisleitung leitete ihre Nachforschungen ein, stellte jedoch fest, dass der Mann ein Hochstapler war, der sich wiederkehrend in dubiosen Kreisen bewegte, bei seiner früheren Dienstelle Geld unterschlagen hatte und dadurch einen übelsten Leumund besitze. Für Führungspositionen im NS-Staat waren solche asozialen Charaktere überhaupt nicht geeignet. Deswegen, so die Empfehlung der Kreisleitung, wäre bei seiner behaupteten Illegalität Vorsicht angebracht. Als im Mai 1942 Adolf Tröthan senior die Todesnachricht seines Sohnes erhielt, der bei Nowgorod gefallen war, schien alles vergeben und vergessen. Das Bataillon wird ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren. Ihr Sohn war uns stets ein lieber, gewissenhafter und pflichtbewusster Kamerad. Zwei Wochen später erhielt der Senior abermals Post. Diesmal war es das Infanterie-Sturmabzeichen seines Sohnes samt Anmerkung: Wie schade, dass Ihr Sohn diese schöne Auszeichnung nicht mehr erlebt hat. Möge es Ihnen ein weiterer Trost sein in ihrem schweren Leid, dass er tapfer, mutig und pflichtgetreu seinen Mann gegenüber Volk, Führer und Reich gestanden hat.70 Ähnliche Wandlung geschah bei SS-Untersturmführer Kurt Wilhelm Haun. Kommend aus Peggau (Steiermark), war er seit 1929 Mitglied der Badener HJ, trat 1932 der NSDAP bei, ging 1933 nach Potsdam, um dort die Reichsjugendführerschule zu besuchen. Ein Jahr später 1934 war er zurück in Österreich, wo er in Villach verhaftet und zu fünf Jahren Kerker verurteilt wurde – damit war ihm der Blutorden sicher. Zwei Jahre später 1936 erfolgte, bedingt durch das Juliabkommen, die Begnadigung. Kaum in Freiheit, schloss er sich der SS an, wurde im April 1937 wegen Geheimbündelei zu drei Monaten verurteilt, saß diese 69 StA B, GB 052/Personalakten: Podobsky Otto (geb. 1918). 70 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Tröthan Adolf (1910–1942).
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ab und flüchtete im Dezember ins Altreich. Im Mai 1938 kam er nach Baden zurück, wurde als Geschäftsführer in die Kreisleitung berufen und behielt diese Funktion bis zu seiner freiwilligen Einrückung im Jänner 1940 zur Waffen-SS, wo er den Kriegslehrgang für SSFührer in Bad Tölz absolvierte. Solch ein Einsatz wurde mit der „Arisierung“ eines Haus in Brünn belohnt, mit dem bereits erwähnten Blutorden, dem goldenen Ehrenzeichen der HJ, der zehnjährigen Parteidienstauszeichnung und der Ostmarkmedaille.71 Und als er am 13. Oktober 1941 südlich von Leningrad fiel, schrieb Camillo Gärdtner der Witwe Käthe Haun, ihr Ehemann ist im Kampfe gegen fremde zersetzende Kräfte so gefallen, wie ich ihn aus gemeinsamer Zeit in der HJ Nieder-Österreich kannte. Sie haben Grund, auf Ihren Mann stolz zu sein. Er lebt in Eurem Kinde, in Ihrem und der Kameraden Andenken weiter.72 Doch bevor Kurt Wilhelm Haun zum hochdekorierten toten Kriegshelden emporgehoben wurde, war er jemand, der finanzielle Vereinbarungen nicht einhielt, seine Wirtshausschulden nicht zahlen konnte/wollte, finanzielle Zuwendungen der Schwiegermutter in Anspruch nehmen musste und nach dem Anschluss eine überzogene Entschädigungssumme eingefordert hatte. Und er gehörte genauso zu jenen Nationalsozialisten, die im Kapitel zuvor vorgestellt wurden. Neben der beachtlichen NS-Karriere war er einer von denen, die gerne mal über den Durst tranken und sich von niemandem, auch von keinem Sicherheitsorgan, etwas sagen ließen. Stattdessen begegnete er den Beamten, wie im März 1941, mit Hasstiraden wie sie Dreck, sie Scheißfigur, sie Scheißgesicht und mit Gewaltandrohungen ich hau sie nieder, seien sie froh, dass sich noch nach Luft schnappen können – ausgelöst wurde das Ganze, weil ihm ein Polizeibeamter in der Nacht mit der Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet hatte. Aber durch seinen Heldentod gab er sein junges Leben dahin für die Fahne, die er über alles hochhielt. Denn die Fahne war ihm mehr als der Tod. Seine Haltung sichert ihm ein treues Gedenken.73 Zusammenfassend – bzw. ich drücke es in den Worten Goebbels aus: Sie alle und aus Baden sollten es noch Hunderte werden, waren die Vollendeten, jene, die vorgegangen waren und denen das Mysterium von Leben und Tod wie ein offenes Buch zu Füßen lag. Alois Brusatti gehörte nicht dazu. * Als er wieder zu sich kam, nachdem unmittelbar in seiner Nähe eine Granate explodiert war, hörte er jemanden rufen: „Den Leutnant hat‘s erwischt“. Ich konnte mich aufrichten. Zwei Leute unterstützten mich. Ich muss stark geblutet haben…74 Gleichzeitig nahm er wahr, wie um ihn herum, in sicherem Abstand, das Artilleriebombardement unaufhörlich weiter 71 Vgl. BZ Nr. 96 v. 29.11.1941, S. 3 und StA B, NSDAP-Karteikarten groß: Haun Kurt Wilhelm (1914–1941). 72 StA B, GB 052/Personalakten: Haun Kurt Wilhelm – Gärdtner an Käthe Haun (geb. 1917). 73 BZ Nr. 96 v. 29.11.1941, S. 3. 74 StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 32.
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ging. Seine Männer schleppten ihn aus der Gefahrenzone, hievten ihn auf einen LKW, dabei die Rufe des Fahrers ignorierend, der sie energisch darauf hinwies, er hätte Minen geladen. Von all dem, beginnend bei dem Gedanken an seine Mutter und dass sein Ende gekommen wäre bis zum Eintreffen am Hauptverbandsplatz, blieben Alois Brusatti nur Erinnerungsfetzen im Gedächtnis. Es waren Trancezustände und er erinnerte sich nur an ein heftiges Durstgefühl, das nicht gestillt werden durfte, da von den Lazarettärzten anfänglich eine Bauchverletzung vermutet wurde. Seine Bauchdecke war zwar zerfetzt, jedoch keine inneren Organe. Dafür hatte er einen Oberschenkeldurchschuss erhalten, je einen Schussbruch linker Unterarm und linker Fuß sowie 26 Granatsplitterverletzungen.75 Der Hauptverbandsplatz lag nicht unweit der Front. Raum und Zeit waren aus der Retrospektive nicht mehr zu rekonstruieren. Vielleicht verbrachte er dort ein oder zwei Tage, dann erfolgte der Abtransport in ein Feldlazarett. Als langsam die Klarheit sich bemerkbar machte und er realisierte, welch schwere Verletzungen er davongetragen hatte, konnte er es sich im ersten Moment nicht erklären, wie er das überhaupt überleben konnte. Er mutmaßte, dass ihm ein alter, verlauster Pelz, den er in irgendeinem Dorf aufgeklaubt hatte, das Leben gerettet hatte – die 26 Granatsplitter wären womöglich durch den Pelz in ihrer Wucht abgeschwächt worden. Noch 17 Jahre später, als er in Baden operiert wurde, fanden Ärzte Pelzreste in seinem Körper.76 Das Feldlazarett hinter der Front war in einer Schule untergebracht. 30 Betten in einem einzigen Klassenzimmer. Dort erlebte er überlastete Ärzte, überarbeitete deutsche und russische Sanitäter, einen General, der am Weihnachtsabend vorbeikam, menschlich wirkte und Geschenke verteilte, einen Militärgeistlichen, der Briefe für die Angehörigen in der Heimat entgegennahm, Bombenabwürfe auf die Stadt, in der sich das Lazarett befand, und die Angst, dass es jederzeit vorbei sein könnte. Manchmal starb jemand, was von den anderen still beobachtet wurde. Man stumpfte ab.77 Das Abstumpfen war teilweise bitter nötig und überlebensentscheidend, um nicht durch das Grauen fremder und eigener Taten den Verstand zu verlieren. Davon war Hans Meissner noch weit entfernt. Während für Alois Brusatti das Kapitel Ostfront der Vergangenheit angehören sollte, war es für Hans Meissner stets lauter werdende Zukunftsmusik. Noch befand er sich in der Ausbildungsphase. Im Okt. 1941 erfolgte die Einberufung zur Wehrmacht. In der Meidlinger Kaserne fand die noch irgendwie gemütliche Grundausbildung zum HeeresNachrichtenfunker statt.78 In seinem Kriegstagebuch schrieb er über seine Ausbildungszeit in Wien und Frankfurt und seine Kriegserlebnisse an der Ostfront. Einige Zeit später – wie lange genau ist nicht bekannt – ergänzte er das Kriegstagebuch durch Nachträge, die er feinsäuberlich vom Originaltext mittels Klammersetzung abgrenzte. Dies ist eine wunderbare Quelle, denn sie legt Zeugnis davon ab, was diesem Menschen wert war, niedergeschrieben 75 76 77 78
Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Brusatti Alois. Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 32. Ebd. S. 33. StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Vita.
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zu werden. Anders als Brusatti war Meissner kein freiwilliger Kriegsteilnehmer. Deswegen war seine Prioritätensetzung und Motivation eine andere. Es ist interessant, beide Männer zu vergleichen und sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Bei Brusatti war es der Militarismus, das Ehrgefühl eines Offiziers, der Traum, endlich einem großen Reich dienen zu dürfen sowie Vergeltungsphantasien gegenüber den Gegnern des Ersten Weltkrieges und dem durch sie aufoktroyierten Friedensdiktat von Versailles. Bei Meissner sah das anders aus. Die Uniform nahm er an, weil es für ihn keine andere Wahl gegeben hatte. Und Widerstand? Ein Engagement im aktiven Widerstand war keine sich bietende Alternative. Es gab keinen. Also gab es keinen Gedanken daran. Außerdem: Man wurde für viel harmlosere Dinge ins KZ gesteckt oder kam vors Kriegsgericht. Zum Beispiel - mir unbewusst - für Feindsenderhören. Was ich zu Hause aus purem Interesse reichlich tat.79 Ähnlich wie bei Brusatti wäre ihm ein Großdeutschland samt Ostmark nur recht gewesen, aber nicht Hitlers Großdeutschland – was Alois Brusatti Jahre später genauso sehen sollte. Während Brusatti durch den Eid und die Ehre eines Offiziers angetrieben wurde, diese ihm Halt gaben sowie die Motivation, weiterzumachen, waren es bei Meissner andere mentale „Fluchtpunkte“, die ihn aus „praktischer“ Alternativlosigkeit bis an den Kaukasus gelangen ließen. Es war die Kunst und Kultur, die Prosa und das Drama, die Geschichte und die Philosophie sowie die Gewissheit, einem Volk anzugehören, das Kapazunder wie Schiller, Goethe oder Nietzsche hervorgebracht hatte. Und dann gab es noch Dinge, die seinem Alter von 20 Jahren entsprachen, die sich lohnten, niederzuschreiben. Abenteuerlicher Silvester; Odyssee durch Wiens Lokale, soweit für 2 junge musenbegeisterte Gedankenfreunde geziemend. Der entscheidende Schritt wurde im Café Mozart getan – unter Vorausahnungen und den Wunsch im Herzen, für eine Sekunde den Blick durch den dunkelsten Schleier stoßen zu können, der je ihn verhängt hat.80 Von der Ausbildung liest man in seinem Tagebuch kaum etwas. Seine Heimat war nicht die Kaserne in Meidling, es waren stattdessen die Oper, das Volks- und Burgtheater sowie das Kino. Er schrieb über den 1940 zum ersten Mal ausgestrahlten Film „Friedrich Schiller – Der Triumph eines Genies“ und bezeichnete ihn als ein großes Kunstwerk. Wir lesen von Wagner und seinem Tristan und dem „Bauer als Millionär“ in der Burg. Eine ziemlich primitive Angelegenheit für uns 3 Außenweltler auf der 2. Galerie, um der prächtigen Inszenierung folgen zu können. Hörbiger als Wurzel, Gegensatz zu Thimig (etwas wie „ein neuer Weg“. Nur das Wort, recht daseinsnah, ohne jedes Mienenspiel...).81 Brusatti hatte eindeutig andere Prioritäten, als die Werke Raimunds oder Wagners oder die Darbietungen Hörbigers oder Furtwänglers zu kommentieren. Vielleicht hätte es weitere Gemeinsamkeiten gegeben, vielleicht wäre es Meissners Eintrag vom 1. Jänner 1942 gewesen, dem auch Brusatti aus vollstem Herzen zugestimmt hätte: Wir sind ins neue Jahr hineingestolpert, man hat das Gefühl, dass man vor seinem Beginn einen Stoß erhalten hätte, der einem im Fluge mitten hinein 79 StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 8. 80 ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 4. 81 Ebd. S. 5.
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tragen würde; ...die Unsicherheit des Schicksals regt niemanden mehr auf; Hoffnung hat man ja, doch allein die, dass man auch das Ärgste, wenn es alltäglich wird, als gewöhnlich empfinden wird... Heute hoffe ich nach Hause zu kommen.82 Sich an das Ärgste zu gewöhnen, wenn es Alltag wird – noch nicht einmal an der Front und Hans Meissner sehnt bereits die Abstumpfung herbei. Nach Hause zu kommen, wie er es hoffte, diese Hoffnung hatte auch Brusatti. Doch zuerst hieß es für ihn, den Tag, den folgenden und den darauffolgenden zu überleben. Mitte Jänner 1942 wurde er mit zahlreichen anderen Kriegsversehrten aus dem Feldlazarett herausgeflogen und südlich von Smolensk nach Orscha in ein Kriegslazarett verlegt, wo sie entlaust, gewaschen und frisch verbunden wurden. Die erste Nacht verbrachte er am unbeheizten Gang, eingewickelt in eine Filzdecke und den Kopf auf einen Strohsack gebettet. Sehnsüchtig, wie er schrieb, dachte er an ein frisches Hemd und dass er demnächst in einen der wohlig warmen, beheizten Sälen liegen dürfte. So primitiv waren die Wünsche, sinnierte er in seinen späteren Aufzeichnungen. Sein Wunsch sollte geschehen. In der Nacht starben drei Verwundete in einem Saal, und so makaber es klingen mag, für mich bedeutete es den Glücksfall, in ein geheiztes Zimmer und in ein Bett mit Laken zu kommen. Jetzt wurde ich auch richtig verarztet, bekam einen ersten Gips und kam relativ rasch mit den anderen, darunter ein paar jungen Offizieren ins Gespräch.83 Einigermaßen verarztet und halbwegs genesen, begann schön langsam ein verbaler Austausch an Erlebnissen und Meinungen mit den sich ebenfalls erholenden Zimmerkameraden. Front- und Kampferfahrungen bildeten einen wesentlichen Inhalt der Diskussionen, der andere Teil bestand aus der verpönten Suderei. Kritik an mangelnder Winterbekleidung, sinnlosen Materiallieferungen, versagenden Waffen, weil das falsche Öl geliefert wurde, oder unfähigen Vorgesetzten schaffte ein Gruppengefühl und eine Gesprächsbasis mit klarem Feindbild. Und plötzlich kamen auch Dinge ins Gespräch, die er für unmöglich, fast schon undenkbar gehalten hatte. Er und seine Kameraden begannen die Sinnhaftigkeit des Krieges in Zweifel zu ziehen. Das waren allerdings flüchtige Augenblicke, gedankliches Wetterleuchten ohne Substanz. Dominiert hatten eindeutig eindeutig Erzählungen über Front, Heimat, Herkunft und Familie. Für die nächsten paar Wochen spielte sich sein Leben in dem zweckentfremdeten Klassenzimmer ab. Bis zu dem Tag, an dem es hieß, er und alle transportfähigen Verwundeten würden per Zug Richtung Westen verlegt. Wohin es gehen sollte, war anfänglich unbekannt, erst später und nebenbei erfuhr er, es werde Wien werden und dort das Rudolfspital. Die Fahrt dauerte drei Tage und der Tod fuhr mit. Die Ärzte versuchten alle Verwundeten heil ans Ziel zu bringen. Einer der Schwerverletzten starb. Es klingt eigenartig, dass wir anderen zwar interessiert zusahen, aber ohne Gefühl alles aufnahmen. Was seine Emotionen dann doch durcheinander brachte, war ein Sanitäter, der von Anfang an gesagt hatte und danach stolz auf sich selbst war, dass dieser Mann nicht überleben werde. Er habe einen Blick 82 Ebd. S. 5. 83 StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 34.
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dafür… Brusatti quittierte dessen Prophetie mit einem groben „Maul halten“. Nur eine Alltagsgeschichte aus der Zeit, irgendwie symptomatisch, dass die Kleinigkeiten einen aufregen konnten, wahrscheinlich weil wir das Große gar nicht erkennen vermochten.84 In Wien angekommen, gerieten sie in die Obhut junger Krankenschwestern, die ihm gleich einmal leidtaten. Die jungen Frauen mussten mit unzähligen, teilweise schwer Verletzten, die vor Schmerzen stöhnten und schrien, ihr Auskommen finden. Seine eigene Genesung schritt gut voran. Einziger Wermutstropfen, sein Verdacht wurde Gewissheit, sein Fuß werde verkrüppelt bleiben, genauso wie der linke Arm, nur etwas weniger lädiert. Trotzdem, Wien war nicht die Ostfront, normalerer Alltag begann alltäglich zu werden. Allmählich erwachte die unbeschwerte Jugend wieder und die Verwundung mit ihren Folgen waren kaum existentiell spürbar. Kino-, Bar- und Heurigenbesuche konnten nachgeholt werden. In Grinzing soff ich mich einmal an und weiß nicht, wie ich wieder ins Lazarett gekommen bin; meine Offiziersmütze wurde auf dem Goethedenkmal gefunden.85 Immerhin eine weitere Gemeinsamkeit mit Hans Meissner, nur dass dieser den Dichterfürsten auf eine andere Weise ehrte. Während Brusatti gesundheitlich Fortschritte in Wien machte, wurde Meissner Ende April 1942 von Wien nach Frankfurt verlegt, wo seine Funkerausbildung um den Horchdienst ausgedehnt wurde. Seine universitär erworbenen Russischkenntnisse sollten ihn dafür prädestinieren, den sowjetischen Funkverkehr abzuhören – dieses kleine Detail wird uns ganz am Ende unserer Reise, liebe Leser und liebe Leserinnen, noch begegnen. In Frankfurt angekommen, finden wir tagebuchtechnisch ähnliche Einträge wie einst in Wien. Statt der Ausbildungen steht der Ufa-Palast und der Farbfilm im Mittelpunkt der Verschriftlichung oder der Besuch im Goethe-Haus mit Führung! Leider ist das Goethe-Museum des Hochstiftes geschlossen. Dann im Römer (Kaisersaal, Kurfürstensaal, Bürgersaal) Vergleich mit Wien: selbst der Kaisersaal viel kleiner weniger prächtig, was in Schönbrunn große Zimmer, sind hier Säle!86 Es ging weiter mit „Die Orestie“ von Aischylos im Schauspielhaus, der „La traviata“ und „Lohengrin“. Deutsche und italienische Opern konnten, wie er es beschrieb, vom ungeordneten Unterricht und dem Warten, wohin ihn der Krieg verschlagen werde, ablenken. Wohin soll ich meine Melancholie pflanzen, die täglich drückender wird; wenn man das Maß des Willensgegendruckes abrechnet, der sie täglich weniger und unbedeutender erscheinen lässt? Ewig zwischen den Gezeiten zu leben, habe ich bald satt. Ende Mai schien sich etwas anzubahnen. 27.05. Immer mehr scheint sich was zuzuspitzen, der Wanderstab bald ergriffen.87 Im Juli 1942 stand die Himmelsrichtung fest – sein Schicksal lag im Osten. Sein Wesen, eingefangen in seinen Tagebuchaufzeichnungen, sollte an der Front nicht soldatischer werden. Ganz anders wieder sein Vater. Hans Meissner sen., ein aufrechter und tadelloser Charakter, ob privat oder beruflich, eine einwandfreie Lebensführung, er sowie auch seine 84 85 86 87
Ebd. S. 35. Ebd. S. 37. ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 7. Ebd. S. 8.
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Familie genossen den denkbar besten Ruf und er war überaus würdig, als Offizier übernommen zu werden – so stand es bereits 1938 geschrieben. Ein Jahr später, 1939, lesen wir von einem einwandfreien Charakter, temperamentvoll, klar denkend, zielbewusst, wendig, allen Anforderungen gewachsen […] ruhig, verlässlich, energisch, bescheiden, Führernatur, die eine gute Figur an der Front machte und gegenüber Vorgesetzten bescheiden, bei Kameraden beliebt, von Untergebenen geachtet.88 Wieder ein Jahr später, 1940, war er ein strebsamer und diensteifriger Offizier, ob als Vorgesetzter oder Untergebener überaus korrekt und er brachte die Fähigkeiten mit, zum Kompanieführer aufzusteigen. Vom Leutnant der Reserve stieg er zum Oberleutnant der Reserve und im Mai 1942 erfolgte die Ernennung zum Hauptmann der Reserve. Bei seinem Sohn hingegen stand in dessen Wehrpass unter Körperbauform schwächlich und während der Vater als Hauptmann abrüstete, schaffte der Junior es bloß zum Obergefreiten.89 Meissner jun. war bei weitem nicht der einzige junge Mann, den es nicht nach Lebensraum, Ruhm und der Ehre dürstete. Er war auch nicht der einzige junge Mann aus der Kurstadt, der zwar Soldat, aber kein Krieger war. Der Historiker Kurt Bauer fasst das Dasein der allermeisten österreichischen Soldaten wie folgt zusammen: Sie nahmen an Hitlers Krieg teil wie Soldaten aus anderen Regionen des Deutschen Reiches auch: unwillig oder begeistert, als Sieger die Situation genießend, trotzdem auf ein baldiges Ende hoffend, immer eine möglichst bequeme, mit möglichst wenig Gefahren verbundene Stationierung ersehnend, die Verlegung an die Front, in die Feuerzone fürchtend.90 Als Krieger sah sich der Casinomitarbeiter Albert Wiche wahrlich nicht und auf den Endkampf Richtung „Endsieg“ war er genauso wenig aus. Für Hitler zu kämpfen hatte ich keine Lust und war auch schon vor der Besetzung Badens wieder daheim als Zivilist. Einberufen wurde er 1944, bis dahin konnte er sich irgendwie durchwurschteln. Sein Status als Parteianwärter kam ihm da sehr entgegen, auch wenn er diesen laut eigener Aussage nie angestrebt hatte. Alles, was dieses Regime betraf, war mir verhasst, nur die Sorge um meine Familie, durch den Verlust meines Arbeitsplatzes, hielt mich zurück, der Partei den Rücken zu kehren.91 Zum PA fand er über Direktor Köfer, der mittels gutgemeinter Argumente und unverhohlener Drohungen ihn davon überzeugen konnte. Was Köfer jedoch nicht schaffte, war Albert Wiche den Deutschen Gruß beizubringen, Parteiversammlungen zu besuchen oder das Parteiabzeichen anzustecken. Als er sich 1944 weigerte, einen Blockleiterposten anzunehmen, wurde sein PA-Status gegen die Wehrmachtsuniform getauscht. Mit einem Parteibeitritt versuchte auch der Weinhauer Josef Ramberger der Front zu entkommen. Seit 1926 beim Roten Kreuz in Leesdorf aktiv, versah er nach dem Anschluss 88 89 90 91
StA B, GB 052/Personalakten: Meissner Hans (geb. 1898). ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Wehrpass Hans Meissner. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 202. Sein Antrag wurde abgelehnt. Laut eigener Aussage, konnte der Arzt Dr. Rudolf Lackenbacher seine antinationalsozialistische Haltung bestätigen, da er dessen Schmuck vor Plünderungen bei sich zu Hause aufbewahrte. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Wiche Albert (geb. 1893).
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beim Deutschen Roten Kreuz weiterhin seinen Dienst und besaß damit eine UK-Stellung. Einerseits war er dadurch vor der Einberufung sicher, dafür aber ein leichtes Ziel für Parteiwerber, die alsbald an ihn herantraten. Aus Angst, die UK-Stellung zu verlieren, suchte er im Sommer 1941 um Mitgliedschaft an, zahlte regelmäßig Beiträge, nur um im Jänner 1942 dennoch eingezogen zu werden. Danach hörte er nie wieder etwas von der Partei, er fragte auch nicht nach. Parteimitglied ist er nie geworden, dafür blieb er Soldat bis zum Kriegsende und kehrte schwer krank vom Felde heim.92 Beim Fassbinder Johann Kranl klappte es genauso wenig, der Einberufung mittels UKStellung zu entgehen. Aus Preinsfeld stammend, war er in Baden als Fassbinder im Betrieb von Josef Wolkerstorfer tätig. Dort waren hauptsächlich Heimkehrer aus dem Banat und französische Kriegsgefangene beschäftigt, allesamt ungelernte Kräfte. Das bedeutete für Johann Kranl, als einziger gelernter Fassbinder, vorerst eine lebensrettende UK-Stellung. Außerdem wurde der Betrieb in einen Rüstungsbetrieb umgewandelt, der dann hauptsächlich für die Hirtenberger Patronenfabrik oder den Luftschutz fabrizierte und sein Arbeitgeber setzte sich eifrig für ihn ein, um ihn nicht an die Front zu verlieren. Wenn es nicht ganz gelingen wollte, half er bei Nazibonzen mit Wein nach, was sehr gefährlich war. Nach 1945 schilderte Johann Kranl, wie sehr er den Aufenthalt in Baden genossen hatte. Für ihn war die Kurstadt eine Großstadt, wo es Kinos gab, aber vor allem die Anonymität, wo eine UKStellung nicht so auffiel. Ganz anders in Preinsfeld, einer Ortschaft, die aus zwei Straßen bestand. In meiner Heimatgemeinde sah man das nicht gerne, einige von meinen Alterskollegen waren bereits an der Front gefallen, einige Bewohner beschimpften mich, weil ich noch nicht kämpfte.93 1944 wurde er eingezogen. Sowohl die Beschimpfungen als auch die UK-Stellung nahmen ein Ende. * Bei der Lektüre niedergeschriebener Fronterfahrungen fließt manchmal, trotz des Kriegsgrauens, immer wieder Sarkasmus mit ein. Raimar Wieser war beim Anschluss 15 Jahre alt und besuchte die fünfte Klasse des Badener Gymnasium Biondekgasse. Die Jugend hatte man ihm gestohlen, brachte er 1988 zu Papier und war mit dieser Ansicht einer von vielen. Dennoch war Raum für retrospektiven Galgenhumor. Gleich nach der Matura, die damals „Abitur“ hieß, durfte ich zur „Maturareise“ antreten – zuerst nach Kärnten zur Ausbildung, dann nach Frankreich und schließlich für lange Zeit nach Russland – alles auf Kosten der deutschen Wehrmacht.94 Wir müssen jedoch stets bedenken, dass das hier alles nur Fallbespiele sind, die nicht dazu führen dürfen, von wenigen auf alle zu schließen. Denn während Hans Meissner, 92 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Ramberger Josef (geb. 1901). 93 WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 40. 94 WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 32.
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Albert Wiche oder Raimar Wieser vollkommen frei von Enthusiasmus an die Sache herangingen und für sie alles erzwungenermaßen erfolgte, sah es bei Alois Brusatti und genug anderen Soldaten vollkommen anders aus. Ruhm, Ehre, Vergeltung und ein Großdeutsches Reich waren das Ziel. Da gab es wenig bis keinen Platz für wesensveränderten Zweifel oder Sarkasmus oder gar defätistisches Gedankengut. Wieso auch? Der Sommer 1942 war für Brusatti und seine Wehrmacht die militärische Hochphase. Ein Ereignis hob laut den Situationsberichten bereits im Jänner 1941 die Laune der „Volksgemeinschaft“ – Japans Kriegsbeitritt auf Seiten der Achsenmächte. Die Wolga, der Kaukasus, Moskau, Leningrad, Stalingrad usw. – man musste das ganze morsche Sowjetimperium nur noch wie einen reifen Apfel vom Baum pflücken. Zugleich war die Bevölkerung froh, nicht in solchen Zuständen wie bei den Russen hausen zu müssen.95 Und dann noch Rommels Erfolge in Nordafrika, deutsche Fallschirmjäger landeten auf Kreta und deutsche U-Boot Flotten versenkten mit ihrer Rudel-Taktik ein alliiertes Schiff nach dem anderen. Unter uns gab es eine gewaltige Euphorie; vom Elend derjenigen, die damals unter die Räder kamen, wussten wir nicht, vielleicht wollten wir es auch nicht wissen.96 Brusatti und gleichgesinnte Offizierskameraden waren nicht die Einzigen, die gewisse Dinge nicht wissen, sehen oder wahrhaben wollten. In seiner Heimatstadt, am Hauptplatz im Badener Rathaus, fanden genauso Menschen vom gleichen Schlag zusammen.
Theatralische Fassendhaftigkeit Für Brusatti brachte der Sommer 1942 zum letzten Mal militärische Euphorie. Nicht anders sah die NS-Berichterstattung in der Badener Zeitung aus. Unaufhaltsame Vorstöße in den russischen Weiten und Rommel, dieser schlaue Wüstenfuchs, war einfach nicht zu bremsen. Die Herzen vieler junger Männer schlugen höher und der Einberufungsbefehl konnte kaum mehr erwartet werden.97 Den Lebensraum des deutschen Volkes bis an die Wolga auszudehnen und den Bolschewismus auszurotten, war deutsche Volkspflicht – fußend auf Befehlen und persönlichen Überzeugungen. Und sollte am Ende der Tod winken, so waren die gefallenen Soldaten, um erneut den Propagandaminister zu bemühen, die Vollendeten und die Vorausgegangenen – Ruhm und Ehre gingen über den Tod hinaus. Zu ihnen gehörten Anfang 1942, nur um ein paar wenige zu nennen, der 20-jährige Erich Brandl, der am 30. Jänner 1942 in Russland fiel, der 21-jährige Ernst Grob, der 28-jährige Franz Klampfl, der 34-jährige Johann Haslinger, Franz Schiemer, Alois Hinger, Othmar Gunhold...98 Die Gefallenenzahlen schreckten nicht ab und wenn, dann durften 95 96 97 98
Vgl. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Jänner 1942. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 51. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1941, S. 5. Vgl. BZ Nr. 39 v. 16.05.1942, S. 3, BZ Nr. 25 v. 28.03.1942, S. 7, BZ Nr. 29 v. 11.04.1942, S. 8, BZ Nr. 29 v. 11.04.1942, S. 3.
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
sie es nicht. Angst und Bedenken waren nicht angebracht, nicht gern gesehen und nicht gerne gezeigt. Anspornend wirkten Auszeichnungen, Ehrungen und Medaillen. Der erste Badener, der mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes durch den Führer ausgezeichnet wurde, war Oberst Curt Jesser. Sein gewagter Vorstoß mit einem Panzerregiment im November 1941 ermöglichte maßgeblich den Einbruch in die Stadt Rostov am Don.99 Demnach könnte man Gutschkes Bericht vom Jänner 1942, in dem er die Stimmung mit Gut benotete, durchaus Glauben schenken. In anderen Stimmungsberichten wurde die innergesellschaftliche Situation als verhalten-positiv bezeichnet. Sehen wir genauer hin und lassen nur ein paar Monate ins Land ziehen, so wandelt sich das Bild – nicht unbedingt zum Besten für das NS-Regime. * Es waren Kleinigkeiten, aus heutiger Sicht gar unterhaltsam, die für internes Erstaunen sorgten. Im Februar 1942 teilte Schmid seinen Ratsherren, Betriebsführern und Abteilungsleitern in fünf Punkten und zwölf Unterpunkten mit, wie die Richtlinien wider die Papierverschwendung umgesetzt werden sollten. Weniger schreiben, mehr sprechen, minderwertiges Papier verwenden, A5 dem A4 vorziehen – A3 war sowieso Luxus – einzelne Blätter beidseitig beschreiben usw.100 Im März 1942 gab es in der Gemeinde bereits nicht mehr ausreichend Papier, um neue Jagdscheine auszustellen.101 Für den durchschnittlichen Badener waren die Papierengpässe in den Gemeinde- und Parteiamtsstuben höchstwahrscheinlich nebensächlich, dafür aber fielen die immer wieder gekürzten Rationen auf. Im Mai 1942 wurde in der 37. Zuteilungsperiode erneut an der Fettzuteilung herumgeschraubt. Die 62,5 g Margarineration wurde gestrichen, dafür gab es 50 g Speiseöl. Der Fettgehalt, so wurde dabei stets versichert, wäre derselbe. Die Getreidezuteilung fiel von 300 g auf 250 g, Roggenmehl von 1000 g auf 750 g, und selbst die Schwer- und Schwerstarbeiter-Zuschüsse mussten nach unten korrigiert werden. Im Juni fiel die Käseration von 185,5 g auf 125 g, und im August wurde abermals die Butter gekürzt, um gegen eine gleich große Menge an Margarine getauscht zu werden, die wenig später durch Speiseöl ersetzt werden sollte. Nur noch Lang-, Nacht-, Schwer- und Schwerstarbeiter konnten etwas Margarine zusätzlich beziehen, allerdings nur solange der Vorrat reichte.102 Man braucht sich nur die in der Badener Zeitung publizierten Verordnungen anzusehen, wie hier mit Kilos bzw. eigentlich mit Dekas und Gramm herumjongliert wurde. Sehen wir über verblendete Parteifanatiker und Realitätsverweigerer hinweg, war der Gütermangel – egal ob den Ortsgruppen oder der Reichsleitung in Berlin – vollkommen bewusst. Dennoch musste dem volksgemeinschaftlichem Murren Einhalt geboten werden. 99 100 101 102
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 39. Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. II Rohstoffe/Energie; 1942. Vgl. BZ Nr. 26 v. 01.04.1942, S. 5. Vgl. BZ Nr. 57 v. 18.07.1942, S. 5 und BZ Nr. 64 v. 12.08.1942, S. 3.
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Der obersten Führung war es wichtig, dass der deutsche Mann und die deutsche Frau nicht in Apathie verfielen. Die Untertanen sollten einfach in Ruhe weiterarbeiten und ihren Verpflichtungen nachkommen. So wollte man sein deutsches Volk.103 Die Vor- und Ratschläge aus der Berliner Reichsleitung waren denen aus dem Badener Rathaus nicht unähnlich. Man müsste der Bevölkerung nur verdeutlichen, dass nach dem Sieg alles besser werden würde, die Freude und Hoffnung käme mit dem „Endsieg“. Nur jetzt gäbe es halt eine Durststrecke. Kurz gesagt: Es galt, dieselben Phrasen zu dreschen, die bereits vor zwei Jahren gedroschen worden waren. Es war trivial und alles andere als genial. Was den Gemüsemangel anbelangte, so teilte Schmid in einer nicht öffentlichen Gemeinderatsitzung vom 21. Oktober 1942 mit, dass es in den letzten sechs Monaten zwar kein frisches Gemüse mehr gegeben hatte, doch nun würde sich die Situation zum Bessern wenden. Und dass das alles fast ausschließlich Schmid zu verdanken war, verdeutlicht der folgenden Satz aus den Ratsprotokollen. Nur durch sein energisches Einsetzen (auch der Gauleiter hat sich eingesetzt) wurde es von Tag zu Tag besser.104 Es war jedoch nicht nur Schmid (und der Gauleiter), der die Gemüseversorgung anzukurbeln gedachte. Womöglich waren es auch die Ratschläge des Reichsfremdenverkehrsverbandes vom Juni 1942, der den Kurorten empfahl, den stadteigenen Gemüseanbau auszubauen. Es sollte geklärt werden, ob und auf welche Weise die Heilbäder und Kurorte sich in den Dienst der Ausweitung des Gemüseanbaus stellen sollen. Aber bitte nicht übertreiben, so der Reichsfremdenverkehrsverband sinngemäß, denn in einem Kurort stehe das Blumendekor an erster Stelle, da gerade in Bädern und Kurorten die seelische Stärkung durch Grün und Blumen besonders wichtig erscheint.105 Der Reichsfremdenverkehrsverband hatte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht unrecht. Primeln, Veilchen und Narzissen wirkten wahrlich positiver auf das Gemüt flanierender Kurgäste und kriegsversehrte Soldaten im Kurpark als angebaute Erdäpfel, Karotten oder Rüben unter dem Lanner/Strauss-Denkmal, vor dem Äskulaptempel oder rund um den Undine-Brunnen. Kreative Ideen vorzubringen, um dem Gemüsemangel ans Leder zu gehen, davor schreckte auch die Stadtgemeinde nicht zurück. Das „Bäderwissenschaftliche Institut des Heilbades Baden bei Wien“ (1941 noch „Bäderwissenschaftliches Forschungsinstitut der Stadt Baden“) sollte mittels Mikrobiologie und Biochemie den Gemüseanbau pushen.106 Was einst der Bulgare Dimitroff gemüseanbautechnisch in Baden vollbracht hatte, sollten nun Purpurbakterien zur Vollendung bringen. Obwohl das Forschungsinstitut noch im Aufbau war, wurden weitere Forschungen und Publikationen bereits angekündigt. Unabhängig davon, welche Gerätschaften und sonstige Ressourcen so ein sich im Aufbau befindliches Forschungsinstitut noch benötigt hätte, im Jahr 1942 war es nicht sicher, ob aufgrund des Papiermangels die Forschungsergebnisse überhaupt publiziert werden könnten. 103 104 105 106
Vgl. LONGERICH, Goebbels, S. 539. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 475. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenzen; 1942. Vgl. BZ Nr. 54 v. 08.07.1942, S. 2.
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
Und selbst wenn, das waren akademisch elitäre Diskurse, ein Minderheitenprogramm. Das Mehrheitsprogramm bestand seit Monaten aus gleichem und wenigem Essen und weiterhin aus kleinen, feuchten, kalten oder gar keinen Wohnungen. Was Substandard beim Wohnraum bedeutete, davon konnten sogar Partei- und SA-Mitglieder wie Franz Pfleger ein Lied singen. Seine Wohnung in der Eichwaldgasse 21 – in der noch seine Ehefrau und zwei Töchter wohnten – bestehend aus Küche, Zimmer und Kabinett, Nässe, Schimmel, fauligen Böden, fehlendem elektrischen Licht und viel zu kleinen Fenstern, um ordentlich lüften zu können, wollte er verständlicherweise so schnell wie möglich loswerden. Doch selbst als Zellenleiter und zu 70 % Kriegsbeschädigter wartete er bereits seit Juli 1938 auf eine neue Bleibe. Nun schrieb man den Oktober 1942. Und es sollte weitere zwei Monate dauern, bis ihm und seiner Familie eine neue Wohnung zugeteilt werden konnte.107 Von katastrophalen Wohnverhältnissen berichtete auch der Luftwaffen Unteroffizier Friedrich Adam im März 1942. Er, Frau und ihr einjähriges Kind wohnten am Rainer-Ring 10, bei 12 Grad Celsius und wo im Winter in der Küche das Eis fingerdick an den Wänden stand. Es war mittlerweile nicht einmal sicher, dass er eine Wohnung in der Luftwaffensiedlung erhalten würde. Dort waren nur noch fünf Wohnungen frei, reserviert für kinderreiche Familien. Mit einem Kind sah es für ihn schlecht aus. Erfolg brachte ein privat vermittelter Wohnungstausch.108 Zusammengefasst, wenn Zellenleiter und Unteroffiziere der Luftwaffe schon dermaßen große Probleme hatten, eine halbwegs normale Bleibe zu ergattern, war die Situation für gewöhnliche Volksgenossen nur mehr zum Verzweifeln. Es war keine Seltenheit, dass, während der Mann an der Front seinen Mann stand, zu Hause Frau und Nachwuchs mit einer feuchten und schimmligen Wohnung ihr Auskommen finden mussten. Das waren wahre NS-PR-Desaster. Wie im Vorjahr machte sich das Wohnungsamt – sofern es wegen Heizmaterialmangels im Winter nicht geschlossen hatte oder wegen Personalmangels den Betrieb auf ein Minimum herunterfahren musste – auf die Jagd nach ungenutztem oder zweckentfremdetem Wohnraum. Man prüfte, erstellte Berichte, strafte bei Verstößen, wies Wohnraum zu; doch in den allermeisten Fällen vertröstete man Betroffene auf später und/ oder gestand die ausweglose Situation ein. Als im Juni 1942 die Unternehmerin Ilse Böhmig ein kunsthandwerkliches Einzelhandelsgeschäft in Baden zu eröffnen gedachte und um eine Gewerbeerlaubnis samt Immobile ansuchte, erklärte Schmid ganz offen, in Baden gäbe es keine freien Geschäftslokale mehr. Nicht einmal ein Kabinett wäre verfügbar.109 Die schiere Wohnungsnot zeigte sich „wunderbar“ in den zahlreichen Briefen, die Verzweiflung, Verwirrung und blanken Hass beinhalteten, die Schmid erreichten. Auf keinem Gebiete grassieren so viele Ungerechtigkeiten, Härten, brutale Rücksichtslosigkeiten. Was für 107 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Pfleger Franz (geb. 1889). 108 Vgl. StA B, GB 341/Hochbau III; Fasz. I Amtsberichte an das Wohnungsamt; 1942 – Friedrich Adam (geb. 1907). 109 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942 – Ilse Böhmig (geb. 1908).
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Menschen sind zu Wohnungen gekommen! Menschen, die keinen Funken deutscher Gesinnung im Herzen tragen, die nur dem Taufschein nach deutsch sind, sonst aber alles andere als deutsch. Hier schüttete sich eine 64-jährige Frau, mit nicht entzifferbarer Unterschrift, ihr hetzerisches Herz aus. Sie listete ihre Verdienste und die ihrer Familie für das Deutschtum auf, ihr Vater war seit 1880 beim „Deutschen Schulverein“, ihr Mann durch und durch deutsch, ihre Mutter hatte den Kärntner Abwehrkampf 1919 mitgetragen, sie selbst war auch involviert gewesen und heute muss ich in Untermiete wohnen, und undeutsches, freches Gesindel triumphiert. Sie fühlte sich verraten und hintergangen, weil ihre Pension aus Tschechien, wo sie in der Monarchie jahrelang gearbeitet hatte, nach 1938 lange Zeit ausblieb und sie zu einer Almosenempfängerin degradiert wurde. In ihren Augen erhielten alle anderen, vor allem die Böhmaken, genügend Brot, eine gute Arbeit und manche sogenannten deutschen Kriegswitwen, die hier als böhmische Köchin vielleicht einen deutschen Mann geheiratet haben, wurden ebenso reich beschenkt, während sie wiederum stundenlang sich anstellen musste, um dann ohnehin nichts zu erlangen. Neben dem völkischen mischte sich der Generationenkonflikt hinzu. Es gibt hunderttausende junger Menschen, die das Kind nur als Sprungbrett benutzen, um sich vor Verpflichtungen zu drücken. Die in eine Ehe hinein taumeln, die keine heilige Ehe ist, sondern eine recht schmutzige, entweihte. Man heiratet, um zu einer Unterstützung, zu einem Ehedarlehen, zu einer Wohnung zu kommen und ein schönes Leben führen zu können. […] Die jungen Leute sind frech, anmaßend, spucken auf die „Alten.“ Zuchtstuten brauchen wir keine, sondern bewusste, deutsche Frauen, rein, rechtsschaffend, fleißig und an einen Vater ober den Sternen glaubend. Stattdessen sah sie in Baden überall Konjunkturritter, Ungarn und Tschechen, die alles bekamen und deren Kinder gegen jegliche Moral verstießen. Das Mädel, eine Dirnennatur, mit ihren 18 Jahren längst defloriert, mit Liebhabern, an jedem Finger einen, die sie ausbeutet. Sie dankte und hoffte auf Schmid und dessen Hilfe, den sie als wirklich deutschen und sozialen Menschen betrachtete, um aus ihrer Misere herauszukommen, denn wir ringen mit dem Hunger, der Obdachlosigkeit, mit der Existenz, wir kernhafte Deutsche.110 Etwas anders gelagert war die Wohnungsmisere der Katharina Zieger. Schuld waren nicht irgendwelche Dirnennaturen, Ungarn oder Tschechen, sondern ihr Ex-Ehemann Stadtgartendirektor Friedrich Zieger. Der heilige Bund der Ehe war bereits geschieden, weder Tisch noch Bett wurden geteilt, dafür die Wohnung, seine Dienstwohnung – während er bereits Ersatz für „sie“ gefunden hatte. Dabei hatte Katharina Zieger eh eine eigene Wohnung, doch dort wohnte bereits jemand und es war nicht möglich ein Ausweichquartier zu finden. Obwohl ihr Bürgermeister Franz Schmid und Stadtrat Hans Löw laut eigener Aussage 19-mal versprachen und versicherten, ihren Fall gütlich zu lösen, passierte nichts, sodass sie sich gezwungen sah, den Führer persönlich anzuschreiben. Sie rollte ihre gesamte Ehe auf und schrieb recht „despektierlich“ über ihren Exmann, dessen neue Frau und über die Organisationskünste Schmids und dessen Stadtrat. Abschließend ließ sie sich zu einer Wunschvorstellung mit Folgen hinreißen: Ich bedauere sehr das ich nicht die Macht besitze, 110 StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; Mai 1942.
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
die in Baden auf allen Linien herrschenden korrupten Zustände zu beseitigen.111 Ob ihr Brief in der Berliner Reichskanzlei gelesen und ernst genommen wurde, weiß ich nicht. Feststand nur, der Brief gelangte über die Gau- und Kreisleitung in die Hände Schmids. Das von Katharina Zieger erhoffte und zu ihren Gunsten ausfallende Machtwort des Führers entpuppte sich als Chimäre. Schmerzlich musste sie erfahren, dass weder auf den Führer noch auf das Briefgeheimnis Verlass war. Die Diffamierungen der Person Schmid und seiner Verwaltung, die Bezichtigung, korrupt und unfähig zu sein, konnte die Nummer 52.294 nicht auf sich sitzen lassen. Die Frau wurde ins Rathaus zitiert und zur Rede gestellt. Nachdem ich der Partei die Schwere dieser Anschuldigungen vorgehalten habe und ich auch zum Ausdruck gab, dass, falls sie nicht den Beweis erbringen könnte, gegen ihre Person wegen Verbreitung unwahrer Tatsachen und Verdächtigungen von Verwaltungsorganen der Stadt Baden die Strafanzeige erstattet wird, erlitt Frau Käthe Zieger einen Nervenzusammenbruch. Als sie wieder zu sich kam, zog sie ihre Anschuldigungen restlos zurück. Das einzig Positive für sie war, dass Schmid ihre Wohnverhältnisse als tatsächlich unleidlich anerkannte und versprach, ich werde bemüht sein, auch hier Abhilfe zu schaffen und die aufgezeigten Zustände im eigenen Wirkungskreis durch das Wohnungsamt der Stadt Baden in absehbarer Zeit zu lösen.112 Ob in ihrem Fall das zwanzigste gebrochene Versprechen anstand, geht aus den Quellen nicht hervor. Doch sein Bemühen, was auch immer in der Wohnmangelthematik zu lösen, wird bis zur totalen Endniederlage keine Früchte tragen. Dass Schmid als oberster Stadtherr Wohnungen oder Prunkbauten und vor allem den Bau eines Stausees im Helenental auf die Zeit nach dem „Endsieg“ verschieben musste, leuchtete noch ein. Doch selbst bauliche Kleinigkeiten waren 1942 nicht mehr umsetzbar. Als im September die Erbin und ehemalige Mitarbeiterin des 1935 verstorbenen Julius Schuldes (dem ehemaligen Telegraphisten aus Mayerling) bei der Gemeinde nachfragte, ob nach diesem „Kämpfer für das Deutschtum“ in Baden eine Straße benannt werden könnte, scheiterte es nicht etwa an ideologischen Gesichtspunkten, sondern aus ganz praktischen. Es gab kein Eisen mehr, um Straßenschilder herzustellen.113 Und wenn in irgendeinem Keller, Dachboden und Abstellraum ausreichend Ferrum gefunden worden wäre, wer hätte die Straßenschilder herstellen sollen oder sie montieren. Der Personalmangel war noch gravierender als im Vorjahr. Den Kampf gegen den Tauschhandel und den Schleichhandel hatte man von Seiten der Stadtgemeinde – siehe Kapitelanfang – aufgegeben, weil es kein Personal dafür gab. 1942 fehlten bei manchen Gemeinderatssitzungen ein Drittel bis die Hälfte aller Ratsherren.114 Das war nicht neu. Blicken wir ein Jahr zurück. Am 27. Mai 1941 fehlten sieben Ratsherren, vier davon nicht entschuldigt. Am 24. Oktober 1941 waren es 13 Ratsherrn, davon fünf nicht entschuldigt. 111 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Zieger Käthe (geb. 1901) – Brief an die Reichskanzlei (09.10.1942). 112 Vgl. ebd. – Schmid (27.11.1942). 113 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942. 114 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 14 und S. 16.
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Am 17. Dezember 1941 fehlten zehn, drei davon nicht entschuldigt, am 13. Februar 1942 waren zwölf Ratsherrn abwesend, im März waren es 11, im Juni 14, einen Monat später 17, im Oktober 1942 wiederum 16.115 Personalmangel belastete sämtliche Amtsstuben. Während das Jahr 1940 einen personellen Aderlass Richtung Westen bedeutete – die besetzten Teile Frankreichs, Belgiens, Skandinaviens verwalteten sich nicht von selbst – kam 1941 nach dem Überfall auf die Sowjetunion der Osten hinzu. Sowohl im Gebiet des Generalgouvernements als auch in den besetzten Ostgebieten macht sich derzeit ein dringender Bedarf an Beamten und mittleren und gehobenen Dienstes sowie an Angestellten in gleichartiger Verwendung bemerkbar.116 Der Osten suchte händeringend nach Fachkräften und Hilfsarbeitern. Landkreise und Gemeinden sollten hier Personal stellen. Landrat Wohlrab, der nicht einmal mehr UK-Stellungen ausstellte, stand personaltechnisch das Wasser bis zum Hals. Die Wehrmacht hatte sich bereits ausgetobt. Einem ehemaligen Mitarbeiter, Dr. Herbert Mauthner, der schon im Mai 1939 eingerückt war, schrieb er im August 1941 von über 30 Abgängen, und als Ersatz bekommen wir vom Arbeitsamt lauter Mädchen, viele fast noch Kinder mit langen Zöpfen, sodass ich schon eine ganze BDM-Abteilung aufstellen könnte. […] Arbeit gibt es genügend, Papierkrieg wird immer mehr und mehr.117 Als Ersatz gab es somit Kinder oder Personal, dessen Arbeitsleistung als minderwertig bezeichnet wurde, wie jene von Rupert Wunsch, wo man nicht sicher war, ob er geistig hierzu außerstande war oder sein Fleiß nicht ausreichte. Dass mit ihm etwas nicht ganz stimmte, soll dadurch ersichtlich gewesen sein, dass im Winter, wo es erst später hell wird: er sich regelmäßig in sein unbeleuchtetes Arbeitszimmer setzte und solange wartete, bis das Tageslicht eintrat und es ihm nicht einfiel, das Licht aufzudrehen und beim Schein des künstlichen Lichtes zu arbeiten. Den Vogel schoss er allerding ab, als er das Referat des demnächst einrückenden Dr. Karl Buchmayers übernehmen sollte. Ohne Umschweife erklärte er sich dafür gänzlich außerstande mit dem Hinweis, dass er es nicht zusammenbringe. Auf die Aufforderung, sich nicht ein solches Armutszeugnis auszustellen, antwortete er nur mit einem Achselzucken. Statt diesem dienstlichen Auftrage Folge zu leisten, fuhr Wunsch noch am gleichen Tage um die Mittagszeit nach Wien und hinterließ für Dr. Buchmayer einen Zettel, in dem er sich von ihm schriftlich verabschiedete und ihm „Hals und Beinbruch“ wünschte.118 Trotz Personalmangel stellte ihn Wohlrab der Reichsstatthalterei zur Verfügung. Wohlrab hoffte seine fähigen aber eingerückten Beamten demnächst wieder zu sehen, mit denen er regelmäßig korrespondierte – wie eben mit Herbert Mauthner. Wir haben voll Begeisterung Euer rasches Vordringen verfolgt und sind alle stolz auf unsere herrliche Wehrmacht. Er verschickte Feldpostpäckchen, denn das verbindet Front und Heimat und schweißt uns zu jener großen Volksgemeinschaft zusammen, die unser Deutschland unbesiegbar macht 115 Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 361, 388, 435, 450, 474. 116 NÖLA, BH Baden, II-VIII 1941; Gr.II-5 Allgemein, A 220. 117 NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Mauthner Herbert (geb. 1911). 118 NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Wunsch Rupert.
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[…].119 Dem seit 1939 eingerückten Dr. Kuno Schalich schrieb er im Juni 1940, wie sehr es ihn freute, dass Sie gesund und wohlauf sind und beim großen siegreichen Vormarsch mitgetan haben. Da werden Sie uns nach ihrer Rückkehr auch so wie Dr. Mauthner, der Sie beim Vormarsch gesehen hat, sicherlich viel zu erzählen wissen. Kuno Schalich, der nach seinem Fronteinsatz nun wieder im Hinterland stationiert wurde und es als recht öde empfand, hoffte aber, dass wir bald gegen England eingesetzt werden und zugleich wünschte er sich, dass der Krieg bald zu Ende geht, damit ich meinen Dienst in der Verwaltung wieder aufnahmen und ihnen eine Stütze sein kann.120 Nichts davon sollte in Erfüllung gehen. Er fiel im April 1942 an der Ostfront. Einen Monat später der nächste personelle Aderlass. Da der Landrat von Wiener Neustadt Dr. Ferdinand Pauler einrücken musste, sprang Baden ein, und zwar Dr. Richard Kremla. Aber ganz war er dann doch nicht weg. Denn Landrat von Wiener Neustadt war er vier Tage in der Woche, die restlichen Tage hatte er im Landrat Baden zu arbeiten.121 Ganz weg war aber der oben erwähnte Dr. Karl Buchmayer. Im Mai 1942 verlor ihn Wohlrab an die Wehrmacht – und er wiederum vier Monate später sein Leben.122 Die Arbeiten musste jedoch erledigt werden. Referate im Landrat mussten zusammengefasst werden, Urlaube wurden gestrichen und bei so einer Arbeitsüberlastung, gestand Wohlrab resigniert in einem Brief an Herbert Mauthner ein, wird der ganze Arbeitsbetrieb im Amte immer unübersichtlicher und schleppender.123 Katastrophal sah es auch in den verschiedenen NSDAP-Gliederungen aus. Schon im März 1941 beklagte die Frauenschaftsleiterin von Baden-Leesdorf, Ottilie von Gimborn, dass in ihrer Ortsgruppe die Organisationsleiterin aufgrund einer Erkrankung ausgefallen war, es weder ausreichend Abteilungsleiterinnen noch Blockleiterinnen gäbe, eine Nachbesetzung nicht in Sicht wäre und dass dadurch ihre Energiereserven sich dem Ende zuneigen würden. Es war die totale Überlastung.124 Kreisfrauenschaftsleiterin Maria Hendrich machte im April 1942 auf die besorgniserregende Situation beim BDM aufmerksam. Wie Sie, liebe Gaufrauenschaftsleiterin, wissen, lag das Gebiet der Jugendgruppenarbeit aus Mangel an der geeigneten Kraft im Kreis Baden fast vollkommen brach. Sie bemängelte insbesondere die Führungsqualitäten der Führerinnen. Laut ihr waren keine geeigneten Mädels aufzutreiben – die waren ja auch beim Landrat. Einzig die Kreisjugendgruppenführerin Helene (Helli) Aulinger leistete gute Arbeit. Sie hat mühsam begonnen, nur auf dem Papier bestehende Jugendgruppen wieder in die Arbeit zu bringen und neue Jugendgruppen aufzustellen.125 Und umso mehr schmerzte es Hendrich, dass ausgerechnet jene nach Hollabrunn abgezogen werden sollte, wo es scheinbar noch schlechter um die BDM-Gruppen bestellt stand. Dabei 119 120 121 122 123 124
NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Mauthner Herbert. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Schalich Kuno (1915–1942). Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Kremla Richard. Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Buchmayer Karl (1909–1942). NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten: Mauthner Herbert. Vgl. StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. II NSF/DFW Korrespondenz; März 1941 – Ottilie von Gimborn (1881–1942). 125 StA B, GB 052/Parteiformationen I; Fasz. I HJ-BDM; Fall Helli Aulinger (geb. 1913).
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war Marie Hendrich bereits im Oktober 1941 ziemlich ungehalten gewesen, dass ihre beste Frau andauern irgendwelche Schulungslager in anderen Kreisen abhalten hätte müssen – von Neunkirchen über Wiener Neustadt bis nach Mistelbach. Die Gauleitung zeigte Verständnis, mehr aber auch nicht. Demnach gab es nicht nur quantitative Herausforderungen was das Personal anbelangte, sondern auch qualitative. Brauchbar, wie im Falle des BDM, mussten die Mädchen und junge Frauen sein. Denn Mädels an sich hatte man in Hülle und Fülle. Klassenweise wurden Mädchen und junge Frauen auf die Felder im Landkreis verteilt. Erbsenbrocken in Weikersdorf (einem Stadtteil von Baden), Rübenjäten am Haidlhof (in der Nähe von Bad Vöslau) oder Traubenernten auf sämtlichen Weingärten in Baden und der Umgebung – überall fanden junge weibliche Hände Verwendung. Zwei davon waren Gertrud Maurers.126 * Im Jahre 1942 war die Gemeinde nichts weiter als ein Elendsverwalter, deren Aufgabe darin bestand, die Abwärtsspirale nicht vollkommen ungebremst in den Abgrund rasen zu lassen. Und schön langsam geriet auch das Steckenpferd unter massiven Beschuss: Die Kur und das Vorhaben, Großdeutschlands größter Schwefelkurort zu werden. Weiterhin tobte sich die Wehrmacht aus und schöpfte aus dem Vollen. Sie kannte ihren Wert, war sich ihrer Macht bewusst und agierte dementsprechend. Nachdem die sich in Gemeindebesitz befindenden Kureinrichtungen abgegrast waren, nahm man sich der privaten Hotellerie an. Den bisher okkupierten und beschlagnahmten Kureinrichtungen folgten Anfang 1942 der Herzoghof, der Frauenhof am Josefsplatz und das Hotel „Sylvana“, Ende des Jahres das Hotel „Grüner Baum“ – das waren damals in Baden die „Megahotels“.127 Das alles geschah gegen den Willen des Bürgermeisters, der wie schon 1938 alles in seiner Macht getan hatte, um den Okkupationen einen Riegel vorzuschieben, um Jahr für Jahr kläglich zu scheitern. Nicht einmal das Schloss Leesdorf war mehr vor der Wehrmacht sicher und die dort befindlichen Dienststellen der örtlichen NSDAP und HJ mussten ihre Koffer packen. Die Stadtführung plante, sanierte, tat was sie konnte, um weiterhin dem Ruf einer Kurstadt gerecht zu werden. Als Ersatz für die bisherigen Verluste an zivilen Kureinrichtungen wurde das desolate Franzensbad hergerichtet. Gleiches hätte mit dem Josefsbad geschehen sollen, doch der Instandsetzungsaufwand ließ von dem Vorhaben Abstand nehmen. Geplant war ebenso das Engelsbad zu erwerben und in Schuss zu bringen. Es sollte beim Planen bleiben.128 Wer die Badener Bäder, Hotels und Sanatorien kennt und sie untereinander vergleicht, jene die bereits von der Wehrmacht beschlagnahmt waren (Peterhof, Sauerhof, Gutenbrunn usw.) mit denen, die die Stadtgemeinde zu sanieren oder zu erwerben trachtete (Franzensbad, 126 Vgl. MAURER Rudolf, Das 1000-jährige Reich I, S. 137. 127 Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 440 u. 499. 128 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 17f.
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Josefsbad, Engelsbad), dem ist bewusst, dass das die berühmten Tropfen auf dem heißen Stein gewesen wären. Wir haben hier auf der einen Seite moderne und geräumige Kureinrichtungen, teilweise aus der Gründerzeit, mitsamt hunderten von Kurbetten, und auf der anderen Seite sanierungsbedürftige Badeanlagen aus der Biedermeierzeit ohne ein einziges Zimmer. Einziger Hoffnungsschimmer war ein Schnellbrief des Reichsfremdenverkehrsverbands im Juni 1942. Eine Entschädigung der Kurtaxenausfälle aufgrund militärischer Belegung stand im Raum. Allerdings wirkte die Regelung ab dem 1. April 1942. Alle Forderungen, welche zuvor nicht zumindest schriftlich fixiert wurden, müssten demnach unter den Tisch fallen.129 Ein weiterer Lichtblick war, dass sich die Wehrmacht auch von ihrer großzügigen Seite zeigen konnte. Eine Handvoll Hotels (Herzoghof, Frauenhof, Sylvana) sollten gnädigerweise im Juni an die Kurstadt zurückgegeben werden – aber nur bis zum Oktober 1942, sprich nur bis Ende der Kursaison.130 Baden blieb 1942 definitiv weiterhin ein Kurort, keine Frage, der jedoch mittels Salamitaktik, insbesondere in der Bettenplatzthematik, ordentlich zurechtgestutzt wurde. Die Entwicklung, die Baden als Heilbad nimmt, ist als bedrohlich zu bezeichnen. Die Bettplatzverluste nehmen ständig zu, ein Umstand, der von mir schon in früheren Jahren immer wieder allen dienstlichen und fachlichen übergeordneten Stellen aufgezeigt wurde, ohne dass mir Mittel an die Hand gegeben wurden, diesem Umstand energisch entgegentreten zu können. So klang Stadtrat und Bäderverwalter Franz Blechinger im Mai 1942. Zwar fehlte nicht der Verweis, welcher Versagen sich die vorherige Stadtregierung unter Kollmann schuldig gemacht hatte – auch nach vier Jahren konnte man es nicht lassen – doch in Wirklichkeit war das eine Kapitulationserklärung, gepaart mit der Einsicht, dass bisher keine gesetzte Maßnahme gefruchtet hatte oder nur begrenzt erfolgreich war und ihm selbst als Kurverwalter keine Instrumentarien zu Verfügung standen, um irgendwelche entscheidenden Verbesserungen vorzunehmen. Und als er sich unmittelbar an Reichstatthalter Jury wandte, wurde seine Hilflosigkeit nur noch einzementiert. Ohne Umschweife wurde erklärt, dass es derzeit unmöglich erscheint, die Entwicklung Badens in dieser Hinsicht durch Bestimmungen zu ändern, da der Industriebelag einerseits und der Wehrmachtsbelag andererseits kriegsbedingt ist und die Frage Badens als Kurort vorläufig in den Hintergrund treten müsse.131 Der übermächtigen Wehrmacht war, wie in den Jahren zuvor, nicht beizukommen. So begann die Gemeinde, wie Jahre zuvor, erneut die Privatquartierbetreiber in die Pflicht zu nehmen und es erging neuerdings die Bitte an alle Wohnungsinhaber, Privatquartiere zu melden, damit dieser an kurbedürftige Personen und nur an solche, vergeben werden konnten.132 Weshalb manche Hauseigentümer dahingehend dermaßen widerwillig und bockig agierten, resultierte für Blechinger im Mai 1942 vielfach aus dem Grund, dass es einerseits
129 130 131 132
StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942. Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 440. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942 – Blechinger an Schmid (09.05.1942). Vgl. BZ Nr. 29 v. 11.04.1942, S. 2.
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an Bedienungspersonal und andererseits an Bettwäsche fehlt.133 Und dann gab es noch die Zweitwohnungs- und zumeist Villenbesitzer, die ihre Domizile in Baden bloß für wenige Wochen im Jahr nutzten. Blechinger nahm sich auch dieser Thematik an und bat Schmid, den Hausbesitzern gut zuzureden, freie Räume in ihren Villen und Häusern für Berufstätige aus Industrie und Wehrmacht bereitzustellen, damit diese keine Kurbetten blockieren müssten. Ihm zur Seite stand Ratsherr Eichholzer, der in der Gemeinderatsitzung vom Juni 1942 selbiges Thema aufgriff und ebenfalls Schmid bat, er möge doch mit den Villenbesitzern in einen Dialog treten. Hier bewegte man sich offenbar auf dünnem Eis. Offensichtlich fürchtete man hier, die Büchse der Pandora zu öffnen, aus der augenblicklich die totale Enteignung entsprungen könnte. Der Bürgermeister gab zu verstehen, dass dies nicht möglich ist, weil es der Führer nicht wünscht, dass in gewisse Besitzrechte eingegriffen wird.134 * Am 5. Juni 1942 erfolgte der nächste Schlag gegen den Kurort bzw. gegen Baden als Weingegend. Reichstatthalter Jury sprach ein Buschenschankverbot aus. Bis zum 31. August 1942 (fast die gesamte Kursaison über) war es den Hauern verboten, auszustecken. Bei Verstößen hagelte es Strafen von bis zu 500 RM (oder, wenn Sie an das vorherige Kapitel denken und an den Fall Johann Polsterer, wären das umgerechnet fünf verprügelte Polizisten) oder ein Monat Sing Sing.135 Damit brach ein wichtiges gesellschaftliches und ökonomisches Standbein weg. Als Grund wurde angegeben: In Hauptsache sollte damit erreicht werden, dass nicht nur solche Leute in den Genuss des vorhandenen Weines gelangen, die es verstehen, sich allein verschiedene Annehmlichkeiten zu sichern, weil sie Zeit genug dazu haben. Das waren also keine prohibitionistischen Maßnahmen, es ging um eine gerechte und anständige Verteilung. Denn der Wein, der früher in den Buschenschenken fast nur an solche zum Ausschank gelangte, die ihn am wenigsten verdienten, wird jetzt ausschließlich denjenigen zugutekommen, die auf die bescheidenen Annehmlichkeiten, die die harte Kriegszeit noch immer bietet, das erste Anrecht haben: den Rüstungs- und Schwerarbeitern!136 Bis zum 31. August 1942 mussten obendrein 80 Prozent der lagernden Weinmengen verkauft werden. Und nicht alle zum Buschenschankpreis, nur wer nachweisen konnte, dass er es bereits vor 1939 getan hatte. Und weil die Hoffnung aufkeimte bzw. die Weinhauer darauf vertrauten, dass das Buschenschankverbot tatsächlich Ende August aufgehoben würde, wurde es gleich einmal verlängert.137 Jurys Rechtfertigung, wonach der Wein stets den Falschen zugutekäme, wirkte aufgesetzt, war aber ein genialer Schachzug aus Sicht eines totalitären Regimes. Es war nur kon133 134 135 136 137
StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942 – Blechinger an Schmid (09.05.1942) Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 435. Vgl. BZ Nr. 49 v. 20.06.1942, S. 5. BZ Nr. 54 v. 08.07.1942, S. 2 und WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 13. Vgl. StA B, GB 322/Wein-, Obst- u. Gemüsebau I; Fasz. I Weinbau; 1942.
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
sequent, zum einen das Volk gegeneinander auszuspielen, zum anderen gewisse Schichten mit Alkohol (Drogen) ruhig zu stellen und den Rest mit den seit 1938/39 anhaltenden Anti-Alkoholkampagnen unter Kontrolle und auf Linie zu halten. Denn wo wurde mehr gemurrt und gesudert als beim Heurigen, bei einem Glaser’l Wein! Und noch etwas kam hinzu. Die Anti-Alkoholkampagnen waren ein ideologischer Selbstläufer: Alkoholmissbrauch als Volkskrankheit, die den Volkskörper und den deutschen Volksgeist zersetzte – besser geht’s nicht! Welcher Mediziner könnte dagegen argumentieren? „Sollen sie doch Wasser statt Wein trinken, das rein und kristallklar aus den deutschen Alpen sprudelt“, wäre sicher ein wunderbarer Werbe- oder Propagandaslogan gewesen. Wäre und gewesen – Konjunktiv deshalb, weil Schmid zeitgleich eingestehen musste, dass es bei der Versorgung mit Trinkwasser zu Schwankungen und Engpässen kommen könnte. Die „Stadtwerke Baden“, ein Kind der Deutschen Gemeinderatsordnung (DGO), schienen, wie so vieles, nicht den gewünschten Erfolg zu erbringen.138 Um noch kurz bei der psychischen und physischen Disziplinierung des Volkskörpers und -geistes zu bleiben. Im Jänner 1941 hatte der Führer schon Tabak-Reklame in Zeitungen und Lichtspielhäusern verboten. In öffentlichen Verkehrsmitteln sollte sie stark eingeschränkt werden, abgeschlossene Verträge sollten auslaufen und nicht mehr verlängert werden. Die Reichsstatthalterei trug den Landräten auf: Es ist selbstverständlich, dass die Gemeinden und Gemeindeverbände dem vom Führer geäußerten Wunsch uneingeschränkt nachzukommen haben.139 Im April 1942 wurde der Kampf gegen das Nikotin erneut durch die Badener Zeitung ausgerufen, und im Juli desselben Jahres der Kampf gegen die kinderlose Ehe.140 Kein Wein, keine Zigaretten und keine Kurbetten – so sah die Kursaison 1942 aus. Weitere Verschärfungen folgten. Ein Kuraufenthalt durfte ab April 1941 nur mehr mit einem einwandfreiem Kurattest erfolgen – die Betonung lag auf einwandfrei – und war auf drei Wochen beschränkt, bzw. die drei-Wochen-Regelung wurde eigentlich erneut bestätigt bzw. verlängert. Die Doppel- oder gar Mehrfachbuchung von Zimmern musste eingestellt werden. Für die privaten Fremdenverkehrsbetriebe bedeutete dies, „Dauermieter“ schleunigst loszuwerden, sich penibel an die 3-Wochen-Regelung zu halten und die Gäste darüber ordentlich aufklären zu müssen. Bei Verstößen drohten Anzeigen und Geldbußen von bis zu 10.000 RM.141 Der straffe Kur-Kurs zeigte offenbar Wirkung, wie es der 5. Bädersitzung, Anfang Juli 1942, zu entnehmen ist. Auch im September war Schmid zufrieden. Durch die strengeren Gesetze und das Ausweiten polizeilicher Befugnisse konnten die Zweckentfremdung von Kurbetten und das Ausstellen falscher Kuratteste eingedämmt werden. Allerdings relativierte er sein Geschriebenes noch auf der gleichen A4-Seite. Da es aber leider wieder 138 139 140 141
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 12. Vgl. NÖLA, BH Baden, II–VIII 1941; Gr. II-5 Allgemein, A 160. Vgl. BZ Nr. 52 v. 01.07.1942, S. 3. Vgl. BZ Nr. 34 v. 29.04.1942, S. 2 und BZ Nr. 53 v. 04.07.1942, S. 5 und GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942.
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vorkam, dass höherstehende Personen mit „Beziehungen“ Aufenthaltsverlängerungen erhielten, war nicht zu verhindern, dass eine weitere rigorose Anwendung der Verordnung undurchführbar war, da weite Volkskreise davon wussten und auf diese Fälle hinwiesen, mit dem Versuch, für sich das gleiche Recht in Anspruch zu nehmen.142 Mittlerweile mussten diese Personen aber richtig hochstehen und über sehr gute Beziehungen verfügen, denn selbst der Regierungspräsident von Niederdonau, Erich Gruber, scheiterte bei einem Versuch, einen – offenbar mit ihm befreundeten – Universitätsprofessor für ganze vier Monate in Baden einzuquartieren. Nicht an dem Unwillen oder der Einsicht, dass man dadurch die gesamte Volksgemeinschaftsideologie und das Spücherl mit dem Gemeinnutz karikieren würde, sondern an der Realität. Die städt. Kurverwaltung hat vor kurzer Zeit an die Bevölkerung von Baden einen Aufruf erlassen und gebeten, alle zur Verfügung stehenden Sommerwohnungen, Zimmer oder Kabinette zu melden, damit Baden in die Lage versetzt wird, den kurbedürftigen Fremden eine Unterkunft zu ermöglichen. Der Erfolg war insgesamt: 5 Einzelzimmer.143 Wie der Regierungspräsident auf die Abfuhr reagierte, ist nicht überliefert, dafür die Reaktion eines anderen Kurgastes, dem im September 1942 die Verlängerung seines Kuraufenthaltes nicht gewährt wurde, weil das vorhandene Leiden zur Behandlung nicht der ortsgebundenen Kurmittel bedarf! Entrüstet wandte er sich an die Kurverwaltung, zählte sämtliche Leiden, Diagnosen, Atteste und Therapien auf, versicherte, dass er von 24 Stunden am Tag, zwanzig im Bett verbringe und dass er dadurch einer der wirklichen Kranken und Pflegebedürftigen des Kurortes, der im Übrigen von lustigen Leuten bevölkert wird, die ebenso in einem Bauernhause ihren Urlaub verbringen können, wenn man von den wirklich Badebedürftigen absieht.144 Damit sprach der Mann der Kurverwaltung aus der Seele, die gleiches Klientel mit demselben Missmut beäugte, jene, die nur Sommeraufenthalt suchen und diesen ebenso gut in einem anderen Ort unseres Gaues nehmen könnten.145 Dass ein Kurort Sommergäste darauf hinwies, einen Bogen um sie selbst zu machen, bestätigt, dass die Situation bis zu Absurdität ernst war – was nicht davon abhielt, nahtlos mit rekordverdächtigen Nächtigungs- und Bäderbesuchszahlen aufzutrumpfen. Doch wie im Jahr davor, das Mysterium der schönen Zahlen entzauberte sich bei genauerem Hinsehen durch altbekannte Mechanismen wie eine verkürzte Verweildauer, Halbtagskarten usw. Und wenn man noch genauer hinsah, bzw. war das gar nicht mehr nötig, denn es sprang einem förmlich ins Auge, dass die Besserstellung von Kureinrichtungen in punkto Versorgung nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Strom, Wasser, Kohle usw., die Ressourcen- und Rohstoffnutzung musste abgewogen und der Verbrauch nach unten korrigiert werden. Durch die massive Knappheit an „Allem“ lief der Kurort Gefahr, dass die für die Kur und Genesung so dringend benötigte entspannte und sorglose Stimmung vollkommen kippen könnte. Um sich propagandistisch dagegen zu wappnen, folgte wie üblich 142 143 144 145
StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942. StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942. BZ Nr. 29 v. 11.04.1942, S. 2.
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der Verweis auf die Entbehrungen an der Ostfront und darauf wie gut es „uns“ eigentlich hier an der Heimatfront gehe. Es war eine erzwungene Solidarisierung mittels schlechtem Gewissen. Und weil Worte nur Worte waren und keine Taten, so mussten Taten her, und so gab es von Montag bis Donnerstag nur mehr Feldküchengerichte, um sich so richtig in die Wehrmachtssoldaten an der Ostfront hineinversetzen zu können.146 Vielleicht zeigte es Wirkung. Vielleicht dachte man als Kurgast tatsächlich an die Ostfront, an den Krieg, die Kälte, die Strapazen, wenn man nach einer Schlammpackung-Behandlung, einer Schwefeltherapie oder nach einem Spaziergang im Kurpark in ein Gasthaus einkehrte und dort ausschließlich Feldküchengerichte kredenzt bekam. Ob mit Feldküchengerichten Brot und Konserven gemeint waren, wie sie Hans Meissner längere Zeit frontbedingt konsumieren musste, sei dahingestellt. Denn der Magen machte das nicht lange mit, zumindest nicht jener von Hans Meissner. Und die medizinische Versorgung, Behandlung und Therapie wurden in seinen Aufzeichnungen unter Anführungszeichen gesetzt. Stabsarzt Dr. v. Grävenitz „behandelt“ sehr kursorisch u. massenepidemisch.147 Außerdem, um zurück nach Baden zu kommen, erinnern wir uns, bevor es noch so richtig losging mit der Kursaison, drohte Goebbels bereits mit KZ-Internierungen, sollte der Kuraufenthalt missbräuchlich Verwendung finden. Als die Kursaison startete, fehlte es in den Kureinrichtungen ohnehin hinten und vorne an Personal, Fisch- und Fleischwaren, an frischem Gemüse sowieso und an Heizmaterial, um die Bäder zu beheizen. Im August 1942 kam neu hinzu, dass sich in einigen Heilbädern und Kurorten, die Vorräte an Klopapier dem Ende zuneigten. Die Notlage rief sogar Berlin auf den Plan. Ein Schreiben aus der Reichshauptstadt empfahl den betroffenen Kurorten sich direkt an die Reichsstelle für Papier und Verpackungswesen, Berlin-Charlottenburg 2, Hardenbergstraße 13, IV, Fernruf: 31 52 41, zu wenden. Allerdings sollte davon erst Gebrauch gemacht werden, wenn alle anderen Versuche, Klosettpapier aufzutreiben, gescheitert seien.148 Es war eine kurörtliche Bankrotterklärung, der sich jeder, der nicht total NS-verblendet war, vollkommen bewusst war. Die wohl bitterste Erkenntnis war jedoch, dass ein totalitäres Regime – auch wenn es nur die Badener Kurverwaltung war – an die Bürger mittlerweile appellieren musste, anstatt ihnen zu befehlen, und sich obendrein Aussagen/Ausreden anhören musste, wonach das Zur-Verfügung-Stellen von Fremdenzimmern an mangelnder Bettwäsche scheitere. All das zeugt von einem Machtverlust, bzw. es zeigt auf, wie Politik die „oben“ gemacht wurde, „unten“ umgesetzt werden konnte/musste. Und wenn man mal die Muskeln spielen lassen wollte, fand man kreative Wege, um Steine in den Weg zu legen, so wie man beispielsweise im Oktober 1942 dem „Institut zur Erforschung jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ das Auflegen seiner Verbandmitteilungen in den Lesesälen der Kureinrichtungen untersagte. Denn dann, so der Reichsfremdenverkehrsverband, würde augenblicklich jede christliche Konfession daherkommen und als Folge davon würden dem 146 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 7 u. 20. 147 ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 12. 148 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942.
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Eindringen des Kirchenstreits in die Kurorte Tür und Tor geöffnet werden. Die Konfessionskriege des 17. Jahrhunderts vor Augen, musste aus dem Kurort alles ferngehalten werden, was den vordringlichen Zweck der Erholung und Entspannung zu gefährden geeignet ist.149 Ähnliches erlebten wir bereits beim Schleich- und Tauschhandel. Verteufelung als Schädlinge und Drohungen mit KZ-Lagern bildeten die gesetzliche und propagandistische Theorie. In der Praxis dominierten hingegen (aber nicht immer) das „Augenzudrücken“, die Resignation und das „Unter-den-Teppich-Kehren“. So wie bei den kommenden militärischen Niederlagen im Osten, die als eingeplante taktische Rückzüge dargestellt werden sollten, herrschte in den Kurorten wie Baden längst die Symbolpolitik. Es war eine Möglichkeit, das eigene Versagen zu kaschieren bzw. die kriegsbedingt nicht mehr zu rettende Kursituation als besser darzustellen als sie war. Neben bloßer NS-Propaganda konnten strukturelle oder personelle Veränderungen vorgenommen werden, um wenigstens den Eindruck zu erwecken, dass von Seiten der Gemeinde irgendetwas getan werde. Nachdem das mit den Eigenbetriebsschaffungen, wie bei den „Badener Stadtwerken“, die die Trinkwasserversorgung nicht garantieren konnten, „so gut geklappt hatte“, wurde nun die Gründung der „Kurbetriebe der Stadt Baden bei Wien“ forciert. Zum Leiter dieses städtischen Eigenbetriebes wurde der bisherige Kurbeauftragte Stadtrat Blechinger ernannt. Dieser Eigenbetrieb gliederte sich in zwei Verwaltungsabteilungen K1 und K2 und in vier Betriebsabteilungen B1 bis B4. Die Leitungen der einzelnen Abteilungen gingen an die „üblichen Verdächtigen“. K1 führte Robert Holzer, welcher für Reklame und Veranstaltungen zuständig war. Die Leitung von K2 (Kaufmännische Angelegenheiten) übernahm Stadtamtsmann und Zellenleiter Ludwig Lackinger. Hinter B1 stand die wirtschaftliche Führung von Trinkhalle, Strandbad und Gänsehäufel unter der Ägide von Stadtsekretär Leopold Massinger. Die wirtschaftliche Leitung von Verkauf und Erzeugung von Schwefelschlick B2 oblag Oberinspektor Rudolf Brandl. Mit B3 wurde Roman Zimmer betraut und hatte damit die Verantwortung über den Herzoghof und die Städtische Kur- und Badeanstalt am Kaiser Franz-Ring. Für die Parkanlagen B4 war weiterhin Stadtgartendirektor Friedrich Zieger zuständig.150 Soweit so gut, aber Ende der Kursaison 1942 schienen die kurörtlich-kommunalen Umstrukturierungen, basierend auf der DGO der Reichsführung in Berlin, nicht mehr auszureichen, und der Kurbeauftragte Blechinger nicht mehr ganz ins Konzept zu passen. Sein Posten stand zur Disposition. Der Reichsfremdenverkehrsverband trat an Schmid heran und verlangte die Bestellung eines Kurdirektors. Unter den Kandidaten befand sich sogar ein Gastwirt aus der ehemaligen deutschen Kolonie Südwest-Afrika. Schmid und die Ratsherrn waren von dem „Exoten“ nicht ganz überzeugt und hielten Blechinger die Stange. Ihre Loyalität ihm gegenüber sprachen sie offen in einer nicht öffentlichen Gemeinderatssitzung im Oktober 1942 aus.151 149 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I; Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe: Kirchliche Angelegenheiten. 150 Vgl. BZ Nr. 40 v. 20.05.1942, S. 4. 151 Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 487.
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Ihr Einsatz zeigte Wirkung. Blechinger blieb Leiter der Kurverwaltung und durfte am 6. November 1942 auf der Hauptversammlung des Ortsfremdenverkehrsverbandes – abgedruckt in der Badener Zeitung – die Kursaison rekapitulieren und sich dabei der üblichen Plattitüden bedienen. Zuerst wurden genehme Zahlen wiederholt, man klopfte sich verbal gegenseitig auf die Schulter, lobte, hob das Bemühen hervor, um dann, wenn es darum ging, die negativen Aspekte aufzuarbeiten, die Schuld großzügig auf viele Kappen zu verteilen – nur nicht auf die seine. Standen Kurgäste vor verschlossenen Türen hiesiger Kaffeehäuser, so waren die Besitzer und Betreiber jener Lokalitäten schuld, die nicht in der Lage waren, ihre Öffnungszeiten untereinander zu koordinieren. Waren die Straßen schmutzig und wurde das Schwechatufer als Müllhalde missbraucht, so war es die Bevölkerung allgemein, die nicht fähig war, ihre Stadt rein zu halten. Weiters herrschte immer noch eine himmelschreiende geographische Unwissenheit innerhalb der Badener „Volksgemeinschaft“ vor, denn nur die wenigsten Badener konnten einem Kurgast offenbar Auskunft geben, wo sich die Kurverwaltung oder das Bad XY befände. Und dann noch die grassierende Unfreundlichkeit in den Straßen der Kurstadt. Hier fiel insbesondere der rüde Umgang mancher Geschäftsbesitzer auf, die sich nicht scheuten, schon bei Kleinigkeiten dem Kurgast eine „Goschen anzuhängen“. In eindringlichen Worten gab der Referent Einblick in mancherlei Mängel, die durch das geringe Verständnis der Bevölkerung für die Bedürfnisse eines Heilbades entstehen. Die durch Jahre gehenden diesbezüglichen Bestrebungen der Kurverwaltung und der Heimatpresse sind bisher ohne nennenswerten Erfolg geblieben.152 Die Schwefelkinder waren offenbar lernresistent. Im Endeffekt tat Blechinger das, was jeder Protagonist tat, der irgendetwas mit der Kurpolitik in Baden zu tun hatte. Er verwies erstens auf die schwierige Situation im Allgemeinen, zweitens auf die Beschlagnahmungen durch die Wehrmacht, drittens auf den kurfeindlichen Industriering rund um Baden, viertens auf widerspenstige private Fremdenbettvermieter, fünftens auf freche Badener und sechstens auf die Zeit nach dem „Endsieg“, wo alles besser werden sollte.
Teure Würste und gepanschter Wein Während die Kurverwaltung über unerzogene Badener vor sich hin lamentierte, wussten sich manche Kurgäste auch selbst zu helfen. Penibel auf ihre Rechte pochend und nicht unbedingt zimperlich in ihrer Vorgehensweise verfassten sie nicht nur Beschwerdebriefe an die „Kurbetriebe der Stadt Baden bei Wien“, sondern erstatteten Anzeige bei der Polizei. Ziel davon war das Hotel „Stadt Wien“, weil um halb acht einem Kurgast kein Stammgericht mehr serviert werden konnte. Der Grund für das fehlende Stammgericht war klar, es fehlte an Lebensmitteln. Der Grund für die Anzeige war ebenfalls klar, den Gast interessierte das nicht. Das Bußgeld von 20 RM war zugegebenermaßen für den angeklagten Betreiber Karl 152 BZ Nr. 91 v. 14.11.1942, S. 3.
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Emminger verkraftbar. Dasselbe Bußgeld ereilte den Gasthauspächter im Herzoghof Karl Czerny.153 Er hatte wenigstens um halb neun noch eine Suppe und ein Stück Kuchen anzubieten, doch das war einem Kurgast zu wenig. Er bestand auf die markenfreie Hauptspeise. Als die nicht kam, war die Anzeige raus.154 In der biedermeierlichen Kurstadt wurde es richtig ungemütlich bzw. es wurde biedermeierlich, wenn wir uns das klischeehafte Bild des Metternich‘schen Systems, beruhend auf Bespitzelung und Vernaderung, vor Augen führen. Darüber hinaus, wer suchet, der findet! Und wenn man wollte, konnte man vieles finden, was nicht dem Reglement entsprach. Das lag nicht immer daran – ich habe es bereits in einem Kapitel zuvor erwähnt – dass gesetzliche Verstöße von Seiten der Wirte, Hoteliers oder Pensionsbetreibern beabsichtigt gewesen wären, sondern daran, dass gesamte System, basierend auf Rationierungen, Essensmarken, Preisgestaltung inklusive der ganzen Sonderzuweisungen und speziellen Ausnahmeregelungen, genügend Raum bot, um mannigfaltige Fehler zu begehen. Wir stoßen hier auf ein kompliziertes Regelwerk und teilweise auf eine Laissez-faire-Umsetzungs- und Herangehensweise. Die bis auf Punkt und Beistrich (oder auch nicht) durchdachte Rationierungspolitik des NS-Staates wird beispielhaft bei so banalen Dingen sichtbar wie der Schuhzuteilung: Für einen Bezugsschein II dürfen folgende Arten von Schuhen abgegeben werden: I. Straßenschuhe. a) auf einen Bezugsschein II, der auf leichte Straßenschuhe mit Holzsohle lautet (Bezugsschein IIa) Straßenschuhe (nicht Arbeitsschuhe) mit ganzen oder geteilten Holzsohlen, soweit nicht bezugsscheinfrei sind: b) auf einen Bezugsschein II, der auf leichte Straßenschuhe lautet, Bezugsschein IIb). (1) Stoffstraßenschuhe (leichte Straßenschuhe mit Stoffoberteil, das auch mit Leder garniert sein kann). (2) Frauenstraßenschuhe, die zehen-, fersen- oder gelenkfrei sind. (3) Sandaletten und Riemenschuhe […]155 Ich empfehle hier wieder einmal, die Ausgaben der Badener Zeitung online durchzustöbern – Sie werden nicht lange suchen müssen, bis Ihnen solche behördlichen Verwaltungsformulierungs-Ungeheuer über den Weg laufen. Oder nehmen wir die im August 1942 geplante Erhöhung der Käseration. Wollte man in den Genuss der zusätzlichen Käseration kommen, war es erforderlich, den Abschnitt F der Fettkarte 40 zusammen mit dem Käse-Bestellschein der Fettkarte 40 in der allgemeinen Bestellwoche vom 17. bis 22. August 1942 bei jenem Kleinverteiler abzugeben, bei dem sie Käse beziehen wollen. Die Kleinverteiler haben die 153 Karl Emminger (geb. 1895), Karl Czerny (geb. 1871). 154 Vgl. StA B, GB 231/Preis- und Lebensmittelkontrolle II; August 1942. 155 BZ Nr. 7 v. 24.01.1942, S. 3.
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vereinnahmten Abschnitte F anlässlich der Bestellschein-Abrechnung in der ersten Woche der 40. Zustellungsperiode aufgeklebt bei ihrer zuständigen Kartenstelle B einzureichen.156 Man gewinnt den Eindruck, dass das Prozedere absichtlich kompliziert gestaltet wurde, damit potentielle Interessenten dadurch abgeschreckt würden und es von vornherein einfach bleiben ließen. Nicht selten wurde angemerkt: Solange der Vorrat reicht! Im Endeffekt hätten die Behörden die Rationen nach Lust und Laune verdoppeln und verdreifachen können. Ob die Mengen dann vorhanden wären, stand auf einem anderen Stern. Es mag sein, dass solche Satzkonstrukte nur aus heutiger Sicht (oder nur meinem Verständnis bzw. Unverständnis nach) verworren erscheinen. Vielleicht sahen es die Menschen damals anders. Allerdings ist eines sicher, der Schleich- und Tauschhandel war wesentlich weniger umständlich und kompliziert als das Studium behördlicher Verordnungen und Erlässe. Ob sie überhaupt alle gelesen und verstanden wurden, wage ich zu bezweifeln. Ein Indiz dafür war, dass in einer Mai-Ausgabe der Badener Zeitung bereits auf Seite 2 darauf hingewiesen wurde, Seite 4 zu lesen. Dort wurde auf die Ankündigungen des Landrates eingegangen, in welchem Ausmaß die Kohleausgabe eingeschränkt werden und welche Zuschüsse zukünftig wegfallen würden. Für den kommenden Kriegswinter empfahl der Landrat, mit Ersatzstoffen zu heizen, und er empfahl tatsächlich, auf Reserven zurückzugreifen – man kann fast meinen, eine perfide Art von Humor. Zwar gäbe es noch ausreichend Bezugsscheine für Kohle, versicherte er, nur durfte man nicht erwarten, dass man die zugesprochene Menge zugeteilt bekäme. Nebenbei wurde darauf hingewiesen, dass für Qualitätsbeanstandungen nicht die Zeit wäre.157 Weil die Ankündigung des Landrates als dermaßen essenziell eingestuft wurde, fand man den gleichen Text in der folgenden Ausgabe der Badener Zeitung abermals abgedruckt. Grundsätzlich herrschte bei der Obrigkeit ein Menschenbild vor, wonach selbst dem deutschen Volksgenossen nicht zu trauen sei. Bestätigung erfuhr das Bild, wenn wieder einmal illegale Ungereimtheiten an die Oberfläche gespült wurden. Diesmal traf es die Motorölbewirtschaftung. Das NS-Regime musste nachjustieren und ein strengeres Öl-Regiment einführen. Die Motoröl-Erstbefüllung durfte auf keinen Fall mehr vom Motorrad- oder Autobesitzer persönlich vorgenommen werden. Ausschließlich die Werkstätten waren nunmehr dazu befugt, und das nur mit entsprechend ausgestellter Rechnung und Quittung. Erst die nachfolgenden Ölwechsel durften vom Besitzer durchführt werden, allerdings musste man nachweisen, was mit dem Altöl passiert war, um neues Öl zu erhalten.158 Pedantisch und nicht immer leicht zu durchschauen, gestaltete sich genauso die Preispolitik. Die Preise waren festgesetzt und wurden kontrolliert bzw. man verließ sich auf die Denunziationsbereitschaft. Die Überschreitungen lagen manchmal im Pfennigbereich und konnten unterschiedlichste und nicht immer nachvollziehbare Konsequenzen nach sich ziehen. 156 BZ Nr. 65 v. 15.08.1942, S. 5. 157 Vgl. BZ Nr. 39 v. 16.05.1942, S. 4. 158 Vgl. BZ Nr. 31 v. 18.04.1942, S. 5.
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Karl Czerny, der bereits im Herzoghof nicht in der Lage gewesen war, markenfreie Hauptspeisen zu servieren, bot im September 1942 sein Mittagsmenü um 1,5 RM an anstatt bis zur vorgeschriebenen Preisgrenze von höchstens einer Reichsmark. Beim Fleischhauer Robert Koisser waren es Wurstwaren für 13,15 kg, die er pro Kilo statt um 2,40 um 2,46 RM auspreiste, wodurch er sich einer illegalen Mehrbereicherung von 79 Rpf schuldig machte. Die Geldstrafen beliefen sich auf jeweils 50 RM. Jeder Apfel, jeder Sellerie und jede Gurke durften nur auf den Pfennig genau um einen festgesetzten Preis angeboten werden. In der Badener Zeitung finden wir regelmäßig die publizierten Preisanpassungen. Bemerkenswert ist der betriebene Aufwand, um der Falschbepreisung auf die Schliche zu kommen. Im September 1942 kaufte der im Kurlazarett Gutenbrunn weilende Feldwebel Alfred Kammer bei Robert Monetti in der Wassergasse 14 einen kleinen Tiegel Fettcreme „Gudrun Immergut“ um 2,80 RM. Dem Käufer schien der Preis zu hoch, und er erstattete Anzeige. Die Ermittlungen wurden aufgenommen, und die Badener Behörden nahmen Kontakt mit den Kollegen in Wien auf, da Monetti seine Fettcreme bei einem dortigen Großhändler, „Fa. Hedwig Siebenrock-Wallheim“ bezog. Und siehe da, ein Volltreffer. Monetti hatte das Produkt um 1,80 RM eingekauft und es in Baden zu einem überteuerten Preis verkauft. Allerdings war auch der Einkaufspreis von 1,80 RM beim Großhändler zu hoch angesetzt. Nun begannen die Ermittlungen gegen den Großhändler und in weiterer Folge gegen den Produzenten der Fettcreme.159 Aus dem Aktenmaterial geht schön hervor, mit welcher Akribie die Behörden hier vorgingen, wie mit Pfenning- und Grammbeträgen gerechnet, gewogen, mit Gesetztestexten herumhantiert, sie ausgelegt und dadurch Behördenschreiben en masse produziert wurden. Aufschlussreich wieder einmal die Denunziation, die stellenweise abstrus und willkürlich war und vor allem boshaften Charakter hatte. Jemandem erschien der Preis zu hoch, die Menge zu wenig, die Portion auf dem eigenen Teller zu klein, die am Nebentisch war größer oder die Nachbarin, die vor einem beim Gemüsehändler in der Schlange wartete, erhielt, als sie endlich an der Reihe war, frischere Ware als man selbst – zumindest hatte es auf den ersten Blick den Anschein bzw. aus der Perspektive hungriger Mitmenschen. Der Schriftsteller Dr. August Rieckel alias Harald Bratt wurde im April 1942 von seiner Bediensteten angeschwärzt, weil er mittels Eierkarten Eier bezog, obwohl er selbst zehn Hühner sowie mehrere Enten und Truthähne sein Eigen nennen konnte. Sein Geflügel wurde noch dazu mit Kartoffeln gefüttert. Besonders verdächtig war auch sein Kaffeekonsum. Zweimal am Tag gönnte sich der Mann einen Bohnenkaffee. Somit stellten sich folgende Fragen: Erstens, durfte er überhaupt zusätzliche Eier beziehen, zweitens, woher hat er so viele Kartoffeln, dass er es sich leisten konnte, sein Federvieh damit zu füttern und drittens, wie kam er zu diesen Unmengen an Kaffeebohnen.160 Pech, bzw. letztendlich zeitlich kontextualisiert großes Glück, hatte die gebürtige Tsche159 Vgl. StA B, GB 231/Preis- und Lebensmittelkontrolle II; Sept. 1942 – Robert Koisser (geb. 1903), Robert Monetti (geb. 1895). 160 Vgl. StA B, GB 231/Preis- und Lebensmittelkontrolle I; April 1942 – August Rieckel (geb. 1897).
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
chin und Witwe eines Obersts, Elise Srnka. Denn auf sie hatte es Karl Zeller abgesehen. Jener Mann, der sich nach dem Anschluss eine Phantasieuniform hatte schneidern lassen, damit prahlte, Menschen im KZ verschwinden zu lassen sowie mit seinen freundschaftlichen Kontakten zu Baldur v. Schirach – und der dennoch erst nach dem dritten Anlauf in die NSDAP aufgenommen wurde (siehe Kapitel 5). Mit Elise Srnka lebte er seit Jahren in Fehde, doch während vor dem Anschluss die Machtverhältnisse ausgeglichen gewesen waren, kippten sie nach dem Anschluss deutlich zu seinen Gunsten. Zeller denunzierte sein Opfer bereits 1940. Damals wollte er „bloß“ wissen, ob sie ihre Eierkarten eh zurückgegeben hätte – da sie selbst vier oder fünf Hühner besaß – sie hatte es nicht getan. Laut Zeller an sich schon ein Verbrechen und mit der Zeit, so seine Beobachtung, wuchs die Zahl der Hühner auf 16 an, und sogar ein Hahn gesellte sich hinzu. 5–6-mal täglich hörte Zeller die Hühner gackern, ein Zeichen, dass sie Eier gelegt haben. Zeller sei Hühnerzüchter. Im Frühjahr 1941 sah Zeller etwa 8–10 Küchlein. Außerdem hegte Zeller den Verdacht, dass Elise Srnka zur Fütterung kein Knochenmehl verwendete, denn es hingen bei Frau Srnka Maiskolben in rauen Mengen herum.161 Neben den „Eier-Verbrechen“ bezichtigte er sie, im September 1942 französischen Kriegsgefangenen Unterstand und Bekleidung angeboten zu haben sowie Feindsender zu konsumieren. Es folgten Verhöre und Hausdurchsuchungen durch die Gestapo, doch die Anzeige wurde von der Oberstaatsanwaltschaft wegen Geringfügigkeit abgewiesen. Die Angelegenheit wäre im Sande verlaufen, doch für Karl Zeller hieß es offensichtlich, ein Exempel zu statuieren. Daraufhin hat der Angeklagte [Karl Zeller] nach Einsichtnahme in den Akt und unter Berufung auf seine Stellung als „Gauamtsleiter“ und „intimer Freund Schirachs“ einen Aktenvermerkt verfasst, worin er schrieb „Ich halte die höchste Verwaltungsstrafe für Frau Srnka angemessen und ihre Anhaltung in einem KZ für geboten.“ Letztendlich fasste Elise Srnka „nur“ ein 500-RM-Strafe aus. Sie hatte in Anbetracht der ihr vorgeworfenen Unterstellungen wahrlich großes Glück gehabt. Das sah auch das Gericht nach 1945. Dass Elise Srnka als geborene Tschechin in größter Gefahr geschwebt und ihre Existenz ernstlich gefährdet war, braucht nicht weiter erörtert zu werden.162 Aber zurück zu den festgesetzten Preisen und der Kontingentierung bestimmter Waren. Jene Zahlen, Werte und Angaben galten als unantastbar – so stand es in der Badener Zeitung geschrieben. Und wer eignete sich am besten, um das zu überwachen, die Gewichtsangaben, die abgegebenen Mengen und die Preise? Die Frau ist es, welche einen Gegenstand, der angeschafft werden soll, bestimmt, die Frau ist es, die den Preis dafür auf den Ladentisch legt. Und so ist es klar, dass sich die Frauen auch ihres entscheidenden Einflusses und ihrer Verantwortlichkeit gegenüber der Volkswirtschaft bewusst sein müssen. Der einzukaufenden Hausfrau wurde aufgetragen, bewusst, vorausschauend und wachsam einzukaufen – sprich stets denunziationsbereit einzukaufen. Falls preisliche Ungereimtheiten entdeckt werden sollten, Vater NS-Staat war in der Nähe. Und falls Frust aufkäme, weshalb manches teurer wäre als erwartet oder gar nicht vorhanden, empfahl das Lokalmedium erstens an das dritte Kriegs161 StA B, GB 052/Personalakten: Zeller Karl (geb. 1876) – Anzeige gegen Elise Srnka. 162 Ebd. – Volksgerichtsurteil (12.08.1948), S. 4 u. 8.
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jahr des vorherigen Krieges zu denken und zweitens führte es aus, muss es heute genügen, dass die Maßnahmen des Staates, die zu dieser Preisordnung geführt haben, die Ordnung der Wirtschaft im Kriege aufrechterhält.163 Bei Verstößen gegen die Preispolitik wurden üblicherweise Geldstrafen ausgestellt, deren Nachvollziehbarkeit, wie so oft im NS-Rechtssystem und wie bereits oftmals erwähnt, nicht immer gegeben war. Die Höhen der Bußgelder werden in jenen Fällen greifbar, in denen der monatliche Verdienst Erwähnung fand – oder wenn man einen Währungsumrechner aus dem Internet bemüht. Als der Badener Fiaker Leopold Schnabel für eine Fahrt vom Bahnhof zur Jammerpepi 20 RM statt 3,33 RM verlangte, drohte ihm bei einem monatlichen Einkommen von 500 RM eine Strafe über 100 RM.164 Um dieselbe Summe wurde der Mechanikermeister Franz Leichtfried erleichtert, weil er unberechtigterweise 10 Prozent mehr beim Verkauf für sein Motorrad verlangte, als erlaubt war. Sein monatliches Einkommen belief sich auf 300 RM. Als der Weinhauer Johann Fuchs einen unberechtigten Gewinn von 109,20 RM durch Weinpantschen erzielte, fasste er, bei einem monatlichen Verdienst von 300 RM, eine Strafe von 300 RM aus – obwohl oder gerade weil er Parteimitglied war. Das damals nicht unübliche Weinpantschen brachte dem früheren Weinbauobmann Karl Hein sogar drei Monate verschärften Kerker ein. Während die Pantscherei bei Johann Fuchs noch 60 Liter ausmachte, waren es bei Hain stolze 1400 Liter.165 Hart traf es auch den Fleischhauer und Selcher Johann Dopplinger. Er musste im Jahre 1942 insgesamt eine Strafzahlung von 3.000 RM entrichten und seinen Betrieb für ein Jahr zusperren, weil er minderwertige Wurst zum Preis von hochwertiger verkauft hatte. In einem Gnadengesuch an den Gauleiter schwor er, stets ein aufrichtiger Nationalsozialist gewesen zu sein, dass es noch nie Beschwerden von Seiten der Kundschaft gegeben hätte und dass kein Vorsatz, sondern Fahrlässigkeit dem Delikt zugrunde lag. Was er als Fahrlässigkeit bezeichnete, war für die Behörden Betrug. Die von ihm als Schinkenwurst bezeichnete Wurst war nämlich ihrer fleischlichen Zusammensetzung und Beschaffenheit nach eben keine Schinkenwurst, sondern nur eine Konsumkrakauer der Preisgruppe I und hätte höchstens um 2,80 RM pro Kilo verkauft werden dürfen und nicht um die von ihm veranschlagten 3,50 RM. Noch dazu war Johann Dopplinger wegen des gleichen Vergehens mehrmals erwischt worden.166 Wir haben, wie im Jahr davor, einen Alltag, der ohne „linke“ Aktionen kaum mehr zu meistern war. Lasches Vorgehen der Behörden und ein eindeutig zweideutiges Augezudrücken, machten Trixereien einfach und lukrativ. „Ungehindert“ blühte der Schwarzmarkt. Das heißt nicht, dass alles erlaubt gewesen wäre und sich Wildwest-Zustände in der 163 Vgl. BZ Nr. 41/42 v. 23.05.1942, S. 2. 164 Vgl. StA B, GB 231/Preis- und Lebensmittelkontrolle II; September 1942 – Leopold Schnabel (geb. 1889). 165 Vgl. StA B, GB 231/Preis- und Lebensmittelkontrolle I; Jänner 1942 – Franz Leichtfried (geb. 1875), Johann Fuchs (geb. 1875), Karl Hein (geb. 1885). 166 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Dopplinger Johann/Hans (geb. 1900).
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Kurstadt etabliert hätten. Trotzdem sah Rechtssicherheit normalerweise anders aus. Es war immer eine Frage, auf wen man traf, wenn man vom rechten Weg abkam. Gute Kontakte erleichterten das Leben, und eine kleine Bestechung bzw. Aufmerksamkeit einem Beamten gegenüber war nicht der Rede wert – konnte es aber werden. Im Falle von Marie Widl war es aus ihrer Perspektive Dankbarkeit, als sie im April 1942 der Amtsleiterin der Kartenstelle Hermine Gerich im Wirtschaftsamt 50 Eier anbot. Ihre durch Bezugsscheine ohnehin zugesprochenen Schuhe sollten dadurch rascher in ihren Besitz überführt werden. Die Leiterin der Karteistelle konnte allerdings die ihr zukommende Dankbarkeit nicht richtig deuten und erstattete Anzeige wegen Bestechung. Drei Monate Kerker, lautete das vorläufige Verdikt inklusive der Berichterstattung in der Badener Zeitung.167 Für die dreifache Mutter, deren Mann an der Front weilte, eine Katastrophe. Im September schrieb sie ein Gnadengesuch an die Kanzlei des Führers. Ein kluger Schachzug, denn mehrere Faktoren sprachen für sie. Ihr Mann war Soldat, der bereits zwei Jahre lang an der Front gekämpft hatte und nun erneut einrückt war. Des Weiteren hatte das Ehepaar Widl dem Führer drei Kinder geschenkt. Würde sie die Haft antreten müssen, müssten die Kinder in ein Heim. Unterstützung erhielt Marie Widl durch die Kreis- und Ortsgruppenleitung. Für den Kreisleiter war Marie Widl bis auf die 50-Eier-Affäre eine unbescholtene Volksgenossin und ihr Vergehen mehr aus Unbesonnenheit als aus Böswilligkeit begangen worden. Was noch für sie sprach, außerdem sind 5 Brüder der Marie Widl bei der Wehrmacht. Einer derselben ist in englische Gefangenschaft geraten, ein zweiter ist in Russland vermisst. Die Ortsgruppenleitung hingegen lobte ihre mütterlichen und häusliche Qualitäten: In ihrem Hauswesen ist sie außerordentlich rein und nett, und sind auch die Kinder peinlich rein gehalten.168 Letzten Endes sprach das Gericht eine Bewährungsfrist sowie eine Geldbuße von 50 RM aus, die Marie Widl sogar in Raten abstottern durfte.
Das leise Kriseln Wenn wir die gesellschaftliche Situation zusammenfassen, so herrschten Mangel, Restriktion und Denunziantentum sowie nicht nachvollziehbare behördliche Vorgehensweisen bei der Strafverfolgung und den Strafausmaßen. Dass dadurch die „Gemeinschaft“ innerhalb der „Volksgemeinschaft“ erodierte, konnte niemanden bei Sinnen überraschen. Volksgenossen begannen sich vom NS-Regime abzuwenden, bzw. ihre bisherige Distanz nahm zu, und auch einzelne Parteimitglieder begannen sich langsam von der NSDAP zu distanzieren. Es rumorte im Parteigebälk. Und auf der gegenüberliegenden Seite, bei jenen, die dem NS-System stets ablehnend bis feindlich gesonnen waren, keimten Widerstandsakte unterschiedlichster Intensität und Intention auf. Aber bleiben wir zuerst bei den Stützen des Regimes, den Parteimitgliedern, die langsam begannen vom rechten Weg abzukommen. 167 Vgl. BZ Nr. 45 v. 06.06.1942, S. 6. 168 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Widl Marie (geb. 1908) – Hermine Gerich (geb. 1892).
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Im Mai beschwerte sich der Ortsgruppenleiter von Baden-Leesdorf, Josef Jäger, über die miserablen Straßenverhältnisse und über die ungerechte Gemüseverteilung. Er forderte mehr Polizeipräsenz ein, um den grassierenden Hühnerdiebstahl in den Griff zu bekommen und er zeichnete einen generellen Verfall an Sitte und Anstand auf, besonders bei der Jugend, die mittlerweile eine erschreckende Form angenommen hätte. Was sich da alte Frauen von Schulkindern oft sagen lassen müssen, grenzt wohl schon ans Unglaubliche. „Häng Dich auf, das Götzzitat, Sie gehören nach Steinhof“ usw.169 Eigentlich war das nichts Neues oder Erstaunliches. Allerdings legte er zwei Berichte seine Zellenleiters Hans Martinek bei, die es dann doch in sich hatten. In dem ersten beschrieb Hans Martinek noch recht augenzwinkernd, wie es um die Verfügbarkeit von Schuhen bestellt war. Regelmäßig würden Bezugsscheine für Schuhe angefordert, und regelmäßig würden jene nicht ausgehändigt werden. Zumeist hieße es in solchen Fällen: Haben Sie denn keine alten Schuhe? Lassen Sie sich diese zusammenflicken, denn Bezugsscheine können nicht ausgegeben werden! Gesagt getan, der Volksgenosse würde sich an den Schuster seines Vertrauens wenden, wo er dann Folgendes gesagt bekäme: Ich übernehme die Reparatur recht gerne, aber ich habe kein Stück Leder und auch keinen Ersatzstoff, die Reparatur kann monatelang dauern, sehen Sie her, hier liegt ein ganzer Berg von Schuhen, dessen Besitzer ebenfalls warten müssen.170 Bei einem Lokalaugenschein zählte Zellenleiter Martinek 250 Paar Schuhe in der Warteschleife. In seinem zweiten Bericht resümierte er seine Erfahrungen und die seiner Blockleiter, wie es nun tatsächlich mit der „Volksgemeinschaft“ und dem Spruch „Gemeinnutz vor Eigennutz“ bestellt war. Dabei war schon die Ausgangslage desaströs. Wozu soll ich denn einen Bericht erstatten, es nützt ja sowieso nichts, denn auf meine verschiedenen Berichte, die ich bereits gemacht habe, habe ich bisher weder eine Antwort, geschweige denn eine Erledigung erhalten. Der Hinweis, dass die Berichte als Unterlage für Referate bei verschiedenen Reden fungierten, konterten die Berichterstatter mit: Wenn diese Herren Unterlagen brauchen, dann sollen sie sich einmal bei der Freibank, beim Kohlehändler, in den Milchgeschäften anstellen, dann bekommen sie alles das zu hören, was ihnen Stoff für ihre Reden genug gibt. Martineks Kritik ging richtig ans Eingemachte. Er schilderte, wie ein Blockleiter von einem Stadtrat mittels herbeigerufenen Sicherheitsorganen aus dessen Büro heraus „komplimentiert“ worden war, weil jener sich angeschickt hatte, in seiner Wohnungsangelegenheit nachzufragen. Daraus schlussfolgerte Martinek: Wie würde es erst einem armen, im Staub herumkriechenden Volksgenossen gehen, der sich untertänigst erlauben würde, eine derartige Anfrage zu stellen? Er attestierte einen grundsätzlichen Ansehensverlust der Block- und Zellenleiter, deren Anliegen, Anregungen und Meinung von den übergeordneten Parteihierarchien weder gehört noch ernst genommen würden. Für ihn waren das eklatante Machtverluste, die dazu beitrugen, dass Volksgenossen sich nicht mehr an Blockleiter wenden, weil sie das Vertrauen 169 StA B, GB 052/Personalakten: Martinek Hans/Johann (geb. 1888) – Ortsgruppenleitung an Kreisleitung (12.05.1942). 170 Ebd. – Bericht (04.05.1942).
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verloren haben. Nicht fehlen durften in seinem Bericht die Themenbereiche Märzveilchen, Freunderlwirtschaft, Heuchelei und Bonzentum. Während, laut ihm, die einen überhaupt keine Probleme bei der Belieferung mit Heizmaterial hätten, wurde eine Volksgenossin, die aufgrund familiärer Verhältnisse um einen „Mehrverbrauch“ an Kohle angesucht hatte, wie folgt abgewiesen: „Gehen Sie halt mit Ihrer Mutter in den Mittagsstunden in der Sonne spazieren, denn werden Sie mit Ihrem zugewiesenen Brennmaterial auskommen“. Ironie und Frotzelei bei den heurigen Wintertemperaturen. Seine Brandschrift endete er mit: Die Block- und Zellenleiter sind nur dazu da, um hie und da Arbeiten zu leisten, die ihnen nicht zukommen und als Hauptbeschäftigung – den Beschwichtigungshofrat – zu spielen. Das ist keine Meuterei, auch keine Meckerei, das sind Tatsachen, die jederzeit nachgewiesen werden und nach Belieben erweitert werden können. Sein Bericht wurde handschriftlich kommentiert. Zumeist wollte der namenlose Kommentator die Namen der Beschwerenden wissen. Zugleich ließ er es sich nicht nehmen, Hans Martinek der Meckerei und der Ahnungslosigkeit zu bezichtigen. Martineks „Beschwichtigungshofrat-Sager“ wurde entgegengesetzt: Der Satz beweist, dass die Aufgabe nicht erfasst wurde.171 Wie es genau weiterging, geben die Quellen nicht her, aber Hans Martinek blieb bis Ende des Jahres Zellenleiter und stieg dann zum Ortspropaganda- sowie zum Organisationleiter der Ortsgruppe Baden-Leesdorf auf. Kritik konnte auch auf leisen Sohlen daherkommen. Denn selbst die Treuesten wurden irgendwann ungeduldig. Ratsherr Rudolf Schemel – der Kreisausschmückungsreferent (siehe Kapitel 15) – ein Mann der ersten NS-Stunde, wandte sich mit einem persönlichem Anliegen im Oktober 1942 an seinen Stadtherrn Bürgermeister Franz Schmid. Im ersten Absatz lobte er dessen Uneigennützigkeit, dessen Verständnis, dessen Opfer für die Bewegung, um anschließend auch auf seine eigenen Verdienste und deren zustehende Vergütung hinzuweisen. Ich habe mich in der Zeit des Umsturzes wie Du ja selbst weißt getreu der damaligen Parole: „Wer jetzt an sich denkt, war nie ein Nationalsozialist!“ nicht um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert, sondern nur daran gedacht, zu beweisen, dass ich nie an einen persönlichen Vorteil gedacht habe, sondern weiter der Idee dienen will und damit gerade denen, die meine Kameraden waren und treu und willig Posten gestanden sind, Tag u. Nacht geschafft hatten, um der Idee nun mehr auch bei unseren Gegnern zum Siege zu verhelfen, ein Beispiel zu geben. Lange Rede, kurzer Sinn, Ratsherr Rudolf Schemel trachtete es nach Judenbesitz. Allerdings musste er feststellen, nachdem er anfänglich durch harte Arbeit und noble Zurückhaltung blockiert war, dass das große Rennen aller derer, die nie einen Finger für die Idee gerührt hatten, nicht zu seinen Gunsten ausgegangen war. Dann hatte ihm noch das Schicksal übel mitgespielt, ein schwerer Autounfall, gefolgt von einem längeren Krankenstand, machte ihm in Sachen „Arisierungen“ zu einem „Zuspätgekommenen“. Judenhäuser zum NSDAP-Mitgliedschaftsvorzugspreis waren nicht mehr am Markt. Seinen Einsatz für die Partei rekapitulierend, zurückhaltend und dennoch leicht fordernd, vertraue er nun vollkommen auf die Gunst des Stadtvaters. Nun lege ich meinen Herzenswunsch, wenigstens ein kleines Stückchen Erde meiner Heimatstadt mein eigen nennen zu können, wo ich in Frie171 Ebd. – Monatsbericht (05.05.1942).
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den einmal meinen Kohl anbauen kann, in Deine immer hilfsbereiten und treuen Hände.172 Die Enttäuschung, dass der eigenen Person und den eigenen Leistungen nicht ausreichend Wertschätzung entgegengebracht wurde – Ratsherr Schemel wäre auch mit einer sumpfigen, an einer Böschung gelegenen, unaufgeschlossenen und nur durch eine primitive Straße erreichbaren Parzelle zufrieden gewesen – machte auch vor Kreisleitern nicht halt. Als im März 1942 eine von Hitler verliehene Goethe-Medaille an Dr. Prof. Ing. Dolezal überreicht wurde, waren Landrat Wohlrab und Bürgermeister Schmid als Gäste geladen, während Kreisleiter Hajda von der Ehrung erst aus den Medien erfuhr. Ich sehe darin eine außerordentliche Bloßstellung der NSDAP und lasse diesbezüglich dem Gauleiter und Reichstatthalter einen entsprechenden Bericht zugehen. Ihm sei überhaupt aufgefallen, dass er in letzter Zeit seitens der verantwortlichen Stellen des Reichstatthalters keinerlei Verständigung erhielt. Ich werde den Gauleiter ersuchen, in dieser Richtung energisch Abhilfe zu schaffen, da es unter gar keinen Umständen angeht, dass sich Herrn der Reichstatthalterei einfach über die NSDAP hinwegsetzen.173 Es war ein Konflikt zwischen Partei und staatlichen Stellen, und es ging wieder einmal um die Ehre. Dass die Kränkung jener zu mannigfaltigen Auseinandersetzungen führen konnte, davon haben wir schon genug gelesen. Aber da die Ehre vieler Menschen offenbar von schwächlicher Konstitution war und ist, werden wir noch von weiteren Konflikten und Eskalationen diesbezüglich lesen (müssen). Zu jenen „Schwächlingen“ gehörten ausgerechnet jene (zumeist) Männer, die ansonsten mit Ehre, Stolz und Respekt nur so um sich warfen. Als der Schlesier und Polizeichef von Baden Alfred Gutschke im April 1940 die Führung der Badener Polizei übernahm, vermisste er schon bald die ihm zustehende Wertschätzung und die zu zollende Ehrfurcht. Im März 1941 platzte ihm dann endgültig der Kragen. Führer der Schutzpolizeidienstabteilung bin ich und sonst niemand. Sein Vize, Josef Heitzer, der seit 1919 in Baden seinen Dienst versah, zwischen 1933 und 1938 konspirativ agiert hatte und eine führende Rolle bei der Stadtpolizei innehatte (siehe Kapitel 4 Exekutive), wollte oder konnte sich nicht so recht damit anfreunden, einen Schlesier als Vorgesetzten vorgesetzt bekommen zu haben. Hier hatte das deutsch-völkische Blutsbruder-Sippenverwandtschafts-Geschwafel seine Grenzen. Um seinen Stolz etwas aufzupolieren, signierte Heitzer hier und da ein Dokument, ohne klar anzugeben, dass er es nur in Vertretung seines Vorgesetzten getan hatte. Doch damit traf er einen wunden Punkt. Gutschke fühlte sich brüskiert, und sein Vize erhielt die Order, die Amtsanmaßung augenblicklich abzustellen. Außerdem durfte Heitzer nur mehr mit anderen Dienstvorgesetzten korrespondieren, wenn er ausdrücklich die Erlaubnis dazu hatte. Die Amtsanmaßung war nicht das Einzige, das den Schlesier vor den Kopf stieß. Auch die ostmärkische Arbeitsmoral schien ausbaufähig. Ich weise nochmals daraufhin, dass sich auch jeder Schutzpolizeimann sein Geld zu verdienen und nicht zu erdienen hat. Jeder hat sich auch selbst weiterzubilden. Die so notwendige Hingabe an den Dienst finde ich noch ein wenig, dafür aber reichlich Schlamperei. Offenbar musste er seinen ostmärkischen Mannen 172 StA B, GB 052/Personalakten: Schemel Rudolf (geb. 1892). 173 StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; 1942.
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sogar beibringen, wie die Firmierung richtig auszusehen hatte. Es ist selbstverständlich, dass zwischen Unterschrift und Dienstgrad ein Beistrich (oder Komma) zu setzen ist.174 Im Jänner 1942 der nächste Affront gegen Gutschkes Führungsanspruch. Schriftstücke, die eindeutig an ihn adressiert und extra mit „zu Händen des…“ vermerkt waren, wurden dennoch geöffnet und zwar von Stadtrechtsrat Anton Holzer. Für Gutschke eine unerhörte Frechheit, die er so noch nicht erlebte hatte. Bei meinen früheren Behörden im Altreich ist niemand auf den Gedanken gekommen, derartig adressierte Post zu öffnen. Hinter diesem Vorgehen vermutete er ein Misstrauen aufgrund seines Migrationshintergrunds. Er gab mit auf den Weg: Auf die Dauer wirkt die Kontrolle meiner mit dem Zusatz „z. H. des…“ versehener Dienstpost durch einen außerhalb der Ordnungspolizei stehenden Beamten auf mich beleidigend.175 Er wandte sich an seinen unmittelbaren Vorgesetzten in der Ordnungspolizei, Oberstleutnant S. P. Eggebrecht. Bürgermeister und Landrat wurden ebenso kontaktiert. Für Schmid hingegen war alles rechtens abgelaufen, ein etwaiges Dienstvergehen konnte er nicht ausmachen. Dass ein ostmärkisch motiviertes Misstrauen vorläge, wäre ihm ebenso fremd. Sicherheitshalber wurde die Angelegenheit an den Regierungspräsidenten Erich Gruber weitergeleitet. Wie es weiterging, darüber schweigen die Quellen. Passiert war sicher etwas. Im Sommer 1942, in einer nicht öffentlichen Gemeinderatssitzung, wurde Gutschke jedenfalls mit dem Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse ohne Schwert geehrt.176 Während Ratsherr Schemel noch mit Demut auf die erlittene Schmach reagierte, Polizeichef Gutschke mit Erregung und Kreisleiter Hajda mit Empörung, wechselte Parteigenosse Josef Hofmüller gleich mal die Seiten – der Auslöser scheint banal. Als im Oktober 1941 die Einberufung kam, hätte er als Finanzangestellter seine Parteimitgliedsbeiträge weiter entrichten müssen – was aber nicht dem Usus entsprach und was er deswegen auch nicht ganz einsah. Offensichtlich war das ein prägendes Erlebnis, das einen Entfremdungsprozess zur Folge hatte. Die Distanzierung vom NS-Regime ging so weit, dass er begann, defätistisch daherzureden, militärische Geheimnisse wie die sinkende Truppenmoral weiterzutragen oder Munition beiseitezuschaffen – sprich Sabotage zu begehen.177 Jahr für Jahr nahmen die Desillusionierung und die Frustration darüber zu, dass nicht das eingetreten war, was zuvor groß angekündigt und versprochen worden war. Ein nationaler Sozialismus war ohnehin ein Minderheitenprogramm innerhalb der NSDAP gewesen und deren Vertreter bereits Jahre vor dem Anschluss Österreichs im Altreich ausgeschaltet worden. Ferner konnten bei weitem nicht alle versprochenen Privilegien für treue NSAnhänger eingelöst werden. Die angekündigte arische Volkgemeinschaft erfüllte nicht die hochgesteckten Erwartungen. Die Klagen über raffgierige arische Vermieter, von denen wir 174 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1941. 175 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942. 176 Vgl. Öffentliche und Vertrauliche Ratsherrnsitzungs-Protokolle 1939–1942, S. 450 (Sitzung vom 23. Juli 1942). 177 Seinem Ansuchen wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hofmüller Josef (geb. 1914).
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bereits gelesen haben, wurden über die gesamte NS-Zeit hindurch erhoben und bargen ein ernstzunehmendes ideologisches Problem. Die jüdischen Vermieter, die als Blutsauger diffamiert worden waren, konnten nun bei Konflikten, etwa bei einem als zu hoch empfundenen Zins, nicht mehr als Sündenböcke herhalten – da schon längst enteignet, vertrieben und ermordet. Eigentlich hätten für die deutschen Mieter, die ihrer Meinung nach vom jüdischen Joch befreit wurden, die goldenen NS-Zeiten anbrechen müssen. Doch weit gefehlt. Von totaler arischer Harmonie war keine Spur. Der russischstämmige Parteigenosse Michael Surjaninoff aus Stammersdorf und Ariseur des Hauses Helenenstraße 122, zuvor gehörend Hans Freund/Freud, beschloss 1942, samt seiner Familie dort einzuziehen. Das Problem war, dass dort bereits Volksgenossen wohnten: Anna Bosch, ihr Ehemann Günther, ihr 20 Monate altes Kind sowie ihre Mutter. Um nicht als Unmensch zu erscheinen, bot Michael Surjaninoff der Familie Bosch eine sich im selben Haus befindende Wohnung an, die jedoch abgelehnt wurde, weil kleiner. So sprach er kurzerhand die Kündigung aus, aufgrund dringenden Eigenbedarfs und weil die Wasser- und Kanalgebühren trotz Erinnerung noch immer nicht beglichen waren. Anna Bosch wandte sich hilfesuchend an Gauleiter Jury, versuchte alles zu erklären, und dass Michael Surjaninoff selbst zahlreiche Zugeständnisse wie eine Gartenbenützung trotz Vereinbarung nicht eingehalten hätte. Und selbstverständlich kam sie nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass er russischstämmig, erst vor kurzem nach Baden gekommen und kein Umsiedler sei sowie die deutsche Staatsbürgerschaft erst neulich erlangt hätte.178 Gauleiter Jury legte die Angelegenheit in die Hände des Badener Bürgermeisters, und jener wiederum in die des Wohnungsamtes. Der Fall war nicht unbrisant, denn er verstärkte die in Umlauf befindlichen Gerüchte, wonach die ehemals jüdischen Häuser nicht nur ausschließlich an Altreichdeutsche, sondern genauso nur an Tschechen, Ungarn und sonstige Ausländer gefallen wären – nur nicht an die Badener. Doch in der Sache lief alles NS-rechtens ab. Anna Bosch und ihre Familie mussten ausziehen. Und dass Michael Surjaninoff in Danilow zur Welt gekommen war, war weniger entscheidend als sein 1935 getätigter Parteibeitritt, sein Blockleiterposten, und dass seine Ehefrau, Maria Surjaninoff, Ortsfrauenschaftsleiterin in Stammersdorf gewesen war.179 Dem Gedanken einer „Volksgemeinschaft“ widersprechend gestaltete sich genauso das Zusammenleben in der Johannesgasse 25. In dem Zinshaus, das zuvor den Jüdinnen Olga Mandl und Paula Spiegler gehört hatte, waltete auf deren Bestellung hin seit Oktober 1941 Franz Stadler als Verwalter. Er und die Vermieter, wie auch die Vermieter untereinander, hatten allerdings dabei von Anfang an das Kriegsbeil ausgegraben und griffbereit liegen gelassen. Man beschimpfte sich, man bedrohte sich, man denunzierte sich, man beschüttete sich mit Wasser und man bestahl sich. Zu-, Um- und Anbauten sowie die Räumung von Kellerabteilen und Dachböden wurden seitens Franz Stadlers ohne rechtzeitige Kenntnis178 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Bosch Anna (geb. 1912) – Günther Bosch (geb. 1908). 179 Vgl. StA B, NSDAP-Karteikarten groß: Surjaninoff Michael (geb. 1883), Surjaninoff Maria (geb. 1897).
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
nahme der Mieter durchgeführt, Mieten wurden von Seiten einiger Mieter nicht rechtzeitig entrichtet, und die Abend- und Nachtruhe schien nur auf dem Papier zu existieren. Die Polizei, Orts- und Kreisleitung waren über das Zinshausdrama bestens informiert. Eine Hausordnung sollte zumindest Orientierung schaffen.180 Nicht nur der Nationalsozialismus als politische Ideologie, sondern auch die NSDAP bzw. die Mitgliedschaft verloren langsam an Attraktivität. Der unstillbare Drang, dazuzugehören, ging merklich zurück, und Beitrittswellen wie in den Jahren 1938/39 waren verebbt. Parteibeitritte 1942 und danach waren mehr als zuvor einer ökonomischen oder beruflichen, jedenfalls weitaus weniger ideologischen Kalkulation unterworfen. Oder es handelte sich um Menschen, die seit Jahren im Status eines Parteianwärters stagnierten und nun endlich aufgenommen werden sollten. Zu ihnen hätte fast Rayonsinspektor Johann Budschedl gehört. Im August 1938 suchte er um den Parteibeitritt an, und dann hieß es warten. Als 1942 noch immer irgendwelche Bedenken ihm gegenüber bestanden, war er der Warterei überdrüssig und erklärte bei einer Vorsprache bei der Ortsgruppe Baden-Weikersdorf kurz und bündig, keinen Beitrag weiterhin zu zahlen, sowie auf eine Erledigung des Ansuchens keinen Wert mehr zu legen.181 Zusammenfassend: Etwas war faul im NS-Staat! Volksgenossen und einfache Parteimitglieder bekamen das Gefühl, unter die Räder zu gelangen. Die Zahl derer, die sich nicht ernst genommen und verraten fühlten, nahm unter den Anhängern zu. Dabei geht es hier nicht um irgendwelche Exzentriker und Gewalttäter, die auf ihre „spezielle“ Art ihren Kummer kundtaten oder über die Stränge schlugen, wie sie in den vorherigen Kapiteln Erwähnungen fanden. Hier begann es, in der Basis langsam aber doch zu bröckeln – siehe Bericht Hans Martinek. * Bleiben wir beim „Nicht-ernst-Nehmen“. Nicht ernst genommen wurden weiterhin der Luftschutz und die regelmäßig stattfindenden Bombenübungen. Im Mai 1942 machte Landrat Wohlrab darauf aufmerksam, dass nach einem Luftangriff die Stadtverwaltung mit Präsenz auf den Straßen zu glänzen hatte. Des Weiteren hatten alle Bürgermeister und sonstige zuständige Personen einen kompetenten Eindruck zu erwecken. Nichtpräsenz und Inkompetenz waren in solchen Fällen nicht tragbar. Für Baden bedeutete das, dass die Polizei den Badener Bürgermeister nach einem Fliegerangriff sofort über die Situation in Kenntnis zu setzen hatte und der Bürgermeister sich sogleich auf den Weg ins Rathaus machen musste, um dort seinen Ratsherren entsprechende Instruktionen zu erteilen. Für Schmid war das eine Selbstverständlichkeit, und er versicherte: Es ist somit Vorsorge getroffen, 180 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Stadler Franz (geb. 1889) – Olga Mandl (geb. 1890), Paula Spiegler (geb. 1887). 181 Sein Antrag wurde 1945 abgelehnt, 1947 dann angenommen. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Budschedl Johann (geb. 1907).
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um im Ernstfalle bei einem Luftangriff die der Leitung der Stadtgemeinde Baden im besonderen Falle zustehenden Aufgaben mit Erfolg durchzuführen.182 Im Jahre 1942 sollte Schmid noch nicht die Gelegenheit bekommen, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Dass Bombenangriffe passierten und deutsche Städte bis auf die Grundmauern niedergebombt wurden, war nicht unbekannt. Die Luftschutzübungen, die Luftschutzwarte, die Verdunkelung und vor allem die ausgebombten Flüchtlinge aus dem Altreich ließen bei aller Bagatellisierung der Bombengefahr bei einigen Volksgenossen dennoch ein mulmiges Gefühl zurück.183 Um das mulmige Gefühl in Angst und Panik zu transformieren, um darauf Hass gegenüber dem Feind gedeihen zu lassen, konnten verschiedene Methoden angewendet werden. Grete Prokopetz, Leiterin des Reichsluftschutzbundes (RLB) Baden, schoss dabei allerdings etwas über das Ziel hinaus. Sie setzte im September 1942 das Gerücht in die Welt, dass 50 Sowjetflieger das Kreisgebiet überflogen hätten. Sie streute dieses in ihrer Ortsgruppe, der NS-Frauenschaft, und berief sich dabei auf ihre vorgesetzten Dienststellen. Sie tat es deswegen, um die Bevölkerung der Stadt Baden zu einer intensiveren Beachtung der Verdunkelungsvorschriften zu bewegen. Als Leiterin der RLB hat sie sich von diesem Gerücht einigen Erfolg versprochen.184 Ängste und Sorgen waren die Folgen, beliebt hatte sie sich dadurch nicht gemacht. Weder bei der Bevölkerung noch bei der NSDAP. Dass Grete Prokopetz mit ihrer Aktion ein hehres NS-Ziel verfolgte, jedoch den falschen Weg einschlug, brachte ihr bloß eine Belehrung und Verwarnung ein. Von einem Parteigerichtsverfahren wurde abgesehen. Denn im Endeffekt wollte sie mittels Furcht und Panik den Badenern die Luftschutzthematik „näherbringen“ und lag damit eigentlich ganz auf parteiideologischer Linie. Grundsätzlich hatte der NS-Staat überhaupt kein Problem damit, mit Angst und Hass zu operieren, und Eigeninitiative war schön und gut, aber bitte abgestimmt und koordiniert. Denn Prokopetz‘ Aktion versetzte auch die örtlichen NS-Stellen in Unruhe, als plötzlich Volksgenossen panisch die Behörden stürmten und Auskunft über herannahende sowjetische Bomber verlangten. Noch war es grundlose Angst, die hier zu Tage trat. Noch immer konnte man den Luftschutz auf die leichte Schulter nehmen. Es sollte das letzte Jahr sein. * 1942 war ein sonderbares Jahr. Ein Blick in die Badener Zeitung, und wir finden uns militärisch auf dem Zenit der NS-Macht. Legte man die Zeitung beiseite, hatte man einen zugrunde gehenden Kurort. Es fehlte an allen Ecken und Enden, eine wachsende Unzufriedenheit bzw. Nüchternheit machte sich breit, und die Gefallenenzahlen stiegen und stiegen. Nur eines blieb offenbar unverändert, die schönen Künste blühten und gediehen in der biedermeierlichen Kur- und Operettenstadt. Während ansonsten überall der Sparstift angesetzt werden musste, der Mangel grassierte und eine Einschränkung der nächsten 182 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. III Luftschutz/Luftwaffe; 1941–1945. 183 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 6. 184 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Prokopetz Grete (geb. 1904).
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
folgte, schwebten über der Badener Kunst und Kultur Felix und Fortuna. Die Gaubühne sowie andere, seien es von Privaten, Vereinen, Parteistellen oder der Gemeinde organisierte Veranstaltungen und Aufführungen, blieben weiterhin eine Insel der kulturellen Seligkeit. Selbst ein Wechsel an der Spitze der Gaubühne tat dem Haus keinen Einbruch an Qualität und Quantität. Fritz Klingenbeck wechselte nach der Sommerspielzeit 1942 nach Brünn. Klingenbecks Nachfolger wurde Josef Hauschulz, der bereits als Spielleiter und Schauspieler an der Gaubühne gearbeitet hatte. Zuvor gab es noch eine prominente Neueinstellung: Der Max Reinhardt-Seminar-Absolvent Oscar Deleglise wurde als Schauspiel-Dramaturg angeworben. Darüber hinaus blieb die Beethovengemeinde höchst aktiv, das KdF war ebenso nicht untätig, und die Luftwaffe bewies, dass sie nicht nur etwas vom Luftkampf verstand, sondern genauso von der Blasmusik. Ein Großkonzert im Kurpark erklang, bei dem am 23. August 1942 über 250 Musiker für (laut BZ) 15.000 Zuhörer aufspielten.185 Krieg, Kunst und Kultur sollten vereint werden. Vor der propagandistischen Ausschlachtung waren nicht einmal die Blasinstrumente sicher. Denn in den Augen der NS-Propaganda waren Tuben, Hörner und Trompeten technische Meisterwerke, die dem fliegenden Kampfgerät nicht unähnlich waren, nur dass sie auf dem Boden ihre Effizienz unter Beweis stellten, während es die Messerschmitts, Junkers und Focke-Wulfs am Himmelszelt vollbrachten. Badens Kulturkalender hatte reichlich zu bieten: 125 Orchesterkonzerte, 47 Militärkonzerte, dazu Schauspiel, Operetten, Ballett, Kino, Kabarett usw.186 Erste Besichtigung der Stadt. Soldatenheim recht östlich, bzw. ostisch! Kino („Wenn du eine Schwiegermutter hast“,) Oper erster Güte. (Zigeunerbaron, Traviata usw.).187 Nein, das schrieb kein Soldat über die Ostmark, der sich in Baden auf Kur befand. Sie lasen Hans Meissner aus Stalino, Ende Juli 1942. Er teilte dieselbe Leidenschaft wie einige seiner Kameraden, die in Baden auf Kur weilten, im Theater saßen oder auf der Bühne ihr schauspielerisches Können zum Besten gaben. Soldaten spielten in der Kurstadt in Dramen, trommelten in Musikkapellen oder sangen in Chören mit. Front und Heimatfront überlappten sich und vermengten sich in der Kunst und der Kultur. Wir haben hier eine wunderbare Bühne, um auf die damalige Kunst-Krieg-Kultur Metaebene aufzuspringen, auf der mittels Pathos und Metaphern die NS-Propaganda virtuos zu spielen verstand. Denn Krieg war deutsche Kunst, deutsche Kultur, und die Kunst sollte an den Krieg erinnern, an die Soldaten an der Front, die irgendwo im Osten kämpften und fielen, für den deutschen Lebensraum und den deutschen Frieden. Solidarität und Symbiose, sei es über das Bühnenspiel oder die Verköstigung mit Feldküchengerichten von Montag bis Donnerstag. Es war auch gleichgültig, wer angestimmt wurde. Ob Beethoven, Mozart oder sonst einer der deutschen Meister, egal, ob das Requiem oder die Neunte, es waren Siegesfanfaren für die Front, für den „Endsieg“, für Führer, Volk und Vaterland. Es war Eskapismus in Reinkultur, um weiterhin das Wort Kultur zu bemü185 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 33–38. 186 Vgl. BZ Nr. 91 v. 14.11.1942, S. 3. 187 ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 11.
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hen. Und weil wir schon beim Thema sind, wechseln wir wieder in die russischen Steppen zurück, wo sich die feindliche Schlinge immer enger zuziehen sollte.
Stimmen aus dem Osten Während seine Heimatstadt Baden mitten in der Kursaison stand, machte sich im Juni 1942 Hans Meissner für die Abfahrt an die russische Front bereit. Mit im Gepäck: 17.07. Kriegsbeute: Goethes u. Schillers Gedankenlyrik in d. Schulausgabe […].188 Am Abend des 23. Juli kam er in Kiev an. Im Waggon ertönte von irgendwoher die Vierte von Beethoven. Der Dnjepr hatte es ihm besonders angetan. Großer Eindruck einer Mondstimmung über dem Riesenstrom […]. Ein impressionables Gemüt, das politisch passiv sich verhält, muss sich erdrückt fühlen von diesem Riesenhaften, Löwenhaft-Selbstverständlichen, dem Strom, der unendlichen Weite, der Steppe, der Wälder. Aber es lockt auch. […]. Die Begeisterung und die Lust, es aufzuschreiben, schienen ihn dermaßen überwältigt zu haben, dass er, als er sein Tagebuch nachträglich mit Kommentaren ergänzte, Folgendes hinzufügte: 189 Angetan von der russischen Landschaft und insbesondere von ihrer schieren Größe, war bei Gott nicht nur Hans Meissner. In zahlreichen Soldatenbriefen wird die Geographie der Sowjetunion imposant-verklärend hervorgehoben. Der Badener SS-Rottenführer Ernst Jahnel war im September 1941 fasziniert von den geographischen Ausmaßen und dem Bevölkerungsreichtum des sowjetischen Imperiums. Dass Russland groß ist, kann ich mich erinnern in der Schule gelernt zu haben, dass außer Ural und Kaukasus fast keine Berge sind, ist auch noch haften geblieben, dass es viele Russen gibt, haben wir aus Erzählungen der Weltkriegssoldaten erfahren, usw., aber dass es so groß ist, so eine ermüdende Ebene gibt, und so viele Russen gibt, haben wir erst hier feststellen müssen. Er zeigte sich auch erstaunt, dass der Sowjet dermaßen aufgerüstet hatte und über ein so gewaltiges Reservoir an Menschenmaterial verfügte. Bestürzt war er hingegen über die Zustände in der Ukraine und deren Bevölkerung. Unvorstellbar ist auch, dass die Ukrainer so arme Hunde sind, hier wo alles so leicht und vielfach wächst, bitten uns die Leute um Brot für ihre Kinder. Zerfetzt, zerlumpt und verlaust laufen die Leute herum. […] Die Leute fürchten sich vor dem Winter, und ich kann es ihnen nachfühlen. Wir brauchen schließlich auch etwas zum Fressen, Viehbestand ist sehr gering, mit gewöhnlichen Stecken „dreschen“ sie Getreide. Armes Volk.190 Etwas ungewöhnliche Worte aus der Feder eines SS-Rottenführers. In seinem Brief riss er auch die zukünftige deutsche Besiedelung und Bewirtschaftung dieses riesigen Landes an. Die Herrschaft über russische Städte und die Kolonisation über 188 Ebd. S. 10. 189 Ebd. S. 11. 190 Vgl. StA B, GB 052/Parteiformationen III; Fasz. II SS; Korrespondenz 1941 – Ernst Jahnel (geb. 1908).
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das weite russische Land, wie sie die NS-Propaganda predigte, schwirrten in zahlreichen Soldatenköpfen umher. Viele sahen sich bereits in der Herrenrolle von Junkern, Grenzern und Kolonialbeamten, die den wilden Osten zähmen, zivilisieren und bewirtschaften würden. Meissners erster Gedanke war da ein anderer und sein späterer Nachtrag ebenso. Der Deutsche müsste viel lebenskräftiger, natürlicher, primitiver werden, wollte er das Gigantische erreichen, das hier zu erreichen ist und wozu sie zweifellos kräftemäßig imstande ist. 191 Der Briefverkehr zwischen Front und Heimatfront funktionierte 1942 tadellos. Meissner hielt in seinem Tagebuch fest, drei, vier, fünf oder gar sechs Briefe auf einmal erhalten oder entsendet zu haben. SS-Untersturmführer Hans Zisser konnte sich zahlreicher „Brieffreunde“ bzw. schreibender Badener SS-Kameraden erfreuen, wobei es ihn noch mehr freute, wenn ein alter Kumpan seinen Fronturlaub in Baden zubrachte – dann gab es viel zu erzählen. War dem nicht so, war er gerne bereit, schriftlich Auskunft zu geben, was so alles in der Heimatstadt vor sich gegangen war. Seiner Einschätzung nach hatte sich nichts geändert, die üblichen Stimmungsschwankungen. Das Meckern der anderen trübte zwar sein Gemüt, dafür verschafften ihm Frontberichte Gleichgesinnter, die „Endsiegstimmung“ versprühten, emotionale Linderung. Wahrlich bitter und nicht einmal mit Heldengeschichten von der Front zu versüßen war jedoch, dass als einziges kleines Übel von allen SS-Kameraden in Baden hingenommen werden [muss], weil das Weinderl auch hier eine Rarität geworden ist.192 Sein Adressat, SS-Rottenführer Hermann Willsch, zeigte Anteilnahme, denn auch bei ihm in Bayern neigte sich im August 1942 der Traubensaft dem Ende zu. Bei uns hier ist er auch noch knapper aber hin und wieder erwischt man auch ein Viertel und dann schmeckt es doppelt so gut. Auf erfreulichere Gedanken brachten ihn offensichtlich zwei kürzlich stattgefundene Ereignisse. Ich war u. a. vorige Woche in München-Dachau und habe mir bei dieser Gelegenheit auch das Lager angeschaut. Ich kann dir nur sagen, einzig dastehend auf der Welt. Dass ich Zuwachs bekommen habe, wirst du, glaube ich, vom Fritz schon erfahren haben.193 Neben Tagebüchern und Feldbriefen haben wir als Quelle die Badener Zeitung, die in jeder Ausgabe, zumeist auf der ersten Seite, „Kriegsberichterstatter“ zu Wort kommen lässt – die natürlich mit Vorsicht zu genießen sind. NS-ideologisch aufgeladene Artikel preisen den soldatischen Wagemut und strotzen nur so vor Todesverachtung. Heldenepisch werden abgebrühte Offiziere beschrieben, die mit markigem Spruch auf den Lippen und lässig die Zigarette wegwerfend dem Tod trotzten, dabei von ihren Männern angehimmelt wurden, die ebenso, im Gegensatz zu ihrem sowjetischen Gegenüber, mit herrenmenschlichen Attitüden durchdrungen waren. Was beim bolschewistischen Soldaten tierhafte Sturheit ist, ist beim deutschen Soldaten überlegener Gleichmut.194 Die Kriegsberichterstattung in der Badener Zeitung war voller prachtvoller Siege, to191 192 193 194
ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 11. StA B, GB 052/Parteiformationen III; Fasz. II; Korrespondenz 1942 – Feldpostbrief (30.07.1942). Ebd. – Hermann Willsch (geb. 1910) an Zisser (09.08.1942). BZ Nr. 63 v. 08.08.1942, S. 1.
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taler Aufopferung, erbitterter Kämpfe Mann gegen Mann, voll vom süßlichen Kadavergeruch auf unseren Lungen und von Läusen und Dreck, vom Gegner und seinen unmenschlichen Grausamkeiten, von Heckenschützen und Flintenweibern. Der Krieg in dem Lokalmedium glich einem Kriegskonzert nur wie das tändelnde Gezwitscher leichter Piccoloflöten.195 Konzert, Kunst, Kultur? Ein aufgelegter Übergang zu Hans Meissner. 05.08. Abends im ‚Zigeunerbaron’. Tadelloser Eindruck der erstklassigen Stimmen (Reservoir für den Westen.).196 Man sieht hier, was dem Mann wichtig war. Auch die Kulinarik durfte nicht zu kurz kommen. Das Essen vor Ort beschrieb er meistens als gewöhnungsbedürftig, und so war jedes Essenspaket, das aus der Heimat kam, einen Eintrag wert. Neben den Briefen zirkulierten Pakete ebenso problemlos zwischen Heimatfront und Ostfront. Der Kuchen zwar hart u. zerbröselnd, aber mit einem unvergleichlichen, unzerstörbaren Geschmack, einem schon anwehenden Duft, der beinahe frappiert.197 Oder die „Kokosbusserln“ - geschmacklich unversehrt, wenn auch zerbröselt.198 Doch nicht nur sein Magen brauchte Nahrung, auch sein Geist. Jetzt schreibe ich endlich um Lektüre.199 SS-Rottenführer Ernst Jahnel schrieb nichts über Kuchen und Ähnliches. Ihm tat es leid, dass er nicht bei der Geburt seines Kindes dabei sein konnte. Er bat auch nicht um Bücher, sondern um einen Gefallen. Wenn Pipi nun einen kleinen „herzigen“ Raben bekommt, ich werde ja wahrscheinlich (99,99 %) nicht zuhause sein können, besorgt einen Riesenbuschen schönster Blumen. Aber beim Kauf bitte nicht Lily schicken, die hat eine bestimmt gute Seele, aber schottische Anwandlungen; hat sich auch inzwischen herumgesprochen. Die Scheinermutter ist da schon viel großzügiger, noch dazu wenn es nicht um ihr Geld geht.200 Ein Rudi aus Baden, der seinem Kameraden Hans Scheiner schrieb, bat um regen Schriftverkehr, denn du hast keine Ahnung, wie viel Interesse es für uns heraussen zu erfahren, dass der eine oder der in den Hafen der Ehe einlief, gestorben oder geboren wurde usw. All diese geringfügigen Ereignisse in der Partei, die Meinungen der Daheimgebliebenen interessieren den, der derzeit ganz von diesem Getriebe ausgeschaltet ist, mehr als die Ereignisse heraussen. Und was begierig erwartet wurde: Nun, was mich betrifft, bin ich gesund, aber willst Du Deinen Freund noch retten, schicke ihm Zigaretten. Die Papirosu, die wir hier erhalten, sind ein Dreck, und da muss man noch froh sein, dass man diese hat.201 Es waren Banalitäten, die da zwischen Baden und dem Osten schriftlich und gedanklich kursierten, aber auch Formalitäten. Den in Russland kämpfenden Soldaten wurde zwar Heldenverehrung und Verklärung zuteil, was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht einer politischen und moralischen Beurteilung unterzogen werden konnten, wenn es die Situation 195 BZ Nr. 85 v. 24.10.1942, S. 2 und BZ Nr. 93 v. 21.11.1942, S. 2 und BZ Nr. 76 v. 23.09.1942, S. 1. 196 ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 11. 197 Ebd. S. 12. 198 Ebd. S. 14. 199 Ebd. S. 12. 200 StA B, GB 052/Parteiformationen III; Fasz. II SS; Korrespondenz 1941 – Ernst Jahnel (geb. 1908). 201 StA B, GB 052/Personalakten: Scheiner Hans (geb. 1908).
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erforderte. Selbst SS-Rottenführer Hermann Willsch oder SS-Sturmmann Josef Wessnitzer mussten ihre Illegalität nachweisen, wenn dieser Nachweis aus welchen Gründen auch immer nicht aufzubringen war. Letzterer war gerade an der winterlichen Ostfront und hatte wahrscheinlich anderes im Kopf als seine Illegalitätsanerkennung. Für Zisser war dessen Illegalität glasklar, ein alter Kamerad alter Schule, aber Vorschrift war Vorschrift. Er riet Josef Wessnitzer, sich an seinen ehemaligen SS-Sturm in Berndorf zu wenden, um die benötigten Formulare zu erhalten.202 Beurteilungen, Aufnahmebögen, sonstige Bestätigungen und die darauf jeweils folgenden Antwortschreiben von der Front an die Heimat und umgekehrt wurden da über Entfernungen von tausenden an Kilometern hin und her geschickt. Den niedergeschriebenen Wahrnehmungen aus dem Osten ist Diverses zu entnehmen. Die Schwerpunktsetzung war sehr individuell. Natürlich konnte man nicht alles schreiben, selbst wenn nicht jeder Briefinhalt kontrolliert werden konnte. Trotzdem war Vorsicht geboten. „Der Rudi aus Baden“ rechtfertigte sich deswegen für die Inhaltslosigkeit in seinem Brief wie folgt: Jetzt wirst du natürlich wieder dein freches Maul wetzen und meinen, der Kerl verschreibt eine ganze Seite, und dann, wenn man den Dreck liest, hat er eigentlich nichts von Belangen geschrieben. Nun vielleicht hast du recht, aber du musst eben zwischen den Zeilen lesen, denn wenn ich deutlicher schreibe, könnte der Fall eintreten, dass dich der Brief gar nicht erreicht, denn wir leben im Krieg (falls es dir nicht selbst aufgefallen ist), und da muss man vorsichtig mit dem Briefpapier umgehen. Er ahnte, dass sein Gegenüber sicher viele Fragen hatte, wie es denn zum Beispiel so aussehe, mit dem System Bolschewismus. Eindeutig zweideutig fiel auch die Antwort aus. Wenn du die Zeitungen liest, so bekommst Du ja genug Schilderungen dieser Art aufgetischt, und kann ich Dir nicht mehr sagen, als dass diese Schilderungen stimmen und ich nichts hinzufügen kann. So schön kann ich es an und für sich nicht bringen wie die berufsmäßigen Federfüchse, und hätte ich etwas zu sagen, so kann das nur mündlich geschehen, Du kennst ja mein loses Maul.203 Der Mann adressierte seinen Brief vom Oktober 1941 an die „Liebe Saubande“ zu Hause. Stationiert war er irgendwo im Osten, jedenfalls nicht an der unmittelbaren Front, denn Kampfhandlungen, so berichtete er, fanden in seinem Abschnitt kaum statt. Vereinzelt tauchte ein feindlicher Flieger am Himmel auf, ansonsten Leerläufe, Langeweile und dadurch die Möglichkeit, viel nachzudenken – und seine Briefe auf einer Schreibmaschine abzutippen. Das war nicht immer von Vorteil, diese Langweile, denn aus Langweile konnte einen das Grübeln überkommen, und das Grübeln konnte tückisch sein. Man hinterfragte, zweifelte, resümierte, analysierte und reflektierte – für die Kampfkraft war so etwas nicht von Vorteil. Vereinigung in Vorderasien? Wo blieb die und die Vernichtung der Hydra? Das fragte sich Hans Meissner, als es immer weiter Richtung Osten für ihn ging. Er stellte sich viele Fragen, und die Friedrichs, wie ein Schiller oder Nietzsche, schienen teilweise Antworten zu liefern. Meine Gefahr ist gewiss nicht die geistige Krüppelhaftigkeit, die ich so erschütternd in unserer 202 Vgl. StA B, GB 052/Parteiformationen III; Fasz. II SS; Korrespondenz 1942 – Josef Wessnitzer (geb. 1917). 203 StA B, GB 052/Personalakten: Scheiner Hans (geb. 1908).
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Hochschulfachschaft antraf, sondern die Labilität meiner wissensaneignenden, nicht-eindringenden Kräfte […].Den Gedanken kommentierte er nachträglich: Die Introvertiertheit, die aus den Aufzeichnungen spricht, ist auch Folge des langen Nichtstuns während mancher, beileibe nicht der ganzen Dienstzeit am Gerät, die zum Grübeln verführt.204 Etwas einfacher waren da die Gedankengänge des Briefschreibers Rudi. Überhaupt wie ich schon immer behauptet habe am schönsten ist doch die Ostmark, dabei bleibe ich auch jetzt nachdem ich große Teile unseres Reiches vom äußersten Westen bis zum „östlichsten“ Osten „bereist“ habe.205 Und die „Kriegsberichterstatter“ in der Badener Zeitung waren da sowieso sehr geradlinig unterwegs. Und jeder, der da sagt: „Wenn es mir bestimmt ist…“ meint richtig: „So kann mich Tod und Teufel nicht davon abbringen: Ich tue, was ich tun muß!“206 * Am 20. September 1942 brach Hans Meissner von Stalino über das Asowsche Meer Richtung Kaukasus nach Stawropol auf. Die Stadt faszinierte ihn, sie hatte in seinen Augen einen russischen und orientalischen Charakter, mit ihren Basaren, Kamelen und Menschen, die am Boden saßen und seinen Ohren schmeichelten, denn sie sprachen teilweise ein wunderbares Moskauer Russisch. Der äußeren Wahrnehmung folgte die innere gar impressionistische Verarbeitung. 17.10. Viele Berichte bin ich schuldig und eine schwere Rechenschaft - dennoch schweig ich auch jetzt. Ist es das östliche Monstrum, das mir über das Maul gefahren ist? Seine Landschaft, seine Zivilisation, seine Sprache ruinierten mir die entsprechende (der zur Objektebene korrelierenden) Rezeption Fähigkeiten und infolge der perversitätsdeklinativen Beschaffenheit meines Charakters hält sich die Bereitschaft nur noch durch den Trotzdem-Komplex aufrecht. Nun hat es mein corpus ohne direkte Affektion derart unter die Grenze des Normalen geworfen, dass - ein einmaliger Vorgang in Vater Preußens Kinderstube - in zweimaliger direkter Apperzeption nicht nur unter das Niveau der Dienstfähigkeit, sondern sogar reif der ...onität von Fällen ausgesprochen viktimern Charakters für würdig befunden wurde. Mihi probatum est. Sein nachträglicher Kommentar: 207 Nicht so verklausuliert und verkopft, jedoch nicht weniger episch-dramatisch, waren da wieder die Badener Zeitung und ihre Kriegskorrespondenten – egal, was beschrieben wurde. Auf dem höchsten Gipfel des Kaukasus, dem Elbrus (5633 m), so die BZ, war bereits die Hakenkreuzflagge gehisst worden – bayerischen Gebirgsjägern sei Dank. Zuvor ein Wettkampf um die Bergspitze, ein Anrennen gegen Schnee, Sturm, Nebel und den Bolschewismus, der zeitgleich von der anderen Seite hinauf gestürmt sein soll. Diese Dramatik wurde wie folgt dargeboten: Der Firn unter unserm Eisen ist glashart. […] Der 204 205 206 207
ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 14. StA B, GB 052/Personalakten: Scheiner Hans (geb. 1908). BZ Nr. 63 v. 08.08.1942, S. 1. Vgl. ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 16.
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
Orkan drückt uns auf den schwarzen Felsen nieder. […] Das Blut kocht in den Schläfen, in den Fingern, es hämmert überall. […] Die Pickeln hämmern, dass die Schollen spritzen. […] Die Reichskriegsflagge ist entrollt. Mit gespreizten Beinen stemmt sich ein Oberfeldwebel gegen die Windgewalt. Rot knallt und flattert sie zu unseren Häuptern, die wir im Firn hängen und mit Eis raufen. […] Er trägt uns voran mit eisernen Fäusten und heißen keuchenden Lungen. Er lässt sich umwerfen von brausenden Lüften,[…]. Dann bricht ein Schrei aus, zerrissen zwar von dem jagenden Heulen, ein Jodler so voller wilder Freude…208 Falls Sie erst jetzt zugestiegen sind, hier wurde eine Bergbesteigung beschrieben – wenn auch nur durch einzelne, von mir herausgehobene Passagen. Hans Meissner war auch am Kaukasus. Vergleichbares hatte er nicht erwähnt – wie so manch anderes. Ein interessanter Aspekt, was eben nicht für die Nachwelt niedergeschrieben wurde. Bei ihm zum Beispiel fehlte ein ganz entscheidender Faktor – die Gewalt. Wenn sie vorkam, dann durch die Blume. Als Ende Oktober ein neuer Schichtführer in seiner Einheit sein Stell-dich-ein gab, charakterisierte ihn Meissner als einen 5-Ender. Der Mann hatte fünf Dienstjahre hinter sich, ohne zum Unteroffizier befördert worden zu sein. War, glaube ich, Schwabe und brüstete sich mit seinen erotischen Abenteurern in aller Welt, der, obwohl Intelligenzler, durch seine lange Passionszeit den letzten Rest an geistiger Beweglichkeit, um nicht zu sagen, Menschlichkeit, eingebüßt hat.209 Andere Badener waren da nicht so zurückhaltend, wie die SS-Männer Hermann Willsch und Hans Zisser. Was mich betrifft, so bin ich gesund und nach wie vor immer den Banditen hinterher, die hier in meinem neuen Jagdgebiet sehr zahlreich vorhanden sind. Meine Familie ist auch gesund, was ja die Hauptsache ist, wenn man nicht selbst daheim ist. Erwähnung fanden noch zwei atemberaubend schöne Seen und dass es genug zu essen und zu rauchen gab. Zisser antwortete mit: Dich im Osten bei der Arbeit zu wissen, macht mir gerade Freude. Ich glaube dir gerne, dass es für alle Beteiligten etwas Schmerzliches sein muss, den Rückgang da draußen mitzumachen. Wir wissen aber, dass es vom Führer so befohlen wurde, und dann haben wir eben uns keine weiteren Gedanken zu machen.210 Der Briefwechsel fand im Herbst 1943 statt. Explizit auf Details wurde hier nicht eingegangen, aber wir lesen hier von einer als legitim empfundenen Menschenjagd bzw. „Untermenschenjagd“ unter dem begrifflichen Deckmantel „Banditen“. Zugleich lesen wir von einem sich sorgenden Vater und einem totalen Führervertrauen. Gewalt und Brutalität waren allgegenwärtig, schließlich führte man im Osten einen Vernichtungskrieg gegen die Träger einer bzw. der feindlichen Ideologie schlechthin. Das Grauen war Ziel und Alltag, man traf es auf Schritt und Tritt an, und es passierte so ganz nebenbei, so wie im März 1942, ungefähr 80 Kilometer von Charkov entfernt. Der Sooßer Leopold Kratochwill fuhr damals in einem LKW in Richtung Charkov an einer Heide vorüber, als plötzlich eine ihm nicht unbekannte Stimme auf sich aufmerksam machte. Es 208 BZ Nr. 73 v. 12.09.1942, S. 1. 209 ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 16. 210 StA B, GB 052/Personalakten: Willsch Hermann (geb. 1910).
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war der Badener Alois Petrakowits. Leopold Kratochwill war sichtlich überrascht, und ich sah auch, dass sich dortselbst eine Hinrichtungsstätte befand und 6 oder 7 Zivilisten aufgehängt waren. Ich fragte Petrakowicz spaßhalber: „Falott, hast es eh Du aufgehängt?“ Was mir Petrakowicz darauf zur Antwort gab, weiß ich heute nicht mehr. Dafür erinnerte sich der Gefragte bei seiner Vernehmung nach 1945: „Siehst eh was ich hier machen muss!“, gab er zu Protokoll, und: Ich selbst habe an den Exekutionen nicht teilgenommen und habe lediglich während der Exekution Wache gestanden.211 Das lag nicht im Bereich des Unmöglichen. Der Historiker Christopher R. Browning schreibt in seinem Buch „Ganz normale Männer“, dass es durchaus möglich war, den Scharfrichter-Posten abzulehnen und stattdessen Wache zu stehen, ohne dass drakonische Disziplinarstrafen zu befürchten gewesen wären. Im Falle von Petrakowits kam jedoch erschwerend hinzu, dass er sich schon 1939 im Gasthaus Rubel in der Friedrichstraße laut Ignaz Adler damit gebrüstete hatte, in Polen Juden aufgehängt zu haben. Der Osten bot vieles. Tod, Gewalt und Kriegsverbrechen, die Möglichkeit, Ruhm und Ehre einzustreichen, wie auch Opernaufführungen auf hohem Niveau – immer abhängig davon, wen man fragte und wer was zu Papier brachte. Gemeinsam war den Allermeisten die Faszination für die russischen Weiten und die Beschreibungen der periodisch bedingt aufkommenden klirrenden und eisigen Kälte. Und der Winter 1942 nahte. * Am Anfang vom Ende stand Stalingrad. Dabei hatte es doch so gut ausgesehen. Im September 1942 berichtete die Badener Zeitung, dass sich die schweren Kämpfe um Stalingrad dem Ende zuneigten. Siegestaumelnd wie man war, quoll ein epischer Hymnus daher, wo am fernen Horizont der weiten Donsteppe versinkt der Sinnenball hinter den Schleiern dichter Staubwolken. Das Abendlicht glüht rot und flammend und breitet sich dann wie ein feuriger Schleier aus, ehe die Dämmerung jäh und plötzlich hereinbricht. Die ersten Sterne schimmern, dann ziehen sich die stahlgrauen Wolken wie Batikmuster zusammen. Die zarte Sichel des zunehmenden Mondes schimmert wie ein Lichtshauch aus Filigran. Beißender Qualm zieht über die Hänge und rundum züngeln die Flammen glosender Brände wie riesige Wachtfeuer auf.212 Im Oktober berichtete die Badener Zeitung, dass die Truppen Stalingrad von Norden aufgerollt hatten. Der Sturm auf das Traktorwerk Dshershinski stand kurz bevor.213 Der Bolschewik lag am Boden. Der Sieg war zum Greifen nahe. Der medial verbreitete Heroismus sollte in der Kurstadt auf keinen Fall zu kurz kommen. Dennoch, in Baden wurde man bescheidener, die Stadtführung wurde bescheidener, Bürgermeister Schmid wurde bescheidener. 211 StA B, GB 052 Personalakten: Petrakowits Alois (geb. 1913) – Leopold Kratochwill (geb. 1900), Ignaz Adler (geb. 1883). 212 BZ Nr. 76 v. 23.09.1942, S. 2. 213 Vgl. BZ Nr. 85 v. 24.10.1942, S. 1.
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
Ende des Jahres kam das Thema Eingemeindung aufs Tapet. Die Nachbargemeinde Traiskirchen erkundigte sich, ob bei der Kurstadt das Interesse bestehe, die Ortschaft Tribuswinkel einzugemeinden. Die Kurstadt zierte sich. Der östliche Teil des Wiener Neustädter Kanals galt der Kurstadt als uninteressant.214 Viel mehr wurmte Schmid im November 1942 die räumlich-industrielle Expansion Traiskirchens, die die biedermeierliche Kurortidylle Badens bedrohen würde. Ein Grüngürtel musste gewährleistet werden, der die Kurstadt von den aufziehenden Traiskirchen’schen Industrieschloten abschirmen würde – wir erinnern uns, der berüchtigte Industriering! Dafür, so Schmid, in fast schon feudaler Länderschacher-Manier des 18. Jahrhunderts, könnte Traiskirchen sowohl Tribuswinkel als auch Oeynhausen eingemeinden. Baden werde kein Veto einlegen.215 Die Kurstadt hätte sich dafür mit Pfaffstätten und Sooß schadlos gehalten. Schmids Großzügigkeit gegenüber Traiskirchen hatte 1939 noch anders ausgesehen. Damals antwortete die Stadtführung auf eine Gau-Anfrage bezüglich möglicher Eingemeindungen noch mit einem eindeutigen Ja. Auf dem Wunschzettel standen Pfaffstätten, Sooß, Tribuswinkel und Oeynhausen.216 Pfaffstätten wurde im Sommer 1943 tatsächlich eingemeindet, während den Sooßern von Anfang an die schützende Hand der Reichstatthalterei ihre Unabhängigkeit sicherte sowie ein Grüngürtel bzw. Weinrebengürtel. An sich war gegen Zusammenlegungen von Gemeinden nichts einzuwenden, wenn die Gemeinden bereits geschlossene Einheiten bildeten, was bei Baden und Sooß nicht zutraf, und deshalb, so die Landeshauptmannschaft Niederdonau, eine Vereinigung erwähnten Gemeinden derzeit nicht in Frage kommt.217 Bescheidener bzw. ruhiger wurde es auch um Alois Brusatti. Einigermaßen erholt, begann er darüber nachzudenken, ob es nicht Zeit wäre, sich an der Universität zu inskribieren. Jus, Geschichte, Wirtschaftswissenschaften, hier lagen seine Interessen, doch die Wehrmacht machte seiner akademischen Laufbahn einen Strich durch die Rechnung. Sein Gesuch, ein Studium beginnen zu dürfen, verschlampte der Amtsschimmel, dafür erreichte ihn der Verlegungsbefehl als Ordonanzoffizier (Gehilfe eines hohen Offiziers) nach Frankreich – erstmals nach Nancy. Weitere Standorte waren Toul und Epernay an der Marne, mitten in der Champagne. Dort war er zuständig für die Offiziersnachwuchsausbildung. Weitgehend war alles business as usual. Hier und da ein paar Leerläufe, unterbrochen durch eine Handvoll Luftangriffe.218 Stürmischer wurde es in der Liebe. Es kam zu einer temporären Verlobung mit einer gewissen Anni. Als er mit ihr seiner Heimatsstadt die Aufwartung machte, war die Familie wenig begeistert. Seine Auserwählte war keine Ostmärkerin, sondern eine Altreichsdeutsche. Dafür wurde die Verwandtschaft mit einer Ladung an Lebens- und Genussmitteln entschädigt. Im Gegensatz zu Baden hatte die Champagne noch genug zu bieten. Für kurze Zeit lebte man einen üppigen Alltag. Aber beziehungs214 215 216 217 218
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 11. Vgl. StA B, GB 340/Baupolizei I; Fasz. III 1936–1945; 1942. Vgl. ebd.; 1939. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz: September 1938. Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 39.
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technisch begann es zu kriseln. Was in der Garnison getaugt hatte, wurde in der gewohnten Umgebung schwieriger… Grundsätzlich beschrieb Brusatti die folgenden zwei Jahre – von November 1942 bis zu seiner Kriegsgefangenschaft September 1944 war er Besatzungssoldat in Frankreich – als weitgehend unproblematisch. Er kurierte sich restlos aus, wurde zum Oberleutnant befördert, betrieb etwas Sightseeing, pflegte mit den Einheimischen kaum Kontakte, hatte aber auch keine Probleme mit ihnen. Ich blieb weiterhin Adjutant, führte meinen Stab, leitete die Offiziersnachwuchsausbildung, trank den guten Champagner und begann zu reiten, was mir viel Spaß machte.219 Tausende Kilometer östlich der Champagne konnte Hans Meissner von Champagner und ähnlichen Luxusartikeln nur träumen. Selbst wenn es einen gegeben hätte, den edlen Tropfen hätte er nicht lange bei sich behalten. Ende Oktober schrieb er noch zufrieden, es seien Wintersachen in reichlichen Mengen eingetroffen. Der Leib sollte nicht frieren, dafür litt er anderweitig. Nun ist der Appetit, nach einer kurzen Hochsaison am Hund und der Urin bierbraun. Die Diagnose: Hepatitis. Regungslos verharrend merke ich kaum den Unterschied von Tag und Nacht. Eben jetzt wirkt sich die Massenkrise dieser Krankheit auf das bislang noch beachtliche Qualitätsniveau der Diät-Kost aus, die tagelang furchtbar ist. Der Küchen-Uffz., ein exzellenter Kerl, wird selbst Opfer - ade, gutes Essen.220 So sehr seine Psyche und Physis auch angeschlagen waren, er blieb vor Ort. Andere hatten Glück und wurden von der Front abgezogen, zum Beispiel mit dem Leichtkrankenzug „Platz“ der Befehlsstelle Mitte Richtung Warschau, bestehend aus 18 Wagen, davon 14 Verwundetenwagen. Was der mit Baden zu tun hatte? Der zuständige Ober- und Chefarzt fragte bei der Stadtgemeinde im August 1942 nach, ob er das Stadtwappen als Zugszeichen führen dürfte. Für Schmid eine Selbstverständlichkeit. Wappen, heraldisches Hintergrundwissen sowie ein Dank für die Ehre wurden anstandslos gen Osten entsandt.221 Warum das Ganze – keine Ahnung! Kuriositäten dieser Art waren Hans Meissner wohl ziemlich egal. Trotz Hepatitis gab es wenigstens ausreichend Winterkleidung an seinem Frontabschnitt. Dank galt unter anderem den Wintersammlungen der Heimatfront, kuratiert durch die NS-Frauenschaften. Die Frauen blieben weiterhin eine entscheidende sozial-karitative Stütze des NS-Regimes. Regelmäßig wurde die Arbeit der Kreisfrauenschaftsleiterin Maria Hendrich, wie auch der gesamten NS-Frauenschaft, lobend hervorgehoben und mit Dank überschüttet. Sei es wegen der Weihnachtsbetreuung für Kinder eingerückter oder gefallener Soldaten, der Spielzeugsammlungen für Kinder, der Lazarettbetreuung, der Verköstigung und der Bewirtung ihrer männlichen Kameraden oder der Abhaltung von Weihnachtsmärkten.222 Daneben geriet noch die Erntehilfe verstärkt in den Fokus. Die Frau stand ihren Mann, um ein plumpes Sprücherl ins Spiel zu bringen, was wiederum bedeutet, dass die Latte 219 220 221 222
Ebd. S. 39. ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch, S. 17. Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1941–1945. Vgl. StA B, GB 052/Parteiformationen I; Fasz. II NSF/DFW Korrespondenz; Dez. 1942 und Parteiformationen III; Fasz. II SS; 1942.
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für den Mann höher gelegt worden war. Männer, wie es Hans Meissner schilderte, die es kaum schafften, die Latrine rechtzeitig aufzusuchen, so ein Soldatenbild wollte man an der Heimatfront nicht haben. Was würden sich da bloß die Mütter und die Ehefrauen denken? Von Hepatitis, Durchfall und Erbrochenem war in der Badener Zeitung nichts zu lesen. Mit solchen Männern war kein Heldenepos zu schreiben. Die Presse reagierte mit den bekannten Durchhalte-, Kampf- und Sparparolen und dem Nicht-Berichten über bestimmte Ereignisse.223 Und hier lag eine gewisse Problematik. Die Propaganda der letzten Jahre wurde mit der festgefahrenen Offensive und dem sich anbahnenden militärischen Debakel in Stalingrad auf dem falschen Fuß erwischt. Die Ankündigungen, dass das jüdisch-bolschewistische Sowjetimperium am Ende war, musste einer Revision unterzogen werden. Was früher heldenhafte, strategische und taktische Meisterleistungen, vernichtende Zangenangriffe, Kesselschlachten und geniale Vorstöße weit ins Feindesland gewesen waren, wurde nun zu taktischen Rückzügen umkonstruiert. Um das Ganze noch plausibler zu machen, musste irgendwie der Jude eingebaut werden, der stets irgendwo im Hinterhalt lauerte. Allerdings war hierbei Mäßigung von entscheidender Bedeutung. Schließlich hatte man das Judentum vor Ort tatsächlich und das bolschewistische Judentum in Russland zumindest medial vernichtet und plötzlich, ganz aus dem Nichts, hielt der Erzfeind den Vorstoß auf und ging sogar in die Offensive! Um propagandistisch Meter zu machen, konnte die NSPropagandamaschinerie mit Rückgriffen auf Vergangenes punkten. Der Krieg als Ganzes wurde als jüdisch betrachtet, der Kriegsausbruch als jüdische Verschwörung, jüdische Anstiftung und weitere antisemitische Absurditäten. Dann gab es neben der Vergangenheit einen Blick in die Zukunft. Hier winkte die jüdische Rache, falls der Krieg verloren gehen würde.224 Welch propagandistischen Kniff man auch anwendete, die sich anbahnende militärische Katastrophe im Osten ließ sich nicht wegschreiben, umdeuten oder gar verbergen. Gerüchte erhärteten sich. Einzelne Rückeroberungen und andere Erfolge, so die Berichte der Gestapo, brachten zwar einen kurzfristigen Stimmungsaufschwung, doch im Endeffekt überwog die Gleichgültigkeit bzw. fragten sich die Menschen, wann denn der Frieden endlich käme.225 Hier sprang die Badener Zeitung regelmäßig in die Bresche und beanstandete die aus ihrer Sicht falsche Fragestellung. Wie lange der Krieg noch dauern würde, sei unerheblich. Viel eher hätte man zu fragen, wann käme der Sieg bzw. diese Frage war ebenso obsolet, denn das wusste schließlich niemand, aber er würde kommen, weil das deutsche Volk zum Siegen und Herrschen auserkoren wäre.226 Das Phrasendreschen und die sonstigen publizistischen Verrenkungen um taktische Rückzüge konnten die bestehende Skepsis 223 Vgl. WOLKERSTORFER Otto, Baden 1943. Der totale Krieg. Einzig die Kultur belebt (Baden 2003), S. 3–8. 224 Vgl. LONGERICH Peter, „Davon haben wir nichts gewusst!“. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945 (Bonn 2006), S. 55f. 225 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 216. 226 Vgl. BZ Nr. 12 v. 08.02.1941, S. 1 und BZ Nr. 50 v. 24.06.1944, S. 1.
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nicht wettmachen und schon gar nicht die Realität des Alltags aufheben. Der Kurort war mittlerweile zu einer Lazarettstadt mutiert, und gegen Jahresende standen wieder Sammlungen von Hauben, Schals und Handschuhen für die ewig siegreiche Wehrmacht am Programm. Millionen Soldaten kämpften im Osten, tausende befanden sich in Baden auf Kur – ein Maulkorb für alle war selbst für ein totalitäres Regime ein Ding der Unmöglichkeit. Gutschke machte darauf schon Anfang des Jahres aufmerksam: Die bedauerliche Wichtigtuerei und Eigenlobhudelei einiger Fronturlauber und Verwundeter haben dazu beigetragen, dass krasse Bilder über die Kampflage im Osten entstanden sind.227 Doch die Kriegsversehrten mussten nicht einmal etwas erzählen – falls sie nicht ohnehin traumatisiert waren und es ihnen die Sprache verschlagen hatte. Die erlittenen Erfrierungen und amputierten Glieder sprachen ohnehin Bände. Das gesprochene Wort ließ sich nicht abstellen. Ende 1942 kaufte der Pensionist Josef Hofbauer am Bahnhof in Baden eine Zeitung. Ein Wortwechsel mit der Trafikantin und Parteigenossin Hermine Klar ergab sich. Sie wollte ihn für einige Zeitschriften und Bücher begeistern, doch Josef Hofbauer lehnte ab und erklärte, dass ich diese Bücher, welche sie damals mir anbot, nicht lesen [wollte], weil mich als reifen Menschen diese „Bubenhaften Propagandabücher“ nicht interessierten und ich ihr erst wieder dann Bücher abkaufen werde, bis dieselben wieder etwas Vernünftiges und Menschliches beinhalten werden.228 Seiner offenen Kritik folgte seine Einschätzung der militärischen Lage – sie war düster. Er sprach Stalingrad an und dass es derzeit nur Erdäpfel zu fressen gäbe, aber zugleich hoffnungsvoll/verräterisch, jedoch wird es uns, wenn die Russen kommen, wieder besser gehen“! Bei dieser Bemerkung zog er aus seiner Tasche glaublich einen Knopf oder ein Abzeichen hervor, welches die bolschewistischen Symbole Sowjetstern, Hammer und Sichel trug, welche er mir zeigte.229 Drei Wochen später stand er vor dem Richter. Sogar die Todesstrafe war im Gespräch, erzählte er nach 1945. Letztendlich wurde es „nur“ ein Jahr Kerker. Hermine Klar gestand nach 1945 ein, Hofbauers Ausführungen nicht für sich behalten zu haben. Allerdings hätte nicht sie ihn bei der Polizei denunziert, sondern eine Kundin, der sie von diesem Gespräch erzählt hatte, und wie es der Zufall so wollte, war die Kundin genauso Parteigenossin gewesen. Als sie vor Gericht als Zeugin geladen wurde, musste sie ihre Version nur wiederholen, mehr nicht. Es war nicht der einzige Fall, bei dem sich Denunzianten solcher Erklärungen nach 1945 bedienten. Sie selbst hätten keine Anzeige erstattet. Sie hätten es nur jemand anderem erzählt, ganz ohne Hintergedanken und ohne zu wissen, dass das Gegenüber NSDAP-Mitglied, bei der SA oder mit einem Gestapobeamten verheiratet, verschwägert oder befreundet gewesen sei. Wieder einmal war es die Denunziation, die den widerspenstigen und vom NS-Glauben abgefallenen Teil „Volksgemeinschaft“ auf Linie hielt und die Hoffnung, dass die me227 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942 – Gutschke an Reichstatthalterei (26.01.1942). 228 StA B, GB 052/Personalakten: Klar Hermine (geb. 1904) – Josef Hofbauer (geb. 1885) Niederschrift (29.05.1946). 229 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Klar Hermine–Aussage (01.06.1946).
Kapitel 23 Ein halbzeitliches Panoptikum zwischen Baden und Stalingrad
dialen Durchhalteparolen, wie wahnwitzig sie auch sein mochten, Früchte tragen würden. Daneben mussten weiterhin die immer wieder vorgenommenen Rationskürzungen erklärt bzw. Pseudoerklärungen abgegeben werden. Aber wie sollte man durchhalten oder gar den Sieg erringen, wenn wieder einmal das Butterschmalz mit der Margarine getauscht und das Gewicht verringert wurde?230 Und natürlich wurde man auch Ende des Jahres dem Tausch- und Schleichhandeln, dem Hamstern und der Schwarzschlachtungen nicht Herr. Es hagelte Anzeigen gegen etliche Volksgenossen, und im selben Atemzug wurden die örtlichen Behörden der Ineffizienz bezichtigt. Man kreidete ihnen ihre lasche Vorgehensweise an, wonach Strafbeständen oftmals gar nicht mehr nachgegangen wurde. Dass dies dem Personalmangel geschuldet war, war den übergeordneten Instanzen durchaus bewusst, aber das waren nun einmal die Spielregeln. Auf der anderen Seite, die Realität musste anerkannt werden. Es war eine weitere Bankrotterklärung, vor allem für einen totalitären Staat. Ein Regime vom Format des Nationalsozialismus, mit einem „Gott-Führer“ an der Spitze, musste letztendlich der Bevölkerung irgendwie entgegenkommen und bestehende Regelungen anpassen. Im April 1942 schon schrieb Kreisleiter Hajda an die Gauleitung, das allgemeine Verbot, das derzeit besteht, Schweine zu halten, dürfte meines Erachtens doch etwas zu weit gehen.231 Sollen sie halt Schweine halten und mästen, schlug Hajda vor, aber nur mit Küchenabfällen füttern und bloß kein extra Schweinefuttermittel ankaufen. Andererseits, wer sollte es kontrollieren, ob jedes Schwein exklusiv nur mit Küchenabfällen gefüttert werde? Das Nächste betraf die anstehende Heizperiode und die damit zusammenhängenden Regelungen. Bis zum 1. November war es verboten, Räume mit festen Brennstoffen wie Kohle und Koks aller Art zu beheizen. Erst nach dem 1. November durften die Öfen befeuert werden, aber nicht in allen Räumen. Versammlungs-, Kongresssäle und Ähnliches mussten weiterhin unbeheizt bleiben.232 Das waren wieder drastische Ankündigungen. Doch wer würde das wieder kontrollieren? Es gab hierfür schon längst kein Personal mehr. Einzig das Denunziantentum hielt in diesen Fällen den Laden am Laufen. Es wurde kälter und stiller, und Geschäftstreibende gaben mittels Inseraten bekannt: An unsere werten Kunden! Die Unterzeichneten ersuchen ihre Kunden zur Kenntnis nehmen zu wollen, dass sie wegen Personalmangels für Allerheiligen keine Bestellungen mehr entgegennehmen können.233 Zu Weihnachten sah es nicht besser aus, wie den letzten Nummern der Badener Zeitung zu entnehmen ist. Die telegraphischen Weihnachts- und Neujahrswünsche wurden für Zivilisten aufgrund der militärischen Inanspruchnahme bis zum 5. Jänner gesperrt. Ebenso untersagt wurde, die Weihnachts- und Neujahrswünsche schriftlich zu verschicken. Stichwort: Papiermangel. Auch manches Amt schloss aufgrund des Personalmangels bzw. „dringender Arbeiten“ seine Pforten. Eine sonderbare Winterruhe schien über der Kurstadt zu schweben, doch es wurde nicht ruhiger oder gar besinnlicher, bei Gott nicht… 230 231 232 233
Vgl. BZ Nr. 89 v. 07.11.1942, S. 5. StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. I Ernährung; Schleichhandel und Hamsterei. Vgl. BZ Nr. 79 v. 03.10.1942, S. 8. BZ Nr. 83 v. 17.10.1942, S. 7.
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Kapitel 24 Mischehen, Mischlinge sowie Halb- und Vierteljuden Oder: Von einer mörderisch absurden Nichtwissenschaft
Das zuvor dargebotene Panorama des Jahres 1942 hat einen wichtigen Aspekt weitgehend außen vor gelassen. Wir lasen über Hunger, Mangel, Rationierungen, das Sterben an der Front und das Streben nach Ruhm an derselben. Es stand das Leid der Menschen bzw. hauptsächlich das Leid von Volkgenossen im Fokus – also Menschen, denen ihr Menschsein nicht abgesprochen wurde. Doch unter ihnen lebten weiterhin Menschen, auch 1942, die nicht als solche gesehen wurden und gleiches sowie zusätzliches Leid erfuhren und ertragen mussten. Eigentlich durften diese Menschen gar nicht mehr zugegen sein, nicht in der Kurstadt bzw. eigentlich gar nicht mehr am Leben – auch wenn man es auf Gemeindeebene nicht so eindeutig ausformulierte. Die Deportationen, die 1941 angeordnet wurden, dieses Verfassen von Listen, diese Termine, die erstellt, abgeändert, verworfen wurden, weil es nicht möglich war, diese einzuhalten, all das Grauen, all dies ging unaufhörlich und unerbittlich weiter. Jene Menschen, die nicht als Menschen, sondern als Schädlinge galten, sollten einer Ausmerzung zugeführt werden, jedoch fernab vom Kurort und der Kurortidylle. Es geht um Badener, die dem Judentum angehörten oder als Juden klassifiziert wurden. Sie teilten das gleiche Leid ihrer arischen Mitmenschen, plus der nur für sie gültigen rassistischen und antisemitischen Gewalt, der Schikanen, der Vertreibung, Ausraubung und Ermordung. Die ihnen zugefügte Gewalt war nicht an irgendwelche Handlungen ihrerseits gekoppelt. Sie mussten vernichtet werden, weil sie Juden waren, und dagegen konnten sie nichts ausrichten. Selbst die Flucht war ihnen weitgehend versperrt worden. Und 1942 war das Jahr, in dem die fabrikmäßige genozidale Ermordung in Gaskammern ihren Anfang nehmen sollte. Die meisten Menschen, die als rassische Juden klassifiziert wurden und weiterhin in Baden lebten, lebten in den bereits öfters erwähnten sogenannten Mischehen. Oder sie fielen, ausgehend von der pseudowissenschaftlichen Rassenkategorisierung, unter die Kategorie der rassischen „Mischlinge“. Diese Menschen durften noch in der Kurstadt leben bzw. existieren, denn was wir gemeinhin unter Leben verstehen, wäre besser mit Existenz zu umschreiben. Diesen beiden Themenbereichen – „Mischehen“ und „Mischlinge“ – möchte ich mich nun widmen. Um dem Ganzen folgen zu können, zuerst einmal die NS-Klassifizierungen, die für jene Menschen aufgestellt wurden.
Kapitel 24 Mischehen, Mischlinge sowie Halb- und Vierteljuden
Volljude: Personen mit mindestens drei jüdischen Großeltern Mischling 1. Grades: Personen mit einem jüdischen Elternteil oder zwei jüdischen Großeltern (auch Halbjuden genannt). Mischling 2. Grades: Personen mit einem jüdischen Großelternteil (auch Vierteljude genannt). Geltungsjuden: Personen, die als Halbjuden galten, die jüdisch erzogen wurden und die auch der jüdischen Religion angehörten. Sie waren per Gesetz Juden. Rassejuden: Zum Christentum konvertierte Juden. Zugleich muss betont werden, dass die aufgestellten rassischen Definitionen alles andere als in Stein gemeißelt waren. Ihre Interpretation und Auslegung durch die örtlichen Behörden oder wen auch immer unterlag einer gewissen Willkür. * Laut einer undatierten Liste – ich schätze Anfang der 40er Jahre – finden wir 34 Juden, die in einer „Mischehe“ lebten. Es waren 15 Frauen und 19 Männer.1 Werfen wir einen Blick in die Meldezettel der Männer, wo die Religion vermerkt wurde – bei den Frauen, die in den allermeisten Fällen bei den Männern mitgemeldet waren, wurde das Religionsbekenntnis nicht dazugeschrieben – waren von den 19 als Juden klassifizierten Ehemännern: 10 römisch-katholisch, drei evangelisch, einer konfessionslos, vier waren im Meldezettelarchiv nicht auffindbar, und nur bei einem Mann war „mosaisch“ vermerkt. Bei einer Bevölkerungsanzahl von an die 25.000 Personen machten diese Menschen in etwa 0,1 Prozent der Badener aus. Diese Zahl und dieser Prozentsatz waren dem NS-Regime ein Dorn im Auge. Die betroffenen Menschen, auch die arischen Ehepartner, lebten in ständiger Unsicherheit und Angst. Die jüdischen Ehepartner waren von den Deportationen zwar vorerst ausgenommen – die Betonung liegt eindeutig auf vorerst –, doch wirkliche Sicherheit oder gar Garantie war nicht gegeben. Denn die Flut an antisemitischen Gesetzen wollte nicht abebben. Jederzeit hätte aus Berlin eine Direktive kommen können, wonach ihr ehelicher Schutz aufgehoben wäre und sie genauso deportiert und ermordet werden könnten. Die Zahl antisemitischer Gesetze schwoll ungebremst weiter an, und diese wurden immer perfider. Der Judenstern war eingeführt worden, das Verbot, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, dieses und jenes nicht betreten zu dürfen usw. Es wäre mühsam, die hunderten Gesetze alle anzuführen. Im Juli 1942 unterrichtete die Gauleitung die Kreisleitungen und diese die Gemeinden, dass es Juden ab jetzt verboten war, arische Friseure in Anspruch zu nehmen. Offenbar musste hier eine Gesetzeslücke geschlossen werden, die vier Jahre lang niemandem aufgefallen war oder nicht eingehalten wurde und dadurch einer „Erinnerung“ bedurfte. Oder nicht minder infam und schon im März 1939 verkündet: Das öffentliche Tragen von Landestrachten oder Kleidungsstücken, welche als Bestandteile von Landestrachten 1
Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe II.
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angesehen werden können, ist den Juden untersagt.2 Dagegen verstieß Elisabeth Trenner – sie wurde im Dirndlkleid im Helenental gesichtet und zog sich dadurch den Zorn von Ortsgruppenleiter Fritz von Reinöhl zu, der sogleich Kreisleiter Hajda verständigte und nach entsprechenden Instruktionen verlangte. Im selben Atemzug mokierte er sich über den Juden Karl Stimmer, der auch im Helenental gesehen worden war, zwar nicht in Tracht, aber im Janker. Außerdem solle er im Bus gesessen sein, während arische Frauen stehen mussten. Kreisleiter Hajda hätte gerne hart durchgegriffen, aber im Falle der „Mischehen“ konnte derzeit nichts unternommen werden […], da vom Reichsführer SS besondere Richtlinien für die Behandlung der Mischehen ergehen, die unter allen Umständen abgewartet werden müssen. Zumindest konnte er Elisabeth Trenner wegen dem Dirndlkleid anzeigen, und bei Karl Stimmer urteilte er: Ein Spaziergang im Helenental lässt sich praktisch nicht verhindern. Wenn er im Autobus sitzt, während andere stehen müssen, dann muss in solchen Fall der Jude einfach zum Aufstehen aufgefordert werden.3 Während man hier penibel den NS-Rassenrechtsweg bestritt, war die NS-Rassenideologie als solche durchaus dehnbar in ihrer Auslegung. Es war wieder Ortsgruppenleiter Reinöhl, der sich über Juden in Tracht beschwerte, nur diesmal nicht bei Kreisleiter Hajda, sondern bei Bürgermeister Schmid, und nicht über Elisabeth Trenner, sondern über Bernhard Waktor. Dieser geht in Lederhose und Bauernjanker spazieren. Er tarnt sich als Arier, dürfte aber Jude sein. Aber wie jüdisch der evangelisch getaufte Mann nun war, das konnte Reinöhl nicht genau angeben, deswegen der Konjunktiv. Der Vater Waktors sei nach eigenen Angaben Jude gewesen, bei der Mutter könnte die Rasse nicht ermittelt werden. Wir haben hier mehrere unbekannte Variablen, doch Reinöhl kürzte das rassische Ermittlungsprozedere ab und schlussfolgerte: Er ist also zu den Juden zu rechnen.4 Unmittelbarerer als pseudowissenschaftliches Geplänkel im Hintergrund wirkte sich der alltägliche Horror aus, exekutiert durch die üblichen Fanatiker, die uns bereits in den Kapiteln zuvor begegnet sind. Da bereits viele Juden deportiert worden waren, fokussierte sich deren Hass auf die wenigen verbliebenen. Vom Antisemitismus zerfressen, bestand für Parteigenossin Hermine Voller ihr Lebenszweck wohl darin, Grete Deimel gewohnheitsmäßig als Saujüdin zu beschimpfen. Mit diesem Schimpfwort wollte die Angkl. die Beleidigte empfindlich treffen und ihr ins Bewusstsein bringen, dass sie eine Jüdin sei, also nach den damaligen Begriffen ein Mensch minderen Rechts. Frau Deimel-Knotzer, welche durch die ständigen Schikanen und Nadelstiche, welche ihr damals als Folge der Entrechtung der Juden seitens der Bevölkerung zugefügt wurden, sehr nervös und seelisch verzweifelt war, wurde durch diese Beschimpfungen der Angekl. in ihrer Menschenwürde gekränkt und beleidigt.5 2 3 4 5
StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe IV. StA B, GB 052/Personalakten: Trenner Elisabeth – Hajda an Reinöhl (15.07.1941). StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe IV – Reinöhl an Schmid (04.06.1941). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Voller Hermine (1909–1990) – Polit. Leumund (29.04.1948).
Kapitel 24 Mischehen, Mischlinge sowie Halb- und Vierteljuden
Nicht zu spaßen war ebenso mit Maria Werner und ihrem Ehemann, dem Zellenleiter Franz Werner. Nach dem gescheiterten Attentatsversuch 1939 im Bürgerbräukeller führte Franz Werner bei dem jüdischen Ehepaar Richard und Rosa Marcus eine Hausdurchsuchung durch, während Maria Werner, so Richard Marcus, seine Frau auf offener Straße zuerst angehalten hatte und dann ihre Einkaufstasche durchsucht, sie gezwungen, vom Gehsteig herunterzugehen und sie wiederholt beschimpft [hatte]. Frau Werner verlangte von meiner Frau, dass sie mit den Händen auf dem Rücken durch die Straßen gehen müsse, damit man sehen könne, ob Frau Markus den Judenstern trage oder nicht. Soviel mir bekannt ist, hat Frau Werner auch Heinrich Fleischmann (welcher in Auschwitz vergast wurde) ebenfalls auf offener Straße gezwungen, den Inhalt seiner Aktentasche vorzuweisen, und kam derselbe weinend zu mir.6 Verbalen Terrorismus betrieb durchgehend auch Frederike Herzog – die wir bereits in Kapitel 13 kennenglernt haben, es war jene Frau, die selbst dem ehemaligen Polizeichef Alois Klinger den Angstschweiß auf die Stirn trieb, wenn sie ihm über den Weg lief. Ihrem Sadismus waren auch Hermine Brandl („Mischling 1. Grades“) und deren arischer Ehemann Leopold Brandl schutzlos ausgeliefert gewesen. Ab März 1938 grüßte mich die Herzog […] auf einmal nicht mehr. Dafür wurde ich nunmehr oftmalig, nahezu wöchentlich auf der Straße mit den Ausdrücken Saujüdin, Drecksjüdin, Halbjüdin und Mischling belegt, und anlässlich des Todes von Hermine Brandls Vater äußerte Herzog vor Zeugen, dass nun endlich der alte Saujud krepiert sei.7 Frederike Herzogs Judenhass war ihr in die Wiege gelegt worden. Sie war Tochter von Josef Herzog, einem Schönerianer, Deutschnationalen und überzeugten Antisemiten, der in Baden mit dem „Boten aus dem Wienerwald“ ein deutschnationales Revolverblatt auf den Markt gebracht und mit seiner „Prozesssucht“ nicht nur den Gemeinderat in Atem gehalten, sondern genauso im Reichsrat auf sich aufmerksam gemacht hatte.8 Seine Tochter Nummer zwei, Hermine Herzog, die wir ebenso in Kapitel 13 kennen gelernt haben, war von gleichem Schlage. Sie brüstete sich damit, Juden einfach so ins KZ bringen und der Vergasung zuführen zu lassen.9 Sie sorgte aber nicht unter dem Namen Herzog für Angst und Schrecken, denn verheiratet war sie mit dem Beamten, Fischhändler und Marktamtsleiter Josef Hammerschmidt, der uns wiederum in Kapitel 18 über den Weg gelaufen ist. Aus Tulln stammend, glaubte er schon vor dem Parteiverbot 1933 Parteimitglied gewesen zu sein, da er eifrig zum Portemonnaie gegriffen hatte, um der NS-Bewegung finanziell entgegenzuarbeiten. Die Ortsgruppe und Kreisleitung sah das anders und sträubte sich 6 7 8 9
StA B, GB 052/Personalakten: Werner Franz (geb. 1887), Werner Maria (geb. 1886); Mappe II – Aussage Richard Marcus (15.10.1945). StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef – Aussage Hermine Brandl (geb. 1902) und Leopold Brandl (geb. 1899). Vgl. WALLNER Viktor, Kaiser, Kuren und Kommandos. Baden von 1804 bis 1918 (Baden 1999), S. 104f – Josef Herzog (1864–1911). StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef (geb. 1892) – Aussage Alois Klinger (03.02.1948).
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anfänglich, ihn ohne Wenn und Aber nach dem Anschluss aufzunehmen. Entgegenkommender war da schon das Parteigericht. Bei den Anmeldeformalitäten 1933 wäre es höchstwahrscheinlich zu Missverständnissen gekommen, denn seine Illegalität wäre unbestritten. Die Parteigenossin und Illegale Hermine Turba war sehr erstaunt, dass man einen so verdienstvollen Mitarbeiter aus der illeg. Zeit seitens der Kreisleitung ablehnte […].10 Wie dem auch sei, nach dem kurzen, für ihn unerfreulichen Intermezzo ging es steil nach oben. DAF-Ortsobmann, Beauftragter für das Marktwesen, Kreisfachabteilungswalter für Nahrung und Genussmittel, Kreisbeauftragter der Kreisbauernschaft und Ratsherr der Stadt Baden.11 Für Alois Klinger war er der Prototyp eines belasteten Pg., weil er in ganz zynischer und herzloser Weise gegen die Juden und Nichtparteigenossen vorgegangen ist […]. Und als ein förmliches Schulbeispiel einer Inkarnation von einem belasteten Pg., welcher u.a. auch beim Abtransport der Juden aus Baden, auf den offenen Lastenautos, analog als wie man das Schlachtvieh transportiert, seine Hand im Spiele hatte.12 Ernst Röschl konnte dem nur beipflichten. Unter seiner Anleitung und Förderung verfasste seine Schwägerin […] hunderte von anonymen Postkarten an Juden in Baden mit ordinärsten Beleidigungen. Hammerschmidt war es auch, der alle Handlungen dieser hysterischen Megäre deckte, so dass es unmöglich war, ihr beizukommen, obwohl selbst die Polizei und Parteistellen eine Unschädlichmachung der Herzog gewünscht hätten.13 Damit sprach Ernst Röschl etwas an, was eigentlich recht ungewöhnlich klingen mag, aber der Wahrheit entsprach. Denn man konnte mit seinem aktionistischen Judenhass auch über das Ziel hinausschießen. Klinger schilderte nach 1945, dass Hammerschmidt und Frederike Herzog in ihrem Vorgehen gegen die Juden bezüglich der Einkaufszeiten etz. derart rücksichtslos vorgegangen [waren], so dass sie sich sogar bei der illegalen Schupo unbeliebt gemacht haben.14 Als Frederike Herzog wieder einmal Franziska Röschl terrorisierte, indem sie sie auf der Straße anrempelte, ihr mit dem Tod drohte und öffentliches Aufsehen dabei erregte, reichte es sogar Bürgermeister Franz Schmid. Er wies Gutschke an, Frederike Herzog vorzuladen und sie zu verwarnen. Diese reagierte jedoch unbeeindruckt und äußerte sich dahingehend, dass sie schon einmal von der Partei einen Verweis in gleicher Sache erhalten habe und dass sie es bedaure, das Parteiabzeichen bei dem Vorfall [mit Franziska Röschl] getragen zu haben, sonst hätte sie der Jüdin ein paar runtergehauen.15 Selbst Alfred Gutschke, der sicherlich kein Judenfreund war, stattdessen ein überzeugter Antisemit und Nationalsozialist, wurde es mit Herzog & Co. zu viel – was von dem „Mischling“ Bernhard Waktor bezeugt wurde. Ihn hatte Maria Werner durch ständiges An-
10 Ebd. – Vernehmung Hermine Turba (15.02.1939). 11 Vgl. StA B, NSDAP-Karteikarten groß und GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef – Ermittlungen (20.08.1946). 12 StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef – Aussage Alois Klinger (03.02.1948). 13 Ebd. – Aussage Ernst Röschl (22.12.1946). 14 Ebd. – Ermittlungen Klinger (01.03.1946). 15 StA B, GB 052/Personalakten – im Akt von Fam. Röschl.
Kapitel 24 Mischehen, Mischlinge sowie Halb- und Vierteljuden
zeigen drangsaliert, weil er eben außerhalb der jüdischen Einkaufszeiten seine Einkäufe getätigt hatte. Aber er hatte Glück im Unglück. Ich konnte mich, da ich in Mischehe lebte, und der damalige Polizeichef Gutschke mir nicht unfreundlich gesinnt war, aus der Angelegenheit herausziehen, doch wurde ich verwarnt und mir ausdrücklich gesagt, dass diese Amtshandlung nicht auf Veranlassung der Polizeiorgane erfolgt ist, sondern nur über Drängen der Frau Werner und einiger anderer Frauen.16 Während Menschen wie Marie Werner, Hermine Voller und Frederike Herzog mit öffentlichkeitswirksamen Hasstiraden auf sich aufmerksam machten und dadurch sogar die kurörtliche Ruhe in Gefahr brachten, agierten Menschen wie Zellenleiter Ludwig Lackinger eher im Hintergrund. Vorschriftsgemäß erteilte er seinem Ortsgruppenleiter Auskunft, wo und wie viele Juden in seiner Zelle wohnten. Falls sie umgezogen waren (vertrieben, geflüchtet), wusste er genau, wohin und wer sie aufgenommen hatte. Ludwig Lackinger leistete diesbezüglich hervorragende Arbeit. Er verstand sich als Profi, dem man nichts vormachen konnte. Die 1902 erfolgte Konvertierung des Buchsachverständigen Dr. Alfred Lenk zum Katholizismus war für ihn als antisemitischem Fachmann ein Paradebeispiel für eine jüdische Verstellkunst. Dieselbe attestierte er genauso Walter Schönfeld. Diese Annahme ist umso wahrscheinlicher, als der Jude Schönfeld blond ist und durchaus nicht als jüdischer Typus bezeichnet werden kann, sodass er sich umso leichter als Arier ausgeben und unter diesem Deckmantel Unheil stiften könnte. Und da Schönfeld zusätzlich als gefährlicher kommunistischer Agitator verschrien war, ließ er diesen auf Schritt und Tritt überwachen. Besonders verdächtig, jeden Abend fährt er hastig mit seinem Fahrrad weg.17 Niedergeschriebene Beobachtungen wie diese eben, die aus heutiger Sicht fast schon ein Schmunzeln wert erscheint, konnten damals allerdings tödlich enden. Eine vergleichbare Taktik wandte Bäderverwalter Franz Blechinger an. Dem Wohl des Kurortes verpflichtet, erstattete er Berichte mit dem Betreff: Verschiedene Juden in Baden […]. Die Volljuden Markus und Frau wohnen Marchetstr. 42. Unterhalten sich lustig mit Ariern, wie z.B. Frau Prof. Weber und vielen anderen und tragen keinen Judenstern, oder der Jude Armand Seiler, er war früher berüchtigt als Grundstückaufkäufer. Heute noch wird er vom Hausbesorger und manchen Parteien als Hausherr angesprochen und devot gegrüßt. Neben allgemeinen „Statusberichten“ bot er zugleich Lösungsansätze an, wie man jene Menschen mittels gezielter Nadelstiche am besten psychisch zu Grunde richten könnte. Der Jude Soffer wohnt in der Marchetstraße. Seine Frau (Arierin) führt das Geschäft am Rainerring. Soffer fährt auf einem neuen Fahrrad in Baden spazieren, was den Ärger der Bevölkerung erregt. Ich stelle mir vor, dass man dem Juden das Fahrrad wegnehmen könnte.18 Als im Februar 1942 in der Pension „Hanausek“ drei Jüdinnen Einkehr fanden, war das ein Skandal sondergleichen. Es handelte sich dabei um Hermine Newlinsky, Stefanie 16 Ebd. – Aussage Waktor Bernhard (16.10.1945). 17 StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I Ortsgruppe I/Zelle 4; Verfolgung – Alfred Lenk (geb. 1896). 18 StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge; Mappe I f. 25 u. 26 und auszugsweise zusammengefasst in MAURER, WELLENHOFER, S wie „Schädling“, S. 26.
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Stumpf und die Belgierin Frau von Alderwerelt. Schmid und Blechinger kontaktierten die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ und die beiden Herren drängten auf eine baldige Lösung.19 Dort saß SS-Obersturmführer Alois Brunner, einer der wichtigsten Mitarbeiter Adolf Eichmanns. Bezüglich der Belgierin waren Schmid und Blechinger guter Dinge. Diese lästige Ausländerin aus dem besetzten Feindgebiet könnte gewiss gleich abgeschoben werden.20 Dass alle drei Frauen getauft waren, dass die Eltern von Hermine Newlinsky ebenso getauft waren, dass sie mit einem Arier, der 1899 verstorben war, verheiratet gewesen war, genauso wie Stefanie Stumpf, nur dass sie seit Oktober 1938 geschieden war, interessierte weder Schmid noch Blechinger, und Alois Brunner schon gar nicht. Im September 1942 das gleiche „Spiel“ wie im Februar. Franz Blechinger kam zu Ohren, dass in Baden zwei Volljüdinnen, die in Mischehe leben, zu Ärgernis Anlass geben. Es ging um Maria Grunn, Ehefrau des Ariers Eduard Grunn, die seit drei Jahren im Hotel Bristol wohnte und das, obwohl sich die Hotelbetreiber bereits 1938 dazu verpflichtet hatten, keine Juden aufzunehmen. Noch unangenehmer fiel Elisabeth Köhler auf, verheiratet mit dem Major Josef Köhler.21 Sie betrieb in der Hochstraße 20 eine Sommerherberge. Erneut wurde die „Auswanderungszentrale“ zu Händen des SS-Obersturmführers Alois Brunner in Wien bemüht, ob es denn nicht möglich sei, da etwas zu unternehmen. Es hat sich ergeben, dass im heurigen Jahr bei dieser Familie Parteigenossen Wohnung nahmen, vermutlich ohne zu wissen, dass die Vermieterin Jüdin ist. Um solche unliebsamen Fälle auszuschließen, wird es zweckmäßig sein, auch diese Frau von Baden zu entfernen, sofern hierzu die Möglichkeit besteht.22 Es ist anzunehmen, dass Franz Blechinger mittlerweile sehr gut im Bilde war, wie mit Juden in „Mischehen“ verfahren werden konnte, und dass diese einen fragilen, aber doch gewissen Schutz beanspruchen durften. Aber Fragen war ja nicht verboten, und Fragen kostete ja auch nichts, und wer weiß, vielleicht wäre es ja von Erfolg gekrönt. All die Aktionen fußten auf der Möglichkeit und der Lust, es zu machen, weil man die Macht dazu besaß. So ein Verhalten wurde vom NS-Regime begrüßt und als Zeichen des berechtigten Volkszorns gegenüber Juden betrachtet. Entscheidend war nur, Hauptsache, nicht zu ungestüm werden – keine Pogromstimmung, man war ja nicht bei den Hottentotten. Es soll jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass in Baden stets nur die üblichen Verdächtigen den verbliebenen Juden das Leben zur Hölle gemacht hätten. Es waren genug andere Personen ebenso daran beteiligt, wenn auch deren Terror an Qualität und Quantität nicht das Level des Terrors der oben Genannten erreichte. *
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Hermine Newlinsky (geb. 1869), Stefanie Stumpf (geb. 1880) Frau von Alderwerelt (geb. 1871). StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe I. Elisabeth Köhler (1892–1962), Josef Köhler (1884–1963). Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe IV.
Kapitel 24 Mischehen, Mischlinge sowie Halb- und Vierteljuden
Welch eine Willkür und Brutalität im Alltag jener Zeit in Baden vorherrschte, geben zahlreiche Zeitzeugenberichte, zumeist erstellt nach 1945, wieder. Eine der wenigen Ausnahmen ist eine „Anzeige“ Franziska Röschls. Im April 1942 betrat sie in der Antonsgasse außerhalb der ihr erlaubten Einkaufszeiten das Zuckerlgeschäft Burian. Nicht, um etwas einzukaufen, sondern nur, um dem Besitzer etwas auszurichten. Da betrat eine Kundin das Geschäft und begann sogleich, Franziska Röschl zu beschimpfen. Franziska Röschl begann sich zu rechtfertigen, da schlug ihr die andere Frau einfach so ins Gesicht. Franziska Röschl meldete diesen Vorfall bei der Polizei, aber es war eben keine Anzeige im üblichen Sinne. Franziska Sara Röschl will mit ihrer Angabe keine Anzeige oder Bestrafung nach Artikel VIII, sondern lediglich bezwecken, dass bekannt wird, was sie in Baden auszustehen hat.23 Sich ihrer Macht- und Rechtslosigkeit und ihres Status als Freiwild bewusst, war es dennoch ihre Art des Widerstandes. Es sollte zumindest dokumentiert werden. Und sie war, was solche Aktionen anbelangte, nicht ganz alleine. Der katholisch getaufte Dr. Alfred Leuchtag, ehemaliger Beamter und Bezirkshauptmann in Bruck a.d. Leitha, verheiratet mit der Arierin Karoline Leuchtag, galt als gehässiger Gegner der NS-Bewegung. Vor dem Anschluss war er gefürchtet und gehasst. Die Rache danach war ihm sicher. Doch er scheute nicht die Konfrontation, selbst wenn es Menschen wie Karl Zeller waren, die es auf ihn abgesehen hatten. Im Oktober 1941 zeigte ihn Karl Zeller wegen des Nichttragens des gelben Sterns an. Nach 1945 hieß es dazu: Naturgemäß empfand diese der Akademiker [Alfred Leuchtag] als besonders menschenunwürdig und trug bisweilen den Stern nicht. Dafür wurde er zu einer Geldstrafe von 150 RM verurteilt, die er jedoch, da er erfolgreich Berufung einlegte, niemals bezahlen sollte. Genau ein Jahr später, im Oktober 1942, zeigte ihn Karl Zeller wegen des gleichen Vergehens erneut an. Diesmal wurden 6 Monate Haft ausgesprochen. Auch diese Strafe wurde nicht beglichen, da Alfred Leuchtag erneut erfolgreich in Berufung gegangen war. Doch damit schien er bereits alles ihm zur Verfügung Stehende ausgereizt zu haben. Ihm wurde von Seiten der Gestapo versichert, eine neuerliche diesbezügliche Anzeige führe nach Auschwitz. Der Polizei-Wachtmeister Ramberger teilte Dr. Leuchtag vertraulich mit, dass Dr. Zeller der Anzeiger gewesen und auf Vorlage der Anzeige gedrängt hätte.24 Alfred Leuchtag und Franziska Röschl gehörten, was solch einen Widerstand anbelangt, zu einer Minderheit. Die meisten Betroffenen wählten die Zurückgezogenheit, wenn nicht Abschottung, um möglichst wenig mit der ihnen feindlich gesonnenen Umwelt in Berührung zu geraten. Sicherheit bot das bei weitem nicht. Sicher war nur, dass früher oder später der Feind sowieso in ihre Welt eindringen wird. Diese Tatsache, dass der Alltag einem Spießrutenlauf ähnelte und dass man jederzeit Gewaltopfer werden konnte, benötigte spezielle Überlebensstrategien. Hedwig und Rudolf Starnberg wählten die innere Emigration, etwas, was etliche Menschen anwandten, egal ob sie nun aus rassischen oder politischen Gründen terrorisiert wurden. Wie es war, als Jude oder Arier in einer „Mischehe“ zu leben, 23 StA B, GB 052/Personalakten: Fam. Röschl – Protokoll (03.04.1942). 24 StA B, GB 052/Personalakten: Zeller Karl (geb. 1876) – Volksgerichtsurteil (12.08.1948), S. 3.
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davon konnten Hedwig Starnberg und ihr seit vierzig Jahren konfessionsloser jüdischer Ehemann Rudolf Starnberg ein Klagelied singen. Sie sind uns in Kapitel 1 begegnet, als ihnen 1938 ihre Hotelkonzession abgepresst wurde, indem man ihn verschleppte, mit Dachau bedrohte und erst gegen die zurückgelegte Konzession wieder freiließ. Das Ehepaar Starnberg erlebte am eigenen Leib, wie sich die Gesetzeslage ständig zu ihren Ungunsten veränderte und sie sich unter anderem ihres Besitzes in der Welzergasse 31–33 nie sicher sein konnten, da tagein, tagaus mit irgendwelchen Schikanen zu rechnen war. Im Sommer 1940 war es ihr Mieter Josef Pomianek, der gegen sie zu Feld ziehen sollte.25 Um sich selbst als Leidender und als Opfer emporzuheben, musste das Ehepaar Starnberg nach aller Kunst der Verunglimpfung niedergemacht werden. Übrigens verwendet die Jüdin keinen Groschen für die Instandhaltung der beiden angeführten Häuser, und ich glaube, dass, wenn hier einmal die Baupolizei nachsehen würde, allerhand zu bemängeln wäre. […] Von Seiten der Juden wurde im Frühjahr weder ein Leimring um die Bäume getan, noch wurden dieselben gespritzt oder die abgestorbenen Äste entfernt.26 Hätte er das gewusst, wäre er in dieses Judenhaus niemals eingezogen. Dafür wäre er auch nicht 1931 der SA und 1935 der Österreichischen Legion beigetreten, und nun frage ich mich immer und immer wieder, ob denn der Kampf, den wir geführt haben, nur deshalb war, damit heute Pg. an Juden Zins zahlen.27 Er führte die üblichen antisemitischen Anschuldigungsfloskeln an, wonach der Jude nichts arbeite, nichts erschaffe, nicht einmal erhalte. Des Weiteren schrieb er von jüdischen Zusammenkünften hinter verschlossenen Türen, bei denen das Ehepaar Leuchtag ständiger Gast gewesen sei. Er machte ferner darauf aufmerksam, dass von den Häusern beider Ehepaare sowohl die Kaserne in Baden als auch der Flughafen in Kottingbrunn fotografiert und gezeichnet werden kann. Beim Juden Starnberg gehen fast jeden Sonntag und Feiertag mir unbekannte Juden, scheinbar Wiener, ein und aus. Was dann hinter geschlossenen Fenstern verhandelt wird, ist mir unbekannt. Außerdem hätte er beobachtet, Pikant-Voyeuristisches durfte nicht fehlen, dass Alfred Leuchtag immer wieder nackt im Garten läge. Ein eindeutiger Beweis für die jüdische Perversion. Seine Schilderungen sind an gefährlichen Gehässigkeiten kaum zu überbieten. Und da er überzeugt davon war, dass Starnberg und Leuchtag keiner Arbeit nachgingen, schlug er vor: Meiner Ansicht nach muss es doch auf der Reichsautobahn oder in einem Steinbruch genug Arbeit für die beiden Juden geben.28 Man konnte gar nicht genug nach innen emigrieren oder vorauseilenden Gehorsam an den Tag legen, um nicht terrorisiert zu werden. Sich zur Wehr zu setzen, war alles andere als leicht, denn das Wort des jüdischen Partners war wertlos, und das des arischen Partners war durch die „Mischehe“ in seinem Wert geschmälert. Im August 1939 hätte Hedwig Starnberg gegenüber Therese Tinhof nach einer Luftschutzübung angeblich von sich gege25 Josef Pomianek (geb. 1908). 26 StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge; Mappe I f. 55 und auszugsweise in MAURER, WELLENHOFER, S wie „Schädling“; S. 34–36. 27 StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge; Mappe I f. 55. 28 Ebd., f. 55.
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ben: Die Engländer können halt dies nicht zulassen, wie die Juden hier behandelt werden, und sie sagte noch anschließend, werden wir halt sehen, wie der Stern des Führers geht oder läuft.29 Therese Tinhof erzählte es am nächsten Tag der Milchhändlerin Aloisia Wottawa, diese der Polizei, die Anzeige ging an den Landrat, von dort an ein Sondergericht.30 Dieses brauchte eine Genehmigung durch die Reichskanzlei, um strafrechtlich vorgehen zu können, die allerdings nicht erteilt wurde. Hedwig Starnberg wurde dennoch vorgeladen und bedroht. Man gab ihr unmissverständlich zu verstehen, als Ehefrau eines Juden müsste sie besonders darauf achten, welche Worte sie in den Mund nehme, und dass gegenüber ihren Rechtfertigungen und Entschuldigungen ernsthafte Zweifel bestünden, da man ihr die Aufrichtigkeit ihrer Äußerungen nicht glauben werde, weil sie mit einem Juden verheiratet sei.31 Das Judentum färbte demnach auf den arischen Ehepartner ab und verdarb ihn. Als Alfred Leuchtag 1939 seinen 90-prozentigen Anteil der Liegenschaft Weilburgstraße 103 an seine arische Ehefrau, Karoline Leuchtag, zu übertragen gedachte, um zu retten, was noch zu retten war, war das Reichswirtschaftsministerium durchaus geneigt, die Schenkung zu bewilligen. Einzig eine Bestätigung vom hiesigen Kreiswirtschaftsamt wäre von Nöten gewesen. Das war jedoch das Revier von Karl Zeller, und der legte sich quer. Er witterte, dass diese Schenkung wahrscheinlich eine betrügerische Schiebung sei, und warnte das Reichswirtschaftsministerium, mit der beabsichtigten Bewilligung solange zuzuwarten, bis er aufgrund weiterer Erhebungen ausführlich zu berichten in der Lage ist. Überdies teilte er mit, dass meine Gattin […] gegen die NSDAP gehässig eingestellt sei und diese Gesinnung niemals aufgeben werde.32 Erhoben wurde dann nichts. Zeller ließ den Akt einfach liegen. Stattdessen machte er Gauleiter Jury auf den Fall Weilburgstraße 103 aufmerksam, und mit vereinten Kräften war es dann ein Leichtes, die Liegenschaft 1943 zwangsweise zu arisieren. Die innere Emigration ist nicht nur aus den nach 1945 erstellten Quellen ersichtlich, sondern genauso aus den NS-Beurteilungen herauszulesen. Bei Liselotte Storch, „Mischling 1. Grades“, lesen wir: Im Bewusstsein ihrer Abstammung lebt sie zurückgezogen, dass nichts Näheres über sie gesagt werden kann.33 Erika Sulzenbacher, ebenso „Mischling 1. Grades“, lebte ebenso sehr zurückhaltend, und hinsichtlich ihrer Lebensführung ist nichts Nachteiliges zu sagen, und es ist ihr Ruf in dieser Hinsicht gut.34 Als Tochter einer Jüdin und des ehemaligen Schuldirektors des Gymnasiums Biondekgasse, Otto Sulzenbacher, verschrien als gehässiger Gegner des NS-Systems (siehe Kapitel 4 Schulen), war sie aller Wahrscheinlichkeit nach durch ihre Eltern wohlweislich instruiert worden, wie ein Leben als „Unsichtbare“ zu führen sei.
29 StA B, GB 052/Personalakten: Starnberg Hedwig (geb. 1882) – Polizeibericht (13.12.1939). 30 Therese Tinhof (1907–1987), Aloisia Wottawa (geb. 1879). 31 StA B, GB 052/Personalakten: Starnberg Hedwig (geb. 1882) – Aussage Rudolf Starnberg (12.11.1945). 32 StA B, GB 052/Personalakten: Zeller Karl – Aussage Alfred Leuchtag (08.08.1946). 33 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Storch Liselotte (geb. 1921). 34 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Sulzenbacher Erika (1921–1982).
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Andere versuchten zu fliehen, wie der Sozialist Ernst Pois, der mit einer Jüdin liiert gewesen war. Der SDAP trat er in Mödling während seines Studiums bei, engagierte sich politisch und gewerkschaftlich und zog dadurch die behördliche Aufmerksamkeit des Ständestaates auf sich. Verdächtigt, konspirativ und umstürzlerisch tätig zu sein – in Mödling kam es schließlich im Februar 1934 zu Kämpfen – kam er unter Polizeiaufsicht, wurde aus der Gemeinde verwiesen und mit einem Berufsverbot belegt. Erst 1937 ging es beruflich wieder aufwärts, bzw. seine Arbeitslosigkeit nahm ein Ende, und seine 1932 erfolgte Verlobung konnte in eine Ehe umgewandelt werden. Doch dann kam der Anschluss, und, da seine Verlobte Jüdin war, die Katastrophe. Er verlor wieder seinen Arbeitsplatz, seine Verlobte flüchtete im März 1938 um teures Geld zu ihrer Schwester in die Türkei, was zumindest den „positiven Effekt“ hatte, dass seine Entlassung revidiert wurde. All die Anpöbelungen, Erniedrigungen und Beleidigungen, all diese Demütigungen, die ich damals zu erdulden hatte, will ich nicht schildern; wer die damalige Zeit mit objektivem Blick betrachtete, ahnt, was ich mitgemacht haben muss, voll erfassen kann es nur der, der in gleicher oder ähnlicher Lage war. Um dem Horror zu entkommen, beschloss er, seiner Braut zu folgen. Es gelang ihm tatsächlich, ein Ausreisevisum zu erlangen, doch dann kam erneut die große Politik daher und zertrümmerte seine bzw. ihrer beider Pläne, da die Juden dann aus der Türkei ebenfalls ausgewiesen wurden und meine Braut nach einer traurigen Irrfahrt über Italien und Frankreich schließlich in die Tschechoslowakei kam, von wo sie sodann später schwer krank durch die Nazis nach Polen verschleppt wurde; seither haben wir keinerlei Nachricht mehr von ihr und muss ich für ihr Schicksal nur das Allerschlimmste befürchten.35 Wie groß die Verzweiflung war, davon erzählte auch das Ehepaar Brandl, welches von Frederike Herzog terrorisiert worden war. Auch sie wollten von der Bildfläche verschwinden, nur weitaus radikaler, als es eine innere Emigration oder eine Flucht hätte bieten können. Mein Mann und ich lebten in der quälenden Angst vor dieser Furie […], dass mein Mann und ich über diese Diskriminierungen seitens der Herzog so schwer deprimiert waren, dass wir schon Selbstmord verüben wollten.36 Denn eines war sicher, eine „Mischehe“ war kein Garant für ein Überleben. Der vermeintliche Schutz war trügerisch und stellenweise vollkommen dem Zufall überlassen, und es genügte bloß ein Hauch an Hass und Niederträchtigkeit, um die fragile Sicherheit zu zertrümmern – so wie bei Max und Barbara Meth.37 Sie war Arierin, er getaufter Jude, und als Reparateur von Schreib- und Rechenmaschinen sowie Vervielfältigungsapparaten im Betrieb von Franz Leichtfried angestellt. Im Jahre 1942 wurde Max Meth durch seinen Arbeitgeber bei der Deutschen Arbeiterfront DAF angezeigt, da er sich einerseits geweigert hatte, den Judenstern zu tragen, und weil er seinen Arbeitsplatz unerlaubt verlassen hatte. Es folgte zuerst eine Verwarnung durch die DAF. Doch einige Zeit später kam es zu einer 35 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. GB 054/Registrierungslisten: Pois Ernst (geb. 1910). 36 StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef – Aussage Hermine Brandl (geb. 1902) und Leopold Brandl (geb. 1899). 37 Barbara Meth (1909–1986).
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Vorladung und einem Verfahren vor dem Amtsgericht, aufgrund eines Verstoßes gegen das Kennkartengesetz. Max Meth hatte sich geweigert, eine jüdische Kennkarte zu beschaffen, was zu einem fünfwöchigen Arrest führte. Doch diesmal urgierte Franz Leichtfried zu Gunsten seines Mitarbeiters und forderte zumindest einen Haftaufschub. Er erklärte der Gestapo, dass zwei seiner Söhne sowie zwei Gesellen bereits eingezogen waren und er, sollte Maximilian Meth inhaftiert werden, seinen Betrieb dann schließen müsste. Dabei war dieser für die Wehrmacht tätig und damit ein Rüstungsbetrieb und noch dazu der einzige im gesamten Kreis mit der dargebotenen Leistung. Trotzdem kam es in weiterer Folge zu Verhören bei der Gestapo in Wiener Neustadt und Wien, von wo Max Meth nicht mehr zurückkommen sollte. Er wusste bis zum Schluss nicht, wem er die neuerliche Anzeige zu verdanken hatte. Barbara Meth schilderte nach 1945 sogar, dass ihr Mann sie bat, nichts gegen die Familie Leichtfried zu unternehmen, da es nicht gewiss sei, dass die seinerzeitige Anzeige des Ehepaares Leichtfried bei der DAF die Ursache seiner Verurteilung und Verhaftung wäre; er bat mich auch, eine allfällige Unterstützung durch Frau Leichtfried – die dieselbe zugesagt hatte – nicht abzuweisen38. Das war im November 1943. Es war auch das letzte Mal, dass Barbara Meth ihren Mann sah. Im Jänner 1945 wurde er nach Auschwitz deportiert, das letzte Lebenzeichen erhielt seine Ehefrau im Februar 1945. Den Holocaust überlebte er nicht.39 Das gleiche Schicksal wiederfuhr höchstwahrscheinlich der getauften Jüdin Valerie Straßner, Ehefrau des Ariers, Bezirksrichters und Vizepräsidenten und Oberlandesgerichtsrats Dr. Maximilian Straßner. Sie wurde von Martha Katzer an die vierzig Mal angezeigt, wo „nichts“ passierte.40 Doch beim 41. Mal im Juni 1943, Valerie Straßner weigerte sich den Judenstern zu tragen, erfolgte ihre Verhaftung, ein dreimonatiger Polizeiarrest in Wien und die anschließende Deportation ins KZ Ravensbrück. Neben Martha Katzer, die sowohl andere Juden als auch Volksgenossen mit Anzeigen malträtierte, hatte auch Josef Heitzer seine Finger im Spiel gehabt. Nach 1945 konnte er sich allerdings an nichts mehr erinnern, nicht einmal an eine der 40 Anzeigen der Martha Katzer. Valerie Straßners letztes Lebenszeichen erfolgte am 22. Februar 1945. Höchstwahrscheinlich überlebte sie nicht.41
Natur und Technik Es gab aber auch ganz andere Strategien als Rückzug, Flucht, Ausharren oder den Suizid, um als Jude dem NS-Horror zu entkommen. Dafür musste man sich ausgerechnet auf die pseudowissenschaftliche Rassenlehre einlassen. Die zuvor erwähnte Stefanie Stumpf 38 StA B, GB 052/Personalakten: Leichtfried Franz (geb. 1874). 39 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023). 40 Valerie Straßner (geb. 1898), Maximilian Straßner (1888–1966), Martha Katzer (1898–1990). 41 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Heitzer Josef – Ermittlungen (27.05.1947) und www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023).
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hatte zwar jüdische Eltern, doch ihre beiden Großväter sollen Arier gewesen sein. Was sie bezweckte, war ein „Upgrade“ vom „Volljuden“ zum „Mischling“.42 Damit hätte sie eine existenzielle Lebensverbesserung bzw. ein grundsätzliches Existenzrecht erhalten. Wie verworren und absurd das alles war, illustriert der Fall von Olga Richter. Laut dem NS-Regime war die Sachlage anfänglich eindeutig. Ihre Eltern, Malvine und Julius Görö, waren ungarische Juden, und damit war die Tochter Jüdin. Allerdings gab Malvine – ihr Mann war 1929 verstorben – im April 1938 bekannt, dass Julius Görö nicht der leibliche Vater ihrer Tochter sei, sondern der ungarische Oberst Bela von Farkasch. Damit sah sich Olga Richter im „Mischlingsstatus“ und weigerte sich sodann, den Zusatznamen Sara in ihren Pass eintragen zu lassen. Noch dazu war sie getauft und mit einem Arier verheiratet gewesen, durch den sie die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt hatte. Nun standen die NS-Behörden etwas ratlos da. Nicht schaden konnte es, Olga Richter, samt ihrer Mutter, die bei ihr in Baden wohnte, 1940 zur Reichsstelle für Sippenforschung nach Wien zu zitieren, um sie von dort an das Anthropologische Institut der Universität Wien weiterzureichen, um beide einer rassischen Abklärung zu unterziehen. Geklärt konnte nichts werden, denn ihr wahrer Erzeuger war nicht anwesend, und es hätte unbedingt seiner Blutprobe bedurft, um „Fakten“ zu schaffen. Angeblich wurde ihm die Einreise- und Aufenthaltsbewilligung verweigert. Ein Jahr verging, nichts passierte, und Olga Richter und ihre Mutter wohnten weiterhin in der Kurstadt. Als man jedoch damit anfing, Juden aus Baden nach Wien zu deportieren, gestattete ihr die Kreisleitung im August 1941, aufgrund ihres unklaren rassischen Status, vorerst noch in Baden zu bleiben, genauso wie ihrer Mutter, allerdings nur deshalb, weil diese ungarische Staatsbürgerin war. Derweil probierte Olga Richter alles in ihrer Macht Stehende, um ihre rassische Aufwertung voranzutreiben, denn der nächste Deportationstermin war schon anberaumt. Dass ihr Erzeuger immer noch nicht einreisen durfte, lag daran, dass ihm als ungarischem Offizier während des Kriegs keine außerdienstlichen Auslandsreisen gestattet waren. In ihrer Verzweiflung schrieb Olga Richter das Ministerium für Inneres an und bat inständig darum, zum „Mischling 1. Grades“ erklärt zu werden. Ich flehe Sie an, erledigen Sie meine Sache möglichst bald, damit ich noch vor dem Ablauf der mir gestellten Frist zu meinem Recht komme, denn ich bin schon am Rande der Verzweiflung. Ich bin durchdrungen von dem Bewusstsein, dass ich im Recht bin, dass mich die Demütigungen, denen ich ausgesetzt bin, mit doppelter Wucht treffen. Helfen Sie mir bitte, erretten sie mich von dieser Schmach. Die vorläufige Rettung erfolgte zwei Wochen später. Das Reichsministerium für Inneres veranlasste, dass die Gesuchstellerin bis zu meiner endgültigen Entscheidung über ihre rassische Einordnung nicht als Jüdin behandelt wird.43 Ein Jahr später, 1942, lebte Olga Richter immer noch in Baden, während über ihren Kopf hinweg die NS-Behörden
42 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe I. 43 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Richter Olga – Schreiben an den Reichsminister für Inneres (19.11.1941), Antwort (03.12.1941).
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über Erlässe debattierten, wie nun mit ihr weiter zu verfahren sei.44 Olga Richter befand sich über Jahre in einem rassisch-bürokratischen Schwebezustand, der in alle Richtungen ausschlagen konnte. Von der Deportation bis zu einem „normalen“ Leben in Baden. In einem „tödlichen Niemandsland“ lebten auch jene Menschen, deren Klassifizierung nicht der Biologie entnommen ist, sondern eher der Technik. Kommen wir von „Mischlingen“ zu den U-Booten – also Juden, die versteckt die NS-Zeit überlebten. Hier seien zwei Fälle angeführt, die bereits in verschiedenen Publikationen Erwähnung fanden: Es geht um Bernhard Goldstein und um die Brüder Posiles.45 * Bernhard Goldstein, seit 1918 in Baden ansässig – dem Judentum hatte er 1924 den Rücken gekehrt – war 1939 genauso gezwungen, Baden zu verlassen.46 Wien war die erste logische Fluchtdestination. Doch Sicherheit fand er dort keine. Er wurde verhaftet und verhört, genauso wie seine in Baden verbliebene Lebensgefährtin Albine Binder. So gut es ging, wurde der Kontakt aufrechterhalten. Hervorgetan und Mut bewiesen hatte sich hier vor allem seine Ziehtochter, Albine Mikunda, die ihren Ziehvater finanziell unterstützte und dadurch selbst ins Visier der NS-Behörden geriet.47 Die Situation war für alle gefährlich, besonders für Bernhard Goldstein, der schließlich mit Albine Binder nicht verheiratet war und somit selbst den fragilen Schutz einer „Mischehe“ nicht für sich reklamieren konnte. Und eine Flucht ins Ausland, dafür fehlten ihm die monetären Ressourcen, und ein Alter von Mitte Fünfzig machte es auch nicht leichter. Es blieb ihm nichts anders übrig, als in Wien unterzutauchen.48 Als dann die Deportationen 1941 begannen, versuchte Bernhard Goldstein, mittels der „Auswanderungs-Hilfsorganisation für nicht mosaische Juden“ (AHO) sein Leben zu retten, was ihm bis zum 27. Mai 1942 auch gelang. An diesem Tag sollte er nämlich mit tausend anderen Menschen vom Wiener Aspangbahnhof Richtung Weißrussland in das Vernichtungslager Maly Trostinec deportiert werden, doch schaffte er es, sich im Dachboden eines Zinshauses in Wien zu verstecken und nicht entdeckt zu werden. Damit entkam er der sicheren Ermordung, denn von den 999 deportierten Menschen sollte nur eine Person überleben.49 Nun war Bernhard Goldstein ein „Illegaler“ bzw. ein Mensch, der eigentlich nicht mehr am Leben sein durfte. Dass er es weiterhin war, verdankte er wiederum seiner Ziehtochter 44 Vgl. ebd. – Malvine Görö (geb. 1886). 45 Bernhard Goldstein (1882–1949). 46 Vgl. ROTH Stephan, Das U-Boot vom Badnerberg. Wie Bernhard Gol(d)stein den Holocaust in Baden bei Wien überlebte, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Forschung zu Vertreibung und Holocaust (Jahrbuch 2018), S. 175f. 47 Albine Binder (1884–1967), Albine Mikunda (1914–2008). 48 Vgl. ROTH, Das U-Boot vom Badnerberg, S. 183f. 49 Vgl. ebd., S. 185f.
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Albine Mikunda, die ihn wahrscheinlich in einer Nacht- und Nebel-Aktion nach Baden holte und abgeschieden am Badnerberg 6 in einem Ziegenstall bei der Witwe Aloisia Handlos für die nächsten drei Jahre unterbrachte.50 Was diese Zeitspanne von drei Jahren bedeutete, schilderte Albine Mikunda selbst nach 1945: Diese drei Jahre der Angst und Verzweiflung zu schildern, würde zu weit führen! Einen Menschen erhalten und heimlich versorgen des Nachts nach dem Dienst, sich nicht verdächtig machen, es war kein leichtes Werk in der damaligen Zeit, wo es nur so wimmelte von Schnüfflern. Es waren 3 Jahre mit der Schlinge um den Hals und 7 Jahre, in denen wir gesundheitlich und wirtschaftlich auf das schwerste geschädigt wurden.51 Wichtige Unterstützung erhielt sie durch den Rechtsanwalt und Beethovenkino-Besitzer Dr. Ernst Schmid.52 Albine Mikunda war als Kassenleiterin bei ihm beschäftigt, und er finanzierte offenbar teilweise indirekt das Versteck ihres Ziehvaters. Ich konnte Frau Mikunda, die jedes Opfer brachte, jedoch den finanziellen Anforderungen der Verpflegung und der Familie Handlos kaum mehr gewachsen war, dadurch helfen, dass ich ihrer Mutter Albine Binder gegen einen Anerkennungszins die ziemlich erträgnisreiche Garderobe des Beethovenkinos verpachtete.53 Es war nicht unüblich, Helfer zu bezahlen, denn Aloisia Handlos ging schließlich ein großes Risiko ein, und eine „Aufwandsentschädigung“ war durchaus gerechtfertigt, zumal im Juni 1941 ihr Sohn Josef Handlos erneut bei der Mutter einzog und ihre Tochter Antonie offenbar durchgehend dort wohnte. Und das Brisante dabei war, Josef Handlos war seit 1933 bei der NSDAP und der SA und hatte sich illegal betätigt.54 Seine Schwester Antonia war seit 1939 Parteimitglied. Dadurch wird der Fall Goldstein noch interessanter, denn nach 1945 suchten beide Geschwister um die Streichung von der Registrierungsliste an, was in beiden Fällen verneint wurde. Von einem Bernhard Goldstein lesen wir nichts, und es ist anzunehmen, dass, wenn sie von ihm gewusst und ihn gedeckt hätte, sie es sicher zu Sprache gebracht hätten. Schließlich hätte das ihre Chance auf eine Streichung deutlich erhöht. Kann es also möglich sein, dass sie tatsächlich nichts von einem Juden mitbekamen, den die Mutter in einem Ziegenstall neben dem Haus versteckt hatte? Oder wurden sie für ihr Wegsehen finanziell mitbezahlt und schämten sich nach 1945, es zuzugeben, weil sie die NS-Werte verraten hatten und nun mehr die Verachtung ihres ehemaligen NS-Umfelds fürchteten, als die Streichung von den NS-Registrierungslisten wert wäre? Alles Spekulationen meinerseits! Eine merkwürdige Gemeinsamkeit weisen die Geschwister dann aber doch noch auf: Beide argumentierten ihr Gesuch um Streichung mit einem schweren Magenleiden, und beide Ansuchen sind in einer identischen Handschrift verfasst – selbst die Tintenfarbe ist dieselbe.55
50 Aloisia Handlos (1872–1952). 51 ROTH, Das U-Boot vom Badnerberg, S. 190 – hier zitiert nach: Opferfürsorgeakt Bernhard Goldstein, NÖLA, ANÖLR VIII 1949 ZI 0082. 52 Ernst Schmid (1891–1962). 53 NÖLA; OF-Akt Goldstein, Bernhard NöLa ANÖLR VII1 1949 ZI 0082. 54 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Handlos Josef (1907–1975) und Meldezettelarchiv. 55 Vgl. StA B; GB 054/Registrierungslisten: Antonia Handlos (1905–1985) und Josef Handlos.
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Bernhard Goldstein überlebte jedenfalls, auch wenn der Preis sehr hoch war. Er schrieb nach 1945 von einer zerstörten Seele, einem geschundenen Körper voller Magengeschwüre, einem Herzleiden, einer Rippenfellentzündung, der Gelbsucht, von Spitalsrechnungen, die er nicht begleichen konnte, da er kein Staatsbürger und nicht versichert war, was wiederum dazu führte, dass die Ersparnisse seiner Lebensgefährtin und Ziehtochter aufgefressen wurden. Erst 1948 wurden die Kosten durch die Krankenkasse übernommen.56 Das Untertauchen, Sich-Verstecken, das Dasein als U-Boot zu führen und zu überleben, erforderte nicht nur außerordentlichen Lebenswillen und die entschlossene Hilfe anderer Menschen, sondern auch das nicht wirklich beinflussbare Glück. Dahingehend ist auch der Fall der Brüder Posiles, der Schwestern Becher sowie Maria Fasching ein vortreffliches Beispiel. Abgespielt hat sich das Ganze fallweise in Prag, Wien, Bratislava und Baden. Die Protagonisten waren die Brüder Hans Posiles, Walter Posiles, Ludwig Posiles, dann Edeltrud Becher (ab 1947 Ehefrau von Walter Posiles), ihre Schwester Charlotte Becher sowie die gemeinsame Freundin Maria Fasching aus Baden. Sämtliche Namen können gegoogelt werden, man findet sie beim DÖW, teilweise gibt es eigene Wikipedia-Einträge zu den jeweiligen Protagonisten, und der Fall ist gut aufgearbeitet. Im Band von Otto Wolkerstorfer „Baden 1940“, schildert ein Halbbruder der Posiles-Brüder, der jedoch namentlich nicht genannt werden wollte, sein Leben während der NS-Zeit in Baden und wie er dann gemeinsam mit den Becher-Schwestern und Maria Fasching seinen Halbbrüdern das Leben rettete. Die Lebensgeschichten aller Involvierten könnten einem Thriller oder Actionfilm entsprungen sein, nur dass die Handlung tatsächlich stattfand. Es geht um das Überleben als U-Boot, es geht um Flucht, um Widerstand, Sabotage, Spionage, Mord und Selbstmord – die Ehefrau von Hans Posiles suizidiert sich und die erste Frau von Walter Posiles und ihr gemeinsamer Sohn wurden im Zuge des Holocausts ermordet. Beginnen wir mit jenem Bruder, der 1999 nicht genannt werden wollte. Er schilderte seine ersten antisemitischen Erfahrungen in der Hauptschule. Damals war es üblich, die Gänge in der Schule in der Pause zum Fußballplatz umzufunktionieren, und dabei konnte es passieren, dass das Glockengeläute überhört wurde, die Schulstunde begann, der Lehrer kam, sah uns, gab mir zwei Watschn und rief „Ich werde es dir schon geben, du Judenbub!“ Die Watschn hätte mich noch nicht gestört, aber sein Nachsatz „Judenbub“ ärgerte mich maßlos. Denn er hatte weder eine Identität als Jude noch als „Halbjude“, obwohl sein Vater tschechischer Jude war. Seine Mutter war Arierin aus gutbürgerlicher Badener Familie. Seine Sozialisierung in Baden war bürgerlich-katholisch geprägt. Er selbst betrachtete sich als areligiös. Als der Anschluss erfolgte, erhielten er und seine Brüder einen tschechischen Reisepass und flüchteten nach Prag, während die Mutter als Arierin – der Vater war bereits 1936 verstorben – in Baden zurückblieb. Als 1939 die Rest-Tschechoslowakei von der Wehrmacht besetzt wurde, kehrte er nach Baden zurück und wurde zuerst als Kurgast eingestuft, der 56 ROTH Stephan: Das U-Boot vom Badenerberg. Wie Bernhard Gol(d)stein den Holocaust in Baden bei Wien überlebte, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Forschung zu Vertreibung und Holocaust (Jahrbuch 2018), S. 194.
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ordnungsgemäß eine Kurtaxe zu entrichten hatte. Durch Bekannte seiner Mutter bekam er eine Anstellung als Lohndiener im Hotel „Ebruster“. Nachdem er jedoch im Oktober 1940 einen schweren Arbeitsunfall erlitten hatte, wechselte er nach seiner Genesung den Arbeitgeber, ins Hotel „Grüner Baum“, das von der Familie Suckfüll betrieben wurde. Beide Arbeitgeber beschrieb er als in Ordnung, bzw. die Familie Suckfüll war äußerst nett, kannte meine Situation und sprach offen mit mir über so manche Probleme. Obwohl ich offiziell immer nur als Lohndiener geführt wurde, diente ich mich bis zum Hotelsekretär hoch.57 Im Jahre 1942 erfuhr er, dass seinen Brüdern in Prag das KZ drohte. Gemeinsam mit seiner zukünftigen Schwägerin holte er die drei nach Österreich, nachdem diese ihren Selbstmord fingiert hatten. Sie brachten sie zuerst in einer Wohnung in Wien unter, wo er sie mit Lebensmitteln versorgte und gemeinsam mit ihnen Feindsender hörte. Er selbst versuchte dabei möglichst wenig aufzufallen. Von den alten Schulkollegen grüßte mich kaum wer. Ich selbst kam mir minderwertig vor, zog mich zurück, wich aus. Passanten rempelten mich – den Untermenschen – bewusst auf der Straße an. Wehren konnte ich mich nicht, obwohl ich wollte.58 Noch weniger auffallen durften seine Halbbrüder. Alle drei nahmen falsche Identitäten an. Ludwig erhielt unter falschem Namen eine zeitweilige Anstellung in einer Weinhandlung bei Freunden der Becher-Schwestern in Wien. Hans Posiles konnte bei Maria Fasching in Baden, Weilburgstraße 35, unterkommen. Als ehemaliger Offizier der tschechischen Armee führte er in der Stadt und Umgebung Sabotageakte durch, indem er unter anderem Telefonkabeln kappte. Seine künftige Schwägerin, Edeltrud Becher, sabotierte hingegen als Beschäftigte in einer Elektrofirma in Wien die Produktion von Panzerscheinwerfern. Gemeinsam mit ihrer Schwester Charlotte und den drei Brüdern führte sie NS-feindliche Schmieraktionen durch, sie entwarfen und vervielfältigten Flugblätter, streuten Reißnägel, hörten Feindsender, um danach die verbotenen Nachrichten zu verbreiten. Dabei mussten sie stets auf der Hut sein, denn der übermächtige Feind hatte bereits ihre Spur gewittert, und zu allem Überfluss erkrankte Walter Posiles an einer Lungen- und Rippenfellentzündung. Mehrere brenzlige bis lebensgefährliche Situationen waren dabei, und genauso mit dabei waren stets griff- und schluckbereit die Zyankalikapseln.59 Alle überlebten das NS-Regime bzw. wurden nicht unmittelbar durch dieses getötet, doch dazu zu passender Zeit mehr.
Die Unbelehrbaren Um das Leben eines U-Bootes zu leben und zu überleben, war ein Netzwerk von vertrauten Menschen notwendig, die mutig bzw. selbstlos dachten und handelten. Es mussten Per57 WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 45. 58 Ebd. S. 45. 59 Verwendete Internetseiten: www.jewishhistorybaden.com, www.geschichtewiki.wien.gv.at, www. doew.at, www.erinnern.at. (10.04.2023).
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sonen sein, denen man das eigene Leben anvertrauen konnte und die genauso bereit sein mussten, ihr eigenes zu riskieren. Viele waren es nicht. Die meisten Menschen sind dieses Risiko nicht eingegangen, denn Juden zu helfen, konnte tödlich sein. Doch die Art der Hilfestellung konnte sehr vielschichtig ausfallen. Dr. Josef Allhof, geboren in Langenholthausen (Westfalen), war als Soldat der deutschen Wehrmacht beim Einmarsch in Österreich dabei, kam dann nach Baden, wo er sich in die Fleischhauerstochter Sophie Falkner verliebte, anschließend verlobte, ein Kind zeugte, woraufhin jedoch die geplante Ehe aufgrund ihrer Klassifizierung als „Mischling“ keine Genehmigung erfuhr.60 Daraufhin beantragte er 1939 die Parteimitgliedschaft, die eine Genehmigung erfuhr, und die Neun wurde in seiner Beurteilung vom Mai 1941 mit einer roten Sieben überschrieben. Politisch und charakterlich hatte die NSDAP nichts gegen ihn einzuwenden, alles einwandfrei – trotz seiner „Mischlingsverlobten“. Er machte sein Arzt-Examen, diente als Reserveoffizier, seine Wehrmachts-Beurteilungen waren tadellos, und als Sanitätsoffizier wurde er in Finnland stationiert. Dass er kein überzeugter Nationalsozialist war, mit Kritik am NS-Regime nicht sparte und dass sein Beitritt hauptsächlich dazu diente, um seiner Braut besseren Schutz angedeihen zu lassen, bestätigte nach 1945 Alois Klinger. Es dürfte daher nur die beabsichtigte Verehelichung mit seiner Braut Sophie Falkner und Mutter seines Kindes […] für den Eintritt in die Partei bestimmt gewesen sein, denn wäre Allhof ein überzeugter Nationalsozialist gewesen, so hätte er seinen Eintritt in die NSDAP schon in Deutschland bewerkstelligen können.61 Schutz mittels NSDAP-Mitgliedschaft! Bei weitem kein Einzelfall. Anständig aus NSSicht war das sicher nicht, und es erinnert an die „Arisierungen unter Freunden“ (siehe Kapitel 17). Zu den Unanständigen gehörte sicherlich auch Therese Pichler. 1940 beabsichtigte sie, der NSDAP beizutreten, kam aber über den Status einer Parteianwärterin nicht hinaus. Ihre Vermutung, warum dem so war: Anfang 1941 nahm sie Karla Kampf als Untermieterin bei sich auf, und wenig später deren heimlichen Lebensgefährten Konrad Wilhelm – der A.B.-Protestant galt als Jude. Die Beziehung zu ihm bezahlte Karla Kampf mit der Deportation ins KZ Ravensbrück. Therese Pichler schaffte es jedoch, mit ihr einen zweijährigen Briefverkehr aufrechtzuerhalten, in dem sie ihr Lebensmittelpäckchen sowie Briefe ihres Lebensgefährten, der in ein anderes KZ deportiert worden war, zukommen ließ. Ihr Einsatz für das Paar brachte Therese Pichler nach 1945 die Streichung von den Registrierungslisten ein.62 Ebenfalls um die Parteimitgliedschaft suchte Antonia Kos an. Als Erbin einer Pension in der Gutenbrunnerstraße 17 wollte sie auf Nummer sicher gehen. Sie befürchtete, dass es vielleicht Probleme geben könnte, und ein Parteibeitritt wurde ihr als Pensionsinhaberin 60 Sophie Falkner (geb. 1922). 61 StA B, GB 052/Personalakten: Allhof Josef (geb. 1914). 62 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Pichler Therese (geb. 1877) – Konrad Wilhelm (geb. 1891).
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auch nahegelegt. Sie tat es im August 1938, zahlte die jeweiligen Gebühren, ansonsten ließ sie das Partei-Dasein links liegen. Sie wohnte keinen Appellen bei, zahlte den Mindestbeitrag bei Sammlungen, verweigerte sich der NS-Frauenschaft, dafür brillierte sie mit regelmäßigen Kirchenbesuchen. Ermahnungen, Verwarnung und dergleichen waren die Folge. Ihrer Vorladung zur Gestapo 1941 lag jedoch ein ganz anderer Grund zugrunde. Während der ganzen Zeit habe ich die Verbindung mit den mir gut bekannt gewesenen Badener und Wiener Juden, allen Parteisatzungen entgegen, nicht nur aufrechterhalten, sondern sie auch in ihren Wiener Ghettobezirken mit Gefährdung meiner eigenen Person aufgesucht und unterstützt. Eine ebenso tapfere Gleichgesinnte bestätigte nach 1945, wie sie Antonia Kos wiederholt auf ihren Gängen in die Ghettobezirke begleitete. Frau Kos unterstützte laufend die ihr bekannten Juden bis zu deren Abtransport nach Theresienstadt und brachte ihnen auch immer Lebensmittel.63 Während wir hier unmittelbare Unterstützung sehen, konnte die Hilfe auch indirekt erfolgen, indem man eben etwas nicht machte. 1943 zeigte Parteimitglied Karl Koller den seit 40 Jahren konfessionslosen „Juden“ Rudolf Starnberg wegen Spionage an. Dass sich daraus keine ernsthaften Konsequenzen ergaben, lag daran, dass der zuständige Beamte, Karl Wostry, der Anzeige kein Gewicht beigemessen hatte. Vor Gericht hieß es nach 1945: Der Angeklagte [Karl Koller] macht persönlich den Eindruck eines durchaus primitiven, ja einfältigen und schwerfälligen Menschen. Starnberg war sein Hausherr, mit dem er keineswegs verfeindet war und auf Grußfuß stand. Bei dem geringen Bildungsgrad des Angeklagten mochte sich in ihm aus Überängstlichkeit der Verdacht einer Spionage des Starnbergs geregt haben. Er glaubte sich daher zur Anzeige verpflichtet. Zugleich aber stellte das Gericht klar, weder an der Tatsache der Anzeigeerstattung noch an der objektiven Gefährlichkeit derselben kann gezweifelt werden; ebenso wenig daran, dass der beim Angeklagten aufgetauchte Spionageverdacht einer objektiven Grundlage entbehrte.64 Es ist ein schönes Beispiel, welche Macht einzelne Personen besaßen und wie entscheidend es war, wer einem gegenüber saß. Denn Karl Wostry hätte auch ganz anders reagieren können, denn die Ausgangslage war eigentlich glasklar: Ein Parteigenosse zeigt einen Juden wegen Spionage an. Nichts hätte dagegengesprochen, der Anzeige nachzugehen, Rathaus und Landrat zu informieren, die Gestapo einzuschalten, eine Hausdurchsuchung anzufordern, die Deportation vorzuschlagen usw. In anderen Fällen der Hilfeleistung für jüdische Mitmenschen konnten sich Betroffene an nichts erinnern oder sehr wohl an was erinnern. Im Mai 1942 wurde Rosa Marcus von Emilie Lautenschläger angezeigt, weil sie ohne Judenstern einkaufen gegangen wäre. Die Beschuldigte verneinte. Aber als Jüdin galt ihr Wort nichts, doch die Aussagen der jeweiligen Geschäftsleute sehr wohl, wie die des Kaufmanns Hubert Hansy, der Trafikantin Magdalena Haas, der Milchhändlerin Johanna Baltazzi und der Gemüsehändlerin Leopoldine Hesele. Sie alle versicherten, dass sie die Jüdin Marcus noch nie ohne Judenstern in ihren 63 Ihrem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Kos Antonia (1890– 1983). 64 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Koller Karl (1895–1983).
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Geschäften angetroffen hätten. Allein das war schon nicht ungefährlich, denn die beinahe wortwörtlich identischen Aussagen bezeichnete Polizeichef Gutschke als „interessant“ – was nichts anderes bedeutete, als dass die vier Volksgenossen vorgemerkt waren.65 Und dies wurde bei der Milchhändlerin Johanna Baltazzi auch schlagend. Sie wurde Opfer der radikalen Denunziantin Hermine Voller, die der Überzeugung war, in Baltazzis Milchgeschäft würden Juden und „Halbjuden“ bevorzugt behandelt, die jüdischen Einkaufszeiten nicht eingehalten, der Hitlergruß weitgehend verschmäht und der „Halbjude“ Dr. Friedrich Sommer als Buchhalter beschäftigt. Mit solch einer Anklageliste wurde sie beim Marktleiter Josef Hammerschmidt vorstellig und forderte eine rigorose Bestrafung, erstens der sich nicht an die Einkaufszeiten haltenden Juden und zweitens der gegen NSRecht verstoßenden arischen Geschäftstreibenden Johanna Baltazzi. Da Josef Hammerschmidt ebenso ein radikaler Nationalsozialist war, rannte sie bei ihm offene Türen ein. Für ihn war es schon eine Zumutung, dass Hermine Voller, als Arierin und Mutter von drei Kindern, sich mit Juden in ein und demselben Raum aufhalten musste. Bei einer Verhandlung vor dem Marktamt wurde Johanna Baltazzi gezwungen, die Halbjüdinnen Grete Deimel und Helge Fries aus der Kundenliste zu streichen. Des Weiteren war ihrem Buchhalter, Friedrich Sommer, die Buchführung nur mehr vor dem Geschäft erlaubt. Dass Johanna Baltazzi nichts Schlimmeres passierte, verdankte sie bloß dem Zutun des Direktors der Badener Molkereigenossenschaft Hans Neuer – ein gewichtiger Fürsprecher, da illegaler Parteigenosse und förderndes Mitglied der SS.66 * Der Druck auf Menschen, welche Juden halfen oder bloß bezichtigt wurden, dies zu tun, war enorm. Denn das Ziel bestand darin, dass sämtliche Volksgenossen jeglichen Kontakt zu Juden zu unterlassen hatten. Es war eine zusätzliche Stigmatisierung, durch eine totale öffentliche Isolation. Wer dagegen verstieß, musste mit Sanktionen rechnen. Hierbei ging es nicht nur um Bekanntschaften oder Freundschaften zu Juden, manchmal reichte eine zufällige Begegnung, wie zwischen dem arischen Bankbeamten Josef Schano und dem nicht-arischen Dr. Franz Berger, die zu ernsthaften Unannehmlichkeiten führen konnte. Wissend, dass der ehemalige Bezirksrichter Franz Berger mit Judenangelegenheiten betraut war – dazu etwas später mehr – sprach ihn Josef Schano im Namen einer Cousine an, weil jene als „Mischling 1. Grades“ um den Besitz ihrer Wohnung fürchtete. Es entwickelte sich ein Gespräch, das am Wilhelmsring seinen Anfang nahm und am Josefplatz endete. Danach hatte Josef Schano noch einen Postweg vor sich, wo er, vor Ort, durch den ihm 65 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe IV – Hubert Hansy (geb. 1880), Magdalena Haas (geb. 1894), Johanna Baltazzi (geb. 1916), Leopoldine Hesele (geb. 1894). 66 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Voller Hermine (1909–1990) und NSDAP-Karteikarten groß: Neuer Hans (geb. 1905).
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unbekannten Block- und Zellenleiter sowie Mitarbeiter der Kreisleitung Hans Leimer angehalten und brüsk zur Rede gestellt wurde. Leimer warf mir schweinisches Benehmen vor und ob ich nicht wüsste, dass Berger ein Saujude ist. Josef Schano verneinte und begann sich zu rechtfertigen: Berger hätte keinen Judenstern getragen, wenn dem so wäre, hätte er doch niemals mit ihm gesprochen, da er genau wüsste, wie sich ein Arier gegenüber Juden zu verhalten hätte. Schließlich waren seine Brüder bei der Wehrmacht, der eine Offizier und der andere Unteroffizier. Man hat den Eindruck, Josef Schano redete sich um Kopf und Kragen, um ja nicht einer Judensympathie oder gar Judenfreundschaft bezichtigt zu werden – zumal Hans Leimer sein Gedächtnisprotokoll mit Aussagen aufpoliert hatte, die sehr zu Ungunsten Schanos ausgefallen waren.67 Die rigoros betriebene Isolationspolitik des NS-Regimes richtete sich genauso gegen die arischen Ehepartner. Unverhohlen wurden Menschen aufgefordert, sich scheiden zu lassen. Und wenn das nicht klappte, folgten unterschiedlichste Schikanen. Eine eindeutigzweideutige Andeutung, ein beiläufiges Ansprechen, ein Nicht-befördert-Werden, der Ausschluss aus einer Berufskammer oder wie im Falle des Architekten Josef Fischer das Verbot, seinen Beruf auszuüben. Grund war seine jüdische Ehefrau, Grete Fischer, und seine Weigerung, sich scheiden zu lassen.68 Als er eine Sondergenehmigung durch den Präsidenten der Reichskulturkammer erhielt, stemmte sich die Kreisleitung im Juni 1944 dagegen. Ein halbes Jahr später, im Dezember 1944, wurde er ohne Entschädigung aus der Ingenieurskammer verabschiedet und zugleich aufgrund politischer Unzuverlässigkeit als Offizier nicht übernommen. Letzteres schmerzte wahrscheinlich wenig, zumal im Dezember 1944 die militärische Situation recht „ungünstig“ für die Wehrmacht aussah. Josef Fischer wurde unmittelbar nach dem Anschluss wegen seiner Ehe angefeindet – auch indirekt. Damals soll er seine Bedienerin gekündigt haben. Welche Gründe auch immer dahinter standen, für Zellenleiter Ludwig Lackinger waren das sicher materielle Gründe – damit typisch egoistisch-jüdische – und die sollten bei Fischer immer im Vordergrund gestanden sein. Eine haltlose Unterstellung, aber der erste Schritt, Fischer als „Volksschädling“ abzustempeln, war damit getan. Als Ehemann einer Jüdin stand er vor dem Anschluss wenig überraschend der NS-Bewegung ablehnend gegenüber. Danach wandelte sich seine Einstellung aus Überlebensraison in Richtung gleichgültig. Bei Grete Fischer hieß es hingegen: Die Frau ist unbedingt von einem fanatischen Hass gegen den Nationalsozialismus erfüllt. Ihr Hass auf den Nationalsozialismus machte in der NS-Argumentation den NS-Staat zu einem Opfer ihres Hasses – eine wahrlich perfide Täter-Opfer-Umkehr. Dabei konnte Lackinger ihren Hass durchaus nachvollziehen. Ihr Vater war Trödler und Hausbesitzer und ist nach dem Umbruch nicht sehr zart behandelt worden. Ein „Evergreen“ durfte in ihrer Verunglimpfung auch nicht fehlen: Nach Mitteilung des zuständigen Blockleiters erweckt das
67 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe IV – Josef Schano (geb. 1917) und NSDAP-Karteikarten groß: Leimer Hans (geb. 1911). 68 Grete Fischer (geb. 1896).
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freche Benehmen der Jüdin und deren Tochter überall Unruhe.69 Und ein weiterer Aspekt spielte hier ebenso mit: Anlässlich der Konfiszierung eines Radioapparates trat wieder die jüdische Frechheit, unter dessen Einfluss auch der Mann steht, hervor. 70 Demnach haben wir hier zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Wir haben zwei Jüdinnen, die überall in der ganzen Stadt für Unruhe sorgten – auf die schwachsinnige Absurdität, wie das nur ansatzweise hätte möglich sein sollen, brauchen wir hier nicht einzugehen – und einen schwachen Mann, der unter der Fuchtel seiner dominanten Judenfrau stand. Aber nicht nur bestehende Ehen mit jüdischen Ehepartnern waren ein hoher Garant für Diskriminierung. Selbst vor Jahren geschiedene Ehen hafteten an den Betroffenen wie ein Makel – ein Judasmal. Bei Margarethe Hauser kam die Ehe nicht einmal zustande. Ihre Verlobung mit einem Juden dauerte fünf Jahre und endete 1930, auf Druck ihrer Eltern, die einer Ehe mit einem jüdischen Mann keine Zustimmung erteilten. Seitdem hatte es keinen Kontakt mehr gegeben, und dennoch war ihr Ruf beschädigt, und in politischer Hinsicht kann sie bestenfalls als unbedenklich bezeichnet werden. Von einer Zuverlässigkeit kann jedoch nicht gesprochen werden.71 Bei Seraphine Swerak dauerte es sechs Jahre, bis sie, nach ihrem Parteibeitritt 1938, im Juli 1944 aufgrund einer bereits vor dem Anschluss geschiedenen Ehe mit einem Juden – dieses Detail hatte sie in ihrem Lebenslauf verschwiegen – vor dem Parteigericht landete und daraufhin aus der NSDAP ausgeschlossen wurde. Hinzu kam, dass sie im als Judentreffpunkt verschrienen „Café Schopf“-Stammgast einer Bridge-Partie gewesen war und während des Ständestaates NS-Sympathisanten angezeigt hätte.72 Über eine geschiedene Ehe stolperte selbst der NS-affine Arzt Dr. Ladislaus HochbaumSchmid, beschäftigt im Sanatorium Gutenbrunn. Bereits vor dem Anschluss hatte er Parteigenossen unentgeltlich behandelt, und so war es für ihn nur selbstverständlich, nach der Machtübernahme 1938 von der NSDAP mit offenen Armen empfangen zu werden. Doch auf einmal hieß es, er sei jüdisch versippt, ein Umstand, der zuvor bei der Behandlung illegaler Parteigenossen offensichtlich nicht ins Gewicht gefallen war. Und die jüdische Versippung war auch längst nicht mehr aktuell, denn dabei handelte es sich um seine dritte Ehefrau, eine evangelisch getaufte Halbjüdin. Er versicherte, dass er, sobald er von ihrem jüdischen Hintergrund erfahren hätte, sich augenblicklich hätte scheiden lassen – das war im Jahr 1922! Ihre Nachfolgerin, die Nummer vier, war wieder eine Arierin. Sein Beitritt klappte erst 1942. Bis dahin musste er sich mit den Mitgliedschaften bei der DAF, der NSV, dem NS-Ärztebund und dem Deutschen Roten Kreuz begnügen.73
69 StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Josef (geb. 1893) – Lackinger an Ortsgruppenleitung (04.07.1940). 70 StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Josef – Lackinger an Ortsgruppenleitung (06.02.1940). 71 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Hauser Margarethe (geb. 1905). 72 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilung: Swerak Seraphine (1890–1954) und NSDAP Karteikarten groß. 73 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Hochbaum-Schmid Ladislaus (geb. 1885).
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Darwin Das Grauen des Nationalsozialismus brachte Angst, Misstrauen und Paranoia hervor, und der Wunsch zu überleben führte manchmal über Leichen. Die weitgehende Nichtsolidarität mit Juden betraf nicht ausschließlich die „Paarung Arierer-Jude“. Jude zu sein bedeutete keine automatische Solidarität mit anderen Juden. In Baden und auch sonst wo gab es nicht so etwas wie „die“ Juden oder „die“ jüdische Gemeinschaft, in der alle an einem Strang gezogen hätten und wo ein unzertrennliches Gemeinschaftsgefühl vorgeherrscht hätte. Eva Kollisch, die junge Frau, die nach New York geflüchtet war, erinnerte sich an die ihr so fremden orthodoxen Juden in Baden. Sie waren zumeist nach dem Ersten Weltkrieg aus Polen und Russland gekommen, hatten sich in der Kurstadt niedergelassen oder sie nur als Zwischenstopp genutzt. Eine Mauer, so unüberwindlich wie die des Antisemitismus, trennte unseren Lebensstil von ihrem. […] Sie aßen koscher, sprachen untereinander Jiddisch, misstrauten allen Nicht-Juden und fast genauso allen nicht strenggläubigen Juden. Dass meine Mutter ein Dirndl, die österreichische Nationaltracht, trug, war diesen Menschen genauso unverständlich, wie meiner Mutter deren laute Stimmen und ihre wild gestikulierenden Hände und Arme.74 Der etwas jüngere Karl Pfeifer, der nach Ungarn geflohen war, betrachtete die zugezogenen Ostjuden, genauso wie sein jüdisch-konservatives Umfeld, als Schnorrer, denen man aber hier und da dann doch etwas zusteckte.75 Antipathien und Konflikte haben schon immer auch in Friedenszeiten zwischen Gruppen und einzelnen Individuen bestanden, unabhängig vom religiösen oder kulturellen Hintergrund. Verändert sich allerdings die politische Großwetterlage von einer Demokratie zu einer Diktatur, vom Frieden zum Krieg, können bisherige Antipathien und bestehende Konflikte massiv an Fahrt gewinnen und überaus toxisch werden. Weshalb sollte ich einem Menschen vertrauen, ihm helfen oder mich mit ihm solidarisieren, mit dem ich zuvor nichts zu tun hatte bzw. dem ich sogar ablehnend bis feindlich gegenüberstand, bloß weil er selber Herkunft oder Religion war. Der Kaufmann Josef Willner, ein mit einer Arierin verheirateter „Halbjude“, erhielt im Dezember 1941 Besuch von dem ehemaligen Bezirksrichter Dr. Franz Berger, jenem Mann, an den sich Josef Schano gewandt hatte. Katholischer Religion und jüdischer Abstammung – um im NS-Sprech zu bleiben –, fand Franz Berger nach seiner „Versetzung“ in den Ruhestand eine ehrenamtliche Anstellung bei der Auswanderungshilfsorganisation „Gildemeester“, die etwas später in „Auswanderungshilfsorganisation für Juden nicht mosaischen Glaubens in der Ostmark“ unbenannt wurde. Dort waren alle „Nichtglaubensjuden“ oder Rassejuden registriert, während die Kultusgemeinden für die gläubigen/praktizierenden Juden zuständig waren. Franz Berger hatte den Befehl erhalten, „Mischlinge“ und Juden in „Mischehen“ aufzufordern, sich nach Wien zu begeben, zur „Zentralstelle für jüdische Auswanderungen“, um sich registrieren zu lassen bzw. den Ariernachweis des Ehegatten vorzulegen. Josef Willner leistete allerdings nicht Folge, da sich seiner Aussage 74 KOLLISCH Eva, Der Boden unter meinen Füßen, S. 14. 75 Vgl. PFEIFER Karl, Einmal Palästina und zurück, S. 13f.
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nach Franz Berger nicht ausweisen konnte. Er schickte ihn weg, er solle mit der Polizei wiederkommen, so Willner, dann wäre er bereit mitzukommen. Doch dem entzog er sich von vornherein durch die Flucht nach Sattelbach, wo er sich vier Tage versteckt hielt und erst dann nach Baden zurückkam. Im Jänner 1942 stand Berger wieder vor seiner Türe, wieder weigerte sich Willner, mitzukommen. Gleiches passierte im Mai 1942, nur diesmal hatte Berger tatsächlich die Polizei mit im Schlepptau. Doch Josef Willner versteckte sich daraufhin am Dachboden, blieb dort zwei Tage, um sich anschließend dann doch der Polizei zu stellen. Er wurde sogleich verhaftet und verbrachte die nächsten 16 Wochen in verschärfter Haft, die er seiner Meinung nach nur Berger zu verdanken hatte. Er wusste zwar, dass Berger selbst Jude war und verfolgt wurde, doch: Später hat er sich aber bei der Gestapo als Spitzel betätigt, indem er Aushebedienste für die Gestapo machte.76 Aus Sicht von Franz Berger war der gesamte Fall ganz anders gelagert gewesen. Berger beschrieb, dass er Josef Willner nur mitteilen habe wollen bzw. musste, die „Zentralstelle für jüdische Auswanderungen“ in Wien aufzusuchen und dort nur den Ariernachweis seiner Ehefrau vorzulegen – eine rein administrative Angelegenheit. Von etwaigen Deportationen wäre er (Willner) als Jude in einer „Mischehe“ ohnehin ausgenommen gewesen. Dass Willner hingegen misstrauisch geworden war, die Deportation gefürchtet, die Flucht ergriffen und sich versteckt hatte, das konnte Berger überaus nachvollziehen, aber dadurch hätte Willner die Situation unnötig eskalieren lassen. Und dabei hatte er ihm doch versichert, dass ihm (Willner) nichts passieren würde.77 Allerdings: Was war 1941 oder 1942 die Zusicherung eines Menschen wert, der für eine Organisation arbeitete, die dem Sicherheitsdienst SD und der Gestapo unterstand? Andererseits: Als sich Willner zum dritten Mal weigerte, bekam es Berger nun selbst mit der Angst zu tun und meldete dies an die übergeordneten Stellen. Ich war dazu gezwungen, da ich sonst in den Verdacht gekommen wäre, mit ihm in verbotener Verabredung zu stehen und hätte ihm außerdem in keiner Weise helfen können, wie ja der weitere Verlauf der Dinge zeigte. Und dass Personen wie er, die mit den NS-Behörden so in Tuchfühlung standen, nicht den besten Ruf genossen, wusste er von vornherein. Ich gebe ohne weiteres zu, dass über mich, wie auch über andere jüdische Funktionäre der Organisation, die fortwährend mit dem S.D. und der Gestapo zu tun hatten, schon seit Jahren Gerüchte im Umlauf waren, dass wir Spitzeldienste für die Gestapo leisteten.78 Letztendlich wurde Josef Willner nicht wegen Franz Berger verhaftet und deportiert, sondern aufgrund der Anzeige der Ortsfrauenschaftsleiterin Herma Gerich. Als Willners
76 StA B, GB 052/Personalakten: Berger Franz (geb. 1902) – Josef Willner (geb. 1902) Aussage (22.07.1945). 77 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Berger Franz (geb. 1902) Recherchiert man in der DÖWOpferdatenbank nach Josef Willner, erhält man einen Treffer. Geboren 1902, Wohnort Baden, wurde Josef Willner Ende 1942 wegen Missachtung der „Judenvorschriften“ festgenommen und blieb bis zum Kriegsende in Auschwitz und Nordhausen in Haft. 78 StA B, GB 052/Personalakten: Berger Franz (geb. 1902) – Aussage (30.07.1945).
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Ehefrau, Eleonora Willner, für sich und ihren Ehemann Kleiderkarten besorgen wollte, wurden ihr jene von Herma Gerich, die bei der Kartenstelle arbeitete, verwehrt – Grund war ihr jüdischer Ehemann. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen, und schon am nächsten Tag, mitten in der Nacht, stand schon die Gestapo bei den Willners vor der Türe – angeblich hätte er keinen Judenstern getragen. Josef Willner wurde verhaftet und nach Wien, zur Gestapo, gebracht. Eleonora Willner tat nun alles Mögliche, um ihren Mann frei zu bekommen. Sie stellte auch Herma Gerich zur Rede, die zum einen ihre Anzeige gar nicht leugnete und zum anderen die Aufregung nicht verstand, weil es sich hier ja nur um einen Juden gehandelt habe.79 Die Folge für Josef Willner war – für sein nur-Jude-Sein – dass ich ins Konzentrationslager Auschwitz, dann Fürstengrube und schließlich nach Nordhausen gebracht wurde. Erst beim Umbruch kam ich aus dem Konzentrationslager zurück […].80 Den Wahnsinn der damaligen Zeit versinnbildlicht ebenso ein Fall, der sich in der Pötschnergasse 8 zutrug. Ab September 1941 entbrannte wie aus heiterem Himmel ein Streit zwischen dem Juden Nathan Wasservogel und seiner Vermieterin, Elisabeth Rosna. Von da an war das Wohnen in diesen Hause für mich und meine Familie ein Martyrium, denn nicht nur, dass die Rosna mich einen stinkigen Saujuden nannte, beschimpfte sie auch meinen Sohn mit „Judenbub, Verbrecher, Gauner etc.“, meiner Frau sagte sie, wenn sie eine anständige Person gewesen wäre, so hätte sie als Christin nicht so einen Saujuden geheiratet, aber sie von verbrecherischen Eltern abstammen muss.81 Es blieb nicht bei Beschimpfungen. Nach 1945 schilderte Nathan Wasservogel, wie er auf unterschiedlichste Art von seiner Nachbarin drangsaliert worden war. Unter anderem pflegte Elisabeth Rosna ihm den Schlüssel für die Waschküche, den sie verwahrte, nicht in die Hand zu reichen, sondern vor ihm auf den Boden zu werfen. Hinzu kamen haltlose Denunziationen und Anzeigen, gefolgt von Vorladungen durch die Polizei und die Gestapo sowie einem einmonatigen Haftaufenthalt im Sommer 1943 – wo ich mit über 40 Religionsgenossen in einem Zimmer untergebracht war, in welchem von allen Insassen Tag und Nacht die Notdurft verrichtet wurde. Nur dem beherzte Eingreifen des Rechtskonsulenten, Dr. Michael Stern, verdankte Nathan Wasservogel sein Überleben, denn der Gestapobeamte sagte mir bei der Einvernahme, dass ich nach Auschwitz komme und auf dem Übergabedokument wird geschrieben sein „Rückkehr unerwünscht“ […].82 Die Angst, in ein KZ eingeliefert zu werden, so Nathan Wasservogel, war in der Zeit omnipräsent. Und selbst als er in Haft saß, wurde er von Elisabeth Rosna angezeigt, die einfach in den Raum stellte, er wäre an den Attersee gefahren, was wiederum dazu führte, dass seine Ehefrau, Berta Wasservogel, bei 79 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Gerich Herma (geb. 1892) – Eleonora Willner (geb. 1903) Aussage (15.10.1946). 80 Ebd. – Josef Willner (geb. 1902) Aussage (12.02.1946). 81 StA B, GB 052/Personalakten: Fam. Rosna – Nathan Wasservogel (geb. 1872) Aussage (25.06.1945). 82 Ebd. – Aussage Nathan Wasservogel (20.08.1946).
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der Badener Polizei Rede und Antwort stehen musste. Zumindest ergriff diese damals die Gelegenheit, fasste all die Falschbeschuldigungen und sonstigen Schikanen ihrer Nachbarin zusammen und erstattete Anzeige. Doch vor Gericht stand es Aussage gegen Aussage. Als Zeugen konnte Berta Wasservogel nur ihren Ehemann vorweisen, doch als Jude war sein Wort bekanntlich wertlos. Das wirklich Kuriose an dem Fall war, Elisabeth Rosna war genauso mit einem Juden verheiratet gewesen, Franz Jakob Rosna, einem führenden Sozialisten aus der Steiermark, der sich im Mai 1940 suizidiert hatte. Eine weitere Gemeinsamkeit bestand darin, dass beide Ehepaare jeweils einen Sohn hatten, die beide laut Nürnberger Rassegesetzen damit als „Halbjuden“ galten. Dr. Walter Rosna, der ebenso fest im sozialistischen Lager verankert war, nach 1945 der SPÖ angehörte und eine führende Position in der Gemeinde und Bezirksleitung innehatte, wusste um die Streitigkeiten zwischen seiner Mutter und dem Ehepaar Wasservogel. Doch hätte er sich nie eingemischt, was allerdings von Berta Wasservogel bestritten wurde. Die nachbarschaftliche Auseinandersetzung begann mit Fahrrädern, die verbotenerweise am Gang standen, sowie angeblich gestohlenem Obst aus dem gemeinsamen Garten. Bestätigt wird das durch eine weitere Bewohnerin des Hauses: Es bestand zwischen den beiden Familien gewissermaßen ein Dauerzustand des Zerwürfnisses.83 Zur totalen Eskalation kam es erst im Jahre 1941 – zu jenem Zeitpunkt, als der Druck auf die verbliebenen Badener Juden massiv zunahm.84 Nach 1945 schilderte Berta Wasservogel, dass Elisabeth Rosna nach 1945 jeglichen Antisemitismus abstritt und stattdessen das Judentum ihres Mannes und ihre eigene Konvertierung hervorhob, um nach mosaischem Ritus zu heiraten. Vor 1945 hingegen hätte sie bestritten, dass ihr Ehemann Jude gewesen wäre. Es ist verlockend, sich Elisabeth Rosna aus der psychologischen Richtung anzunähern und zu analysieren, weshalb sie so handelte. Der Spekulation sind Tür und Tor geöffnet. Traumatisierung, Hass, Neid, Verzweiflung und vieles mehr könnten hier maßgeblichen Einfluss ausgeübt haben. Es brauchte und braucht stets einen Schuldigen oder Mitschuldigen, um mit dem persönlich erlittenen Leid besser oder überhaupt umgehen zu können. Aber wenn der Aggressor aufgrund seiner schieren Machtfülle als solcher nicht haftbar gemacht werden kann, so muss für die erlittenen Qualen jemand anderer zur Rechenschaft gezogen werden. Zorn und Hilflosigkeit brauchen ein Ventil. Mit seiner Wut konnte man dem NS-Regime nichts anhaben. Deswegen gingen manche Menschen dazu über, sich selbst die Schuld zu geben oder in den „eigenen Reihen“ nach Schuldigen Ausschau zu halten. Karl Pfeifer erinnerte sich an eine Freundin seiner Mutter, die uns nach dem Anschluss besuchte und für den Antisemitismus die reichen Jüdinnen verantwortlich machte, denen sie vorwarf, ihren Schmuck ostentativ zu tragen.85 Es war Verdrängung und ein Sich-nicht-eingestehen-Können, dass die Gesellschaft, in der man lebte und deren Teil man war, sich gegen 83 StA B, GB 052/Personalakten: Fam. Rosna – Apolonia Mayer (geb. 1905) Aussage (03.01.1946). 84 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Fam. Rosna – Dr. Walter Rosna (1911–2001), Elisabeth Rosna (1875–1963), Franz Jakob Rosna (1872–1949) und GB 312/1670–2014; 1938–1944. 85 Vgl. PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 20.
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einen gewandt hatte. Einfach so und ohne dass man dafür selbst irgendeine Verantwortung trug. Das zu akzeptieren, war schwer. Ähnlich wie bei Kindern, die die Schuld bei sich suchen, wenn ihnen von elterlicher Seite Gewalt widerfährt. * Oder nehmen wir den Fall Richard und Rosa Marcus, das jüdische Ehepaar, das sich nach 1945 für Kreisleiter Hans Hermann einsetzte (siehe Kapitel 8). Dass sie lange Zeit unbehelligt von den Behörden in Baden leben durften, verdankten sie nicht nur dem Wohlwollen des Kreisleiters, davon waren beide überzeugt, sondern auch dem Kriegseinsatz Richard Marcus‘, der als Leutnant der Reserve im Ersten Weltkrieg sein Leben für Kaiser und Vaterland riskiert hatte, was ihm das Eiserne Kreuz 1. u. 2. Klasse eingebracht hatte sowie eine kriegsbedingte Invalidität. Sie waren ferner davon überzeugt, sie würden von der Deportation grundsätzlich verschont geblieben sein, wenn nicht die Schneiderin Rosa Welz und ihr Ehemann Josef Welz gewesen wären.86 Besonders sie, hätte es auf die beiden abgesehen. Sie wurden von ihr auf der Straße beschimpft, angezeigt, denunziert sowie mit regelrecht pubertären Bösartigkeiten gequält, wie dem Durchschneiden ihrer Wäschestricke oder dem Ausschneiden von antisemitischen Karikaturen, um jene anschließend auf deren Postkasten zu kleben. Richard Marcus war positiv überzeugt, dass es nur ein Werk des Ehepaares Welz gewesen ist, dass wir am 26. Juli 1942 verhaftet und dann am 13. August in das KZ geschafft worden sind.87 Der Polizist Franz Kopetzky erinnerte sich nach 1945 sehr gut an Rosa und Josef Welz, weil von Seiten dieses Ehepaares Welz eine Unmenge der verschiedensten Anzeigen gegen das Ehepaar Marcus […] eingebracht worden war. Diese Anzeigen wurden abwechselnd einmal durch Herrn Welz, ein andermal durch Frau Welz erstattet. Ich kann mich noch genau erinnern, dass diese Anzeigen zumeist haltlos waren. Und er bestätigte indirekt, ohne Namen zu nennen, dass eine schützende Hand über dem Ehepaar Marcus geschwebt sei, denn soweit mir bekannt ist, ist das Ehepaar Marcus wegen dieser Anzeigen niemals bestraft worden.88 Das Ehepaar Marcus überlebte Theresienstadt. Sie kehrten nach Baden zurück, wo ihre Rückkehr jedoch Ressentiments unterschiedlichster Natur hervorrief, denn sie entsprachen nicht dem gängigen Typus des NS-Opfers. Zum einen setzten sie sich für Kreisleiter Hermann ein, den sie als anständigen Menschen bezeichneten, während sie zugleich den Geschäftsmann Paul Ranftler beschuldigten, SS-Wache in Thersienstadt sowie an der Liquidierung des Ghettos in Litzmannsstadt beteiligt gewesen zu sein. Paul Ranftler stellte alles in Abrede, schließlich war er selbst politischer Häftling gewesen und nun (nach 1945) Vorsitzender der Volkssolidarität in der ÖVP. Für ihn entbehrten sämtliche Anschuldigungen jeglicher Grundlage. Er vermutete, dass die Anzeigen seitens des Ehepaares Marcus wo86 Josef Welz (1883–1942). 87 StA B, GB 052/Personalakten: Ranftler Paul (geb. 1905) – Aussage Marcus (04.01.1946). 88 StA B, GB 052/Personalakten; Welz Rosa (geb. 1891) – Franz Kopecky Aussage (16.11.1945).
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möglich einzig und alleine an der ihm zugeteilten Wohnung lagen. Diese gehörte nämlich dem illegalen Parteigenossen Stadtarzt Theodor Leyerer, mit dem beide befreundet gewesen waren – Gerüchte besagten, dass Rosa Marcus gar mehr als nur freundschaftliche Gefühle für den Stadtarzt gehegt hätte.89 Gerüchte sind ein gutes Stichwort, denn es wurden umfangreiche Erhebungen durchgeführt, ob denn nun Paul Ranftler eben jener SS-Mann war, der im KZ-Theresienstadt als auch im Ghetto Lodz sein Unwesen getrieben hatte. Zu Wort kamen unter anderem Ernst Röschl, der sich nur auf Quellen dritter Natur berufen konnte, wobei es laut Röschl nicht gut für Paul Ranftler ausgesehen hätte, hätte die Quelle direkt ausgepackt, denn wenn sie das sagen würde, was sie über den Ranftler weiß, bliebe ihm nur die Kugel.90 Es wurde mit wahrlicher Akribie rekonstruiert, wo sich Paul Ranftler, der im Februar 1942 zur Wehrmacht eingezogen worden war, davor und danach aufgehalten hatte. Das Ghetto Lodz kam tatsächlich vor, besser gesagt Lodz als Stadt, wo er kurze Zeit Teil der Stadtverwaltung gewesen war – mit dem Ghetto an sich hätte er jedoch nichts zu tun gehabt. Es wurden KZ-Häftlinge und Ghetto-Insassen befragt, Teile der Wachmannschaft sowie zuständige Beamte, Schwarz-Weiß-Fotos kursierten durch halb Europa, doch nichts deutete darauf hin, dass Paul Ranftler der SS angehört hatte oder in irgendwelche Verbrechen involviert gewesen wäre. Viel eher kristallisierte sich heraus, dass er wegen Verdachts der Spionage in Prag-Pankratz eingekerkert war, sich zu fraglicher Zeit entweder an der Kanalküste oder in der Ukraine befunden hatte und während der Ghetto Räumung in Bad Ischl auf Kur geweilt war. Nach Baden kam er im November 1944. Aller Wahrscheinlichkeit nach lag eine schlichte Verwechslung vor, denn ein Paul Ranftl, ohne „er“ am Schluss, hatte tatsächlich an der Lodzer Ghetto-Räumung teilgenommen. Selbst 1950 wurden noch Ermittlungen angestellt, und auch hier tauchte Paul Ranftler weder in der Zentralkartei der Alliierten in Berlin noch im Außenministerium der CSR als SS–Mitglied auf.91 Klinger beklagte wieder einmal eine unnötige Vielschreiberei, doch war der Fall Ranftler da schon längst in eine andere Richtung abgebogen. Denn 1947 klagte Paul Ranftler das Ehepaar Marcus auf Verleumdung und üble Nachrede. Laut Klinger verließ daraufhin das Ehepaar Marcus fluchtartig seine Wohnung Richtung Ausland. Im Mai selben Jahres empfahl Klinger einer uns nicht unbekannten Denkweise folgend: Die Angaben des Anzeigers Richard Marcus sind mit großer Vorsicht aufzufassen, weil er seiner Ehefrau Rosa Marcus gegenüber […] förmlich hörig erscheint und unter ihrem Einfluss steht.92 Weitaus vernichtender war jedoch etwas ganz anderes. In Baden herrscht der öffentliche Ruf, dass Richard Marcus im K.Z. Lager ein sogenannter Capo und bei der Gestapo auch gut angeschrieben war. Dies dürfte 89 StA B, GB 052/Personalakten: Ranftler Paul (geb. 1905) – Aussage Ranftler (18.02.1947) und Klinger (23.02.1947). 90 Ebd. – Aussage Röschl (21.02.1947). 91 StA B, GB 052/Personalakten: Ranftler Paul (geb. 1905) – Stadtpolizeiamt Baden, Vernehmung und Leumund (31.08.1950). 92 StA B, GB 052/Personalakten: Welz Rosa (geb. 1905) – Klinger (22.05.1947).
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auch mit dem guten Aussehen der Eheleute Marcus nach ihrer Rückkehr aus Theresienstadt im Zusammenhang stehen.93 Reichte die schützende Hand des Kreisleiters Hans Hermann bis nach Theresienstadt? Hatte er ein „Empfehlungsschreiben“ mit auf den Weg gegeben, wenn er schon die Deportation nicht verhindern konnte? Alles Spekulationen meinerseits. Aber gewisse Indizien sprechen dafür. Richard Marcus war ein hochdekorierter Frontsoldat des Ersten Weltkrieges gewesen. Solche Menschen konnten (mussten nicht) auf eine wohlwollende Behandlung spekulieren, umso mehr, wenn ein Kreisleiter hinter ihnen stand. Des Weiteren war das Ehepaar Marcus noch mit dem Stadtarzt Theodor Leyerer befreundet. Es wäre möglich, dass auch weitere lokale NS-Größen im Bekanntenkreis herumschwirrten. Und wenn es tatsächlich so wäre und Richard Marcus den Capo-Posten zugeschanzt bekam, kann man es ihm verübeln, ihn angenommen zu haben? Ich zumindest nicht. Der Mann wollte leben, und er wollte, dass seine Ehefrau überlebt, was beiden gelungen ist. Solidarität mit Gleichgesinnten muss man sich leisten können, vor allem in einem KZ-Lager, wo der Preis dafür mehr als nur sehr hoch war. Das Ziel heiligt die Mittel – ich weiß, ein sehr böser und asozialer Spruch und sicher ein Reizwort für alle nachgeborenen Altruisten und Widerstandskämpfer. Und der Wahnsinn nahm kein Ende, er zerstörte jegliche Solidarität und Loyalität und brachte auch etwas mit, das unter dem Slogan „Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder“ subsumiert werden kann. Denn eine weitere Steigerung der Perfidie erfolgte, wenn sich der Rassen- und Blutreinheitsschwachsinn gegen die eigenen Reihen richtete.
Blutsbrüder und Blutsschwestern Der Badener Frauenarzt Dr. Hermann Trenner war mit Elisabeth Trenner verheiratet.94 Sie stammte aus Wilna, kam als Lea Lewin zur Welt, als Tochter eines jüdischen Vaters und einer arischen Mutter. Nach ihrer Hochzeit mit Hermann Trenner ließ sie sich taufen – aus der jüdischen Gemeinde trat sie 1925 aus.95 Je nach NS-Quelle wird sie als „Mischling 1. oder 2. Grades“ oder als „Volljüdin“ bezeichnet. Genauso akkurat sahen ihre Beurteilungen aus, basierend auf Unterstellungen, Denunziationen und sonstiger nachbarschaftlich bis innerfamiliär ausgetragenen Zwistigkeiten – zwischen ihr und ihrem Schwager Walter Trenner.96 So soll sie, nicht auf den Mund gefallen, sich wiederholt als stolze Jüdin gebrüstet und verkündet haben, sie ließe sich erst taufen, wenn sich der Führer beschneiden
93 StA B, GB 052/Personalakten: Ranftler Paul (geb. 1905) – Klinger (22.05.1947) und vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 47 – Zeitzeugenbericht Margarete Dietrich. 94 Hermann Trenner (1894–1990), Elisabeth Trenner (1899–1981). 95 StA B, GB 052/Personalakten: Trenner Elisabeth – Aussage Elisabeth Trenner (06.03.1941). 96 Walter Trenner (1896–1945).
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ließe.97 Dass sie diese Aussage vor dem Anschluss in einem Gasthaus getätigt hatte, war egal, und ihr Schwager war überzeugt: Es ist aber kaum anzunehmen, dass diese Bemerkung von ihr nur einmal getan wurde, denn dieser Ausspruch war in Baden allgemein bekannt.98 Dass nichts unversucht gelassen wurde, Elisabeth Trenner das Leben so schwer wie nur möglich zu machen, bewies Kreisleiter Hajda, als er Ortsgruppenleiter Reinöhl in Bezug auf ihren „Mischlingsstatus“ mitteilte: Es ist bisher nicht gelungen, obwohl sich mehrere Stellen damit beschäftigen, der Trenner irgendwelche falschen Angaben oder falsche Dokumente nachzuweisen.99 Hintergrund von Hajdas Aussage war, dass Elisabeth Trenner in der Tracht gekleidet, im Helenental gesichtet worden war. Was hier wie ein klarerer Fall von antisemitischer Schikane aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein wenig vielschichtiger. Denn Hermann Trenner und Elisabeth Trenner gehörten eindeutig dem deutschnationalen Lager an und hatten genauso ihre NS-Beziehungen, die mit Vizepolizeichef Josef Heitzer, SA-Standartenführer Otto Strohmayer, SD-Verbindungsmann Ludwig Schumits jun. oder dem Gauamtsleiter Karl Zeller nicht zu verachten waren. Nachbarn des Ehepaars Trenner berichteten, dass beide ein durchaus respekteinflößendes Auftreten hatten und sich aufgrund ihrer Kontakte ziemlich vieles haben richten lassen können. Sie hätten extra Kohlezuteilungen erhalten, Anzeigen gegen sie wären zumeist im Sande verlaufen, und zum Drüberstreuen hieß es noch, sie hätten mit ihren guten Bekannten aus der lokalen NS-Riege rauschende Feste veranstaltet. Und dass der „Mischlingsstatus“ Elisabeth Trenners gefälscht sei, davon wüsste sowieso die ganze Stadt. Um aus dem Geschwätz Tatsachen zu formen, wurde damit begonnen, sämtliche Zeugen und die Verdächtige zu vernehmen. Wirkliche Klarheit erhielt man letztendlich keine, obwohl man sich tatsächlich Zeit genommen hatte. Genervt fügte Gutschke im Jänner 1940 an: Nun bringe ich meine Angaben zum viertenmale zu Papier, weil sich angeblich die Gestapo um den Fall kümmern will. Vorsichtiger Weise habe ich diesmal eine Durchschrift gemacht, um gerüstet zu sein für ein fünftesmal.100 Was bei all dem herauskam, war, dass die meisten Anschuldigungen auf innerfamiliären Zerwürfnissen beruhten, nachbarschaftlichen Konflikten, etwa aufgrund zu lauten Klavierspielens und einem nicht ernstzunehmenden Haustratsch. Und dass die Trenners durch einen Teil der Badener NS-Bonzen aktiv gedeckt wurden, konnte ebenso nicht eindeutig bestätigt werden – wir schreiben mittlerweile den März 1941. Doch nur einen Monat später, im April 1941, wurde wie aus dem Nichts eine neue Front eröffnet. Nun hieß es, Elisabeth Trenner hätte sich an zwei Hausgehilfinnen vergangen. Wir lesen von Manipulation, Schlägen, Erniedrigungen und sexuellen Übergriffen. Und ihr Ehemann, Hermann Trenner, hätte davon gewusst und versucht, die Opfer einzuschüchtern. Da aus den vorliegenden Quellen nicht hervorgeht, wie der Fall ausgegangen ist, ist der Wahrheitsgehalt hinter all den Vorwürfen gegen Elisabeth Trenner schwer zu eruieren. Es ist 97 98 99 100
StA B, GB 052/Personalakten: Trenner Elisabeth – Schmid an Landrat (31.05.1941). Ebd. – Aussage Walter Trenner (25.05.1941). Ebd. – Hajda an Reinöhl (15.07.1941). Ebd. – Gutschke (11.01.1940).
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jedoch nicht auszuschließen, dass es sich um haltlose Anschuldigungen handelte. Vorwürfe der sexuellen Belästigungen passten vortrefflich in das NS-Bild eines perversen Judentums. Ähnliches lesen wir bei Walter Sulzenbacher, „Mischling 1. Grades“ und Sohn des entfernten Gymnasialdirektors Otto Sulzenbacher. Als Mitarbeiter der „Junkers Flugzeug- und Motorenwerke“ in Dessau soll er dort als Bearbeiter für Kultur und Freizeit nicht nur seine Abstammung verschwiegen haben – was zu seinem Rausschmiss führte –, sondern obendrein junge Mädchen zu intimen Besprechungen eingeladen und Annäherungsversuche unternommen haben.101 Was hier noch im NS-Sinne als normal galt, man hatte sich von einem männlichen Juden schließlich nichts anderes erwartet – Lug, Trug und Übergriffe auf arische Frauen, so konnte man im Falle Elisabeth Trenners zusätzlich dahingehend argumentieren/verunglimpfen: „Seht her, bei den Juden sind sogar die Weiber pervers!“ Ein weiteres Indiz für bloßen Rufmord wäre der familiäre Hintergrund und die politische Sozialisation Hermann Trenners. Er war schließlich der Sohn von Franz Trenner, dem ehemaligen deutschnationalen Bürgermeister der Stadt Baden von 1904 bis 1919 (dessen Werben um die NSDAP-Mitgliedschaft siehe Kapitel 11). Nationalistisch und antisemitisch ausgerichtet, wie nun einmal das deutschnationale Lager war, wäre es äußerst verwunderlich, dass Elisabeth Trenner als angeblich eingefleischte Jüdin die Hitler die Beschneidung antrug, in so eine Familie eingeheiratet hätte bzw. aufgenommen worden wäre. Es könnte aber sein, dass der deutschnationale Antisemitismus im Falle von Franz Trenner und seinem Sohn Hermann Trenner, sofern dieser überhaupt Antisemit war, die jüdischrassische NS-Komponente nicht unbedingt beinhaltet haben muss. Ansonsten wäre es wiederum nur schwer vorstellbar, dass Hermann Trenner selbst eine nicht gläubige Jüdin oder eine jüdische „Mischlingsfrau“ geehelicht oder dass ihm der Herr Vater seinen deutschen Segen gegeben hätte. Was den Fall Trenner spannend macht, ist die Tatsache, dass wir es hier mit einer Minderheit einer Minderheit zu tun haben. Es war ein deutschnationales, NS-affines bis überzeugt nationalsozialistisches Milieu, das plötzlich aufgrund einer Pseudowissenschaft ins Visier der eigenen Ideologie bzw. des favorisierten Regimes geriet. Solange die NS-Bewegung eine marginalisierte Splittergruppe darstellte und jeder Mann und jede Frau gebraucht wurde, war es strategisch nicht unbedingt sinnvoll, allzu genau auf die Rassenfrage einzugehen. Die NS-Gesinnung reichte vorerst aus, um der NS-Bewegung anzugehören. Erst danach, als der Anschluss erfolgt, die Macht konsolidiert war, begann man genauer hinzusehen. Und siehe da, nicht jedes Parteimitglied war rassisch ganz koscher. * Friedrich Kraupa gehörte seit 1921 der NSDAP an, war Besitzer der Nummer 52.948, Ehrenzeichenträger, Illegaler, Alter Kämpfer und sein Abbild schmückt die NS-Fotocollage der „Alten Parteigenossen“ aus Baden, wo er mit einem Hitlerbärtchen zu sehen ist. Er gehörte zu 101 Vgl. MAURER, WELLENHOFER, S wie „Schädling, S. 56.
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jenen, mit denen nicht gut Kirschen essen war. Zuständig für den Saalschutz in den gesamten 20er Jahren, prügelte er sich 19 Jahre lang regelmäßig mit Kommunisten und der Exekutive. Dieser Mann blutete wortwörtlich für die NS-Bewegung. Mit solchen Männern war ein NS-Staat zu machen. Doch dann kam die Katastrophe, die sich bereits vor dem Anschluss in Form von Gerüchten am Horizont zusammengebraut hatte. Seine Ehefrau Johanna Kraupa entpuppte sich als „Mischling 1. Grades“.102 Noch dazu war er es selbst, der das Rassenpolitische Amt einschaltete, um das schändliche Gerede um ihren rassischen Defekt aus der Welt zu schaffen. Doch die erhoffte Erlösung traf eben nicht ein. Es stellte sich heraus, der arische Vater seiner Ehefrau war nicht ihr biologischer Vater gewesen – Rasse schlug Erziehung! Ein freiwilliger Parteiaustritt wurde ihm nahegelegt, damit er wenigstens ehrenvoll vom Felde ziehen könnte, anstatt ein Parteigericht heraufzubeschwören, das ihn ohnehin ausgeschlossen hätte. Wahrscheinlich verstand Friedrich Kraupa seine NS-Welt nicht mehr. In der Verbotszeit wegen der Partei war ich 5 ½ Jahre arbeitslos und meine Frau samt Kind mussten darben ohne zu murren, im Gegenteil meine Frau half mir, wenn es besonders gefährlich war, den Kampf auszutragen. […] Ihr könnt jetzt und wollt eine Familie zerstören wegen dem, dass meine Frau ein Mischling ist? Die Partei wollte auf keinen Fall herzlos rüberkommen, sie bot ihm durchaus eine Alternative an, die er jedoch kategorisch ablehnte. Aus diesem Grunde teile ich Dir mit, ich will meine Frau nicht verlassen und mein Kind nicht vaterlos machen. Ich lasse mich nicht scheiden. Einspruch mache ich bei der Ortsgruppe keinen, da es so keinen Zweck hat.103 Er wandte sich stattdessen an die Reichskanzlei, ein Hoffnungsschimmer keimte, doch die Kreisleitung grätschte dazwischen: Ein Gnadengesuch würde von mir nicht befürwortet werden, da Kraupa ein wenig wertvoller Mensch (Trinker) ist.104 Um sich aber im Geiste der Swastika jahrelang zu prügeln, war er offenbar gut genug gewesen. Friedrich Kraupa trat freiwillig aus der Partei aus und legte nach Protest Ende 1940 das goldene Parteiabzeichen zurück. Bei dem Ehepaar Goldfeld-Gutheil war es der Ehemann, Johann Goldfeld-Gutheil, der aus allen Wolken fiel, als er feststellen musste, dass sein Blut dem arischen Reinheitsgebot widersprach. Als Parteigenosse anno 1932 und Illegaler musste er ebenso wie Friedrich Kraupa die Partei verlassen, und ebenso „freiwillig“, um zumindest ein Stück NS-Ehre zu bewahren. Und genauso wie Friedrich Kraupa ließ er nichts unversucht um dem entgegenzuwirken. Irgendwie müsste es doch möglich sein, bei seinen Verdiensten um die NS-Bewegung und seiner Stellung als Gutsverwalter in Alland, weiterhin Teil der NS-Familie zu bleiben. Er schrieb an den Führer, er erklärte, er bat, er erläuterte und endete mit: An Sie, mein Führer, richte ich nun die inständige Bitte, mir auf Grund meines bisherigen Lebens die Parteizugehörigkeit zu belassen und dadurch mich und meine Frau vor größtem persönlichen Unglück zu bewahren. Damit überantworte ich mein und meiner Frau künftiges Schicksal vertrauensvoll Ihrer gnädigen Entscheidung. Heil mein Führer!105 102 103 104 105
Johanna Kraupa geb. Eisner (geb. 1908). StA B, GB 052/Personalakten: Kraupa Friedrich (geb. 1891) – Brief (08.07.1940). Ebd. – Kreis an Gau (13.07.1940). StA B, GB 052/Personalakten: Goldfeld-Gutheil Johann (geb. 1900) – Gnadengesuch.
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Reichsleiter Martin Bormann antwortete im September1939 – leider nein, so das Urteil. Wobei Bormann die NS-Verdienste des Betroffenen auf keinen Fall schmälerte und ich bin mir bewusst, dass Sie von dieser Entscheidung sehr hart getroffen werden. Aber Vorschrift ist Vorschrift, um Bormanns Rechtfertigung auf den Punkt zu bringen. Außerdem gab er Johann Goldfeld-Gutheil zu bedenken, als langjähriger Angehöriger der Bewegung werden Sie sich jedoch soweit mit den Grundsätzen der Partei vertraut gemacht haben, dass Sie die Notwendigkeit einer rassischen Reinerhaltung der Partei einsehen. Aber um den Gesuchsträger nicht völlig im Regen stehen zu lassen: Sie haben im Übrigen auch ohne Parteigenosse zu sein Gelegenheit, sich weiter als einsatzbereiter Nationalsozialist zu erweisen. So können Sie unter anderem der NSV und DAF als einfaches Mitglied angehören. Und er versicherte, sollten sich aus dieser Entscheidung für Sie Schwierigkeiten in beruflicher Hinsicht ergeben, können Sie sich unter Bezugnahme auf dies Schreiben an Ihre Gauleitung wenden.106 Doch sein Austritt aus der Partei war nur der eine Teil der gesamten Problematik. Denn sein „Mischlingsstatus“ hatte genauso Einfluss auf die weitere Parteikarriere bzw. den Parteiverbleib seiner Ehefrau, Johanna Goldfeld-Gutheil, deren Verdienste um die NS-Bewegung ebenso beachtlich waren.107 Im Gegensatz zu Friedrich Kraupa stellte sich die Kreisund Gauleitung hinter die beiden. Ein Austritt aus der Partei würde nicht nur die Frau, sondern auch die NSV hart treffen, da Frau Gutheil infolge der Verhältnisse in der Ortsgruppe dann nicht mehr mitarbeiten könnte. Dass dies wiederum der Ansage Bormanns widersprach – schließlich wäre es möglich gewesen, bei einer NS-Gliederung mitzuarbeiten –, hatte sich offensichtlich parteiintern nicht herumgesprochen. Aber egal, man resümierte beider Hingabe, wie dass er sich schon vor 1932 ohne zu zögern auf sehr dünnes Eis begaben hatte, als er in Rabenstein und Ramsau mitten im tiefschwarzen Niederösterreich vor die tiefschwarzen Bauern getreten war und sie unerschrocken vom Nationalsozialismus zu überzeugen getrachtet hatte. Hinzu kam, dass er zu den Mitbegründern der Ortsgruppe Hainfeld gehörte. Seine Frau brillierte vor allem beim NSV, wo sie von Anfang an dabei gewesen war und deshalb nach 1933 ihre Anstellung bei der Post verloren hatte. Danach hätten Schikanen seitens des Ständestaates auf der Tagesordnung gestanden. Doch davon hätten sich die beiden nicht abschrecken lassen, schwärmte die Kreisleitung und versicherte im Juli 1939, dass sich der Gesuchsteller und seine Gattin nach dem Umbruch mit viel Begeisterung und Opferwillen der NSDAP in Alland aktiv zu Verfügung stellten. Im Oktober lesen wir Ähnliches: Frau Gutheil, eine unserer tüchtigsten Mitarbeiterinnen, hat sich auch in der Verbotszeit so wie ihr Gatte um die Bewegung sehr verdient gemacht und auch dadurch Schaden erlitten.108 Die NS-Ortsgruppe Alland war nicht minder von ihren Leistungen überzeugt. Anfänglich ging man nicht einmal davon aus, dass die Reichsleitung sein Gesuch negativ beantworten würde. Aber wenn doch, was dann? Sollte man seine Abstammung geheim halten? Gewiss wird 106 Ebd. – Bormann (30.09.1939). 107 Johanna Goldfeld-Gutheil (geb. 1904). 108 StA B, GB 052/Personalakten: Goldfeld-Gutheil Johann – Kreisleitung an Gauleitung (11.06.1939) u. (06.10.1939).
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von der Ortsgruppenleitung immer strengste Verschwiegenheit verlangt, aber es finden sich dann doch immer einige Herrschaften, welche den Mund nicht halten können, und die Bevölkerung beobachtet das Fernbleiben des Gutheil bei Veranstaltungen jetzt schon immer.109 Aber wie oben beschrieben, alles vergebens, obwohl Gau-, Kreis- und Ortsgruppenleitung hinter ihm standen und seine Ehefrau sich obendrein als Genealogien versuchte. Denn es bestand die Möglichkeit (ob real oder nicht, sei dahingestellt), dass das „Mischlingsdasein“ ihres Gatten gar nicht der Wahrheit entspräche. Es war der Griff nach dem Strohhalm in Form einer gewagten Hypothese, wonach seine Urgroßmutter laut Taufschein des Großvaters zwar der israelitischen Kultusgemeinde angehört hat, aber unbekannten Mädchenamens und Abstammung als „Lina N.“ aufscheint. Die Möglichkeit, dass diese Lina N. als Findelkind arischer Abkunft war, ist nicht von der Hand zu weisen.110 Friedrich Kraupa hat übrigens das Gleiche bei seiner Frau versucht und ist zu der Überzeugung gelangt, dass nicht ersichtlich sei, wer der leibliche Vater seiner Frau ist. Denn: In dem Matrikel ist unter dem Vermerk „Vater“ ein Strich. Dasselbe Merkmal scheint auch im Taufschein auf. Ergo: Es ist und war mir bewusst, dass ich die Ehe mit einem Mischling als Parteigenosse und SA-Mann nicht aufrechterhalten hätte können, es scheint mir jedoch nicht restlos erwiesen, dass mein Frau ein Mischling ist.111 Während Johanna Goldfeld-Gutheil auf ein Findelkind setzte, war es bei Friedrich Kraupa ein Strich! Die Fassungslosigkeit, unreinen Blutes zu sein, ergriff nicht nur die Betroffenen. Auch das NS-Umfeld konnte durchaus irritiert und schockiert reagieren. Die Situation von Parteigenossen Oskar Karas – nach dem Anschluss plötzlich „Mischling 1. Grades“, davor Illegaler, SA-Mitglied seit 1936 und seit 1938 bei der NSDAP – bezeichnete die NSDAPOrtsgruppe als tragisch. Man zeigte ehrliche Anteilnahme, war entsetzt, dass ausgerechnet einem so verdienten Parteikameraden das Schicksal so übel mitgespielt hatte. Es folgten die lokalkolorierten Heldenepen; seine Loyalität wurde unterstrichen, seine Illegalität bestätigt, seine deutsche Sozialisation beim Deutschen Turnerbund und der GDVP hervorgehoben, die Schikanen des Ständestaates aufgezählt (Verhaftungen, Verhöre, Arbeitsplatzverlust) und seine Standfestigkeit bei Verhören bezeugt – niemals hätte er auch nur einen einzigen Kameraden verraten. Um den Parteiaustritt kam er dennoch nicht herum, und als er im März 1941 beim Stellvertreter des Führers um eine Ehebewilligung ansuchte, musste er sogar um die Zustimmung bangen. Mein Leben würde vollends zerschlagen sein, wenn die volle Härte dieser Gesetze in Anwendung gebracht werden würde.112 Er schrieb von einem harten Schicksalsschlag, der ihn als Unschuldigen getroffen hatte, und er hoffte durch die Ehebewilligung zumindest ein Stück Lebensglück wiederzuerhalten. Seine Beurteilungen waren stets vorbildlich gewesen, und das „Anthropologische Institut für Rassenforschung“ konnte keinerlei jüdischen Einfluss ausmachen. Trotzdem musste ihm Kreisleiter Hajda schweren 109 110 111 112
Ebd. – Ortsgruppe an Kreisleitung (28.04.1939). Ebd. – Johanna Goldfeld-Gutheil an die Reichsleitung (31.10.1939). Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Kraupa Friedrich – Protokoll (18.07.1940). StA B, GB 052/Personalakten: Karas Oskar (geb. 1908) – Brief an die Reichskanzlei (14.12.1939).
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Herzens eine Absage erteilen. So schwer dieser Bescheid für Sie auch sein mag, will ich nicht Hoffnungen in Ihnen wecken, für deren Erfüllung ich in keiner Weise einstehen kann. Ob in dieser Hinsicht eine Lockerung nach dem Krieg stattfindet, kann ich Ihnen heute noch nicht mitteilen.113 Selbst in solchen Fällen wurden etwaige Eventualitäten in die Zeit nach dem „Endsieg“ verschoben. Wie wir gelesen haben, auch Karas wandte sich an die Reichsleitung bzw. direkt an Adolf Hitler, was in solchen Angelegenheiten nie verkehrt erschien. Schließlich verfügte der Führer über jene Macht, eine „Wandlung“ vornehmen zu können, sprich jüdisches Blut in arisches Blut zu verwandeln bzw., um von der christologisch verbrämten Metaebene herunterzusteigen, irgendwelche Schutzbriefe und Deutschblütigkeitserklärungen auszustellen sowie Juden zu Edeljuden oder Ehrenariern zu transformieren. Das hoffte auch der Gemeindebeamte Alfred Kobl als „Mischling 1. Grades“ und suchte im April 1939 an um die AUFNAHME IN DIE VOLKSGEMEINSCHAFT. Es ist mein sehnlichster Wunsch, auch als Pensionist weiterhin, nicht als öffentlicher Beamter, an dem großen Aufbauwerk teilnehmen zu dürfen, wie ich bis zu meiner jetzt erfolgten Pensionierung das Glück hatte. Im Jahre 1882 wurde er zwar als Sohn einer jüdischen Mutter geboren, doch er bezeichnete sich als jemanden, der mehr als nur mit der NS-Bewegung sympathisierte. Nach dem Anschluss sei er so richtig aufgeblüht. Als Gemeindebeamter arbeitete er eifrig an der Volksabstimmung vom April 1938 mit und er war bereit, den NS-Weg weiter mit zu marschieren, deswegen bat er inständigst, mein eingangs gestelltes Ansuchen, meinen Herzenswunsch, durch die Gnade unseres Führers in Erfüllung zu bringen 114 Der Mann strotzte offenbar vor Energie. Er nahm nicht nur am Aufbauwerk 1938 teil, sondern auch an dem von 1945, und dies ohne Schonung seiner Person und unter den schwierigsten Verhältnissen. Als er 1948 definitiv in Pension verabschiedet wurde, hieß es in seinem beruflichen Nachruf, einer der pflichttreuesten und verdienstvollsten Beamten unserer Stadt, Amtsrat Alfred Kobl, dessen hervorragende Leistungen im öffentlichen Dienste wiederholt von Seiten der Stadtgemeinde und vorgesetzten Dienststellen anerkannt und belobt wurden, ist in den Ruhestand getreten.115 Eine altbekannte Kuriosität am Rande; in seinen Beurteilungen 1938 wird sein Verhalten gegenüber der NS-Bewegung einmal als „gegnerisch“ und einmal als „loyal“ bezeichnet. Um dann aus der These und Antithese die Synthese zu erzielen, einigte man sich schließlich auf „loyaler Gegner“. * Um es polemisch zu formulieren, für die Nationalsozialisten war „Mischling“ nicht gleich „Mischling“. Rudolf Robert, „Mischling 1. Grades“, verlor aufgrund seiner rassischen Unreinheit seine Anstellung bei der Blumauer Patronenfabrik. Im Jänner 1939 beantragte er 113 Ebd. – Kreisleitung (06.03.1941). 114 StA B, GB 052/Polit. Beurteilung: Kobl Alfred (geb. 1883). 115 Badener Volksblatt Nr. 26 v. 03.07.1948, S. 3.
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seine Wiedereinstellung. Die zuständigen Stellen gaben sich vorerst bedeckt, aber durchaus konziliant. Die Mutter des Genannten war arisch, der Vater fiel im Krieg, dokumentarisch nachgewiesen, deswegen steht dem Rudolf Robert noch immer der Weg offen, bei anderen Firmen Arbeit zu bekommen.116 Ein im Krieg gefallener Vater, wenn auch Jude, konnte von Vorteil sein. Aber einen „Mischling“ oder „Halbjuden“ mit Sprengstoff hantieren zu lassen, das war den NS-Behörden dann doch etwas zu heikel – da stimmte die Optik einfach nicht. Sehr ähnlich war es bei „Mischlingen“, die sich in Wehrmachtsuniformen wiederfanden oder darin angetroffen wurden. Rechtsanwalt Dr. Eugen Koch wurde im Juni 1940 eingezogen und wurde Ausbildner bei verschiedenen militärischen Apparaten. Ob es zuvor nicht bekannt oder sonst wie untergegangen war, der Eingezogene war „Mischling 1. Grades“. Erst im November 1941 regte sich Skepsis, aber nicht wehrmachtsintern. Ortsgruppenleiter Fritz v. Reinöhl urgierte bei Kreisleiter Hajda. Ein „Mischling“ bei der Wehrmacht, ja darf der denn das? Einen Monat später lag der Fall bei der Gauleitung. Dort oder woanders blieb er dann längere Zeit liegen, sodass Eugen Koch erst im April 1943 aus der Wehrmacht entlassen wurde. Kochs Wesen sorgte für grundsätzliche Irritation. Als jüdischer „Mischling“ bei der Wehrmacht und dann als Wehrmachtssoldat einen Eid auf den Führer ablegen! Als Judenstämmling kann er selbstverständlich innerlich nur gegen unsere Idee sein, obwohl er heute scheinbar ganz gleichgültig ist.117 Nicht weniger vor den Kopf gestoßen war Zellenleiter Ludwig Lackinger im November 1939, als während einer Erhebung der in jüdischem Besitz befindlichen Radioapparate bei Josef Kurt Schönberg und seiner arischen Ehefrau Karoline Schönberg deren „Mischlingssohn“ Kurt Schönberg in voller Wehrmachtsmontur angetroffen wurde – Vater und Sohn waren beide evangelisch getauft.118 Auch für Lackinger geriet die heile NS-Welt aus den Fugen. Ein „Halbjude“ in Wehrmachtsuniform! Sah denn keiner die Gefahr dahinter! Laut Lackinger soll der Senior aus „echtem jüdischen Holz“ geschnitzt gewesen sein und Aussagen getätigt haben wie: Ich bin ein Volljude (bekräftigt dies mit Faustschlägen auf seine Brust), und er erregt außerdem durch sein freches Verhalten auf den Straßen allgemeines und aufreizendes Ärgernis. Für Lackinger war klar, der Hass des jüdischen Vaters auf den Nationalsozialismus hatte sich naturgemäß auf den Sohn übertragen, und es war nur mehr eine Frage der Zeit, bis der Sohn seine Waffe gegen seine Kameraden richten würde. Außerdem war seine Schwester, Elfriede Schönberg, wegen Verbreitung beunruhigender Gerüchte angezeigt und bereits festgenommen worden. Lackinger bat, die Angelegenheit sofort an die Militärbehörden weiterzuleiten. Hinzu kam noch diese äußerst verstörende Optik. Auf uns politische Leiter machte die Anwesenheit eines Soldaten der deutschen Wehrmacht bei dieser hochverräterischen Familie einen niederschmetternden Eindruck.119 116 StA B, GB 052/Ortsgruppen I; Blumau. 117 StA B, GB 052/Personalakten: Koch Eugen (geb. 1910). 118 Josef Kurt Schönberg (1884–1944), Karoline Schönberg (1891–1971), Kurt Schönberg (1921– 1985), Elfriede Schönberg (geb. 1918). 119 StA B, GB 052/Allgemein III; Fasz. I OrtsgruppeI/Zell 4; Verfolgung – Josef Kurt Schönberg
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Andere „Mischlinge“ hingegen wurden da weit weniger angefeindet. Frederike Schleiss, als „Mischling 2. Grades“, suchte um eine Studienerlaubnis an, und die Kreisleitung zeigte sich befürwortend: Nachdem Genannte auf Grund eines Gesuchs an den Führer die Erlaubnis zum Eintritt in den BDM erhielt, ferner beim Reichsarbeitsdienst war, ihr Erscheinungsbild ist vollkommen unjüdisch, und sie ist im deutschen Sinn erzogen, werden gegen die Zulassung zum Hochschulstudium keine Einwände erhoben.120. Bei anderen wusste man gar nicht, welcher „Mischlingsgrad“ überhaupt vorlag. Josef Guntram Golz ist demnach Mischling, ob ersten oder zweiten Grades ist nicht sogleich feststellbar.121 Denn sein Vater war getaufter Jude/ Halbjude und seine Mutter Italienerin unbekannter Rassenzugehörigkeit. Fest stand nur, er selbst war römisch-katholisch, geberfreudig bei Sammlungen, legte ein gutes Verhalten an den Tag, benahm sich gegenüber seiner Umgebung anständig, war ein passabler Musiker und hatte sich obendrein schon vor 49 Jahren taufen lassen. Sein früherer Name wäre Josef Goldstein gewesen. * Zum Abschluss sei noch ein besonders „ungewöhnlicher“ Fall vorgestellt, der eigentlich, wenn wir nur die Eckdaten hernehmen würden, eher gewöhnlich für die Jahre zwischen 1938 und 1945 wäre. Am Anfang stand ein Nachbarschaftsstreit – Familie Werner gegen Familie Dürpisch. Den Schluss bildete 1944 die Deportation der in einer „Mischehe“ lebenden Jüdin, Josefine Werner, in das Vernichtungslager Auschwitz. Ausschlaggebend war die Anzeige von Margarethe Dürpisch. Sie gab an, dass Josefine Werner ihr gegenüber handgreiflich geworden sei. Die hiesige Polizei leitete den Fall an die Gestapo weiter. Jose fine Werner wurde daraufhin verhaftet und im September 1944 nach Auschwitz deportiert. Ihr Ehemann, Karl Werner, bemühte sich um ihre Freilassung – vergebens. Die Ermittlungen nach 1945 ergaben, dass Margarethe Dürpisch die Familie Werner immer wieder auf offener Straße beschimpft oder sonst wie provoziert hatte. Mal schüttete sie Schmutzwasser vor die Eingangstür ihrer Nachbarn, ein anderes Mal kehrte sie ausgerechnet dann den Dachboden, wenn die Werners gerade ihre Wäsche dort zum Trocknen aufgehängt hatten. Was bis jetzt nach einer „normalen“ tragischen Geschichte jener Zeit aussieht, wird bei genauerem Hinsehen um einige interessante Facetten reicher. In der Verbotszeit wurde auch öfters davon gesprochen, dass die Genannte Jüdin sei. […] Andererseits konnte bei der fanatischen Einstellung dieser Frau zur nationalsozialistischen Idee nicht angenommen werden, dass sie nicht arischer Abstammung sei.122 Hier wird die 1886 in wurde 1944 in Auschwitz ermordet, vgl. www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023). 120 StA B, GB 052/Polit. Beurteilung: Schleiss Frederike: (geb. 1923) – Kreisleitung an Gauleitung (30.05.1942). 121 StA B, GB 052/Polit. Beurteilung: Golz Josef (geb. 1893). 122 StA B, GB 052/Personalakten: Fam. Werner; Josefine Werner (1886–1944), Karl Werner (1885– 1962), Ewald Werner (geb. 1912) – Ortsgruppe an Kreisleitung (21.12.1938).
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Banyaluka (Bosnien) geborene Josefine Werner beschrieben, jene Frau die 1944 in Auschwitz ermordet wurde, jene Frau, die in der Systemzeit drei Wochen im Arrest verbracht hatte, weil sie Hakenkreuze verstreut hatte und auch sonst eine glühende Nationalsozialistin gewesen war. Es kursierten Gerüchte, wonach es sich bei Josefine Werner um eine Jüdin gehandelt hätte, aber wegen ihres Fanatismus, ihrer Ergebenheit und Opferbereitschaft gegenüber der NS-Bewegung war es schlichtweg absurd, solch böswilligen Unterstellungen Glauben zu schenken. Aus diesem Grund unterblieb auch lange Zeit eine genauere Nachforschung. Aus Sicht Josefine Werners war eine solche auch nicht notwendig. Sie war keine Jüdin, sie besaß keine jüdische Identität. Sie war Arierin und überzeugte Nationalsozialistin – Punkt. Auch ihr Ehemann sah in ihr keine Jüdin. Karl Werner war von Beruf Reichsbahninspektor und Parteigenosse seit 1932. Der Ehe waren zwei Söhne entsprangen. Der eine war begeistert bei der HJ, der andere begeistert bei der SA. Zwischen 1933 und 1938 war die Familie Werner zahlreichen Schikanen des Ständestaates ausgesetzt gewesen. Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Verhöre, Drohungen – kein Wunder, sie waren Illegale durch und durch. Die NSDAP-Ortsgruppe Baden stellte der gesamten Familie eine einwandfreie Beurteilung aus. Moralisch, politisch, es gab nichts zu bemängeln, nichts an ihnen auszusetzen. Er [der Sohn Ewald Werner] sowie seine Familienmitglieder haben sich unbestreitbare Verdienste um die NSDAP in der Kampfzeit erworben.123 Einer aussichtsreichen Karriere stand im NS-Staat weder ihr noch ihrem Mann und schon gar nicht ihren beiden Söhnen irgendetwas im Wege. Erst als es hieß, ein Ariernachweis müsste erbracht werden, wurde das gesamte bisherige Familienleben auf den Kopf gestellt. Karl Werner musste aus der Partei austreten. Man ermöglichte ihm einen ehrenvollen Austritt im September 1939, nicht ohne zuvor alles Mögliche zu versuchen, um das nicht Abwendbare abzuwenden. Der SA-Stabsleiter Dr. Karl Gstöttenbauer hoffte: Ich bedauere das Schicksal des Kameraden Werner und würde es in diesem Fall sehr begrüßen, wenn man einen für ihn günstigen Ausweg finden würde. Ortsgruppenleiter Maximilian Rothaler bediente sich gar nicht des Konjunktivs, er wusste um die Kriterien der NS-Rassenideologie, aber: Hart sein und nicht vom vorgezeichneten Weg abgehen, war stets unser Motto; dieser Fall bedingt hier einer Ausnahme. Und da der Austritt unausweichlich erschien, so ist es mir [Kreisleiter Ponstingl] recht und billig, Obgenannten bei der Wiedergutmachung für die Schäden, die er damals durch seine Einstellung erlitten hat, zu unterstützten. Wir bitten daher, diese Angelegenheit im Sinne Werners bestens zu erledigen.124 Von einem Tag auf den anderen wurden ihre beiden Söhne zu „Mischlingen 1. Grades“ degradiert und mussten ihre HJ- und SA-Uniform ablegen. Es wurden Gesuche eingereicht, beiden das Leben nicht schwer zu machen, ihnen eine Karriere bei der Wehrmacht nicht auszuschlagen oder ein Hochschulstudium anzufangen. Aber vergebens. Karl Werner 123 StA B, GB 052/Personalakten: Fam. Werner – Kreisleitung an Gauleitung (17.12.1940). 124 Ebd. – Stellungnahmen Rothaler (24.10.1938), Gstöttenbauer (02.11.1938), Ponstingl (22.09.1939).
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musste sogar darum bangen, seine Anstellung bei den Reichsbahnen behalten zu dürfen. Die vollkommene Umkehr der bisherigen Lebensrealität brach von außen herein, nicht von innen – denn Josefine Werner sah sich trotz allem nicht als Jüdin. Für sie eine total abstruse Vorstellung. Deswegen war ihre Reaktion vollkommend logisch, jene SA-Männer, die vor ihrer Haustüre auftauchten, um den Radioapparat zu beschlagnahmen, nicht in die Wohnung zu lassen und sie stattdessen unverrichteter Dinge wieder wegzuschicken. Als 1941 bereits stadtbekannt war, dass sie als Jüdin zu behandeln war, und als solche durfte sie Bäder nicht betreten, kümmerte das Josefine Werner in keiner Weise, und sie berief sich sogar auf Bürgermeister Schmid persönlich, dass er ihr eine Sondergenehmigung ausgestellt hätte. Schmid widersprach solchen Behauptungen vehement, bezeichnete sie als jüdische Anmaßung, verbat sich ausnahmslos, solche Gerüchte in die Welt zu setzen, und teilte ihr mit: Ich ersuche Sie meinen Namen bei Auseinandersetzungen mit Volksgenossinnen nicht als Schutz und Deckung zu benützen.125 Genauso wenig interessierte sich Josefine Werner um all die in Kraft getretenen antisemitischen Gesetze. Weshalb sollten für sie als stramme Nationalsozialisten Einkaufszeiten für Juden gelten? Das Verbot, Kinos oder Gasthäuser zu besuchen, scherte sie ebenso wenig. Als sie eines Tages, von der ihr in der NS-Radikalität ebenbürtigen Nationalsozialistin Frederike Herzog, wegen eines der zahlreichen Vergehen zurechtgewiesen wurde, quittierte es Josefine Werner mit einem indirekten Götz-Zitat und einer Feststellung, dass sie, Josefine Werner, wesentlich mehr für die NS-Bewegung geleistet hätte als die Herzog in ihrem gesamten Leben. Und diese Aussage tätigte Josefine Werner vor zahlreichen Volksgenossen und obendrein vor dem Marktleiter und NS-Fanatiker Josef Hammerschmidt. Eine weitere „Diskriminierung“ erfuhr Josephine Werner 1942, als ihr die Zuteilung von Ostarbeiterinnen für die Hausarbeit verwehrt wurde. Als Jüdin stehe ihr das nicht zu, urteilte die Ortsgruppe, außerdem machte sie, merkte man spitzbübisch an, einen ganz rüstigen Eindruck, sodass anzunehmen ist, dass sie ihre Hausarbeit ohne Unterstützung führen kann.126 Im Jahre 1943 machte Josefine Werner wieder Schlagzeilen. Wegen Hamsterfahrten und dem erneuten Verschweigen ihrer Abstammung kam sie im Oktober 1943 für drei Wochen in Haft. Doch die Gnade war stärker als das Recht. Wegen ihrer Verdienste zwischen 1933 und 1938 drückte die NS-Justiz ein Auge zu. Erst als die Auseinandersetzung zwischen ihr und Margarethe Dürpisch eskalierte, schien der Bogen überspannt worden zu sein. Schließlich hatte Josephine Werner als Jüdin einer Arierin das Kleid zerrissen, sie im Gesicht verletzt und ihr angeblich noch hinterhergerufen: Wartet nur, wenn die andere Zeit kommt, dann werden wir’s euch schon zeigen.“ Diese Bemerkung aus dem Munde einer Jüdin genügt sicherlich, um dieselbe hinter Schloss und Riegel zu setzen.127 Die vor Ort zuständigen Stellen leiteten den Fall an die Gestapo weiter, wo es dann hieß: Das Reichssicherheitshaupt125 Ebd. – Schmid (08.04. 1941). 126 Ebd. – Ortsgruppe an Kreisleitung (17.11.1942). 127 Ebd. – Gauleitung an Kreisleitung (08.12.1944).
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amt hat aufgrund des Vorfalles gegen die Werner Schutzhaft bis auf weiteres und Einweisung in das KZ-Lager Auschwitz angeordnet.128 Und wie so oft lag dem Disput zwischen der Familie Werner und Dürpisch ein nachbarschaftliches Zerwürfnis zugrunde. Es begann mit Unfreundlichkeiten und kleinen Sticheleien, wie, dass man dem Gegenüber das Schmutzwasser unter die Eingangstüre kehrte, gefolgt von Beschimpfungen wie „Hure“ oder „Saujüdin“ bis hin zu tätlichen Angriffen, wie dem Werfen von Gegenständen und dem Zuschlagen mit nassen Fetzen.129 Und so fand sich eine überzeugte und radikale Nationalsozialistin als Jüdin in Auschwitz wieder. Die letzte Nachricht von seiner Mutter erhielt ihr Sohn, Ewald Werner, am 21. Jänner 1945, die sie bereits am 18. Dezember 1944 verfasst hatte. Danach kam nichts mehr. Aber es ging grotesk weiter. Nach 1945 beantragte Ewald Werner einen Opferausweis, zog den Antrag jedoch einen Monat später wieder zurück und begründete dies wie folgt: Ich kann, obwohl ich mich als Opfer des Nazismus betrachte, meine Mutter im KZ Auschwitz verstorben ist, den am 22. November 1949 gestellten Antrag nicht aufrecht erhalten, da ich trotz meiner rassischen Abstammung, laut den bei der politischen Polizei aufliegenden Unterlagen, welche mich als SA-Mann der Standarte 84 Baden und als illegales Mitglied bezeichnen, dies als der Wahrheit entsprechend zugeben muss.130 * Allein die paar Fälle aus Baden zeigen deutlich die pseudowissenschaftliche Rassenlehre auf – das „pseudo“ kann nicht oft genug betont werden – sowie ihre abstrus bizarren Auswüchse, Unsinnigkeiten und Widersprüche. Es ist Schwurbelei in reinster Reinform. Tragisch, bisweilen komisch, aber vor allem mörderisch. Ganz wichtig in diesem Kontext zu erwähnen ist, die oben beschriebenen Fälle sind Ausnahmen. Nicht, dass der Eindruck entstehe, „die Juden“ hätten eigentlich eh selbst bei alldem irgendwie mitgemacht. Nein, haben sie nicht! Die Normalität sah anders aus, ersichtlich an jenen Menschen, die nicht einer Minderheit im homöopathischen Promillebereich angehörten, wie Johann Goldfeld-Gutheil, Oskar Karas oder Josefine Werner. Laut einer Zählung vom 9. Februar 1942 waren noch acht „Volljuden“ in Baden gemeldet, die nicht den Schutz einer „Mischehe“ aufwiesen. Das wären Dr. Bernhard Seiler (Rainerring 18), Dr. Johann Schuloff und Klara Schuloff (Gymnasiumsstraße 9), Hermine Blum (Kaiser Franz-Ring 35), Dr. Albert Pollach und Berta Pollach (Habsburgerstraße 44), Helene Hlavacek (Weichselgasse 12) und Olga Richter (Wienerstraße 41). Mit Buntstift wurde neben dem Namen der aktuelle „Status“ hinzugefügt. Hermine Blum und Berta Pollach waren noch nicht nach Wien verzogen, bei Albert Pollach wurde Selbstmord hinzugefügt, beim Rest noch wohnhaft. Es wurde aufgetragen, die Liste nach Möglichkeit zu ver128 Ebd. – Gestapo (09.11.1944). 129 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Dürpisch Margarete. 130 StA B, GB 052/Personalakten: Fam. Werner – (12.12.1949).
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vollständigen, was am 13. Februar und 5. März 1942 auch geschehen sollte. Hinzu kamen Rosa Wanek (Kaiser Franz Josef-Ring 22), Paula Langendorf (Braitnerstraße 11), Marie Newlinsky (Elisabethstraße 10–12) und Klothilde Krauszler (Wassergasse 34).131 Während im Februar, März und April 1942 noch die Namen gesammelt wurden, begann im Sommer erneut eine Deportationswelle. Am 23. Juli 1942 wurden Bernhard Seiler (geb. 1860) und Hermine Steiner (geb. 1860) nach Wien deportiert. Vier Tage später traf es das Ehepaar Richard und Rosa Marcus und Karoline Steinschneider (geb. 1867).132 Wenn wir uns die Geburtsdaten zu Gemüte führen, ist zwei Mal das Jahr 1860 vertreten, somit waren diese Menschen über 80 Jahre alt. Diese beiden Menschen kamen zur Welt, als es noch kein Österreich-Ungarn gab. Für die Kreis- und Ortsgruppenleitungen war das nicht von Interesse. Sie kämpften eher mit der Schmach, dass vier Jahre nach dem Anschluss immer noch Juden in ihrer Kurstadt lebten. Und diese Schmach sollte noch ein weiteres Jahr an ihnen haften. Im März 1943 befanden sich immer noch Juden in Baden: Deutscher Staatsangehörigkeit: Johann Schuloff (geb. 1884) Rechtsanwalt, Kriegsinvalide und Klara Schuloff (geb. 1873) Charlotte Koch (geb. 1874) verwitwet, ein Sohn, Mann war arisch Helene Hlavacek (geb. 1855), verwitwet, Ehemann arisch, 8 Kinder Rosa Wanek (geb. 1869), Verwitwet, Ehemann war arisch, kinderlos Klothilde Krauszler (geb. 1865), geschieden, Ehemann arisch, 2 Kinder Paula Langendorf (geb. 1866), geschieden, Ehemann arisch, 1 Sohn Ausländische Juden: Friedrich Blum (geb. 1861), Türkei Theresia Mansch (geb. 1886), USA133 Von den zuvor erwähnten Menschen überlebten Rosa Wanek und das Ehepaar Richard und Rosa Marcus. Johann Schuloff, Klara Schuloff, Bernhard Seiler, Hermine Blum (geb. 1855), Berta Pollach und Hermine Steiner (geb. 1867) wurden ermordet.134 Aber was wussten eigentlich die ehemaligen Mitmenschen und Nachbarn aus Baden davon? Es gab Gerüchte und Gerede, und bisweilen brachte das Brodeln der Gerüchteküche die kuriosesten Dinge hervor. Die Stenographin Margarethe Dietrich arbeitete als Jugendliche in der Rechtsanwaltskanzlei von Dr. Ernst Schmid.135 Eine ihrer Arbeitskolleginnen war Karoline Leuchtag. Die beiden Frauen kamen ins Gespräch bzw. Margarethe Dietrich
131 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge, f. 30–32 und auszugsweise zusammengefasst in MAURER, WELLENHOFER, S wie „Schädling“, S. 24–27. 132 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge, f. 23 u. 24. 133 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe IV. 134 Vgl. die Opferdatenbanken von DÖW und Yadvashem. Über die sonst angeführten Personen, konnten in den beiden Datenbanken keine Ergebnisse erzielt werden (Stand April 2023). 135 Margarethe Dietrich (1925–2018).
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schnappte so einiges auf. Jahrzehnte später erzählte sie, dass Karoline Leuchtag ihren jüdischen Ehemann, Alfred Leuchtag, vor den Nationalsozialisten in einer Truhe versteckt hätte, weil jener auch so klein gewesen sein soll, und er wäre nur abends heraus gekommen, um in der Nacht spazieren gehen zu können.136 Wie das mit jenem Alfred Leuchttag zusammenpassen sollte, der sich ostentativ weigerte, den gelben Judenstern zu tragen, damit zwei Anzeigen in Kauf nahm und beide Male erfolgreich in Berufung ging, ist mir nicht ganz einleuchtend. Noch dazu soll diese Truhe in der Welzergasse 33 gestanden haben, also bei dem Ehepaar Starnberg. Womöglich haben wir hier ein Beispiel, wo Tatsachen, aufgrund all der Ereignisse rundherum und dem jugendlichen Alter der Erzählerin, sich mit Fiktionen, Klatsch und Tratsch vermischt hatten. Sie selbst schilderte: Generell sprach man nur unter vorgehaltener Hand über jüdische Schicksale, keiner wusste im Grund etwas. Es gab Vertuschungen, Getratsche und Misstrauen. […] Damals munkelte man bereits über Deportationen und Konzentrationslager, in die jüdische Mitbürger gebracht wurden. Aber die Angst war zu groß, um genauer nachzufragen oder gar zu hinterfragen. Die Angst machte es schwer, Geschwätz, Propaganda und Wahrheit auseinanderzuhalten. Gerüchte über Gaskammern, die gab es. Es gab Fronturlauber, die davon erzählten. Und das nicht immer hinter hervorgehaltener Hand, manchmal mit geballter Faust, die dabei stolz gegen die Brust geschlagen wurde. Aber genauso gab es Schilderungen über Juden, die plötzlich, wie aus dem Nichts, mitten in Baden wieder auftauchten, als wären sie nie weg gewesen, als wäre nie etwas gewesen, und es hieß sogleich, wie sich Margarethe Dietrich erinnerte, wer weiß, ob die Geschichten über die Juden überhaupt wahr sind .137 Womöglich hatte vielleicht auch die Sekretärin der Gustloff-Werke in Hirtenberg, Anny Humm, anfänglich Zweifel gehegt, ob all der unglaublichen Gerüchte, bis sie 1943 mit 19 weiteren Arbeitskolleginnen aufgefordert wurde, nach Ravensbrück in das KZ-Lager zwecks Leistung von Aufsehe- und Antreibfunktion, bzw. Truppführung weiblicher Häftlinge zu fahren. Ich betone, dass sich die anderen 19 Mädchen freiwillig dazu erboten hatten, wogegen ich nicht gefragt worden war, wie ich auch der NSDAP nicht zugehörig war und ich diesen Vorgang als Bosheitsakt meines Vorgesetzten [Josef Frais] ansehen musste. Und als sie in Ravensbrück ankam, da sah sie es mit eigenen Augen. Sie hatte verschiedene menschliche Silhouetten gesehen, welche sich nur schwankend vom Platze wegbewegten. Als sie genug nahe waren, konnte ich bemerken, dass es sich hier um Frauen handelte. Sie waren ganz geschoren, abgemagert, und unter ihnen befanden sich wirkliche Skelette, und es schien, als konnten sie sich kaum vom Platze bewegen. […] Es ist unmöglich gewesen, von diesen Leuten das Alter zu bestimmen, und ich konnte erkennen, dass mehrere unter ihnen schwanger waren. Lange blieb sie nicht in Ravensbrück, aber lange genug, um mitzubekommen, dass die Häftlinge auch im Winter barfuß Schwerstarbeit zu verrichten hatten, wie leicht es war, Häftlinge verschwinden zu lassen, wie schwer es hingegen war, zwischen Männern und Frauen zu 136 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 48. 137 Ebd. S. 47.
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unterscheiden, da diese Silhouetten aufgrund der Quälerei und Schinderei ihre geschlechtsspezifischen Merkmale eingebüßt hatten – außer jene Menschen, die schwanger waren, da konnte man sich sicher sein, es mit Frauen zu tun zu haben. Von den 20 Frauen, die in Ravenbrück ankamen, um Aufsehe- und Antreibefunktionen auszuüben, fuhren neun wieder zurück. Anny Humm war eine davon. Aber für Nachschub war gesorgt. Ich vergaß zu erwähnen, dass von verschiedenen Richtungen des Reiches Frauen und Mädchen zur gleichen Zeit nach Ravensbrück gekommen waren zwecks Anlernung.138
138 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Frais Josef (geb. 1897) – Anny Humm (geb. 1918) Aussage (11.04.1946).
Kapitel 25 Die Auszumerzenden Oder: Von einer besseren Gesellschaft
Es ist hinlänglich bekannt, dass Juden die quantitativ größte, aber nicht einzige Opfergruppe waren. In diesem Kapitel möchte ich auf weitere Opfergruppen eingehen und Beispiele aus der Kurstadt Baden präsentieren. Die Gewalt, die diese Menschen erfuhren, war in den meisten Fällen ebenso an NS-Konstruktionen gekoppelt, denen die Opfer nicht entkommen konnten oder wenn, dann nur sehr schwer und mit einer großen Portion Glück. Es geht um Menschen, die physisch oder psychisch krank bzw. behindert waren, Menschen, die als asozial abgestempelt und Menschen, die als „Zigeuner“ – im negativen Sinne – eingestuft wurden. Es waren Personengruppen, die nicht unbedingt von Anfang an einer sofortigen Vernichtung zugeführt werden mussten, da ihre Zahl im Vergleich zu den als jüdisch deklarierten Opfern deutlich geringer war. Aber sie konnten jederzeit zum Handkuss kommen, wenn es für das NS-Regime irgendwie brenzlig wurde, weil Erfolge ausblieben, der Mangel grassierte und die Unzufriedenheit dadurch wuchs. Es waren Menschen, die das NS-Regime in der Hinterhand hatte, um bei Gelegenheit mittels Sündenbockpolitik und unmittelbarer Gewaltanwendung Stärke zu demonstrieren, um dadurch wiederum vom eigenen Versagen abzulenken. Es waren Menschen, die vollkommen entrechtet und ihrem schier übermächtigen Gegner fast auf Gedeih und Verderben ausgeliefert waren. Wenden wir uns zuerst jenen Menschen zu, die lange Zeit nicht genuin als Opfer angesehen wurden, weil ihr Opferstatus diffus erschien. Es geht um Menschen, die als sogenannte „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ deklassiert wurden und die Teil jeder Gesellschaft sind. Zumeist waren es Zeitgenossen, denen die Normalen und Anständigen in der Nacht lieber nicht über den Weg liefen, ihnen am besten vollkommen aus dem Weg gingen und es nicht gerne sahen, wenn der eigene Nachwuchs mit dem Nachwuchs solch einer Klientel zu tun hatte. Heute werden diese Menschen zumeist unter den Begriffen sozial- und wirtschaftsschwach, bildungsfern oder bildungsbenachteiligt subsumiert.
Gesindel Die Etikettierung „asozial“ war wandel- und anpassbar. Grundsätzlich waren damit Menschen gemeint, die für die „Volksgemeinschaft“ nichts leisteten, ihr dafür auf der Tasche lagen, deren Verhalten als anstößig und dem NS-Sittenbild unwürdig galt bzw. die der „Volksgemeinschaft“ nicht nur nichts einbrachten, sondern die sie sogar aktiv schädigten.
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Es waren oft Menschen aus prekären wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, Randgruppen, Minderheiten, gesellschaftliche Unterschichten, Arbeitslose, Obdachlose, Alkoholiker, psychisch auffällige Menschen usw. Dem nicht unähnlich und überlappend war die Klassifizierung als Berufsverbrecher. Es waren Menschen, die mehrmalige kriminelle Straftaten begangen hatten und damit als Wiederholungstäter galten. Eine Integration in die Gesellschaft bzw. „Volksgemeinschaft“ wurde nicht erwartet und war größtenteils nicht erwünscht. Stattdessen wurde eine unbefristete Sicherungshaft präferiert. Auch hier gab es keine klare Definition bzw. selbst wenn es eine gegeben hätte, zwischen 1938 und 1945 konnten klare Definitionen einer jederzeitigen Korrektur und Anpassung unterworfen werden. Ob man als „Asozialer“ oder „Berufsverbrecher“ klassifiziert wurde, hing auch stark von den zuständigen Behörden ab und deren teilweise willkürlicher Auslegung von Gesetzen – das wird uns mehrmals begegnen –, die wiederum auf pseudowissenschaftlichen Grundlagen fußte. Als Bewohner egal welcher Ortschaft kennt jeder von uns solche Menschen, da diese teilweise im öffentlichem Raum sehr präsent sind. Sie sind häufig an den gleichen Stellen zu sehen, oftmals alkoholisiert und/oder unter Einfluss illegaler Drogen. Nicht anders war es damals. Wie über diese Menschen gesprochen und gedacht wurde, entnehmen wir ihren Beurteilungen. Inhalte und Formulierungen konnten variieren. Sie reichten von einer sarkastischen und zynischen Ausdrucksweise zu klar ausformulierten Sterilisierungs- bis hin zu Ausmerzungsabsichten. Binger Franz ist Arier, Mitglied der DAF. Binger ist ein asoziales Element und politisch durchaus nicht ernst zu nehmen. Was seine politische Laufbahn betrifft, so wird es kaum eine Bewegung oder Formation von den ersten Anfängen der nationalsozialistischen Bewegung bis zur Ottonia geben, die Binger nicht mit seiner Mitgliedschaft beglückt hat. Was seine charakterlichen Eigenschaften anbetrifft, darüber kann eine Einsicht in die Strafkarte des Genannten näheren Aufschluss geben.1 Unter die Kategorisierung „asozial“ finden sich Menschen, die umgangssprachlich auch als stadtbekannte Originale bezeichnet werden, Sonderlinge, sie fallen auf, gelten aber im Großen und Ganzen als harmlose Narren. Zu ihnen gehörte in Baden Herma Jezek, auch Jeschek geschrieben. Laut Meldezettelrecherche eine zweifache Witwe, deren erster Ehemann 1917 verstorben war und deren zweiter sich im Irrenhaus befand – beide Männer trugen denselben Nachnamen – und sowohl sie und als auch die Nummer II hatten mit dem ehemaligen Regierungsrat Julius Schuldes unter einem Dach gelebt – jenem Mann, der den erweiterten Suizid des Kronprinzen Rudolf als Telegraphist von Mayerling nach Wien telegraphiert hatte und bei der Auffindung der Leichname vor Ort gewesen war. Herma Jezek war nie einer ordentlichen Beschäftigung nachgegangen, bis Anfang 1941, nachdem ihr das Arbeitsamt nahegelegt hatte, eine Anstellung bei der Luftwaffe anzunehmen. Sie wollte jedoch vorerst nur eine leitende Stellung annehmen, musste sich aber letzten Endes doch begnügen, als Kanzleikraft Verwendung zu finden. Sonderwünsche dieser Art waren aber zu erwarten gewesen, denn Herma Jezek besitzt Anwandlungen, die man als Größenwahn bezeichnen könnte. Sie bildet 1
StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Binger Franz (geb. 1908).
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sich ein, einmal eine Schriftstellerin, dann wieder Dichterin oder eine große Sängerin zu sein. Sie legte sich auch einen Künstlernamen Clarson bei. Derzeit behauptet sie, Musikprofessorin zu sein. Ihre politische Einstellung ist ebenfalls unklar und wankelmütig. Sie stand immer zu derjenigen politischen Richtung, die eben die Führung hatte. Jetzt will sie Nationalsozialistin sein.2 Weitaus weniger nonchalant wurde im Dezember 1943 bei einer Sitzung der Kreissozialkommission in der Strasserngasse 6 parliert. Geurteilt wurde über 18 Menschen aus dem Bezirk, die als „Asoziale“ eingestuft waren, Menschen, die seelisch oder moralisch erbkrank sind. Menschen, die ewig tachinieren wollen, mit offener Hand überall hintreten, sich allen anzupassen vermögen, statt für die Allgemeinheit zu wirken, die Allgemeinheit für sich wirken lassen.3 Das Sitzungsprotokoll wurde mit eugenischen Zitaten von Hitler, Nietzsche oder Paul de Lagarde verziert, wonach sinngemäß das Edle überlebt und das Missratene zugrunde gehen muss. Allerdings musste beim Zugrundegehen des Missratenen etwas nachgeholfen werden, damit endlich die Last vom Gesunden genommen werde. Der erste Schritt betraf die Erfassung. Das Klassifizieren und Aussortieren vor Ort oblag den jeweiligen NSDAPOrtsgruppen, die bereits vorgedruckte Formulare zur Verfügung gestellt bekamen.4 Es war ein offenes Gespräch hinter verschlossenen Türen. Bemerkenswert war die Aussage, dass die politische Einstellung der Betroffenen keine Rolle spielte. Asozial ist nicht, wenn er uns politisch nicht entspricht. Gemeinschaftsunfähigkeit hat mit politischer Haltung nichts zu tun.5 Damit rückten selbst altgediente Nationalsozialisten in den Fokus, nachdem man feststellen musste, dass man nicht nur Juden in den eigenen Reihen hatte, wie im Kapitel zuvor erläutert, sondern dass auch ein paar „Asoziale“ darunter waren. Es waren Menschen, die uns bereits begegnet sind, zum Teil alte Parteimitglieder, die für ihre Bewegung geblutet hatten, die jedoch nach dem Anschluss den Anschluss verpassten, sich stattdessen dem Alkohol hingaben bzw. nie von ihm Abstand genommen hatten und deren Intellekt und Integrität Defizite aufwiesen. Als nach dem Verbot 1933 der Tapezierer Raimund Müller der SA beitrat, verlor er sämtliche Gemeindeaufträge inklusive seiner Dienstwohnung. Doch die „la NS-Familia“ nahm sich seiner an und verschaffte ihm nach dem Anschluss eine Anstellung in der Munitionsfabrik in Enzesfeld. Überglücklich darüber, beschloss Raimund Müller, seiner eigenen Familie ein Mitbringsel mit nach Hause zu bringen, um ihnen seine neue Tätigkeit etwas näherzubringen. Er entschied sich für ein Flakgeschoss. Ein anderes Mal sah er sich bemüßigt, die schleißige Arbeit eines Kollegen aufzuzeigen, indem er wiederum ein Flakgeschoss mitnahm und es diesmal im Bus auf der Fahrt nach Hause herumreichen ließ. Es kam zu einer Anzeige und einer Befragung in seinem näheren Umfeld, was mit dem Kameraden Müller falsch gelaufen sei. Die SA-Standarte versicherte seine politische Einwandfreiheit, ein gutmütiger 2 3 4 5
StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Jeschek Herma (geb. 1890) – Fritz v. Reinöhl an Kreisleitung (22.04.1941). StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II S wie Schädlinge; Mappe IV. Auszugsweise zusammengefasst in MAURER, WELLENHOFER, S wie „Schädling“, S. 43–47. StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II S wie Schädlinge; Mappe IV.
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Charakter, allerdings etwas beschränkt.6 Im Kreis zeigte man sich ebenso nachsichtig. Unserer Ansicht nach liegt hier durchaus keine böswillige Absicht oder gar staatsfeindliche Gesinnung vor, sondern ist der Vorfall der Primitivität des SA-Mannes zuzuschreiben.7 Die Kreisleitung gedachte ihm unter die Arme zu greifen und unterstützte das Gnadengesuch seiner Lebensgefährtin. Die Ortsgruppe, unter Maximilian Rothaler, war da weniger entgegenkommend oder zimperlich in ihrer Ausdrucksweise. Er wird als ausgesprochener Faulenzer und minderwertiger Menschen bezeichnet, der niemals auch nur den geringsten Versuch unternommen hatte, in der wohl schweren Zeit auch nur einen Gelegenheitsverdienst zu suchen.8 Obendrein würde er sich nur von seinen Frauen aushalten lassen und laufend Kinder zeugen. Und was seine wirtschaftliche Deklassierung nach 1933 anbelangte, so lag es bestimmt nicht an seiner politischen Ausrichtung, wie Bürgermeister Schmid zwei Jahre später anmerkte: Die eingetretene Verschuldung des Raimund Müller dürfte mehr durch seine familiären Verhältnisse als durch seine nationalsozialistische Gesinnung eingetreten sein.9 An der gesamten Asozialen-Thematik wollte man grundsätzlich am liebsten gar nicht anstreifen, vor allem dann nicht, wenn man den Ruf einer mondänen Kurstadt zu verlieren hatte. Als im Jänner 1941 das Kreisgesundheitsamt bei Schmid anfragte, ob man in Baden einen Film über „Asoziale“ drehen dürfte, war Schmid alles andere als begeistert. Wo einst Könige und Kaiser ihre Kur verbracht hatten, sollte über Säufer, Bettler und sonstige Gauner berichtet werden! Allein Baden in diesen Zusammenhang zu bringen, würde den Eindruck erwecken, als ob es solche Elemente in der Kurstadt überhaupt gäbe. Das Image seiner Kurstadt würde Schaden nehmen. Aber konziliant wie er war, konnte man sich in der Mitte treffen. Bezüglich der Verlautbarung des Schmalstummfilms stehe ich auf dem Standpunkt, dass sowohl Verlautbarungen gemacht werden, jedoch unter Hinweglassung der Orte, aus denen diese Filme stammen, weil es für das Heilbad Baden sicherlich nicht empfehlenswert ist, Behausungen und Einzelmenschen unter dem Hinweis, dass diese von Baden stammen, der breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen.10 Man schämte sich dieser Menschen, und der Schein musste gewahrt werden. Die Biedermeier- und Schwefelstadt durfte nicht mit „Asozialen“ assoziiert werden. Dabei hätte Schmid nur allzu gut gewusst, welche Bürger seiner Stadt in so einem Streifen die Hauptrollen übernehmen würden. Ganz oben hätte sicher Florian Rausch gestanden, der auf ihn den Eindruck eines verkommenen Menschen machte. Der seit 1931 verwitwete Vater von drei Söhnen hatte sich dem Trunke ergeben und wurde daher über ihn ein […] Gasthausverbot ausgesprochen.11 6
StA B, GB 052/Personalakten Raimund Müller (geb. 1891) – SA an Kreisleitung (20.12.1938) und NSDAP Karteikarten groß. 7 Ebd. – Kreisleitung an das Gaugericht (21.01.1939). 8 Ebd. – Bericht Rothaler (12.01.1939). 9 Ebd. – Franz Schmid an die Kreisleitung (07.02.1941). 10 StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fast. II Korrespondenz; 1941. 11 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Rausch Florian (geb. 1879) – Schmid ans Amtsgericht (10.01.1941).
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Oder die zehn Mal vorbestrafte Rosalia Nachtnebel. Nachdem die Obengenannte fortwährend die Behörden belästigt und für die ganze Nachbarschaft ein lästiges Uebel bedeutet, so wurde von der hiesigen Parteileitung der NSDAP […] das Ersuchen gestellt, dieser Person durch ihr Querulanten und Miesmachertum das Handwerk zu legen und die Betreffende in eine geschlossene Anstalt unterbringen zu wollen. Für Schmid war diese Frau eine wahre Plage, die nicht nur mit ihrer gesamten Nachbarschaft im Streit lebte, sondern genauso mit ihrer eigenen Familie. Zuletzt habe sie sogar den Eltern eines gefallenen Soldaten in Gesicht geschmettert: Es ist gut, dass der Bub gefallen ist, es war ohnehin nichts dran an ihm, es ist gut dass er hin ist.12 Sie wurde angezeigt, vorgeladen, doch dürften alle Ermahnungen zwecklos sein, weil die Vorgenannte als eine unausstehliche und unverträgliche Frauenperson bekannt ist, die den hiesigen Behörden schon vieles zu schaffen machte […].13 Das konnte Kreisamtsleiter Kurt Haun nur bestätigten. Dabei spielt Zeit oder Gesinnung und jeweilige Regierungsform bei ihr keine Rolle. In der Systemzeit hatte sie ihrer Nachbarschaft mit Anzeigen gedroht, weil diese, wie sie sagte, alle „Nazi“ seien. Heute zeigt sie alle „Schwarzen“ und Kommunisten an. Ihren eigenen Sohn, der in das Altreich flüchtete, hat sie in der Systemzeit wegen seiner Betätigung für die NSDAP angezeigt.14 Als man ihr in der Militärküche der Kampffliegerschule in der Vöslauerstraße eine Anstellung als Küchengehilfin verschafft hatte, dauerte es nicht lange, und sie brachte den gesamten Betrieb gegen sich auf – weil sie Wehrkraftzersetzung betrieb sowie Kolleginnen, die Wehrmacht und die Partei aufs Gröbste verunglimpfte. Der Betriebsobmann, Blockleiter und Blutordensträger Josef Petsche fragte sich in ihrem Fall: Außerdem, was mir unverständlich ist von Seiten der Polizeibehörde, wird ihren Verleumdungen und erfundenen Anklagen Glauben geschenkt, so dass man es der Mühe wert hält, auf solche, von jener Person gegebenen Anschuldigungen zu reagieren und durch Kriminalpolizei eine Nachforschung anzustellen.15 Josef Petsches Einwurf war durchaus begründet. Kurt Haun sah es genauso. Sie behauptet oft das Gegenteil von dem, was sie am Vortag gesagt hat.16 Und die größte Frechheit war, dass, obwohl Rosalia Nachtnebel über die NSDAP herzog, sie zeitgleich behauptete, Parteimitglied zu sein. Dass das nicht der Wahrheit entsprach, interessierte sie offenbar nicht, sodass sie auch kein Problem damit hatte, vor Gericht als Angeklagte mit dem Parteiabzeichen zu erscheinen.17 Für Schmid und viele andere gehörte Rosalia Nachtnebel einem Milieu an, wo der Alkohol in Strömen floss, Gewalt an der Tagesordnung stand, die Kriminalitätsrate hoch, die Arbeitslosigkeit höher und die Schulden noch höher waren. Was dieses Milieu ausmachte,
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StA B, GB 052/Personalakten: Nachtnebel Rosalia (1886–1969) – Schmid (09.04.1940). Ebd. – Polizeimeldung (24.11.1939). Ebd. – Kurt Haun an Gauleitung (01.08.1939). Ebd. – Josef Petsche an Kreisleitung (10.11.1939). Ebd. – Kurt Haun an Gauleitung (01.08.1939). Vgl. DÖW, Spörk VS Nachtnebel Beschimpfung, abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/ archiv (10.04.2023).
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war auch nachzulesen im Merkblatt des Rassenpolitischen Gauamtes: Gemeinschaftsunfähig ist also, wer […] infolge verbrecherischer, staatsfeindlicher und querulatorischer Neigungen fortgesetzt mit den Strafgesetzen, der Polizei und anderen Behörden in Konflikt gerät […], arbeitsscheu ist, wer trotz Arbeitsfähigkeit schmarotzend von asozialen Einrichtungen lebt […], wer besonders unwirtschaftlich und hemmungslos ist und mangels eigenem Verantwortungsbewusstsein weder einen geordneten Haushalt zu führen, noch Kinder zu brauchbaren Volksgenossen zu erziehen vermag […] Trinker, die einen wesentlichen Teil ihres Einkommens in Alkohol umsetzen […]. Die Gattenwahl erfolgt grundsätzlich aus dem gleichen schlechten Milieu. Das hat zur Folge, dass die Nachkommenschaft immer unbrauchbar wird.18 Pikanterweise waren zwei Söhne von Rosalia Nachtnebel stramme Nationalsozialisten, der Ältere, Theodor Nachtnebel jun., war sogar Illegaler, Legionär und gehörte dem Exekutivkomitee an. Ihr Ehe- bzw. Exmann, der ihr keine Alimente gezahlt, sie verprügelt und ihr in die Ehe mitgebrachtes Haus in Alkohol umgesetzt haben soll, war zumindest seit 1933 bei der SA gewesen. Und sie selbst, als Mutter, half ihnen beim Verstecken und Vorbereiten von Sprengmitteln.19 Hier haben wir wieder die alte Krux, dass jene, die man nun als „Asoziale“ abstempelte, zuvor das Rekrutierungsbecken für hartgesottenen NS-Schläger und Terroristen gebildet hatten. Auf der anderen Seite haben wir aber ebenfalls einen Schmid, der sich auch zugänglich zeigen konnte in Sachen Asozialen-Thematik. Im Mai 1941 wandte sich die 77-jährige Elisabeth Kozdas an ihn mit der Bitte um Hilfe, ihren seit zwei Jahren in Dachau inhaftierten Sohn, Otto Kozdas, vor ihrem Tod noch einmal sehen zu dürfen. Sie wüsste nicht einmal, aus welchem Grund er eingesperrt war. Dass er auf die schiefe Bahn geraten war, das war ihr schon bewusst gewesen. Schmid ging der Bitte nach und versuchte herauszufinden, an wen sich die Frau überhaupt wenden könnte und ob die Besserung so weit gediehen ist, dass Otto Kozdas wieder in ein ordentliches und normales Arbeitsverhältnis übergeleitet werden darf und damit ein brauchbarer Mensch der Volksgemeinschaft werden könnte.20 Der zuständige SSSturmbannführer aus Dachau durfte Schmid über die Brauchbarkeit des Otto Kozdas keine Auskunft geben. Auskunft gäbe die Einweisungsstelle der Kriminalpolizei Wien, und eine Sprecherlaubnis erteilte die Reichskriminalpolizei Berlin, Werderscher Markt 5/6. Schmid nahm sich der Sache an, recherchierte, fragte nach, eine gewisse Empathie kann man ihm hier nicht absprechen. * Gemein war den „Asozialen“, dass sie nur Kosten verursachten und keine Leistung erbrachten. Damit gerieten alle Volksgenossen von vornherein ins Visier, die, aus welchen 18 StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II S wie Schädlinge Mappe IV – Merkblatt des Rassenpolitischen Gauamtes. 19 StA B, GB 052/Personalakten: Nachtnebel Rosalia (1886–1969) – Aktennotiz s.d. 20 StA B, GB 052/Personalakten: Kozdas Otto (geb. 1896).
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Gründen auch immer, auf Sozialleistungen angewiesen waren. Das NS-Regime war nicht grundsätzlich frei von Sozialpolitik. Nur war das NS-Sozialsystem erstens für jene Menschen, die als „Artfremde“ und „Volksschädlinge“ galten, nicht zugänglich und zweitens, auch wenn man grundsätzlich Teil der „Volksgemeinschaft“ war, bestand keine Garantie, dass einem die Hilfe auch zugekommen wäre. Als Florian Rausch – den Schmid als verkommenen Menschen bezeichnete – 1939 einen Antrag auf Unterstützung beim Winterhilfswerk (WHW) stellte, wurde er abgewiesen, weil Rausch ein notorischer Rumsäufer ist, der allgemeines Ärgernis erregt.21 Anders als heute galt in der NS-Zeit eine finanzielle Unterstützung nicht als etwas einem Zustehendes, sondern sie hatte einen Disziplinierungs- sowie Belohnungscharakter. Lag kein belohnungswürdiges Verhalten vor, fanden sich Vorschläge wie die der Kreisfrauenschaftsleiterin Marie Hendrich: Die Familie Beer ist mir persönlich als gemeinschaftsunfähig bekannt. Ich spreche mich für die Aberkennung der Kinderbeihilfe aus.22 Genauso sah es Hauptstellenleiter Anton Stumpf, die Kinderbeihilfe hatte diese Familie nicht verdient. Beide Kindeseltern begingen Selbstmordversuche. Die Kindesmutter ist sehr unwirtschaftlich und hemmungslos und vernachlässigt ihre Kinder. Sie stand wegen Mordes am eigenen Kind unter Anklage und wurde wegen Fahrlässigkeit mit 4 Monaten schweren Kerkers bestraft. Auch der Kindesvater treibt sich herum und verlässt seine Familie monatelang, um dann wieder für kurze Zeit zurückzukehren und sich so der Verantwortung für die immer neu gezeugten Kinder zu entziehen. Auch die Kinder selbst liegen unter dem Durchschnitt und kommen in der Schule nicht voran. Die Förderungswürdigkeit der Familie Beer ist somit nicht gegeben.23 Dass gerade solchen Menschen eine verstärkte Förderung zukommen müsste, war einem asozialen System wie dem NS-Regime etwas vollkommen Widernatürliches. Stattdessen zeigte man sich stellenweise sogar angerührt, wenn das Investment keinen Gewinn abwarf und das Menschenmaterial, in das man investiert hatte, obendrein noch als undankbar daherkam. Im November 1938 wurden sie von der SA in diese Judenwohnung eingemietet, die in sehr gutem Zustand war, und heute ist sie nicht mehr zu erkennen. Die Bettwäsche ist zum Teil zerfetzt, und das andere wurde von Maier teilweise verkauft und in Alkohol umgesetzt. Zellenleiter Rudolf Paugger war schwer enttäuscht von Anna Kunz und Josef Maier. Und dann besaßen die beiden noch die Chuzpe, um ein Ehedarlehen anzusuchen. Für Zellenleiter Paugger ein Schlag ins Gesicht. Was ihre politische Einstellung betrifft, so würde es kaum eine Partei geben, die auf die Mitgliedschaft eines derartigen Untermenschentums einen Wert legen würde. Die beiden wären auch den Kommunisten zu schlecht. Schließlich legt der heutige Staat auf einen etwaigen Kinderreichtum solcher Menschen keinen Wert.24 Gleiches attestierte Kreisleiter 21 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Rausch Florian (geb. 1879). 22 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Beer Adolf (geb. 1908) und Beer Josefa (1905–1966) – Hendrich (29.06.1942). 23 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Beer Adolf und Beer Josefa – Finanzamt an Landrat (09.06.1942). 24 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Maier Anna (geb. 1903) – Paugger (geb. 1912) Bericht
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Rudolf Witzmann. Die Gewährung des Ehestandsdarlehens wird abgelehnt, da J. Maier und Anna Kunz asoziale Elemente sind und ihre Ehe für den Staat nicht wertvoll ist.25 Und Ortsgruppenleiter Alexander Lohner ging sogar noch einen Schritt weiter, da ja nach nationalsozialistischer Auffassung derartige Elemente eher einer Sterilisation zugeführt werden müssten, um einen kranken Nachwuchs zu verhindern.26 Geheiratet haben die beiden dennoch. Aber wie so oft finden wir auch bei dieser Thematik bei sehr ähnlichen Ausgangslagen nicht immer die gleichen Reaktionen von Seiten des NS-Regimes vor. Im Falle der Familie Zrost treffen wir teilweise auf identische Parameter wie in den Beispielen zuvor. Die Mutter, Hermine Zrost, hatte einen Selbstmordversuch unternommen und war seitdem gehbehindert. Der Vater, Johann Zrost, war kaum zu Hause, und von ihren vier Kindern war bereits eines in einer Erziehungsanstalt untergebracht worden, das zweite stand kurz davor, und das dritte machte mit desaströsen Noten auf sich aufmerksam.27 Deshalb war es für Hauptstellenleiter Anton Stumpf nur nahliegend: Da kaum anzunehmen ist, dass die Kinder zu brauchbaren Volksgenossen heranwachsen werden, ist die Einstellung der Kinderbeihilfe in Aussicht genommen.28 Aber zum Glück für die Familie Zrost intervenierte die Ortsgruppe zu ihren Gunsten, und man versicherte, es seien eigentlich ganz anständige Menschen. Eine Rücksprache mit dem zuständigen Zellenleiter ergab, dass der mangelnde Erziehungserfolg bei den Kindern zu einem großen Teil dadurch hervorgerufen schiene, dass der Vater als Arbeiter der Semperit wenig Gelegenheit hat, sich um die Kinder zu kümmern, die Frau durch die Verletzung an den Beinen aber in der Beweglichkeit noch schwer behindert ist. Der Zellenleiter betont, dass der Wille zur anständigen Erziehung vorhanden ist und durch die Einstellung der Kinderbeihilfe die Erziehungsmöglichkeit schwer beschränkt würde. Auf Grund dieses Sachverhaltes halte ich die Einstellung der Kinderbeihilfe nicht für zweckmäßig.29 In den Genuss einer Unterstützung kam auch Josefine Rechinger, obwohl auch sie zahlreiche Kriterien einer „Asozialen“ erfüllte. Sie wurde als geistesschwach eingestuft, ihr Kind war ihr bereits abgenommen, und bei der Wohnungsbegehung (Antonsgasse 15) stellte man fest, dass die Wände und die Decke vom Ruß geschwärzt waren, und fügte hinzu: Der Fußboden, Tür, Fenster und Möbelstücke sind stark verschmutzt. […] Bettzeug und die in der Wohnung herumliegenden Lumpen strotzen vor Dreck. Kochgeschirr oder dringend notwendige Haushaltsgegenstände sind nicht vorhanden. Dennoch erhielt die Frau, deren Mann an der Front stand, eine monatliche Unterstützung von 63 RM, davon zahlte sie 20 RM Miete, und der Erhebungsbericht endet mit: Es wird gebeten, sich der Frau anzunehmen.30 Warum die einen nun etwas bekamen bzw. warum es ihnen nicht gestrichen wurde, anderen dafür
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(31.01.1940). Ebd. – Witzmann an Stadtgemeinde s.d. Ebd. – Lohner (geb. 1903) an Stadtgemeinde (13.02.1940). Zrost Johann (1900–1967), Hermine Zrost (1899–1977). StA B, GB 052/Personalakten: Zrost Johann – Kreisleitung an Ortsgruppenleitung (07.07.1942). Ebd. – Kreisleitung Aktennotiz (02.09.1942). StA B, GB 341/Hochbau III; Fasz. I Amtsberichte an das Wohnungsamt 1941 – (23.03.1941).
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doch, bleibt wie so oft ein Rätsel, und man muss sich mit dem „Willkür-Argument“ begnügen oder der Phrase „Wer Asozialer ist, bestimme ich“. Und es war natürlich von immenser Bedeutung, ob eine Person mit Einfluss hinter einem stand. Was jedoch sichtbar wurde, war eine zeitliche Radikalisierung. Der Zimmerer Karl Magloth war starker Trinker und misshandelt im betrunkenen Zustand seine Familie. Das Geld versäuft er zu Gänze, sodass seiner Frau sowohl zu wenig zum Leben als auch zu wenig Geld übrig bleibt, den Zins zu bezahlen. Eigentlich ein „Asozialer“ wie aus dem NS-Bilderbuch, doch die NSDAP gab dem Mann eine Chance, bzw. es gab nach der Delogierung eine Wohnungszuweisung und eine Arbeitsplatzzusicherung für seine Frau und für ihn die Möglichkeit, sich zu beweisen. Offensichtlich hat es ausgereicht, dass er den Behörden das Versprechen gegeben hat, sich zu bessern […].31 Einzige Einschränkung, ein Teil seines Gehalts sollte nicht ihm ausgezahlt werden, sondern direkt an seine, nun von ihm mit den Kindern getrennt lebende Frau. Solch soziales Entgegenkommen konnte man sich im Juli 1938 offenbar noch leisten. Fünf Jahre später wäre man mit ihm wahrscheinlich anders verfahren. In der Badener Zeitung lesen wir unter dem Titel Für die biologische Zukunft der Nation, dass die Veruntreuung des Familienvermögens, um sich der Trunksucht hinzugeben, mit bis zu zwei Jahren geahndet werden konnte. Mit Gefängnisstrafen wurden genauso Männer bestraft, die sich der gesetzlichen Unterhaltspflicht entzogen, oder derjenige, der einer von ihm geschwängerten Frau gewissenlos die Hilfe versagt, deren sie wegen der Schwangerschaft oder der Niederkunft bedarf. Einer gesetzlichen Nachschärfung unterlagen aber nicht nur die Männer. Ab und zu geht durch die Zeitung eine Notiz, in der gemeldet wird, dass eine Mutter ihre Kinder sich längere Zeit selbst überlassen habe, um ihrem Vergnügen nachzugehen. Eine spezielle Strafvorschrift für diesen verwerflichen Tatbestand gab es bisher nicht.32 Damit sollte es nun auch Schluss sein. Denn der „Asoziale“ war schon längst mit dem Kriminellen gleichgesetzt. Es hieß schließlich Für die biologische Zukunft der Nation, und für diese Zukunft musste man was leisten. Aber der „Asoziale“ leistete nichts. Er mästete sich wie ein Parasit an der Gesellschaft, er verging sich an deren Zukunft, er beging dadurch ein Verbrechen – er war ein Verbrecher an der „Volksgemeinschaft“. Mit 20 Anzeigen wegen Diebstahls und Landstreicherei im Gepäck bettelte sich Karl Kwasniofsky quer durch den Kreis Baden und traf eines Tages ausgerechnet auf Rudolf Hein, einen politischem Leiter der Zelle VIII der Ortsgruppe Baden-Stadt.33 Anfänglich zeigte sich Hein sehr zugänglich, er gab dem Mann Brot und wollte in Erfahrung bringen, weshalb jener keiner ordentlichen Beschäftigung nachginge. Doch die Antwort mundete dem politischen Leiter so überhaupt nicht. Für so eine Huren-Verbrecher-Regierung gehe ich nicht arbeiten. Solch eine Respektlosigkeit konnte Hein nicht stehenlassen. Er bat Kwasniofsky, kurz zu warten, und verständigte währenddessen die Polizei. In polizeilichen 31 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Magloth Karl (geb. 1904). 32 BZ Nr. 56 v. 17.07.1943, S. 6. 33 Rudolf Hein (1907–1982).
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Gewahrsam genommen, verneinte Kwasniofsky, die Regierung mit Prostituierten und Kriminellen in Verbindung gebracht zu haben. Seine Arbeitslosigkeit rechtfertigte er angeblich damit: als alter Hurenpankert kann ich nicht arbeiten, weil ich mit den Nerven schon fertig sei und […] nicht mehr über die nötigen Kräfte verfüge.34 Von Baden wurde er in das Landesgericht Wiener Neustadt überliefert. In seinem Besitz befanden sich 3 RM und 50 Rpf. Rudolf Hein hatte mit seiner Anzeige alles NS-richtig gemacht. Als politischer Leiter war er verpflichtet, Anzeige zu erstatten. Schließlich hatte Karl Kwasniofsky durch seine Aussage die Reichsführung zutiefst beleidigt und entehrt. Ein kleiner Fauxpas war ihm dennoch passiert, als er dem Bettler ein Stück Brot überreicht hatte. Denn milde Gaben, Almosen und Spenden waren in den Augen der Obrigkeit nicht gerne gesehen, und das schon seit Herbst 1938. Noch immer hört man besorgte Fragen nach den verschwundenen Bettlern. Fast scheint es, als ob einigen Volksgenossen der Anblick der Bettler fehlen würde, als ob sie bedauerten, diese Gelegenheit, sich billig durch ein kleines Almosen eine Stufe in den Himmel bauen, beraubt zu sein. An diese fehlgeleiteten Samariter erging nun folgender Hinweis: Als oberster Grundsatz im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung gilt, dass in Zukunft kein unverschuldet in Not geratener und verarmter Volksgenosse durch Betteln sein Leben fristen muss, dass andererseits alle Asozialen und Arbeitsscheuen energisch angefasst werden.35 Wie energisch es zugehen konnte, verdeutlichen Internierungen von „Asozialen“ in KZLagern. Solche Menschen waren dahingehend ideal, um sich als Staatsmacht hart, aber gerecht zu präsentieren. Michael Sperl war als Säufer und Vagabund verschrien, der seit Jahren keiner Arbeit nachging, etliche Vorstrafen und Haftaufenthalte aufwies, der noch dazu seine Frau misshandelte, sich um die Kinder nicht kümmerte, kurz gesagt: Sperl ist ein asoziales Wesen ersten Ranges. Die Gemeinde erstattete Anzeige und schlug im März 1941 vor: Es ist daher die Abgabe des Sperls an ein Konzentrationslager der einzige richtige Weg, um die Volksgemeinschaft von diesem Individuum zu befreien.36 Ein ähnlich gelagerter Fall stammte aus Bad Vöslau. Dort hatte der Hilfsarbeiter Leopold Hueber seine Ehefrau, Elisabeth Hueber, im Hofraume mit einem Holzprügel auf das Gemeinste misshandelt, sodass die als Zeugen angeführten Nachbarn über die gemeine Handlungsweise des Hueber auf das Äußerste empört waren. Lesen wir weiter über die innerfamiliären Hintergründe, so wird uns einiges bekannt vorkommen, wie dass Elisabeth Hueber sich selbst sowie ihre 5 Kinder, welche im Alter von 9 Monaten bis 11 Jahren stehen, und auch ihre Wohnung derart vernachlässigt, dass die Kinder sowie auch deren Wohnung vor Schmutz und Unrat strotzen. Zu siebent bewohnte die Familie ein einziges Zimmer. Leopold Hueber ist nun dieser Misswirtschaft schon überdrüssig und berauscht sich sehr häufig, in welchem Zustande er dann seine Gattin, welche etwas geistesbeschränkt, sehr schwächlich und auch kränklich ist, auf das Brutalste misshandelt. […] Auf die vorher angeführten Umstände gestützt, erscheint es nach Ansicht dringend geboten, Leopold Hueber in das Konzentrationslager nach „DACH34 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz II; Kwasniofsky Karl (geb. 1897). 35 BZ Nr. 75 v. 17.09.1938, S. 3. 36 Vgl. StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Sperl Michael (geb. 1900).
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AU“ auf einige Monate abzuschieben, damit seine Gattin wieder zur Ruhe kommt und sich einigermaßen erholen kann.37 Es war eine Wegweisung anderer Art. Und welcher Volksgenosse, egal wie er zum NS-Regime stand, würde sich dagegen aussprechen. Um erneut den Willküraspekt ins Spiel zu bringen, erinnere ich beiläufig an Karl Magloth, ebenso ein alkoholkranker Gewalttäter, für den aber ein Arbeitsplatz in Aussicht stand, während es für Leopold Hueber das KZ-Dachau sein sollte.38 Es gehörte weiters zum guten Ton, solche Fälle in der Badener Zeitung publik zu machen. Dadurch konnte man suggerieren, dass ohnehin nur solche Menschen in Gefängnissen, KZ-Lagern oder in den Psychiatrien landen würden. Gemeingefährlicher Alkoholiker kommt in eine geschlossene Anstalt – so die Schlagzeile im Falle des Hilfsarbeiters Johann Wlna.39 Für das NS-Regime war dieser Mann ein Paradebespiel eines „Asozialen“. Alkoholiker, arbeitsscheu, mehrmals vorbestraft und gewalttätig – er versuchte, seinem Vorgesetzen ein Messer in den Rücken zu rammen, als ihn jener bezüglich seiner Trinkerei ansprach. Johann Wlna wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und danach für unbestimmte Zeit in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Entsetzt berichtete das Lokalblatt unter der Überschrift Eine asoziale Jugendliche von der 15-jährigen Margarete Ponsold, die bereits sechs Monate ihres jungen Lebens im Gefängnis verbracht hatte und nun zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden war, wegen des Verbrechens des Rückfalldiebstahles(!!) und Vergehens des Arbeitsvertragsbruches. Nach ihrer Freilassung hatte sie nämlich in Baden, als Hausgehilfin, ihre Arbeitgeber um 200 RM und mehrere Kleider erleichtert, sich dann in Richtung Berlin abgesetzt, wo sie weitere Diebstähle begangen hatte. Gefasst war sie schlussendlich in Hamburg worden. Das trotz seiner Jugend schon so ein asoziales Leben führende Mädchen wurde dann dem Landgericht Wr. Neustadt überstellt.40 * NS-Ideologen, und bei weitem nicht nur sie, erachteten Kriminalität als eine Krankheit, als einen genetischen Defekt. Das entfachte ungeahnte Möglichkeiten. Denn mit der Gleichsetzung von genetischen Defekten und Kriminalität wurde die Liste an Denunziationsmöglichkeiten wieder um ein Motiv reicher, um die Leben anderer Menschen zu zerstören. Wir haben immer wieder davon gelesen, dass irgendwer über irgendwen ganz genau wusste, dass es in dessen Familie „kommunistelte“ oder „judelte“. Bei „Asozialität“ oder Geisteskrankheit war es nichts anderes. So hielt der Badener Gymnasiumsdirektor Karl Groiss den Rechtsanwalt Dr. Alexander Bachzelt für einen überzeugten Systemmann sowie Mo37 StA B, GB 052/Ortsgruppen Kreis Baden I; Bad Vöslau; Mappe I – Polizeiamt Bad Vöslau an Landrat (22.01.1939). 38 Leopold Hueber (geb. 1896). 39 Vgl. BZ Nr. 46/47 v. 12.06.1943, S. 8. 40 Vgl. BZ Nr. 56 v. 17.07.1943, S. 4.
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narchisten, und als Griechisch- und Lateinlehrer diagnostizierte er obendrein: Es liegt bei diesem zweifellos ein geistiger Defekt vor, der anscheinend vom Vater herrührt. Dieser, ein Offizier, soll an einer Rückenmarkserkrankung gelitten haben. Groiss wollte es nur einmal gesagt haben. Es galt, die „Volksgemeinschaft“ vor diesem Mann zu warnen, denn: Bachzelt ist ein schlauer Mann, der, wenn er einmal gepackt werden sollte, sich sicher auf seine geistig-minderwertige Veranlagung ausreden wird.41 Als politisch feindlich gesonnen, weil ein ausgesprochener Schuschnigg-Anhänger, galt auch der Kaufmann Willibald Fischer, der zusätzlich als Querulant und Schwätzer verunglimpft wurde, der nichts spendete und stattdessen nur mit böswilligen Äußerungen auffallen würde. Fischer ist geistig nicht ganz normal und war bereits einige Monate in Mauer-Oehling.42 Damit war er abgestempelt. Drei Jahre später lesen wir von denselben Vorwürfen, und es war klar: Für die Einstellung in den Hermann Göring-Werken kommt er nicht in Frage.43 Wir finden bei der Asozialen-Thematik zahlreiche Überschneidungen mit der Rassenlehre: Eine pseudowissenschaftliche Verbrämung, wo sich einerseits Rassentheoretiker austoben konnten und andererseits Kriminalbiologen. Da Kriminalität als etwas Biologisches betrachtet wurde, war sie demnach vererbbar und damit nicht nur für die jeweils unmittelbar Betroffenen wirkmächtig, sondern ebenso für deren Nachwuchs bzw. das gesamte familiäre Umfeld.44 Im Oktober 1943 wurde Unteroffizier Wilhelm Goebel endlich erlaubt, seine Verlobte Anna Dousa zu ehelichen bzw. der Kreisleiter legte kein „Veto“ mehr ein. Mitte 1942 sah es noch ganz anders aus. Damals war Kreisleiter Hajda der Meinung, dass Anna Dousa nicht die moralischen Eigenschaften besitzt, die die Frau eines Wehrmachtsangehörigen auszeichnen solle.45 Grund waren ihre Eltern, Augustine und Gustav Dousa.46 Als Postangestellte war ihre Mutter des Diebstahls von 200 Feldpostpäckchen überführt worden, und ihr Vater der Mitwisserschaft. Dafür wurde er zu fünf und sie zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Das heftige Strafausmaß fußte nicht auf dem Warenwert, zumeist waren es Strümpfe, Schokolade und Parfüme gewesen, die sie gestohlen hatte, sondern weil die Mutter durch den Diebstahl der Feldpostpäckchen die Verbindung zwischen Front und Heimatfront sabotiert hatte. Ihr Vorgehen war kriegsschädigend gewesen, es war Verrat, und darauf stand eigentlich die Todesstrafe. Im Jänner 1943 suchte Wilhelm Goebel erneut um Erlaubnis an, seine Verlobte heiraten zu dürfen. Diesmal grätschte Kreisleiter Hermann dazwischen, und nicht nur das. Er fragte 41 StA B, GB 052/Personalakten: Groiss Karl – Aktenvermerk (10.01.1944). 42 StA B, GB 052/Polit. Beurteilung: Fischer Willibald (geb. 1891) – Kreis an Stadtpolizeiamt (13.06.1940). 43 Ebd. – Beurteilung (15.07.1943). 44 Vgl. LONGERICH, Himmler, S. 237. 45 StA B, GB 052/Personalakten: Dousa Anna (geb. 1923) – Hermann an die Kommandantur der FAS.12 (07.05.1942). 46 Augustine Dousa (1902–1943), Gustav Dousa (1899–1944).
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sich, ob es der damals 18-jährigen Anna Dousa nie verdächtig vorgekommen wäre, weshalb es ständig neue Strümpfe, köstliche Schokolade und duftende Parfums gegeben hätte. Er suggerierte damit, dass sie selbst Mitwisserin gewesen sei, auch wenn dies von ihrer Mutter vehement bestritten wurde, doch, so Hermann, muss sich nach dreijähriger Textilbeschaffung ein 18-jähr. Mädchen darüber klar sein, dass auf normalem Wege die Beschaffung von ein–zwei Paar neuen Seidenstrümpfen pro Woche nicht möglich sein kann. […]. Ich selbst behalte mir noch vor, mit dem Staatsanwalt Fühlung aufzunehmen, um eine Verhandlung gegen die Tochter Anna Dousa zwecks endgültiger und dann gerichtlicher Klärung der Frage ihrer Mitwisserschaft herbeizuführen. Und dann, noch so ganz nebenbei, informierte er Wilhelm Goebels Kommandeur: Im Übrigen wird es Sie interessieren, dass eine neuerliche Sondergerichtsverhandlung das Urteil gegen das Ehepaar Dousa, das früher auf 5 und 15 Jahre Zuchthaus lautete, nunmehr für Frau Dousa auf Todesstrafe und für deren Mann auf 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt wurde.47 Jetzt ging es um Sein oder Nichtsein, denn würde Anna Dousa der Mitwisserschaft überführt werden, was spräche dagegen, sie ebenso zu fünfzehn Jahren Haft zu verurteilen. Wilhelm Goebel setzte nun alle Hebel in Bewegung und wandte sich an den Gau und an die Reichskanzlei. Dabei schien er jedoch die Contenance verloren zu haben und bezichtigte Kreisleiter Hermann der Lüge – ohne dies beweisen zu können. Doch zum Glück zeigte sich Hermann von seiner humanen Seite und sah von dem Ergreifen irgendwelcher Schritte gegen Uffz. Goebel wegen seines Vorwurfs unwahrer Angaben eines Kreisleiters der NSDAP am Dienstwege über die Kanzlei des Führers [ab], da ich es menschlich begreiflich finde, wenn Uffz. Goebel, der sich ja aus absolut einwandfreien Motiven um die Ehegenehmigung bewirbt und das Beste von seiner Braut denkt, in seiner Beschwerde weit über das Ziel schießt […] Sicher ist gerade dieser Fall als tragisch zu bezeichnen und muss Uffz. Goebel schwer treffen, doch darf dies keine Veranlassung für ihn sein, um ausfällig zu werden.48 Hermanns „Segen“ erfolgte erst nach einer weiteren Beurteilung der zukünftigen Gemahlin. Im Oktober 1943 setzte er die Gauleitung davon in Kenntnis. Über Anna Dousa ist politisch nichts Nachteiliges bekannt, ihr politischer Leumund ist gut. Die Überprüfung des persönlichen Verhaltens der Anna Dousa seit dem bedauerlichen Vorfall mit ihren Eltern ergab, dass dieses einwandfrei ist.49 Die Hinrichtung ihrer Mutter und die Einkerkerung ihres Vaters für fünfzehn Jahre war in seinen Augen also ein bedauerlicher Vorfall. Augustina Dousa wurde im Jänner 1943 hingerichtet. Gustav Dousa starb in Haft im Juni 1944.50 *
47 StA B, GB 052/Personalakten: Dousa Anna – Hermann an den Kommandeur der FAS.12 Kitzingen/Main (19.01.1943). 48 Ebd. – Hermann an die Kommandantur der FAS.12 (19.01.1943). 49 Ebd. – Hermann an Gauleitung (12.10.1943). 50 Vgl. www.doew.at – Opferdatenbank und StA B, Meldezettelarchiv (10.04.2023).
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Wer sich binden und paaren durfte, das bestimmte der NS-Staat. Die Reproduktion gemeinschaftsschädlicher Personengruppen musste um jeden Preis unterbunden werden. Mit Schrecken betrachtete man die hohe Fertilitätsrate – bzw. redete diese herbei – von Menschen, die als „Asoziale“ oder Degenerierte klassifiziert waren. Dabei war Kinderreichtum an sich etwas Positives – solange sich allerdings nur die Richtigen reproduzierten. Um sicherzustellen, dass sich einzig die Fleißigen und Gesunden vermehrten, sollten auf Betreiben der Gauleitung die rassenpolitischen Ämter im Kreis deutlich ausgebaut werden. Im Oktober 1938 beauftragte der Reichsbund der Kinderreichen (RDK) den Mediziner Dr. Karl Ursin, sich dieser Aufgabe anzunehmen. Der Fokus lag auf der Rasse- und Bevölkerungspolitik: Wenn unsere ganze Arbeit und der Kampf des Führers und der Bewegung auf die Sicherung eines ewigen Volkes und Reiches gerichtet sei, dann müssen die Kinder unseres Volkes nicht nur artrein, nicht nur erbgesund sein, sondern sie müssen überhaupt auch da sein, das heißt in genügend großer Zahl geboren werden. Wir erinnern uns, zwei Jahre später begann der Zubau der Geburtenabteilung am Badener Krankenhaus. Beabsichtigt war ferner eine Kartei anzulegen, in der die erlesensten Badener Familien vermerkt sein sollten. In nicht allzuferner Zukunft werden alle Maßnahmen des neuen Reiches zur Förderung kinderreicher Familien sich nicht mehr auf den ganz großen Kreis „bedürftiger“ Großfamilien, sondern auf die Auslese der Ehrenbuchbesitzer erstrecken.51 Um das Vorhaben voranzutreiben, brauchte es in den rassenpolitischen Ämtern fähiges und geeignetes Personal. Die Rekrutierung sollte die Kreisleitung vorantreiben. Doch die Postenbesetzung der Führungsposition wurde zum Fiasko. Der vorgeschlagene Bezirksschulinspektor Rudolf Kluger zierte sich erfolgreich, die Leitung des Reichsbundes der Kinderreichen in Baden zu übernehmen und der statt ihm vorgeschlagene Illegale Karl Korutschka, der für die guten, artreinen, deutschblütigen, erbgesunden, kinderfrohen und auserlesenen Badener Familien zuständig sein sollte, wurde wenig später der Unterschlagung und des Diebstahls überführt, zu zwei Jahren Haft verurteilt und dem Verlust der Parteimitgliedschaft – es war jener Mann, der beim Ausrauben von Juden im November 1938 nicht widerstehen konnte, sich etwas extra dazuzuverdienen (siehe Kapitel 14). Die Ortsgruppenleitung zeigte sich erstaunt, dass er überhaupt in Erwägung gezogen worden war. Bei der Zuchtpolitik des NS-Regimes schien nicht alles glatt zu laufen. Neben geeignetem Personal waren volksgesunde Kinder ebenso Mangelware, zumindest Ende 1941, als Hans Zisser im Namen zweier SS-Kameraden beim Lebensborn München seine Fühler ausstreckte. Während der eine bereit war, ein Kind im Alter von bis zu einem Jahr zu adoptieren, präferierte der andere, ein etwa sechsjähriges Mädchen auf Kriegsdauer in Pflege zu nehmen. Zisser versicherte: In beiden Fällen handelt es sich um kinderliebende Familien, die in bestgeordneten Verhältnissen leben. Doch Lebensborn hatte nichts auf Lager. Leider kann ich die Anträge lediglich vormerken, da mir zurzeit weder ein Adoptivkind noch ein Mädchen, das ich in eine Pflegestelle vermitteln soll, zur Verfügung stehen.52 51 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Korutschka Karl – Karl Ursin an Rudolf Kluger (22.10.1938). 52 StA B, GB 052/Personalakten: Zisser Hans.
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Die gezielte Politik der Zeugung erbgesunden Nachwuchses durch würdige und artreine deutsche Frauen und Männer bedeutete einen massiven Eingriff in das Privatleben bzw. das NS-Regime zeigte in den Schlafzimmern seiner Volksgenossen Präsenz. Die NS-Ideologie reduzierte Frauen hauptsächlich auf Soldaten-Gebärmaschinen. Allerdings wussten die allermeisten Nationalsozialisten, dass die diesbezügliche Ideologie sehr viel Theorie in sich barg. Nur die wenigsten Eltern wollten eine Schar an Kindern in die Welt setzen und den männlichen Teil davon an der Front verheizt wissen. Außerdem, Verhütung war nicht verboten. Was jedoch verboten war, war die Unfruchtbarmachung, etwa durch Bestrahlung oder Hormonbehandlungen, und natürlich die Abtreibung, die mit Gefängnis und bei schweren Fällen mit dem Zuchthaus geahndet wurde. Bei Wiederholungstätern, seien es die Frauen oder die durchführenden Ärzte, winkte sogar die Todesstrafe: Die Einführung der Todesstrafe für die besonders schweren Fällen war unbedingt erforderlich, um zu dokumentieren, dass es sich bei der Vernichtung von keimendem Leben um ein Verbrechen gegen den Volksverband handelt.53 Hier haben wir es wieder: Das Individuum war nichts, das Volk war alles! Der Nachwuchs gehörte einem als Eltern nicht alleine. Das galt natürlich nicht für behinderte Frauen oder Menschengruppen, denen das Recht abgesprochen wurde, sich zu vermehren. Anderseits konnte bei solchen auch eine „postnatale Abtreibung“ vorgenommen werden – dazu jetzt mehr.
Menschen, die behindern Das NS-Regime und seine Repräsentanten hoben oft genug den Unterschied hervor, was einen perfekten Deutschen und einen defekten Deutschen ausmachte. In einer Festrede zum Julfest bzw. der Sonnenwende oder den Deutschen Weihnachten – je nach NS-Definition – verkündete Ortsgruppenleiter Fritz v. Reinöhl: Die Mutter, die ewige Spenderin des Lebens, ist als Erneuerin des Blutstromes des Volkes, das Sinnbild unser Weihnachten, das Sinnbild der Lebenskraft.54 Es ging um das Entstehen von Gesundem und Wertvollem und dem Vergehen von Krankem und Minderwertigem, es ging um reines Blut und erbgesunden Nachwuchs. Damit kommen wir zu einer weiteren Opfergruppe, die mit „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ mehrere Verknüpfungen aufweist. Da die Leistung und Arbeit in einem engen Verhältnis zur Gesundheit des Volkes steht, muss heute der Grundsatz gelten: „Gesundheit ist Macht.“ Der Arzt und jeder, der im Gesundheitsberuf tätig ist, muss Idealist sein, da der Gesundheitsdienst der edelste Dienst am Volke ist – sprach Kreisärzteführer Edmund Hess im Jänner 1943 bei einem Vortrag zum Thema „Rheumatische Erkrankungen im Kindesalter“.55
53 BZ Nr. 56 v. 17.07.1943, S. 6. 54 BZ Nr. 103 v. 24.12.1941, S. 3. 55 Vgl. BZ Nr. 4 v. 16.01.1943, S. 3.
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Eines sei von Anfang an erwähnt, der Nationalsozialismus war nicht Kreator der Behindertenmorde. Die ideologische Voraussetzung für die Vernichtung von behinderten Menschen entstand im 19. Jahrhundert. Inspiriert war sie durch sozialdarwinistisches Gedankengut, biologistische Vorstellungen, die Eugenik als Wissenschaft sowie ein rein ökonomisches Kosten/Nutzen-Denken. Es wurde die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft in den Vordergrund gerückt, und der Einzelne musste sich der Gemeinschaft beugen.56 Es war ein funktionales, rationalistisches und progressives Denken, jedoch ohne jegliche Ethik und Moral, die auf philosophischem oder religiösem Gedankengut basiert hatten. Wir haben hier auch eine ungewöhnliche Frontstellung. Auf der einen Seite finden wir Menschen, die den Fortschritt, die Wissenschaft und Technik priesen, die Menschenrechte einforderten, für Minderheitenrechte eintraten, sich für Frauenrechte stark machten, dazu drängten, Homosexualität, Suizid und Abtreibung zu entkriminalisieren, und zugleich Zwangssterilisation bis hin zur Tötung behinderter Menschen als Notwendigkeit erachteten. Auf der Gegenseite standen vor allem konservative, religiöse und gläubige Menschen, die dem Fortschritt misstrauten und ihn stellenweise am liebsten aufgehalten, wenn nicht gar rückgängig gemacht hätten. Die Argumentation, wieso man gegen die Tötung behinderter Menschen war, gründete nicht auf rechtstaatlichem oder humanistischem Ideengut, sie war vielmehr begründet aus dem längst schon geschwächten Glauben an die Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen – sei er noch so verkrüppelt, idiotisch oder schwachsinnig, pflegebedürftig oder schwer leidend.57 Diese Frontstellung bedeutete nichts anderes, als dass die Nationalsozialisten bei den Behindertenmorden auch den Segen linksliberaler, progressiv und wissenschaftlich denkender und agierender Menschen hatten. Man musste kein Nationalsozialist sein, um von der Vernichtung unwerten Lebens überzeugt zu sein – ganz und gar nicht. Der Mensch und seine Künste, fußend auf Wissenschaft und Technik, sollten nun endlich über die Beschaffenheit der Gesellschaft und des Individuums entscheiden und nicht mehr Gott oder sonstige Phantasiewesen. Der Mensch war das Maß aller Dinge, Gott war tot, es lebe die Wissenschaft. Neben der Zeit- und Kostenersparnis durch den Wegfall von Pflege und Betreuung würde die Tötung oder die Unterbindung der Reproduktion behinderter Menschen die gesunde Gesellschaft menschlicher machen, denn Behinderte erregten, um in der damaligen Argumentation zu bleiben, einen öffentlichen Schauder, und waren aufgrund ihrer mangelnden Kontaktfähigkeit zur Mehrheitsgesellschaft sinnlose Existenzen, angesiedelt auf einer tierischen Stufe. Wenn man Menschen schon entmenschlichte und zu Tieren degradierte, so war es nur ein kleiner Schritt, dass aus den Tieren gefährliche Tiere wurden. Alois Böhm hatte in Baden 1932 eine Scheune in Brand gesetzt, war verhaftet und für 56 Vgl. MALINA Peter, NEUGEBAUER Wolfgang, NS-Gesundheitswesen und –Medizin. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 696–720 hier 698. 57 ALY Götz, Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939–1945, Eine Gesellschaftsgeschichte (Frankfurt am Main, 2014), S. 22.
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geisteskrank befunden worden. Im April1938 brach er aus der Heilanstalt Mauer-Öhling aus, stellte sich aber nur wenige Tage später in Baden selbst der Polizei.58 Die logische Frage im NS-Sinne: Wer braucht so einen Menschen? Er leistete nichts und war obendrein gefährlich! Damit waren behinderte und psychisch kranke Menschen nicht nur ein Kostenfaktor, sondern zusätzlich eine potentielle bis reale Gefahr – der Geisteskranke als unberechenbare Bestie. Welche Gefährlichkeit von solchen Menschen ausgehen bzw. wie sie vom NS-Regime instrumentalisiert werden konnte, bewies der Fall Franz Josef Stary, von dessen Tat die Badener Zeitung berichtet – wobei sich die mediale Berichterstattung nicht mit dem Polizeiakt deckte. Im Februar 1942 sollte dieser Mann in Baden der Zwangsterilisation zugeführt werden, während in der BZ von einer Untersuchung seines Geisteszustands die Rede war. Von der Polizei gefesselt, schaffte er es dennoch, ein Stilett am Handgelenk zu verstecken und damit einem Arzt im Badener Krankenhaus beinahe die Halsschlagader zu durchtrennen.59 Öffentlich wurden nicht nur solch drastische Vorfälle. Die Entmündigung von Menschen, wie jene von Olga Gräfin Zedwitz-Lichtenstein aus Schönau (zu deren rechtlichem Beistand übrigens der Parteigenosse und Rechtsanwalt Dr. Karl Dandl bestellt wurde, was offenbar auch von Interesse war), fand genauso Eingang in den Anzeigenteil der Badener Zeitung.60 Nicht öffentlich, aber genauso aussagekräftig waren manche Formulierungen in den Krankenakten aus den unterschiedlichen Heil-, Pflege- und damaligen Irrenanstalten, in die Menschen aus Bezirk und Stadt Baden eingewiesen wurden. Die Krankenakten sind teilweise aufliegend im Berliner Bundesarchiv (BBA). Laut diesen musste kein gewalttätiges Verhalten im Vordergrund stehen, um die Existenz betroffener Menschen in Richtung Sinnlosigkeit zu rücken. Es reichte aus, dass sich der Zustand von Patienten verschlechterte oder sie durch Unproduktivität auffielen. Die Badenerin Wilhelmine Böheimer wurde 1931 nach Steinhof eingeliefert. Diagnose: Epilepsie und Verwirrtheit. Anfänglich wurde ihr Zustand noch als passabel eingestuft, sie antwortete weitgehend sinngemäß, war nur etwas langsamer, zeitlich konnte sie sich gut orientieren, nur wo sie war, konnte sie nicht genau angeben. Hinsichtlich 1939 lesen wir bereits von Streit- und Raufsucht. Ein Jahr später, dass sie weiterhin aggressiv sei und 1941, dass sich ihr Zustand nicht verändert hätte. Ein ganzes Lebensjahr von Wilhelmine Böheimer wurde in einem Absatz zusammengefasst.61 Nicht, dass es vor dem Anschluss weitaus mehr gewesen wäre, aber man merkt, dass nun ein anderer Wind wehte. Auffallend sind zudem, wie bei Anna Jarunek, die, bevor sie nach Steinhof kam, in Baden gelebt hatte, die sich wiederholenden Formulierungen, wie etwa: 31.3.1940 unbeschäftigt im Wohnraum, redet immer das gleiche; 16.6.1940 unbe58 Vgl. StA B, GB 231/Frührapport I; Fasz. I 1932–1938; April 1938 – Alois Böhm (geb. 1908). 59 Vgl. NÖLA; Mordanschlag eines Geisteskranken, K104 und BZ Nr. 13 v. 14.02.1942, S. 3. 60 Vgl. BZ Nr. 54 v. 08.07.1939, S. 7 und StA B GB 052; NSDAP Karteikarten groß: Karl Dandl (1890–1959). 61 BBA, Bestandsignatur BS R179, Archivnummer 23571 – Wilhelmine Böheimer (geb. 1913).
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schäftigt im Wohnraum, redet immer das gleiche; 19.6.1940 unbeschäftigt im Wohnraum, redet immer das gleiche; 21.7.1940…62 Mehr als vor dem Anschluss wurde darauf Wert gelegt, die Untätigkeit zu betonen. Geht keiner Arbeit nach, lässt sich nicht zur Arbeiten motivieren, lehnt Arbeit kategorisch ab usw. Das waren aus NS-Sicht klare Ballastexistenzen, und gegen die musste entsprechend vorgegangen werden. * Psychisch und physisch kranke oder behinderte Menschen jeglichen Alters zwangssterilisieren oder gar zu töten, war nicht jedermanns Sache. Zweifel an der Tat waren menschlich. Deswegen sprachen sich die ausführenden Protagonisten gegenseitig Mut zu, oder ältere Kollegen erteilten väterliche Ratschläge. Die den behinderten Menschen zugefügte Gewalt wurde zwar als etwas Belastendes, aber letztendlich Notwendiges und, auf lange Sicht, etwas Positives gedeutet. Es wäre zweckloses Leben, Existenzen, die weder den Willen zum Leben noch zum Sterben hätten, die ein furchtbares Gegenbild zum Menschen abgeben würden. Also warum sollte man sie nicht freigeben, die Angehörigen erlösen, die Gesellschaft von ihnen erlösen, aber vor allem sie selbst von ihrem leidvollen Leben erlösen.63 Es ging darum, Überzeugungsarbeit zu leisten und die Öffentlichkeit zu der Auffassung heranreifen zu lassen, dass die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern ein erlaubter, nützlicher Akt ist.64 Es hatte etwas von Nachhaltigkeit. Ein gesunder Volkskörper musste gehegt und gepflegt werden. Allein die Badener Zeitung strotzte vor Artikeln, die diesen gesunden Volkskörper einforderten, angefangen bei den Antirauch- und Antialkoholkampagnen bis hin zum erbgesunden Nachwuchs. Um das zu erreichen, brauchte es ein engmaschiges Netz an Kontroll- und Überwachungsorganen. Damit behinderte Menschen erst gar nicht in das Erwachsenenalter kämen, wurden im Sommer 1939 Kriterien erstellt, die die Erkennung, Aussonderung und Ermordung behinderter Kinder durch Amtsärzte, Hebammen, Kinder- und Hausärzte regulierten. Es herrschte Meldepflicht bei „missgestalteten Neugeborenen“. Entlohnt wurden die Meldungen mit 2 RM pro Meldebogen, der den Idiotie-Grad feststellen sollte.65 War in jungen Jahren keine Behinderung feststellbar und „rutschte“ das Kind durch die Leibes- und Geistesüberprüfung, so wurden anschließend Kindergärtnerinnen oder Lehrer in die Pflicht genommen, Meldungen bei allfälligen Minderwertigkeiten zu erstatten.66 Die Auslese-Prozeduren der Erbgeschädigten sollten gesellschaftlich fest verankert werden, vom Pflegepersonal und der Lehrerschaft bis zu den Eltern und Klassenkameraden. In diesem Sinne oft gebraucht war der Begriff der Aufklärungsarbeit. In Baden hielt unter 62 63 64 65 66
BBA, Bestandsignatur BS R179, Archivnummer 17686 – Anna Jarunek (geb. 1893). Vgl. ALY, Die Belasteten, S. 142. . Ebd. S. 144. Vgl. ebd. S. 109f. Vgl. MALINA, NEUGEBAUER, NS-Gesundheitswesen, S. 696–720 hier 708.
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anderem Parteigenosse und zeitweiliger Vorstand des Badener Gerichtes Dr. Ludwig Faseth Lichtbildvorträge in Volks- und Hauptschulen zum Thema Vererbungslehre. Laut Badener Zeitung fanden sie bei den Eltern besonderen Anklang und Beifall.67 Neben der Kosten/Nutzen-Argumentation – so rechnete man 1942 vor, dass die Tötung behinderter Menschen dem deutschen Fiskus bis zum Jahre 1951 880 Millionen Reichsmark einbringen würde (umgerechnet wären das zehn Milliarden Euro)68 – kamen noch gesellschaftliche Degenerationsängste sowie Blutreinheitsfantasien hinzu. Sicht- und lesbar wurde dies bei den propagandistischen Ankündigungen, als in Baden die Geburtenstation errichtet werden sollte. Ob es im Badener Krankenhaus zu Morden an Neugeborenen gekommen ist, dafür liegen derzeit keine Quellen vor, doch es wäre verwunderlich, wenn es keine gegeben hätte. Schließlich wurde dies als etwas Normales und Notwendiges angesehen, obendrein hatte man eine neu errichtete Gynäkologische Abteilung und einen Amtsarzt Dr. Robert Fischer, der im Landkreis sein Unwesen trieb, ein Mensch, der sich nicht scheute, kranke und ältere Menschen gegen Ende des Krieges zu sinnlosen Schanzarbeiten zu verdonnern oder gesunde Menschen der Zwangssterilisation zuzuführen – zu ihm später gleich mehr. Wie so ein Mord an Behinderten bzw. dessen Verschleierung vollzogen wurde, illustriert der Fall Herta Tögle. Am 26. August 1940 erhielt ihr Vormund, Eduard Hammerer, ein Schreiben der Landespflegeanstalt Grafeneck. Darin musste man ihm leider mitteilen, dass Frau Tögle zwei Wochen nach ihrer Einlieferung, am 30. Juli 1940, unerwartet an einer septischen Angina mit anschließender Herzinnenwandentzündung verstorben sei. Ihr Leichnam habe sogleich eingeäschert werden müssen, da Seuchengefahr befürchtet worden sei. Tröstend fügte man hinzu: Bei der schweren geistigen Erkrankung bedeutete für die Verstorbene das Leben eine Qual, und deshalb müssen Sie ihren Tod als Erlösung auffassen.69 Wie bereits erwähnt, galt der Tod bei solchen Menschen als Erlösung. Und erinnern wir uns zurück, das gleiche Argumentationsmuster finden wir bei schwerverletzten Wehrmachtssoldaten. Ob bei Herta Tögle eine gezielte Tötung vorlag, kann nicht eindeutig bewiesen werden, aber das Schreiben weist eindeutig zahlreiche Versatzstücke der üblichen Verschleierung auf. Das plötzliche Ableben, die schnelle Einäscherung und der Tod als Gnadenakt, als eine Erlösung vom Leid. Anfänglich wurde dem Glauben geschenkt. Allerdings häuften sich solche Schreiben, bestehend aus ebendiesen Satzbausteinen. Die Wahrheit konnte nicht lange im Verborgenen bleiben, obwohl das NS-Regime alles in seiner Macht Stehende tat, die Morde zu vertuschen. Unterschiedliche Sterbeorte wurden angegeben, um eine verdächtige Häufung bei einer einzigen Anstalt zu verhindern. Allein für diese Arbeit hatte die Tötungsanstalt
67 Vgl. BZ Nr. 98 v. 09.12.1939, S. 5 und StA B, GB 052; NSDAP Karteikarten groß: Faseth Ludwig (geb. 1896). 68 Vgl. ALY, Die Belasteten, S. 61. 69 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe I.
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Schloss Hartheim 20 bis 25 Büroangestellte abgestellt.70 Das Morden, nicht nur an behinderten Menschen, erstreckte sich, was Planung und Ausführung anbelangte, von den Gaskammern und den unzähligen Massenerschießungsstätten über Krankenhäuser und Pflegeanstalten bis hin zu irgendwelchen Kanzleien oder Büros, in denen zwischendurch eine Mittagspause eingelegt wurde. Alles war höchst professionell organisiert. Dazu gehörte es auch, im Schriftverkehr auf Form und Ausdruck zu achten. Marie Krancic, für die die Gemeinde Baden zuständig war, erhielt bei ihrer Einlieferung in Steinhof die Diagnose Imbecillitas, Epilepsie. Im September 1940 finden wir folgenden Stempel auf ihrer Krankenakte: Auf Grund einer Anordnung des Koär. f. Reichs-Verteidgg. in die I.A. Ybbs versetzt. Dort in Ybbs, im Oktober 1940, ein weiterer Stempel: Auf Grund einer Anordnung des Kommissärs für Reichsverteidigung in eine nicht genannte Anstalt versetzt.71 Bei Karl Zagler, letzter Wohnort Pfaffstätten, eingeliefert im Dezember 1939 nach Gugging, laut Ätiologie: uneheliches Kind, Mutter debil, moralisch minderwertig, Kind mit 1 Jahr allgem. Krämpfe, erfolgte sein Abgang am 9. Mai 1941, […] in eine der Direktion unbekannte Anstalt.72 Marianne Hönig aus Baden, traf es am 12. November 1940. Der letzter Eintrag in ihrer Krankenakte war vom 7. November 1940: Grimassen, weitgehender Persönlichkeitsabbau.73 Insgesamt finden sich 53 Personen, die Baden als Geburtsort oder letzten Wohnort vermerkt bekamen, die in einem Zeitraum von Sommer 1940 bis Sommer 1941 in unbekannte Anstalten überführt, versetzt oder der Direktion unbekannte Anstalten überstellt wurden.74 * Proteste gegen das Ermorden behinderter Menschen kamen vor allem aus der katholischen Kirche, von einfachen Priestern, Ordensleuten und Klosterschwestern. Der Prominenteste von ihnen war der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen. Dessen Protest war ausschlaggebend für den Stopp der T4-Aktion – die Ermordung behinderter Menschen, benannt nach der Adresse, Tiergartenstraße 4, der dafür beauftragten Behörde. Galen sprach nichts Unbekanntes an, es war mittlerweile ein offenes Geheimnis, aber seine öffentliche Anklage brachte die Bevölkerung wie auch die politische Führung in Verlegenheit. Nun konnte sich niemand mehr ausreden, von nichts etwas gewusst zu haben. Der Bischof nahm sich kein Blatt vor dem Mund, er sprach von Mord und predigte vom Gottesgericht und dem Zorn Gottes, der Deutschland treffen werde.75 Und siehe da, deutsche Städte 70 Vgl. CZECH Herwig, NS-Medizinverbrechen in der Heil- und Pflegeanstalt Gugging. Hintergründe und historischer Kontext. PDF-Datei: www.memorialgugging.at/pdf/B_Czech_MedizinverbrechenGugging.pdf, abgerufen am 10.04.2023, S. 1–26, hier 11. 71 BBA, Bestandsignatur BS R179, Archivnummer 18130 – Marie Krancic (geb. 1916). 72 BBA, Bestandsignatur BS R179, Archivnummer 21516 – Karl Zagler (geb. 1932). 73 BBA, Bestandsignatur BS R179, Archivnummer 20967 – Mariane Hönig (geb. 1891) 74 Die Daten stammen nach einer Anfrage meinerseits vom Verein „Schloss Hartheim“ (2015). 75 Vgl. ALY, Die Belasteten, S. 178.
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gingen in Flammen auf, weil Bomben vom Himmel fielen. Doch das Morden ging weiter, nur halt wesentlich geheimer. Die Tötungsanstalt Schloss Hartheim blieb bis Dezember 1944 in Betrieb.76 Wir dürfen nicht glauben, dass es hierbei keine klaren Fronten gab zwischen dem ultimativen Bösen, wie irgendwelchen fanatischen und sadistischen NS-Ärzten und den vollkommen ahnungslosen Volksgenossen, die dem Druck der Götter in Weiß erlegen wären. Die Eltern und sonstige Angehörige wurden teilweise in das Morden mit eingebunden. Die Mediziner unterrichteten die Angehörigen über neue Heilungsmethoden und Verfahren, deren Heilungswahrscheinlichkeit allerdings nur bei 5 Prozent lag. Die restlichen 95 Prozent bedeuteten den sicheren Tod. Die Entscheidung lag bei den Angehörigen. Es gab genug, die auf die ohnehin nicht vorhandenen 5 Prozent eingingen. Im Nachhinein rechtfertigte man sich, einerseits alles Menschenmögliche getan zu haben und anderseits, dass das Kind es endlich hinter sich hätte und man selbst eine Last los sei. Dankesbriefe an die Ärzte folgten.77 In anderen Fällen flehten die Eltern die Ärzte regelrecht an, ihre kranken Kinder zu erlösen, denn sie bräuchten ihre elterliche Kraft für ihren gesunden Nachwuchs. Sie baten aber um einen schmerzlosen Tod, eine schmerzlose Erlösung, denn man sah in dem Weiterleben des armen behinderten Geschöpfes nur noch Leid.78 Was als elterliche Kraft bezeichnet wurde, seine Kinder der gerechten NS-Sache zu opfern, dahinter standen ökonomische Aspekte. Hier konnten die einzelnen Gemeinden durch ihre Politik die Absicht, ein behindertes Kind loszuwerden, verstärken. Die Stadt Baden hatte eine Patenschaft für das jeweils fünfte Kind und darüber hinausgehende Kinder angekündigt. Es gebe Geld und Sachgeschenke bis zum Erreichen der Volljährigkeit. Und sollte es den Nachwuchs an die Universität ziehen, konnte die Patenschaft verlängert werden. Das galt aber nur für artreinen und erbgesunden Nachwuchs aus wohlgeordneten und politisch einwandfreien Familien – darauf wurde drei Mal hingewiesen – die das Bürgerrecht besaßen und eine Ausleseurkunde des Reichsbundes der kinderreichen deutschen Familien vorweisen konnten.79 Was aber, wenn man die Vorschläge der Ärzte als Eltern nicht befolgen wollte? Sich weigerte, das Kind in einer Pflegeanstalt abzugeben, es umstrittenen Behandlungsmethoden auszuliefern oder gar der Erlösung, durch den schönen Tod der „Euthanasie“, zuzuführen? Konnte man sich als Elternteil dagegen verwehren? Ja, konnte man. Energisches Eingreifen, Interesse am Kind, regelmäßige Besuche, wenn es sich in einer Anstalt befand, sowie reger Schriftverkehr mit dieser bewahrte behinderte Menschen vor der Gaskammer oder der Todesspritze.80
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Vgl. MALINA, NEUGEBAUER, NS-Gesundheitswesen, S. 696–720 hier 711. Vgl. ALY, Die Belasteten, S. 152. Vgl. ebd. S. 154f. Vgl. BZ Nr. 44 v. 05.06.1943, S. 5. Vgl. ALY, Die Belasteten, S. 39f.
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So wie im Fall von Franz F. Sein Fall birgt jedoch eine besondere Dramatik, da er eigentlich die Naziherrschaft überlebte und erst danach spurlos verschwand. Aber alles der Reihe nach. Dem Polizeiakt nach galt der 1935 geborene Bub als 100 %-Kretin, mit einer Hasenscharte und einem Wolfsrachen, der es ihm unmöglich machte, zu sprechen, und wegen dem er nur unnatürliche Laute von sich geben konnte. Eine bereits bekannte Ausdrucksweise: unnatürliche Laute, also unmenschliche Laute! Bereits vor seiner Geburt stand das Leben dieses Menschen unter keinem guten Stern. Seine leibliche Mutter, die ihn als Mädchen gebar (also als Minderjährige), versuchte ihn bereits im Mutterleib abzutreiben, was allerdings misslang. Dass der Erzeuger keine Alimente zahlte, passte perfekt in die desolaten Sozialverhältnisse. Wenig überraschend kam Franz F. zu Pflegeeltern, Karl und Sophie L. nahmen sich seiner an.81 Dort blieb er, bis er schulpflichtig wurde. Dann erfolgte die Unterbringung in Wien am Spiegelgrund Baumgartnerhöhe. Eigentlich beinahe ein Todesurteil, doch offenbar kümmerten sich seine Pflegeeltern um ihn, zeigten Interesse und Präsenz, und so überlebte Franz F. die NS-Vernichtungspolitik. Doch dann, im April 1945, flüchtete das Ehepaar L. samt seinem Mündel nach Telfs in Tirol, wo sie mit ihrer Tochter Susanne L. und dem Schwager zusammentrafen. Einen Monat später im Mai verstarb die Pflegemutter Sofie L. Ende August 1945 machte sich die Familie mit einem Flüchtlingszug wieder auf den Weg zurück nach Baden. Eine Zwischenstation gab es in Graz in einem Flüchtlingsdurchgangslager. Dort soll, laut Susanne L., eine Ärztin ihnen erklärt haben, dass sie Franz F. nicht mitnehmen dürften, da er an Nervenanfällen leide und deswegen in ein Krankenhaus gehöre. Susanne L. machte das, was ihr aufgetragen wurde. Doch das Krankenhaus hätte sie weggeschickt, weil keine geeignete Abteilung vorhanden gewesen wäre. So sei ihr damals nichts anderes übriggeblieben, als Franz F. in einem sich in der Nähe befindenden Siechenhaus abzugeben. Die Abgabebestätigung, die sie erhalten hatte, hätte sie im Flüchtlingsdurchgangslager abgeben müssen. Danach: Am selben Tage sind wir abgefahren und haben von dem Kind F. Franz nichts mehr gehört.82 Zwei Jahre vergingen, da meldete sich sein neu bestellter Sachwalter, Karl Kouff, zu Wort und erstattete eine Vermisstenanzeige. Die Ermittlungen ergaben, dass die Angaben von Karl L. und seiner Tochter nicht mehr überprüfbar waren. Die Lagerleitung des Flüchtlingsdurchgangslagers in Graz gab an, dass vor dem September 1945 keinerlei Aufzeichnungen geführt worden waren. Im September 1948 war laut Klinger bereits ein umfangreicher Akt zu dem verschwundenen Franz F. entstanden, aber über seinen Verbleib konnte man nichts in Erfahrung bringen. Einzig ein Satz in einem Polizeiprotokoll wirft womöglich etwas Licht auf die Ursache hinter dem Verschwinden des Zehnjährigen. Der zuständige Beamte bemerkte: Die Angaben des L. erscheinen sehr zweifelhaft, weil die Nachfragen in den Krankenhäusern in Graz negativ verlaufen sind. Da es sich bei dem Verschwinden des Franz F. (100 % Kretin) um den Besitzer von 3 Zinshäusern handelt, so dürfte dies der 81 Karl L. (geb. 1886), Sophie L. (1895–1945). 82 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: F. Franz (geb. 1935) – Susanne L. (geb. 1927) Aussage (22.11.1946).
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Grund seines Verschwindens sein.83 Es war nur eine Vermutung, festgehalten in einem Satz eines bearbeitenden Beamten. Da dies, wie gesagt, Spekulationen sind, habe ich diesen Fall deswegen anonymisiert, denn der Vorwurf hat es schließlich in sich. Sollte er nämlich der Wahrheit entsprechen, so hatte Franz F. den Abtreibungsversuch seiner Mutter überlebt, die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus, aber nicht die Habgier jener Menschen, die sich einmal seiner angenommen hatten. Gehen wir davon aus, dass es tatsächlich so war, dann führt der Fall drastisch vor Augen, welche Überlebensstrategien zur Anwendung kamen, wenn man in einer Welt des Mangels, der Gefahr und totalen Unsicherheit lebte. Kriegsbedingt traumatisiert und verängstigt in einem Flüchtlingszug eingepfercht, ohne ausreichende Verpflegung und medizinische Versorgung, nicht wissend, was einem in der Heimat blühte – und da sollte man noch die Kraft aufbringen, sich eines fremden und behinderten Menschen anzunehmen, der mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit braucht als der Durchschnitt, nichts beisteuern kann, um die ohnehin dramatische Situation erträglicher zu machen, sie stattdessen nur noch komplizierter und nur noch schwieriger gestaltet? Einen Behinderten musste man sich leisten können. Das klingt brutal, gleichzeitig „lebensrettend“. Denn bei dieser Opfergruppe herrschte bei weitem nicht der sofortige und totale Vernichtungswille vor. Pragmatismus war angesagt. Als im Juli 1938 Katharina Hoffmann und Georg Pluschkowitz jun. aus der Pflegeanstalt Mauer-Öhling entlassen wurden und wieder zurück nach Baden kommen sollten, hatte Bürgermeister Schmid nichts dagegen einzuwenden. Beide waren ihm persönlich bekannt. Er versicherte ferner, dass die Angehörigen, sei es die Eltern oder die Schwester, sich um die beiden kümmern würden.84 Schmid legte ein gutes Wort ein, und damit sind wir bei einem weiteren uns bereits bekannten Aspekt: Es war überlebenswichtig, wer einem gegenübersaß oder hinter einem stand. Wir haben hier also einen Spielraum, den Angehörige und Behörde nutzen konnten, um behinderte Menschen am Leben zu lassen. Und der wurde fallweise genutzt. In Baden erschien zum Beispiel nach Kriegsende Josef Czecselitz bei der Polizei und erstattete gegen mehrere Personen Anzeige wegen NS-Verbrechen. Die Beschuldigten wiederum bezeichneten den Kläger als etwas beschränkt, und auch der zuständige Beamte konnte sich nach der Vorsprache überzeugen, dass er wirklich etwas Komisches an sich hat und mit seinem starken Sprachfehler eine bemitleidenswerte Person ist und daher von den jugendlichen Burschen zum Gespött benützt wird. Herr Czecselitz hat hauptsächlich die Anzeige im Glauben auf finanzielle Entschädigung eingeleitet und nach Belehrung, dass er womöglich keine solche bekommen würde, ließ sein Interesse an dieser Anzeige sehr stark nach.85 Laut dieser kurzen Beschreibung kann man davon ausgehen, dass der Mann irgendeine Art der Behinderung oder Beeinträchtigung aufwies. Dennoch hat er den Nationalsozialismus überlebt. Offenbar hatte 83 Ebd. – Ermittlungen (21.01.1948). 84 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe I – Georg Pluschkowitz (1915–1940), Katharina Hoffmann (geb. 1906). 85 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Czecselitz Josef (1902–1973).
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niemand ein Interesse daran gehabt, ihn in Schwierigkeiten zu bringen, auch wenn man das NS-Recht dazu gehabt hätte. Vielleicht war es einer dieser klischeehaften „Dorftrottel“, die ausgelacht und zugleich bemitleidet wurden, aber nicht als Gefahr betrachtet wurden. Vielleicht hatte er auch nur Glück gehabt, denn sein Name stand schon auf der Liste der „Kreisasozialenkommission“, mit 17 weiteren Personen aus dem Bezirk Baden, die als gemeinschaftsunfähig und asozial deklariert waren.86
Einer von zwei Die Ermordung behinderter Menschen war kein primäres Anliegen des NS-Regimes. Zuerst galt es, den Krieg zu gewinnen. Deswegen war der offizielle Stopp der T4-Aktion keine „große Sache“. Diese Blöße konnte das NS-Regime auf sich nehmen. Außerdem wurde das Morden durch die sogenannte „wilde Euthanasie“ weitergeführt. Dezentral und nach Gutdünken der vor Ort zuständigen Protagonisten einzelner Anstalten. Es gab somit keinen „Oberbefehl“ von oben mehr, doch das Ziel war den zuständigen Stellen klar. Für Österreich ist die Zahl von 25.000 Euthanasie-Opfern bekannt, ermordet in Pflegeanstalten wie Gugging und Mauer-Öhling.87 Die Zahl der Opfer der „wilden Euthanasie“ ist schwer zu bestimmen. Erstens wurden die Morde verschleiert und vertuscht und zweitens geschahen sie auch indirekt oder „nebenbei“, infolge einer nicht weiter behandelten Infektion, einer beabsichtigten Unterernährung oder einer generellen Vernachlässigung.88 Dass es in Baden, in den Pfleganstalten und im Krankenhaus, nicht anders war, davon können wir durchaus ausgehen. Damit wollen wir auf jenen Mann überleiten, der bei der Zwangssterilisation, Deportation und damit dem Mord an vermeintlich behinderten oder geisteskranken Menschen aus Stadt und Bezirk federführend beteiligt war – Dr. Robert Fischer. Was für ein Mensch er war, fasste Josef Kollmann nach 1945 sehr treffend zusammen und gab zugleich eine Empfehlung ab, wie mit so jemandem zu verfahren sei. Für Dr. Fischer wäre es besser, wenn er nicht in Baden auftauchen würde, da ansonsten die durch ihn gequälte Bevölkerung an ihm Lynchjustiz verüben würde. Selbst jene Personen, die mit der NSDAP sympathisiert haben, belegen den Obgenannten mit Ausdrücken, die man in einem Bericht nicht festhalten kann. Da Dr. Fischer bei seinem Alter von 52 Jahren noch sehr rüstig ist, so könnte er entweder für einen braven Kriegsgefangenen nach Sibirien ausgetauscht oder in ein Konzentrationslager behufs manueller Arbeitsleistung eingestellt werden, damit er
86 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II S wie Schädling; Mappe IV. 87 Vgl. Peter MALINA, Wolfgang NEUGEBAUER, NS-Gesundheitswesen und –Medizin. In: Emmerich TÁLOS, Ernst HANISCH et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 696–720 hier 713. 88 Vgl. Herwig CZECH, NS-Medizinverbrechen in der Heil- und Pflegeanstalt Gugging. Hintergründe und historischer Kontext. PDF-Datei: www.memorialgugging.at/pdf/B_Czech_MedizinverbrechenGugging.pdf, abgerufen am 10.04.2023, S. 1–26, hier 18.
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das Los, das er sehr vielen hierzu ungeeigneten braven Mitmenschen widerrechtlich bereitet hat, nun selbst an seinen eigenen Körper ausprobieren kann.89 Es gab nur zwei Personen, eine davon war Dr. Robert Fischer, für deren Sicherheit Kollmann nach 1945 aufgrund Lynchgefahr nicht garantieren konnte und deswegen von vornherein dringend von einer Wiederkehr abriet. Zu der anderen Person werden wir später noch kommen. Bleiben wir vorerst bei Robert Fischer. Robert Fischer, geboren in Wien, kam nach dem Anschluss nach Baden und wurde im September 1938 Leiter des staatlichen Gesundheitsamtes. Zuvor war er als Spitalsarzt in Horn sowie im Landes-Invalidenamt für Wien, Niederösterreich und Burgenland tätig gewesen.90 In dieser Funktion als Amtsarzt, zuständig für den gesamten Bezirk, oblag es ihm, die Arbeitsfähigkeit von Volksgenossen festzustellen, egal, ob für den regulären Arbeitseinsatz oder gegen Ende des Krieges für Schanzarbeiten oder den Volkssturm. Ferner lag es in seinem Aufgabenbereich als Amtsarzt, Krankenstände zu überprüfen oder Prothesen zu genehmigen. Er nahm grundsätzlich jegliche Art von Untersuchung vor und stellte unterschiedlichste Atteste und Bescheinigungen aus, und das nicht immer medizinischer Natur. Wohlwollende und akkurate Behandlungen erfuhren zumeist Parteigenossen, der Rest, der wurde nach 1945 mittels der Badener Zeitung aufgefordert, sich bei den Behörden zu melden und die Erlebnisse mit dem Amtsarzt Fischer darzulegen. Einer, der dies tat, war der Klavierstimmer Karl Vojir.91 Seine Schilderung allein reicht aus, um die Lynchgelüste mancher Badener nachvollziehen zu können. Sein Aufeinandertreffen mit Robert Fischer erfolgte 1940. In diesem Jahr hatte er seine zukünftige Frau Anna kennengelernt, und wie es halt passieren kann, erfolgte der Austausch von Intimität noch vor dem Austausch der Eheringe. Um diesen Zustand schleunigst in geordnete Bahnen zu lenken, zog es beide vor den Traualtar, doch dafür benötigten sie ein Ehefähigkeitszeugnis. Vor den Amtsarzt Fischer geladen, passierte dann Folgendes: Einige Geschwister und ich [erklärte damals Karl Vojir] leiden an starker Kurzsichtigkeit. Dies war für Dr. Fischer nicht nur Grund genug, mir das verlangte Zeugnis zu verweigern, sondern er beschimpfte mich noch in gröbster Weise, sprach mir das Recht zu leben ab […] und verlangte von mir unter Drohung, mich von Weib und dem erwarteten Kind gewaltsam zu trennen und Erstere in’s Reich auf Arbeit zu verschicken [und] die freiwillige Zustimmung zur Entmannung. Von meiner Frau, der er schwere Vorwürfe wegen der Schwängerung machte, verlangte er ebenfalls, dass sie sich von mir trenne und einen anderen Mann nehme, da sie fähig sei, Kinder zu gebären. […] Unter dem Druck dieser Drohungen ließ ich den Eingriff an mir vornehmen. Trotzdem wurde mir das Ehefähigkeitszeugnis erst über Intervention des Blindenverbandes ausgestellt.92 Seine Psyche und Physis beschrieb er nach dem Eingriff als sehr schlecht, als 89 StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Robert (geb. 1893) – Kollmann an das Bezirksgendarmeriekommando (28.07.1945). 90 Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten A–J bis 1945, Robert Fischer. 91 Karl Vojir (1907–1976), Anna Vojir (1907–1979). 92 StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Robert – Aussage Karl Vojir (24.10.1945).
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angegriffen und als schwer geschädigt. Geschwüre und Angstzustände waren die Folge und dabei wahrscheinlich nicht einmal das Schlimmste. Denn ihrem am 7. April 1941 zur Welt gekommenen Sohn, Karl jun. war nur eine Woche des Erdendaseins vergönnt. Ob Fischer seine Hände dabei im Spiel hatte, geht aus den Quellen nicht hervor. Karl Vojir war nicht der Einzige, der auf Geheiß des Amtsarztes sterilisiert wurde. Gleiches musste der Hilfsarbeiter Franz Bauer über sich ergehen lassen. Über Monate wurde er aufgefordert, sich diesem Eingriff zu unterziehen, zuerst mit gutem Zureden u. Versprechungen, dass ich gesünder werde usw., später wendete man schon Gewalt an u. mir wurde gedroht, dass man mich eines Tages abholen werde. Das Versprechen wurde eingelöst, nachdem sich Franz Bauer standhaft geweigert hatte, dem Eingriff zuzustimmen. So wurde ich eine Tages Anfang August 1943 um ca. 4.00 Uhr früh von 2 Polizeibeamten aus dem Bett geholt, mit Gewalt in das allgm. Krankenhaus Baden gebracht, wo meine Entmannung sofort, unter Gewaltanwendung, durchgeführt wurde.93 Eine Liste mit 57 Namen liegt auf. Es waren Menschen aus Stadt und Bezirk Baden, die Robert Fischer der Zwangssterilisation hatte unterziehen lassen.94 Es sind Berichte von unmittelbar Betroffenen oder von Eltern, die ihre geistig und/oder körperlich behinderten Kinder der Sterilisationen haben zuführen müssen. Wir lesen von mangelhaften Untersuchungen, wenig auskunftsfreudigem Spitalspersonal, außer der Behauptung, dass eine Gefahr von den Kindern ausgehe, sollten sich jene vermehren, und wir lesen von Drohungen, dass, wenn sich die Eltern weigern würden, der Sterilisation zuzustimmen, die Kinder ohnehin abgeholt würden. Fischer war Eugeniker durch und durch. Als es um die Gewährung der Kinderbeihilfe für den neunjährigen Walter S. ging, legte Amtsarzt Fischer sein Veto ein. Das Kind hatte nicht nur einen Sprachfehler und ist geistig sehr zurückgeblieben. Der zuständige Lehrer erklärt, dass der Junge sehr schwach sei und sehr schlecht spreche. Aus eugenischer Sicht zog er die logische Konsequenz: Es wäre angebracht, für den Hilfsschüler Walter S. die Kinderbeihilfe zu streichen. Einen Gleichgesinnten hatte er in dem Hauptstellenleiter Anton Stumpf gefunden, der es sich offenbar zum Ziel gesetzt hatte, so viele Kinderbeihilfen wie nur möglich zu streichen. Solang Walter S. nicht die Gewähr bietet, dass es zu einem brauchbaren Vg. heranwachsen wird, spreche ich mich gegen die Weitergewährung der Kinderbeihilfe für dieses Kind aus.95 Menschen, die ansonsten mehr Unterstützung bräuchten als die meisten, das Wenige auch noch wegzunehmen, gehörte genauso wie das Aufoktroyieren von nicht ungefährlichen Behandlungsmethoden zum Terrorrepertoire des Robert Fischer. Als sich der Besteckschleifer Johann Terzer 1944 nach der Explosion in der Munitionsfabrik Enzesfeld bei den 93 Ebd. – Franz Bauer (geb. 1906) Aussage (06.01.1948). 94 Vgl. MAURER Rudolf, WELLENHOFER Sonja, S wie „Schädling“. Neue Dokumente zur Verfolgung unerwünschter Bevölkerungsgruppen in Stadt und Bezirk Baden 1938–1945 (Baden 2008), S. 45. 95 StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Robert (geb. 1893) – Fall Walter S. (geb. 1933).
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Aufräumarbeiten eine Lungenentzündung zugezogen hatte, diagnostizierte Fischer eine Lungentuberkulose und zwang ihn zu einem Kuraufenthalt in Strengberg am Puchberg. Vorwürfe, weshalb er kein Parteimitglied sei, und Verdächtigungen, dass er zugleich ein Kommunist sei, waren ebenso Bestandteil der Anamnese. Terzers Kur dauerte von November 1944 bis Jänner 1945 und bestand aus der sogenannten „Pneu-Kur“ und Goldinjektionen, wodurch ich aber gesundheitlich fast gänzlich ruiniert wurde.96 Nach der Kur war er arbeitsunfähig und erlitt einen finanziellen Schaden von 4.000 RM, da Fischer ihm die Kinderbeihilfe und die Kinderzuschüsse für seine drei Kinder gestrichen hatte. Auch hier haben wir nur einen Fall von vielen. Wer nicht Parteigenosse war, konnte in dem berüchtigten Gesundheitsamte in Baden absolut nichts erreichen. Invaliden des Weltkrieges bekamen keine Prothesen, orthopädische Schuhe etc. Die Weitergabe der Kinderbeihilfen, Bezug von Krankenmilch etc. wurden durch Dr. Fischer gestrichen, wenn es sich um Nichtparteigenossen handelte.97 Zu Fischers Opfer gehörten unterschiedliche Gruppen von Menschen. Gegen Ende des Krieges schrieb er reihenweise ältere Männer gesund – vornehmlich Nichtparteigenossen – um sie in den Volkssturm zu pressen, wodurch sehr viele durch die Kriegswirren gefallen oder in die Kriegsgefangenschaft geraten sind.98 Über jene werden wir zu gegebener Zeit ausführlicher sprechen, hier soll eine andere Gruppe im Mittelpunkt stehen, die eindeutig ins Visier des Amtsarztes geriet: Frauen. So lesen wir von der Gattin eines Krankenkassenbeamten, welche sich splitternackt vor dem Dr. Fischer ausziehen musste und trotz ihrer enormen Abmagerung von Letzterem unter zynischen Bemerkungen in die Arbeitsleistungen eingewiesen wurde. Eine Majorsgattin musste sich in dem ganz primitiv ausgestatteten Amtszimmer des Dr. Fischer ausziehen, wegen ihres Arbeitseinsatzes auch splitternackt ausziehen, worauf sie bei vorherrschender Kälte ca. eine Stunde warten musste.99 Bei solch sadistischen „Kleinigkeiten“ sollte es bei weitem nicht bleiben. Im Folgenden beschreiben hauptsächlich Frauen, wie sie durch Robert Fischer regelrecht in den Wahnsinn und die totale Verzweiflung getrieben wurden. Aufgrund einer 1936 erfolgten schweren Erkrankung verlor die Sprachlehrerin Rosa Braun ihre volle Arbeitsfähigkeit und wurde zur Rentenbezieherin. Aufgrund dessen erachtete sie die Aufforderung, sich dem Arbeitseinsatz zu stellen, als hinfällig. Nicht so Fischer. Das Ganze endet damit, dass Rosa Braun im Jänner 1944 in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Nun kam der Wachmann heraus, packte mich auf der einen und der Sanitäter auf der anderen Seite und schleppten mich zu dem bereitstehenden Auto. Als ich mich weigerte einzusteigen, gab mir der Wachmann einen Fußtritt und drohte mir mit Ohrfeigen. Rosa Braun wurde zwangseingewiesen, zuerst in die Psychiatrisch-Neurologische Universitätsklinik, dann nach Steinhof und zuletzt Gugging. Sie wäre nach drei Monaten entlassen worden, doch Fischer wusste das zu hintertreiben. Ihr blieb nichts anders übrig, als zu fliehen. Zuerst kam 96 97 98 99
Ebd. – Aussage Johann Terzer (geb. 1909). Ebd. – Klinger (11.09.1945). Ebd. – Kollmann an das Bezirksgendarmeriekommando (28.07.1945). Ebd. – Amtsbricht Klinger (29.06.1946).
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sie bei Bauern im Burgenland unter, danach verdiente sie sich als Bettlerin in Wien ihren Lebensunterhalt, um bei einer Fahrt nach Krems verhaftet zu werden, um im Anschluss erneut in Gugging eingeliefert zu werden. Dort wurde sie nach einiger Zeit als Pflegekraft, Übersetzerin und Nachhilfelehrerin verwendet oder weitervermittelt. Sie genoss gewisse Freiheiten und musste die Anstalt nur mehr über Nacht aufsuchen. Im März 1945 floh sie erneut, diesmal nach Ramsau im Traisental, wo sie bei einer Familie als Englischlehrerin unterkam. Rosa Braun erlebte dort die letzten Kriegstage. Nach 1945, sie verdingte sich nun als Sprachlehrerin, erstattete sie Anzeige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschenwürde, weil er unter Ausnützung seiner dienstlichen Eigenschaft als Amtsarzt ein ärztliches Gutachten ausgestellt hat, wodurch ich über ein Jahr in verschiedenen Irrenanstalten festgehalten wurde […].100 Gleiches widerfuhr der Hausfrau Maria Kienl. Sie brachte der Amtsarzt gleich zwei Mal nach Gugging. Während der Stationierung wurde sie acht Mal einer Schocktherapie unterzogen. Als Folgewirkungen zog sie sich zeitweilige Lähmungserscheinungen zu. Und nachdem sie entlassen worden war, musste sie ferner feststellen, dass sie Witwe geworden war. Ihr Gatte, August Kienl, hatte sich während ihres zweiten Psychiatrieaufenthalts im Oktober 1944 das Leben genommen. Ich ging, nach meiner Entlassung, als ich mich wieder in Baden befand, zu Dr. Fischer und fragte ihn, warum er mich überhaupt in die Irrenanstalt bringen ließ, und er dadurch meinen Mann, der an starken Depressionen litt, zum Selbstmord getrieben hätte. Dr. Fischer gab mir darauf zu Antwort: „Wenn ich noch die geringste Kleinigkeit von ihnen höre, kommen sie wieder dorthin, ihnen blüht sonst nichts als die Anstalt, Anstalt und wieder Anstalt.“101 Für geisteskrank wurde von Fischer auch die damals 20-jährige Anna R. aus Tattendorf erklärt. Dabei war ihr angeschlagenes Nervenkostüm kein Symptom einer Geisteskrankheit, sondern der im Vorjahr aufgetretenen Herzrhythmusstörungen. Dass man da mit neunzehn nervös wird, würde keinen normalen Menschen überraschen. Aber Robert Fischer war kein normaler Mensch. Als sie im Herbst 1942 schwanger wurde und dies Fischer zu Ohren kam, wollte er mir mein Kind durch einen chirurgischen Eingriff abtreiben. Ich war damit nicht einverstanden und es gelang mir, die Abtreibung zu verhindern. Gescheitert in seinem Vorhaben, versuchte Fischer ihre im März 1943 geschlossene Ehe für ungültig zu erklären. Die Zeichen standen für ihn nicht schlecht, Anna R.s frisch angetrauter Gatte, Franz R., war gerade an der Front, die 21-Jährige war alleine, aber auch hierbei versagte Fischer anscheinend letztendlich. Also forderte er Anna R. auf, nachdem sie eine Tochter zu Welt gebracht hatte, die Mutterstation in Weigelsdorf aufzusuchen. Aber auch da blieb Anna R. standhaft. Ich ging nicht zur Mutterstation, da ich Angst um mein Kind hatte, dass es mir vielleicht weggenommen wird. Trotz der ihr feindlich gesonnenen Umwelt besserte sich nach der Geburt ihrer Tochter ihr gesundheitlicher Zustand, ich erholte mich und meine Herzkrämpfe waren gänzlich verschwunden. Doch für Amtsarzt Fischer war sie eine unheilbar 100 Ebd. – Rosa Braun (1902–1976) Aussage (15.10.1946). 101 Ebd. – Aussage Maria Kienl (1897–1956).
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Geisteskranke. Anfang November 1943 erhielt sie von ihm ein Schreiben, das Krankenhaus Wiener Neustadt aufzusuchen, um eine Operation an mir durchzuführen zu lassen, welche die Unfruchtbarkeit zur Folge haben sollte. Dr. F. erklärte mir auch, es sei unzulässig, dass Geisteskranke Kinder zur Welt bringen, dass sich die Geisteskrankheit auf dieselben weitervererbe. Und wieder weigerte sich die junge Frau, Folge zu leisten, und bewies außerordentlichen Mut – doch diesmal rückte die Polizei aus. Während der in Wiener Neustadt zuständige Arzt es ablehnte, die Operation durchzuführen, hatte man in Baden offenbar keinerlei Skrupel. Unter einem falschen Vorwand und erneut unter Polizeieinsatz wurde Anna R. am sechsten oder siebten November 1943 ins Krankenhaus Baden verschleppt. Am selben Tag wurde ich noch der Operation unterzogen, welche mich unfruchtbar machte. Nach ca. 14 Tagen wurde ich aus dem Rathschen Krankenhaus entlassen und seitens Dr. F. nicht mehr belästigt.102 Ein kleiner Funke an Trost erstrahlte, doch er erlosch alsbald. Zwei Wochen nach ihrer Entlassung verstarb ihre Tochter an einer Darmverschlingung. Das Mädchen wurde nicht einmal ein Jahr alt. Schockierendes gab auch Elfriede Mahlendorf zu Protokoll. Sie war 1942 durch das Arbeitsamt an die Napola Traiskirchen vermittelt worden, obwohl bekannt war, dass sie aufgrund ihrer psychischen Verfassung für diese Stelle vollkommen ungeeignet war. Doch der Anstaltsleiter Karl Maria Schön wollte davon nichts wissen. In ihrer Erinnerung war er ein Mensch, der die Nerven seiner Angestellten buchstäblich auffraß. Er war ein Hysteriker, lebte ausschließlich nur von Rauschgiften wie Pervetin, Nikotin und Coffein. Ging ihm eines dieser Mittel aus, tobte er, belegte uns mit den wüstesten Schimpfnamen usw. Diese Zustände wurden immer unerträglicher und drückender. Nimmt man noch dazu den Umstand, dass in jener Zeit mein Mann wegen Landesverrates im Landesgericht saß, mein Schwager von der Gestapo ermordet wurde, meine Schwägerin sich aus diesem Grunde vergiftete, die Gestapo fast jeden dritten Tag bei mir anrief und mir nahelegte, mich von meinem Mann scheiden zu lassen, mir drohte, mir mein Kind wegzunehmen, damit es, wie sie sich ausdrückten, aus dieser „verbrecherischen Umgebung“ herauskomme. Im Frühjahr wog sie dann nur mehr 43 Kilo. Sie war arbeitsunfähig, sie wurde krankgeschrieben, doch auch das war dem Amtsleiter Schön egal. Da er mit Robert Fischer befreundet war, wusste Elfriede Mahlendorf nur allzu genau, was als nächstes folgen würde. Mit arbeitsscheues Objekt wurde sie begrüßt. „Ziehen Sie sich aus“ brüllte er mich an. Ich sagte ihm darauf mit letzten Kräften meiner Ruhe, dass ich nicht daran denke, mich von ihm untersuchen zu lassen, weil er voreingenommen sei und mich also infolge dessen niemals objektiv untersuchen könne. Der durch ihren Hausarzt ausgestellte Krankenstand wurde von Fischer nicht bestätigt. Elfriede Mahlendorf wurde angezeigt, sie verlor ihre Arbeit, sie musste ihr Gehalt zurückzahlen, sie verlor ihren Versicherungsschutz und blieb auf sämtlichen Arztrechnungen sitzen. Man hatte Elfriede Mahlendorf fast alles genommen. Ich war damals soweit, dass ich mich umbringen wollte, wenn ich nicht immer an mein Kind gedacht hätte, dass es niemanden auf der Welt hätte als mich, ich hätte es bei Gott getan. Sie war ein Wrack, aber 102 Ebd. – Aussage Anna R. (geb. 1922).
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sie schaffte es, sich zu erholen. Sie schrieb, dass sie nach ungefähr sieben Monaten wieder ein Mensch geworden sei. Abgesehen von dem materiellen Schaden […] ist der Schaden an Körper und Seele nicht mehr wieder gutzumachen, und es ist unverständlich, die Gesundheit vieler Menschen der Willkür einer Kreatur wie der eines Fischers auszuliefern. Er war der typische Volksschädling, viele Menschen hat er am Gewissen, und darum schließe ich mich der Beschwerde aller gleich mir Denkender an und verlange eine exemplarische Bestrafung dieses Menschen.103 Ähnliche Hintergründe wie bei Elfriede Mahlendorf finden wir bei Rosa Schmidtleitner. Auch ihr Ehemann, Rudolf Schmidtleitner, wurde verhaftet, und auch sie wurde dazu gedrängt, sich von ihm scheiden zu lassen. Zeitgleich wurde sie als Geschäftsinhaberin eines Gemischtwarengeschäftes in Schönau mit andauernden Kontrollen schikaniert, was 1941 dazu führte, dass sie ihr Gewerbe stilllegen musste. Die Verurteilung ihres Ehemannes zu 30 Monaten Zuchthaus löste bei ihr einen Nervenzusammenbruch aus, und sie war danach vollkommen arbeitsunfähig. Verzweifelt wandte sie sich an den Teesdorfer Gemeindearzt Dr. Burger, der sie schnurstracks an den Amtsarzt Fischer weiterleitete. Dieser drängt sie sogleich, sich stationär im Krankenhaus aufnehmen zu lassen, doch sie weigert sich, erst wenn ihr Ehemann aus der Haft freikäme. Darauf soll Fischer geantwortet haben, auf ihren Mann brauchen sie nicht zu warten, der kommt nicht wieder. Er irrte sich, Rudolf Schmidtleitner kam wieder, im Mai 1943. Rosa Schmidtleitner lebte wieder auf, doch im Jänner 1944 wurde ihr Mann in eine Strafkompanie eingezogen. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich wieder rapide. Im April 1944 wurde sie ins Badener Krankenhaus eingeliefert. Zuvor wurden noch ihre ihr zustehenden Milchrationen auf Betreiben Fischers und Burgers gekürzt. Am Karfreitag erhielt Rudolf Schmidtleitner sechs Tage Urlaub. Sogleich suchte er seine Frau im Krankenhaus auf. Dabei erzählte sie ihm, dass sie bis dahin nicht untersucht wurde, sondern nur drei oder vier Injektionen erhielt. Sie wollte unbedingt wieder nach Hause. Er tat, was in seiner Macht stand, um ihren Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen – vergebens. Am Ostersonntag besuchte er sie erneut. Sie sah zwar sehr leidend aus, war aber bei Appetit und aß von den mitgebrachten Fleisch- und Mehlspeisen. Am nächsten Tag kam er wieder und fand das Bett meiner Frau leer vor. Ich fragte die diensthabende Schwester, wo meine Frau sei, worauf sie mit mitteilte, dass sie nach dem Fliegeralarm um 11 Uhr eine Injektion erhielt und nachher verschied. Sie zeigte mir auch meine Frau im Waschraum liegend.104 Bei ihrem Tod wog Rosa Schmidtleitner nur mehr 35 Kilo. Ebenso für den Tod seiner Ehefrau, Herma Peyer, machte Franz Peyer im September 1941 Robert Fischer verantwortlich.105 Obwohl erwiesen war, dass Herma Peyer ein zu kleines Becken hatte, verweigerte Robert Fischer, der ansonsten kein Problem mit Abtreibungen und Sterilisation hatte, in diesem Fall den Schwangerschaftsabbruch. Da eine natürliche Geburt nicht in Frage kam, kam es zu einem Kaiserschnitt und hierbei zu einer 103 Ebd. – Elfriede Mahlendorf (geb. 1900) Aussage (18.10.1946). 104 Ebd. – Aussage Rudolf Schmidtleitner (geb. 1900), Rosa Schmidtleitner (geb. 1899). 105 Franz Peyer (geb. 1904), Herma Peyer (1909–1941).
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Peritonitis (Bauchfellentzündung) mit Darmparalyse. Herma Peyer verstarb am 22. August 1941. Fischer sah keinerlei Verantwortung seinerseits. Stattdessen erstatte er gegen Franz Peyer Anzeige, da jener sich ihm gegenüber ehrenkränkend geäußert und damit gedroht habe, den Fall seiner Ehefrau in Baden publik zu machen.106 Robert Fischer war nicht jemand, der immer im Vordergrund agieren musste, um Leben zu vernichten. Im Falle von Johanna Finkler, einer Arierin, die mit einem Juden verheiratet war, der nach dem Anschluss die Flucht ergriffen hatte, war Karl Zeller der Initiator für den folgenden Terror – Fischer bloß der Souffleur. Im Juni 1942 zeigte Zeller Johanna Finkler an, weil sie sich abfällig gegenüber Gauleiter Jury und dessen Schwiegersohn geäußert hätte, woraufhin gleich einmal der Sicherheitsdienst (SD) eingeschaltet wurde. Fischer assistierte hierbei im Hintergrund, indem er Johanna Finkler eine 15-jährige Drogensucht attestierte. Damit war Johanna Finkler entmündigt und wurde in das Sanatorium Purkersdorf verfrachtet. Als sie sich zur Wehr setzte, einen Rechtsanwalt konsultierte und mittels psychiatrischem Gutachten danach trachtete, ihre geistige und juristische Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen, diffamierte die Kreisleitung ihre Unterstützer als Judenstämmlinge und warnte, dass die Frau binnen kürzester Frist wieder in Baden auftaucht und die Stimmung der Bevölkerung in gefährlicher Weise beeinflusst.107 Im September 1943 zog Karl Zeller, der sich ansonsten damit brüstete, Leute im KZ verschwinden zu lassen, seine Anzeigen gegen Johanna Finkler zurück. Zum einen hatten Gauleiter Jury und sein Schwiegersohn es abgelehnt, sich mit den Anwürfen einer jüdisch versippten Frau zu befassen, zum anderen, als Karl Zeller selbst vorgeladen wurde, konnte er sich an den genauen Wortlaut wegen des Zeitablaufes nicht mehr erinnern. Ebenso wenig ist er in der Lage, für diese Äußerungen und Beschuldigungen Zeugen zu nennen.108 Seinen Sadismus stellte Robert Fischer oft genug unter Beweis. Sein Fanatismus wird auch dadurch deutlich, dass er selbst gegen Menschen vorging, die ihm politisch und ideologisch um nichts nachstanden – wie gegen den Kreisärzteführer Edmund Hess. Mitte 1943 kam es vor der versammelten Ärzteschaft zu einer offen ausgetragenen Auseinandersetzung. Dabei schien sich Fischer laut Hess eindeutig im Ton zu vergreifen, sein Benehmen war völlig unbeherrscht und gänzlich disziplinlos; es war dazu angetan, auch die Disziplin bei den anderen Kameraden zu untergraben.109 Das Parteikreisgericht stimmte dem zu und sprach einen Verweis aus – Hess stand in der Parteihierarchie über Fischer. Allerdings konnte Fischer einige Berufskollegen hinter sich scharen, die mit Hess‘ Feldwebelton und herrschsüchtiger Herangehensweise ebenso ihre Probleme hatten. Die Krux lag darin, dass es sich bei beiden um wertvolle alte Nazi und gute Charaktere handelt. Eine Lösung schien kompliziert, denn nach reiflicher Überlegung konnte weder Fischer als Amtsarzt versetzt, noch Hess als Kreisärzteführer enthoben werden, weil sonst Fischer als parteihierarchisch unter 106 107 108 109
Vgl. NÖLA, BH Baden, Gruppe I Personalakten A–J bis 1945, Robert Fischer. StA B, GB 052/Personalakten: Zeller Karl – Gestapo an SD (12.06.1943). Ebd. – Kreisleitung an die Gestapo (21.09.1943). StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Robert – Hess an Kreisleitung (13.07.1943).
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ihm Stehender Recht bekäme. Ein gordischer Knoten, aber selbst der konnte schließlich durchtrennt werden, weil, wenn Hess eine höhere Aufgabe als seine Verwendung als Kreisamtsleiter, z.B. als Hauptamtsleiter oder in der Gauleitung erhält, das Ansehen [beider] gewahrt bleibt.110 Doch Fischer war das zu wenig, er fühlte sich im Recht, denn für ihn war Hess ein unduldsamer Fanatiker an der Grenze des Normalen […].111 Mit dem „Normalen“ zielte Fischer messerscharf auf Hess‘ Achillesferse. Für Fischer, und nicht nur für ihn, war Hess‘ herrisches Gehabe als erblich bedingt betrachtet, da der Sohn des Dr. Hess abnormal ist.112 Ja, Sie haben richtig gelesen, Edmund Hess, der Kreisärzteführer von Baden, jener Mann, der davon schwadronierte, die Gesundheit des deutschen Volkes zu überwachen, zu fördern und damit die deutsche Leistungsfähigkeit zu steigern, war Vater eines behinderten Kindes, das eben nichts leistete und nichts arbeitete und ausschließlich Kosten verursachte. Ich nehme an, dass Hess genauso ein Eugeniker und von der Ausmerzung unnützer Esser überzeugt war wie all seine Gesinnungsgenossen, aber das bedeutet nicht, dass er sein eigen Fleisch und Blut der „Erlösung“ zugeführt hätte. Wieso auch? Sein erbkranker Junge wurde deshalb nicht zur Sterilisation vorgeschlagen, weil sich dieser unter guter häuslicher Beaufsichtigung befindet.113 Edmund Hess war finanziell potent genug, um sich einen Behinderten leisten zu können – hier haben wir wieder den ökonomischen Aspekt. Solange er sich persönlich um ihn kümmerte, das Kind der Allgemeinheit nicht auf der Tasche lag und er als Vater die Fortpflanzung unterband, war sein Sohn, trotz der Pseudolehren von reiner Rasse, Blut und Erbe, für das NS-Regime als solches uninteressant. Die Ökonomie obsiegte über die Ideologie. Oder anders ausgedrückt: It’s the economy, stupid!
Scherenschleifer Nach 1945 stellte sich Robert Fischer als jemand dar, der nur für Zucht und Ordnung sorgen hätte wollen, egal ob in den eigenen Reihen oder im gesamten Volkskörper – dazu später mehr. Bleiben wir aber bei dieser Zucht und Ordnung, denn beide Zustände führen uns zu einer weiteren Opfergruppe, auf die diese beiden Worte kaum oder nie Anwendung gefunden hätten. Ihre Präsenz in der Kurstadt war fühlbar, auch wenn ihre Anzahl nicht mit den anderen Opfergruppen gleichgesetzt werden kann. Es handelt sich um „Zigeuner“. Ich verwende den Begriff „Zigeuner“ wertefrei und als Oberbegriff für die verschiedenen Gruppierungen wie die Roma, Sinti, Lalleri, Lovara, Jenischen, Aschkali usw., weil ich bei den folgenden Fällen keine Ahnung habe, welchen Gruppen diese Menschen angehörten, geschweige denn, welche Selbstwahrnehmung sie von sich selbst hatten. Eines weiß 110 Ebd. – Aktenvermerk im Streit Fischer-Hess (1943. 111 Ebd. – Fischer an Kreisleitung. 112 Ebd. – Aktenvermerk im Streit Fischer–Hess (1943). 113 Ebd.
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ich aber sicher. So unterschiedlich diese Gruppen in ihrer Sprache, Religion, Herkunft, Kultur, Lebensweise und Selbstwahrnehmung auch waren, sie alle einte das Schicksal, entmenschlicht, zwangssterilisiert, vertrieben, beraubt und ermordet zu werden. Denn „Zigeuner“ galten ähnlich anderen Opfergruppen als minderwertig, und zusätzlich teilten sie das Schicksal der Juden. Sie waren nach der NS-Ideologie nicht nur minderwertig, sondern obendrein Schädlinge, die der Vernichtung preisgegeben werden mussten. Selbst wenn teilweise Ausnahmen bestanden, wurden die allermeisten als Plage und Parasiten angesehen. Diese Vorstellung war nicht dem Nationalsozialismus entsprungen, sondern fußte auf jahrhundertealten Stereotypen, Vorurteilen und blankem Hass. Auch die Zigeunerbettelei nimmt trotz des Winters immer mehr zu. Man sieht immer dieselben verschmierten, dreckigen Weiber, mit einem in einen Fetzen eingewickelten Säugling, irgendein Straßeneck gegen den Kurpark okkupierend, betteln, während ihre Sprösslinge, die schon selbstständig das ‚Gewerbe‘ ausüben, in den Nebengassen in der ihnen eigenen zigeunerhaft frechen Weise Passanten molestieren.114 Wie Schmarotzergewächse die Nährpflanze, so schädigen diese parasitären Existenzen die menschlichen Gemeinwesen, indem sie deren öffentliche Einrichtungen nutzen, ohne zu ihrer Erhaltung beizutragen. Nur zu leicht werden solch gesellschaftslose Menschen zu gesellschaftsfeindlichen, zu asozialen Verbrechern.115 Die beiden Zitate illustrieren vortrefflich das Bild, das die Mehrheitsgesellschaft von diesen Menschen hatte. Vielleicht haben Sie es, lieber Leser, an den Quellenangaben bemerkt, diese beiden Zitate stammen nicht aus irgendeinem hetzerischen Nazi-Blatt. Sie stammen aus bürgerlichen Zeitungen, dem christlichsozialen Badener Volksblatt und der nationalliberalen Badener Zeitung, und das Jahre vor dem Anschluss. Auch hier sehen wir, wie bei der Ermordung von behinderten Menschen, dass das NS-Regime das Rad nicht neu erfinden musste. Das bisherige Gedankengut und die darauf aufbauende Politik wurden weitergeführt, intensiviert und dann auf die Spitze getrieben. Das Fundament war längst da, gehegt und gepflegt von gutbürgerlichen Schichten, Lesern des Badener Volksblattes und der Badener Zeitung, also braven christlichsozialen Kirchengehern und nationalliberal kulturaffinen Theaterbesuchern. Menschen, die als Zigeuner klassifiziert wurden, waren genauso einer biologistisch-pseudowissenschaftlichen Einteilung unterworfen. Die zuständigen Polizeistellen arbeiteten eng mit den rassenhygienischen Forschungsstellen zusammen. Bei den sogenannten „Zigeuner-Razzien“ sollte nicht der Eindruck entstehen, es handle sich um eine willkürliche Menschenhatz. Behördliche Vorgehensweisen sollten auf rassenhygienischen Maßnahmen basieren, samt wissenschaftlichem Impetus, um den deutschen Volkskörper zu schützen.116 Wie bei „Mischlingen“ und „Asozialen“, so galt auch hier: „Zigeuner“ ist nicht gleich „Zigeuner“. Es gab auch die Guten. Damit waren die Sesshaften gemeint, die sogar als Arier 114 BVB Nr. 4 v. 26.01.1935, S. 3. 115 BZ Nr. 6 v. 23.01.1932, S. 1. 116 Vgl. LONGERICH, Heinrich Himmler, S. 240f.
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klassifiziert werden konnten. Dass die Zahl allerdings niedrig gehalten werden sollte, war den Parteizentralen ein besonderes Anliegen, denn, man kannte ja seine Pappenheimer, einfache Menschen und Parteimitglieder würden eine solche Begründung nicht verstehen.117 Dass die Sicherheitskräfte in Baden von solch rassischen Details Kenntnis hatten, kann gut möglich sein. Denn die Regimevertreter zeigten sich fallweise von ihrer gnädigen und großzügigen Seite, indem sie Betroffenen eine Art Chance gaben, sich zu beweisen, so wie bei Karl Pfeifer.118 Das Arbeitsamt vermittelte ihm einen Posten als Hilfsheizer bei der Flakartillerieschule. Doch wie nicht anders zu erwarten, seine Arbeitsleistung nahm stetig ab, und schon nach wenigen Tagen wurde er schlafend beim Nachtdienst vorgefunden. Sein Arbeitgeber sprach sich beim Landrat Wohlrab dafür aus, Karl Pfeifer in ein Arbeitslager einzuweisen. Dort würde er lernen, produktiv zu arbeiten. Fast schon enttäuscht schrieb man: Der Maschinenmeister hat sich mit Pf. durch Ermahnungen und Belehrungen alle erdenklichen Mühe gegeben und ihm nahe gelegt, dass er gerade als Zigeuner doppelt bemüht sein müsste, zu beweisen, dass auch er im Arbeitseinsatz voll zu verwenden ist.119 Man könnte auch sagen, Pfeifer hätte über seine rassische Disposition hinauswachsen müssen. Aber das gute Zureden half nichts. Wenige Tage später, nachdem man ihm einen Außendienst übertragen hatte, fand man ihn im Gasthaus „Zum guten Trunk“ in der Vöslauerstraße mit seiner Frau alkoholisiert vor. Zwei Wochen später am 14. Dezember 1940 hieß es bereits, dass sämtliche „Zigeuner“ aus Baden, auch die Fam. Pfeifer, nach Wien zur Kripo-Leitstelle abtransportiert worden wären. Doch Praktiken der Vertreibung und Deportation wurden schon lange vor dem Anschluss angewandt und waren keine Erfindung der Nationalsozialisten. Mittels des „Heimatrechts“ war es den Gemeinden erlaubt, Personen, die nicht in der Gemeinde gemeldet waren, in ihre jeweilige Heimatgemeinde abzuschieben. Betroffen davon waren Menschen, deren Verhalten Anstoß erregte oder, in den meisten Fällen, Menschen, die am ökonomischen und sozialen Rande der Gesellschaft lebten – was in vielen Fällen mit „Zigeunern“ gleichgesetzt wurde. Die Wortwahl oder die Vorschläge, wie gegen „Zigeuner“ oder die konstruierte „Zigeunerplage“ vorgegangen werden sollte, waren dem NS-Denken überaus ähnlich. Frauen sollten ihre langen Haare geschoren werden, um sie damit ihres Statussymbols zu berauben. Dermaßen gedemütigt, würden sie nicht mehr die Kurstadt aufsuchen und die Bevölkerung belästigen. Ihre Anwesenheit erregte vielfältige Befürchtungen. Neben Diebstählen und Bettelei sorgte man sich besonders auf christlichsozialer Seite um die Moral. Minderjährige „Zigeunermädchen“ würden nicht nur bei den Badener Heurigen bis spät abends herumstrawanzen, sondern obendrein auf den Schößen erwachsener Männer Platz nehmen. Wieder einmal eine perfekte Täter-Opfer-Umkehr. Denn sollte was passieren, so wären die minderjährigen „Zigeunermädchen“ selbst schuld, aufgrund ihres provokanten und anrüchigen Verhaltens. Die Badener Sozialisten im Gemeinderat stimm117 GERLACH, Der Mord an den Europäischen Juden, S. 171. 118 Karl Pfeifer (geb. 1904). 119 Vgl. NÖLA, BH Baden, X/143 – XIII 1940 bis XXXX; XI 157 1940.
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ten vielem grundsätzlich zu, bestanden aber darauf, nicht alle „Zigeuner“ über einen Kamm zu scheren und verlangten eine differenzierte Betrachtungsweise. Nicht alle waren in ihren Augen aggressive Bettler oder gar Kriminelle. Die meisten würden einfach nur ihrem Hausiergewerbe nachgehen.120 Kleinhändler, Hausierer und Scherenschleifer war das eigentliche Bild, das diese Menschen nach außen abgaben und das so in der Öffentlichkeit zumeist wahrgenommen wurde. Nach dem Anschluss erhielten die örtlichen Sicherheitskräfte eine noch freiere Hand habe, um die schon zuvor unliebsame Personengruppe noch effizienter loszuwerden. Zimperlich wird man wohl nicht vorgegangen sein, auch wenn in den Frührapporten der Badener Polizei, in denen die „Zigeuner-Razzien“ protokolliert wurden, von Gewaltanwendung nichts zu lesen war. Kühl und sachlich wurde im August 1938 vermerkt, dass eine Razzia in den Abendstunden negativ verlaufen wäre. Bei einer anderen Razzia wurden Ferdinand und Stefan Horvath aufgegriffen und ins Burgenland abgeschoben bzw. über die Stadtgrenze verfrachtet. Im März wurde Johann Karoly (geb. 1873), wegen Bettelei angehalten und aus dem Stadtgebiet geschafft, genauso Maria Karoly (geb. 1921) und Robert Berger (geb. 1918) – beide waren in Oberwart gemeldet.121 Im Oktober erwischte es Hersie Karoly (geb. 1909) und ihren Sohn, ebenso wegen Bettelei und weil sie angeblich Passanten belästigt hätten.122 Und zwei Monate später, mitten im Winter, im Dezember 1938 wurden Karl Pfeiffer, Johann Karoli (geb. 1920) und Theresie Horwarth (geb. 1923) samt Kind vertrieben. Einquartiert hatten sie sich in den Badener Elendsbaracken. Doch offenbar durften sie selbst dort nicht bleiben.123 Im April 1939 berichtete die Badener Zeitung von einer „Zigeunerrazzia“, bei der 25 Menschen in der Vöslauerstraße beim Ziegelwerk und weitere 35 Personen bei der Geflügelfarm aufgegriffen und mittels Lastautos an die burgenländische Grenze verfrachtet wurden.124 Der quantitative Unterschied zu Menschen, die als Juden klassifiziert waren, ist für Baden enorm. Das würde sich an den Zahlen zeigen – sofern es welche gäbe. Für Niederdonau haben wir 2700 Personen, die als „Zigeuner“ eingestuft wurden.125 Für Baden fehlen die Zahlen, wie auch die Quellen – ersichtlich auch am Umfang dieses Kapitels. 1938 und 1939 blitzten „Zigeuner“ in der Badener Zeitung oder in Polizeiakten sporadisch auf, die Betonung liegt hier ganz eindeutig auf sporadisch. Und wenn sie medial Erwähnung fanden, so konnte man sich offenbar einen flapsigen Unterton nicht verkneifen. Die Zigeunerin Rosa Frost aus Birkfeld in der Steiermark hatte entschieden, Pech mit einem Besuch, den sie in einer Trafik in Pfaffstätten ohne Einladung abstattete, was wir gemeiniglich Einbruch 120 121 122 123 124 125
Vgl. ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 123f. StA B, GB 231/Frührapport I; Fasz. I 1932–1938; März 1938. StA B, GB 231/Frührapport I; Fasz. I 1932–1938; Oktober 1938. StA B, GB 231/Frührapport I; Fasz. I 1932–1938; Dezember 1938. Vgl. BZ Nr. 34 v. 29.04.1939, S. 4. Vgl. MULLEY Klaus-Dieter, Niederdonau: Niederösterreich im „Dritten Reich“ 1938–1945. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik (Wien/Köln/Weimar 2008), S. 73–103, hier 92.
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nennen. Obendrein, so die Badener Zeitung süffisant, hätte die Betroffene eigentlich wissen müssen, dass sie vom Besitzer überrascht werden würde, doch siehe da, auch Zigeunerinnen können nicht in der Zukunft lesen.126 Irgendwann aber verschwanden diese Menschen aus der Berichterstattung, und lange bevor es so weit war, waren sie schon längst aus den Straßen der Kurstadt verschwunden. Man fragte sich dann nach einiger Zeit in Baden, wo denn die Scherenschleifer abgeblieben wären. Aber ob sie 1938 zum letzten Mal da waren oder doch 1939, da war man sich uneins. Andererseits, es war schließlich ein fahrendes Volk, das kommt und geht. Und mein Gott, dann blieben halt die Scheren stumpf – es gab Schlimmeres. Und nach 1945 ging es munter weiter mit dem Antiziganismus. Die Landeshauptmannschaft benachrichtigte sämtliche Bezirkshauptmänner am 28. Juni 1945, dass nach einer eingelangten Meldung an den Grenzen Niederösterreichs sich „Zigeuner“ ansiedeln würden – man sprach von einer Zigeunerplage – und da sie in seltensten Ausnahmenfällen die Österreichische Staatsbürgerschaft besäßen, sind sie daher im Falle der Aufgreifung im kürzesten Wege außer Land zu schaffen. Um das Vorhaben effizienter zu gestalten, rief man ein Gesetz aus dem Jahre 1888 in Erinnerung, das zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ erlassen worden war. Darin geregelt waren Handhabe und Vorgehensweise. Die Quintessenz aber war: Je mehr die nomadisierenden Zigeuner in ihrer Ungebundenheit beunruhigt und gestört werden, desto mehr werden sie Gegenden meiden, in welchen nach deren geordneten administrativen Verhältnissen für Nomaden kein Raum mehr ist […].127 Anders ausgedrückt, diese Menschen mussten endlich zivilisiert werden bzw. sich fügen oder verschwinden. * Juden, „Asoziale“, Behinderte und „Zigeuner“ sind die gängigsten Opfergruppen. Aber es gab noch weitere, die besonders gegen Ende des Krieges immer mehr in den NS-Fokus gerieten und damit in Bedrängnis und Lebensgefahr. Denn gegen Ende der NS-Herrschaft, als die Ressourcen noch knapper wurden, war jeder unnütze Esser einer zu viel. Die Eingangs- und Abgangsbücher aus Gugging zeigen deutlich auf, dass zahlreiche Einweisungen nicht nur aus Pflegeheimen, sondern genauso aus Altersheimen stammten. Die T4-Aktion beschränkte sich nicht nur auf Erbkranke.128 Zwangsterilisation, Zwangsabtreibung und schließlich Mord konnte all jene Menschen treffen, die grundsätzlich als Belastung angesehen wurden. Alte Menschen mit Demenz und sonstigen altersbedingten und somit unheilbaren Erkrankungen, Menschen, die grundsätzlich an nicht heilbaren Krankheiten litten, 126 Vgl. BZ Nr. 8 v. 30.01.1943, S. 7. 127 Vgl. NÖLA, BH Baden, XI 1945; XI – 103 Zigeunerplage. 128 Vgl. NEUGEBAUER Wolfgang, Die NS-Euthanasiemorde in Niederösterreich 1940–1945. In: ARNBERGER Heinz, KURETSIDIS-HAIDER Claudia (Hgg.): Gedenken in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Widerstand, Verfolgung, Exil und Befreiung (Wien 2011), S. 144–148, hier 146.
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waren schlicht und ergreifend unbrauchbar. Und die „Volksgemeinschaft“ fußte schließlich bis zum nie eingetretenen „Endsieg“ auf Leistung! Wie ernst das genommen wurde, darüber berichtete die Badener Zeitung im April 1943 unter dem Titel: Von der Pflicht zur Duldung ärztlicher Eingriffe. Darin wurde erläutert, wie das Reichsversicherungsamt zu Volksgenossen stand, die aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit erwerbsunfähig geworden waren und sich danach einer regenerativen Operation verweigerten. Es mutet dem Verletzten ein gewisses Maß von Schmerzen zu; er muss den ärztlichen Eingriff dulden, sofern ein Heilungs- oder Besserungserfolg begründet erscheint. […] Diese Auffassung entspricht unserem heutigen Rechtsempfinden, nach welchem der Einzelne sich nicht nur egozentrisch als Individuum betrachten darf, sondern auch Pflichten als Glied der Gemeinschaft hat, die ihm gebietet, alles daran zu setzen, um so schnell wie möglich wieder in das Erwerbsleben eingeschaltet zu werden und damit die Allgemeinheit zu entlasten. Und wer sich dem verweigerte, dem konnte die Unfallrente ganz oder teilweise von der Berufsgenossenschaft versagt werden. Auch Leistungen der Krankenhilfe werden nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes nicht gewährt […].129 Jene Menschen, die ihre Leistung nicht erbringen konnten oder wollten, verloren jeglichen Wert. Es konnte genauso Langzeitarbeitslose, Obdachlose, schwererziehbare Jugendliche, Suchtkranke, hier vor allem Alkoholiker, oder Menschen mit ansteckenden Krankheiten wie Tuberkulose treffen. Letztere waren in einer Zeit der knappen Ressourcen nicht nur unnötig, sondern aufgrund ihrer ansteckenden Erkrankung eine Gefahr für den gesunden Teil der „Volksgemeinschaft“.130 Auch von Krieg, Gewalt und Luftangriffen traumatisierte Menschen liefen Gefahr, unter die Räder zu kommen. Selbst Wehrmachtssoldaten waren nicht davor sicher.131 Der NS-Krieg begann seine eigenen Krieger zu fressen, sofern jene nicht ohnehin auf dem Felde der Ehre gefallen waren. Für Baden fehlen diesbezüglich die Quellen, doch gilt auch hier, weshalb sollte es anders gewesen sein? Die Kurstadt war bei weitem keine Insel der Seligen. Und nochmals, eine eindeutige Täterschaft war nicht immer gegeben. Es „menschelte“ an jeder Ecke. Der Hang zur selektiven Wahrnehmung brachte es auch mit sich, dass über so gut wie alles hinweggesehen wurde, was nicht den eigenen Lebensbereich tangierte und demzufolge störte. Man begann die durchaus sichtbaren und nachvollziehbaren Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes vor sich selbst zu entschuldigen. Da mussten eben Späne fliegen, wenn gehobelt wurde, galt es, ein rückständiges Land an die Modernität Deutschlands anzugleichen. Schmarotzer hatten in der Volksgemeinschaft nichts verloren.132 In dem Zitat finden wir sie alle wieder, die Juden und „Mischlinge“, die „Asozialen“, die „Berufsverbrecher“, kranke, alte und behinderte Menschen sowie „Zigeuner“ – sprich jene Menschen, deren Arbeitsleistung im NS-Sinne zu wünschen übrig ließ.
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BZ Nr. 32/33 v. 24.04.1943, S. 9. Vgl. ALY, Die Belasteten., S. 213–231. Ebd. S. 256. RAUCHENSTEINER, Unter Beobachtung, S. 180.
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Dritter Teil Expansion und Zenit
Es war nicht immer die Ideologie, die die Protagonisten antrieb, Gewalt in all ihrer Ausprägung anzuwenden. Es gab zwar genug, die es aus ideologischer Überzeugung taten, aber auch solche, die es taten, weil sie es tun mussten, nicht anders konnten, es nicht besser wussten oder auch, weil es ihnen Freude und Lust bereitete.
Vierter Teil Kontraktion und Radikalisierung Von der Kriegswende im Osten bis zu Kapitulation des tausendjährigen Reiches …
Kapitel 26 Post Stalins Stadt Oder: Von alten Leiden und neuer Wirklichkeit, von taktischen Rückzügen, einer Bürgermeisterei und von Rauchschwaden nahe der Kurstadt
Vorbei waren die Zeiten, als es noch geheißen hatte: Das Verhalten und die Stimmung in der Bevölkerung ist als durchaus gut zu bezeichnen. Das blitzschnelle Zuschlagen Japans gegen die nordamerikanischen und englischen Flotteneinheiten hat in der Bevölkerung freudigen Widerhall gefunden. Der Zusammenschluss der Dreierpaktstaaten zu einer einheitlichen Front gegen Bolschewismus und Plutokratie hat allgemeine Befriedigung ausgelöst. Weiters soll der Bevölkerung klar geworden sein, vor welcher Gefahr das Reich und Europa bewahrt wurde und dass die restlose Vernichtung des Bolschewismus ein Gebot der Notwenigkeit war. […] Die Bereitwilligkeit zur Mithilfe an diesem entscheidungsvollen Kampf beweist die Bevölkerung durch die zur Zeit im Gange befindlichen Sammlungen an Kälteschutzmitteln und Skiausrüstung für unsere Soldaten an der Ostfront, die ein ausgezeichnetes Ergebnis verspricht.1 So hatte das Ende des Jahres 1941 ausgesehen. Das vierte Kriegsjahr begann dann aber mit einem Novum: Mit einer militärischen Niederlage, wie es die von Siegen verwöhnte Wehrmacht sowie das deutsche Volk noch nie erlebt hatten. Die Reaktionen konnten unterschiedlicher nicht sein. Mit felsenfester Zuversicht dürfen wir dem neuen Jahr entgegenblicken. Was es auch immer vom Einzelnen verlangen mag, die Nation in der Gesamtheit wird weiter von Stufe zu Stufe des Erfolges schreiten. Dieses neue Jahr wird dem neuen Deutschland und seinen Bundesgenossen gehören. Es wird uns als Sieger finden oder doch mit starken Schritten dem Siege näher bringen – so die verheißungsvollen Worte des Gauleiters Hugo Jury in der Badener Zeitung.2 Die Zuversicht zu siegen, gründete neben dem Vertrauen in die Genialität des Führers und der propagierten weltgeschichtlichen sowie biologischen Vormachtstellung des deutschen Volkes auch auf den Konsequenzen, falls der Krieg verloren gehen sollte. Denn die Zukunft sah nicht rosig bzw. nicht braun aus. Umsiedlung aller jungen Deutschen, Aufteilung des deutschen Volkes auf andere Völker, Umschulung der deutschen Jugend, ständige Überwachung des geistigen Lebens, wirtschaftliche Versklavung (man möchte aus dem deutschen Volk ein Volk von billigen Lohnsklaven
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NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Dezember 1941. Vgl. BZ Nr. 1 v. 06.01.1943, S. 1.
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Vierter Teil Kontraktion und Radikalisierung
für alle Welt machen).3 Bei solch düsteren Aussichten stellte das wiederkehrend eingeforderte Opfer, auch des eigenen Lebens, in pervertierter Weise etwas Lebensbejahendes dar – wenn wir das Individuum negieren und uns nur auf das Volk im NS-Sinne fokussieren. Schließlich ging es um dessen Existenz. Die propagandistisch verordnete NS-Zuversicht war demnach alternativlos. In Wirklichkeit liefen Führerglaube, „Endsieghoffnung“ und Ängste aller Art parallel und überlappend neben-, mit- und ineinander. So sah die deutsche Welt nach Stalingrad aus. Dass dort, weit im Osten, in der Stadt des roten Führers, etwas Ungeheuerliches geschehen war, wurde vorerst offiziell verschwiegen, die Wahrheit verdreht und zurechtgerückt, doch gegen die Gerüchteküche waren solche Taktiken chancenlos. Auch wenn man sich größte Mühe gab. In der Ausgabe der Badener Zeitung vom 20. Februar 1943 stand groß auf der Titelseite: Die Krise im Osten und der totale Krieg.4 Es folgten Auszüge aus Goebbels Sportpalastrede. Und ja, Sie haben, lieber Leser oder liebe Leserin, richtig gelesen, die Vernichtung der 6. Armee, der Verlust von hunderttausenden Soldaten unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, wurde Mitte Februar 1943 in der Badener Zeitung als „Krise im Osten“ betitelt. Anderseits, wieso denn nicht? Ein militärischer Rückschlag halt, wäre ja nicht der erste gewesen. Das dachten sich unter anderem Alois Brusatti und seine Offizierskameraden in Frankreich, als sie von der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad unterrichtet wurden. Denn, so die kampferprobten Offiziere, die deutsche Wehrmacht war noch voll intakt; die Katastrophe von Stalingrad, die eben um diese Zeit passierte, erschien nur als Rückschlag. Dass es eine kriegsentscheidende Wende war, ahnten wir nicht.5 Diese Krise im Osten brachte lokalmedial eine – eigentlich kaum mehr vorstellbare – weitere Steigerung an Berichten und Phrasen bar jeglichen Realitätsbezugs. Man beschwor die Defensivkräfte des Deutschen Reiches, die dem zweiten Sowjetsturm genauso standhalten würden wie dem ersten 1942. Es folgte das obligatorische Opfergeschreibsel, samt völkischer Bewährung und Besinnung. Es wurde wieder einmal die Frage aufgeworfen, weshalb jeder und alles dem Krieg untergeordnet werden musste, inklusive der Zusatzfrage: Was leistest du für den Sieg? Gefolgt von der Aufforderung: Bewähre dich stündlich im Schicksalskampf.6 Arbeite, verzichte und opfere – das NS-Regime war mit seinen Volksgenossen grundsätzlich per du. Und weil man so vertraut mit dem Bürger war, konnten verbale Banalitäten wie „Hart sein – härter werden“, „Sturmzeit fordert starke Herzen“, „Der Kampf ist hart, wir sind härter“ oder „England, ich hasse dich!“7 printmedial einfach so rausgehauen werden. Stellenweise vollkommen ohne jeglichen Bezug zum Text schmückten solche Ergüsse den Blattrand sowie die Kopf- und Fußzeile. Es waren Sprüche, die genauso von Pubertierenden hätten stammen können, die ihren Hormonhaushalt nicht im Griff haben. 3 4 5 6 7
Vgl. BZ Nr. 2 v. 09.01.1943, S. 1. Vgl. BZ. Nr. 14 v. 20.02.1943, S. 1. Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 38. Vgl. BZ Nr. 8 v. 30.01.1943, S. 1. Vgl. BZ Nr. 58 v. 24.07.1943, S. 2.
Kapitel 26 Post Stalins Stadt
Weniger geladen, wenn auch nicht ganz ohne Pathos, klangen die Situationsberichte Wohlrabs adressiert an die Reichsstatthalterei Niederdonau. Im Februar 1943 ließ er Reichsstatthalter Hugo Jury wissen: Die schweren Kämpfe an der Ostfront, namentlich jene von Stalingrad, werden von der Bevölkerung viel besprochen und besonders der Heldenmut und der Kampfgeist unserer Wehrmachtsteile hervorgehoben. Der militärische Rückschlag an der Ostfront verursacht eine gedrückte Stimmung unter der Bevölkerung, da sehr viele Familien um das Schicksal ihrer Angehörigen besorgt sind. Jene Volksgenossen, die bis heute noch nicht den Anschluss an das Dritte Reich und an die nat.soz. Bewegung gefunden haben, benützen natürlich die Rückschläge an der Ostfront, um ihre Miesmacherei in die Bevölkerung zu bringen.8 Kritischen Gemütern, von denen es genug gab – sie waren nur still und artikulierten sich zumeist nur in den eigenen vier Wänden unter Gleichgesinnten –, gingen vollkommen nachvollziehbare Fragen durch den Kopf. Warum zum Beispiel die Flut an Berichten wie: Warum die Heimat verzichten muss. Töpfe Geschirr, Kerzen und Eimer – Was der Soldat im Osten braucht – Notwendiges Gerät für das Ostheer aus der Heimat.9 Weshalb bräuchte die ewig siegreiche Wehrmacht – bis auf die verlorene Luftschlacht um England, doch das lag bereits Jahre zurück und wurde propagandistisch dem Vergessen preisgegeben – aufgrund einer bloßen Krise im Osten Töpfe und Kerzen aus der Heimat? Sparen und Opfern, Spenden und Geben! Es schien erstens kein Ende zu nehmen und zweitens wurde immer mehr und mehr verlangt. Als sich jedoch die Adressaten der Spendenaufrufe selbst zu Wort meldeten und von der Obrigkeit Informationen über ihre Angehörigen erbaten, die in diese Krise da im Osten verwickelt waren, gab sich das Regime zugeknöpft. Die Dienststellen der Wehrmacht, versicherte die Badener Zeitung, seien eifrig am Ermitteln. Man forderte die Hinterbliebenen auf, sich mit Anfragen noch zurückzuhalten und sich in Geduld zu üben. Die Recherche werde Zeit in Anspruch nehmen, sodass Auskünfte über das Schicksal einzelner noch nicht bekannt gegeben werden können. Um diese Ermittlungen nicht zu stören und die Erteilung von Auskünften dadurch nicht zu verzögern, werden alle Angehörigen unserer Stalingradkämpfer gebeten, von Anfragen bei Dienststellen der Wehrmacht und der Partei noch so lange absehen zu wollen, bis durch Presse oder Rundfunk die Dienststellen bekanntgegeben werden, die in der Lage sind, gestellte Anfragen zu beantworten.10 Doch die Angehörigen ließen sich nicht abwimmeln. Einen Monat später musste die BZ erneut Aufklärungsarbeit leisten, wer wo wie und wann was anfragen durfte. Schriftliche oder mündliche Anfragen, die bereits bei den Wehrkreiskommandos, Arbeitsstäben oder anderen Dienststellen gemacht wurden, sind so bald wie möglich bei dem nächstgelegenen Wehrmeldeamt unter Angabe genauer Daten zu wiederholen.11 Auf die mediale Berichterstattung oder die Recherche von Wehrmachts-, Staats- oder Parteidienststellen, wie es mit der Krise da bei Stalingrad so aussehe, darauf war der Bade8 9 10 11
NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Februar 1943. Vgl. BZ Nr. 12 v. 13.02.1943, S. 2. BZ Nr. 12 v. 13.02.1943, S. 2. BZ Nr. 19 v. 10.03.1943, S. 1.
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ner Priester Alois Rudolf Beck nicht angewiesen – da er selbst vor Ort gewesen war.12 Womöglich war es auch kein Zufall, dass er als Sanitäter und Feldgeistlicher ebendort gelandet war. Bevor er einberufen worden war, war er aufgrund seiner engagierten Jugendarbeit, die dem NS-Regime außerordentlich missfallen hatte, mit dem KZ bedroht worden. Aber auch die Ostfront bot ein weites Feld, um missliebige Kleriker zur Raison zu bringen. Stalingrad überlebte er ausgerechnet dank einer schweren Erkrankung. Zwei Monate vor der totalen Einkesselung hatte er ausgeflogen werden müssen. Der Krieg, das was er dort gesehen und erlebte hatte, sollte ihn ein Leben lang beschäftigen. Er predigte und berichtete über den Wahnsinn des Krieges, hielt zahlreiche Vorträge, sodass er bald den Spitznamen „Stalingrad-Pfarrer“ erhielt.13 Stalingrad prägte, Stalingrad veränderte. Bei Josef Schweinberger war es nicht Stalingrad alleine, das einen Gesinnungswandel bei ihm auslöste. Während meiner viereinhalbjährigen Militär- und Frontdienstleistung, die sich auf Polen, Frankreich, engl. Kanalinseln und Russland erstreckte, hatte ich Menschen, Nationen, Länder und deren Einrichtungen, wie aber auch das Elend und die Not, als auch die erbarmungslose Rücksichtslosigkeit, die der Krieg bedingt und alle Kulturwerte der Menschheit zerstörte, so gut kennen gelernt, dass ich mich, heimgekehrt und zur Ruhe gekommen, von der schon längst vergessenen Einstellung mit größter Abscheu umso mehr abwendete, als ich die bereits eingetretene Not in der Heimat wie den Terror des Nationalsozialismus hier selbst mit durchlebte.14 Die Heimatfront barg genauso ihre tödlichen Gefahren, besonders wenn man sich wie Josef Schweinberger extra einen leistungsstärkeren Radioapparat nach der Heimkehr zulegte, um Nachrichten aus aller Welt zu empfangen, und das in Gesellschaft. Zwar umgab er sich dabei mit ihm vertrauten Personen – aber selbst bei den Vertrauenswürdigsten wussten die NS-Behörden Methoden anzuwenden, um das in sie gesetzte Vertrauen zu brechen. Aber bis es soweit sein sollte – was in seinem Fall nicht passierte –, lauschte Josef Schweinberger den Stimmen der feindlichen Radiosprecher und staunte dabei über die Diskrepanz zwischen dem Gehörten aus seinem leistungsstarken Radioapparat und den Inhalten der Badener Zeitung. Denn dort ging die Flut an hanebüchenen Berichten munter weiter. Im April lieferte die BZ eine Analyse der Winterkämpfe im Osten, unter dem Titel: Epilog zur Winterschlacht. Ergebnisse und Erkenntnisse – Deutsche Bewährung, sowjetischer Fehlschlag. Nur ein Absatz, falls die Überschrift nicht ausreichen sollte, um den himmelschreienden und realitätsverweigerten Stuss zu erkennen: Noch ist nicht an allen Stellen der weitgespannten Front im Osten der Kampflärm verklungen, noch immer sind hier und dort Gefechte im Gange, die, mit den Maßstäben anderer Zeiten gemessen, wohl als Schlacht gelten können, die aber im Vergleich zu den hinter uns liegenden Ereignissen nur noch den Charakter örtlicher Kämpfe tragen. Sie mögen, von sowjetischer Seite gesehen, Versuche bedeuten, doch noch irgendwo Erfolge 12 Alois Rudolf Beck (1913–1996). 13 Vgl. MAUERER, St. Stephan, S. 377. 14 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Er war kein Partei- sondern NSKK-Mitglied von 1938 bis 1939. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Schweinberger Josef (1913–2004).
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zu erringen, um dadurch die Anerkenntnis der Tatsachen hinauszuzögern, dass ihnen das große Ziel dieses Winters versagt geblieben ist.15 Das Versagen der Roten Armee bestand darin, den Kaukasus wieder erobert und die Blockade Leningrads aufgehoben zu haben. Mediale Fakenews publizierte die Badener Zeitung am laufenden Band, oder man ließ gewisse Ereignisse, die nicht unwichtig waren, einfach weg. Als im Mai 1943 das Deutsche Afrikakorps kapitulierte, berichtete die BZ auf ihren Titelseiten über Gauleiter Jury, der an einer Milchleistungsbeschau in Baden teilnahm, über Spinnstoffsammlungen, Japans neue Chinaoffensive, über die neue Epoche der Panzerschlacht, von sowjetischen Fliegern, die reihenweise vom Himmel geschossen wurden, und alles verbrämt mit dem üblichen NS-Propaganda-Mainstream.16 In den Situationsberichten an die Gauleitung war es dann doch etwas mehr ausformuliert: Die Misserfolge in Nordafrika und die gänzliche Räumung Nordafrikas haben die Stimmung der Bevölkerung merkbar niedergedrückt.17 Die lokalmediale Berichterstattung in der BZ stützte sich auf zwei Grundpfeiler. Zum einen war da der Hass. Man schrieb sich die Finger wund über blutrünstige Bolschewisten und Juden. Und zum anderen Stolz. Man schrieb sich die Finger wund über heldenhafte Defensivkämpfe, wo gegen eine Übermacht gefochten wurde, und das bis zum bitteren Ende. Zwischendurch lesen wir etwas über die sizilianische Geschichte und Geographie (nachdem die Alliierten dort gelandet waren) und den schmählichen Verrat italienischer Generäle und des savoyischen Königshauses an dem Duce Mussolini.18 In den Situationsberichten hieß es dazu: Die Bevölkerung ist über die Kapitulation Italiens und über den Verrat des italienischen Königs und seines Marschalls weniger überrascht als erbost.19 Und dann gab es natürlich Insiderwissen, wie, dass die Beziehung unter den Alliierten dermaßen vergiftet sei, dass diese unnatürliche Allianz zwischen Kommunismus und Kapitalismus demnächst sicherlich zerbrechen werde.20 Gewürzt war das Ganze mit Schlagzeilen wie: Churchill über die Juden als Anstifter von Revolutionen oder Alle deutschen Bemühungen um Humanisierung des Krieges sabotiert beziehungsweise Treu auf Trümmern.21 Derweilen verschob die Rote Armee im Laufe des Jahres 1943 die gesamte Front Richtung Westen. Aber auch das sollte propagandistisch geradegebogen werden. Es waren die bereits öfters erwähnten taktischen und geordneten Rückzüge sowie eine von Anfang an eingeplante Frontverkürzung bzw. Frontbegradigung. Die Wirklichkeit kann in jedem xbeliebigen Buch über den Zweiten Weltkrieg anhand von Karten und Frontverläufen nachgesehen und nachgelesen werden. Oder werfen wir einen Blick in den Wehrpass von Hans 15 BZ Nr. 27 v. 07.04.1943, S. 1. 16 BZ Nr. 39 v. 19.05.1943, S. 1 und BZ Nr. 40 v. 22.05.1943, S. 1 und Nr. 41 v. 26.05.1943, S. 1 und Nr. 42 v. 29.05.1943, S. 1. 17 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Mai 1943. 18 BZ Nr. 74 v. 18.09.1943, S. 1 und Nr. 82 v. 16.10.1943, S. 1. 19 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, September 1943. 20 Vgl. BZ Nr. 63 v. 11.08.1943, S. 1. 21 BZ Nr. 53 v. 07.07.1943, S. 1 und BZ Nr. 54 v. 10.07.1943, S. 1 und BZ Nr. 94 v. 27.11.1943, S. 1.
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Meissner jun. Von August 1942 bis Jänner 1943 war er am Kaukasus stationiert, dann kamen die Hepatitis sowie die Rückverlegung zum San und ins Sandezer Becken zwecks Genesung.22 Er genas, aber den Kaukasus sah er nie wieder, kein einziger seiner Kameraden, außer vielleicht als Kriegsgefangener. Was die NS-Berichterstattung bezüglich der militärischen Situation 1943 anbelangte, so galt die Devise: Der Volksgenosse sollte sich schlicht und ergreifend der Realität verweigern. Manche taten es, manche jedoch nicht – auch solche mit Parteibuch. Denn das geschriebene Wort passte sogar nicht zu den Berichten zahlreicher Fronturlauber und den umherkursierenden Gerüchten. Da gebot es sich, zwischendurch mal den Feindsender aufzudrehen – oder, wie wir gelesen haben, sich gar ein leistungsstärkeres Gerät anzuschaffen. Die Lust nach dieser verbotenen Informationsquelle nahm seit Stalingrad und den anschließenden taktischen Rückzügen merklich zu und war lagerübergreifend, wie Ernst Pois nach 1945 in seinem Entregistrierungsantrag niederschrieb – jener Mann, der in Mödling sozialistisch sozialisiert worden und dessen jüdische Verlobte in die Türkei geflohen und dennoch höchstwahrscheinlich dem Holocaust zum Opfer gefallen war (siehe Kapitel 24). Nachdem er alle Hoffnungen, seine Verlobte wiederzusehen, aufgegeben hatte, heiratete er im Herbst 1939 die Tochter eines alten sozialdemokratischen Funktionärs aus Gumpoldskirchen. Das bisschen private Glück konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Rest auf sehr wackeligen Beinen stand. Nachdem sein alter Arbeitgeber verstorben und das Steuerbüro geschlossen worden war, fand er eine Anstellung beim Finanzamt in Mödling. Doch die Last seiner politischen Vergangenheit und seiner einstigen Partnerwahl wog schwer. Sie etwas zu mindern, führte ihn anfänglich zur Deutschen Arbeitsfront DAF und im Juli 1942 zur NSDAP – was ihm als Staatsdiener auch dringend angeraten wurde. Widerwillig trat er bei, weil er nicht mehr die Kraft hatte, sich dem zu verweigern und erneut zu riskieren, seine Anstellung zu verlieren. Wozu er genug Energie hatte, war, in seiner Wohnung, in Gesellschaft Gleichgesinnter, Feindsender zu hören. Während all dieser Jahre des Naziregimes verkehrten ausschließlich Gegner bei uns, kamen die ausländischen Sender zu hören, oft auch in größeren Gesellschaften, zu Vorlesungen und Schulungen. Linke, französische Fremdarbeiter und auch seine Nachbarin, Berta Holzer, mit ihrem Sohn, die er als streng bürgerlich beschrieb, mit denen ich ständig Auslandsender hörte und die politische und militärische Lage mit ihnen vollkommen offen besprach und die auch wissen, dass bei uns ausschließlich Gegner des Regimes verkehrten und zu wiederholten Malen geheime Zusammenkünfte bei uns stattfanden – was von Berta Holzer auch bestätigt wurde. Sie schilderte ferner, dass Herr Pois während dieser ganzen Zeit fanatisch gegen den Nationalsozialismus eingestellt war.23 Zugegeben, mit Ernst Pois haben wir sicher keinen Vorzeigeparteigenossen, eher einen Parteigenossen wider Willen. Aber es gab auch alte und verdiente Parteimitglieder, die durch Stalingrad ins Wanken gerieten. Mit seiner Parteimitgliedschaft soll der Bahnbeamte 22 Wehrpass: Hans Meissner jun.; Privatarchiv Zgierski Dominik. 23 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Pois Ernst (geb. 1910) – Berta Holzer (geb. 1899).
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Heinrich Gerischer schon längere Zeit gehadert haben. Er gehörte zur alten Garde, trat 1932 der NSDAP bei, war ein Illegaler und wurde nach dem Anschluss mit einer Anstellung bei der Reichsbahn belohnt, wo er als hauptamtlicher Prüfer beim Reichsbahn-Kameradschaftswerk für die Prüfung von 300 Stellen zuständig war (Reichsbahn-Landwirtschaft, Reichsbahn-Sportvereine, Reichsbahn-Musikkapelle, Reichsbahn-Sängerchöre). Sein Operationsgebiet erstreckte sich von Wien über Gmünd, Agram, Lundenburg, Laase, Pöchlarn, Hegyeshalom samt allen dazugehörigen Nebenstrecken.24 Seinen Dienst versah er grundsätzlich pflichtbewusst, doch übel stieg es ihm auf, als man damit begann, seinem Arbeitskollegen, Josef Felber, das Leben schwer zu machen. Meine Frau, Christin von Kindheit, musste wegen ihrer jüdischen Abstammung die jahrelangen Qualen einer Jüdin ertragen, von ihrem 55. bis 58. Lebensjahr Sklavenarbeit für eine Uniformfabrik leisten und erlitt infolge der vielen Nachtarbeit und alle, von der SS ertragenen Schikanen, große gesundheitliche Schäden. Kollege Gerischer war der einzige Nationalsozialist, der sich unser annahm, dem es trotz mehrfacher Warnung einiger Parteifunktionäre nach vielen Interventionen bei der Statthalterei und den Parteidienststellen gelang, dass ich im Eisenbahndienst ausnahmsweise verbleiben konnte. Gerischers Zweifel sollten danach immer größer geworden sein, beschrieb Felber, besonders seit Stalingrad hörte er mit größtem Interesse durch mich die russischen und englischen Sendermitteilungen (er selbst hatte bloß einen Lokalempfänger); bei seinem Besuch in meiner Wohnung nahm er in Gegenwart meiner Frau selbst am Abhören teil und schöpfte mit mir die Kräfte zum Durchhalten in der sicheren Erwartung, dass der Zusammenbruch kommen müsse. Und laut Felber, als Gerischer im Sommer 1943 zur Wehrmacht eingezogen wurde und dort die große Korruption und fortgeschrittene Zersetzung bemerkte, begann er das nationalsozialistische System zu hassen. Dass sich ein so kritischer Nationalsozialist, der schon vom Hass befallen war, nicht augenblicklich der Partei den Rücken kehrte, hatte aus Sicht Felbers ganz nachvollziehbare Ursachen: Ein Austritt aus der Partei war aus Gründen der Selbsterhaltung unmöglich.25 Ebenso bereits 1932 der Partei beigetreten war Franz Wiesinger und zwar in Wien, wo er als Mitglied des NS-Lehrerbundes zum Knaben-Hauptschuldirektor (Märzstraße 70) und Mitarbeiter im Wiener Kreisamt VII für Erziehung aufstieg. Doch dann erfolgte 1943 nicht nur die Übersiedlung nach Baden, sondern auch ein Gesinnungswandel. Er begann, NS-feindliche Flugblätter zu verfassen, herzustellen und zu verbreiten. Weiter half er einem Wehrmachtssoldaten zu desertieren, indem er diesem seinen Schwerkriegsbeschädigtenausweis (Franz Wiesinger hatte einen Kopfschuss im Ersten Weltkrieg erlitten) zur Verfügung stellte. Bestätigung erfuhren seine Aktionen nach 1945 vom „Bund demokratischer Freiheitskämpfer“.26 24 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Gerischer Heinrich (geb. 1901). 25 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Gerischer Heinrich – Aussage Josef Felber (11.06.1945). 26 Sein Antrag wurde abgelehnt. 1949 wurde angedacht, ihn als Minderbelasteten einzustufen. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Wiesinger Franz (geb. 1896).
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Durch Stalingrad und die Folgen ließen sich einige gestandene Nationalsozialisten zu Taten aber vor allem Aussagen hinreißen, die noch ein Jahr zuvor undenkbar erschienen wären. „Wir haben einen Krieg nicht zu führen gebraucht.“ In der Folge habe er, seine Anschauung damit begründet, dass wir den Krieg verlieren werden, weil schlechte Politik geführt werde.27 So hatte sich Parteigenosse Karl Manke im Mai 1943 während einer Baubesprechung bei den Flugmotorwerken „Ostmark“ in Wiener Neudorf geäußert. Drei Monate später war er bereits Ex-NSDAP-Mitglied. Er legte Berufung ein und erzielte einen Teilerfolg. Es stellte sich heraus, dass alles ein Missverständnis gewesen sei, beruhend auf den mangelnden Deutschkenntnissen seiner ruthenischen Denunzianten und einem angespannten Arbeitsklima mit denselben. Das Sondergericht sprach ihn frei, während ihm das Parteigericht die Absolution nicht gewährte. Zumindest war im Februar 1944 sein Parteiausschluss noch immer nicht revidiert. Klarere Worte fand da schon der Wehrmachtssoldat und Parteigenosse Benedikt Rasser aus Pfaffstätten. Im Juli 1943 soll er in Bezug auf das Parteizeichen eines anderen Parteigenossen geäußert haben: Tu den Dreck runter, wirf ihn in den Abort. Und zwei Monate später, im September 1943, teilte er der der 77-jährigen Volksgenossin Franziska Strasser mit: Wir haben den Krieg schon verspielt und Roosevelt teilt uns schon auf. Zuerst kommt der Bolschewismus, der wird gründlich aufräumen und hernach die Monarchie. Ihr Nazi werdet alle aufgehängt. […] Die Nazis stehen ja schon alle auf einer Liste. Da schreiben sie in den Zeitungen, 59 Flugzeuge haben sie abgeschossen, und dabei ist dies alles eine Lüge. Es wurde nur 1 abgeschossen. Für Kreisleiter Hans Hermann war das ein wehrmachtsschädigendes und den Wehrwillen des Volks zersetzendes Gerede, weil unter anderem Frau Strasser durch diese Äußerung derart konsterniert wurde, dass sie weinend im Ort herumlief und tatsächlich schon den Zusammenbruch vor der Tür stehen sah.28 Benedikt Rasser war seit Dezember 1938 bei der NSDAP, aber so richtig überzeugt schien er nie gewesen zu sein, denn in Sachen Beitrittsgrund hieß es: Maßgebend hierfür dürfte gewesen sein, dass Rasser sich dadurch den Genuss materieller Vorteile erhoffte. Demnach hätte man besser hinsehen müssen, wobei, das hätte man auch getan. Rasser sei zwar politisch nicht negativ aufgefallen, dafür aber mit einer stark ausgeprägten konfessionellen Gebundenheit. Und dann hätte sich wie aus dem Nichts seine gegnerische Einstellung bemerkbar gemacht, vor allem nach Kriegsbeginn. Auf einmal sollen Elemente bei ihm verkehrt haben, die der jüdisch-kommunistischen Weltanschauung nahe stehen.29 Seine Äußerungen bezüglich der Parteizeichen-Abort-Entsorgung und den am Galgen baumelnden Nazis sollen übrigens ebenfalls auf einem Missverständnis beruht haben. Aber nicht aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse anderer. Der Beschuldigte verantwortete sich mit Voll27 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II; Manke Karl (geb. 1880). 28 StA B, GB 052/Personalakten: Rasser Benedikt (geb. 1899) – Kreisleitung an den Wehrbezirkskommandeur Oberst Georg von Scheffler-Knox (24.09.1943). 29 Ebd. – Kreisleitung ans Feldgericht des Kommandierenden Generals und Befehlshabers im Luftgau XVII (28.03.1944).
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trunkenheit zur Zeit beider Tathandlungen.30 Man musste aber keine Wehrmachtsuniform am Leibe tragen, um über die Geschehnisse im Osten im Bilde zu sein. Ludowika Haas, eine Pensionistin aus Baden, führte zum Jahreswechsel 1943/44 in Gegenwart eines Unteroffiziers aus dem Altreich, Heinz Optebeck, ohne Genierer aus, dass Hitler ein Bluthund sei, Österreich genauso ausgebeutet werde wie Norwegen, Dänemark, Rumänien oder Bulgarien, dass der Krieg schon zu lange dauere, die Bevölkerung des Kampfes überdrüssig sei und die Soldaten schon längst den Frieden herbeisehnen würden. Und als ihr Gegenüber von einer letzten großen Schicksalsschlacht und dem anschließenden „Endsieg“ daherzufabulieren begann, erwiderte sie, dass der Krieg zwar aus sein werde, aber nie von Deutschland gewonnen werde. Dies werde zu Folge haben, dass Österreich wieder frei sein werde, was ihr sehnlichster Wunsch sei.31 Ihr sehnlichster Wunsch sollte in Erfüllung gehen, aber zuvor wurde sie im April 1944 verhaftet und in die Haftanstalt Wiener Neustadt eingeliefert. Karl Manke, Benedikt Rasser und Ludowika Haas waren bei Gott keine Einzelfälle. Das Gerüchtemachen, Verschlimmern, das Alles-besser-Wissen, Nörgeln und wie diese schönen Dinge sonst noch alle heißen mögen, sind kein unbedingtes Vorrecht der wenigen schwarzen Schafe in der Heimat; zuweilen findet man das auch bei den Soldaten. Die Obrigkeit reagierte unter anderem mit verbaler Gewalt. Alles Schwätzer, Schlechtredner, Angstmacher und Verräter in Uniform, geiferte die Badener Zeitung. In den Augen der NS-Propaganda war das derselbe Menschenschlag, der schon immer mit Feigheit und Miesmacherei aufgefallen wäre. Nichts dürfte man diesem Abschaum glauben. Das größte Gewäsch ist, die Heimat sei „kriegsmüde“. Alle fragte ich sie und von hundert sagten neunundneunzig „wenn wir nur den Krieg bald gewännen“ und höchstens der Hundertste sagte bloß „wenn er nur aus sein würde“, „Kriegsmüde“ ist die Front so wenig wie die Heimat und die Heimat so wenig wie die Front.32 Ich gestehe, liebe Leserin oder lieber Leser, ich habe ein gewisses Faible für die fallweise herrlich groteske, absurde und schwülstige NS-Propagandasprache und vor allem für NS-Überschriften in der Badener Zeitung im Zuge der Recherche entwickelt. Deswegen will ich Ihnen dieses eine Gustostückerl noch nicht vorenthalten. Wenn wieder einmal die Stimmung innerhalb der „Volksgemeinschaft“ im Keller war, hieß es ganz einfach: Optimismus im Krieg. Jeder Nationalsozialist ist ein Optimist! – Antwort auf alle Schicksalsschläge: Jetzt erst recht!33
Wider der Defatigation Ob man nun optimistisch oder pessimistisch an die Sache heranging, der Alltag war und blieb hart und entbehrungsreich und es ging Richtung abwärts. Während das NS-Regime 30 31 32 33
Ebd. – Feldgericht an das Amtsgericht (27.11.1943). StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II; Haas Ludowika (1883–1962). BZ Nr. 70 v. 04.09.1943, S. 3. BZ Nr. 98 v. 11.12.1943, S. 1.
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zuvor noch ein umfangreiches Tableau an militärischen Siegen in der Hinterhand gehabt hatte, das bei inneren Querelen jederzeit ausgespielt hatte werden können, fielen diese nun weitgehend weg bzw. fanden nur noch in der NS-Phantasie statt. Dem NS-Regime blieb nichts anderes mehr übrig, als alles auf eine Karte zu setzen. Es folgte die totale Mobilisierung der „Volksgemeinschaft“. Bis zum 1. Jänner 1943 sollten alle Volksgenossen erfasst werden, die keiner ordentlichen Beschäftigung nachgingen. Davon betroffen waren Männer zwischen dem 16. und 65. und Frauen zwischen dem 17. und 45. Lebensjahr. Entweder arbeiten oder kämpfen, dazwischen durfte es nichts geben. Zahlreiche Werkstätten und Fabriken wurden nach entbehrlichen Arbeitskräften durchkämmt und UK-Stellungen penibelst durchleuchtet. Es gab genug Arbeitgeber, die versicherten, jeden Mann und jede Frau zu benötigen. Teilweise weil es der Wahrheit entsprach, oder aber, um die Betroffenen vor dem lebensgefährlichen Fronteinsatz zu bewahren. Doch die Front brauchte dringend Menschenmaterial, aber genauso die Landwirtschaft und zahlreiche Handwerksbetriebe. Es herrschte sowohl Fachkräftemangel als auch Hilfskräftemangel, und das, obwohl ein Millionenheer an Zwangs- und Fremdarbeitern das Reichsgebiet bevölkerte. Dennoch lesen wir in den Situationsberichten, dass einerseits geschultes Personal fehlte und gleichzeitig, dass Landwirte oft monatelang warten müssten, bis ihnen Hilfskräfte zugeteilt würden.34 Selbst der Einsatz der Schulklassen III bis VII aus dem Mädchengymnasium Frauengasse auf den Rüben- und Erbsenfeldern im Badener Landkreis schien, allen propagandistischen Ergüssen zum Trotz, nicht ausreichend gewesen zu sein.35 Fehlende Erntehelfer bedeuteten, dass die Felder nicht rechtzeitig abgeerntet werden konnten, dadurch die Nahrungsmittelerzeugung ins Stocken geriet, folglich die Regale in den Geschäften leer blieben und damit auch die Einkaufstaschen und Mägen der Volksgenossen. Eine Maßnahme, um den Personalmangel in den Griff zu bekommen, nannte sich „Stillaktionen“. Dabei sollten verschiedene Geschäfte oder Gewerbe geschlossen bzw. zusammengelegt werden, um freiwerdende Arbeitskräfte zu lukrieren. Im März 1943 wurden von der Bezirksstelle „Einzelhandel“ im Kreis Baden 25 Gemischtwarenbetriebe zur Schließung vorgeschlagen. Gebracht hätte das 21 freiwerdende Arbeitskräfte. Das Ernährungsamt schlug wiederum drei Bäckereien vor, 17 Groß- und Kleinverteiler für Obst und Gemüse, eine Fleischhauerei, vier Blumenhandlungen und acht Konditoreien. Das machte weitere 29 freiwerdende Arbeitskräfte.36 Einerseits war das überaus logisch, denn wofür brauchte man 17 Obst- und Gemüseverteiler, wenn es kein Obst und Gemüse zum Verteilen gab. Für die Betroffenen sah die Lage natürlich anders aus. Auch wenn es sicher langweilig war, sich vor leeren Regalen die Beine in den Bauch zu stehen, aber wer wusste schon, wo man als so eine freigewordene Arbeitskraft eingesetzt werden würde. Um einer Stilllegung zu entgehen, war es für Gewerbetreibende immer von Vorteil, ein Naheverhältnis zur Wehr34 Vgl. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Jänner 1943. 35 Vgl. BZ Nr. 54 v. 10.07.1943, S. 3. 36 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. I Ernährung; Stillaktion.
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macht vorweisen zu können. Das Prädikat, ein „Wehrwirtschaftsbetrieb“ zu sein, entschied oftmals über das unternehmerische Sein oder Nichtsein. Der Kaufmann und Fabrikant von Branntweinen und Likörerzeugungen Franz Günther versuchte dahingehend sein Glück – doch fiel die Antwort frostig aus. Eher stand eine Stilllegung seines Betriebes „Günther & Polatschek“ am Horizont als eine Ernennung zum Wehrwirtschaftsbetrieb. Sein Erzeugungsumfang wurde als belanglos bezeichnet.37 Seine Produkte, Branntweine und Liköre, taugten genauso wenig, um als wehrwirtschaftlich relevant eingestuft zu werden. Außerdem war die Gastronomie, allen voran Bars und sonstige Unterhaltungs- sowie Nachtlokalitäten weitgehend geschlossen.38 Luxus und nächtliches Halligalli, während die Zukunft des deutschen Volkes am seidenen Faden hing, galten längst als verpönt und obszön. Hinzu kam bei Franz Günther, dass er während der Verbotszeit ein gehässiger NS-Gegner gewesen war, ferner liberalistisch eingestellt, ein Kollmann-Freund, der auch so manchen Parteigenossen hinter Schloss und Riegel gebracht haben soll. Seit dem Umbruch verhält er sich im Interesse seines Betriebes möglichst anpassend und zeigt auch Geberfreudigkeit, ohne dass jedoch auf eine innere Wandlung geschlossen werden könnte.39 Ihm den Wehrwirtschaftsbetriebsstatus zu verweigern, reihte sich in eine lange Kette an Schikanen ein. Bereits 1938 wurde ihm bzw. seinem Sohn, Franz Günther jun., der als eifriger Heimwehrmann bekannt war, von Seiten der Ortsgruppenleitung ein Darlehen von 3.000 RM verweigert.40 Und im Februar 1941 sorgte der Senior wieder für weiteren Unmut; denn sein Weinbrand war mit der Aufschrift „Österreichisches Erzeugnis, dem ehemaligen Bundesadler und den Farben rotweiß-rot“ an die Käufer abgegeben worden. Kreiswirtschaftsberater Leopold Reumüller zeigte hierfür wenig Verständnis – aber dafür ein wenig Humor. Bei aller Achtung vor dem Traditionsgefühl mancher Badener Einwohner, muss ich doch annehmen, dass Sie als Geschäftsbetrieb von dem im März 1938 erfolgen Anschluss der österreichischen Bundesländer an das Deutsche Reich inzwischen Kenntnis erhalten haben und innerhalb von fast 3 Jahren Gelegenheit gewesen wäre, Ihre verwendeten Aufschriften entsprechend zu ändern. Ich erwarte, dass Sie Ihre weiteren Lieferungen in einer geänderten Form vornehmen werden.41 * Welch kreative Schlussfolgerungen vorgebracht wurden, um an Personal zu gelangen, bewies die Reichsstatthalterei Niederdonau im Februar 1943, als es um den eingerückten 37 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Günther Franz sen. (geb. 1875) – Kreis an die Landesbauernschaft Niederdonau (14.10.1943). 38 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 12. 39 StA B, GB 052/Personalakten: Günther Franz sen. – Kreis an die Landesbauernschaft Niederdonau (14.10.1943) 40 Günther Franz jun. (geb. 1900). 41 StA B, GB 052/Personalakten: Günther Franz sen. – Leopold Reumüller (geb. 1893) an Landesbauernschaft Niederdonau (10.02.1941).
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HNO-Arzt und Parteigenossen Dr. Friedrich Fischer ging. Man bat das Wehrkreiskommando XVII um dessen Rückberufung von der Truppe und der Zuerkennung einer UKStellung. Denn der Kreis Baden, mit seinen 100.000 Einwohnern, müsste seit Monaten ohne einen HNO-Facharzt auskommen. Die Folgen davon: Zahlreiche Volksgenossen waren gezwungen, Fachärzte in anderen Landkreisen aufzusuchen, dadurch kam es zu zahlreichen Krankentransporten, was wiederum einen übermäßigen Treibstoffverbrauch verursachte. Die Formel lautete daher: Fehlender Facharzt = erhöhter Treibstoffverbrauch. Und man hatte auch Ersatz für Friedrich Fischer anzubieten. Als Tausch bot man den Gemeindearzt Dr. Theodor Leyerer an.42 Wie sparsam man mit der Ressource Arbeitskraft bzw. Fachkraft mittlerweile umgehen musste, verdeutlicht auch der Fall des Kaufmanns Franz Schrantz. Die Einstellung der Firma Schrantz bietet nach Angaben des Blockleiters wenig Gewähr, dass die Lehrlinge im Sinne des Nationalsozialismus erzogen werden. Bei jeder Sammlung hören sie das Raunzen des Chefs, der Gruß „Heil Hitler“ wird fast nie angewendet.43 In seiner Beurteilung von 1941 galt sein Verhalten als gleichgültig, und diesem „gleichgültig“ wurde nachträglich noch ein unterstrichenes und mit Rufzeichen versehenes „sehr“ hinzugefügt. Die Ortsgruppe schlug vor, ihm das Recht auf die Lehrlingsausbildung zu entziehen, und so geschah es auch. Vom ideologischen Standpunkt aus waren die Bedenken der Ortsgruppe berechtigt, doch zwei Jahre später, im August 1943, pfuschte wieder einmal die Realität dazwischen. Denn fachlich war an Schrantz nie etwas auszusetzen gewesen. Kreiswirtschaftsberater Reumüller erklärte: Die seinerzeit abgegebene politische Beurteilung, dass er unseren Bestrebungen gleichgültig gegenüber steht, kann meines Erachtens nicht als ausreichende Begründung für die Ablehnung der Lehrlingsausbildung herangezogen werden.44 Dem konnte DAF-Kreisobmann Ernst Ziegler nur beipflichten, und er ging sogar noch einen Schritt weiter. Auch ich nehme den Standpunkt ein, dass man dem Kaufmann Franz Schrantz, Baden Mühlgasse 27 den Lehrling zuweisen soll. Denn würde man dies von der politischen Beurteilung oder von der weltanschaulichen Haltung der Lehrherrn abhängig machen, dann würden wohl viele Handwerker und auch viele Kaufleute zur Lehrlingsausbildung derzeit noch nicht geeignet sein.45 Eigentlich ein Armutszeugnis sondergleichen. Fünf Jahre nach dem Anschluss war der Nationalsozialismus unter den Handwerkern und Kaufleuten noch immer nicht die Nummer eins! Und der Personalmangel war 1943 sogar dermaßen eklatant, dass man tatsächlich in Betracht zog, den Badener Goldesel zu schlachten – gemeint war das Casino. Für Schmid war die Spielbank seit jeher ein Hort des Frevels und Treffpunkt zwielichtiger Gestalten gewesen, jedenfalls vor seiner Machtergreifung 1938. Danach schien er schnell seinen Frieden mit der Spielhölle gefunden zu haben und scheute sich nicht, auch gewisse 42 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Friedrich (geb. 1907). 43 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Schrantz Franz (geb. 1880) – Ortsgruppe an Kreisleitung (01.08.1941). 44 Ebd. – Reumüller an Ziegler (30.08.1943). 45 Ebd. – Ziegler an Kreisleitung (30.08.1943).
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finanzielle Zuwendungen aus dieser Ecke entgegenzunehmen. Bezüglich der Schließung korrespondierte im März 1943 Reichsstatthalter Jury mit dem Reichsinnenministerium. Jury brachte Stalingrad ins Spiel und dass bereits hunderte Gefolgschaftsmitglieder aus dem Casino eingezogen hatte werden müssen. Der Personalmangel war ohnehin akut und nicht neu. Schon 1940 waren von 170 Gefolgschaftsmitgliedern ein Drittel eingerückt. Der Spielbetrieb wurde mit der Zeit nur mehr von Fremden am Leben gehalten, vornehmlich von Italienern. Im April 1942 wurde eigens eine eigene italienische Heldengedenkfeier für die zahlreichen italienischen Casinomitarbeiter organisiert.46 Mit der Schließung hätte sich auch Bürgermeister Schmid angefreundet, und er schmiedete bereits Pläne für die Zeit danach. Ihm schwebte vor, das Objekt als Veranstaltungsund Seminarsaal zu nutzen, ein Kurhaus für die NSDAP. So schlüssig Jurys Argumente oder Schmids Zukunftspläne auch waren oder die der Ministerien für Inneres, Finanzen und Propaganda – sie alle votierten für die Schließung – das „Njet“ kam von ganz, ganz oben. Hitler persönlich soll, nachdem er sich alle Meinungen angehört hätte, den Entschluss gefasst haben, das Glücksspiel in Baden weiterhin zu gewähren. Und dies geschah aufgrund vollkommen nachvollziehbarer Motive: Auf die Einnahmen wollte er nicht verzichten, und mit der Schließung der Spielbank würde das Glückspiel nicht sein Ende finden, sondern sich in Hinterzimmer-Casinos verlagern, mit den üblichen Nachteilen fiskalischer und polizeilicher Natur. Um dennoch irgendwie Kosten einzusparen, wurde die Reklame für das Glücksspiel eingestanzt und die Löhne der Mitarbeiter „modifiziert“ – was das auslöste, davon werden wir in Kapitel 30 noch lesen. Ansonsten: Der Führer hat ausdrücklich erklärt, dass er keine Maßnahmen auf Einschränkungen der Spielbetriebe wünscht.47 * Im Jahr 1943 war mehr denn je Pragmatismus angesagt, und der schlug sich auf zahlreichen Ebenen nieder. Auf Badener Gemeindeebene wurde die „Bürgermeisterei Baden bei Wien“ aus der Taufe gehoben, worunter sich nichts anderes verbarg als eine Zusammenlegung von Baden und der Nachbargemeinde Pfaffstätten – um auch so Personal einzusparen sowie Schulden zu tilgen. Von der Reichsstatthalterei Niederdonau im Mai 1943 verordnet, trat konform der Deutschen Gemeindeordnung (DGO) das Konstrukt „Bürgermeisterei“ am 1. Juni 1943 in Kraft. Damit avancierte Franz Schmid zum Bürgermeister einer Bürgermeisterei. Ihm zur Seite stand anfänglich der kommissarische Bürgermeister von Pfaffstätten, Dr. Othmar Tröthandel, der Ende Juli von zwei Beigeordneten aus Pfaffstätten, Gustav Grausam und Anton Prechtl, abgelöst wurde. Obwohl es jetzt nur mehr einen Bürgermeister gab, war die Selbstständigkeit der Finanzverwaltung beider Gemeinden weiterhin erhalten geblieben. Gemeinsame Ausgaben wurden proportional zur Einwohnerzahl auf beide Körperschaften aufgeteilt. Für die Betroffenen war dies ein lokalhistorischer Augenblick, 46 Vgl. BZ Nr. 33 v. 25.04.1942, S. 3 und NÖLA; Casino – Baden I, K2. f. 25. 47 StA B, GB 334/Casino I; Fasz. II; 1943 und NÖLA; Spielbank Baden 1943, K4 und K5.
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der fotografisch festgehalten wurde.48 Einzigartig war der Vorgang nicht. Genauso wurden die südlich von Baden gelegenen Gemeinden Gainfarn und Grossau mit der Kurstadt Bad Vöslau zusammengelegt, die Gemeinden Enzesfeld und Hirtenberg zur „Bürgermeisterei Enzesfeld“ umgewandelt, Schönau a.d. Triesting mit der Gemeinde Günselsdorf vereint, und im November 1943 übernahm, zwecks Verwaltungsvereinfachung, der Bürgermeister von Traiskirchen die Verwaltung über Oeynhausen.49 Dermaßen an Effizienz gesteigert, sollten die bestehenden Probleme in der Stadt und im Kreis Baden nun endgültig gemeistert werden. Und zu tun gab es schließlich genug. Geklagt wird, dass in Wien Rosinen, Mandeln, Orangen, Fische aller Art ausgegeben werden, während hier von diesen schönen Sachen nichts zu sehen ist und Fisch nur hie und da in den Städten, am Lande überhaupt nicht zu bekommen sind.50 Es wäre nicht so, als ob die zuständigen Stellen nichts dagegen unternommen hätten, rechtfertigte sich Landrat Wohlrab gegenüber der Reichsstatthalterei Niederdonau. Monat für Monat wird über die unzureichende Zuteilung von Obst und Gemüse berichtet, und trotzdem ist keine Besserung in der Anlieferung bemerkbar.51 Und einen Monat später, im September 1943, war die Zuteilung schlecht und absolut unzureichend.52 Aufgrund des dramatischen Lebensmittelmangels verlor auch das Geld weiter an Wert. Als eine Touristin aus Innsbruck, Luise Richter, im Juli 1943 beim Optiker Josef Kraupa in der Frauengasse eine Zuckerwaage erstehen wollte, nahm dieser ihr Bargeld einfach nicht an.53 Vom Geld habe er nichts, entgegnete er ihr sinngemäß, aber gegen andere Güter könnte er die Zuckerwaage durchaus eintauschen. Der ansonsten ruhige und arbeitsame Optiker, wie es in seiner Beurteilung zu lesen war, der aus der Großdeutschen Volkspartei zur NSDAP wechseln wollte und seit April 1939 im PA-Status verharrte, musste nun für seinen antimonetären Tauschvorschlag mit einer Anzeige rechnen.54 Aber all die Anzeigen und Strafen konnten nicht die Tatsache aus der Welt schaffen, dass es eben hinten und vorne an allem mangelte. Auch die medialen Beschwichtigungen versagten fallweise, weil sie dermaßen plump daherkamen und mit dem realen Alltag beim besten Willen nicht unter einen Hut zu bringen waren. So gestand die Badener Zeitung im September 1943 zwar ein: Die Nervosität hat ohne Zweifel zugenommen, doch im selben Atemzug schrieb man: Es ist aber ein Unterschied, ob die seelische Haltung eine aufrechte oder schwächliche ist.55 Die BZ fabulierte in einem elendslangen Artikel über „Haltung und 48 Vgl. BZ Nr. 42 v. 29.05.1943, S. 7 und BZ Nr. 54 v. 10.07.1943, S. 2 und BZ Nr. 59 v. 28.07.1943, S. 2 und WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 11. 49 Vgl. BZ Nr. 60 v. 31.07.1943, S. 8 und BREZINA, ZGIERSKI, Bad Vöslau, S. 86 und StA B, GB 052/Personalakten: Polsterer Johann und BZ Nr. 92 v. 20.11.1943, S. 5. 50 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Mai 1943. 51 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, August 1943. 52 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, September 1943. 53 Luise Richter (geb. 1898). 54 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Kraupa Josef (geb. 1883). 55 Vgl. BZ Nr. 69 v. 01.09.1943, S. 1.
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Ruhe bewahren“ sowie „Haltung und Ruhe ausstrahlen“. Wer diese Fähigkeiten nicht verinnerlichen und nach außen tragen könnte, wurde zu einem konstitutionellen Schwächling degradiert. Man schrieb relativierend um den heißen Brei herum, wie Landrat Wohlrab im Mai 1943 in seinen Berichten an die Reichsstatthalterei. Auch die Fleischkürzung gab wieder Anlass zu Unwillensäußerung, jedoch geht die Bevölkerung ruhig und willig ihrer Arbeit nach. Also war die Kreisbevölkerung doch kein Sammelsurium an Schwächlingen? Eher Arbeitstiere, die sich bis zum Umfallen abrackerten und deren Motivation die Resignation war? Im selben Bericht war aber auch zu lesen: In den östlichen Gemeinden des Kreises kommen wiederholt Einbruchsdiebstähle an Lebensmitteln, Fleisch und Fett, Kleintieren und Geflügel vor.56 Es war ein verheerendes Bild. Volksgenossen brachen gegenseitig in ihre Häuser ein oder stahlen aus Gärten, Ställen und Verschlägen Kleintiere, um ihre Bäuche füllen zu können, während die Badener Zeitung im Oktober 1943 voller Stolz verkündete: Die gesicherte Lebensmittelversorgung ist eine der glänzendsten organisatorischen Leistungen des Nationalsozialismus, aber auch eine der größten Taten des deutschen Bauerntums.57 Bedrohen, Verunglimpfen, Probleme schönzuschreiben und zu leugnen, das war das „kleine Einmaleins“ der NS-Berichterstattung. Wie fassadenhaft glänzend es tatsächlich war, hatte eine Geschäftszählung einen Monat zuvor ergeben. 23 Milchfachgeschäfte, 20 Fleischhauer, 20 Bäcker und 127 Lebensmittelgeschäfte.58 Auf den ersten Blick können sich die Zahlen sehen lassen. Das Problem war aber nicht die Anzahl der Geschäfte, sondern die bereits erwähnten leeren Regale und die darauf folgenden Stillaktionen. Wie spröde der Glanz doch war, machten nicht nur die Schlangen vor den leeren Geschäften deutlich, sondern auch der „Tag der offenen Tür“ in der Badener Kaserne im April 1943. Die Badener strömten herbei, zu sehen gab es nicht viel laut Gertrud Maurer, außer zwei bis drei halb verhungerter Pferde, auf denen Kinder reiten durften. Aber wegen der Pferde oder dem Kriegsgerät war keiner gekommen, sondern wegen dem markenfreien Essen. In ihr Tagebuch trug sie ein: Die Suppe war sehr gut, das Kracherl nicht besonders, der Kaffee mit Semmeln und Würsteln dagegen herrlich, einfach herrlich. Ich hätt‘ noch doppelt so viel verdrücken können.59 * Die Kapitulation vor der Wirklichkeit traf weiterhin auch auf die Thematik Wohnraummangel zu. Wenig überraschend war man hier einer Lösung nicht im Geringsten nähergekommen. In den Quellen finden wir weiterhin Schilderungen von desaströsen Wohnsituationen, der verzweifelten Suche nach Wohnraum sowie Bittbriefe und Klagen, die zwischen Rathaus, Landrat, Kreisleitung, Gauleitung und den Reichsstellen in Berlin umher zirkulierten. 56 57 58 59
NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Mai 1943. BZ Nr. 78 v. 02.10.1943, S. 1. Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. I Ernährung; Situation der Lebensmittelgeschäfte. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 61.
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Im November 1943 wandte sich Marie Albrecht an Baldur v. Schirach und beschrieb dem Wiener Gauleiter ihre desolaten Wohnverhältnisse in der Uetzgasse 3. Sie, ihr Ehemann Karl – der an der Front im Einsatz war – und ihre 14-jährige Tochter bewohnten eine Mansardenwohnung ohne Kochgelegenheit und ohne die Möglichkeit zur Einlagerung von Kartoffeln oder Brennmaterial. Verbrachte ihr Ehemann seinen Fronturlaub bei der Familie, war nicht einmal ausreichend Platz vorhanden, um eine dritte Schlafmöglichkeit aufzustellen. Seit vier Jahren warteten sie auf eine adäquate Wohnungszuweisung. Die Familie Albrecht waren Rückwanderer aus der Tschechoslowakei, deren Möbel, wie Marie Albrecht bitter beklagte, noch immer nicht eingetroffen seien, stattdessen würden sie irgendwo in Brünn verrotten.60 Auf der anderen Seite, wären die Möbel geliefert worden, hätte man ohnehin keinen Platz gehabt, sie aufzustellen – dann würden sie halt in Baden vor sich hin modern. Das Badener Wohnungsamt, dem sie indirekt Unfähigkeit unterstellte, spielte den Ball jedoch zurück. Vier angebotene Wohnungen hätten die Albrechts bereits zurückgewiesen, weil sie ihren Ansprüchen nicht genügt hätten. Dass ihre Wohnverhältnisse nicht die allerbesten waren, war dem Wohnungsamt durchwegs bewusst, aber es ist unter den gegebenen Umständen doch sehr schwierig, eine andere Wohnung zu beschaffen, da für Albrecht eine unmittelbare Gefahr der Obdachlosigkeit nicht besteht […].61 In Sachen Wohnraum lag die Messlatte 1943 bei: Hauptsache, ein Dach über dem Kopf. Und bedenken wir eines, vier Mal, hieß es, soll die Rückwanderer-Familie Albrecht eine ihr zugewiesene Wohnung abgelehnt haben. Ein klarer Fall von Undankbarkeit. So etwas förderte in keiner Weise das Zusammenleben zwischen den Heimkehrern und den Ostmärkern. Und es gab ja da noch die Brüder und Schwestern aus dem Altreich. Das Verhältnis zwischen der ortsansässigen Bevölkerung und den Bombenflüchtlingen ist noch nicht, so wie wünschenswert, ausgeglichen. Die Lebensverhältnisse sind zu verschieden. Die Flüchtlinge sind eine bedeutend höhere Wohnkultur gewöhnt, und es sind auch bereits wieder einige Mütter mit ihren Kindern in ihre Heimat zurückgefahren. Der Norden Deutschlands wird ins Mittelalter zurückgebombt, und die Flüchtlinge aus diesen Kraterlandschaften und Ruinenstädten verschmähen die liebliche Kur- und Biedermeierstadt Baden! Solche Begebenheiten wurden Landrat Wohlrab zugetragen, der sie pflichtbewusst in seinen Berichten an die Reichsstatthalterei vermerkte. Auch die Notwenigkeit, dass Flüchtlinge mit ihren Wohnungsgebern gemeinsam Küche führen müssen, ist auch der Anlass zu manchem Streit und Zank. Von Seiten der Bombenflüchtlinge wird auch über zu wenig Gemüsezuweisungen geklagt und die Beschwerde vorgebracht, dass sie in ihrem Heimatgebiet besser verpflegt werden und größere Lebensmittelzuweisungen erhalten wie hier.62 Man bewegte sich hier auf sehr dünnem Eis. Das wurde wahrscheinlich auch Landrat Wohlrab bewusst, und nur einen Monat später ruderte er plötzlich in die vollkommen 60
Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Albrecht Marie (geb. 1890) u. Albrecht Karl (geb. 1893) – Schreiben an Baldur v. Schirach (20.11.1943). 61 Ebd. – Wohnungsamt an Kreisleitung (10.02.1944). 62 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Mai 1943.
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entgegengesetzte Richtung, als wieder das Zusammenleben zwischen Ostmärkern und Altreichdeutschen Thema war. Es fehlte zwar in einzelnen Fällen an Einrichtungsgegenständen, die auch von der einheimischen Bevölkerung nicht mehr aufgebracht werden können, auch können die Unterkünfte nicht in allen Fällen als zugänglich bezeichnet werden; im Großen und Ganzen sind jedoch keine Schwierigkeiten vorhanden. Auch das Einvernehmen mit den Einquartierten und den Einheimischen hat keine besonderen Schwierigkeiten gemacht.63 Wir haben hier einen Kampf um Lebensraum – auch wenn es nur um die eigenen vier Wände ging. Als der HJ-Führer Walter Knobloch um eine Wohnung in Baden ansuchte, nur während der Dauer der Kulturtage 1943, gewährte man ihm und seiner Familie eine der leerstehenden und auf ausgebombte Flüchtlinge wartende Bleibe – aber eben nur temporär, nur während der Kulturtage! Als dann allerdings eine deutsche Flüchtlingsfamilie aus Hamburg vor der Türe stand, blieben ihr die Pforten verschlossen. Walter Knobloch schien sich an die Vereinbarung der befristeten Wohnungsnutzung nicht mehr zu erinnern bzw. er gab an, er hätte die Zusage der Gemeinde und des Landrates, die Räumlichkeiten weiterhin nutzen zu dürfen – was Schmid und Wohlrab eidesstattlich verneinten. Als man ihm mit der Räumung drohte, rief dies bei ihm heftige Erregung hervor. In einer absolut unkorrekten und heftigen Form, unter Vorbringung einer Flut von Beteuerungen und Klagen, wie z.B. auf Grund seiner um die Bewegung erworbenen Verdienste eher Berücksichtigung zu verdienen als Bombengeschädigte oder dass eine Übersiedlung auf Kosten seiner Arbeit gehen müsste, dass es für ihn schwer sei, in Baden eine brauchbare Wohnungsgelegenheit zu finden, und ähnliches, wollte Knobloch eine Änderung meiner Entscheidung erzwingen.64 Walter Knobloch weigerte sich partout, die Wohnung herauszugeben, und spielte dabei die jeweiligen Behörden gegenseitig aus, indem er Zusagen erfand oder irgendwelche dubiosen Mietverträge aus dem Hut zauberte. Alles keine Einzelfälle. Trotz des Evergreens „Gemeinnutz statt Eigennutz“ hatte die arische „Volksgemeinschaft“ ihre gemeinschaftlichen Grenzen. Nicht jeder Zinshaus- oder Villenbesitzer mit ungenutztem Wohnraum empfing Flüchtlinge aus dem Altreich mit offenen Armen. Emil Krause, wohnhaft in Wien, Hausbesitzer in Baden, in der Elisabethstraße 83, hatte nach eigenen Angaben bereits ausreichend Wohnungen dem Gemeinwohl zur Verfügung gestellt bzw. stellen müssen. Dabei kam es zu allerlei Streitigkeiten mit zwei aus Essen geflüchteten Familien, wer und wann welche Räume benutzen dürfte und wo man seine Möbel zwischenlagern dürfte. Die Essener Flüchtlinge, Grete Hilke und Gertrud Kairies, machten ihrem Vermieter klar: Die Sorge um Ihre wertvollen, antiken Möbel können wir durchaus begreifen; Sie können sich jedoch glücklich schätzen, sie in Wien stehen zu haben und nicht etwa in Essen, denn die Engländer und Amerikaner würden weniger Verständnis und Rücksichtnahme dafür aufbringen. Sie sprechen immer von Ihrem Sohn, der seit 4 Jahren im Felde steht, und vergessen anscheinend dabei vollkommen, dass unsere Männer eben solange unmittelbar an der 63 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Juni 1943. 64 StA B, GB 052/Personalakten: Knobloch Walter – Kreisleitung an Gebietsführung der HJ (02.11.1943).
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Front stehen. Wir sprechen zwar nicht so viel von solchen Selbstverständlichkeiten, halten es aber doch für angebracht, Sie einmal darauf hinzuweisen.65 Es ist anzunehmen, dass Emil Krause nicht unbedingt begeistert darüber war, von zwei Frauen aus dem Altreich zurechtgewiesen zu werden. Außerdem lag ihm eine totale Selbstlosigkeit in Bezug auf das volksgemeinschaftliche Miteinander eher fern. Schließlich hätte er das Haus in Friedenszeiten rechtmäßig erworben, und er gedachte seinen Lebensabend in der Kurstadt zu verbringen. Und er merkte an: Ich weiß in Baden eine ganze Reihe von Zweitwohnungen, die bisher nicht angefordert wurden und deren Besitzer ungehindert ihren Sommeraufenthalt weiter genießen können. Auch weiß ich von Wohnungen, die erst vor kurzem als Sommerwohnung an Wiener vermietet wurden, sodass für wirklich Bombengeschädigte noch genügend Raum vorhanden sein muss. Mit diesem Bewusstsein fällt es mir schwer, einzusehen, warum gerade ich ausersehen bin, meinen ganzen Besitz zur Verfügung zu stellen, der für mich mehr bedeutet als für jemand anderen. Vor allem aber ist es meiner bescheidenen Meinung nach notwendig, dass auch diejenigen sich bescheiden, denen Wohnungen zugewiesen werden, und dass da der strengste Maßstab angelegt wird.66 Egoismus bzw. jüdischer Individualismus, würde Bürgermeister Schmid hier wohl diagnostizieren. Die Zimmer wurden einfach beschlagnahmt. Ein Beamter des Landrates, ein Polizist sowie eine weitere Wohnungssuchende, Frau Krüger, erschienen bei Emil Krause, und er wurde aufgefordert, die gewünschten Zimmer zugänglich zu machen. Der Vertreter des Landrates nahm diese beiden Räume für Frau Krüger in Beschlag und gab derselben die Anweisung, dass sie sich diese Räume gleich zurechtrichten wolle und in Benützung nehmen kann.67 Noch ein Jahr zuvor hatte Schmid in einer Gemeinderatsitzung verlautbart, der Führer wünsche keine Eingriffe in den Privatbesitz. Nun, im Juni 1943, trudelte eine Anordnung der Reichsstatthalterei herein, dass freier Wohnraum binnen acht Tagen gemeldet werden müsste – dazu zählten jetzt auch Kabinette ohne Kochgelegenheit. Des Weiteren hatte die Gemeinde nun das Recht, Um- und Zubauten anzuordnen. Zwischenwände, Dachbodenausbauten und Zubauten waren nach einem behördlichen Beschluss auszuführen und bei Fertigstellung binnen weiterer acht Tage zu melden. Genauso waren Betriebe auf behördliches Geheiß dazu verpflichtet, aus Lagerräumen oder Büros Wohnraum zu schaffen. Wer nun jedoch dachte, eine Wohnung leichter ergattern zu können, der musste sich fragen, ob er denn auch zu den „bevorrechteten“ bzw. zumindest zu den „begünstigten“ Volkskreisen gehörte. Bemessen wurden diese Kategorien nach der Höhe der Invaliditätsstufe, der Zahl an Kindern und der Zahl der verliehenen Ritter- oder Eisernen Kreuze. Und erst wenn diese bevorrechteten oder begünstigten Volkskreise wohnraumtechnisch befriedigt waren, durfte der Rest sein Glück versuchen. Selbstverständlich war die „Anordnung zur Wohnraumlenkung“ in ein straffes Strafen-Korsett gezwängt. Wer die Acht-Tages-Frist versäum65 StA B, GB 052/Personalakten: Krause Emil – Gertrud Kairies, Grete Hilke an Krause (01.07.1943). 66 Ebd. – Krause an Kreisleitung (05.08.1943). 67 Ebd. – Aktenvermerk (09.08.1943).
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te, zahlte 150 RM. Wer sich ganz entzog, dem drohten die Zwangsräumung sowie Strafen von bis zu 10.000 RM.68 Wenige Monate später, im September 1943, mussten sowohl Kellerräume als auch Gasthaus- und Lagerräume gemeldet werden, wenn sie bewohnbar gemacht werden konnten – Nebenwohnungen sowieso. Und es gab eine Meldepflicht für „unterbelegte Wohnungen“, definiert als: Unterbelegte Wohnungen sind solche, bei denen die Zahl der Benutzer der dazu gehörigen Räume um mehr als eins kleiner ist als die Zahl dieser Räume.69 Sprich, in jeden Raum musste wenigstens ein Volksgenosse gesteckt werden. Der Kampf um Raum wurde auch im Inneren des NS-Systems ausgetragen. Das sich in kirchlicher Hand befindende Schloss Leesdorf beherbergte im vorderen Teil die Ortsgruppe Baden-Leesdorf mit all ihren Gliederungen. Im hinteren Teil befanden sich die Klosterschwestern, Umsiedler aus Rumänien sowie ein Wehrmachtslazarett. Und wie es nun einmal so war, die Wehrmacht wollte sich mit dem hinteren Teil des Schlosses auf Dauer nicht zufriedengeben. Sie dürstete es nach dem ganzen Schloss. Wie sie dabei vorging, das wusste Kreisleiter Gärdtner zu berichten, nachdem der Oberstabsarzt Dr. Szerdotz im April auf ihn zugekommen war und den Wunsch geäußert hatte, er möge doch die Räumung der Ortsgruppe Baden-Leesdorf veranlassen. Später hörte ich dann wiederholt, dass Offiziere und Ärzte die Ortsgruppe Leesdorf aufsuchten, die Räume besichtigten und sich äußerten, dass die Ortsgruppe in den nächsten Tagen ausziehen müsste, entsprechende Befehle wären schon unterwegs (Bauernfängermethoden).70 Die totale Entrechtung von arischen Haus- und Wohnungsbesitzern war mittlerweile kaum zu überbieten. Nicht anders erging es den Autobesitzern. Karl Golek, Kriegsveteran des Ersten Weltkrieges, dankte man seinen Fronteinsatz und die daraus entstandene 80 %-Kriegsinvalidität mit der Quasi-Konfiszierung seines Automobils im Sommer 1943. Denn um seinen Arbeitsplatz aufzusuchen, die Stadtwerke Baden, dazu wäre ein Auto, so sein Arbeitgeber, nicht wirklich erforderlich. Er könne schließlich mit der Straßenbahn fahren. Außerdem, wäre seine Behinderung tatsächlich so behindernd? Karl Golek konterte mit Zynismus und Ironie. Dass sich ein Prothesenträger mit einer Stumpflänge von ca. 15 cm bei einer Körpergröße von ca. 1.82 m und einem Alter von 48 Jahren ohne wesentliche Behinderung bewegen kann, ist mir vollständig neu, obzwar ich seit dem Jahre 1917 ein solcher Prothesenträger bin. Man lernt also, wie man sieht, nie aus. […] Dass mir heute den größeren Teil meines Anmarschweges die Straßenbahn zur Verfügung steht, stimmt auch nicht, weder theoretisch noch praktisch, doch spielt dies bei der ganzen Sachlage ja weiter keine Rolle, da ich ja, wie ich zu meinen Nachteil durch beinahe vier Jahre persönlich bewiesen habe, meinen Dienst auch so versehen kann.71 68 Vgl. BZ Nr. 50 v. 26.06.1943, S. 5. 69 Vgl. BZ Nr. 74 v. 18.09.1943, S. 5. 70 StA B, GB 053/Kriegsalltag III; Fasz. II Abwehrkämpfe u. Abwehrmaßnahmen; Beschlagnahmungen – Hermann an Jury (23.03.1943). 71 StA B, GB 052/Personalakten: Golek Karl (geb. 1896) – Golek an Landrat (04.06.1943).
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Dabei war es doch ein zentrales Credo des Nationalsozialismus gewesen, den Privatbesitz zu achten und zu verteidigen – gegen bolschewistisch-kommunistisch-kollektivistische Heimsuchungen. Jetzt mussten aber Haus-, Wohnungs- und Autobesitzer miterleben, dass die braunen Retter vor den roten Horden, im Realpolitischen, durchaus deren Brüder im Geiste und in der Tat waren. * All diese Maßnahmen wurden unter der Phrase „Recht und Ordnung“ subsumiert, und sie waren auch bitter nötig. Denn das Gebälk der „Volksgemeinschaft“ morschte unentwegt dahin. Erkennbar an dem uferlosen Schleich- und Tauschhandel sowie dem grassierenden Schwarzmarkt. Volksgenossen aus Wien suchten regelmäßig die umliegenden Weinbauregionen auf, um sich mit mehr als dem erlaubten Quantum Wein einzudecken. Die Gauleitung forderte die Kreisleitung auf, energischer dagegen vorzugehen, denn der Gauleitung wurde berichtet, dass in letzter Zeit die Weinhamsterei einen bedenklichen Umfang angenommen hat und Schwärme von Hamsterern, in erster Linie aus Wien, die Weinbaugebiete von Niederdonau überlaufen, ohne dass auf Bahnhöfen oder in Autobussen nennenswerte Kontrollen durchgeführt werden.72 Große Aufregung, wie konnte es soweit kommen! Dass das nichts Neues war und dass man bereits vor einem Jahr diesbezüglich die Flinte ins Korn geworfen hatte, schien nicht mehr auf dem Radar gewesen zu sein. Man hatte ganz im Gegenteil die Lage noch befeuert (siehe Kapitel 23), indem man extra Toleranz an den Tag gelegt hatte, wenn die geschmuggelten Mengen sich im Rahmen hielten. Nun war man überrascht, schrieb von Heimsuchungen, Schwärmen, dass die Strafausmaße für die Verkäufer zu gering seien und die Käufer überhaupt nicht sanktioniert würden. Das Ernährungsamt im Landrat schlug in dieselbe Kerbe, weil auch im Kreise Baden der nicht ordnungsgemäße Verkauf von Wein bzw. Eintausch Formen angenommen hat, was auf die Dauer nicht mehr vertreten werden kann. Engmaschiger müssten die Kontrollen ausfallen und die Strafen deutlich angehoben werden, hallte es in Richtung Kreisleitung. Denn, so hieß es aus dem Landrat: Bisher ist mir erst ein einziger Fall einer Bestrafung bekannt […].73 Die Kreisleitung bestätigte alles, leugnete nichts, doch zugleich gaben Kreiswirtschaftsberater Leopold Reumüller und Kreisgeschäftsführer Franz Kolm ganz offen zu: Der Mangel an Überwachungswachorganen lässt eine straffere Überprüfung der Hamstereien leider nicht zu.74 Damit war aufgrund des Personalmangels die Büchse der Pandora geöffnet, aus der Wildwest-Zustände entsprangen sowie allerlei Schlamperei. Als im Mai 1943 bei der Einkaufs- und Produktivgenossenschaft der Kaufleute Baden (Wienerstraße 46) 4400 kg Margarine fehlten, lag das laut Anklage entweder an der Abgabe ohne Bezugsscheine, oder die 72 StA B, GB 053/Kriegsalltag II; Fasz. I Ernährung; Schleichhandel und Hamsterei – Kreisleitung an Kreisbauernführung (02.02.1943). 73 Ebd. – Landrat und Kreisleitung (23.02.1943). 74 Ebd. – Kolm an Gauleitung (18.03.1943).
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Margarinemenge wäre sonstwie unbefugterweise entnommen worden. Für den Direktor und Betriebsführer Karl Theiner war das ausgeschlossen, und Bürgermeister Schmid stellte sich voll und ganz hinter die Genossenschaft. Es wäre ein Musterbetrieb, der mit 4000 Tonnen Lebensmitteln im Wert von 3,5 bis 4 Millionen RM hantierte und einen Kundenstock von 500 Kaufleuten aufweise. Schmid bekräftigte, die Einkaufs- und Produktiv-Genossenschaft der Kaufleute in Baden [hatte] Punkto Abrechnung etz. noch nie einen Anstand und gilt genannte Genossenschaft als eine mustergültig Firma, der das beste Lob ausgesprochen werden kann.75 Was allerdings sein konnte, gab er zu bedenken, waren unbeabsichtigte Fehler im System, die sich aufgrund des Personalmangels eingeschlichen haben könnten. 16 Mitglieder waren eingerückt und durch Fachfremde ersetzt worden. Betriebsführer Karl Theiner brachte neben dem Personalmangel noch eine weitere Fehlerquelle ins Spiel. Die amtlichen Stellen leiden ebenfalls derzeit an Überbeschäftigung und können deshalb ihre Kontrollen auch nicht 100 %-ig funktionieren. Wir erhielten fallweise fehlerhafte Bezugsscheine. Unter anderem schlich sich auf diesen ein Dezimalpunktfehler ein, infolge welchem sich eine Verschiebung auf das 10-fache ergab. […] Unsere Margarinebezugsscheine betreffend Konsignationen sind sehr umfangreich und ein Fehler, der sich einschleichen könnte, von großer Tragweite. Dieselbe große Auswirkung bringt ein Schreibfehler mit sich. Es ist eine weitere Annahme, dass einmal eine Verwechslung eines Margarine-Bezugsscheines mit einem eines anderen Artikels, welcher in großen Mengen umgesetzt wird und an welchem wir derzeit übermäßige Liquidität haben, beispielswese mit der im Wortbild ähnlichen Marmelade, vorkam.76 Der Milch- und Fettwirtschaftsverband Donauland konnte dieser Argumentation allerdings nicht ganz zustimmen und schrieb im Oktober 1943 viel mehr von Diebstahl und Manipulation. Dass jemand einfach Margarine mit Marmelade verwechselte oder Rechen- und Rechtschreibfehler für den Schwund von Tonnen an Margarine verantwortlich sein sollten, das schien dann doch etwas abenteuerlich zu sein. Ermittlungen wurden eingeleitet. Für die Betroffenen eine nicht ungefährliche Situation, denn bei solchen Mengen konnte das Strafausmaß drakonisch ausfallen. Sehr ungemütlich und vor allem sehr peinlich gestaltete sich der Prozess für Luise Lesjak wegen zwei gestohlener Postpäckchen. Aufgrund der „Volksschädlingsverordnungen“ wurde sie im November 1942 zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Als Hilfskraft bei der Post war sie überführt worden, ein Feldpostpäckchen und ein gewöhnliches Päckchen gestohlen zu haben. Sie selbst sagte aus, die Päckchen in ihrem Rucksack aus Versehen vergessen zu haben. Als sie dies bemerkte, fiel aus dem einen eine Zahnbürste heraus, während sie in dem anderen Watte ertastete und da sie damals starke Blutungen hatte und die Watte brauchen konnte, habe sie der Versuchung nicht widerstehen können, sich das Päckchen anzueignen. Sie habe die Tat nur aus Unüberlegtheit begangen, die vor allem auf ihre schweren Zustände zurückzuführen sind, welche der Eintritt des Wechsels bei ihr hervorgerufen hat. Postdirektor 75 NÖLA, KG Wr. Neustadt 34 VR-1945, 1–65; Theiner Karl (geb. 1882) – Schmid an die Oberstaatsanwaltschaft (09.07.1943). 76 Ebd. – Theiner Karl Aussage (09.07.1943).
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Riedl beschrieb Luise Lesjak als eine fleißige und einsatzbereite Arbeitskraft, die sich im Vorjahr sogar durch Mithilfe bei der Aufklärung eines Postdiebstahls Verdienste erworben hatte und dafür auch belohnt wurde. Und auch eine Arbeitskollegin versicherte, dass die Angeklagte unter den Erscheinungen des Klimakteriums leidet und gerade zur Zeit der Tat einen schweren Blutsturz hatte und zeitweilig wie verloren war. Dennoch musste sie aus Sicht des Gerichtes als ein „Volksschädling“ behandelt werden. Jeder, der sich auch nur einmal an einer Feldpostsendung vergreift, beeinträchtigt dadurch die Verbindung zwischen Front und Heimat und muss nach dem gesunden Volksempfinden einer Strafe zugeführt werden, die den regelmäßigen Strafrahmen überschreitet.77 Interessant ist, dass erst im Juni 1943 der Antrag eingebracht wurde, Luise Lesjak aus der NS-Frauenschaft auszuschließen. Das heißt, über ein halbes Jahr ist in der NSF niemandem aufgefallen, dass sich ein „Volksschädling“ innerhalb der eigenen Reihe befand bzw. gar nicht anwesend war, da im Zuchthaus interniert. Ein Schlag ins Gesicht für jeden, der von Zucht und Ordnung im NS-System daherschwadronierte. Mit Festungshaft, Zuchthäusern, Gefängnissen und der Einweisung in das KZ musste 1943 auch der gebürtige Falkensteiner aus Sachsen, Parteigenosse Max Otto Hummel zurechtkommen, nachdem er dabei erwischt worden war, Nahrungsmittel unterschlagen zu haben. Der Mann war seit 1932 SA- und NSDAP-Mitglied gewesen, beim Anschluss mit der Wehrmacht nach Österreich gekommen, um dann, fünf Jahre später, als „Volksschädling“ zu zehn Jahren Haft verurteilt zu werden. Seine Freiheit erhielt er erst zurück, als „sein“ Regime zu Grunde gegangen war. Sein KZ-Aufenthalt hätte nach 1945 beinahe dazu geführt, dass er trotz seiner NSDAP-Mitgliedschaft nicht als Mitglied registriert worden wäre. Vielleicht lag das tatsächlich an seiner wahrheitsgetreuen Antwort oder es ist einfach nur eine gute Geschichte, denn als ihn die Beamtin in der polizeilichen Meldestelle fragte, woher er käme, antwortete er ihr […] ich käme aus einem Konzentrationslager, worauf sie einen entsprechenden Vermerk auf dem Meldeschein machte. Außerdem brachte sie den Vermerk an: „Parteilos“. Da Nachfragen ausblieben, Erklärungen seinerseits erachtete er in diesem Moment als optional, schien für ihn die Sache damals gegessen zu sein. Erst später gestand er ein: Ich gebe zu, die Strafe nicht aus politischen Gründen bekommen zu haben, sondern deswegen, weil man mich beschuldigte, Lebensmittel unterschlagen zu haben.78 Vom rechten Weg abgekommene Parteimitglieder waren immer eine heikle Sache. Die Schäden, die durch ein Fehlverhalten hervorgerufen wurden, konnten allerdings auf mehreren Ebenen zum Tragen kommen. Als die Wienerin und Parteianwärterin Dr. Stefanie Fritz im Oktober 1942 des Schleichhandels und der Übertretung der Preisregelung überführt wurde, zitierte sie Kreisleiter Hermann zu sich und gab ihr zu verstehen, dass sie als Parteigenossin die Pflicht hat, den übrigen Volksgenossen mit gutem Beispiel voranzugehen, da sie durch diese Übertretung nicht nur selbst Schaden leidet, sondern den guten Ruf der NSDAP 77 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II; Lesjak Luise (geb. 1891) – Gerichtsurteil (03.11.1942). 78 StA B, GB 052/Personalakten: Hummel Max (geb. 1897) – Vernehmung Max Hummel (29.11.1945).
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gefährdet. Dass sie ihr Fehlverhalten mit ihrer Schwangerschaft zu rechtfertigten versuchte, ließ ihn kalt, denn sie hätte sich jederzeit an den Amtsarzt oder die NSV wenden können, falls sie tatsächlich zusätzliche Rationen gebraucht hätte. Doch hierbei, so meinte sie, hätte ihr ihr Stolz einen Strich durch die Rechnung gemacht: Ich habe mein Lebtag noch nicht um irgendetwas gebettelt. Hermann blieb unbeeindruckt und schlug seinem Kreisleiterkollegen in Wien vor, mit Rücksicht auf die für eine Parteigenossin unverständliche Verantwortung lege ich Ihnen nahe, diese Parteigenossin im Abrechnungsverfahren aus der NSDAP zu entfernen.79 Dass Stefanie Fritz, als Wienerin und mit Hauptwohnsitz in Wien, überhaupt die Badener Parteistellen beschäftigte, lag daran, dass sie laut eigener Aussage das Haus in der Steinbruchgasse 6 arisiert hatte. Doch zu Hermanns Überraschung entschied sich sein Kreisleiterkollege in Wien, seinem Vorschlag, Stefanie Fritz aus der Partei im Schnellverfahren auszuschließen, nicht zu folgen. So ganz nebenbei ließ jener sechs Monate verstreichen, bis er sich bemüßigt fand, ein Antwortschreiben aufzusetzen. Stefanie Fritz galt in Wien als vorbildliche Nationalsozialistin, eine hilfsbereite Parteigenossin, deren sonstiges Verhalten einschließlich ihrer Lebensführung als mustergültig bezeichnet werde. Außerdem hatte sie sich in der Ortsgruppe einen Namen als großzügige Spenderin für das KWHW gemacht. Deswegen, so das Verdikt der Wiener Kreisleitung I: Auf Grund vorstehender Feststellung hat der Kreisleiter bis auf eine scharfe Verwarnung, die übrigens erfolgt ist, von einer weiteren Verfolgung der Angelegenheit Abstand genommen.80 Ob Hermann damit zufrieden war, ich glaube eher nein. Mehrere Faktoren spielen hier eine Rolle. Die Wiener, die in Baden ohnehin nicht den besten Ruf genossen, hatten, so schien es, es sich wieder einmal gerichtet. Was sollten sich Parteigenossen wie Max Hummel und Seinesgleichen denken, wenn teilweise bei sehr ähnlichen Vergehen Haftstrafen und KZ-Internierungen erfolgten und keinerlei Pardon gewährt wurde. So etwas befeuerte ständig das Gerede über NS-Bonzen, wonach die „da oben“, egal ob Wiener oder nicht, über dem Gesetz stünden – eine leider von der Regierungs- und Staatsform unabhängige Tatsache.
Zeichen am Horizont Dass 1943 das NS-Regime endgültig von der Siegerstraße abgekommen war, wurde der Bevölkerung in Baden durch ein lokales Ereignis ganz schlagartig vor Augen geführt – obwohl es aber nicht einmal die Stadt, ja nicht einmal den Landkreis Baden unmittelbar betraf. Es gab mehrere Anhaltspunkte, wonach der geschulte BZ-Leser merken konnte, dass etwas im Argen lag. Die altbekannten Aufrufe wie zum Sparen beim Heizen, dass die Räder nur mehr für den Sieg rollten und nicht für Vergnügungsfahrten, die „Selbst ist der Mann/ 79 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Fritz Stefanie (geb. 1907) – Hermann an die Kreisleitung in Wien I (15.10.1942). 80 Ebd. – Kreisleitung Wien I und Kreisleitung Baden (20.04.1943).
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die Frau“-Ratschläge, wenn es darum ging, sich selbst zu helfen und erfinderisch zu sein, die Badener Zeitung nach dem Lesen nicht wegzuschmeißen, sondern weiterzureichen, war nolens volens wahrscheinlich ins Blut übergegangen.81 Aber stets konnte Neues dazukommen, damit der Alltag noch um eine Spur eingeschränkter wurde – wie die Kontingentierung von Glas, und das bereits im Jänner 1943. Auf den ersten Blick ein harmloser Vorgang bzw. ein ganz gewöhnlicher, weil vieles reglementiert war. Doch wenig später folgte die Dachpappe. Für beide Produkte wurde exakt festgelegt, welche Stückzahl und wie viele Quadratmeter für welchen Verwendungszweck bezogen werden durften und wie das Antragsformular auszufüllen sei und wo es eingereicht werden müsste.82 Wer eins und eins zusammenzählen konnte, dem dämmerte es bald, weshalb Glas und Dachpappe kontingentiert wurden. Welches Ereignis würde zu einem Ansturm auf diese beiden Produkte führen, wenn nicht Bombenangriffe aus der Luft. Obwohl die Front im Osten noch tausende Kilometer entfernt lag, verlor die Ostmark 1943 ihr Prädikat, der Bombenschutzkeller des Großdeutschen Reiches zu sein. Denn der Vorstoß der Alliierten in Italien hatte zur Folge, dass die Ostmark in Reichweite der britischen und US-amerikanischen Luftwaffe geraten war. Am 13. August 1943 wurde Wiener Neustadt zum ersten Mal in seiner Stadtgeschichte durch Bomber angegriffen. Ziel waren die kriegswirtschaftlichen Werke der Stadt. Getroffen wurden nicht nur sie. Die Betroffenen und die Angehörigen der 151 Toten, 30 Vermissten und der 850 Verletzten tröstete die Badener Zeitung mit hasserfüllten Berichten über die barbarischen Kriegsmethoden des Gegners sowie mit Rache- und Vergeltungsphantasien.83 In Baden schrillten die Sirenen. Zum ersten Mal handelte es sich um keinen Probealarm. Die Bombardierung Wiener Neustadts löste Angst und Unmut in der Kurstadt und im Kreis aus. Durch die Terrorangriffe entsteht immer wieder die ungeduldige Frage nach dem Tage der Vergeltung, andererseits äußert sich eine gewisse Besorgnis, dass auch Niederdonau nicht verschont bleiben dürfte.84 Fragen über Fragen, denen das NS-Regime keine befriedigende Antwort erteilen konnte. Durch den Luftangriff auf Wiener Neustadt war die Bevölkerung ziemlich erregt und bemängelte stark, dass der feindliche Luftangriff trotz der vielen Warnstellen so überraschend kam und dass unsere Abwehr, speziell die Luftwaffe, in den Kampf nicht eingegriffen hat.85 Das lag daran, dass man die Lufthoheit schon längst verloren hatte und die NS-Propaganda nur mehr mit propagandistischen Papierfliegern operierte. Das Einzige, was sie anzubieten hatte, wurde unter dem Titel Bereit sein ist alles zum Eingeständnis, dass jede einzelne Stadt nunmehr Ziel eines Angriffs werden konnte und dass die Bevölkerung selbst am Erfolg oder Misserfolg der Angriffe, als an ihrem eigenen Schicksal, entscheidend mit81 Vgl. WOLKERSTORFER Otto, Baden 1943. Der totale Krieg Einzig die Kultur belebt (Baden 2003), S. 15. 82 Vgl. BZ Nr. 2 v. 09.01.1943, S. 7 und BZ Nr. 6 v. 23.01.1943, S. 3. 83 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 22f. 84 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Juni 1943. 85 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, August 1943.
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beteiligt ist. Es folgte noch der Mix aus Einschüchterung und Kampfgeiststärkung. Die notwendigen Maßnahmen durchzuführen, bei lässigen Nachbarn zu erzwingen und sich innerlich durch Kenntnis aller Abwehrmöglichkeiten auf den Ernst der Stunde vorzubereiten, ist die Pflicht desjenigen, der sich zu den Soldaten der Heimatfront zählt. […] Wir haben nicht mehr das Recht, den Kopf in den Sand zu stecken. Wir haben aber eine Pflicht: dafür zu sorgen, dass der Kampf des Frontsoldaten nicht an der schwächlichen Haltung der Heimatfront zerbricht.86 Plötzlich wurde der Luftschutz nicht mehr auf die leichte Schulter genommen. Wobei die Distanz zwischen Baden und Wiener Neustadt – auch wenn es nur zwei Dutzend Kilometer waren – weiterhin Sicherheit vorgaukeln konnte und das Gefühl „Uns wird so etwas nicht passieren, das passiert immer nur den anderen“ war weiterhin präsent. Als Gertrud Maurers Vater, August Hauer, am Tag des Luftangriffs seine Gartenparzelle am Badener Berg aufsuchte, teilten ihm die Nachbarn fast vorwurfsvoll mit: „Warum san S‘ net früher kumma! Da hätten S‘ alles sehgn kinna!“87 Die Explosionen, die Blitze, die Detonationen, ein wahrlich nie dagewesenes Spektakel. Nun musste er sich mit pechschwarzen Wolken begnügen, die hoch in den Himmel rankten und die von Baden aus gut sichtbar waren. Den nötigen Ernst ließ ebenso, allerdings altersbedingt und der Gruppendynamik geschuldet, auch Gertrud Maurer vermissen. Als es in der Schule hieß, Sandsäcke an strategisch wichtigen Punkten zu platzieren, um von Bombenangriffen entstandene Feuerherde schnellstmöglich mit Sand zu ersticken, platzierten sie und die Klassenkameradinnen einen Sandsack vor der Lehrertoilette. Der Ärger folgte tags darauf.88 Schüler waren ein beliebtes Menschenreservoir, auf das in solchen Fällen zurückgegriffen werden konnte. Im Februar 1943 wurden alle Schüler der sechsten und siebenten Klassen des Gymnasiums Biondekgasse zum Luftschutz als Lufthelfer eingezogen. Ein Jahr später wurden sie der Wehrmacht unterstellt. Ihr Einsatzgebiet sollte die Flakstellung am Eichkogel bei Mödling werden.89 Solche Vorbereitungen, schenken wir den Situationsberichten Glauben, sollen die Stimmung innerhalb der Bevölkerung etwas konsolidiert haben. An der Herstellung von Splittergräben wird allerorten emsig gearbeitet. Die Aufstellung von schwerer Flak im Triestingtal hat in der dortigen Bevölkerung wieder etwas Beruhigung ausgelöst.90 Für Gertrud Maurer ging in dieser Zeit alles Schlag auf Schlag. Im Juli 1943 stand noch eine Wanderung auf die Hohe Wand auf dem Programm, da landeten plötzlich die Alliierten in Italien, der Duce wurde zum Rücktritt gezwungen, und dann folgten schon die Luftangriffe.91 Sorge bereitete ihr vor allem, dass der Vater in einem Wiener Neustädter Gymnasium unterrichtete und das Gebäude über keinen Luftschutzkeller verfügte. Die Schule wurde zwar evakuiert, das Ersatzquartier befand sich in Kirchberg und in Theresienfeld, 86 87 88 89 90 91
BZ Nr. 65 v. 18.08.1943, S. 1. MAURER Rudolf, Das 1000-jährige Reich I, S. 152. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 59–61. Vgl. GAMAUF: Bitte, damals habe ich gefehlt, S. 238f. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, August 1943. Vgl. MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 109.
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aber bombensicher war es auch dort nicht. Theoretisch wussten Gertrud Maurer und die allermeisten Volksgenossen, wie man sich bei Luftangriffen zu verhalten hatte. So hieß es unter anderem: Fenster offenlassen, damit sie nicht durch den Detonationsdruck in Mitleidenschaft gezogen werden, Anordnungen der Luftschutzwarte beachten, Luftschutzkeller aufsuchen usw. Allerdings suchten sie und ihre Familie hauptsächlich Schutz in den eigenen vier Wänden, unter Tischen und Betten. Außer sie waren zufälligerweise außer Haus, wenn die Sirenen ertönten und ein energischer Luftschutzwart sie in einen Luftschutzkeller befahl. Zu diesen gehörte auch ihre Nachbarin vis-à-vis, eine resolute Frau, die sich bei jedem Alarm mit ausgestreckten Armen auf der Straße postierte und jeden einfing, der ihr über den Weg lief. August Hauer aber traute den Luftschutzkellern nicht. Schließlich handelte es sich nur um gewöhnliche Kellerräume, durchzogen von Kanal- und Wasserrohren. Er fürchtete, bei einem Bombentreffer womöglich noch zu ertrinken.92 Die Bomben drückten massiv auf das Wohlbefinden und den Glauben an die Erfolgsgeschichte von einem Dritten Reich, an dessen Wesen die Welt genese. Als Rauchschwaden über Wiener Neustadt aufstiegen, entbrannte danach in Baden am Theaterplatz eine Diskussion, bei der sich jemand deutlich im Ton vergriff. Weshalb habe niemand Hitler noch den Garaus gemacht, lautete eine in die Runde geworfene Frage. Blockleiterin Gisela Lohner wurde Ohrenzeugin. Laut eigener Aussage hätte sie im ersten Moment nichts unternommen, erst später, als sie von einer Nachbarin gefragt worden wäre, weshalb sie als Blockleiterin diese staatsfeindliche Äußerung nicht gemeldet hätte, sie wäre schließlich dazu verpflichtet. Ein eindeutiger Wink mit dem Zaunpfahl. Die Angst, des Weghörens bezichtigt zu werden, war demnach Pate gestanden, dann doch noch eine Anzeige erstattet zu haben.93 Die ohnehin grassierende Furcht, Wut und Paranoia erhielten mit den Luftangriffen neue Nahrung. Das Schicksal ausgebombter Flüchtlinge aus dem Altreich zu erleiden, war in greifbare Nähe gerückt. Doch das Ausradieren deutscher Städte mittels Spreng-, Brandund sonstiger Bomben konnte das alliierte Ziel, die Spaltung zwischen NS-Regime und Bevölkerung, nicht herbeiführen. Der Zorn richtete sich viel mehr gegen die, die die Bomben abwarfen, und nicht gegen jene, die letztendlich den Bombenterror heraufbeschworen hatten. Für Gertrud Maurer war das Bombardieren deutscher Städte einerseits unfassbar, anderseits hatte sie die deutschen Luftangriffe auf England nicht vergessen und wie sie in der Schule Spottlieder gesungen hatte. Nun folgte für sie die gerechte bzw. unausweichliche Rache.94 Was ebenso alarmierend für die NS-Machthaber wirkte und bewies, dass ihr Stern im Sinken begriffen war, war ein weiteres Zeichen, neben den Bomben die vom Himmel fielen: Allgemein wird bemerkt, dass der Kirchenbesuch stark zunimmt und besonders in der bäuerlichen Bevölkerung das Wort des Geistlichen mehr gilt als Maßnahmen der Regierung.95 92 93 94 95
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 62 und MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 147. Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Lohner Gisela (geb. 1885). Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 146. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Mai 1943.
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* Die Zeichen standen auf Sturm. Dagegen etwas zu unternehmen, das tatsächlich geholfen hätte, dafür fehlte es dem NS-Regime schon längst an Ressourcen – außer am Willen, Terror anzuwenden. Deswegen war es eben immens wichtig, die Stimmung innerhalb der Bevölkerung nicht aus den Augen zu verlieren. Dass die Flächenbombardements sich negativ auf die Gemütsverfassung schlugen, wird wohl niemanden überrascht haben, aber die Behörden und Parteistellen wollten auch anderes in Erfahrungen bringen, um eventuell terroristisch-korrigierend einzugreifen. Neben Luftangriffen und der darauffolgenden Gemütslage sollte auch die Stimmung nach Vollstreckung von Todesurteilen an sogenannten Volksverrätern erforscht werden. Wie reagierten die Hinterbliebenen, die Nachbarn und grundsätzlich die Bewohner des jeweiligen Heimatortes? „Stimmungsmäßige Auswirkungen“ nannte man es. Die Palette an Reaktionen war vielfältig: Schock, Betroffenheit, Teilnahmslosigkeit bis hin zu Zufriedenheit und Schadenfreude. Das in Erfahrung zu bringen, lag im Aufgabenbereich der Ortsgruppen. Im November 1942 wurden Anton Heilegger aus Traiskirchen, Franz Maier, Leopold Hörbinger beide aus Leobersdorf, Josef Fleischmann, Ladislaus Kiss, beide aus Kottingbrunn, Anton Hermann aus Möllersdorf und Karl Pansky aus Baden wegen kommunistischer Umtriebe angeklagt und zum Tode verurteilt. Im Februar 1943 erhielt die Ortsgruppen den Befehl, die Stimmung „danach“ zu eruieren. Das Ergebnis sah wie folgt aus: Anton Heilegger: Urteil fast nicht bekannt Franz Maier: Urteil im Allgemeinen gutgeheißen Leopold Hörbinger: Urteil wird gutgeheißen Franz Fleischmann: Urteil zu hart Ladislaus Kiss: Urteil wird nicht als hart empfunden Anton Hermann: Urteil wenig besprochen Karl Pansky: Urteil wenig bekannt.96 In anderen Fällen sah es ähnlich aus. Felix Imre aus Pottenstein, 1917 geboren, Schneidergehilfe, war anfänglich ein Illegaler, NSDAP- und SA-Mitglied, und er nahm am Westfeldzug teil. Bis hierher passte alles, bis er sich im Herbst 1941 dem Kommunismus zuwandte. Es folgten Streuaktionen sowie die Herstellung und Verbreitung von Propagandamaterial. 1943 flog seine Tarnung auf, und er wurde im September 1943 zum Tode verurteilt. Seine Hinrichtung wäre in seiner Heimatgemeinde kein Thema gewesen. Zumal die Eltern alles vermeiden, was die Sache irgendwie bekannt machen könnte. Außerdem war Felix Imre seit zwei Jahren nicht mehr in Pottenstein, was dazu beiträgt, ihn zu vergessen. Der Vater hätte sich damit abgefunden, während die Mutter seelische Zuflucht in der Kirche fände. Seitens der Ortsgruppenleitung wurde empfohlen: Eine Unterstützung seitens der Partei kommt […] nicht in Frage, da dieses gewissermaßen als Ausgleich und Entschuldigung 96 Vgl. DÖW; Todesurteile gegen KPÖ-Mitglieder, abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/ archiv (10.04.2023).
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aufgefasst werden würde.97 Anders entschied die NSDAP-Ortsgruppe Leobersdorf. Als Hermann Wöhrer wegen kommunistischer Agitation zuerst zum Tode verurteilt und dann zu 12 Jahren Zuchthaus begnadigt wurde, unterstützte die NSDAP-Ortsgruppe nicht nur das Gnadengesuch, sondern sagte seiner Ehefrau, die in ärmlichen Verhältnissen dahinvegetierte, die Hilfe durch das NSV zu. Und wie sahen es die Leobersdorfer? Das Todesurteil gegen Wöhrer wurde seitens der Parteigänger desselben mit Missstimmung aufgenommen, die andere Bevölkerung jedoch begrüßte es mit Genugtuung, da Wöhrer als Taugenichts bekannt war.98 * Krieg, Stalingrad, Bomben und der Mangel, all das waren entscheidende Themen 1943. Doch bei weitem nicht die einzigen. Von den Ereignissen im Osten sicher eingenommen, drehte sich die Welt von Karl Pfeifer, jenem Jugendlichen, der von Baden nach Ungarn geflüchtet war, auch um andere Dinge. Am 5. Januar 1943 war es für ihn und andere jüdische Kinder endlich soweit. Sein Wunsch wurde Wirklichkeit, er konnte sein vorläufiges Exilland Ungarn Richtung Palästina verlassen. Wir hatten keine Ahnung, welche Gefahren uns auf dieser Reise drohten und man hatte uns auch nicht über unseren Reiseweg informiert. Mir schien das Ganze als ein tolles Abenteuer. Dass es auch tödlich ausgehen könnte, war uns nicht bewusst.99 Denn zuerst ging es per Zug nach Rumänien, dessen Regime auf Platz zwei angesiedelt war, was die genozidale Ermordung von Juden anbelangte. Als der Grenzübertritt nach Bulgarien misslang, wo sie als Juden ebenso unerwünscht waren, verbrachten sie die Nacht in unbeheizten Zugwaggons bei minus 20 Grad Celsius, bevor sie ihre „Reise“ schließlich doch noch fortführen konnten. Zwischendurch bekamen sie Besuch von ostmärkischen Gestapo Beamten, die Karl Pfeifer am Dialekt erkannte. Die Männer wollten unbedingt wissen, weshalb sie denn nach Palästina wollten. Als man ihnen antwortete, wegen einer landwirtschaftlichen Ausbildung, entgegneten die gemütlichen, in Ledermäntel gekleideten Ostmärker […] das könnten wir doch auch in Polen machen. Sie würden uns gerne – kostenlos, versteht sich – dorthin befördern.100 Wohlwissend, was dort mit ihnen passieren würde, lehnten sie dankbar ab und fuhren weiter in die Türkei, wo just am Tag ihrer Ankunft eine Vermögenssteuer erlassen wurde, die zwar für alle galt, aber besonders für Minderheiten wie Griechen, Armenier, Kurden und Juden. Ganz unten in der Nahrungskette standen ausländische Juden – wie Karl Pfeifer. Aber da die Türkei nur ein Transitland war, brauchte ihn das nicht allzu sehr zu kümmern. Entscheidend war, nach Palästina zu gelangen. Es war ein Sich-Durchwurschteln zwischen verschiedenen ausländischen Behörden, denen man auf Gedeih und Verderben ausgeliefert war. Einzig die Fürsorge jüdischer 97 DÖW; Felix Imre (geb. 1917) Kommunist Todesurteil, abgerufen auf www.jewishhistorybaden. com/archiv (10.04.2023). 98 Ebd. – Hermann Wöhrer (geb. 1913). 99 PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 46. 100 Ebd. S. 48,
Kapitel 26 Post Stalins Stadt
Gemeinden unterwegs weckte Hoffnung, letztendlich doch noch ans Ziel zu gelangen, und das passierte am 19. Jänner 1943.101 Andere Prioritäten hatte Gertrud Maurer – Palästina gehörte auf alle Fälle nicht dazu. Wesentlich näher lagen ihr die Vorgänge im JM und BDM. Im Februar 1943 stand ihr der Posten einer Führeranwärterin offen. Sie zeigte reges Interesse, doch leider kam ihr erneut ihr Alter in die Quere bzw. die elterlich verfügten Schlafenszeiten. Der Führerinnenkurs begann nämlich erst am Abend und hätte nach dem Zapfenstreich sein Ende gefunden. Die Mutter, Julia Hauer, war nicht begeistert, doch die Tochter wandte eine argumentative List an. Denn so wie ihre Frau Mama wollte auch Gertrud Maurer Lehrerin werden und brachte gegenüber ihrer skeptischen Mutter ins Spiel, dass sie als Führerin bei den kleinen Mädchen sein werde: „Da kann dann ich mit ihnen machen, was ich will, und einen anständigen Heimabend gestalten, statt dass ich bei den blöden großen Gören vom BDM sitzen und mich von einer blöden Führerin langweilen lassen muss“. Was Mutti einzuleuchten begann, war nicht, dass es für Gerti beim JM lustiger sein würde, sondern dass sie als Führerin eine Gruppe Mädchen unter sich haben werde, wie eine Lehrerin eine Klasse, und so ließ sie sich herumkriegen und übernahm es auch, mit Papa zu reden. Aus dem Nebenzimmer vernahm Gertrud Maurer dann, wie die Mutter auf den Vater einredete: „Zur Führerin können sie nur jemand mit Führerqualität wählen“, sagte sie stolz, „jemand, der bei den Kindern beliebt ist, sich Respekt verschaffen und sich durchsetzen kann. Es wird eine gute Schulung für Gerti sein, wenn sie einmal Lehrerin wird…“.102 Prägend sollte das Jahr 1943 auch für einen weiteren jungen Menschen aus dem Kreis Baden werden. Im März wurden zwei entflohene Russen und ein Pole bezichtigt, das Ehepaar Steiner ausgeraubt und ermordet zu haben. Die Männer galten als bewaffnet und gefährlich. Im Raum Sattelbacher Wald, nahe Heiligenkreuz, wurde einer von ihnen erspäht. An der Jagd beteiligt waren die Exekutive, das Militär und das Forstpersonal. Einer der Verdächtigten wurde von dem 1926 geborenen Forstlehrling Karl S. aufgespürt, angeschossen und danach wurde das Ziel mittels Fangschuss zur Strecke gebracht. Da dieser Mann, auf meinem Anruf nicht stehen blieb, gab ich auf ihn einen Schuss ab. Der Mann fiel zu Boden und ist daher meinem Auge entschwunden. Ich lief zur Stelle wo dieser Mann zu Boden stürzte. In einer Entfernung von 30 bis 35 Schritten, nahm ich wahr, dass sich dieser Mann, neuerlich erheben wollte. Ich gab auf diesen Mann neuerlich einen Schuss ab, worauf er zu Boden stürzte und sich nicht mehr rührte. […] Auf die Frage, warum ich auf diesen Mann, den ich durch einen Schuss zu Boden streckte, als sich dieser erheben wollte, einen neuerlichen Schuss aus unmittelbarer Nähe abgegeben habe, gebe ich an, dass ich diesen Schuss deshalb abgegeben habe, weil ich der Meinung war, dass dieser Mann eventuell auf mich zukommen könnte und auf mich losgehen werde. Ich war zu dieser Zeit 16 Jahre alt und hatte bei diesem Vorfall große Angst gehabt.103 101 Vgl. ebd. S. 50. 102 MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 125. 103 StA B, GB 052/Ortsgruppen Kreis Baden; Heiligenkreuz und Personalakten: S. Karl (geb. 1926)
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Vielleicht fragen Sie sich, weshalb anfänglich der pietätlose Jägerjargon meinerseits? Für die Unschädlichmachung dieses Mörders erhielt Karl S. vom Kreisjägermeisteramt 200 RM, von Heinrich Himmler 500 RM, vom Gauleiter einen Hirschfänger und vom Badener Landrat eine Kriegsverdienstmedaille – im August erfolgte dann die Einberufung zur Wehrmacht. Ein anschauliches Beispiel, auf welchem Rang der Slawe rangierte – er war ein wildes Tier, eine Bestie, somit eine Gefahr für Menschen. Und solche Bestien mussten gejagt und erlegt werden und der von mir getätigte Ausflug in die Jägersprache ist damit gar nicht so unpassend – leider. * Müsste ich das Jahr 1943 auf einen Nenner herunterbrechen, so hieße der Nenner „Widerspruch“. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber rufen wir uns noch einmal gewisse Fakten in Erinnerung, um einen Übergang ins nächste Kapitel herzustellen. Es mangelte an allen Ecken und Enden. Wirtschaftlich und gesellschaftlich steuerte man schon längst auf den Kollaps zu. Ein Ende oder gar Besserung war nicht abzusehen – ganz im Gegenteil. Mit Stalingrad kam die militärische Katastrophe oben drauf. Der Sowjet verschob von nun an den Frontverlauf stets Richtung Westen, während in Italien die Front Richtung Norden wanderte. Die Verlustzahlen stiegen, die Bomben schlugen immer näher ein und trotz all der Hiobsbotschaften und sichtbaren Katastrophen, laut dem Situationsbericht vom Mai 1943, den ich bereits oben zitiert habe, geht die deutsche Bevölkerung ruhig und willig ihrer Arbeit nach.104 Einen Monat später schrieb Wohlrab: Die Stimmung der Bevölkerung kann dem vierten Kriegsjahr entsprechend als annehmbar bezeichnet werden.105 In solche Welten, wie jene von Landrat Wohlrab, in solch „fremde“ Gefilde möchten wir uns nun begeben, wo inmitten eines untergehenden kurzlebigen NS-Imperiums noch immer eine pathologische NS-Hoffnung und Realitätsverweigerung vorherrschte.
– Aussage (08.01.1946). 104 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Mai 1943. 105 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Juni 1943.
Kapitel 27 Phantasmagorien und die Farbe Grau Oder: Von Parallelwelten
Was könnte uns dienlicher sein, um Sein und Schein vor den Vorhang zu zerren, als die Kur- und Kulturpolitik in unserer lieblich biedermeierlichen Schwefelstadt während der NS-Zeit. Baden heilte weiterhin Wunden – die das NS-Regime mit seinem Krieg selbst geschlagen hatte. Baden spendete Trost und Glückseligkeit, ließ jegliche Strapazen vergessen, ja die Kurstadt verzauberte regelrecht. Unermüdlich wurden alle Register gezogen, damit der heilsuchende Kurgast auch ja sein Heil hier fand. Trotz all der schlechten Omen, die aus allen vier Himmelsrichtungen auf das ohnehin morsche Innenleben hereinbrachen, ließ man sich die Kur in Baden nicht verderben – im Stechschritt schreiten wir in die fünfte Kursaison unter dem Hakenkreuz. Dabei darf auch die faktenbasierte Wissenschaft nicht außer Acht gelassen werden, als Gegenpol zum sinnlichen Erlebnis warmer Schwefelquellen. Der Leiter des „Bäderwissenschaftlichen Institutes“, Dr. Walter Kosmath, veröffentlichte seine erste Arbeit: „Messungen der Exhalation von Schwefelwasserstoff aus Schwefelwasserstoffwässern, ein Beitrag zur Badeklimaforschung“.1 Einigermaßen sachlich blieb es auch am internationalen Bäderkongress in Preßburg im Februar 1943. Der Reichstourismusbeauftragte Hermann Esser sprach davon, wie enorm wichtig die Kur- und Heilorte des Reiches waren, um die kriegsversehrten Soldaten wieder aufzupäppeln, um sie dann erneut in die Schlacht werfen zu können. Die gesetzten Maßnahmen, wie die verkürzte Aufenthaltsdauer von drei Wochen, waren laut ihm eine perfekte Lenkungsmaßnahme – sofern sich alle daran halten würden.2 In der Ratsherrnsitzung vom 22. Februar 1943 mussten Essers Worte auf die Gemeindeebene heruntergebrochen werden. Stadtrat Blechinger referierte über die verflossene und die kommende Kursaison. Die Besucher- und Nächtigungszahlen waren wieder fulminant und die Erneuerungs- und Instandsetzungsarbeiten liefen auf Hochtouren. Die versuchsweise Verkleidung einiger Einzelkabinen im Herzogsbad mit Glas hat sich als geschmackvoll erwiesen und die Verkleidung der Gänge als wesentlich verschönernd und auch zweckmäßig. Aber außer schönen Zahlen auf dem Papier und neuem Glasdekor konnte Blechinger nichts weiter anbieten. Der totale Krieg band ihm die Hände. Durch die kriegsmäßige Umstellung 1 2
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 26. Vgl. BZ Nr. 14 v. 20.02.1943, S. 6.
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der Fremden- und Kurbetriebe werden sich künftig auch die Gäste mit dem Wegfall jeglichen Luxus und unnötigen Aufwand abfinden müssen.3 Bereits im Februar waren die Aussichten für die Kursaison 1943 nicht sonderlich rosig. Als Blechinger dann ins Detail ging, was sich hinter diesen „kriegsmäßigen Umstellungen“ verbarg, wurde es immer düsterer. Für Betriebe des Gaststättengewerbes galt es, alle männlichen Arbeitskräfte, sofern sie Inländer waren, durch Frauen zu ersetzen. Kellner, Köche, Fahrstuhlführer, Kassenpersonal oder Pagen durfte es in der inländischen XY-Chromosom-Variante nicht mehr geben. Berufsgruppen, deren Aufgabe bis dato darin bestand, den Kurgästen allerlei Annehmlichkeiten zu bereiten, sollten grundsätzlich der Vergangenheit angehören. Der Speiseplan war als nächstes dran. Bestimmte Gerichte mussten von der Karte gestrichen werden, wenn ihnen ein Hauch von Extravaganz oder Bonzentum anhaftete. Und der Vorspeisenwagen wurde vollkommen verbannt.4 Für die kommende Kursaison entfielen nicht nur kulinarische Genüsse. Die Pferderennen auf der Trabrennbahn waren Geschichte, die warmen Schwefelbäder blieben fallweise geschlossen, und in den städtischen Bädern wurde die Sonntagsruhe eingeführt – Ausnahmen bildeten medizinische Behandlungen. Argumentiert wurden die Schließungen mit der Schonung technischer Anlagen und dem überlasteten Personal. Schließlich musste dieses stundenlang in den Bädern, wo Hitze und Dampf das Arbeitsklima bildeten, seinen Dienst verrichten.5 Des Weiteren stand wie im Vorjahr das Wassersparen an der Tagesordnung. Bürgermeister Franz Schmid drohte ansonsten schon im Mai mit ernsthaften Konsequenzen, wie der gezielten Drosselung bei unbelehrbaren Haushalten. Drei Monate später sah er sich veranlasst, seine Drohung zu wiederholen.6 Dass die Badener Stadtwerke mit Versorgungsproblemen zu kämpfen hatten, war nichts Neues und wurde in einem eingehenden Bericht durch Josef Brandstetter dargelegt, wie die Badener Zeitung berichtete. Wie eingehend der Bericht war, kann nicht gesagt werden, denn auf Einzelheiten wurde nicht eingegangen bzw. sie wurden nicht veröffentlicht.7 Strenge Restriktionen herrschten genauso beim Strom- und Gasverbrauch vor. Verstöße wurden mit Geldstrafen unbestimmter Höhe geahndet oder mit zwei Jahren Kerkerhaft anberaumt.8 Wie in den Kursaisonen zuvor schwebte über der kurörtlichen Erholung und Genesung ein Sammelsurium an Einschränkungen und Strafen sowie Goebbels‘ Deportationsdrohungen in KZLager. Das enge Korsett von drakonischen Verboten und Geboten umfasste Einheimische und Kurgäste gleichermaßen. Trotzdem könnte ein kurörtliches Flair durchaus vorgeherrscht haben. Es gab Kurgäste, die ihren Kuraufenthalt als erholsam empfanden, einen Mangel nicht verspürten und 3 4 5 6 7 8
BZ Nr. 16 v. 27.02.1943, S. 3. Vgl. BZ Nr. 16 v. 27.02.1943, S. 5. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 25f und BZ Nr. 44 v. 05.06.1943, S. 8. Vgl. BZ Nr. 40 v. 22.05.1943, S. 5 und BZ Nr. 62 v. 07.08.1943, S. 4 u. 8. Vgl. BZ Nr. 44 v. 05.06.1943, S. 4. Vgl. BZ Nr. 53 v. 07.06.1943, S. 2.
Kapitel 27 Phantasmagorien und die Farbe Grau
stattdessen das üppige Kulturangebot genossen. Allerdings handelte es sich hierbei oftmals um Soldaten. Sie durften sich tatsächlich einer besseren Behandlung erfreuen.9 In einer Soldaten-Broschüre von 1943 wurde die ruhmreiche Geschichte der Kurstadt wie auch der Schwefelquellen angepriesen, die seit Jahrhunderten aus der Tiefe emporstiegen, um nun dem gemarterten Körper des deutschen Heros Heil zu spenden. Eigentlich war der deutsche Krieger unbezwingbar, doch dann wollte es das Schicksal, dass er als Kranker oder Verwundeter in ein Heimatlazarett kam. Was tat es schon, dass die Wunden schmerzten und das Fieber ihn schüttelte, wenn er nur in der lieben, guten deutschen Heimat liegen durfte. […] Wer könnte ihnen widerstehen den süßen, reizenden Kindern dieser Stadt – den Badener Maderln? So bezaubernd sie geblieben, seit dieser Walzer das erste Mal im Kurpark erklungen, so ewig ist der Ruf dieser Stadt. Wir alle scheiden ungern von dir, du liebe Stadt, die uns Heimat gewesen und Heilung geworden. […] Wo immer wir auch stehen mögen, um die Waffe für unsere Heimat zu führen oder zu schmieden, wir behalten dich stets in lieber Erinnerung, du liebes Baden bei Wien. Und weil es so schön schmalzig ist, gibt es noch ein Gedicht oben drauf: Der Mutter vergleichbar, die Küchlein behütet, So lenkst du die anderen sechs Lazarette, Und wenn auch oft Rheuma und Ischias wütet, Der Krieger entweicht stets geheilt deinem Bette.10 Zu den angesprochenen durchs Schicksal Verwundeten, erinnerte sich Gertrud Maurer, gehörte auch ein neuer Jungbannführer namens Werner, während sie wahrscheinlich zu den reizenden Kindern oder Badener Maderln gezählt wurde. Dieser Werner war jung, stammte aus Kiel, war zwei Jahre bei der Waffen-SS gewesen, hatte dabei seinen Arm eingebüßt und sich eine Gehbehinderung zugezogen. Laut Gertrud Maurer ein witziger Kerl mit Galgenhumor, wenn auch etwas gekünstelt.11 Gekünstelt ist ein gutes Stichwort, um auf die Kunst überzulenken. Der Gaubühne erging es ähnlich wie dem Kurbetrieb, noch florierte das Schauspiel, der Schein konnte gewahrt werden, die Kulissen standen ihren Mann. Der Dramaturg Oscar Deleglise schilderte nach 1945, wie eines Tages der Intendant Josef Hauschulz ihn zu sich gebeten und ihm eine Schublade voller Geld präsentiert hatte. Es hieß, alles auszugeben, ganz nach dem Motto „The Show must go on“, sonst bekomme man nächstes Jahr nichts mehr. Deleglise war ein Star innerhalb der Gaubühne – wenn auch nicht alle von ihm begeistert waren. Seine Vermieterin, die „Generalin“ Anna Grossmann (Wilhelmsring 35), konnte anfänglich so gar nichts mit ihm anfangen. Schauspieler waren ihr grundsätzlich suspekt. Er passte nicht in ihre Welt, auch wenn ihm die kulturaffinen Badener zu Füßen lagen. Außerdem verstand 9 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 16. 10 StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1941–1945 allg. – Kriegsweihnachten 1943 Reservelazarett Baden bei Wien. 11 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 134.
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er nichts von Bridge, und seine Vermieterin veranstaltete schließlich jeden Dienstag eine Bridgerunde, bei der der ehemalige Bürgermeister Josef Kollmann Stammgast war. Derweilen trumpfte die Gaubühne mit allerlei Prominenz auf. Josef Weinheber wurde regelmäßig nach Baden geholt und sorgte gleich einmal für einen Skandal. Vor seiner Lesung war Weinheber nämlich zu Gast bei Bürgermeister Schmid gewesen, wo der ansonsten knappe bzw. eigentlich gar nicht mehr vorhandene Wein wundersamerweise in Strömen geflossen war. Bei der darauffolgenden Lesung im Theater wurde Weinhebers Konzentration Opfer des vorherigen Gelages. Seine Stimme wurde leiser, und seine vorgetragenen Gedichte unverständlicher. Der Vorhang musste früher als geplant zu Boden fallen.12 Ruhiger bzw. weniger wurde es auch bei den Kurkonzerten, sie fielen immer wieder aus. Es haperte nicht an der monetären Vergütung, sondern an der Präsenz der Musiker. Auch für sie ging es an die Front.13 Wirft man einen Blick auf den Spielplan der Gaubühne oder auf sonstige Veranstaltungen, die die Kurstadt zur Aufführung brachte, so ist nach der Niederlage von Stalingrad ein verstärkter/versteckter Österreichpatriotismus anzutreffen. Die Kunst schuf eine Parallelwelt, in die es sich lohnte zu flüchten. Denken wir an Hans Meissner jun., der an der Ostfront zeitweise in die Welten von Hegel, Wagner oder Beethoven eintauchte. In Baden trat der Publikumsmagnet Hans Moser im Hotel „Stadt Wien“ auf. Eugen Roth war ebenso Gast der Kurstadt und sein Humor ließ den Alltag wenigstens für eine Weile vergessen.14 Gefühlsmäßig waren es Vorboten der Sissi-Trilogie. Die Nostalgie bot Zuflucht vor der Kriegswirklichkeit – später dann vor der Nachkriegs- und Besatzungszeit. Dieser Möglichkeit auf kurzzeitige Verdrängung galt es Respekt zu zollen. Nach den allermeisten Veranstaltungen war von tosendem Applaus zu lesen und von glanzvollen Verläufen. Für die in Baden weilenden Kriegsversehrten spielte der Spielmannszug der SA-Standarte „Feldherrnhalle“ auf. Freude kam auf, schrieb die Badener Zeitung, ein eindrucksvolles Schauspiel, von hochgewachsenen, jungen strammen Gestalten, Soldaten der SA, Krieger, Kämpfer, sieghafte Vertreter eines neuen großen, einigen Deutschlands. Es knisterte förmlich in der Luft, der marschierende SA-Musiker verkörperte eine Haltung, die gerade im vierten Kriegsjahr dem deutschen Menschen so notwendig ist, um unseren Feinden siegreich die Stirn bieten zu können.15 Zwischen den Lobliedern auf die aufgeführten Stücke oder im Anzeigeteil finden wir dann die Parten: Den Heldentod in der Kursaison 1943 erfuhren Leopold Hummer, Otto Leiner, Raimund Müller, Karl Hoffmann, Lorenz Wagenhofer, Otto Janicek, Josef Drimmel, Rudolf Straninger….16 Freud und Leid trennte manchmal nur eine Seite in der Badener Zeitung oder die Zeit zwischen zwei Briefen.
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Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 53f. Vgl. BZ Nr. 56 v. 17.07.1943, S. 3. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 39–49. BZ Nr. 58 v. 24.07.1943, S. 3. Vgl. Vgl. BZ Nr. 51 v. 30.06.1943, S. 2 und BZ Nr. 52 v. 03.07.1943, S. 4 und Vgl. BZ Nr. 58 v. 24.07.1943, S. 4 und Vgl. BZ Nr. 60 v. 31.07.1943, S. 3 und Vgl. BZ Nr. 63 v. 11.08.1943, S. 2, BZ Nr. 59 v. 28.07.1943, S. 2.
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Im Februar 1943 wurde der Blockleiter aus Tribuswinkel-Josefstal Herbert Ille eingezogen. Im Mai 1943 schrieb er einen Brief an seine SA-Kameraden und Parteigenossen – ohne Satzzeichen zu verwenden, die ich aus Lesbarkeitsgründen allerdings hinzugefügt habe. Er wollte wissen, wie es mit dem SA-Sturm stehe und ob es durch die vielen Zwangsarbeiter einen Mehraufwand an Arbeit gäbe und wenn ja, lasst sie ja nicht hochkommen, diese Brüder, denn wir würden unsere Freude erleben, wenn dieses Gesindel hochkäme, aber wir an der Front wissen, dass die Heimat ihren Mann stellt. Ihm selbst ginge es blendend, er war an vorderster Stellung, ist ganz prima ausgebaut, ich glaube, da kann der „Ivan“ schon anrennen, er wird sich blutige Köpfe holen, was essen anbelangt, ist auch ganz fein, haben hier ganz prima Küche. Er endet mit vielen Grüßen an alle und einem gewaltigen Heil Hitler, verbleib ich Euer Kamerad Ille. Im August 1943 endete sein Dienst an der Waffe nach nur zwei Monaten. Nach kurzer Ausbildung kam er zu einer Feldeinheit und erlitt am 5.7.43 den Heldentod im Orelabschnitt. Seine Ehefrau bekam die üblichen Plattitüden vorgesetzt: Heldentod, Opfer, Pflichterfüllung, Führer, Volk usw. Eine Granate hatte ihn erwischt. Seine Verwundung war so schwer, dass er ohne Schmerzen gestorben ist. Damit hatte er das größte Opfer gebracht, dass ein Soldat bringen kann. Ein Trost sollte es der Ehefrau sein, dass Ihr Mann als tapferer, bei Vorgesetzten und Kameraden beliebter Soldat gestorben ist. Für uns aber ist sein Heldentod die Verpflichtung zu umso entschlossenerem Einsatz bis zum Endsieg.17 Schwülstiges und Salbungsvolles, mussten Sie, lieber Leser oder Leserin, bereits oft genug über sich ergehen lassen, aber es ging auch anders. „Ein Blick auf Baden“ war der Titel eines von Kurt Dürpisch verfassten Artikels in der Badener Zeitung. Im Kurpark weilend, schwärmte der Verfasser, den Sonnenuntergang betrachtend, von rotgolden leuchtenden und dunklen Wäldern, süßem Jasminduft, bunten Blumen und dem Zauber des Sommerabends, wo in diesem einen Augenblick alles so friedvoll war. Das Bild des Friedens weckt sehnsüchtige Gefühle und Gedanken – aber es darf doch nicht täuschen. Der bittere Ernst der Zeit ist nicht an den Gitterstäben des Kurparks stehen geblieben. Er ging auf die Soldaten ein, die sich nach der Nacht auf den Bänken im Kurpark niederlassen würden, mit ihren durch Krücken und Verbänden sichtbaren Kriegsverletzungen. Auch ihre seelischen Schmerzen, bedingt durch ihre Fronterlebnisse, wären an ihren Gesichtern deutlich ablesbar. Er schrieb von den Müttern, die mit ihren Kindern vor den Bomben geflohen waren und sich ebenso im Kurpark einfinden würden, sobald die Sonne wieder aufgehe. Er sinnierte über die Verwandlung Badens, von der Kurstadt zur Lazarettstadt. Baden, früher – und zu anderen Zeiten gewiss auch wieder eine Stadt der Lebensfreude und der Heurigen, hat sich bewusst auf die Erfordernisse des Krieges eingestellt. Die Bevölkerung hat die Einschränkungen auf sich nehmen müssen und leistet selbst auf bescheidene Lebensgenüsse Verzicht. Er blieb gedanklich im Kurpark, als dem Refugium der Entspannung, wo Kummer und Schmerz vergessen werden konnten. Der Kurpark, er schenkt Freude, Entspannung und Erholung und hilft mir Mut, Glauben und Vertrauen trotz allem zu bewahren.18 Es ist ein eher ungewöhnlicher Text. Es 17 StA B, GB 052/Personalakten: Herbert Ille (1915–1943). 18 BZ Nr. 54 v. 10.07.1943, S. 4.
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kommen keine Drohungen darin vor, kein Heroismus, wir lesen nichts über Juden, die den Krieg heraufbeschworen hätten, nichts über den Bolschewismus, den es auszumerzen galt. Widerstand? Resignation? Auf alle Fälle ein Text, der nicht in die Welt der gleichgeschalteten Badener Zeitung passte. * Die Kursaison war diesmal kürzer als sonst. Die Mineralschwimmschule schloss am 20. September ihre Pforten. Von zivilen Gästen durfte sie ohnehin nur samstags und sonntags besucht werden. Das Strandbad folgte am 3. Oktober 1943.19 Die propagandistisch unbeschwerte Kur-Zeit ging vorüber. Die Flucht auf eine Parkbank im Kurpark war aufgrund der Temperatur und der Witterung nur mehr imaginär möglich. Dafür blieb die Flucht in politische Ideologien weiterhin hoch im Kurs. Bevor wir uns aber der NS-Ideologie hingeben, ein Schwenk zu zwei Protagonisten aus der Kurstadt, die derweilen ganz woanders weilten: Karl Pfeifer und Alois Brusatti. Bevor Karl Pfeifer von Ungarn nach Palästina abreiste/flüchtete, stieß er genauso in seinem jüdischen Umfeld auf mentale Fluchtwelten, die ihm recht fremd vorkamen bzw. die er nicht teilte. Er selbst sah damals sein Heil nicht nur in Palästina, die Rote Armee und der Kommunismus kamen ebenso in Frage. Bei seinen Gastgebern in Ungarn, die ihm Zuflucht boten, löste das Unverständnis bis hin zu regelrechtem Unmut aus. Eines Tages bei Mittagstisch sagte er unverblümt, ich hoffe, dass die Rote Armee in Budapest einmarschieren wird. Onkel Lajos, der nur mit dem Stock ging, stand auf und wollte mit dem Stock auf mich einschlagen. Für ihn war dieser Gedanke unvorstellbar. Seine Frau Anna rette mich, doch von nun an durfte ich nicht mehr im Wohnzimmer essen, sondern bekam mein Essen und ein Esspacket für zuhause in der Küche.20 Als stolzer Ungar und patriotisch ausgerichtet, war die Vorstellung, Bolschewisten im Herzen Ungarns zu wissen, ein Graus. Dass der Antisemitismus des Horthy-Regimes augenscheinlich und spürbar war, war dem Onkel und vielen anderen ungarischen Juden nicht entgangen, was sie jedoch nicht daran hinderte, sich um diesen autoritären Staat zu scharen. Wir finden hier Parallelen zu Österreich und dem Ständestaat. Viele österreichische Juden suchten damals Schutz unter dem Kruckenkreuz. Sie wussten genau, dass der klerikal geprägte Ständestaat alles andere als judenfreundlich daherkam, doch letztendlich waren Schuschnigg und seinesgleichen „nicht das Problem“ – Hitler schon. Ähnlich in Ungarn. Horthy war nicht das Problem, die Pfeilkreuzler – Ungarns Faschisten, die von den Nationalsozialisten gepusht wurden – schon. Man kann es auch als eine Hinwendung zum geringeren Übel umschreiben – etwas vollkommen Menschliches. Wie verworren die Welten und Fronten um einen herum sein konnten, davon konnte sich auch Alois Brusatti während seines Dienstes als Ausbildungsoffizier im besetzten Frankreich überzeugen. Eine ganz eigenartige Begegnung hatte ich in Reims. Ein Offizier von 19 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 25. 20 PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 38.
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uns war bei einer französischen Familie einquartiert, die gut Deutsch sprach und deren Mitglieder sich als „Francisten“ deklarierten. Vor allem die Tochter, eine etwa 22 Jahre alte blonde, gut aussehende Schönheit hat es mir angetan. Sie war eine fanatische Anhängerin der „Francisten“, von denen ich bis dahin nie etwas gehört hatte. Diese an sich faschistische Bewegung vertrat die Ansicht, dass Nordfrankreich seit den Zeiten der Karolinger eigentlich germanisch sei und von den Pariser Zentralisten unterjocht werde. Das war die Welt dieser Menschen und sie hofften auf einen Sieg Hitlers und wollten aus Nordfrankreich und der Wallonie ein „Frankien“ bilden. Nach1945 fragte sich Brusatti, was aus ihnen wohl geworden war. Ich hatte später keinen Kontakt mehr und vermute, dass diese Leute nach 1944 unter die Räder kamen.21 Nachdem in Frankreich die „Ent-Kollaborationisierung“ zigtausende Menschenleben gekostet hatte, war seine Annahme höchstwahrscheinlich zutreffend. Wir haben hier den Patriotismus oder den Regionalismus oder Sezessionismus als Zufluchtsorte. Solche ideologisch-politischen Konstrukte boten eine Perspektive. Aber kommen wir nach Baden zurück bzw. bleiben wir im Dritten Reich als solches. Hier haben wir mit dem Führerkult ein wunderbares Beispiel, wie in bitteren Zeiten Hoffnung getankt werden konnte. Dass Menschen Briefe an Hitler schrieben, habe ich bereits mehrmals erwähnt. Es ging um Wohnungen, Arbeit oder wenn sich Volksgenossen oder Parteigenossen grundsätzlich in irgendeiner Weise ungerecht behandelt fühlten. Hans Leitner klagte im Jänner 1939, dass er stets ein Nationalsozialist gewesen wäre und deswegen vom Schuschnigg-Regime in den Ruin getrieben wurde. Da ich nun keinen Weg mehr kenne und ich weiß, dass Sie, mein Führer, für die Not Ihres Volkes immer ein offenes Ohr und Herz haben, erlaube ich mir hiermit, mit meiner Bitte um Unterstützung an Sie, mein Führer, heranzutreten. Sein Geschäft wäre damals den Bach runtergegangen, sein Haus versteigert worden, und als ob das nicht genug wäre, hätte er 1934 fünf Tage Haft ausgefasst. Mit seinem Brief wollte er sich nicht nur den Frust von der Seele schreiben oder Almosen erbetteln. Ich will kein Geschenk, sondern bitte nur um die Möglichkeit, durch Beistellung einer entsprechenden Summe, die ich gerne in langfristigen Raten zurückzahle, das wieder zu gewinnen, was ich verloren habe.22 Sein Schreiben hätte über die Kreisleitung abgewickelt werden sollen, doch die Kreisbauernschaft schlug Alarm. Sie gab zu bedenken, dass Hans Leitner 1933 Gelder der Feuerwehr unterschlagen hatte und ein Verfahren wegen Diebstahls in der Kellereigenossenschaft gegen ihn anhängig war. So ein moralisch verkommener Mensch, er wurde als unzuverlässig und großmäulig bezeichnet, noch dazu als Trinker, der nicht mit Geld umgehen konnte, durfte doch nicht die Möglichkeit bekommen, sich persönlich an den Führer zu wenden – obendrein mit einem indirekten Darlehensansuchen. Hitler war ein dem Menschlichen Entrückter, den eine machtvolle spirituelle Metablase umgab, in dessen Sphäre nicht einfach Hinz und Kunz eindringen durften. Bei einer Veranstaltung im März 1943 verkündete Kreisleiter Hans Hermann: Großdeutschland ist erstanden, wir haben nun ein Volk, ein Reich, wir haben einen Führer. […] 21 StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 40. 22 StA B, GB 052/Personalakten: Leitner Johann/Hans (geb. 1904).
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Adolf Hitler ist uns die Gewähr zum Sieg. Er wird Deutschlands Zukunft sichern, eine Zukunft, die uns Raum und damit Brot gibt, eine Zukunft, die uns den Sieg und dann die Zeit des Aufbaues bringt.23 Drei Jahre zuvor hatte die Stadtgemeinde den Führergeburtstag zelebriert, wo Reden geschwungen worden waren à la: Adolf Hitler hat uns den Weg aus der Not gewiesen. Wenn sein Volk manchmal schon verzweifelt war und die Knechtschaft immer drückender auf ihm lastete, dann hat er als Einziger niemals nachgegeben, sondern immer geworben um die Seele des deutschen Menschen, weil er überzeugt war, dass der deutsche Mensch innerlich gut und tapfer ist. Er hat uns vor dem Untergang bewahrt.24 Wenn man so will, der Führer brachte Brot und führte aus der Finsternis. Wer so etwas vollbringt, ist kein gewöhnlicher Mensch. Selbst innerhalb der „deutsch-arischen Herrenmenschenrasse“ ragt er imposant hervor. Sein erster Geburtstag nach dem Anschluss war in der Kurstadt ein Schauspiel, wie es Baden in einer derartigen Großartigkeit und Geschlossenheit wohl noch nie gesehen.25 Hitler war der Übermensch und sein Aufstieg, seine Siege waren dermaßen grandios, dass nichts dagegensprach, dass er die Krise 1943 genauso meistern würde. Sich an ihn zu wenden, an ihn zu glauben und ihn gar anzubeten, war in vielen Köpfen eine legitime und nachvollziehbare Option in Zeiten der Not. Ein Redakteur der Badener Zeitung beschrieb eine Szene, in der zwei junge Buben Hand in Hand durch die Beethovengasse marschierten und vor einer Auslage, in der ein Führerbild ausgestellt war, stehen blieben und innehielten. Andächtig sollen sie das Porträt betrachtet und dem abgebildeten Führer einen Kuss zugehaucht haben.26 Hitlerbilder wurden zu Ikonen transformiert. Dermaßen aufgeladen, konnte der Führerkult Wunderliches hervorbringen. In einem Brief an eine Angebetete beschrieb der SAMann Josef Straschek seine körperlichen Gebrechen und äußerte den sehnlichsten Wunsch, dass seine Angeschmachtete ihn endlich in Baden besuchen solle. Ein Nichtkommen müsste mein altes Militärkriegsdienstleiden, das ist vor allem ein schwerer Herzfehler, nur vergrößern und in diesen Tagen habe ich wieder so mit dem schlimmen Herzfehler zu leiden, aber Adolf Hitler, er hilft mir ja wieder gesund zu werden […].27 Hitler heilte – etwas vollkommen Normales für eine messianische Figur. Der Führer war eine Lichtgestalt. Auch für Alois Brusatti war es ein besonders Ereignis gewesen, Hitler mit seinen eigenen Augen zu erblicken. Es war während des Polenfeldzuges, nachdem sie die San überquert hatten, stand er, der Führer, plötzlich da auf einem Hügel und begrüßte sie, umgeben von seinen Generälen. Ganz natürlich waren wir durch diese Begegnung sehr aufgemöbelt; auch der Leutnant meinte, dass er im ganzen Ersten Krieg nie seinen Oberbefehlshaber gesehen habe.28 Hitler, das bedeutete Hoffnung, er wies den Weg und er stand für den Sieg. So ein Auserwähltsein implizierte, 23 24 25 26 27 28
BZ Nr. 20 v. 13.3.1943, S. 2. BZ Nr. 33 v. 24.04.1940, S. 1. BZ Nr. 33 v. 23.04.1938, S. 3. Vgl. BZ Nr. 33 v. 26.04.1939, S. 4. StA B, GB 052 Personalakten: Straschek Josef (geb. 1898). StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 19.
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dass der Name Hitler und alles, wofür dieser Name stand, nicht missbraucht oder beschmutzt werden durfte. Wie Schmutz und Missbrauch definiert waren, war wiederum der Willkür geschuldet, und auch das brachte Kurioses hervor. Als Adelheid Scherer, Betreiberin des „Café Casino“ (Kaiser Franz-Ring 23), den Führergeburtstag mit einem Tanzabend zu ehren beabsichtigte, ahnte sie nicht, dass ihr Vorhaben die Partei und die Polizei auf den Plan rufen würde. Denn ihr angesetzter Tanzabend bedeutete nichts anderes, als den feierlichen Anlass des Geburtstages unseres Führers zu Geschäftszwecken zu verwenden und daraus Nutzen zu ziehen. Diese Handlungen hat unter den Parteiund Volksgenossen Empörung hervorgerufen und wird diese Handlung als Geschmacklosigkeit sondergleichen hingestellt.29 Sie wurde augenblicklich vorgeladen, um sich für ihren Frevel zu rechtfertigen. Sie musste sich für ihren Mangel an Ehrerbietung entschuldigen, erhielt eine strenge Verwarnung und die Auflage, den Tanzabend durch einen gut sichtbaren Anschlag auf der Eingangstüre abzusagen. Die Durchführung wurde polizeilich überwacht. Solch blasphemisch anmutende Handlungen kennen wir bereits aus dem Casino, als der stellvertretende Direktor Kurt Wiesend eine im Radio übertragene Führerrede mittendrin abdrehte und damit die politisch-religiösen Gefühle gläubiger Nationalsozialisten verletzte (siehe Kapitel 4 Mammon II). Konflikte solcher Art konnten sogar in Handgreiflichkeiten münden. Im Dezember 1939 suchte Leopold Holub eine Trafik in der Helenenstraße 32 auf. Beim Eintreten grüßte er mit „Heil Hitler“, verabschiedete er sich aber mit „Grüß Gott“ und dem deutschen Gruß. An sich fast regelkonform, doch für den anwesenden HJ-Führer Rudolf Stockhammer und die BDM-Führerin Ingeborg Kunter hatte er das „Heil Hitler“ beim Eintreten in einer ganz besonderen Art gebraucht und mit einer komischen Betonung. Und beim Verlassen betonte er den deutschen Gruß in einer besonders auffälligen Art und in einem lächerlichen Ton. Rudolf Stockhammer als HJ-Führer war darüber dermaßen empört, dass er kurz darauf Leopold Holub bis zu dessen Haustür folgte und zur Rede stellte.30 Es folgte ein etwas unfreundlicher Wortwechsel, man marschierte danach gemeinsam zur Trafik zurück, wo die Trafikantin Auskunft geben sollte, in welcher Intonation nun dieses „Heil Hitler“ erklungen war. Eine Klärung konnte auch hier nicht erzielt werden, worauf sich alle wieder in ihre Domizile zurückbegaben. Doch nun war es Leopold Holub, den der Vorfall dermaßen aufwühlte, dass er sich nun verpflichtet sah, Stockhammer in dessen Privatwohnung aufsuchen, um endlich Klarheit zu erlangen. Eine Klärung konnte auch diesmal nicht erzielt werden – dafür flogen die Fäuste. Letztendlich kam man ohne eine Anzeige aus, ein gütlicher Ausgleich vor dem Kreisgeschäftsführer Kurt Haun glättete die Wogen.31 Auch wenn Hitlers öffentliche Auftritte und ausgestrahlte Reden mit jedem Kriegsjahr abnahmen, die Worte des Führers boten weiterhin Zuflucht. Der Führer bot seine Welt an, an der jeder, der deutschen Blutes war, partizipieren durfte bzw. musste. Viele Menschen 29 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Scherer Adelheid (geb. 1912). 30 Rudolf Stockhammer (geb. 1913), Ingeborg Kunter (geb. 1922). 31 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Holub Leopold (geb. 1874).
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nahmen sie an. Doch waren es bei weitem nicht alle und selbst jene, die es taten, mussten nicht zwangsläufig vollkommen in ihr aufgehen. Hitlers Welt mag klar definiert gewesen sein, gut und böse, schwarz und weiß waren klar getrennt. Doch die allermeisten darin agierenden Protagonisten schimmerten in sämtlichen Grautönen. Wollen wir uns deswegen einige von ihnen genauer ansehen.
Schatten und Zwielicht Die mentalen Welten, in die sich Menschen begaben bzw. flüchteten, die Struktur, Ablenkung oder Vergessen versprachen, waren individueller und dynamischer Natur. Mitnichten boten sie die herbeigesehnte klare Aufteilung in Gut und Böse – außer bei tatsächlich fanatisierten Menschen. Die Allermeisten, wie sehr sie sich eine manichäische Umwelt auch gewünscht hätten, holte die Realität immer wieder ein und zerstörte den erhofften, weil haltgebenden Dualismus. Der Alltag war nicht schwarzweiß, die Menschen ebenso wenig, und damit auch ihre Handlungen. Ich schilderte bereits einige, von mir als „Fluchtwelten“ bezeichnete, Gefilde, wie das Schauspiel im Theater, die Parkbank im Kurpark, den Patriotismus oder die Hingabe an den Genius in Berlin. Im folgenden Fall würde ich von einer „Flucht nach vorne“ sprechen oder von einer Flucht in den „Realismus“ bzw. „Pragmatismus“. Je nach Perspektive (bzw. Quelle) war Johann Christ Nationalsozialist, Widerstandskämpfer, Judenfreund und Ariseur. Geboren in Weikersdorf, im Bezirk Mährisch Schönberg, stieg er vom Schlosser zum Industriellen auf (Bereich Holz und Chemie), mit Hauptsitz in der Tschechoslowakei, wo er 1928 beim Aufbau der chemischen Industrie sich Verdienste erwarb. International aufgestellt und tätig, diente er dort unter anderem als Vertrauensmann für Großbritannien. Seine Fühler nach Baden streckte er im Jahr 1937 aus, als ihm eine Schweizer Gruppe die Aktien der „Sanatorien A.G. Esplanade“ angeboten hatte. Er ging den Deal ein und tätigte mehrere Teilzahlungen in unterschiedlichen Währungen – von Schweizer Franken über tschechische Kronen, holländische Gulden und nach dem Anschluss in Reichsmark. Damit war für ihn persönlich der Vorwurf, das Sanatorium arisiert zu haben, entkräftet. Allerdings wurde das ganze Verkaufsgeschäft erst nach dem Anschluss restlos abgeschlossen, und wie wir bereits gelesen haben, der Anschluss wertete die Position des arischen Käufers gegenüber dem jüdischen Verkäufer gehörig auf. Dass er dennoch in der NS-Zeit als Ariseur gerechnet wurde, lag laut ihm daran: Die Naziregierung versuchte diesen Kauf als Arisierung hinzustellen, um in den Besitz der sogenannten Arisierungsquote zu gelangen.32 Im Jahre 1940 übernahm er zusätzlich noch das Sanatorium Gutenbrunn. Laut eigener Aussage traten die Hauptaktionäre des Sanatoriums persönlich an ihn heran, weil sie aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeit nicht mehr in der Lage waren, das Haus gewinn32 StA B, GB 052/Personalakten: Christ Johann (geb. 1897) – Gesuch um Streichung (25.07.1945).
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bringend zu führen.33 Johann Christ ging auch diesen Deal ein und wurde dadurch „Besitzer“ zweier Kurhäuser, wo bei beiden jüdische Besitzer/Teilhaber/Aktionäre mitbeteiligt gewesen waren. Sein berufliches Betätigungsfeld aber blieb die CSR, wo er, so gut er konnte, verfolgten Personen zur Flucht verhalf. Durch meine Beteiligung an dem Bankhaus Seelig in Prag war es mir möglich, eine große Zahl jüdischer Klienten des Bankhauses und auch persönliche Bekannte von mir dem Zugriff der Nazibehörden zu entziehen und diesen bei ihrer Auswanderung aus der C.S.R und Österreich die entsprechenden Unterstützungen zu gewähren.34 Er selbst spricht von 30 Personen, die mit seiner Hilfe nach Palästina, England, Australien oder in die USA flüchten konnten. Johann Christ sah sich selbst nicht als Nationalsozialist, vielmehr als jemand, der für ein freies Österreich und eine unschuldig gequälte Menschheit tätig war, doch als vermögender Industrieller und erfahrener Geschäftsmann wusste er nur allzu gut, dass er um eine Parteimitgliedschaft nicht herumkommen würde, wollte er sich weiterhin mit Leichtigkeit auf dem politischen und wirtschaftlichen Parkett bewegen. Er suchte deswegen im Dezember 1938 um Mitgliedschaft bei der NSDAP an. Anfänglich schien es, dass er dadurch erst einmal aus dem Schneider wäre und einfach weitermachen könnte wie bisher, doch weit gefehlt. In Wirklichkeit stand ich jedoch unter dauernder Beobachtung und wurde im Jahre 1941 unter der Anklage des politischen Hochverrates und der Verbindung mit England und den führenden Männern der C.S.R […] am Wiener Flughafen verhaftet und durch zwei Gestapobeamte nach Prag gebracht. […] In Prag wurde ich in das Gefängnis Pankrac eingeliefert, wo mir mitgeteilt wurde, dass ich auf direkten Befehl Heydrichs verhaftet wurde. All das Unmenschliche, will ich an dieser Stelle nicht schildern, was mir wiederfuhr. Erwähnt sei nur, dass ich die ersten 77 Tage meiner Haft in Einzelhaft verbrachte, bei einer ständigen Beleuchtung von 1.500 Watt.35 Nach sechs Monaten war er wieder frei, stand danach unter Beobachtung durch den SD, war gezwungen, seine Geschäftsbeteiligungen in der CSR zu liquideren, eine stattliche Summe an das Deutsche Rote Kreuz zu spenden und es wurde ihm klargemacht, sollte er ein Wort über seine Haftbedingungen in Pankrac verlieren, so könnte er dann jene von Dachau ausprobieren. Von nun an waren seine Möglichkeiten äußerst beschränkt, doch schaffte er es dennoch, dem NS-Regime – Widerstand zu leisten wäre zu hoch gegriffen, aber zumindest auf die „Nerven“ zu gehen. Als Generaldirektor des Sanatoriums Gutenbrunn scheint Christ nicht unbedingt im besten Einvernehmen mit der dort teilweise stationierten Luftwaffe gestanden zu sein. Über diverse Spannungen 1940 haben wir im Kapitel 19 bereits gelesen. Das Zusammenleben wurde nicht besser als die Luftwaffe, was ja immer nur eine Frage der Zeit war, das gesamte Sanatorium zu beschlagnahmen gedachte. Christ versuchte nach Möglichkeit, die Beschlagnahmung durch diverse Nadelstiche ein wenig schmerzvoller zu gestalten 33 Ebd. – Kaufmännischer Werdegang, Blatt IV. 34 Ebd. – Gesuch um Streichung (25.07.1945). 35 Ebd. – Gesuch um Streichung (25.07.1945).
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– dazu dann im Kapitel 30 mehr. Ob mit seinem „Widerstand“ zusammenhängend oder nicht, kurz vor Kriegsende wurde es für Christ erneut brenzlig, als er im Februar 1945 wegen antinationalsozialistischer Aktivitäten denunziert wurde. Er und seine Frau wurden schon von einem Kriegsgerichtsrat vernommen. Ein Todesurteil schien sich durchaus abzuzeichnen – wenn nicht der rasche sowjetische Vorstoß erfolgt wäre. Mit Johann Christ haben wir einen einflussreichen und vermögenden Geschäftsmann, der die Zeit des Nationalsozialismus zu nutzen wusste. Einerseits zu seinen Gunsten, anderseits, um anderen Menschen zu helfen. Dass er nicht in vollkommener Selbstlosigkeit handelte und er nach 1945 so einiges sicher beschönigte und gerade bog – wie viele andere auch –, gab nach 1945 der Treuhänder Franz Kleisny zu Protokoll. Laut ihm war der Erwerb des Esplanade eine eindeutige „Arisierung“ und das Agieren Christs bezeichnete er als überaus rücksichtslos. Kleisny gab an, dass der jüdische Arzt Dr. Oskar Sgalitzer, einer der Hauptaktionäre des Esplanade, sehr wohl unter Druck gesetzt, ihm seine Anteil regelrecht abgepresst, er unter Zimmerarrest gestellt wurde und Christ ließ deutlich durchblicken, dass er alle Vorteile, welche ihm aus den Zwangslagen und den Terror der deutschen Behörden geboten wurden, rücksichtslos ausnützen werde […].36 Auf der anderen Seite haben wir etliche Entlastungsschreiben, die allesamt Folgendes bestätigen: Der Genannte hat stets eine loyale Haltung den Tschechen und Juden gegenüber eingenommen und hat sich zur antifaschistischen Gesinnung immer offen bekannt. Oder dass Johann Christ während der Besetzung der Tschechoslowakei stets feindlich gegenüber den nazistischen Bestrebungen eingestellt war und den verfolgen Tschechen und Juden nach seinen besten Kräften geholfen hat.37 Und Hermann und Margarethe Wöhrer aus Leobersdorf bestätigten im September 1946: Wir bestätigen gern, dass Sie uns in schwerer Zeit, als mein Mann auf Grund seiner dem Nationalsozialismus entgegengerichteten politischen Einstellung von den Nazis zum Tode verurteilt worden war, mit Rat und Tat zur Seite standen und dadurch mitgeholfen haben, dass mein Mann zu zwölf Jahren Zuchthaus begnadigt wurde und somit sein Leben retten konnte.38 (Das war übrigens derselbe Mann, über den wir im vorigen Kapitel gelesen haben, wo sich die Gauleitung für die Stimmung nach den vollstreckten Todesurteilen interessiert hatte.) Im Jänner 1946 notierte Alois Klinger in Bezug auf die Anschuldigungen gegen Johann Christ: Es dürften hier auch der Neid und die Missgunst von Seiten gewisser Personen eine bedeutende Rolle spielen.39 Da sich Johann Christ als Parteimitglied, aber nicht als Nationalsozialist sah, suchte er nach 1945 um Streichung von den Registrierungslisten an. Im Oktober 1945 wurde sein Antrag von der Bezirkshauptmannschaft Baden vorerst abgewiesen. Drei Jahre später, im 36 Ebd. – Strafanzeige gegen Johann Christ (20.06.1947). 37 StA B, GB 054/Registrierungslisten: Christ Johann – Aussage Jan Paschl, Inhaber der Fa. „Rupa“ und Henry Unger, Direktor der Kosmos Werke (23.10.1945). 38 StA B, GB 052/Personalakten: Christ Johann (geb. 1897) – Hermann und Margarethe Wöhrer (10.09.1946). 39 Ebd. – Klinger an das Volksgericht (06.01.1946).
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Mai 1948, wurde er durch die Landesregierung Oberösterreichs aus den NS-Listen gestrichen. * Facettenreich gestaltete sich auch das Leben von Walter Nemetz. Die Gesuchs- und Zeugenaussagen stehen im krassen Widerspruch mit den hinterlegten Mitgliedskarten und erscheinen daher mit Vorsicht aufzufassen, weil das geschilderte Verhalten des Gesuchstellers schwer gegen die strafgesetzlichen Bestimmungen verstoßen hat und unter der autoritären Staatsgewalt 1938–1945 eine große Gefahr zu einer strengen Bestrafung bildeten und daher die fraglichen Gesuchsangaben zweifelhaft und übertrieben erscheinen.40 Vorsicht war bei ihm durchaus angebracht, denn laut seiner Beurteilung von 1939 war er seit 1933 bei der NSDAP und SS sowie während der Systemzeit illegal aktiv gewesen. In politischer und moralischer Hinsicht galt er als vollkommen einwandfrei. Bei so einer Vita, urteilte seine Ortsgruppe, erübrigt sich jede Berichterstattung.41 Es hätte kaum eine bessere Beurteilung für einen damals 26-Jährigen und aufstrebenden Architekten geben können. Nach 1945 sah die Sache dann bekanntlich anders aus. Doch lassen wir ihn selbst zu Wort kommen und ihn darlegen, wie er denn zur SS und zur NSDAP gekommen war. Gefertigter war während seiner Mittelschulzeit in der Techn. Gew. Bundeslehranstalt Mödling im Jahre 1933 von Schulkameraden zu dem Studentensturm der SS angeworben worden und gehörte diesem Verband, ohne sich dort aktiv betätigt zu haben, bis zur Ablegung der Reifeprüfung, das war am 22. Juni 1933. […] Nach Ablegung der Reifeprüfung hatte Gefertigter Berufssorgen und verlor, da er in Baden beheimatet war, jeden Kontakt mit der Formation. […] Erst im Jahre 1938, nach der Besetzung Österreichs durch Deutschland, wurde ich von Angehörigen der hiesigen Dienststelle der SS aufgefordert, wieder in ihre Reihen zu treten. Ich tat dies damals bereits widerwillig, da ich aber befürchtete, dass man mir im Weigerungsfalle Schwierigkeiten in meinem beruflichen Fortkommen bereiten würde, erklärte ich mich zum neuerlichen Eintritt in die SS bereit. Ich tat dies nicht zuletzt deshalb, als durch eine Bestrafung meines Bruders zu 15 Monaten schweren Kerker und 18 Monaten Anhaltelager wegen Teilnahme an antifaschistischen Aktionen unser damals gemeinsam geführtes Geschäft von allen Seiten boykottiert wurde und unsere Existenz, da wir vollkommen mittelos waren, auf das Schwerste bedroht war.42 Über die SS kam er zur NSDAP, aber nur auf dem Papier, und als das Deutsche Reich mit dem Überfall auf Polen den Krieg auslöste, soll Walter Nemetz mit dem Nationalsozialismus restlos gebrochen haben. Aber ein Austritt war für ihn nicht ohne weiteres 40 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Nemetz Walter – Aktenvermerk s.d. 41 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Nemetz Walter (1913–1996) – Ortsgruppe Baden Stadt (17.06.1939). 42 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Nemetz Walter – Nemetz an das Staatsamt für Inneres (15.07.1945).
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möglich. Ich konnte lediglich meinen Ausschluss provozieren. Ich tat dies in der Form, dass ich mich an keiner Veranstaltung oder Dienst beteiligte. […] Im Jahre 1942 wurde ich aus der SS deshalb ausgeschlossen, weil ich mich trotz Androhung von Repressalien geweigert hatte, einen Revers zu unterzeichnen, in welchem ich mich verpflichtet hätte, im Falle der Einberufung zur Wehrmacht, freiwillig der Waffen-SS beizutreten. Später schrieb er dann: Wie schon in meinen Entregistrierungsgesuch angegeben, wurde ich in den ersten Monaten des Jahres 1943 durch ein besonderes Schreiben eines höheren SS-Führers, rückwirkend per November 1942 aus dem Verband der zivilen SS gestrichen.43 Um seinen Worten Gewicht zu verleihen, führte er, wie viele andere auch, mehrere Entlastungszeugen an, die seine Anti-NS-Haltung bestätigen sollten bzw., was noch viel mehr wog, er führte Personen an, die durch das NSRegime verfolgt worden waren und denen er seine Unterstützung hatte zukommen lassen. Als Gesellschafter der Firmen „W.R. Nemetz“ und „Handlos & Co.“ sowie Inhaber eines Architektenbüros, arbeiteten für ihn Personen wie Herta Hnup, die zuvor als Angestellte der Stadtgemeinde Baden im Mariazellerhof angestellt gewesen war.44 Nachdem meine Eltern verhaftet waren, ließ mich der damalige Bürgermeister kommen und teilte mir mit, dass für Angehörige staatsfeindlicher Elemente in Ämtern der Stadt Baden kein Platz sei. Obwohl ich selbst mich bis damals niemals politisch betätigt hatte, wurde ich fristlos entlassen und brotlos. Sie und ihre 14-jährige Schwester standen nun mittellos da. Bei solch „belasteten“ Eltern hätte sie wohl ernsthafte Schwierigkeiten gehabt, alsbald einen neuen Arbeitsplatz zu ergattern, wenn nicht Walter Nemetz gewesen wäre. Aber auch er musste sich längere Zeit mit dem Arbeitsamt herumschlagen, bis er endlich die Erlaubnis bekam, Herta Hnup einzustellen. Den Lebensunterhalt gesichert, stellte sie bald fest, dass ihr neuer Arbeitgeber nicht viel mit dem NS-Staat gemeinhatte. Herr Ing. Nemetz gab mir, da ich am Telefon saß, schon im Jahre 1942 den Auftrag, dass er für die Partei oder SS niemals erreichbar sei. […] Es war uns allen bekannt, dass Herr Ing. Walter Nemetz seinerzeit nur aus wirtschaftlichen Gründen der Partei beigetreten war, um Schwierigkeiten, welche durch die Verurteilung seines Bruders wegen Hochverrats zu entstehen drohten, auszuweichen und ein Gegengewicht zu schaffen.45 Sehr ähnlich sah es bei Leopoldine Fleischmann aus. Nur dass bei ihr nicht die Eltern, sondern ihr Ehemann, Franz Fleischmann, wegen Hochverrates zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war – erschwerend kam hinzu, er war Kommunist und galt als „Mischling 1. Grades“.46 Und auch sie konnte sich über die Hilfe von Walter Nemetz glücklich schätzen, der sie ebenso einstellte und, als sie zwischenzeitlich ein Kind zu Welt brachte, sie obendrein finanziell unterstützte, mit Lebensmitteln und Heizmaterial versorgte und ihr großzügigen Urlaub gewährte. Und als 1944 die Gefahr drohte, dass sie ihre Wohnung verlieren könnte, stellte ihr Walter Nemetz seinen Rechtsanwalt zur Verfügung. Ich möchte 43 44 45 46
Ebd. – Nemetz an die Badener Registrierungsstelle (10.01.1946). Ebd. – Betriebsrat der Fa. H. Handlos & Co. s.d. Ebd. – Herta Hnup (16.07.1945). Leopoldine Fleischmann (geb. 1906), Franz Fleischmann (geb. 1905).
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hier betonen, dass Herr Ing. Walter Nemetz alle diese Hilfen aus eigenem Impuls gewährte, ohne dass ich jemals an ihn mit irgendeiner Bitte herangetreten wäre.47 Ebenso „Asyl“ bei Walter Nemetz fand die Halbjüdin Maria Wolf. 1940 stellte er sie als Sekretärin ein, nachdem ihr jüdischer Vater vertrieben worden war und sie als 18-Jährige nicht mehr weiter wusste. Sie bezeichnet ihren Arbeitgeber sogar als einen Freund. Als ich im Jahre 1944 von der Gestapo verhaftet wurde, da ich politisch nicht einwandfrei war, hatte ich es nur seinen Bemühungen zu verdanken, dass ich nicht ins KZ wanderte, sondern nach 3 Wochen Schutzhaft entlassen wurde.48 Auch sein Bruder, Roman Nemetz, versicherte, dass Mitarbeiter oder deren Angehörige gewarnt wurden, wenn Hausdurchsuchungen anstanden, um somit belastendes Material rechtzeitig zu vernichten.49 Walter Nemetz’ Verhalten blieb nicht unkommentiert. Ich wurde von offiziellen Stellen und Behörden oftmals angefeindet und zum Austausch meiner Angestellten aufgefordert. Ich habe dies niemals in Erwägung gezogen, sondern habe diese bedrängten Personen nach Möglichkeit unterstützt […].50 Aber weshalb, wie eingangs bei ihm erwähnt, die „Zweifel“ und die „krassen Widersprüche“ nach 1945, was seinen politischen und moralischen Kompass anbelangte? Zum einen war Walter Nemetz SS- und Parteimitglied seit 1933. Und er hatte, obwohl er es leugnete, sehr wohl engere Kontakte zu führenden Badener SS-Mitgliedern gepflegt. Besonders brisant war ein von ihm verfasster Brief vom 14. Oktober 1943, der mit „Lieber Kamerad Zisser“ begann und mit „Dein Walter“ endete. Der Inhalt war eher belanglos. Nemetz bedankte sich für den Briefwechsel, bat um weitere Nachrichten aus der Heimat und freute sich auf ein baldiges Wiedersehen. Stutzig machte vielmehr der Briefkopf des Absenders. I.Gs. Farbenindustrie A.G. Werk Auschwitz/O.S. Wohnungs- u. Siedlungsbaubüro.51 Er war zwar dort „nur“ im Wohnungs- und Siedlungsbüro tätig, aber es machte nicht den Eindruck, als wäre er da bereits aus der SS ausgeschlossen worden.52 An Walter Nemetz schieden sich die Geister. Auf Grund von Erhebungen konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, dass der Gesuchsteller seine Zugehörigkeit zur NSDAP missbraucht hat. Da auch Nemetz SS-Mann war und in den ha. befindlichen ns-Unterlagen, als Illegaler Kämpfer bezeichnet wird, kann nicht mit Bestimmtheit angenommen werden, dass seine positive Einstellung zur unabhängigen Republik Österreich gegeben erscheint.53 Den Aussagen seiner Angestellten gegenüber war man skeptisch. Schließlich war er weiterhin ihr Arbeitgeber. Aber selbst Josef Kollmann, als er um seine Einschätzung gebeten 47 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Nemetz Walter – Leopoldine Fleischmann Aussage (12.07.1945). 48 Ebd. – Maria Wolf (geb. 1922) Aussage (12.07.1945). 49 Ebd. – Roman Nemetz Aussage (10.01.1946). 50 Ebd. – Nemetz an das Staatsamt für Inneres (15.07.1945). 51 StA B, GB 052/Personalakten: Nemetz Walter. 52 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Nemetz Walter – Stadtpolizeiamt Baden (10.11.1948). 53 Ebd. – Stadtpolizeiamt Baden (03.05.1948).
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wurde, gab sich eher bedeckt: Altbürgermeister Josef Kollmann wurde über das politische Verhalten des Walter Nemetz befragt u. gibt an, dass er denselben zwar persönlich kenne, auch weiß, dass er zur NSDAP u. ihren Gliederungen in engeren Beziehungen stand, jedoch über sein staatsbürgerliches Verhalten, nicht als Garant angesehen werden will.54 Nemetz‘ Gesuch um Streichung von den Registrierungslisten wurde jedenfalls im Dezember 1945 negativ beschieden. Erst im Mai 1949 zeigte sich Bundespräsident Karl Renner gnädiger.55 * Mit zahlreichen Parallelen zu Walter Nemetz begegnet uns auch der Fall von Ludwig Schumits jun.56 Laut eigener Aussage trat er erst 1938 der NSDAP bei, andere Quellen sprechen von 1936 – eine freundschaftliche Rückdatierung liegt aber im Rahmen des Möglichen. Seine Motivation, der NSDAP beizutreten sowie auch ein Naheverhältnis zur SS aufzubauen, beruhte laut ihm jedoch nicht auf politisch-ideologischen Überzeugungen, sondern auf der Partnerwahl seines Vaters, Ludwig Schumits sen. Der Senior hatte sich nämlich ausgerechnet in die katholisch getaufte Jüdin, die Schauspielerin Stefanie Weiler, verliebt.57 Ich war daher gezwungen, mit den damals maßgebenden Leuten der SS zu verhandeln und gelang es mir tatsächlich, die Erlaubnis zu erwirken, Frau Weiler unbehelligt aus Baden zu schaffen, obwohl gegen sie ein Haftbefehl erlassen war.58 Laut Meldezettel war Stefanie Weiler bereits am 12. März 1938 nach Wien abgereist. Doch damit waren die Probleme nicht bereinigt. Kaum war diese Schwierigkeit überbrückt, stellte sich heraus, dass mein Vater die Beziehung zu Frau Weiler, welche ich in Wien untergebracht hatte, weiter aufrechterhielt, sodass wiederum mit den schwersten Unannehmlichkeiten zu rechnen war. Auch diese Gefahren konnte ich glücklich abwenden, stand aber damit bereits mitten im Kreise der Parteigenossen, welche nunmehr alles daran setzten, mich zur Mitgliedschaft bei diversen nationalsozialistischen Verbänden zu bewegen.59 Der SS-Mitgliedschaft konnte er trotzen, nicht jedoch der der NSDAP. Er tat es widerwillig, lernte jedoch die Vorteile zu schätzen, die die Parteimitgliedschaft mit sich brachte, besonders, als es darum ging, die Eisenwarenhandlung des Vaters zu übernehmen. Und hier haben wir dann eindeutige Parallelen zu Walter Nemetz. Denn auch Ludwig Schumits jun. beschäftigte Personal, das dem NS-Regime ein Dorn im Auge war und er gedachte, trotz des Drängens der hiesigen NSDAP, niemanden zu entlassen. Bei seiner Sekretärin, Dr. Hedwig Hirschl, deren Vater Jude war, schaffte er es zumindest bis 1941 – warum sie dann „austrat“, geben die Quellen nicht her. Jedoch war ihre Nach54 55 56 57 58 59
Ebd. – Stadtpolizeiamt Baden an die Bezirkshauptmannschaft (03.08.1948). StA B, GB 054/Registrierungslisten: Nemetz Walter. StA B, Neues Biographisches Archiv; Schumits Ludwig jun. (geb. 1906). Ludwig Schumits sen. (1872–1955), Stefanie Weiler (geb. 1889). StA B, GB 052/Personalakten: Schumits Ludwig jun. – Aussage Schumits jun. (16.11.1945). Ebd. – Aussage Schumits jun. (16.11.1945).
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folgerin, Lotte Storch, ebenso „Mischling“. Ihre Mutter, Dr. Maria Storch, war Jüdin, ihr Vater, Dr. Otto Storch, Arier.60 Man kann davon ausgehen, die finanzielle Last lag nun auf den Schultern der 21-jährigen Lotte Storch, denn ihre Mutter durfte nicht arbeiten und ihr Vater wurde als Universitätsprofessor der Biologie und Zoologie nach dem Anschluss verhaftet und danach zwangspensioniert. Und so wie die Angestellten bei Walter Nemetz dessen Hilfe und dessen Anti-NS-Haltung nach 1945 bestätigten, finden wir bei Ludwig Schumits jun. exakt die gleiche Situation vor: Ich kann bezeugen, dass Herr Schumits sich niemals national-sozialistisch benommen hat, nie das Parteiabzeichen trug und deshalb schwere Anstände mit der Partei hatte. […] Man konnte mit Herrn Schumits ganz offen über die Mitteilungen der Auslandessender sprechen und ich hatte das ganz sichere Gefühl, dass ich es in Herrn Schumits mit einem gut gesinnten Österreicher zu tun hatte.61 Positives über Schumits jun. hatte auch Jakob Aschenbrenner zu berichten. Als Kraftfahrer angestellt, war er oft mit Herrn Schumits allein auf Tour, wobei sich unser Gespräch hauptsächlich um Dauer und Ausgang des Krieges drehte, meine Wohnung war eine Abhörzentrale für verbotene Sender und es verkehrten bei mir Antifaschisten aller heutigen Parteien, um die verbotenen Sender abzuhören. Ich war über den Gang der Ereignisse immer auf dem Laufenden, ich sprach mit Herrn Schumits ziemlich offen darüber, und gewann dabei den Eindruck, dass Herr Schumits in seinem Inneren auch kein Nazi sei. Es gab bei ihm auch keinen Hitlergruß was mir besonders wohltuend auffiel.62 Ludwig Schumits nannte noch weitere Personen, denen er geholfen hatte, wie der Familie Röschl oder dem Architekten Josef Fischer – dieser war mit einer Jüdin verheiratet (siehe Kapitel 24) –, indem er ihm Aufträge zuschanzte. Er erwähnte genauso die französischen Kriegsgefangenen, die er in seinem Betrieb mehr als human behandelt [hatte], was durch die in Baden verbliebene Vertretung der Franzosen heute noch bestätigt werden kann, wie mir von dieser Stelle angeboten wurde.63 Roger Delcambre, der am 1. Juni 1945 wieder französischen Boden betreten hatte, schrieb unter anderem: Sie waren für mich, der ich Gelegenheit hatte, Sie oft zu sprechen, einer der Männer, der nicht seine Denkungsart verbarg und ich bedaure nur, dass Leute Ihrer Aufrichtigkeit sich nicht zahlreicher gefunden haben. Meine Anwesenheit bei Ihnen war für mich, dank Ihrer Fürsorge ein Paradies im Vergleich zu dem, was ich bei den Deutschen mitgemacht habe. Roger Delcambre bat in seinem Brief, die restliche Belegschaft zu grüßen, außer zwei Personen, welche ich wirklich nicht als wahre Österreicher ansehen kann.64 Schumits‘ jun. Einsatz für verfolgte Personen und sein Wegschauen blieb den Parteiinstanzen nicht verborgen, genauso wenig sein abnehmendes Interesse, seine Lebenszeit für die Parteiarbeit zu erübrigen. Laut zwei Beurteilungen, beide 1941 erstellt, ließ Schumits‘ 60 Marie Storch (geb. 1885), Otto Storch (1886–1951). 61 StA B, GB 052/Personalakten: Schumits Ludwig jun. – Liselotte Storch (geb. 1921) Aussage (30.09.1945). 62 Ebd. – Jakob Aschenbrenner (1891–1964) Aussage s.d. 63 Ebd. –Aussage Schumits jun. (16.11.1945). 64 Ebd. – Roger Delcambre (20.02.1946).
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soziales Verhalten zu wünschen übrig und sein Charakter war kein fester. Als Beisitzender des Ehrengerichtes der Gewerblichen Wirtschaft nicht geeignet.65 Seinem Vater, Ludwig Schumits sen., erging es übrigens nicht besser. Er galt als Gegner der NS-Bewegung, wenigstens kein gehässiger, ein Geschäftsmann eben – so die Beurteilung sinngemäß vom Juni 1940. Viel mehr störte eben jene Beziehung zu Stefanie Weiler, die in den NS-Augen von keinem guten Charakter zeugte. Des Weiteren wurde er von einer sehr vertrauenswürdigen bekannten Person – die nicht genannt sein will im Herbst 1939 dabei gesehen, wie er, trotz Verbots, mit Stefanie Weiler spazieren gegangen wäre. Er wurde vorgeladen und musste versichern, die Frau nie wieder zu sehen und ihr auch keine Unterstützung mehr zukommen zu lassen. Er tat es und er bat, jede gegen mich gerichtete Anschuldigung zu begraben und verspreche mit Handschlag die bis jetzt gewesenen Handlungen zu unterlassen, ansonsten ich die Konsequenzen zu ziehen mir bewusst sind [Formulierung im Original].66 Offensichtlich hielt sich Schumits sen. danach auch an sein Versprechen, nicht nur, um sich selbst „Konsequenzen“ zu ersparen, sondern auch seinem Sohn. Denn dieser geriet als Parteimitglied immer mehr ins Hintertreffen. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass ich trotz der anfangs durch meine Parteimitgliedschaft zweifellos eingetretene Erleichterung meiner Situation, schließlich durch diese mehr Nachteile als Vorteile erlitten habe, was ich besonders in den letzten Jahren in krasser Weise auswirkte […].67 Denn während die Kreisleiter Hermann und Hajda sich mit negativen Beurteilungen begnügten, beabsichtigte Kreisleiter Gärdtner, seinem Treiben nicht tatenlos zuzusehen und machte Tabula rasa. Sie sind wiederholt bei einer Dienststelle der Kreisleitung erschienen und haben bei keinem Ihrer Besuche das Parteiabzeichen getragen, trotzdem Sie jedes Mal durch den Dienststellenleiter deswegen zur Rede gestellt wurden. Ihr Verhalten lässt auf eine grobe Interessenlosigkeit gegenüber der NSDAP schließen. Parteigenossen, die absichtlich aus Interessenlosigkeit das Parteiabzeichen nicht tragen, sind nicht würdig, länger in den Reihen der Bewegung zu sein.68 Bestätigt wurde Schumits‘ Anti-NS-Haltung auch durch den Rechtsanwalt Franz Eckert, der als engagierter Heimwehrmann nach dem Anschluss selbst gewisse „Konsequenzen“ über sich ergehen hatte lassen müssen. Im Jahre 1938 beeilte sich Schumits allerdings, den Anschluss an die neue Richtung zu gewinnen, was ihm auch gelang. Mir ist jedoch bekannt, dass er hierfür einige recht schwerwiegende wirtschaftliche und familiäre Gründe hatte. Tatsächlich wurde es auch sehr bald bekannt, dass Schumits nicht gesinnungsmäßig, sondern lediglich aus anderen Gründen die Mitgliedschaft der NSDAP erworben hatte, weshalb er von dem damaligen Kreisleiter Gärdtner in hartnäckiger und erbitterter Weise verfolgt wurde, bis dieses Werk durch den Ausschluss aus der NSDAP und die Einziehung zum Militär trotz mehrfacher u.k. Stellung gekrönt wurde.69 65 66 67 68 69
Ebd. – Beurteilung (19.08.1941). StA B, GB 052/Personalakten: Schumits Ludwig sen. – Polizeiprotokoll (04.10.1939). StA B, GB 052/Personalakten: Schumits Ludwig jun. – Aussage Schumits jun. (16.11.1945). Ebd. – Gärdtner (02.10.1944). Ebd. – Franz Eckert Aussage (03.06.1946).
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Nun könnte man meinen, ein klarer Fall für eine Streichung nach 1945, doch es finden sich Widersprüche und geschönte Angaben. Das Beitrittsdatum hatte er falsch angegeben, und zwar zwei Mal. Einmal nach 1938 und einmal nach 1945. Seine Kontakte zur SS und zu SD-Granden wie Hermann Krebs und Friedrich Breker, – vor diesen beiden soll Baden gezittert haben (siehe Kapitel 4 Exekutive) –, denen er laut Klinger als Verbindungsmann gedient haben soll, und die „Arisierung“ der Villa in der Albrechtsgasse 6, des Ehepaares Imre und Kota Pirnitzer, wo zeitweise Generalfeldmarschall Günther von Kluge einquartiert gewesen war, klammerte er weitgehend aus. Verdächtig machte ihn ferner, dass all seine Akten durch den Polizisten Erich Donig, der für Klinger nichts weiter als ein Verräter war, nach 1945 vernichtet worden seien.70 Des Weiteren war Schumits jun. bei der Misshandlung des ehemaligen Hauptschuldirektors Josef Tilp anwesend gewesen (siehe Kapitel 1). Er selbst jedoch gab an, bloß das Exekutivkomiteemitglied Leopold Mayer gesucht zu haben, um sich im Falle von Stefanie Weiler dessen Gunst zu sichern. Als er merkte, dass Mayer nicht vor Ort war, verließ ich das Haus und ging zu Fuß nach Hause.71 Das jedoch erwies sich als Lüge. Friederike Tilp gab an, dass der Angeklagte Schumits während dieser Misshandlung ihres Gatten im Zimmer gestanden sei und dazu höhnisch gelacht habe. Beide Ehegatten Tilp kommen aber überein, dass der Angeklagte Schumits sich im Übrigen in ihrer Wohnung vollkommen passiv verhalten und sich weder an den Misshandlungen noch an der Durchsuchung der Wohnung beteiligt habe. Josef Tilp hat noch angegeben, dass der Angeklagte es anscheinend eilig hatte, während Frieda Tilp das Gegenteil angab. Es wurde ferner bestätigt, dass Schumits jun. tatsächlich jemanden gesucht hatte und erst eingetroffen war, als die Misshandlungen bereits im Gange gewesen waren. Aufgrund dessen musste daher der Angeklagte zumindest in dubio pro reo von der Anklage wegen Mittäterschaft am Verbrechen der Quälereien und Misshandlungen freigesprochen werden.72 Das Gericht sprach ihn auch von dem Vorwurf der Illegalität und einer „besonders verwerflichen Gesinnung“ frei. Sein Beitritt wäre aus Opportunitätsgründen erfolgt. Die von ihm nach 1938 behauptete Illegalität diente hauptsächlich dazu, beim Wohnungsamt bevorzugt zu werden. Und was den Vorwurf der Misshandlung des Ehepaares Tilp anbelangt, so wurde er zwar der Lüge überführt, aber nicht der Misshandlung. Auch an ihm schieden sich die Geister bzw. an dem gesamten Milieu, dem er offenbar angehörte. Es war eine Welt von Menschen, die durchaus deutsch, großdeutsch, nationalistisch und nationalsozialistisch dachte, aber eben nicht ganz auf NS-Linie waren. Nach 1945 finden wir Ludwig Schumits im Dunstkreis um Willibald Hauer, Direktor der Korksteinfabrik in Mödling, der als Parteimitglied seine jüdische Exfrau gedeckt hatte (siehe Kapitel 9). Wir haben ferner ein Naheverhältnis zum „Mischehepaar“ Hermann und Elisabeth Trenner (siehe Kapitel 24). Die polizeilichen Recherchen nach 1945 ergaben, dass bei solchen Treffen, bei Schumits zu Hause, reichlich Speis und Trank aufgetischt worden 70 Vgl. ebd. – Stadtgemeinde an die Bezirkshauptmannschaft. (01.07.1947). 71 Ebd. – Aussage Schumits jun. (25.07.1946). 72 Ebd. – Urteil Landesgericht Wien. (01.10.1948).
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sei. Diese Nahrungs- und Genussmittel kommen im Tauschwege für Geschirr und Eisenwaren und auch durch die Russen in’s Haus. Da die Frau Elisabeth Trenner eine geborene Jüdin war, so hatte sie unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu leiden und wurde von dem Illegalen und V.M. des S.D. Ludwig Schm. jun. gewarnt und beschützt. Als Gegenleistung unternahmen danach Elisabeth und Hermann Trenner alles in ihrer Macht Stehende, um sich zu revanchieren. Als es darum ging, Ludwig Schumits jun. aus der Untersuchungshaft herauszuboxen, soll Elisabeth Trenner eine entscheidende Rolle dabei gespielt haben. Denn sie hatte einen gewichtigen Vorteil auf ihrer Seite, den die meisten Badener nicht hatten – als in Russland Geborene beherrschte sie die russische Sprache. Alois Klinger, der viel unternahm, um Ludwig Schumits jun. nicht dermaßen billig davonkommen zu lassen, biss sich an Elisabeth Trenner jedoch die Zähne aus. Bemerkt wird, dass zwei Stabsoffiziere von der Sowjet-Armee beim Schumits am Hauptplatz 21 gewohnt haben, welche auch über die geschilderten Vorgänge Angaben machen könnten. Vertraulich kann man nicht alles genau feststellen, weil der Verkehr zwischen den Russen und der Frau Elisabeth Trenner, welche auch die russische Sprache beherrscht, ein zu delikater ist.73 Sprache ist Macht und wenn man die richtige zur richtigen Zeit beherrschte, konnte es über Sein und Nichtsein entscheiden – dazu später mehr. * Vergleichen wir Walter Nemetz und Ludwig Schumits jun., haben wir interessante Überschneidungen. Beide waren beim Anschluss relativ „jung“, durchaus offen für das „Deutsche“, den nationalen Sozialismus und beide suchten nach dem Anschluss den Anschluss bzw. hatten ihn schon davor ins Auge gefasst. Beide scheuten sich nicht, sich mit Männern der SS oder des SD abzugeben, oder, wie bei Nemetz, sich das Doppel-SS selbst ans Revers zu heften. Trotz Antipathien, Pragmatismus und Opportunismus, sie waren Teil des Systems und profitierten davon, auch wenn der letzte Schritt zur vollkommenen Brutalisierung nicht beschritten wurde. Stattdessen halfen sie Verfolgten und Bedrängten des NSRegimes, dem sie selbst angehörten, und kompromittierten sich aus dieser Gemengelage sowohl vor als auch nach 1945.
Malus – ICD-10 Bevor ich auf den eigentlichen Inhalt der mir zur Last gelegten Handlungen eingehe, will ich vorerst angeben, dass ich am 1.XI.1936, wegen kommunistischer Umtriebe und Aufreizung gegen Stadt und Volk in Stuttgart, wo ich als Arbeiter bei der Straßenbahn bedienstet war, verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau überstellt wurde. Dann kam der Inhalt, auf den Paul Göbel, geboren in Herten (Westfalen), vorerst nicht eingehen wollte. Lieber 73 Ebd. – Ermittlungen Stadtgemeinde s.d.
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erzählte er noch davon, dass er, nachdem er 1939 ins KZ Mauthausen überstellt worden war, sich dort, zum Blockältesten ernannt, in punkto Verpflegung für meine Mithäftlinge einsetzte, Brot und Speisereste zur Seite gestellt habe und dafür anlässlich einer Kontrolle des Diebstahls bezichtigt und mit 42 Tagen Arrest und 25 Stockhieben bestraft wurde. Nach Verbüßung der Freiheitsstrafe kam ich zur Strafkompanie und nach längerer Zeit als Facharbeiter in die Steyrwerke nach Steyr. Nach ca. 6 Monaten kam ich strafweise nach Mauthausen zurück, weil ich im Begriff war, eine Freiheitsbewegung zu gründen und deshalb mit Zivilpersonen in Verbindung getreten war.74 Zurück in Mauthausen, wurde ihm klar gemacht, dass er demnächst aus dem Leben scheiden werde. Dass es nicht dazu kam, verdankte er einerseits dem Umstand, dass der Schutzhaftlagerführer, SS-Obersturmsführer Georg Bachmayer, gerade auf Urlaub war und andererseits dem Eintrag in eine Liste, die ihm die Versetzung nach Wiener Neudorf, in eine Wäscherei, ermöglichte. Von dort schaffte er es, nach Baden zu flüchten und sich fallweise, mit Hilfe Gleichgesinnter, in der Kurstadt und in Hinterbrühl versteckt zu halten. Über den Inhalt, auf den er dann zu sprechen kam, lassen wir vielleicht andere referieren, wie Josef Kohl, Leiter der Volkssolidarität in Wien, oder den Beamten der Staatspolizei aus Mödling, Ludwig Jakob. Paul Göbel ist mir als Blockältester im KZ Mauthausen bekannt. […] Er war ein schwerer Schläger und ich habe beinahe täglich gesehen, wie er Häftlinge anderer Nationalitäten aufs schwerste misshandelt hat. […] Ich kann bestätigen, dass er Häftlinge derart misshandelte, dass diese am Boden liegen blieben. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob diese tot waren. Ludwig Jakob ergänzte: Auch hatte er verschiedene Häftlinge unter die kalte Dusche gestellt bis sie umfielen. Ob die Betreffenden tot waren, kann ich heute nicht mehr angeben. Obwohl G. einen roten Winkel trug, wurde er von uns politischen Häftlingen als solcher nicht anerkannt. Dies mag vielleicht der Grund sein, warum Göbel nicht in seine engere Heimat zurückkehrt.75 Paul Göbel leugnete die Taten bzw. er rechtfertigte sie damit, dass es Befehle der Lagerleitung waren. Widerspruch oder gar Nichtbefolgung wären tödlich gewesen. Und er argumentierte, dass es für die Häftlinge immer noch besser gewesen war, wenn er das Urteil sprach und die Strafe vollstreckte, als beides der Lagerführung zu überlassen. Was wir hier haben, war nichts Ungewöhnliches in dieser Welt dort, hinter Stacheldraht und Wachtürmen und angesichts der Möglichkeit, jederzeit ermordet zu werden. Ich würde sagen, wir haben hier einen Fall von sadistischem Rationalismus. Wie verworren es zwischen 1938 und 1945 zugehen konnte, sehen wir auch bei Peter Esch. Geboren in St. Petersburg, aufgewachsen in Frankreich, trat er laut eigener Aussage im September 1941 der französischen Legion als Dolmetscher bei. Von Frankreich aus kam er dann nach Polen, erhielt eine deutsche Wehrmachtsuniform und über dem linken Arme eine französische Trikolore übergestülpt. Nur wenige Monate später zog er sich im Osten schwere Erfrierungen zu, landete dann in einem Lazarett in Radom, von wo er im Jänner 1942 nach Baden, in den Peterhof, gelangte und hier seine Frau kennenlernte. Nach 74 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten; Göbel Paul (geb. 1905) – Aussage (26.09.1946). 75 Ebd. – Josef Kohl (geb. 1890), Ludwig Jakob Aussage (geb. 1912) Aussagen (24.09.1946).
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der Hochzeit ging es zurück nach Frankreich, von dort nach Wien, anschließend nach Wiener Neustadt, wo er bei den Flugzeugwerken unterkam – als Lagerführer. Und dort soll er, so die Vorwürfe, ausländische Arbeiter misshandelt haben, der SS beigetreten sein, gegen die Sowjetunion gekämpft und sich als Volksdeutscher ausgegeben haben. All das bestritt er. Er sah sich als staatenloser Russe, der in eine Wehrmachtsuniform gepresst worden war und an der Ostfront als Dolmetscher zwischen Deutschen und Franzosen seinen Dienst versehen musste.76 Wenn wir die Wahrheitssuche einmal beiseitelassen und seinen Ausführungen Glauben schenken, so zeigt sich, auch wenn nur die Hälfte wahr wäre, die pure Dynamik mancher Lebensläufe. Allein die geographischen Wechsel sind beeindruckend. Im Falle von Peter Esch ein Pendeln zwischen Ost und West, zwischen verschiedenen politischen Systemen und natürlich Identitäten und Selbstwahrnehmungen – da können schon mal Welten durcheinanderkommen. Aber was stimmte nun, wenn wir uns die einzelnen Erzählstränge ansehen, egal ob bei ihm oder in den Fällen zuvor? Die Antwort könnte recht banal ausfallen: Vielleicht jeder einzelne? Der Widerspruch ist an sich nichts Sonderbares. Nichts spricht dagegen, während der Zeit des NS-Regimes die Karriereleiter eifrig erklommen, Macht erlangt, Vermögen erwirtschaftet bzw. grundsätzlich ein schönes Leben geführt zu haben – zumindest zeitweise –, um dann vom Profiteur zum Ausgestoßenen, Verfolgten oder Eingekerkerten abzustürzen. In solch dynamischen Zeiten wie zwischen dem Anschluss 1938 und dem Untergang 1945 war so etwas nichts Ungewöhnliches. Es spricht auch nichts dagegen, seinen Mitmenschen zu helfen und gleichzeitig anderen Mitmenschen das Leben schwer zu machen. Es spricht nichts dagegen, dass ich meinem Nachbar links von mir das Leben rette, während ich den rechts von mir ans Messer liefere. Die Lokalgeschichte – sofern es die Quellen zulassen – bietet die wunderbare Möglichkeit, liebgewonnene Denkmuster aufzubrechen. Ein vorhandenes Schwarz-Weiß-Denken kann Risse bekommen. Unsere Protagonisten haben nun einmal Tiefe. Wie im Vorwort erwähnt, wir bewegen uns auf ganz persönlichen Ebenen, und noch dazu haben wir es mit gewöhnlichen Menschen zu tun und keinen Heroen der Geschichte, die ansonsten die Geschichtsbücher schmücken. Dadurch wird die Geschichte unmittelbarer und nachvollziehbarer – jedenfalls für mich. Wir haben dann nicht nur die Pole Opfer und Täter sowie die ganze Bandbreite dazwischen, sondern die Gleichzeitigkeit von Täter- und Opfersein, von Zusehern, Wegsehern, Pragmatikern, Opportunisten usw. – je nach Situation und aktueller Lebenslage. Und diese Gleichzeitigkeit können wir bei den unterschiedlichsten Charakteren antreffen. Es wirkt erstaunlich – wie gesagt, ich gehe in den allermeisten Fällen von mir aus, also von meinem Erstaunen –, dass fallweise alte Parteigenossen, die bereits in den 20er Jahren der NSDAP-Ortsgruppe beitraten, halfen sie mitaufzubauen, nicht einmal die radikalsten waren bzw. nicht so in Erinnerung blieben, zumindest nicht bei dem „Halbjuden“ Ernst Röschl. Seine Zeitzeugenberichte fügen dem Bild manch führender Nationalsozialisten in 76 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Esch Peter (geb. 1900).
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Baden eine ungewohnte Facette hinzu – was auf keinen Fall bedeuten soll, dass ihre sonstigen Taten dadurch in Abrede gestellt werden. Stadtrat Karl Bergauer, führend in der Stadtverwaltung und beim KdF, ursprünglich Sozialdemokrat, der 1933 oder 1934 zu den Nationalsozialisten gewechselt war, organisierte regelmäßig Bauerntheater im Hotel „Stadt Wien“, bei dem er Ernst Röschl mitarbeiten ließ, auch wenn es die Kreisleitung nicht gerne sah. Josef Brandstetter, einer der wichtigsten Männer neben Schmid im Badener Rathaus, war laut Röschl ein Edelnazi aus Überzeugung, der dennoch dafür sorgte, dass er (Ernst Röschl), nicht zum Festungsbau auf die Kanalinseln verfrachtet wurde, sondern im Technischen Notdienst (TN) in der Grabengasse unterkam. Wohlwollende Worte hatte Röschl auch für den Hauptortsgruppenführer Maximilian Rothaler, der von anderen Zeitzeugen als ein radikaler Nazi bezeichnet wurde. Ihm (Ernst Röschl) jedoch stand er mehrmals zur Seite. Den Chefredakteur der Badener Zeitung, Franz Laval, bezeichnete Röschl sogar als „arm“, als jener von den Besatzungsmächten festgenommen wurde. In seinen Augen war Laval eine bloße Marionette des NS-Regimes, der die NS-Propaganda nachplappern musste und kein, wie ihm die Nachkriegsmachthaber vorwarfen, „böser Nazipropagandist“ war. Und selbst dem Badener Bürgermeister Franz Schmid konnte er ein paar gute Seiten abgewinnen. Als die in Baden verbliebenen Juden den Beinamen Sara oder Israel annehmen und sich deswegen im Rathaus einfinden mussten, soll Schmid dafür gesorgt haben, dass es zu keinen Schikanen gekommen wäre.77 Dass Schmid in Bezug auf das Judentum und den Judenhass nicht zu den Hardlinern gehörte – auch wenn wir bereits reichlich Aussagen aus seinem Munde hörten, die dem eindeutig widersprechen –, davon wusste neben Ernst Röschl auch Josephine Dawson zu berichten. Sie war Schmids Großnichte und ihre Mutter, Marie Winkler, hatte bei ihm den Status einer Lieblingsnichte. Und ausgerechnet diese Lieblingsnichte war in erster Ehe mit einem strenggläubigen polnischen Juden, Karl Bodek, verheiratet.78 Sie war sogar dazu gezwungen gewesen, zum Judentum zu konvertieren. Die aus dieser Ehe entstammten Kinder, zwei Töchter – eine davon Josephine Dawson –, beide jüdisch erzogen und in den jüdischen Matriken eingetragen worden. Laut Josephine Dawson hatte ihr Großonkel keine Probleme mit ihrem jüdischen Vater gehabt und auch sonst, erinnerte sie sich, wären in Schmids Bekanntenkreis immer wieder Juden anzutreffen gewesen. Als ihr Vater 1928 gestorben war, war ihre Mutter wieder der katholischen Kirche beigetreten, hatte ihre Kinder taufen lassen und ein zweites Mal geheiratet. Diesmal einen tiefschwarzen Ökonomierat aus dem Marchfeld, Josef Winkler, der in Kreisen von CSP-Größen wie Karl Buresch und Leopold Figl verkehrt hatte. Dass Schmid zu seiner Nichte ein sehr innige Beziehung aufgebaut hatte, dass konnte selbst Alois Klinger nicht in Abrede stellen.79 Auch beim Ehemann Nummer 2 seiner Lieblingsnichte, soll Schmid keine Anstalten 77 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 35. 78 Josephine Dawson (1924–2007), Marie Winkler (1895–1945), Karl Bodek (1880–1928). 79 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Mappe III – Amtsbericht (10.06.1946).
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gemacht haben. Er hatte ebenso ein gutes Verhältnis zu ihm gepflegt, ihm nach dem Anschluss sogar die Rutsche für den Parteibeitritt gelegt. Des Weiteren soll Schmid seine Großnichten, die laut den Nürnberger-Rassegesetzen schließlich Halbjüdinnen waren, weder verleugnet noch verstoßen haben und seine schützende Hand hatte bisweilen bis in Klassenzimmer gereicht. Er hatte sich mit ihnen demonstrativ in der Öffentlichkeit gezeigt, sie hatte ihn ins Theater begleitet und waren gemeinsam in seiner Loge gesessen. Sie waren Teil seiner Welt gewesen, die sie als Kinder sicher nicht ganz verstanden hatten. Dafür hatten sich andere Erinnerungen eingeprägt, wie der Göring-Besuch. Allerdings nicht wegen dem NS-Superstar per se, sondern weil am Tag vorher hatten sie verdorbene Sardinen gegessen und so kam es, dass sie immer abwechselnd „Heil Göring“ schreien und speiben mussten.80 Schmids fallweise ambivalentes Verhältnis zum Judentum begegnet uns bei mehreren NS-Anhängern und Parteimitgliedern. Der Antisemitismus war generell stark ausgeprägt. Juden waren Sündenböcke für fast alles, und sie waren der Fluch der arischen Rasse und durchgehend Opfer der antisemitischen Schwachsinns-Propaganda. Aber es dominierte oftmals das „anonyme Judentum“. Wenn es nämlich Juden aus dem näheren Umfeld betraf, Personen die man kannte, Menschen, denen man freundschaftlich oder familiär verbunden war, dann wurde der NS-Rassenhass nicht ganz so orthodox ausgelegt. Josephine Dawson erzählte, dass ungefähr zwei Monate nach dem Anschluss ihr Großonkel ganz aufgelöst und mit Tränen in den Augen bei ihnen erschienen war. „Das is a Wahnsinn, was die jetzt machen mit den Juden, aber ich kann jetzt nicht mehr heraus, ich bin zu hoch oben. Ich will nicht Gauleiter werden oder irgendwas, ich will jetzt nur mehr schauen, dass ich für Baden das Beste tu.“81 Sein Bestes soll Schmid, laut Josephine Dawson, auch bei der „Arisierung“ des Hauses Wilhelmsring 45 gegeben haben. Als Käufer traten seine Nichte und ihre Ehemann auf, Verkäufer waren das jüdische Ehepaar Ignatz und Jelle Spielmann.82 Da das Ehepaar Spielmann nach Schweden flüchten wollte, soll Schmid vorgeschlagen haben, einen äußerst niedrigen Kaufpreis festzumachen und die Differenz dann „schwarz“ auszuzahlen, da ansonsten das meiste Geld auf einem Sperrkonto oder durch irgendeine „Schikane-Steuer“ verloren gehen würde. Damit hätten die Winklers das Haus günstiger erwerben können und die Spielmanns über nicht behördlich erfasstes Bargeld verfügen. Was aus Ignatz und Jelle Spielmann wurde, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Schmids Lieblingsnichte hingegen, Marie Winkler, wurde am 2. April 1945 am letzten Kriegstag in Baden durch eine Bombe getötet. Ihr Onkel hatte sich derweilen in den Westen abgesetzt. Es wirkt irgendwie komisch, im Sinne von seltsam, dass ausgerechnet zwei „Halbjuden“, Josephine Dawson und Ernst Röschl, der Kommunist obendrein war, für einen Mann wie Franz Schmid, einem wahrlich überzeugten Nationalsozialisten, punktuell in die Bresche sprangen. Bei seiner Großnichte könnte man es noch eher verstehen, schließlich erfreute 80 WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 37. 81 Ebd. 82 Ignatz Spielmann (geb. 1866), Jelle Spielmann (geb. 1879).
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sich ihre Mutter seiner besonderen Zuneigung. Bei Ernst Röschl sieht es anders aus. Womöglich war er ein Mensch, dessen Welt nicht aus Schwarz und Weiß bestand – weder vor 1945 noch danach. Was nicht bedeutet, dass er allen NS-Größen in Baden einen Blankoscheck ausgestellt hätte. Es gab Akteure, da erübrigte sich für Röschl jegliche Diskussion. Zu ihnen gehörte Josef Hammerschmidt. Der Mann, der uns schon des Öfteren begegnet ist und dessen Welt aus Hass und Gewalt bestand, war neben dem Amtsarzt Robert Fischer die zweite Person, deren Wiederkehr unerwünscht war. In seinem förmlichen Machtwahn, gegen den niemand aufmucken durfte, hat Hammerschmidt die Vg. auch wegen jeder Lappalie zur Anzeige gebracht. Wenn sich Letzterer nach Baden traut, so besteht die Gefahr, dass die durch ihn geschädigten an ihn Lynchjustiz üben würden.83 Auf sein brutales Vorgehen gegenüber der jüdischen Bevölkerung wurde zuvor in mehreren Kapiteln ausführlich eingegangen. Doch es waren nicht diese Menschen, die ihm nach 1945 nach dem Leben trachteten, diese waren schließlich vertrieben oder weilten nicht mehr unter den Lebenden. Es waren wie bei Robert Fischer die ehemaligen Volksgenossen, die nun nach Rache dürsteten. Gründe hatten sie zur Genüge, denn Hammerschmidt war in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bei der Weinbeschlagnahmung etc. gegen die Weinhauer, Geschäftsleute vorgegangen, wobei er gegen politische Andersdenkende sich rigoros benommen hat. Sein unerbittliches Verhalten gegenüber Hamsterern und Schleichhändlern war jedoch mit seinem eigenen Treiben kollidiert. Obwohl Hammerschmidt gegen Nichtparteigenossen kleinlich war, so war er für seine Person ein großer Egoist und ist jeden Sonntag mit seinem Motorrad auf Hamsterfahrten beim Bürgermeister Ott in Pottendorf, im Burgenland etc. aus gewesen. Hierüber getraute sich damals aber niemand auch nur aufzumucken.84 Das Drohen mit KZ war aus seinem Munde pure Routine. Willkürliche Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen, ohne Absprache mit den Sicherheitsbehörden, gehörten ebenso zu seinen üblichen Vorgehensweisen. Zu seinen Opfern gehörte unter anderem Elise Srnka (siehe Kapitel 23), die von Karl Zeller und Hammerschmidt zugleich attackiert wurde, weil sie angeblich Eier unterschlagen hätte. Seinen Sadismus zu spüren bekam auch die Familie Bauer. Bei Karl Bauer, der denunziert wurde, unrechtmäßig größere Mengen an Wein zu besitzen, verlief die Hausdurchsuchungen Ende 1942 zuerst einmal ergebnislos. Genauso ergebnislos verlief die Hausdurchsuchung bei seiner Mutter Maria und seinem Bruder Josef Bauer.85 Nicht jedoch in dem Haus in der Leesdorfer Hauptstraße 68, wo nur mehr der Keller als Weinlager diente und der Rest vermietet war. Mehr als 5000 Liter Wein wurden vorgefunden. Der Besitz war zwar lückenlos legal, doch das interessierte Menschen vom Schlage eines Hammerschmidts nicht. Er beschlagnahmte den gesamten Weinvorrat und ließ Josef Bauer verhaften. Zwei Wochen dauerte die Untersuchungshaft. Im Jän83 StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef – Stadtgemeinde an Bezirkshauptmannschaft (26.10.1946). 84 Ebd. – Amtsbericht (01.03.1946). 85 Karl Bauer (geb. 1907).
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ner 1943 wurde Bauer zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Zeitgleich wurde er fristlos gekündigt, seine Motorrad wurde beschlagnahmt und trotz eines Herzleidens musste er einrücken – die sechsmonatige Haftstrafe war nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Bei der Wehrmacht verblieb er nicht lange bzw. sechs Wochen verbrachte er im Lazarett, von wo es nach seiner Entlassung – er war vollkommen untauglich – direkt ins Badener Krankenhaus ging. Mein Bruder wurde im Krankenhaus noch zweimal aufgefordert, seine noch ausstehende Strafe von 6 Monaten Gefängnis zu verbüßen, jedoch die Ärzte gaben ihn nicht frei, da er nicht transportfähig war. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich und im April 1944 starb er im Rath’schen Krankenhaus in Baden.86 Josef Hammerschmidt hatte, wie Robert Fischer, auch keine Skrupel gegen Parteigenossen vorzugehen. Der Kaufmann Franz Rautek, der vor 1938 mit der schwarzen Stadtführung bestens vertraut war, fürchtete nach 1938 den wirtschaftlichen Ruin. Mittels ihm wohlgesonnener Nationalsozialisten schaffte er es, sich eine Illegalität herbeibestätigen zu lassen, die allerdings dermaßen an den Haaren herbeigezogen war, dass ich von maßgeblichen Parteifunktionären weder als Parteigenosse, geschweige denn als Illegaler gewertet wurde!87 Im Mai 1938 trat er dann wirklich der Partei bei und erhielt dafür 1939 eine Lokalität für sein Fischgeschäft. Als er sich im August 1940 übervorteilt vorkam und sich beim Ernährungsamt und der Kreisbauernschaft beschwerte, machte ihn Franz Eckl zuerst einmal darauf aufmerksam, wie man mit einem Amt in der NS-Zeit zu verkehren habe. Diese Umgangsformen wundern mich nicht weiter, da ich ja genau weiß, wie Sie sich vom ehemaligen Bürgermeister Kollmann Ihre Gewerbeberechtigung erworben haben und in welcher Form Sie sich Ihrer Konkurrenz gegenüber benommen haben. Bei der Nachprüfung dürfte diese Handlungsweise kaum nationalsozialistisch gefunden werden.88 Und auch Hammerschmidt, der ebenso Fischhändler war, gab ihm zu verstehen, wie der NS-Staat nun so funktioniere. Legen Sie den veralteten Begriff Konkurrenz zum alten Kram und verhalten Sie sich als Nationalsozialist einem Parteigenossen gegenüber. Dann werden wir in Zukunft gemeinsam alle auftauchenden Schwierigkeiten bereinigen können und zwar zur Zufriedenheit beider.89 Doch dazu sollte es nicht kommen. Franz Rautek war nicht genug Nationalsozialist und es dämmerte den echten Nationalsozialisten, dass ihm die 1939 zugesprochene Fischhandlung eigentlich nicht zustehe. Durch Gärdtners und Hammerschmidts Intervention musste Franz Rautek schließlich Anfang 1944 einrücken, und zwar zur Kriegsmarine nach Sylt. Dort hätte er beinahe eine UK-Stellung ausgefasst, wenn diese nicht von Baden aus vereitelt worden wäre.90 Und bevor Rautek nach Sylt abkommandiert wurde, bat er den Kaufmann Rudolf Meixner, seiner Frau in der Fischhandlung zu helfen. Rudolf Meixner willigte ein, fuhr eine Ladung Fische 86 87 88 89 90
StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef – Aussage Karl Bauer (29.10.1946). StA B, GB/052 Personalakten: Rautek Franz (geb. 1893) – Aussage Rautek (21.01.1946). Ebd. – Eckl an Rautek (17.08.1940). Ebd. – Hammerschmidt an Rautek (16.08.1940). Vgl. ebd. – Aussage Paul Gläser (07.11.1945).
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von Wien nach Baden, als prompt nach seiner Rückkehr das Telefon klingelte. „Sollten Sie sich weiterhin in das Geschäft des Rautek einmischen, wird es Ihnen genauso wie ihm ergehen!“ Meine Vermutung geht dahin, dass dieser tel. Anruf durch Hammerschmidt erfolgt war.91 Zahlreiche Gemeinsamkeiten weist auch der Fall Rudolf Hein auf. Ihn brachte Josef Hammerschmidt 1939 als Chefkoch in der Badener Wohltätigkeit unter. Als Voraussetzung musste Rudolf Hein jedoch der NSDAP beitreten. Einige Zeit später wurde er bereits aufgefordert, Hammerschmidt beim Austragen der Lebensmittelkarten behilflich zu sein, was Hein ebenso tat, um nicht undankbar zu erscheinen. Doch die Parteiarbeit nahm an Intensität zu und es wurden Dinge vom ihm verlangt, die er, laut eigener Aussage, als ein christlich erzogener Mensch nicht bereit war zu leisten. Als ihn daraufhin die Ortsgruppe zum Rapport bestellte, er aber dennoch auf seinem Standpunkt beharrte, endete seine Parteimitgliedschaft im Februar 1944. Einige Monate später musste ich fühlen, was es heißt Gegner der Partei zu sein, denn ich wurde trotz meines fünfjährigen A.v. Befundes infolge meiner Leiden plötzlich für tauglich erklärt und musste am 9. Oktober 1944 einrücken und bin nun als schwer kranker Mensch nach Hause gekommen. 92 Sowohl Hein als auch Rautek schienen das NS-Regime oder vielleicht auch nur Josef Hammerschmidt schwer enttäuscht zu haben. Die Gunst wurde ihnen entzogen, aber das alleine reichte nicht, sie mussten bestraft werden. Während sie 1944 zur Wehrmacht eingezogen wurden, um gegen den Feind zu kämpfen, besetzte Josef Hammerschmidt im September 1944 – einfach so – eine Wohnung am Hötzendorfplatz 8. Die Besitzerin, Marie Masak, ließ es geschehen, sie wusste, mit wem sie es da zu tun hatte und sie war mit ihrem neuen Mieter nicht einmal in Kontakt getreten. Als die Rote Armee bereits im Anmarsch war, waren für Marie Masak die Sowjets nicht die einzige Quelle ihrer Angst. Der Feind befand sich auch in den eigenen vier Wänden. Hammerschmidt gab großspurig von sich, dass sich seine Angehörigen nach dem Westen flüchten sollen, denn er sterbe ja ohnehin für seinen geliebten Führer. Er tat es nicht, aber dafür erklärte er Marie Masak, sie solle ja nicht glauben, dass ihr Haus verschont bleibe, denn es werde ja doch auch weggeräumt werden. Tatsächlich habe die Frau Marie Massak beim Anmarsch der Sowjet-Armee, im April 1945, am Dachboden […] eine halbangebrannte Pechfackel vorgefunden, welche aus dem Besitze des Josef Hammerschmidt herstammen solle und zum großen Glück vorzeitig verlöscht ist, wodurch die Inbrandsetzung des Hauses Baden, Hötzedorfplatz Nr. 8 und ein großes Unglück verhütet wurde. Klinger schrieb im Falle von Hammerschmidt von Machtwahn und Fanatismus, niemand hätte sich getraut, gegen ihn und seine Familie vorzugehen, selbst nach 1945, obwohl sie nicht mehr vor Ort waren. Ehemalige Nachbarn fürchteten bei einer Aussage deren Racheaktionen und baten daher [um] die Geheimhaltung ihres Namens, weil die Beschuldigten, welche selbst keine Kinder haben, nicht einmal die unschuldigen Kinder anderer 91 Ebd. – Aussage Rudolf Meixner (18.11.1945). 92 Seinem Antrag wurde anfänglich stattgegeben, jedoch 1948 revidiert, da er Karl Kwasniofsky denunziert hatte (siehe Kapitel 25 Gesindel). StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hein Rudolf (1907–1982).
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Nichtparteigenossen verschont und mit den gemeinsten Beleidigungen (wie Verbrecherseelen etc.) belegt haben […].93 Auch für Ernst Röschl war die Sachlage klar: Alles in allem ist die gesamte Familie Hammerschmidt unter der Führung des Mannes eine schwer verbrecherische Nazibande gewesen.94 Josef Hammerschmidt war nicht der einzige Nationalsozialist, gegen den Ernst Röschl aussagte und über den er nichts Wohlwollendes zu berichten hatte. Auch später, Jahre nach Kriegsende, war er darauf erpicht, dass die Geschichte des Nationalsozialismus „ordentlich“ erzählt werde. So geriet er mit dem späteren Bürgermeister, Viktor Wallner, aneinander, weil dieser in seinen Augen zu revisionistisch mit der NS-Zeit in Baden und zu kulant mit so manchen Badenern und ihrer braunen Vergangenheit umging.95 Nach 1945 öffneten sich Welten der Lüge, des Vergessens und der Verdrängung. Aber das ist eine andere Geschichte – zurück ins Jahr 1943. * Extreme Zeiten erfordern extreme Lösungen oder alternative Lösungen. Im Juli 1943 wandte sich die Heilpraktikerin Goede Lina aus Deutsch-Mettkov an die NSDAP-Kreisleitung und behauptete, sie und ihr Ehemann könnten Wasser und Erdöl erfühlen – und das ganz ohne Wünschelrute! Sie wandten die psychophysische und psymetrische Methode an. Die meisten Reichsstellen und Industriebetriebe lehnten dankend ab, ihre ppp-Methode einer Überprüfung zu unterziehen, und das Geologische Institut, das sich hierzu bereit erklärte, wurde wiederum von den Eheleuten Goede abgelehnt, weil sie es für zu voreingenommen hielten. Eigentlich wäre der Fall der Erdöl-Wasser-Erfühlung damit vom Tisch gewesen, doch die Kreisleitung Baden zeigte Interesse. Kreisleiter Hermann kam zu dem Schluss: Haben Goedes mit ihrer Behauptung recht, so kann unsere Wirtschaft, damit der Kriegsführung und dem Reich ein ungeheurer Nutzen erwachsen. Es war doch bekannt, die Wirtschaft litt Mangel, allem voran fehlte es an Treibstoff. Und plötzlich stand da jemand vor ihm, der imstande war, Öl zu erfühlen. Diesen Kelch wollte Hermann nicht an sich vorbeiziehen lassen. Er unterbreitete dem Gauamt für Technik den Vorschlag, die im Zistersdorfer Gebiet bohrende Gesellschaft zu veranlassen, dass sie die Goedes zum Beweis ihrer Fähigkeiten auffordert. Sollte diese Firma nicht zu haben sein, dann halte ich auch einen Versuch zur Wasserfindung für leicht durchführbar. Bei der Vergrößerung unserer Industrie werden oft Wasseradern gesucht, wie das z.B. in Hirtenberg notwendig war (dort wurde ein geologisch-physikalisches Verfahren angewendet).96 Wie es mit der Esoterik für den „Endsieg“ weiterging, geben die Quellen leider nicht her. Aber Obacht, Spott und Hohn ist nicht angebracht, schließlich sollen auch im 21. Jahrhundert Krankenhäuser mit Energieringen ausgestattet worden sein. 93 94 95 96
StA B, GB 052/Personalakten: Hammerschmidt Josef – Zeugenvernehmung Klinger (03.02.1948). Ebd. – Aussage Ernst Röschl (22.11.1946). StA B, Neues biographisches Archiv: Röschl Ernst. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Goede Lina (geb. 1898).
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Dabei hatte aber die Badener Zeitung davor gewarnt, auf Scharlatanerie hereinzufallen. Am 14. April 1943 hielt der Physiker A. Stadthagen im Hotel „Stadt Wien“ einen Vortrag über Okkultismus sowie den Schwindel und Betrug, der sich dahinter verberge. Er zählte prominente Betrüger auf, die rein zufällig alle jüdischer Abstammung waren. Die BZ sah es als ihre Pflicht an, darüber zu berichten und Volksaufklärung zu betreiben – und welch glückliche Zufallsfügung, Aufklärung mit Antisemitismus zu kombinieren.97 Konträrer konnten die beiden Fälle nicht sein, doch waren sie bei Gott nicht die einzigen. Bei der Recherche in der Badener Zeitung stieß ich auf unzählige Artikel, die zusammengenommen vollkommen inkompatibel erschienen, doch die Vielschichtigkeit des Seins – selbst wenn wir uns in einem totalitären Regime befinden – machte diese Bipolarität möglich. Die NS-Propaganda in der BZ faselte von jüdisch-bolschewistischen und mörderisch-pöbelhaften militärischen Hinterhalten. Für sie verneinten die Rotarmisten die Grundsätze der gesitteten Welt und dennoch wurde ihnen von Seiten der deutschen Soldaten nicht mit Hass begegnet – weil die Deutschen aufgrund ihres kühnen und nicht emotionalen Herrenmenschenwesens überhaupt nicht fähig waren, zu hassen. Der deutsche Soldat ist ein anständiger Soldat; er zeigt selbst einem unwürdigen Gegner gegenüber noch immer jene Eigenschaften, die der Angelsachse vermissen lässt. Der deutsche Soldat ist von Natur aus fair – das beweisen sein Verhalten und Auftreten während des ganzen bisherigen Verlaufs des Krieges. […] Der deutsche Soldat kämpft ritterlich für den Sieg seines Volkes. Grausamkeit und nutzlose Zerstörung sind seiner unwürdig.98 Wenn, dann sah der deutsche Landser in seinem sowjetischen Widersacher ein wildes Tier und wir wissen bekanntlich, wie mit wilden Tieren zu verfahren war – emotionsloses Abknallen. Oder wenn medial von Judenherrschaft schwadroniert wurde, dass Juden den Krieg entfacht hätten und damit endgültig ihre schmierige Maske gefallen sei und was dahinter zum Vorschein kam, war eine satanische Fratze, die sich in gemeinsten Hassgesängen und Hetzreden erging und den Wunschtraum Judas der ganzen Welt gegenüber unverblümt ausmalte: die Vernichtung und Ausrottung alles Deutschen mit Stumpf und Stiel und die Beherrschung der Welt zur Ausbeutung und Knechtschaft aller Völker. Diese wahre Enthüllung jüdischen Wesens, Geistes und sadistischer Phantasie kann uns nicht wundernehmen, die wir das widerliche Treiben der anmaßenden fremdrassigen Minderheit in unserem eigenen Lande lange genug mit angesehen haben, bis wir es ganz durchschauten und das Maß zersetzenden und vergiftenden Einflusses zum Überlaufen voll war.99 Es konnte nichts anderes geben als die Herbeiführung der totalen Vernichtung und dass das Judentum an seinen begangenen Kriegsverbrechen endlich zugrunde gehe. Oder ich erinnere an die Hetze gegenüber Menschen, die nicht mehr an den „Endsieg“ glaubten oder Angst vor der Zukunft hatten. Laut der NS-Propaganda alles Feiglinge und Verräter, denen das Maul gestopft gehörte. Zugleich lesen wir in der BZ, dass Bezeichnungen wie Geisteskrankheiten nicht mehr politisch korrekt wären, da es Minderwertigkeit suggeriere und man viel mehr von seeli97 Vgl. BZ Nr. 31 v. 21.04.1943, S. 2. 98 BZ Nr. 59 v. 28.07.1943, S. 1f. 99 BZ Nr. 68 v. 28.08.1943, S. 1.
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schen Störungen sprechen sollte. Noch ist das neue Wissen nicht in weite Kreise gedrungen. Die heutige Meinung geht im Allgemeinen dahin, seelische Störungen seien nicht viel anderes als Geisteskrankheiten oder bedeuten charakterliche Minderwertigkeit, seien jedenfalls ein Zeichen von Entartung oder schlechter Qualität, kurz, etwas, dessen man sich schämen müsste. Nichts könnte verkehrter sein! Gerade bei starkem Seelenleben, feinem moralischem Gefühl besteht die Gefahr zu „falscher Erlebnisverarbeitung“, wie der Seelenarzt es nennt, die dann zu körperlicher Krankheit führt. Es war ein Plädoyer für die Psychotherapie. Wir wollen also nicht weiterhin wie unsere Voreltern an gebrochenem Herzen sterben, sondern gebrochene Herzen heilen – mit Hilfe unserer jüngsten Wissenschaft, der Psychotherapie.100 Wir lesen in der BZ auch über die moderne deutsche Pädagogik. Weder Zucht noch Ordnung und schon gar nicht Prügel galt es anzuwenden, wenn Kinder nicht gehorchten. Gebote statt Verbote bildeten die deutsche Pädagogik. Bewusstes Ankämpfen gegen bereits tief eingewurzelte Gewohnheiten allein durch Willenskraft ist eine Aufgabe, die die Kräfte eines kleinen Kindes sehr oft übersteigt. Es wurde empfohlen mit ruhiger und selbstverständlicher Stimme zu befehlen, nicht auf eine übereindringliche und hochenergische Art. Eine ruhige Sprechweise und der gewöhnliche Tonfall vermitteln den Eindruck, dass die gewünschte Handlung einfach „das Gegebene“ ist, und normalerweise wird jeder das Gegebene tun. Starke Eindringlichkeit dagegen, gibt die Empfindung, man würde vergewaltigt; schon meldet sich automatisch der Widerspruchsgeist.101 Nicht in die NS-Welt passend, möchte man meinen. Solche Beispiele finden wir oft, vor allem wenn wir die NS-Zeit als Ganzes betrachten. Viele deutsche Ärzte oder Pädagogen setzten sich für das Kindeswohl ein, forderten gesundes Essen, genügend Bewegung, Freiraum, nicht zu viele Kinder in einer Klasse, keine Überforderung usw. Aber nur für die erbgesunden Kinder, die behinderten Kinder mussten verrecken. Ebenso stoßen wir auf Alltägliches von SS-Totenkopf-Offizieren bzw. der KZMannschaften – fallweise auch fotografisch festgehalten –, die nach getaner Arbeit in einem Vernichtungslager vergnügt mit ihren Liebsten in der Sonne liegen oder mit ihren Kindern spielen. Im Stadtarchiv stieß ich auf das Foto eines Badeners, ein Mann mittleren Alters, er blickt in die Kamera, ein überaus authentisches Lächeln, auf den ersten Blick ein sympathischer Kerl – wenn nicht das Abzeichen der SS-Totenkopfverbände auf seiner Kopfbedeckung dieses Bild stören würde. Es wirkt auf mich so widersprüchlich, konstruiert, diffus und stellenweise vollkommen grotesk, ein bizarres Ineinanderfließen von rührender und abstoßender Menschlichkeit. Eher Letzteres verspürte ich beim Quellenstudium zum Amtsarzt Rober Fischer – jener Mann, der dutzende Menschen der Sterilisation hatte zuführen ließ, Rationen kürzte, Kindergeld strich, Patienten beschimpfte und bedrohte, sie in KZ-Lager und Psychiatrien einweisen ließ, sie demütigte, fahrlässig ihr Leben gefährdete bzw. für ihren Tod verantwortlich war, Menschen in den Suizid trieb und menschliche Existenzen auf mannigfaltig sadistische Arten zerstörte (siehe Kapitel 25 Einer von zwei). In seiner Welt aber war von alldem nichts 100 BZ Nr. 2 v. 08.01.1944, S. 4. 101 BZ Nr. 78 v. 02.10.1943, S. 5.
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passiert. Ich habe niemanden politisch denunziert oder sonst eine verwerfliche Handlung begangen. Ganz und gar nicht. Sein Amt als Amtsarzt, diese Tätigkeit benützte ich, soweit es bei meiner Überlastung als Amtsarzt möglich war, um den mir zugewiesenen Volksgenossen, besonders den schlechtgestellten, wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen (Geld- und Lebensmittelzuwendungen, NSV u.a.). Geschädigt habe ich in meiner Funktion niemand. Dagegen habe ich durch freimütiges Aufzeigen verschiedener Eiterbeulen im Partei-Apparat Anstoß erregt, so kritisierte ich in einer allgemeinen Ärzte-Versammlung Verfügungen des Kreisärzteführers Dr. Hess, die Folge war ein Parteigerichtsverfahren gegen meine Person, dass mit einem Verweis endigte. In Wirklichkeit wollte Robert Fischer nur für Ordnungen sorgen. In einer Ortsgruppenversammlung wandte ich mich gegen das volksfremde Verhalten des Kulturreferenten der Stadt Baden Pg. Dr. Lang, der in meiner Zelle wohnte; dieser Herr verstand es, einen Luxusjudenbesitz in einem Zeitpunkt zu erwerben, da alle Arisierungen nur für Kriegsbeschädigte bezw. Umgesiedelte in Frage kam. Er protestierte, aber auch diese Intervention blieb erfolglos. Leider musste ich auch in anderen Fällen die Beobachtung machen, dass vom Kreis bezw. Gau alle diese Schweinereien gedeckt werden. In seiner Welt galten eben andere Prioritäten. Und dass er arbeitsunfähige Frauen gesundgeschrieben hatte und noch viel mehr getan hatte! Ich weiß, dass ich mancher Drohne der bürgerlichen Gesellschaft in eindringlicher Weise bei der Untersuchung [erklärte], dass sie körperlich imstande sei, ihren kleinen 2- bis 3-köpfigen Haushalt selbst zu bewältigen, wenn sie bisher immer Hausgehilfinnen beschäftigte [hatte]. Dass diese Damen den Amtsarzt, der Unruhe in ihr sattes Bürgertum brachte, in unlieber Erinnerung haben, sehe ich ein.102 Konfrontiert mit seinen Taten, berief er sich auf das damals gültige Recht. Behinderte mussten nun einmal sterilisiert werden, Ehezeugnisse mussten ihnen verweigert werden und außerdem habe er bloß die Antragstellung durchgeführt, der Rest oblag dem Erbgesundheitsgericht in Wiener Neustadt. Und das mit den Rationskürzungen, Prothesenverweigerungen oder den Streichungen der Kinderbeihilfen, auf all das hätte er keinerlei Einfluss gehabt. All die Anschuldigungen seien absurd. Wenn ich der Unmensch gewesen wäre, wie mich der Bericht der Staatspolizei Baden hinstellt, wäre schon längst gegen mich eine Anzeige erstattet worden. Es ist in meiner ganzen 6-jährigen Dienstzeit in Baden gegen mich nie eine Anzeige gemacht worden. Eine durchaus „berechtigte“ Frage. Weshalb haben die NS-Opfer in der NS-Zeit den NS-Amtsarzt nicht einfach angezeigt! Was hätten die sich dadurch alles erspart! Robert Fischer fasste seine Welt wie folgt zusammen: Ich habe, was ich nochmals wiederhole, niemals als Amtsarzt in Baden jemanden gequält oder misshandelt.103 * Die Zeit zwischen 1938 und 1945 bot eine Fülle an bizarren Gebilden und vor allem Moralvorstellungen – wie im Falle von Rudolf Mahr im März 1941. Der Mann war ein Illegaler, er stellte Böller und Bomben in einer Höhle in der Einöde her, verübte damit 102 StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Robert – Aussage (01.07.1946). 103 Ebd. – Aussage (26.01.1946).
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Anschläge, hisste Hakenkreuzflaggen auf Fabrikschloten und wurde letztendlich für seine Verbrechen 1934 zu fünf Jahren Kerker verurteilt, kurz gesagt, er war in den Anfängen der illegalen Zeit einer unserer bravsten und tätigsten Mitarbeiter.104 Nach dem Anschluss erhielt er seine verdiente finanzielle Wiedergutmachung. Was jetzt noch fehlte, war der Blutorden. Doch genau hier kam es zu moralisch bedingten Verwerfungen. Als er nämlich 1939 einrückte und im Raum Hannover stationiert wurde, lernte er dort ein junges Mädchen kennen. Das Nachsehen hatte seine in Baden verbliebene Ehefrau. Die Angelegenheit, wie es hieß, war in Baden stadtbekannt, da sich Mahr seinerzeit sehr bemüht hat, und alles daran setzte, um seine Frau, die einen Fußfehler hat, heiraten zu dürfen.105 Und nun das! Er reichte 1941 die Scheidung ein – in deren Verlauf kam es zu unliebsamen Zwischenfällen. Der Ortsgruppenleitung lag ein Bericht vor, in welchem sich Mahr gegen seine Frau in Drohungen ergeht und ihr anzeigt, dass, falls er auf Urlaub nach Hause komme, er ihr die gesamte Einrichtung zerschlagen wolle. […] Seine jetzige Handlungsweise wird von den Bekannten und seinen Kameraden sehr verurteilt. Und nicht nur die zeigten sich bestürzt. Auch Kreisleiter Hajda war empört. Er stellte die Verleihung des Blutordens überhaupt in Frage. Und sollte sie tatsächlich erfolgen, teilte er der Gauleitung mit, dann bitte ich Sie; ihm den Blutorden direkt zuzusenden, da ich selbst die Übergabe ablehne.106 Ein interessanter Fall, der Einblick in einen verqueren nationalsozialistischen Moralkodex bietet. Gewalt, Sprengstoffanschläge, das Verletzen und Töten von Menschen täte der Verleihung keinen Abbruch, sondern der Ehebruch bzw. die angestrebte Scheidung. Es ging darum, dass ein anständiger deutscher Mann so etwas nicht macht – vor allem nicht ein Unteroffizier der deutschen Wehrmacht und ein so verdienter Parteigenosse. Wo blieb hier die Vorbildfunktion! Ähnliches haben wir beim SA-Mitglied Josef Kaspar. Ein Illegaler, dessen Taten außer Diskussion standen, aber sein Auftreten gegenüber der eigenen Familie schockierte Kreisgeschäftsführer Wilhelm Haun zutiefst. Er verständigte dessen Vorgesetzten, den SA-Standartenführer Otto Strohmayer – beide Männer sind uns übrigens bereits begegnet: Haun (Kapitel 23 Das Mysterium vom Leben und Sterben) und Strohmayer (Kapitel 8 SA). Mit der Lebensauffassung eines SA-Mannes ist die Vernachlässigung der Familie wohl keineswegs in Vereinbarung zu bringen. Also ab zum Rapport. Haun empfahl Strohmayer, Kaspar auf seine Pflicht als Familienvater aufmerksam zu machen und streng verwarnen. Sollte die Verwarnung erfolglos sein, ersuche ich mit der strengsten disziplinären Strafe (das sind 3 Tage Arrest, wenn nötig sogar mit dem Ausschluss aus der SA) vorzugehen.107 Dass Josef Kaspar zwölf Mal vorbestraft war, unter anderem wegen Diebstahls, interessierte vorerst offenbar niemanden. Kein Interesse zeigte auch Standartenführer Otto Strohmayer. Bei einer anberaumten Aus104 StA B, GB 052/Personalakten: Mahr Rudolf (geb. 1911) – Ortsgruppenleitung an Kreisleitung (16.11.1938). 105 Ebd. – Hajda an Gauleitung (18.03.1941). 106 Ebd. – Hajda an Gauleitung (18.03.1941). 107 StA B, GB 052/Personalakten: Kaspar Josef (1903–1958) – Haun an Strohmayer (03.07.1939).
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sprache, zu der alle Beteiligten geladen wurden, erschien er kurzerhand nicht. Ferner teilte er Haun mit, dass ihm das Problem längst bekannt wäre und ließ Haun außerdem wissen, dass mich die Sache nichts angehe, da es sich um einen SA-Mann handelt; obwohl er selbst nichts bereinigte.108 Auch hier stellte sich die Frage, konnte ein unanständiger Vater und Ehemann ein anständiger Nationalsozialist sein? Es ging wie so oft um die Ehre und den Stolz. Man musste Würde an den Tag legen und legte man sie an den Tag, sollte die Würde von anderen auch entsprechend gewürdigt werden. Im Juni 1944 erfolgte für Gärdtner ein Angebot, das er nur schwer ablehnen konnte. Der Führer des SS-Abschnittes XXXI, SS-Oberführer Walter Turza teilte Gärdtner mit: Da wir uns eigentlich recht gut kennen und verstehen gelernt haben, möchte ich die Gelegenheit benützen, Sie, Kreisleiter, in die Reihe unseres Schwarzen Korps der SS zu überführen und bitte Sie, mir Nachricht geben zu wollen, ob Sie mit einer Aufnahme in die SS nicht nur einverstanden, sondern auch erfreut wären.109 Gärdtner zeigte sich erfreut und Gespräche dahingehend waren bereits geführt worden. Der HJ-Hauptbannführer, Sepp Kracker-Semler, hatte Gärdtner bereits ins Spiel gebracht und versprochen, bei SS-Obergruppenführer Rudolf Querner ein gutes Wort für ihn einzulegen. Und das wäre auch nötig, denn Gärdtner rechnete mit gewissen Schwierigkeiten, die es von Anfang an zu klären galt. Denn aufgrund seiner bisherigen Leistungen für Führer, Volk und Vaterland müssten diese Verdienste, bei einer Überweisung in die SS, auch entsprechend gewürdigt werden, d.h. eine entsprechende Funktion und ein entsprechender Dienstgrad wären da schon angebracht. Dabei denke ich nicht an eine Ehrenführerstellung, sondern an eine aktive Leistung, z.B. in der Schulung, der Rassenarbeit oder anderem.110 Anfänglich sah es für Gärdtner sehr gut aus, doch dann witterte er Verrat, denn Kracker-Semlers gute Worte erwiesen sich als ziemlich mau. Das angehende SS-Mitglied war enttäuscht: Ein solche „Empfehlung“ ist bei jemandem angebracht, den man wegen Ungeeignetheit aus den eigenen Reihe entfernt, dem man jedoch die Möglichkeit einer Bewährung in einer anderen Gliederung nicht verschließen möchte.111 Gärdtner nahm die Sache nun selbst in die Hand und verschickte sein mit NS-Heldentaten versehenes Curriculum Vitae an mehrere Stellen – dabei grüßte er jeden Adressanten brav, wünschte beste Gesundheit und dienstlichen Erfolg. Und siehe da, im Jänner 1945 wäre Gärdtner als SS-Hauptsturmführer übernommen worden – aber eben nur als SS-Hauptsturmführer. Gärdtner setzte nun alles auf eine Karte und wandte sich persönlich an Polizeiführer, SSGruppenführer und Generalleutnant der Polizei Walter Schimana. Es fällt mir schwer, in eigener Sache eine Eingabe zu machen, aber eigentlich müsste ich, da ich Oberbannführer war, als SS-Obersturmbannführer eingestuft werden.112 Damit Sie, lieber Leser oder liebe Leserin, jetzt nicht googeln müssen, man hatte Gärdtner den SS-Hauptsturmführer angeboten, was 108 109 110 111 112
Ebd. – DAF an Kreisleitung (28.06.1939). StA B, GB 052/Personalakten: Gärdtner Camillo; Mappe I – Turza an Gärdtner (23.06.1944). Ebd. – Gärdtner an Turza (03.07.1944). Ebd. – Gärdtner an Kracker-Semler (28.07.1944). Ebd. – Gärdtner an Schimana (08.01.1945).
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einem Hauptmann gleichkommt, während er den SS-Obersturmbannführer erwartete, was in etwa einem Oberstleutnant entspräche – also zwei Dienstgrade darüber. Doch dann hieß es plötzlich, dass ein genereller Aufnahmestopp in die SS ausgerufen wurde, jedenfalls bis Kriegsende. Aber Kreisleiter Gärdtner gab nicht auf, bis ihm im März 1945 Oberbereichsleiter Erich Ott aus München den Rat gab, dem Polizeiführer Schimana mitzuteilen, dass Sie auf eine Aufnahme in die SS verzichten wollen. Der Oberbereichsleiter schrieb von einem Mehraufwand an Arbeitsbelastung und von komplizierten Dienstgrad-Verhandlungen, die Sie persönlich mit einem Höheren SS und Polizeiführer oder seinem Sachbearbeiter über den Ihnen zu verleihenden Dienstrang auseinandersetzen [müssten] – eine für einen Kreisleiter ebenso unerfreuliche wie unwürdige Angelegenheit.113 Eines dürfen wir nicht vergessen, all das oben Beschriebene spielte sich zu jener Zeit ab, als die Rote Armee vor der Türe stand und Gärdtner, als Hauptabschnittsleiter, zuständig für politische Abwehrmaßnahmen, wohl einen ohnehin prallen Terminkalender hatte. Aber für Dienstgrad-Schacher war immer Zeit – das war Ehrensache. Und bevor Sie googeln, Hauptabschnittsleiter war ein Dienstgrad innerhalb der NSADP. Umgemünzt ins Militärische, wäre er ein Major gewesen. * Wie wirr und irr manche Welten sein konnten, erschließt sich auch aus einem Streit zwischen Mieter und Vermieter, der sich Anfang Mai 1944 in der Weilburgstraße 4c zutrug. Am Anfang stand ein auskömmliches Miteinander, bis eines Tages der Garten nicht vertragsgemäß verwendet wurde, Gartenmöbel wurden verbotenerweise in einer Gartenhütte eingelagert, Wäsche wurde mietvertragswidrig im Badezimmer gewaschen und dann war da noch ein Kind, das eben tat, was Kinder so manchmal machen – lärmen. Es folgten unliebsame Auftritte, Drohungen, man bezichtigte einander der Lüge und der Unterstellung, Rechtsanwälte wurden konsultiert und die Kreisleitung eingeschalten. Beteiligte des Dramas waren die Vermieterin und Parteigenossin Doris Anders gegen den Mieter SS-Hauptscharführer Othmar Beinhauer samt Familie.114 Solche Streitigkeiten hätte man sicher noch irgendwie bereinigen können, allerdings war in dieses Zerwürfnis ebenso die gebürtige Britin Dorothy Ladas Ismay involviert – ich erspare Ihnen all die Variationen, die man sich bei ihrem Namen geleistet hat. Und das brachte Othmar Beinhauer vollkommen aus dem Konzept, denn Dorothy Ladas Ismay, diese Britin, schien sich gegenüber dem SSHauptscharführer kein Blatt vor dem Mund zu nehmen. Empört wandte er sich an Kreisleiter Gärdtner und berichtete: Im Zusammenhang damit ist es nicht ganz uninteressant, dass Frl. Ladas in Baden herumspricht, dass ich 1. von der Polizei einen Rüffel bekommen hätte, 2. die Sache nun dem Rechtsanwalt übergeben worden sei und 3., dass ich durch diesen Vorfall in
113 Ebd. – Ott an Gärdtner (12.03.1945). 114 Doris Anders (geb. 1898).
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Baden als Studienrat unmöglich geworden sei!! Da kann man nur sagen: „God save the King!“115 Darauf meldete sich der Kreishauptstellenleiter, Anton Hillebrand, zu Wort, bot Beinbauer und seinem temperamentvollem Schreiben Paroli und ergriff sowohl für Doris Anders als auch für Dorothy Ladas Ismay Partei. Er betonte die Verdienste von Doris Anders um die NS-Bewegung und dass sie nun, aufgrund ihrer angeschlagenen psychischen Konstitution, Ruhe brauche und keinen Zwist mit ihrem Mieter. Und bezüglich der Britin Dorothy Ladas Ismay, da wäre es schließlich erwiesen, dass sie nicht irgend eine Engländerin ist, die sich zu Vergnügungszwecken in Deutschland aufhält und durch den Kriegsausbruch hier überrascht wurde, sondern dass sie bereits 14 Jahre hier ansässig ist, dass sie also Deutschland als ihre Wahlheimat betrachtet und dass sie, was ebenfalls durch viele Zeugen erwiesen ist, in der Verbotszeit in Zusammenarbeit mit Pgn. Anders zur Erlangung der Macht mitgeholfen hat. Frl. Ladas kann also nicht auf die gleiche Stufe mit jenem Pack von Engländern gestellt werden, die heute ihre todbringenden Bomben auf deutsche Frauen und Kinder werfen. Es würde der deutschen Treue widersprechen, wenn wir einen Menschen, wenn er auch Ausländer ist, verfolgen oder beschimpfen wollten, der sich seit einer so langen Reihe von Jahren für unsere nationalsozialistische Sache eingesetzt hat. Das soll uns aber nicht hindern […] unseren unauslöschlichen Hass gegen jene Engländer zu führen, die in ihrer Heimat einen Mord an den Deutschen gutheißen.116 Kreishauptamtsleiter Hillebrand forderte nichts anderes, als eine differenzierte Betrachtungsweise – Ausländer ist nicht gleich Ausländer. Für SS-Hauptscharführer Beinhauer war dies alles wohl blasphemischer Mumpitz. Hillebrands Zurechtweisung quittierte er mit Zitaten aus der britischen Presse, wonach Deutschland verkrüppelt und die Deutschen ausgehungert und abgeschlachtet werden sollten. Laut Beinhauer war Deutschland das Opfer, und vor allem er selbst, dem, als deutschem Soldaten, deutsche Anwälte auf den Hals gehetzt wurden. Als SS-Hauptscharführer würde er der „maßlosen Gehässigkeit“ bezichtigt, weil er sich gegen die Überheblichkeiten einer Engländerin zur Wehr setzte – und das nur mit einigen kräftigen Worten.117 Er verstand die Welt nicht mehr, die mit seiner eigenen sogar nicht mehr zusammen passte. Wir haben hier ein Duell der NS-Schwergewichtler – beide Kontrahenten waren seit 1933 bei der Partei. Ein SS-Hauptscharführer und Studienrat gegen einen Kreishauptstellenleiter – und der Grund war eine Ausländerin. Hillebrand, der genauso ein überzeugter Nationalsozialist war, lehnte sich allerdings etwas weit aus dem Fenster, denn seine Angabe, wonach Dorothy Ladas Ismay nicht zum Vergnügen sich in Deutschland aufhalte, war genau genommen nicht ganz so korrekt. Es hatte da nämlich einen Zwischenfall gegeben. Im Juli 1941 war sie angezeigt worden, weil sie, in der Frauengasse, beim Frauenbad, einem franz. Gefangenen, welcher mit einem Begleitmann dort gestanden ist, in überaus freundlicher Weise begrüßt, die Hand gegeben und mit ihm in franz. Sprache einige Worte gesprochen hat. Diese Handlungsweise hat unter den Passanten großes Ärgernis hervorgerufen. Bemerkt wird, dass die Beschuldigte zur kritischen Zeit den Ein115 StA B, GB 052/Personalakten: Beinhauer Othmar (geb. 1908) – Aussage (17.05.1944). 116 Ebd. – Anton Hildebrand (geb. 1889) an Beinhauer (20.07.1944). 117 Ebd. – Hildebrand an Beinhauer (20.07.1944).
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druck einer leicht Angeheiterten machte und es wäre sehr angezeigt, über die Dorothea Jsmay das Gasthausverbot zu verhängen, weil sie der Schutzpolizei als Trinkerin bekannt ist und sie in betrunkenem Zustand in staatspolitischer Hinsicht eine unüberlegte Handlung begehen könnte.118 Sechs Monate später war ihr Verhalten klaglos und es schien keinen Grund zu geben, das Wirtshausverbot zu verlängern. Mit solchen Problemen kam Gertrud Maurer nicht in Berührung, sie war vierzehn Jahre alt und in ihrer Welt hegte sie weiterhin Animosität gegenüber Frauen aus dem Altreich, besonders wenn jene stark geschminkt waren. Außer Karlis Frau und einer uralten, abschreckend hässlichen Baronin hatte Gerti noch nie eine geschminkte Frau gesehen, bevor die Altreichlerinnen in die Ostmark kamen, und sie und Nora empfanden geschminkte Frauenzimmer, ob alt oder jung, als abstoßend hässlich.119 Dem Alter geschuldet erfuhr das Thema Frausein eine immer größere Präsenz. Gertrud Maurer war im Alter eines Backfischs, und sie war stolz darauf. Aus der Literatur wusste sie nur zu gut, was die Welt eines Backfischs ausmachte. Ein mädchenhaftes Mädchen, dass zur jungen Dame heranwuchs, tanzen lernte, mit jungen Männern kokettierte, weich und empfindsam war, auf seine Mädchenehre bedacht war und schließlich nach manchen Irrungen und Wirrungen einem seiner Anbeter die Hand zum Bund fürs Leben reichte.120 So die Theorie. Denn während in der Literatur der Backfisch meist künstlerisch angehaucht war, indem er tanzte, malte, musizierte oder sich der Literatur hingab, gab es in ihrer Welt Märsche statt Tänze sowie die Feldarbeit oder die Werk- und Textilwerkstätten, wo weder gemalt noch musiziert, sondern Pullover und Patschen für die Lazarette fabriziert wurden. Dass die literarische Vorlage und ihr gelebter Alltag nicht zueinanderfanden, trübte ihre Backfischwelt nicht wirklich. Ihr reichte es, dass sie während der Stick- und Strickarbeit in der arisierten Villa Blau ein Buch lesen konnte. Damit kam wenigstens das Literarische nicht ganz unter die Räder.121 Die individuelle Wahrnehmung und Wertigkeit bestimmter Ereignisse demonstrierte Gertrud Mauerer auch nach der ersten Bombardierung Wiener Neustadts. Als eine Mädchenschule von dort evakuiert wurde und die Schülerinnen nach Baden in die Frauengasse kamen, musste eines von vornherein geklärt werden und die erste Frage war: Könnt ihr auch Völkerball spielen?122 * Als der Winter 1943 vor der Türe stand, schlug die Normalität ohne Rücksicht auf irgendwelche mentalen Paralleluniversen mit gewohnter Kraft zu. Wer glaubte, dass es nicht schlimmer werden könnte, der wurde eines Besseren belehrt. Die Alltags-Normalität besagte mittlerweile, dass in Kellerräumen, Schupfen, Scheunen oder Werkstätten, sobald darin Menschen einquartiert werden konnten, dies auch zu geschehen habe.123 Normal war 118 119 120 121 122 123
StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Jsmay Dorothea (geb. 1894). MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 117. Ebd. S. 121. Vgl. ebd. S. 133. Ebd. S. 156. Vgl. BZ Nr. 82 v. 16.10.1943, S. 5.
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weiterhin, dass die Versorgung mit Obst und Gemüse als jämmerlich bezeichnet wurde – Landrat Josef Wohlrab appellierte an die Reichsstatthalterei, die Obst- und Gemüsezufuhr zu erhöhen. Dass die Ernten schlecht ausfielen, verschärfte die Situation abermals. Das Wenige, das die Bäume und Sträucher noch hergaben, fiel oft Dieben zum Opfer. In unserer Gegend waren es die Weinreben, die regelmäßig geplündert wurden. Dass es sich bei den Tätern um Ausländer handelte, war für den Landrat eine Selbstverständlichkeit. Ein Aufgebot der Landwache musste jedes Mal ausrücken, um dem diebischen Treiben ein Ende zu bereiten, oder wenn irgendwo einmal wieder Kriegsgefangene getürmt waren. Das bedeutete nichts anderes, als dass dutzende Männer angehalten wurden, ihren Arbeitsplatz zu verlassen, um Dieben und geflohenen Fremd- und Zwangsarbeitern hinterherzujagen.124 Dabei konnte, was die Weinversorgung anbelangte, Bürgermeister Schmid im Dezember 1943 eine frohe Botschaft verkünden. Er hatte für jeden Badener über 18 Jahre einen Liter Weißwein für nur 4 RM ausgehandelt. Den Liter Rotwein gab es sogar für nur 3 RM. Zehn Tage hatten die Badener Zeit, um diese großzügige Weinbeschaffungsaktion auszunutzen. Abzuholen war der Alkohol – der Schlüssel zu vermeintlich schöneren Welten – bei der Winzergenossenschaft Flamminggasse 28.125 Auch wenn es repetitiv anmutet, um die Mängelthematik werden wir, liebe Leserin oder lieber Leser, nicht umhinkommen. Der Brennstoffmangel war eklatant wie eh und je und gleichzeitig auch „egal“. Sehr stark ist die Nachfrage nach Küchenherden und Öfen, Wintermänteln und Schuhen. Dem Wirtschaftsamte des Kreises liegen derzeit 1.300 Ansuchen um Herde und Öfen vor. […] Die wenigen dem Wirtschaftsamte zur Verfügung gestellten Bezugsscheine für Herde und Öfen decken nicht einmal einen Bruchteil der bevorzugten Ansuchen. Ich bitte, der Herde- und Öfenangelegenheit größte Aufmerksamkeit zu geben, denn diese Frage kann gar nicht ernst genug behandelt werden.126 Einen Monat später: Der Mangel an Küchenherden und Öfen entwickelt sich nach und nach zum Problem dieses Winters. Seit dem Vormonatsbericht ist die Zahl der Ansuchen um Herde und Öfen von 1.300 auf fast 1.700 angestiegen. Der Parteiandrang in der betreffenden Abteilung des Wirtschaftsamtes steigt ins Unerträgliche und es spielen sich in dieser Abteilung täglich die unliebsamsten Auftritte ab.127 Wenn man so will, auch wenn ausreichend Brennmaterial zur Verfügung gestanden wäre, wo hätte man es ohne Ofen verfeuern sollen! In der Badener Zeitung fanden solche Berichte keinen Eingang, hier herrschte wieder eine eigene Welt. Es wurde empfohlen/befohlen, die Weihnachtszeit im engen Kreis der Familie zu verbringen. Um dies „sicherzustellen“, wurde eine Reisebeschränkung ausgesprochen.128 Was die Kriegsberichterstattung anbelangte, wurde stolz hervorgehoben, dass die Wehrmacht das Rückzugsgefecht bereits meisterlich beherrsche, oder man rühmte sich 124 125 126 127 128
Vgl. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, September 1943. Vgl. BZ Nr. 98 v. 11.12.1943, S. 5. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, September 1943. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Oktober 1943. Vgl. BZ Nr. 99 v. 15.12.1943, S. 6.
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14-stündiger Abwehrkämpfe, bevor die jeweiligen Einheiten sich zurückziehen mussten oder gänzlich aufgerieben wurden.129 Und damit die oben erwähnten „unliebsamen Auftritte“ nicht mehr passierten, dafür hatte die Badener Zeitung zumindest die richtigen Worte parat: Höflichkeit des Herzens. Die Selbstbeherrschung im Kriegsalltag. Aufbauend ging es dann mit Alltagsweisheiten weiter wie: Das sicherste Mittel gegen unfruchtbare und nutzlose Reibereien ist die Höflichkeit, das selbstverständliche sichere Taktgefühl des Herzens, die Fähigkeit, sich selbst und seine Seelenregungen immer fest in der Hand zu halten. […] Wir alle haben wohl schon einmal erlebt, wie sich die Gesichter in der Straßenbahn aufhellen, wenn eine freundliche, umsichtige und ruhige Schaffnerin den Dienst versieht. […] Wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, dass heute jeder Mensch Unannehmlichkeiten und Sorgen hat, dass er Enttäuschungen überwinden muss und unter Anspannung aller Kräfte arbeitet. […] Wer heute durch Unhöflichkeit und Unbeherrschtheit Nervenstärke vergeudet, der schadet der Gemeinschaft genauso wie der, der irgendwelche sichtbaren Werte verschwendet oder zerstört. Denn er mindert damit die Nervenkraft und damit die Leistungsfähigkeit der Nation.130 Zusammengefasst, der Volksgenosse sollte sich „zusammenreißen“, weniger raunzen, dafür mehr lächeln. In der Praxis waren solche Ratschläge auf Kalenderspruchniveau à la „Carpe diem“ die reinste Verhöhnung – um es noch freundlich auszudrücken. Denn als die Celsius-Grade Richtung Null sanken, fehlten neben Öfen und Herden genauso Wintermäntel und Winterschuhe. Der Parteienverkehr im Wirtschaftsamte und bei den Kartenstellen ist kaum zu bewältigen. Die Parteien stehen Tag für Tag Schlange und war das Eingreifen von Polizei schon einigemale notwendig, um die Ruhe wieder herzustellen. Die als unliebsam bezeichneten Situationen waren nichts anderes als Schlägereien zwischen Volksgenossen um Nahrungsmittel und Winterbekleidung! Zugleich wurde das Wirtschaftsamt personell ausgeblutet. Die Männer werden eingezogen und die Frauen schwanger, klagte Wohlrab. Passend zur Jahreszeit gesellte sich zu dem Diebstahl von Lebensmitteln und Kleintieren nun auch der Diebstahl von Winterkleidung hinzu. Und hätte es tatsächlich irgendwo jene fehlenden Güter gegeben, sie wären sowieso nicht angekommen. Die Zufuhr lebenswichtiger Güter leidet sehr unter dem Mangel an Nutzfahrzeugen, der sich gerade in der letzten Zeit einerseits durch Vorbeorderung bez. Einziehung einzelner Kraftfahrzeuge durch die Wehrmacht, andererseits durch den Ausfall solcher Fahrzeuge durch Havarien oder durch Mangel an Reifen, die derzeit nicht ersetzbar sind, äußerst unliebsam bemerkbar gemacht.131 Eine ebenso eigene Welt finden wir im Badener Rathaus vor. Dort wollte man sich die Stimmung trotz aller Hiobsbotschaften nicht verderben lassen. In der BZ lesen wir von einer Ehrung der drei Ortsbauernführer sowie weiterer 36 Personen, die sich ehrenamtlich für den Weinbau eingesetzt hatten. Man gedachte, dankte, lobte, ehrte und sprach kämpferisch vom Gemeinnutz statt Eigennutz. Bei den amtlichen Verlautbarungen, nur ein paar Seiten weiter in der BZ, blieb vom Pathos nicht mehr viel übrig. Es wurde förm129 Vgl. BZ Nr. 98 v. 11.12.1943, S. 6. 130 BZ Nr. 78 v. 02.10.1943, S. 2. 131 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Dezember 1943.
Kapitel 27 Phantasmagorien und die Farbe Grau
lich. Die Kartoffelpreise und Auslieferungen wurden „modifiziert“, es wurde mitgeteilt, dass die Maul-und-Klauenseuche erneut grassierte oder dass neue Erkrankungsherde von Diphterie, Scharlach und Abdominal-Typhus ausgebrochen waren. Aber der „Endsieg“ komme bestimmt.132 Ende 1943 implodierten viele Welten oder wurden zumindest mit Rissen übersät. Das NS-Regime begann, seine Reserven zu mobilisieren. Es setzte auf seine Gefolgschaft, auf seine Parteimitglieder, auf jene Männer und Frauen, die als Träger und Jünger der NSIdeologie unter den gewöhnlichen Volksgenossen wandelten. Aber wie wir gelesen haben, vereinzelt hatten die braunen Schäfchen bereits vor zwei Jahren vom Glauben begonnen abzufallen. Werfen wir im nächsten Kapitel einen genaueren Blick auf diese Glaubensabfälle und stellen die Gretchenfrage. Wie stand es in der Kurstadt um die Hingabe zu Adolf Hitler – jetzt, wo der Führer nicht einmal mehr militärische Siege erbringen konnte? Dem Mann in Berlin entglitt langsam, aber sicher die Kontrolle über mächtige menschliche Regungen namens Pragmatismus und Opportunismus – wenn wir von den NS-Fanatikern absehen. Denn was bisher nur sporadisch vorkam, dass Personen aus der Partei austraten oder ausgeschlossen wurden, begann nun pandemisch zu werden.
132 Vgl. BZ Nr. 103/104 v. 31.12.1943, S. 5 u. S. 7.
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Kapitel 28 Apostasie Oder: Die Erosion der Träger
Reinhold Kerber, Gewerbetreibender und Fabrikbesitzer in Pottendorf mit 100 Angestellten, gedachte, es nach dem Anschluss auch weiterhin zu bleiben. Ein Parteibeitritt war damit grosso modo angebracht. „Leider“ hatte er sich die Jahre zuvor nicht unbedingt beliebt bei den Pottendorfer Nationalsozialisten gemacht – er hatte sie mit Anzeigen bedacht –, sodass am 13. März 1938 bereits der Ortsgruppenleiter und Bürgermeister Alois Ott samt zwei Gendarmen und zwei weiteren SS-Männern bei ihm erschienen und die Fabrik sperren ließen, nicht ohne zuvor den Kassenschlüssel in „Verwahrung“ zu nehmen. Reinhold Kerber blieb zwar weiterhin Fabrikbesitzer, aber sich von einer Schikane zur nächsten zu hangeln, war dann doch nicht ganz das Seine, weswegen er im August 1938 um Parteimitgliedschaft ansuchte. Und dann passierte mal jahrelang nichts. Ich nahm an, dass ich abgelehnt war. Erst im Mai 1943 erhielt ich durch die Ortsgruppe Pottendorf Kenntnis, dass mein Ansuchen positiv erledigt wurde und ich um ein Mitgliedsbuch ansuchen soll. Mir war es höchst unangenehm und ganz unerwünscht nach so langer Zeit noch Mitglied zu werden, da ich an der Mitgliedschaft nie interessiert war. Ich habe demnach auch kein Ansuchen um ein Mitgliedsbuch eingebracht und besitze sohin auch keines.1 In Zeiten der Machtübernahme im März 1938 und den prosperierenden Jahren danach öffnete das in Rot gehaltene NSDAP-Parteibuch die Tore in eine unter dem Hakenkreuz heilsbringende braune Zukunft. Fünf Jahre später war der Zauber verflogen. Zerschmettert unter immer heftiger werdenden angloamerikanischen Bombenangriffen und einer unaufhaltsamen sowjetischen Dampfwalze an Rotarmisten, wurde die Mitgliedschaft in der NSDAP ihrer Attraktivität weitgehend beraubt. Aber nicht nur Nicht-Parteigenossen begannen, einen Bogen um eine Mitgliedschaft zu machen, auch manche Parteimitglieder wussten immer weniger mit dem Parteibuch anzufangen. Für den Kaufmann Rudolf Meixner, zu dessen Kundenstamm das Militär und die Reichsautobahnen gehörten, war es überaus ratsam gewesen, sich mit den neuen Machthabern gut zu stellen. Im Mai 1938 hatte er die NSDAP-Mitgliedschaft beantragt. Wirtschaftliche Gründe waren ausschlaggebend gewesen, politische sekundär und zwar laut ihm dermaßen sekundär, dass er im Juli 1943 ausgeschlossen wurde. Falsche Angaben in seiner Vita, gepaart mit seiner kaum vorhandenen Motivation mitzuarbeiten, dafür aber mit einer Fülle an Ausreden, führten zu dem Ergebnis: Mit Rücksicht auf seine Interessenlo1
StA B, GB 052/Personalakten: Kerber Reinhold (geb. 1882).
Kapitel 28 Apostasie
sigkeit ist aber in Zukunft kein Platz mehr für ihn in der NSDAP.2 Gegen seinen Ausschluss hatte er 14 Tage Zeit, um in Berufung zu gehen. Er ließ die Zeit taten- und wortlos verstreichen. Ähnliches erleben wir bei dem Geschäftsmann Franz Traunbauer. Als er im Sommer 1944 zum Kreiskassenrevisor bestellt wurde, lehnte er mit der Begründung mangelnder Zeitressourcen und einer Arbeitsüberlastung ab. Sein Einspruch wurde jedoch ignoriert, woraufhin er die Aufforderungen, den Kreiskassenrevisor-Posten endlich anzunehmen, ebenso ignorierte. Für ihn war die Sache mit seiner ersten Absage gegessen gewesen. Wenige Monate später wurde er im Oktober 1944 zu Schanzarbeiten abbestellt und als er im Dezember selben Jahres nach Baden zurückkehrte, wartete ein Parteiverfahren auf ihn. Neben dem Vorwurf, sich der Parteiarbeit zu verweigern, soll er mit Regimegegnern verkehrt, sich verächtlich gegenüber der NSDAP geäußert und gegnerisch eingestellte Angestellte in seinem Betrieb bevorzugt haben. Und dass er 1931 der Partei beigetreten, 1933 wieder ausgetreten war, sich nicht illegal betätigt hatte, dafür 1939 wieder eingetreten war, schien auf einmal ein Problem darzustellen. Für das Parteigericht war er ein typischer Konjunkturritter. Seit seinem zweiten Parteieintritt hat er es verstanden, sich von jeder Parteiarbeit fernzuhalten und übermäßige dienstliche Beanspruchung als Ausrede vorgetäuscht. Den wiederholten Aufforderungen des Kreisleiters zur Mitarbeit in den verschiedenen Parteidienststellen wusste sich der Angeklagte durch unbegründete Ausflüchte zu entziehen […]. Dass er sich selbst vor den Schanzarbeiten drückte und sich von einem seiner Mitarbeiter ohne Zustimmung von oben ablösen ließ, war die nächste bodenlose Frechheit. Dann besaß er noch die Chuzpe, die Organisation, die Verpflegung und die Tätigkeit der beim Stellungsbau beschäftigten Politischen Leiter zu kritisieren. Und als ob das nicht genug wäre, er meldete sich erst über mehrmalige Aufforderung und Strafandrohung im Monat Februar 1945 zum Volkssturm.3 Im März 1945 wurde Franz Traunbauer aus der NSDAP ausgeschlossen. Das waren alles keine Einzelfälle. Die Lust an der Parteiarbeit schwand dahin, der Schlendrian kehrte ein, und die Parteiausschlüsse nahmen zu. Was 1942 vereinzelt vorkam, 1943 langsam an Dynamik gewann, veranlasste die NSDAP 1944, reihenweise mahnende Schreiben auszuschicken mit folgender Quintessenz: Schon in normalen Zeiten ist es auf Grund der Satzungen der NSDAP Pflicht eines jeden Parteigenossen, in der Partei mitzuarbeiten. Um viel dringender wird diese Verpflichtung jedoch in Zeiten der Not, in dem gigantischen Ringen des jetzigen Krieges. Es ist der ausdrückliche Wunsch des Führers, dass jeder Parteigenosse an der Führung und Betreuung des deutschen Volkes mitwirkt. Ich fordere Sie daher auf, sich unverzüglich nach Erhalt dieses Schreibens bei ihrem Orts2
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Seinem Antrag wurde stattgegeben- Allerdings stimmten ÖVP und KPÖ dagegen. Letztere wies darauf hin, dass Rudolf Meixner Ariseur war und trotz seines Ausschlusses weiterhin gute Kontakte zur NSDAP gepflegt hatte. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Meixner Rudolf (1902–1974) und NSDAP-Karteikarten groß. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Traunbauer Franz (geb. 1899).
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gruppenleiter zum Dienstantritt zu melden, der Sie unter Berücksichtigung Ihrer persönlichen Verhältnisse und Fähigkeiten auf den richtigen Platz stellen wird. Sollten jedoch Ihres Erachtens triftige Gründe eine Dienstleistung nicht ermöglichen, so haben Sie ein Gesuch an den Kreisleiter zu richten mit der Bitte um Beurlaubung. Dieses Gesuch ist unter Nennung der Gründe und Angaben Ihrer Wohnungsanschrift bei Ihrem Ortsgruppenleiter einzubringen. Leichte Erkrankungen oder geringfügige Arbeitsüberlastung sind keinesfalls Beurlaubungsgründe. Wenn Ihr Ansuchen genügend begründet ist, so kann der Kreisleiter eine zeitliche oder dauernde Beurlaubung verfügen, worüber Ihnen eine Bescheinigung ausgestellt und Ihr Ortsgruppenleiter verständigt wird.4 * Nicht nur Arbeitnehmer begannen sich vor der Parteiarbeit zu drücken. Auch viele Arbeitgeber wollten in den seltensten Fällen fähiges Personal verlieren bzw. deren dringend gebrauchte Arbeitskraft überstrapazieren. Und das durch aus ihrer Sicht wohl vernachlässigbare Parteiarbeit, wie nächtliche Streifendienste in den Straßen der Kurstadt. Für solch eine Tätigkeit wurde zum Beispiel der Reichbahnbeamte Josef Trenner verpflichtet. Der Mann hatte bereits in der Verbotszeit mit der NS-Bewegung sympathisiert. Im Jahre 1940 noch als politisch einwandfrei, charakterlich vollkommen in Ordnung und als geberfreudig charakterisiert, sorgte seine Weigerung 1944, Streifendienste zu leisten, für eine gehörige Portion Unverständnis. Zumal Josef Trenner sogleich seinen Dienstgeber davon in Kenntnis gesetzt hatte und der wiederum die Kreisleitung. Die Reichsbahnen warfen ein, dass der nächtliche Streifendienst mit Trenners Nachtdiensten ungünstig kollidieren würde. Die Kreisleitung reagierte verschnupft, maßregelte die Reichsbahndirektion, sich nicht in die Dienstpläne der Partei einzumischen, man würde sich schließlich auch nicht in ihre Dienstplanaufstellung einmischen. Als nächstes stand an, Josef Trenner zu disziplinieren, denn: Es scheint eben einer der vielen Fälle vorzuliegen, wo ein Parteigenosse sich nicht in erster Linie als dem Führer verpflichtet fühlt, sondern nur so nebenbei neben seinem Beruf auch Parteigenosse ist.5 Rückendeckung durch seinen Arbeitgeber erhielt auch Parteigenosse Franz Brunner. Angestellt bei der Fliegerhorstkommandantur in Bad Vöslau, teilte diese der Kreisleitung klipp und klar mit, dass er als Lagerführer, bei einer 72-Stunden Woche, nicht in der Lage wäre, außerdienstlich irgendwelchen Verpflichtungen nachzukommen. Es wird daher gebeten, Obgenannten auf längere Zeit von anderen Dienstverhältnissen zu beurlauben.6 Dem Kreisleiter 4 5 6
StA B, GB 052 Personalakten: Cociancig Rudolf (1893–1969). StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Trenner Josef (geb. 1891). StA B, GB 052/Personalakten: Brunner Franz (geb. 1902) – Fliegerhorstkommandatur an Kreisleitung s.d.
Kapitel 28 Apostasie
blieb nicht viel anderes übrig, als zähneknirschend der Bitte nachzukommen – schließlich hatte er es hier mit der Fliegerhorstkommandantur zu tun. Allerdings machte er Franz Brunner darauf aufmerksam: Diese Beurlaubung enthebt Sie jedoch nicht von der Verpflichtung. Als Parteigenosse die Ortsgruppen-Schulungsabende, Sprechabende und Versammlungen zu besuchen sowie ständig aufklärend und propagandistisch in der Bevölkerung zu wirken.7 Nicht unbedingt vom Partei-Arbeitseifer erfasst war auch der Reichsbahnbeamte Johann Eigl. Dass er kein „Held der Arbeit“ war und er ebenso für einen Parteigenossen nicht adäquate Spenden tätigte, war schon 1942 zu bemerken. Nebenbei ist man draufgekommen, dass ihm der Titel „Alter Kämpfer“ nicht wirklich zustehen würde. Die Vorwürfe der mangelnden Mitarbeit und der mangelnden Spendenbereitschaft wusste Johann Eigl jedoch zu entkräften. Erstere lag an seiner angeschlagenen körperlichen Verfassung, bedingt durch eine 1932 erfolgte Gallenblasenentzündung und Jodvergiftung sowie einem Gewichtsverlust von 21 Kilo innerhalb von zwei Wochen. Davon einigermaßen genesen, übersiedelte er 1936 von Wien nach Baden, gab sich als Nationalsozialist zu erkennen, wurde deshalb angefeindet und nahm sich aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustands vorerst noch zurück. Doch seine Zeit sollte noch kommen bzw. der Wille war zumindest da. Beim Umbruch selbst wollte ich mich am Sonntag 13.III.1938 im Rathaus zur aktiven Mitarbeit melden, fand es jedoch versperrt vor. Die Meldung im damaligen Bereitschaftslokal in der Planettagasse hatte keinen Erfolg. Danach wäre alles so schnell gegangen. Als Bahnbeamter wäre er mit Arbeit förmlich zugeschüttet worden, sodass für die Parteiarbeit keine Zeitressourcen mehr vorhanden gewesen wären. Einzig am Sonntag hätte er sich eventuell etwas Zeit freischaufeln können, wobei der Sonntag auch der einzige Tag war, an dem er etwas verschnaufen konnte. Doch wiederum pfuschte die Physis dazwischen. Leider machten sich die Folgen dieses Raubbaues an der Gesundheit bald bemerkbar. Gallensteine, Arthritis in den beiden Kniegelenken und ein Tumor an der rechten oberen Lungenspitze – Schwefelbäder und Schlammpackungen in Baden und Bad Gastein, sowie ein Krankenhausaufenthalt waren nun unabdingbar. Wieder litt die Parteiarbeit dadurch. Er merkte zudem an, als man ihn aufforderte, zumindest an den Straßensammlungen teilzunehmen, dass mir das Stehen oder lange Gehen insbesonders bei kalter und feuchter Witterung im Freien überhaupt Beschwerden einbringt. Und der Vorwurf, dass er eine mangelnde Geberfreudigkeit an den Tag legen würde, dies, so begründete er, lag an den Hypothekenzahlungen, an den monatlichen Unterstützungen für seine Mutter, seinen Schwiegervaters und seine Schwiegermutter – die zwar im Juli 1941 verstarb, deren Spitalsrechnung sowie die Begräbniskosten er jedoch gezwungen gewesen war zu übernehmen. Außerdem hätte er seiner Schwägerin auch noch Geld geschuldet. Bei so vielen Baustellen und so einem vollen Terminkalender sei es dann passiert, dass einige Spendensammlungen komplett an ihm vorbeigegangen wären und er nichts von ihnen mitbekommen hätte. Und als er bei einer dieser Sammlungen tatsächlich 10 RM entbehren hätte können und er diese Summe an einem Montag zu spenden ge7
StA B, GB 052/Personalakten: Brunner Franz (geb. 1902) – Gärdtner an Brunner (29.09.1944).
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dachte, hätte er feststellen müssen, dass die Sammlung jedoch schon am Sonntag abgeschlossen wurde […].8 Zellenleiter Ferdinand Brunner, dem Johann Eigl seine Apologie zukommen ließ, blieb jedoch skeptisch. Denn Johann Eigl, der vor lauter Arbeitsüberlastung und einer maroden körperlichen Verfassung zu nichts fähig gewesen wäre, hatte sich plötzlich von einem Tag auf den anderen doch dazu aufraffen können, mitzuarbeiten. Brunner war dadurch leicht irritiert, also müssen die vor wenigen Tagen angeführten Gründe urplötzlich weggefallen sein. In Bezug auf die ausbaufähige Spendenlust und dass er eine Sammlung nicht mitbekommen hätte, die durch große und deutliche Maueranschläge, in der Lokalpresse, durch Handzettel und durch persönliche Schreiben des Kreisleiters angekündigt worden war – das schien Brunner ebenso ein wenig weit hergeholt. Außerdem fragte er sich als Zellenleiter, wie es sein konnte, dass ein Reichsbahnbeamter, der zusätzlich noch Vermieter war, so am Hungertuch nagen könnte. Und den jeweiligen Blockleiter oder Blockwalterin seelenruhig im Regen vor der Gartentür stehen zu lassen und dann vom Fenster herabzurufen, man wolle die Sachen in den Briefkasten werfen, er gehe im Regen jetzt nicht herunter; oder nach mehrmaligen erfolglosen Besuchen dann endlich den betreffenden Blockleiter oder Blockwalterin auf der Straße abzufertigen, bei Eintopfsammlungen für zwei Personen 50 Reichspfennig zu spenden und Parteiveranstaltungen ausnahmslos ohne Angaben von Gründen und trotz verlässlicher Verständigungen zu ignorieren – das waren dann zusätzlich ganz besondere Gustostückerl.9 Es ist nicht anzunehmen, dass Johann Eigl danach die Parteiarbeitswut gepackt hätte, aber er blieb Parteigenosse. Und im Jänner 1945 wurde er aufgrund seiner beruflichen Beanspruchung tatsächlich von der Parteiarbeit beurlaubt. Die triftigen Gründe, sich der Parteimitarbeit zu entziehen, besaßen, je nach Perspektive, einen weiten Interpretationsspielraum. In der Ortsgruppe Baden Leesdorf war der Ortsgruppenleiter Karl Zanetti regelrecht schockiert, was ihm seine Zellenleiter so alles zutrugen. Aus der Zelle III wurde berichtet, dass der Sparkassenbeamte Eduard Lutz sein Nichterscheinen beim Generalmitgliederappell vom 11. September 1944 mit dringlichen unaufschiebbaren Vereinsangelegenheiten des „Kleingärtnervereines Baden b/Wien entschuldigte. Dieser Parteigenosse scheint die NSDAP noch niederer als einen Verein aufzufassen, weil er die Angelegenheiten eines Vereines dringlicher auffasst, als einen Generalmitgliederappell der NSDAP. Und weil man schon beim Thema war: Es ist auch eine schwere Sache für ihn das Parteiabzeichen zu tragen, er nimmt auch ansonsten seine Pflichten viel zu lax. Wenn er aufgefordert wird, mitzuarbeiten, sagt er zwar zu, aber er lässt sich dann trotz wiederholter Aufforderung beim Zellenleiter nimmermehr blicken.10 Ebenso aus der Zelle VIII hagelte es Beschwerden, wonach Parteigenosse Hans Kragler hauptsächlich mit Abstinenz, Desinteresse und Ausreden brillierte.11 Kragler trägt nie ein 8 9 10 11
StA B, GB 052/Personalakten: Eigl Johann (1889–1969) – Eigl an Kreisleitung (20.04.1942). Ebd. – Brunner an Ortsgruppenleitung (28.04.1942). StA B, GB 052/Personalakten: Lutz Eduard (geb. 1920) – Zanetti an Kreisleitung (09.10.1944). Hans Kragler (geb. 1897).
Kapitel 28 Apostasie
Parteiabzeichen und bringt den Gruß „Heil Hitler“ überhaupt nicht über seine Lippen. Er dürfte seine Zugehörigkeit zur NSDAP nur als lästige Verpflichtung empfinden und kommt zu keinem Appell und auch zu keiner Veranstaltung, obwohl es ihm hie und da möglich wäre, daran teilzunehmen.12 Und in der Zelle X erschien die Parteigenossin und Blockhelferin Hilda Mühlstein seit Monaten zu keinen Schulungs- oder Dienstappellen mehr.13 Und der ehemalige Marinebeamte Franz Brusl fiel nur mehr mit Alkoholexzessen auf, er ist unzurechnungsfähig, betrinkt sich, wenn er die Gelegenheit dazu hat bis zur Bewusstlosigkeit […] Nach Angaben des Zellenleiters gehört der Mann aus der NSDAP entfernt.14 Insgesamt erschienen 20 Parteigenossen nicht auf dem Generalappell vom September 1944 – noch dazu unentschuldigt. Darunter befanden sich drei Betriebsobmänner. Aber auch in der Ortsgruppe Baden-Stadt schien der Ortsgruppen-Segen gehörig schief zu hängen. Als man im April 1944 die 17 Zellen durchforstete, kam man auf annähernd 300 Parteigenossen, deren Arbeitsmoral zu wünschen übrig ließ bzw. gar nicht mehr vorhanden war. Davon waren mehr als 60 bereits vor dem Anschluss der NSDAP beigetreten, was besonders für Bestürzung sorgte. Ihre Namen wurden extra rot unterstrichen. In der Spalte „Welcher Grund besteht für das Nichtmitarbeiten“ fanden sich nachvollziehbare bis sehr originelle Gründe. So lesen wir: „angeblich zu alt, Trinker!“, „zu alt, grauer Star, „zu alt, schwerhörig“, „alt und nervös“, „ist eingerückt“, „hat nur ein Bein“, „muss Mutter, Vater oder kranke Kinder betreuen“, „verkehrt mit Juden“, „bereits verstorben“, „von Frühjahr bis Herbst auf Reisen“, „will nicht“, „keiner“ oder „Klavierunterricht“.15 Kreativ mutet übrigens auch die Rechtfertigung des Casinomitarbeiters Karl Steltzl an, der im März 1944 des Schleichhandels überführt und im September 1944 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Es ging um 9 Kilo Schweinefleisch. Karl Steltzl erhob Einspruch gegen seine Verurteilung und argumentierte den Kauf von 9 Kilo Schweinefleisch aus medizinischer Sicht: Es wurde mir selbes angetragen und nachdem ich gerade in großer Verlegenheit war, da meine Frau sehr leidend ist und gut genährt werden sollte und ich selbst wieder mit meinem Magen- und Darmleiden, das ich mir im Weltkrieg, den ich als Kriegsfreiwilliger mitgemacht hatte, durch zweimalige Ruhr und Gasvergiftung, geholt hatte, schwer litt, habe ich mich zu dem Kauf verleiten lassen.16 Dass 9 Kilo Schweinefleisch gegen Magen- und Darmbeschwerden hilfreich sein sollten, das kam auch der Kreisleitung nicht ganz schlüssig vor; deswegen wurde diese Passage auch mit einem großen roten Fragezeichen am Rand versehen. Aber es war nicht nur das einfache Partei-Fußvolk, das nicht wusste, wie sich ein anständiger Nationalsozialist in so großer Not zu benehmen hatte. Auch die Ortsgruppenleitun12 13 14 15 16
StA B, GB 052/Personalakten: Lutz Eduard – Zanetti an Kreisleitung (09.10.1944). Hilda Mühlstein (geb. 1900). StA B, GB 052/Personalakten: Brusl Franz (geb. 1892). Vgl. StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. II; Erfassung untätiger Parteigenossen. StA B, GB 052/Personalakten: Steltzl Karl (geb. 1883) – Steltzl an Kreisleitung (02.09.1944).
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gen und Bürgermeister begannen zu patzen. In einem Kreismitteilungsblatt vom Juli 1944 musste Kreisleiter Gärdtner so einiges geradebiegen. Offenbar war es nämlich mittlerweile Usus geworden, als Ortsgruppenleiter einfach so beim Kreisleiter zu erscheinen, als wäre es zu viel verlangt, sich zuvor einen Termin auszumachen. Zwischen Tür und Angel wären dann Dinge zu besprechen gewesen, für die man sich eigentlich mehr Zeit nehmen müsste. Hinzu kam: Bei der letzten Arbeitstagung am 7.7.1944 hat der Kreisleiter auf die in letzter Zeit kaum mehr tragbaren Terminversäumnisse hingewiesen. […] Die Ortsgruppenleiter und Ortsgruppenamtsleiter fanden es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, gar nicht der Mühe wert, sich wegen des Nichteinhaltens der Termine zu entschuldigen und um eine Fristenverlängerung zu bitten. Dann stieß ihm noch die grassierende Unpünktlichkeit übel auf und die sonstige Wischi-Waschi-Einstellung – exemplarisch ersichtlich an einer Tagung im Jänner 1944. Einige Teilnehmer erschienen ohne ausreichende Begründung zu spät, einige, besonders Ortsgruppenamtsleiter und Bürgermeister eilten noch während des Vortrages des Pg. Fahrion zu den Zügen, einige Ortsgruppenleiter nahmen an dem durch mich in Form einer Einladung ergangenen Kameradschaftsabend nicht teil und baten nach Hause fahren zu dürfen. Gärdtner begann dann seinen Ortsgruppenleitern und den Bürgermeistern – alles erwachsene Männer – tatsächlich zu erläutern, dass bei voraussichtlichen Verspätungen der öffentlichen Verkehrsmittel eben frühere Züge genommen werden müssten. Und eines stellte er auch klar: Eine vorzeitige Abfahrt, gleichgültig ob unentschuldigt oder mit nicht ausreichender Entschuldigung z.B. bei Tageslicht noch heimkommen zu wollen, Grippeerkrankung des Kindes, Ängstlichkeit der Frau bei Nacht usw. haben in Zukunft zu unterbleiben.17
Bitternis Das NS-Regime musste sich bei solch innerparteilichen Zuständen folgende Frage stellen: War mit solchen Parteimitgliedern ein NS-Staat zu machen? Was konnte die Partei noch gegen den Abfall seiner Ideologieträger tun, außer Parteigerichtsverfahren einzuleiten und Parteiausschlüsse auszusprechen? Den geringsten Aufwand verursachten markige Reden, gespickt mit großen Worten und pathetischen Phrasen. Die Besinnung auf die guten alten Zeiten war hoch im Kurs. Voller Nostalgie erschienen die Kampfzeit der 20er und 30er Jahre und die Illegalität während des Systemregimes. Einerseits wurde gepredigt, sich nicht zurückzunehmen und jedem Feind energisch die Stirn zu bieten, andererseits Ruhe und Haltung auszustrahlen. Kreisleiter Hans Hermann mimte in seinen Ansprachen mal den Krieger, mal den Propheten und mal den Stoiker, wie am Dienstappell der Kreisleitung Ende August 1943. Wer jetzt kleinmütig werde, der wisse: Es gibt nach diesem Krieg keinen Friedensschluss nach altem Muster, sondern nur Sieger und Vernichtete. Jeder einzelne Deutsche würde die blutige Faust der Bolschewisten spüren, wenn wir unterliegen würden. Es gibt nur
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StA B, GB 052/Kreisleitung; Fasz. I; Lagerberichte Juli 1944 – Kreismitteilungsblatt (13.07.1944).
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eines für uns: Ausharren bis zum siegreichen Ende und restlose Pflichterfüllung.18 Er hatte nicht unrecht. Der Friedensschluss 1945 sollte tatsächlich ein ganz anderer werden als nach dem Ersten Weltkrieg. Denn im Vergleich zu jenem war der Friedenschluss nach dem Zweiten Weltkrieg gütiger, nachsichtiger und wesentlich nachhaltiger. Ein beispielloser Friedensschluss in der europäischen Geschichte, vor allem, wenn man bedenkt, wie eindeutig – im Vergleich zum Ersten Weltkrieg – der Aggressor zu benennen und mit welcher Brutalität und Menschenverachtung er vorgegangen war. Um nichts besser waren die aus Berlin kommenden Sprüche. Dort herrschte bei nicht wenigen NS-Granden genauso die Devise „Augen zu und durch“. Im März 1943 war es Martin Bormann, der die Parteigenossen auf den totalen Krieg einschwor und darauf, dass die Zügel fester angezogen werden müssten. Wir haben jetzt keine Zeit mehr für Tees, für Empfänge und Festessen, soweit diese nicht außenpolitischer Gründe halber veranstaltet werden müssen. Beim Volk bestände ferner kein Verständnis für friedensmäßige Vergnügen oder lang ausgedehnte alkoholische Sitzungen einzelner Führer. Er wetterte gegen den Schlendrian und gab zu bedenken: Wir müssen damit rechnen, dass über eine durchzechte Nacht mehr geredet wird als über hundert durchgearbeitete. Er verlangte eisernen Widerstandswillen, den Verzicht auf gewisse Liebhabereien, Bequemlichkeiten und Sonderrechte und er forderte vorbildliche und untadelige Unbestechlichkeit, Korrektheit und Vorbildlichkeit. Nicht zu vergessen, der politisch-religiöse Input in Bezug auf den Führerwillen. Zu seiner Führerschaft muss das deutsche Volk in den ersten Stunden voll gläubigen Vertrauens aufblicken können, dann wird es die innere Festigkeit besitzen, an der jede Macht der Erde zerbrechen muss.19 Das war NSDAP-Heilsgeschichte vom Feinsten. Doch im Antlitz der Wirklichkeit einem „Realitätscheck“ unterzogen, ging das NS-Pathos gnadenlos unter. Unter der Personaldecke tummelten sich weiter die Märzveilchen und Konjunkturritter und auch die alten und verdienten Unterstützer, Kämpfer und Parteigenossen waren bei weitem nicht mehr über jeden Zweifel erhaben. Hans Karthaus, Maschineningenieur, seit 1933 Parteimitglied, begann seine berufliche Laufbahn bei den Continental-Gummiwerken in Hannover, von wo er im März 1939, als technischer Direktor und Vorstand, zur Semperit in Traiskirchen wechselte. Politisch unbedingt zuverlässig, ein einwandfreier Parteigenosse, geberfreudig, nationalsozialistisch eingestellt – an ihm schieden sich zu jenem Zeitpunkt keinerlei Geister. Eine Bleibe fand er in Baden, in der Schubertgasse 8, einer arisierten Villa, welche zuvor Samuel Arditti gehört hatte. Kosten der Übersiedlung von Hannover nach Baden sowie Instandsetzung seines neuen Domizils übernahm sein neuer Arbeitgeber. Die Arbeiten wurden durch die Arbeiter der Semperit-Werke durchgeführt. An sich ein legaler und abgesprochener Vorgang – solange man auch alles ordentlich verrechnet und sich an die vertraglichen Regelungen gehalten hätte. Das war nicht der Fall. Denn Hans Karthaus zog Personal der Semperit nicht nur für die Instandsetzungsarbeiten ab, sondern auch für Gartenarbeiten oder periodisch 18 BZ Nr. 70 v. 04.09.1943, S. 2. 19 StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1941–1945 – Bormann (12.03.1943).
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zum Teppichklopfen, Kohleabführungen und anderen gröberen häuslichen Arbeiten – und das manchmal für die Dauer von fünf Wochen. Und all das zahlte auch die Semperit. Laut Hans Karthaus wäre alles rechtens und alles wäre so vereinbart gewesen. Außerdem hätte er die Arbeiter nur zu Zeiten geringer Beschäftigung eingespannt, also von einer Störung des Betriebes, wie es ihm vorgeworfen wurde, konnte keine Rede sein. Und schließlich seien die Arbeiter gewöhnlich ohne sein Wissen durch seine Frau fernmündlich direkt bei den Abteilungsleitern angefordert worden. Dass das alles abgesprochen gewesen wäre, wurde von Seiten der Betriebsverantwortlichen geleugnet und gewusst davon hatte natürlich auch niemand. Vielleicht hätte ein Blick in die Faschingsausgabe der Semperit-Zeitung vom Februar 1942 genügt, um seinen Wissensfundus aufzupolieren. Dort wurde folgende Anzeige geschaltet: Maurer, Installateure, Elektriker und Gärtner auf Firmenrechnung von neuem Villenbesitzer in Baden für dauernd gesucht!20 Doch die Affäre war noch lange nicht zu Ende. Als sich die Semperit nach zwei Jahren endlich aufraffte, gegen ihren technischen Direktor Beschwerde einzulegen, erhielt jener Besuch von Alois Hopfinger, einem Jugendlichen, der in der Gauleitung als Hilfskraft tätig war und durch Zufall Einblick in die sich anbahnenden Untersuchungen gegen Hans Karthaus erhascht hatte. Nicht abgeneigt, sich etwas dazu zu verdienen, bot er Karthaus gegen Bezahlung Insiderwissen an, wie es denn um dessen Verfahren stehe. Karthaus sagte nicht nein und nahm – bei geheimen Treffen im Café de l’Europe in Wien – mehrmals das ihm Angebotene in Anspruch. Als das Ganze aufflog, sahen die Konsequenzen wie folgt aus: Hans Karthaus blieb noch bis Juni 1942 bei der Semperit, danach schied er aus. Ein solch kompromittierter Parteigenosse hätte eigentlich streng bestraft werden müssen, schließlich hatte er Volksvermögen veruntreut, und da gab es ja noch das mit der Vorbildfunktion. Doch offenbar winkte zuerst eine Arbeitspause von einem halben Jahr. Im Jänner 1943 wurde er wieder durch die „Continental“ übernommen und mit der Leitung einer Gummifabrik in Holland betraut, von wo er im Oktober 1943 in den Stab des „Generalbevollmächtigten für Italien des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion“ berufen wurde. Einziger Wermutstropfen, im September 1944 wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Und Alois Hopfinger, den das Gaugericht als jugendlichen Tunichtgut und Hochstapler einstufte, landete hingegen im KZ-Dachau. Ein gutes Beispiel, wie gleich doch nicht alle waren, wie gerecht die NS-Justiz agierte und wie der Personalmangel es selbst Personen wie Hans Karthaus erlaubte, weiterhin führende Positionen einzunehmen und erst nach zwei Jahren aus der Partei ausgeschlossen zu werden. Doch es waren nicht einmal solche Parteigenossen, die die größte Gefahr für das NS-Regime darstellten. Sie beschmutzten nur das Ansehen der Partei, aber Leute wie Hans Hanauska zersetzten das NS-System aktiv von innen. Sozialisiert im sozialistischen Milieu, war er bis zum Februar 1934 in der freigewerkschaftlich organisierten Holzarbeiterjugend aktiv, wo er den Posten des Lehrlingsschutzreferenten innehatte. Ausgestattet mit Fachkenntnis, wurde er Fachbeamter in der Rechts20 StA B, GB 052/Personalakten: Karthaus Hans (geb. 1895) – Gaugerichtsbeschluss (29.09.1944).
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abteilung des Gewerkschaftsbundes der Arbeiter im Holzgewerbe, wechselte dann im September 1936 in die Kammer für Arbeiter und Angestellte und blieb dort bis zu deren Auflösung im Juni 1938 tätig. Arbeitslos und mit mehreren Absagen konfrontiert, kam ihm ein ehemaliger Arbeitskollege, Fritz Lang, zu Hilfe. Er diktierte Hans Hanauska ein Bewerbungsschreiben, inklusive fingierter Partei- und SA-Anwartschaft, was zu seiner Einstellung bei den Wiener Neustädter Flugzeugwerken führte. Wieso Fritz Lang solche Fähigkeiten besaß? Er entpuppte sich als illegales SS-Mitglied und offenbar störte ihn die linke Sozialisation seines Gegenübers nicht im Geringsten. Hans Hanauska, der im Lohnbüro unterkam, dämmerte bald, wie viel ich für die Gefolgschaft, insbesondere für politisch Unzuverlässige und rassisch Verfolgte tun könnte […].21 Er nahm Kontakt zu seinen früheren roten Genossen auf, die seine Ideen für gut befanden und ihm die Parteimitgliedschaft nahe legten. Damit wäre er aus der Schusslinie, und das war auch bitter nötig, denn der neue Betriebsführer, Direktor Steininger, pflegte sich ausschließlich mit politisch einwandfreien Parteimitgliedern abzugeben – was auf Hans Hanauska, mit seiner pseudo NSDAP- und SA-Anwartschaft eben nicht zutraf. Der Parteibeitritt scheint geklappt zu haben und führte, laut eigener Aussage, dazu, dass nun unter seiner Regie, dutzende „Mischlinge“ eine Anstellung fanden, kommunistische Umtriebe unentdeckt blieben und Verfolgte vor Kerkerstrafen bewahrt wurden. Ferner half er Juden in „Mischehen“, Fremd- und Zwangsarbeitern und verzögerte Einberufungsbefehle. Sein Treiben blieb nicht ohne Folgen. Siebenmal wurde er von der Gestapo vorgeladen worden, inklusive einer Hausdurchsuchung und einem danach ausgestellten Verweis sowie dem Ausschluss aus der NSDAP im März 1944. Nur durch das Einschreiten seiner Vorgesetzten konnte er seinen Arbeitsplatz behalten. Seine Angaben wurden durch die Bezirksleitungen der KPÖ- und SPÖ-Wiener Neustadt bestätigt, ferner durch die Widerstandsbewegung „Abteilung Wiener Neustadt“, durch die Politische Polizei in Wiener Neustadt und in Baden, durch den ÖVP-Regierungsrat und Geschäftsführer der „Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie“ Eduard Strauss und weitere Personen, denen er geholfen und dabei sein eigenes Leben riskierte hatte. Zu ihnen gehörte Mira Major, die 1939 als Jüdin und jugoslawische Staatsangehörige mit ihrem Wiener Partner nach Belgrad auswandern musste. Als sie im September 1944 zurück nach Wien kam, unterstützte er sie mit Lebensmittelkarten, indem er sie als Angestellte aufnahm. Er fälschte eine Überstellung, wonach Mira Major eine Arbeiterin der Zweigstelle in Semlin gewesen wäre – zufälligerweise waren ihre Personalakten in Semlin verloren gegangen. Durch die vorgetäuschte Überstellung aus Semlin ersparte mit Herr Hanauska das Arbeitsamt bezw. die Zuweisung oder Genehmigung des Arbeitsamtes für 6 Monate – länger, meinte er, würde der ganze Kram sowieso nicht mehr dauern – und damit die eidesstattliche Erklärung über meine Rassenzugehörigkeit etc. Desgleichen brauchte mein Akt nicht zur Kontrolle zur Sonderabteilung und zum Abwehrbeauftragten gehen. Eine derartige Kontrolle hätte sicherlich 21 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hanauska Hans (geb. 1914) – Aussage (25.04.1947).
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sofort herausbekommen, dass ich sehr häufig in Wien vor dem Jahre 1938 gewesen bin, da ich doch stets polizeilich gemeldet war.22 Einer der vielen, die Hanauskas Anti-NS-Haltung bezeugten, war auch Dr. Toma Ivanovic. Vor seiner Verschickung nach Deutschland und seinem Dasein als Lager- und Betriebsarzt der Wiener Neustädter Flugzeugwerke war Toma Ivanovic Präsident der jugoslawischen Ärztekammer gewesen. Nach 1945 dankte er Hans Hanauska für dessen humanen Umgang mit den Zwangsarbeitern, freute sich, dass es ihm gute gehe und schrieb ebenso: In den nächsten Tagen werde ich mich in mein befreites Vaterland begeben und will Ihnen verdiente Dankbarkeit in meinen und meiner Volksgenossen Namen aussprechen. Gute Taten können und dürfen nie vergessen werden […] In der Zukunft wünsche ich Ihnen das Allerbeste und bin fest überzeugt, dass Sie alle Kräfte an dem Aufbau des freien Österreichs einsetzen werden.23 Dass solch verräterischen Personen in solch sensiblem Bereich zu finden waren, war für das NS-System desaströs. Major Aurel Gimbosia, der nach seiner langjährigen Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg und seiner Rückkehr Filialleiter bei der Humanic in Baden wurde, galt anfänglich als ein guter Mann, seit Jahren überzeugter Antisemit und hat sich zu dieser Einstellung immer bekannt.24 Es hieß zwar, er sei ein Christlichsozialer gewesen, wobei, ganz sicher war man sich nicht, jedenfalls war er seit 1940 wieder im militärischen Dienste und überzeugte mit einem einwandfreiem Verhalten. Und dann, nur fünf Jahre später, hatte man endlich Klarheit: Wie uns bekannt wird, war Oberstleutnant Gimbosia Mitglied der VF, des Freiheitsbundes und Monarchist. Eine Beobachtung in der letzten Zeit hat ergeben, dass derselbe nur in unbedingt notwendigen Fällen den deutschen Gruß gebraucht.25 Der Mann war kein Parteimitglied, aber Angehöriger der Wehrmacht, der nun sein subversives Verhalten zum Besten gab. Dr. Heinz Freiherr v. Fries, der 1944 ebenso negativ auffallen sollte, war nicht nur Angehöriger der Wehrmacht, sondern auch noch Parteimitglied. Historisch war er der Spross einer Adelsfamilie, die es im 18. Jahrhundert zu großem Reichtum gebracht hatte. Er war Kriegsfreiwilliger des Ersten Weltkrieges, rüstete als Oberleutnant ab, punktete mit Fronterfahrung, sodass einer Überführung in die Wehrmacht nichts im Weg stand. Noch dazu stellten ihm seine, zumeist adeligen, Standesgenossen nur Bestnoten aus. Er nahm an den Feldzügen in Frankreich, Griechenland und der Sowjetunion teil und machte dort eine gute Figur als Offizier. Man sah ihn schon zu Höherem auserkoren, doch eine schwere Erkrankung im Dezember 1941 machte seiner Offizierskarriere bei der Wehrmacht einen Strich durch die Rechnung. Nach seiner Genesung zog es ihn wieder an die Front, doch sein Gesuch wurde abgelehnt und er fand sich am Balkan, als zweiter Generalstabsoffizier, wieder, wo er allerdings Ende 1943 erneut schwer erkrankte, diesmal an Typhus und der 22 Ebd. – Aussage Mira Major (01.06.1945). 23 Ebd. – Aussage Toma Ivanovic (25.06.1945). 24 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Gimbosia Aurel (1887–1959) – Kreisleitung an Stadtpolizeiamt (18.07.1940). 25 Ebd. – SD an Kreisleitung (06.02.1945).
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Gelbsucht. Gesundet und zurück in Baden, besuchte er im Juli 1944 einen Friseursalon, wo er laut Zellenleiter Hans – je nach Scheibweise – Wiltschek/Wildczeck/Wilczek/Wilzeck Folgendes von sich gegeben hätte: Wir werden den Krieg verlieren und gewinnen werden die anderen. Und dann erinnerte man sich noch, als er vor seiner Einrückung gefragt worden war, ob er den NSDAP-Mitgliedsbeitrag weiterhin entrichten werde, soll er damals entgegnet haben: Wenn der Krieg in 5 Jahren nicht zu Ende ist, zahlt sowieso kein Mensch mehr denselben (den Mitgliedsbeitrag).26 Die Anzeige war raus. Heinz Fries wurde vorgeladen, doch anders als vermutet, rückte er von seiner „Endsieg-Skepsis“ nicht grundsätzlich ab, sondern brachte seine bisherigen militärischen Erfahrungswerte ins Spiel. Es ist möglich, dass wir uns damals über die Kriegslage unterhalten haben und dass ich mich dabei nicht sehr optimistisch geäußert habe, weil mir als Offizier doch verschiedene Dinge zugekommen sind, aus denen ich mir ein ungefähres Bild über die Lage machen konnte.27 Kreisleiter Gärdtner ließ seine Erklärung einmal so stehen, da Heinz Fries schließlich doch ein erfahrener und verdienter Offizier war, offenbar über genug Rückendeckung verfügte, der zuständige Ortsgruppenleiter ihn nicht wirklich kannte und der Zellenleiter Hans Wiltschek mittlerweile seit Monaten beim Schanzeinsatz im Burgenland sein Auskommen fand. Die Angelegenheit schien zu versanden und Gärdtner hatte gegen die Einstellung des Verfahrens auch nichts einzuwenden. Er begnügte sich mit einem Verweis und der Mahnung, dass Äußerungen, die als defätistisch aufgefasst werden können, mit der Haltung eines Pg. und Offiziers nicht vereinbar sind.28 Eigentlich wird uns hier wieder einmal ein Armutszeugnis präsentiert. Parteigenossen wie Heinz Fries, die offen ihre Skepsis kundtaten, kamen mit einer Verwarnung davon und blieben weiterhin Parteimitglieder bzw. bei der Wehrmacht – wobei, im September 1944 rüstete Heinz Fries dann endgültig ab. Und dass Heinz Fries von Anfang an nicht mit ideologischem Esprit glänzte, verdeutlicht seine Beurteilung vom Februar 1939. Selbst wenn er politisch als verlässlich eingestuft wurde, es fehlt ihm noch einiges an sozialem Empfinden. Dies beweist seine laue Geberfreudigkeit, die er durch Aufzeigen aller für ihn von Vorteil erscheinenden Bestimmungen zu bemänteln versucht. Ein Grund für diesen Mangel mag seine „freiherrliche“ Abstammung sein.29 Mehr als nur „Endsiegskepsis“ zu verbreiten, tat der beim Wehrmeldeamt stationierte Bezirksfeldwebel Thomas Burger. Bereits 1940 soll er begonnen haben, eher gegen als für den Sieg zu wirken.30 Der Fall ist auch deswegen interessant, weil er mehrere Ebenen bedient. Thomas Burger, geboren in Darmstadt, soll laut eigener Aussage im Zusammenwirken mit der Widerstandsbewegung zahlreiche Männer wehruntauglich geschrieben haben, 26 StA B, GB 052/Personalakten: Fries Heinz (geb. 1899) – Hans Wildczeck (geb. 1894) Aussage (21.07.1944). 27 Ebd. – Aussage Fries (15.09.1944). 28 Ebd. – Aussage Gärdtner (19.02.1945). 29 Ebd. – Ortsgruppe an Kreisleitung (27.02.1939). 30 Thomas Burger (geb. 1912).
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indem er Personal- und Gesundheitsakten manipulierte. Vier Jahre soll alles gut gegangen sein, bis er im März 1944 vom Obergefreiten Rudolf Kager denunziert wurde. Thomas Burger wurde in drei Fällen wegen Urkundenfälschung – es ging um Wehrkraftzersetzung – zu fünf Jahren Zuchthaus und der Wehrunwürdigkeit verurteilt. Nach 1945 musste sich Rudolf Kager für seine Denunziation verantworten. Er erklärte in seiner Einvernahme, von den gefälschten ärztlichen Befunden schon immer gewusst zu haben. Er war für die Botendienste im Wehrmeldeamt zuständig gewesen. Lange Zeit hätte er nichts gesagt, doch an diesem einem Tag, im März 1944, wäre es zu einer Nachfrage eines Oberstleutnant Krupich gekommen, woraufhin Rudolf Kager die Nerven verloren hätte, weil: Die Radierung bzw. Fälschung des Befundes auf AV (arbeitsverwendungsfähig) war sehr plump gemacht und von jedem Laien sofort erkennbar. Wenn ich daher die Meldung nicht erstattet hätte, wäre ich als Mitschuldiger vor das Kriegsgericht gestellt worden. Ich habe diese Meldung nur erstattet, um meinen Kopf zu retten, und nicht, um zu denunzieren.31 Interessant ist die Einschätzung des im Wehrmeldeamt tätigen Dr. Karl Gruber. Er kannte beide Männer. Kager soll aus vollkommen ärmlichen Verhältnissen gekommen sein, sodass seine Arbeitskollegen zu Ostern und zu Weihnachten kleine Geldbeträge für ihn spendeten. Von seinen Vorgesetzten wurde er einzig für Botengänge und Handlangerdienste herangezogen, die laut Gruber wohl oft für ihn beschämend waren. Er war aber diszipliniert u. gehorchte. Ich neige zur Ansicht, dass diese Stempelung zum Hausfaktotum nur auf seinen, sagen wir mal, sozialen und besonders wirtschaftlichen Notstand zurückführbar ist. Politisch soll Kager nicht aufgefallen sein, wobei eine gewisse Sozialisation bei der christlichen Arbeiterschaft festgestellt werden konnte. Und Thomas Burger, den Gruber weniger gut kannte, galt als SS-Angehöriger, er hat auch erzählt, dass er Mitbegründer der SS in seiner Heimatstadt, in der Nähe von Darmstatt und HJ-Führer gewesen sei. Nehmen wir an, dies alles entspricht der Wahrheit, so hat ein SSAngehöriger über vier Jahre lang immer wieder Männer vor der Front bewahrt und wurde dann von jemandem verraten, der, obwohl gar nicht involviert, es mit der Angst zu tun bekam, selbst wegen eines nicht begangenen Delikts belangt zu werden. Tragisch-komisch wird es dann, wenn Gruber noch anführt: Was das Verhältnis Kagers zu Burger anlangte, konnte ich nur wahrnehmen, dass beide als humorvolle, witzige Männer sich gerne mit Späßen unterhielten.32 Selbiges, was Thomas Burger getan hatte, haben wir auch bei dem Privatbeamten und Parteimitglied seit 1938 Hauptmann Otto Kümmel. Als Leiter des Aufstellungsstabes in St. Pölten zuständig für den Frontnachschub, begann er laut eigener Angabe eben diesen zu verzögern. Er hielt Benzin- und Materialnachschub hintan, meldete Fälle von Wehrkraftzersetzung an seine Vorgesetzten nicht weiter und sabotierte Einberufungsbefehle. Statt an der Front fanden sich viele junge Männer in Kümmels Schreibstube wieder, oder sie wurden gänzlich untauglich geschrieben. In den Genuss solch wohlwollender Behandlung 31 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Kager Rudolf (1900–1957) – Aussage (17.09.1945). 32 Ebd. – Aussage Gruber s.d.
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kamen zumeist Österreicher. Sein Mitarbeiter, Roman Zelenka, bemerkte dazu: Die antipifkenisische und antimilitärische Einstellung des Hptm. Kümmel war mir jederzeit vollkommen klar, die sogar soweit ging, dass er Verfolgungen gegen Deserteure, wenn es sich um Österreicher handelte, überhaupt nicht einleiten ließ. Der Wehrmachtsbeamte Ernst Hernleithner sagte sogar aus, dass Herr Hauptmann Kümmel einer Außenstelle der Abteilung Ib/Org. des WkdoXVII angehörte, dessen erster Sachbearbeiter, Herr Major Szokoll, mit der russischen Armee seit August 1944 in Verbindung gestanden war.33 Im Gegensatz zu Thomas Burger wurde Otto Kümmel nie überführt, wohl aber von der Gestapo und der Abwehrstelle im Wehrkreis XVII wegen abfälliger Äußerungen angezeigt. Dass er dennoch im September 1944 aus der Partei ausgeschlossen wurde, lag viel mehr an seiner Ehefrau, Barbara Kümmel – zu ihr im nächsten Kapitel mehr. Wenn wir noch im Wehrkreis XVII bleiben wollen, so finden wir hier einen weiteren Hauptmann, der zwar nicht solche Sabotageakte hinlegte wie Otto Kümmel, aber dessen Präsenz allein für eine gehörige Portion Unverständnis bei den Badener Nationalsozialisten sorgte. Nach Mitteilung der Dienststelle der NSDAP-Ortsgruppe Baden I war Führer bis zum Umbruch bei der Heimwehr und ist derselben in Baden als fanatischer Gegner u. Verfolger aller ihm bekannten Nationalsozialisten hinreichend bekannt u. hat auch im Juli 1934, mit der Waffe in der Hand gegen die Nationalsozialisten gekämpft.34 Es ging um Karl Führer, der 1927 mit der Bezirksführung der Heimwehrbewegung betraut worden und 1934 zum Bezirkskommandant der Heimwehr aufgestiegen war und dadurch bei der Bezirkshauptmannschaft in Sachen Behandlung und Verfahren gegen politische Gegner ein gewichtiges Wörtchen mitzureden gehabt hatte. Dass er ein guter Freund des Heimwehrführers Ernst Rüdiger von Starhemberg gewesen sein soll, machte ihn zu einem perfekten Hass-Objekt für die Badener Nationalsozialisten – die sich in mehreren Berichten über dessen Übergriffe ihnen gegenüber ausführlich echauffierten. Sein Name stand ebenso auch auf der Schwarzen- und Geiselliste – jene Personen, die nach dem Anschluss in Baden sogleich unschädlich gemacht werden sollten. Und dann, man wollte es kaum glauben, fand sich Karl Führer als Hauptmann in der Abwehrstelle im Wehrkreis XVII wieder, wo er sich als Abwehroffizier mit offenbar Gleichgesinnten für einen Mann einsetzte, der aus seiner, dem Nationalsozialismus feindlichen Einstellung heraus, Verrat zur französischen Gesandtschaft in München betrieb.35 Jetzt wurde es hektisch, Kreis- und Gauleitung schrieben einander Briefe, in denen Passagen rot angestrichen waren, die Schreiben mit dem Stempel „Geheim“ versehen wurden und in denen betont wurde, dass die ganze Angelegenheit unbedingt unter vier Augen und vertraulich gelöst werden müsse. Leider gibt der Akt nicht mehr her, aber er veranschaulicht wiederum mehrere Aspekte. Zum einen wieder einmal den Personalmangel. Obwohl die Ortsgruppe energisch gegen Karl 33 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Kümmel Otto (geb. 1898). 34 StA B, GB 052/Personalakten: Führer Karl (geb. 1897) – Heitzer an Landrat (23.02.1939). 35 Ebd. – Kreisleitung an Gauleitung (23.03.1943).
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Führer angeschrieben hatte, fand Führer, ein überzeugter Mann der Heimwehr, dennoch im Wehrkreis XVII als Abwehroffizier Verwendung. Der Badener Polizeivizechef Josef Heitzer gab deswegen zu bedenken: Es ist kaum anzunehmen, dass Führer seine Gesinnung bisher geändert hat und bietet derselbe nicht die Gewähr für einen Beamten im nationalsozialistischen Staate. Andererseits, wieso nicht! Opportunismus und Pragmatismus, zutiefst menschlich, besonders in Extremsituationen. Und so ein Anschluss war eine Extremsituation, vor allem für jemanden wie Karl Führer, der noch kurz zuvor auf der anderen Seite gestanden hatte. Aber selbst wenn Karl Führer sich von der vaterländischen hin zur braunen Seite gewandt hätte – war mit solchen Leuten, um die Frage noch einmal aufzuwerfen, der NS-Staat zu machen? * Dass gewöhnliche Parteigenossen wider die NS-Werte agierten, war schon skandalös genug. Wenn verdiente Parteigenossen dies taten, war es zusätzlich noch peinlich. Und richtig bitter wurde es, als sich Risse in der Nachwuchsarbeit bemerkbar machten. Die Jugend, der Stolz des NS-Regimes und auch zukünftiger Träger, hatte sechs Jahre nach dem Anschluss immer weniger Lust, ihre Freizeit den NS-Jugendorganisationen zu opfern – zumindest wenn wir den Landkreis Baden im Jahr 1944 betrachten. Wobei es auch schon zuvor Beschwerden gab, wie im Sommer 1941, in einem Parteiheim in Gainfarn, welches sich die NS-Frauenschaft mit dem Jungmädelbund (JM) teilen musste. Kreisfrauenschaftsleiterin Marie Hendrich beschwerte sich bei der HJ-Führerin des Untergaues 511, Hermine Zeiler: Nun erhielt ich von der Ortsfrauenschaftsleiterin neuerlich eine Klage, in welcher das Verhalten der Jungmädel wieder beanstandet wird. So haben die Jungmädl den Klosettschlüssel abgezogen und den Vorraum wieder als Klosett benutzt. Dass sich unter diesen Umständen meine Frauen weigern, den Unrat wegzuputzen, ist mir mehr als selbstverständlich.36 Diese einzelnen und je nach Perspektive lustigen oder geschmacklosen Aktionen waren aber nur zarte Vorboten jener Zustände, die sich 1944 auftun sollten. Die Ortsgruppen wurden durch die Kreisleitung aufgefordert, Berichte anzufertigen, wie es denn um die Jugendarbeit in den einzelnen Städten und Gemeinden im Kreis so bestellt sei. Die Lage war, gelinde gesagt, besorgniserregend. Altenmarkt a. d. Triesting: Die Stimmung ist allgemein gut, aber: Wenn die Jugend im Einzelnen versagt, war wohl die Führung, die im Laufe der Jahre stark wechselte, allein schuldtragend. Auch sind die Führer zu wenig geschult und sind sich ihrer Aufgabe nicht ganz bewusst. Beim BDM hatte zum Beispiel die Führerin ihren Mädels den Beitritt zur NSDAP lang und breit erörtert – selbst wollte sie der Partei nicht beitreten. Und außerdem: Die Mädel waren allein nicht fähig, ihre notwendigen Belege zu beschaffen. Es ist eine große Lauheit in allem. Pfaffstätten: Die Situation hatte sich seit dem letzten Bericht nicht verbessert, eher verschlechtert. Grund hierfür ist der Mangel eines geeigneten Lokales. Teilweise war der Saal, in dem die HJ zusammenkam, durch Soldaten belegt. Die Tätigkeit der HJ ruhte seit sechs Wochen. Dieselbe Tristesse beim JM. Das von mir erwähnte Turnen der JM entfällt leider schon 36 StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. IV NSF/DFW Ortsgruppen; Bad Vöslau-Gainfarn-Großau.
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seit längerer Zeit, da die Mädels scheinbar das Interesse daran verloren haben. Das Durcheinander ging so weit, dass der Ortsgruppenleiter nicht einmal wusste, ob der aktuelle HJ-Führer Patschovski oder Pantschovski hieß. Grundsätzlich ein guter Mann, er konnte motivieren, aber da er demnächst an eine Offiziersschule wechselte, war klar, dass demnächst wieder eine neue Kraft eingeschult werden bzw. sich selbst einschulen müsste. Und zu der BDM-Teilorganisation „Glaube und Schönheit“ schrieb der Ortsgruppenleiter kurz und bündig: Hier weiß ich nichts zu berichten. Tribuswinkel: Hier war man, nachdem die frühere HJ-Bannführung ziemlich versagt hatte, nun wieder guten Mutes. Zusammenfassend kam man sagen, dass die bisherige Zusammenarbeit mit den weiblichen Gliederungen besser war als mit den männlichen. Baden Ortsgruppe-Weikersdorf: Die HJ-Ortsgruppe verlor Ende Juni 1944 ihre Räume im ehemaligen Weikersdorfer Rathaus (heute Rollettmuseum und Stadtarchiv) und wenig später auch ihre Ersatzbleibe im Café „Golz“. Wir hatten nicht einmal mit dem Einrichten der Räume begonnen, da wurden auch diese Räume beschlagnahmt und meine ganze Arbeit war wieder umsonst. Jetzt sind sie so recht und schlecht untergebracht, werden des öfteren noch hin- und hergeschoben und verlieren dadurch die gemeinsame Bindung. Gainfarn: Das Heim der Hitler-Jugend ist in einem so verwahrlosten Zustand, dass es eigentlich eine Schande für die Formation war […]. Kottingbrunn: Ein regelrechter Dienstbetrieb in unserer HJ kann seit mehreren Monaten überhaupt nicht mehr durchgeführt werden, da die noch geeigneten Führer in kürzeren Abständen zum RAD und teils als Freiwillige zur Wehrmacht eingerückt sind. Berndorf: Eine Stamm-HJ besteht derzeit überhaupt nicht. […] Die DJ wird vom Fähnleinführer schlecht geführt. Blumau: HJ, besonders Stamm-HJ, und BDM funktionieren nicht – keine Führer. Fast alle Mädel und Jungen sind in den Betrieben auswärts eingesetzt, müssen zeitlich in der Früh schon weg und kommen erst spät abends zurück. Sie zeigen durchwegs kein Interesse und keine Lust für den HJ-Dienst. Furth a. d. Triesting: Das Verhalten der HJ lässt hier sehr viel zu wünschen übrig. Grillenberg: Hier finden wir zuerst eine übliche Rekapitulation, wo man anfänglich sehr zufrieden mit der HJ war, aber: In den letzten Wochen war jedoch keinerlei Betrieb. Enzesfeld: Ebenso öfters in den Berichten zu lesen: BDM geht in Ordnung. […] Hingegen habe ich gar keine Verbindung mit den Buben. Hirtenberg: Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Formationen [BDM und HJ] ist die denkbar schlechteste. Der Grund liegt darin, dass die Einheitsführer nicht die Fähigkeit besitzen die Mädels und Jungens zu führen und kommt daher auch niemand zum Dienst. Klausen-Leopoldsdorf: Auch hier strotzten die Veranstaltungen mit Leere. Die meisten Jungen sind Bauernsöhne, meines Erachtens aber ist die Ursache der Außerachtlassung ihrer Pflichten nicht in der vielen Arbeit zu suchen, sondern in der Einstellung der Eltern zur NSDAP. Reisenberg: Hier im Wortlaut des Ortsgruppenleiters wiedergegeben – der offenbar kein Freund der Interpunktion war: H.J.Führer ist vorläufig keiner vorhanden ich muss mir erst einen geeigneten auswählen da habe ich die Bann-Führung davon verständigt (beziehungsweise
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Bannführer) um mit ihm eine Aussprache zu halten bis heute noch keine Antwort erhalten H.J. besteht in Reisenberg ich habe sehr großes Interesse dass sie von einem anständigen energischen Führer geführt wird. Oberwaltersdorf: Schon seit 2 Jahren übt die HJ keine Tätigkeit im Ortsbereich aus. DJ ist in Ordnung. Schönau a. d. Triesting: Eine allg. HJ existiert in der Ortsgruppe noch immer nicht. Die ins Leben gerufene Marine-HJ ist zwar uniformiert worden, sonst aber hört man nichts mehr von ihr. Trumau: Auch hier beschwerte man sich über den negativen Einfluss der Eltern. Von einer Arbeit ist nicht viel zu sehen, der Besuch in den Heimstunden belief sich in letzter Zeit auf 4–5 Mann. Beim DJ: Schwacher Besuch, Mangel an geeigneten Führern. […] Der Führer zumeist ein Bürschchen in den Flegeljahren, sein Benehmen färbt dann auf die Jungen ab. […] Oft unflätiges Benehmen den Erwachsenen gegenüber […]. Die Aufforderung der Kreisleitung, die Jugend fester anzupacken, hatte wahrscheinlich nur ein müdes Lächeln hervorgerufen. Es ist jetzt soweit, dass sich der Führer vor seinen Jungen fürchtet. Die Beurteilung der allermeisten Ortsgruppen schwankte zwischen mäßig bis schlecht. Einzig St. Corona am Schöpfl und Leobersdorf schienen eine funktionierende HJ zu haben. Es fehlte nicht nur an Disziplin, sondern ebenso an Materiellem, wie HJ- oder BDMUniformen und den angesprochenen Lokalitäten. Die Gründe für den Schlamassel in der Jugendarbeit waren hausgemacht und wurden auch angesprochen. Am direktesten tat es Berndorf, unter der Rubrik „Vermutliche Ursachen zu der schlechten Lag der HJ in Berndorf“ lesen wir dann: Alle guten HJ-Führer sind eingerückt und davon fast alle gefallen.37 Der ständige Führungswechsel brachte enorme Unruhe. Es konnten keine Beziehungen aufgebaut werden. Sobald sich ein Führer etablierte, wurde er entweder zur Wehrmacht eingezogen, oder er kam zum Reichsarbeitsdienst (RAD) oder musste einer regulären Arbeit nachgehen. Die nicht vorhandene Kontinuität, der ständige Führungswechsel, förderte zudem ein organisatorisches Chaos. Aber auch die Ortsgruppenleiter mussten sich etwas anhören in Bezug auf die HJ-Berichte. Im Mai 1944 wurden von jeder der 34 HJ-Ortsgruppen im Kreis Stimmungsberichte eingefordert. 14 Ortsgruppen hielten den Abgabetermin nicht ein, wurden daraufhin gemahnt, und fünf davon reagierten nicht einmal auf die Mahnung.38 Gegen solche Missstände halfen auch keine Masseninszenierungen mehr, weil diese 1944 auch die Masse vermissen ließen. Eine feierliche Übernahme am 27. Februar 1944 von 68 jungen Menschen aus der HJ in die NSDAP war ein Sturm im Wasserglas. Die propagandistischen Reden über das Rückgrat der Nation im Schicksalskampf, die Pflicht, ein Vorbild zu sein, bildeten gewohnt leere Phrasen, die von den Alten selbst oft genug konterkariert wurden.39 37 StA B, GB 052/Parteiform. I; Fasz. I HJ-BDM; HJ-Ortsgruppen 1944. 38 Vgl. ebd. – Gärdtner (09.05.1944). 39 Vgl. BZ Nr. 18 v. 04.03.1944, S. 3.
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Wenn es um die Jugend geht, treffen wir wieder auf Gertrud Maurer, die noch vor kurzem ihre Eltern davon überzeugt hatte, wie enorm lehrreich eine Führerinnenfunktion für sie als zukünftige Lehrerin sein würde. Auch in der Badener Zeitung hatte das alles so schön und logisch geklungen, als vom Ende der Pimpf- und Jungmädelzeit und dem Übergang in die HJ und den BDM schwadroniert wurde. Ganz perfide wurde der Wechsel verklärt, der Wechsel in die große Gemeinschaft der nationalsozialistischen Partei, die Gemeinschaft der Hitlerjugend umgibt sie mit einer Kraft, die heute, wo oft die starke Hand des Vaters fehlt und auch die Mutter in den Arbeitsprozess eingegliedert ist, wo ferner auch der Krieg in die Reihen der Erzieher empfindliche Lücken gerissen hat, der kräftige Nährboden für sie ist, in dem sie sich zu kräftigen jungen Deutschen entwickeln können.40 Ein propagandistischer Kniff wie er im Buche steht. Das NS-Regime schickte den Vater an die Front, den Lehrer gleich hinterher und die Mutter in die Fabrik. Keiner war mehr da, um den jungen Menschen an die Hand zu nehmen, um der drohenden Verrohung zu begegnen – außer die NSDAP. Und nur die Partei wäre in der Lage, zu der angestrebten deutschen Reifung hinzuführen. Als Gertrud Maurer frisch vom JM gleich die Führung eines Schafts beim BDM einnehmen sollte, damit hätte sie 15 bis 20 Mädchen unter ihren Fittichen gehabt, musste sie feststellen, dass gewisse Antipathien gegenüber ihren neuen Kameradinnen bestanden, und ich wollte mit den „blöden Gänsen“ (die immer nur von „ihren Buben“ sprachen) nichts zu tun haben, und so blieb ich schließlich beim JM, wurde hier Führeranwärterin und Sportwartin.41
Höllensturz Wenn es um den Verfall innerhalb der NSDAP geht, um den Verfall der NS-Sitten, des NS-Anstands und der NS-Moral, so möchte ich hier zwei Parteigenossen anführen, die uns schon mehrmals begegnet sind und bei welchen ich schon mehrmals darauf hingewiesen habe: Zu diesen später mehr. Jetzt ist die Zeit gekommen: Es geht um den ehemaligen Hauptortsgruppenleiter Maximilian Rothaler und den ehemaligen Exekutivkomitee-„Kommandanten“ Rudolf Schwabl. An beiden werden wir sehen, wie biegsam das NS-Regime mit der eigenen Ideologie umging, wie pragmatisch und opportunistisch man die eigenen NS-Werte handhabte und fallweise regelrechte NS-Dogmen einfach so über Bord warf. Beginnen wir mit Maximilian Rothaler, der uns bereits in den Kapiteln 1, 2 und 8 über den Weg gelaufen ist. Maximilian Rothaler, ein Weinhauersohn, absolvierte eine Handelsschule in Wien, war von 1917 bis 1919 Kanzleileiter im Bezirksgericht und in der Bezirkshauptmannschaft Baden, kam danach 1921 als Verwaltungsbeamter im Bezirkswaisenhaus und Bezirksaltersheim unter, wo er als Bezirksfürsorgerat tätig wurde. Der SA und der NSDAP/DNSAP trat er bereits 1921 bei und erhielt die Mitgliedsnummer 53.443. Er übte die verschiedensten 40 Vgl. BZ Nr. 24 v. 25.03.1944, S. 1. 41 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1943, S. 60.
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Funktionen sowohl in der Ortsgruppe als auch in der Kreisleitung aus. Er war Ortsgruppenleiter, Kreisgeschäftsführer, Kassenwart, Ortsgruppenpropagandaleiter, und er betätigte sich illegal. Nach dem Anschluss wurde er für kurze Zeit Hauptortsgruppenleiter, bevor die Trennung in drei einzelne Ortsgruppen erfolgte, wo er dann die Leitung der Ortsgruppe Baden-Stadt übernahm. Stolz betonte er, dass er niemals ohne Funktion innerhalb der Partei gewesen wäre. Lange Zeit lief alles wie geschmiert. Er war ein überaus verdienter und angesehener Parteigenosse, doch irgendwann Ende 1938 oder Anfang 1939 begann der langsame Abstieg, der im Oktober 1939 darin kulminierte, dass Maximilian Rothaler auf persönlichen Wunsch des Gauleiters Hugo Jury nach Iglau wegbefördert wurde, wo er als Betriebsführer die ehemals jüdische Textilfabrik „Bohemia“ übernahm. Kreisleiter Ponstingl verabschiedet ihn mit wenigen Worten und sprach ihm seinen herzlichen Dank für die bisher geleistete Arbeit aus.42 Drei Jahre später resümierte Kreisleiter Hans Hermann die Versetzung wie folgt: Die Gründe der Enthebung waren, soweit mir bekannt, zum größten Teil in der unrichtigen Führung der Ortsgruppe zu suchen. Pg. Rothaler habe es unterlassen, sich um den wirklichen Aufbau, die politische Führung innerhalb seines Hoheitsbereiches ausreichend zu kümmern, sondern richtete sein Hauptaugenmerk nur auf sein Auftreten in der Öffentlichkeit, entsprechend prunkhafte Ausgestaltung sowohl der OG-Dienststelle und überhaupt in erster Linie auf Äußerlichkeiten. Ein „eitler Gockel“ sozusagen, der laut Hermann in seiner Personalführung auf Willkür gesetzt und sich nur mehr mit Konjunkturrittern umgeben haben soll. Damit hätte er zahlreiche alte Parteigenossen verprellt, die sich zurückgesetzt gefühlt hätten und nachvollziehbarerweise auf ihn nicht mehr sonderglich gut zu sprechen gewesen wären. Nach seiner Enthebung und nachdem er seine Zelte nun in Iglau aufschlagen musste, wohin er auch seinen Wohnsitz verlegte, soll sich die Situation in der Ortsgruppe Baden Stadt beruhigt haben. Später tauchten allerdings wieder Unzukömmlichkeiten dadurch auf, dass Rothaler von seinem geschäftlichen Wohnsitz in Iglau des Öfteren mit einem großen Privatwagen nach Baden zu Besuch kam, obwohl zu der Zeit die Treibstoffbewirtschaftung schon ziemlich straff durchgeführt wurde. Laut Hermann wurde Rothaler zu einem Problem, obwohl er dessen Verdienste um die NS-Bewegung auf keinen Fall schmälern wollte. Aber wir sehen hier einen „Klassiker“: Abschließend muss ich feststellen, dass Genannter seit den Anfängen der Kampfzeit unbestreitbar große Verdienste um die n.s. Idee in der Stadt und im Kreis Baden erworben hat. Er gehört meiner Meinung nach zu jenen Pg., die in der Opposition und im Kampf stets ihren Mann gestellt haben, nach der Machtergreifung aber jeden Wirklichkeitssinn verloren hatten und ihre Eigenschaft als politischer Führer mit großer Energie zur Hebung ihrer persönlichen und wirtschaftl. Stellung gebrauchten.43
42 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian (1899–1966); Mappe I – Ponstingl (27.09.1939). 43 StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian; Mappe II – Hermann an die Gauleitung (17.12.1942).
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Alois Klinger nahm nach 1945 eine etwas andere Perspektive ein und setzte zudem andere Schwerpunkte. Für ihn war Rothaler ein Nationalsozialist, der in seinem förmlichen Machtwahn gegen die Volksgenossen und Juden unmenschlich vorgegangen ist, weil er vom einstigen Vertragsbeamten, selbst bis zum Landrat und Fabrikbesitzer in Iglau avancieren wollte und nur immer in der braunen Parteiuniform mit den jüdischen Autos von Baden bis Iglau etc. herumgefahren ist, was überall Ärgernis erregt hat.44 Und in der Art soll es weitergegangen sein. Im März 1943 wurde gegen Maximilian Rothaler und seine Frau, Maria Rothaler, ein Verfahren wegen „Verstoßes gegen die Kriegswirtschaftsbestimmung“ eingeleitet.45 Er soll als Betriebsführer in Iglau seit 1940 Rohmaterial nicht angemeldet bzw. verheimlicht und die daraus hergestellte Ware schwarz verkauft [haben]. Die Geschäftsbücher befinden sich in einem völlig undurchsichtigen Zustand, was zweifellos zur Verschleierung der Schwarzgeschäfte geschehen ist.46 Die Gauleitung schlug eine sofortige Festnahme vor und den Ausschluss aus der NSDAP – was im März 1943 in einem Schnellverfahren auch erfolgte. Er wurde durch das Sondergericht zu zwei Jahren und seine Frau zu einem Jahr Haft verurteilt. Interessant ist, wie es dazu überhaupt gekommen war. Die Hintergründe können wir dem Gerichtsurteil entnehmen, und dabei entsteht eine Geschichte, die fast schon einer Posse gleicht. Die nicht korrekte Meldung von Rohmaterial begründet das Gericht damit, dass Maximilian Rothaler sich nicht dazu überwinden konnte, als Deutscher mit den tschechischen Behörden zusammenzuarbeiten. Als diese nämlich im Oktober 1940 die Verordnung herausgaben, dass sämtliche Warenbestände zu melden seien, widersetzte sich Rothaler und erteilte seinem Prokuristen den Befehl, der Anweisung der Protektoratsbehörden nicht Folge zu leisten. Aus welchen Gründen auch immer war Rothaler der Überzeugung, es müssten Wollreserven zurückgehalten werden. Als das Werk dann Besuch von Kontrolleuren erhielt, ließ Rothaler einfach 17 Tonnen Wolle verstecken. Er schien mit solchen Aktionen nicht der Einzige gewesen zu sein. Ein Jahr später, im Oktober 1941, versicherte das Ministerium für Industrie, Handel und Gewerbe allen Betroffenen Straffreiheit, falls jene eventuell ein Jahr davor nicht alles ordnungsgemäß gemeldet hätten – man könnte es nun nachholen. Nun bekam Maximilian Rothaler kalte Füße. Er wies seinen Prokuristen an, die versteckte Wolle augenblicklich zu melden, der Mann tat, was man von ihm verlangte, doch er vergaß offenbar, in all der Aufregung, drei Tonnen Wolle zu melden, die nachträglich noch irgendwo auftauchten. Rothaler als Betriebsführer, der sich die Blöße einer Nachmeldung der Nachmeldung nicht geben wollte, entschied nun, die drei Tonnen Wolle so tröpfchenweise in die laufende Produktion einzuarbeiten, als wäre halt nichts gewesen. Um das Ganze etwas zu beschleunigen, spendete er gleich einmal eine Tonne Wollwaren sowie 150 Pull44 StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian; Mappe III – Klinger an das Landesgericht (24.10.1948). 45 Maria Rothaler (1899–1987). 46 StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian; Mappe II – Gauleitung an die Kreisleitung (24.03.1943).
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over der Wehrmacht, ferner bedachte er die Badener Polizei, und auf alte Parteikameraden schien er ebenso nicht vergessen zu haben. Und seine Ehefrau, Maria Rothaler, die angeblich nichts von all dem gewusst haben soll, wusste aber dennoch ihren Familien- und Bekanntenkreis mit Spinnstoffen aller Art zu beschenken.47 Nachdem dies alles aufgeflogen war, reichte Maximilian Rothaler ein Gnadengesuch ein. Es kam zu zahlreichen Erhebungen, wie man diesen verdienten Parteigenossen nun politisch und moralisch einstufen sollte. Für die Ortsgruppe Baden-Weikersdorf war er eine widerspältige Natur. […] Aus den einfachen Verhältnissen eines Landesbeamten, ist Rothaler nach dem Umbruch durch die Arisierung plötzlich zum Fabrikbesitzer geworden.48 Wen wunderte es da, so die Ortsgruppe indirekt, dass es dann zu Fehlern gekommen war. Auch Gauleiter Jury zeigte sich nachsichtig, er war der Meinung, dass Rothaler von anderen Kameraden verführt worden sei und zumindest nicht alleine bestraft werden solle. Außerdem: Frau Rothaler versicherte dem Bürgermeister, dass die Familie Rothaler aus Baden nach Tirol verschwinden wird, um die Partei nicht weiter zu belasten.49 Gnädig zeigte sich auch das Gericht, denn schließlich konnte seine Woll-Aktion auch als Sabotageakt ausgelegt werden. Wir dürfen nicht vergessen, wir befinden uns in einem Willkürstaat. Aber dadurch, dass das Ehepaar Rothaler aus den zurückgehaltenen Spinnstoffen keinen Profit geschlagen, sondern das meiste verschenkt und gespendet hatte, rollten, wortwörtlich gesprochen, keine Köpfe. Ihre Taten wurden als verwerflich und böswillig bezeichnet, aber: Hieraus ergibt sich, dass er niemals als Volksschädling angesehen werden kann und auch kein mit Zuchthaus zu ahnendes Verbrechen begangen hat. […] Schließlich ist er als Nichtfachmann und zu einer besonders ungünstigen Zeit in den Betrieb eingetreten und seine Freunde haben die Möglichkeit, Wollwaren ohne Punkte zu erhalten, ohne viel Bedenken in reichlichem Maße ausgenützt. Und bei Maria Rothaler haben wir wieder ein wunderbares Geschlechterrollenbild: Durch den Tod ihres Bruders und ihres Sohnes [Maximilian Rothaler jun. verunglückte als Soldat mit 19 Jahren im Oktober 1942] hatte sie so schwere seelische Erschütterungen durchgemacht, dass ihre schon früher bestandene Weichherzigkeit und weibliche Wankelmütigkeit besonders gesteigert wurde.50 Wenn man so will, die beiden wurden fast schon zu Opfern erklärt. Opfer ihres Unwissens, ihrer ihr unfreundlich gesinnten Umgebung, sie waren irgendwie zur falschen Zeit am falschen Ort, und dann passierte es, dass Tonnen von Wolle nicht ordnungsgemäß gemeldet wurden. Entgegenkommend zeigte sich das Gericht auch dabei, dass beiden die Untersuchungshaft angerechnet wurde. Andererseits, Maximilian Rothaler blieb insgesamt zwei Jahre in Haft, zuerst in Iglau, dann in Graz und zuletzt in einem Männerstraflager in Jaworzno in Polen, in einer Kohlengrube.51 47 48 49 50 51
Vgl. ebd. – Gerichtsurteil (13.10.1943). Ebd. – Ortsgruppe Weikersdorf an Kreisleitung (15.12.1943). Ebd. – Aktenvermerk (21.12.1943). Ebd. – Gerichtsurteil (13.10.1943). StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian; Mappe III – Fragebogen (25.08.1945).
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Maximilian Rothaler reichte nicht nur ein Gnadengesuch ein, um die Justiz gnädig zu stimmen, er erhob auch Einspruch gegen seinen Parteiausschluss. Im März 1944 wurde sein Ansuchen abgewiesen, was er aber so nicht stehenlassen konnte. Er legte Beschwerde ein. Sein Ass im Ärmel bildeten seine unbestrittenen Verdienste um die NS-Bewegung, und er wusste jene in Szene zu setzen. Er habe der Partei seit 1921 angehört, während das Parteigericht aus Männern zusammengesetzt sei, die erst nach dem Umbruch der Partei beigetreten seien. Rothaler fragt, ob der Ausschluss aus der Partei die Dankabstattung für die von ihm für die Partei gebrachten schweren Opfer sein solle. Doch Kreisleiter Gärdtner ging langsam die Geduld aus. Während er 1943 noch Verständnis gezeigt hatte, sah er nun keinen Grund mehr, sich für Rothaler weiterhin aus dem Fenster zu lehnen. Die Frage Rothalers […] halte ich für ganz abwegig. Der wahre politische Kämpfer rechnet nicht auf Dank, ebenso wenig wie der Soldat, der für Deutschland sein Leben in die Schanze schlägt.52 So wurde auch diese Beschwerde abgeschmettert. Das unwürdige Schauspiel wurde gegen Kriegsende um einen weiteren Akt reicher. Als Maximilian Rothaler im Februar 1945 mit braunen Hosen und Stiefel gesichtet wurde, wie er sich in einen Luftschutzbunker in Sicherheit brachte, urgierte Gärdtner bei Schmid und stellte diesem frei, Rothaler aus dem Luftschutzkeller zu sich holen zu lassen und ihn auf seine Zusage, dass er aus Baden verschwinden werde und auf die Straffälligkeit beim Tragen von parteiamtlichen Bekleidungsstücken hinzuweisen und ihn aufzufordern Baden zu verlassen.53 Womöglich hatte Maximilian Rothaler, der so viel Wert auf sein Äußeres legte, den seine Parteigenossen als einen eitlen Gockel ansahen, den Klinger als ein förmliches Schulbeispiel eines Illegalen charakterisierte, der nach dem Anschluss überall und jederzeit in der Goldfasan-Uniform umherstolzierte, im Februar 1945 keine anderen Hosen und Stiefel mehr, außer jene der Partei – jener Partei die nun nichts mehr von ihm wissen wollte. Nach 1945 wurde er erneut verhaftet. Und auch die Geister der Zeit nach 1945 schienen sich an ihm zu scheiden. Exemplarisch seien hier nur Ernst Röschl und Alois Klinger angeführt. Während Röschl ihn noch halbwegs in Schutz nahm, schließlich hatte Rothaler ihm und seiner Familie öfters beigestanden, empfand Klinger nicht die geringsten Sympathien für diesen Mann. Denn unter anderem war es auch Rothaler, der für die Disziplinierung der Badener Stadtpolizei nach dem Anschluss verantwortlich gewesen war und sich dabei, laut Klinger, wie ein Diktator benommen hatte.54 Klinger zählte all die Misshandlungen, „Arisierungen“ und sonstigen Verbrechen auf, die sich während der Zeit zugetragen hatten, in der Maximilian Rothaler der Ortsgruppe Baden-Stadt vorgestanden war. Als Ortsgruppenleiter fungierte Rothaler in der Mühlgasse 19 und sodann in der Trostgasse Nr. 5, woselbst er die Nichtparteigenossen wie förmliche Heloten behandelte und die Volksgenossen und Leidenden 52 StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian; Mappe II – Gärdtner an das Kreisgericht (23.06.1944). 53 Ebd. – Gerichtsurteil (07.02.1945). 54 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Rothaler Maximilian; Mappe III – Amtsbericht Klinger (04.10.1947).
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nicht einmal in Österreich auf einem Arbeitsplatz einstellen ließ, sondern diese Proleten in’s Altreich nach Berlin etc. in die Zwangsarbeit eingewiesen hat. Für Klinger war Rothaler ein von Anfang an radikaler Parteigenosse, der entsprechend bestraft werden musste. Und in Bezug auf die Vorgänge in Iglau: Bei diesen Schiebereien mit Edelprodukten und streng bewirtschafteten Artikeln waren u.a. auch der Landrat Josef Wohlrab in Baden, der Bürgermeister Franz Schmid, der Kämmerer Löw Hans u.a. mehr aus Baden beteiligt, und die Bestrafung des Rothaler zu zwei Jahren Gefängnis wäre noch viel strenger ausgefallen, für diesen kriminellen Verbrecher, der sich jetzt als Märtyrer und Wirtschaftssaboteur zu tarnen versucht. Ein krimineller Verbrecher, eine schöne Tautologie. Und es kam noch besser, bzw. aus Sicht Klingers wurde es nicht besser, da Rothaler es […] infolge seiner egoistischen und nichtideellen Gründen entspringenden verbrecherischen und gewinnsüchtigen Veranlagung, nun schon wieder dahin gebracht hat, dass er bei den Alliierten im Westen ausgiebige Geschäfte abwickelt und mit 3 Autos u.a. auch schon bis nach Vorarlberg gekommen sei.55 Klinger kam mit seiner Forderung nach einer harten Bestrafung nicht durch. Auch nach 1945 zeigten sich die Gerichte gegenüber Rothaler wie bereits 1943 offen für mildernde Umstände. Rothaler bekannte sich schuldig: Er sei Nationalsozialist aus Überzeugung gewesen, aus wirtschaftlichen Nöten als kleiner Vertragsangestellter habe er sich der Partei angeschlossen und sei ihr auch stets treu geblieben. Heute sei er allerdings von seinem Irrtum geheilt.56 Sein Geständnis wirkte sich strafmildernd aus. Hinzu kam, dass er Andersdenkenden selbstlos geholfen hatte. Zu ihnen gehörte der ehemalige Polizist Ludwig Gerstorfer, für dessen Ausschluss aus der Polizei er sich zwar energisch eingesetzt hatte, weil jener besonders scharf gegen die Badener Nationalsozialisten vorgegangen war (siehe Kapitel 1 und 11), aber nichts gegen dessen Einsatz in der Privatwirtschaft einzuwenden gehabt hatte. Hier sollte man ihm, so Rothaler, keine Steine in den Weg legen. Ebenso legte er für den Parteigenossen Otto Totzauer, der sich zwischen 1933 und 1938 als Polizeispitzel verdient gemacht hatte, nach dem Anschluss aufflog und verhaftet wurde, ein gutes, womöglich lebensrettendes, Wort ein. Und natürlich haben wir hier noch Ernst Röschl (hier wiederum siehe Kapitel 2). Obwohl Rothaler ein überzeugter Nationalsozialist war, hatte er dem „Halbjuden“ Röschl mehrmals geholfen und ihm zudem eine „unauffällige“ Anstellung in Iglau besorgen können.57 Letztendlich wurde Maximilian Rothaler, einer der ersten Nationalsozialisten Badens, zu 2,5 Jahren Haft verurteilt. * Da der Beschuldigte (Rudolf Schwabl) in seinen widerlichen, anmaßenden und rechthaberischen Allüren, nach der Art aller Illegaler, ganz einfach abzuleugnen versuchte bezw. sich an alles, was ihn belastete, sich nicht mehr erinnern wollte, so wurden am 28.7.1946, die von Ru55 Ebd. – Klinger an das Bezirksgendarmeriekommando (01.04.1946). 56 Ebd. – Gerichtsurteil (04.09.1948). 57 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 35.
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dolf Schwabl und seinen förmlichen Folterknechten, Geschädigten (Edmund Wendl und Hans Joachim Schreiber), welche damals noch in Baden erreichbar waren, behufs Konfrontation in das Polizeiamt Baden bestellt, woselbst es bald zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre, weil Schwabl sich erdreistet hat, nach seiner frechen Art und Weise, die durch sein ganz unerhörtes Vorgehen, die Misshandelten in zynischer Weise anzulügen. Erst als Wendl und Schreiber alle Details ihrer Niederschriften dem Schwabl förmlich in’s Gesicht geschleudert haben, so hat Schwabl klein beigeben müssen, und dies wurde auch in seiner blgd. Niederschrift festgestellt.58 Rudolf Schwabl, der selbsternannte Kommandant des Exekutivkomitees, legte vor und nach 1945 ein herausforderndes Verhalten an den Tag. Dieser Mensch hat uns einen umfangreichen Akt hinterlassen, aus dem eine untypische Parteikarriere herauszulesen ist, wo wir auf der einen Seite altbekannte Aspekte wiederfinden, auf der anderen eher „ungewöhnliche“. Die „Abneigung“ Klingers gegenüber diesem Menschen ist aus dem obigen Zitat nicht unschwer herauszulesen. Interessanterweise war Klingers „Vorgänger“, Alfred Gutschke, ebenso nicht besonders angetan vom Kommandanten des Badener Exekutivkomitees. Schwabl kann sich in die geordneten Verhältnisse Großdeutschlands nicht einfügen. Er bildet sich scheinbar ein, dass er sich alles erlauben kann, wegen seiner angeblichen Verdienste um die nationalsozialistische Erhebung in Österreich. […] In der Bevölkerung ist Schwabl sehr wenig beliebt, ja, in vielen Fällen geradezu verhasst. Ich habe in der Badener Bevölkerung oft die Meinung gefunden, dass Schwabl einflussreiche Freunde und Gönner hat, die schützend vor ihm stehen. Von alten Parteigenossen habe ich sehr geteilte Meinungen und lange Begründungen gehört. Die meisten fanden ein vielsagendes Lächeln.59 Dabei hatte auch bei Rudolf Schwabl alles so gut angefangen. Mit 18 Jahren trat er der NSDAP/DNSAP bei. Er war von 1933 bis 1938 illegal aktiv, und deswegen stand es ihm zu, sich nach dem Anschluss massiv zu bereichern und von keinerlei Gewaltanwendung Abstand zu nehmen. Wie bereits in Kapitel 1 beschrieben, war er maßgeblich an brutalen und erpresserischen Vorgehensweisen bei diversen „Arisierungen“ beteiligt und an mehreren Misshandlungen und Folterungen. Schließlich wurde er von Bürgermeister Franz Schmid, mit dem er viel zusammen gearbeitet hatte, von diesem zu seinem Vertrauensmann bestellt und mit der Überwachung der Arreste (Gemeinde- und Gerichtsarreste), in welchen sich die damals „zusammengetriebenen“ politischen Gegner, wie sich der Angeklagte selbst treffend ausgedrückt hat, befanden, betraut.60 Schwabl selbst arisierte das „Café Schopf“ am 22. November 1938. Die ursprüngliche Besitzerin des Cafés, Johanna Stern, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort am 28. Jänner 1944.61 58 StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf (1894–1955); Mappe I – Klinger an das Landesgericht (04.12.1946). 59 StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf; Mappe II – Gutschke an den Landrat (27.10.1941). 60 StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf; Mappe I – Gerichtsurteil (30.12.1949), S. 5. 61 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/life (10.04.2023).
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Rudolf Schwabl war, wenn man so will, der Mann fürs Grobe, der Bluthund in der Kurstadt, dessen einzige Aufgabe es war, Feinde der NS-Bewegung zu demoralisieren und sie zu brechen – was ihm auch bravourös gelang. Doch irgendwann, Gutschke hat es angesprochen, wurde er „Opfer“ seiner mangelnden Anpassungsfähigkeit an die neue Zeit nach 1938. Der Kampf und die Illegalität waren vorüber, es galt, sich zu integrieren bzw. zu zivilisieren. Doch das schaffte Schwabl nicht. Im Mai 1940 war die Empörung groß, dass Rudolf Schwabl größere Mengen an Schokolade, Kaffee und Wurstwaren sein Eigen nennen durfte, dass er Polizisten als Systemschergen beschimpfe, dass er die Sperrstunde von 1 Uhr in der Früh grundsätzlich nicht einhielt und sie fallweise um zwei bis drei Stunden überschritt.62 Das Überschreiten der Sperrstunde war nicht nur gesetzwidrig, es wurde genauso als ein asozialer Akt gegenüber seinen Mitarbeitern ausgelegt, die schließlich nicht rechtzeitig nach Hause kamen. Denen gegenüber soll er sich grundsätzlich asozial benommen haben. Als er sich wieder einmal nicht an die Sperrstunde hielt und seine Mitarbeiter bis vier Uhr in der Früh arbeiten mussten, drohten ihm jene, sich bei Josef Bürckel zu beschweren. Schwabl soll daraufhin lachend geantwortet haben: Das kommt alles in den Papierkorb!63 Auch Beschwerden bei der Deutschen Arbeiterfront (DAF) hätten nie etwas bewirkt. Von zahlreichen Mitarbeitern wurde er geradewegs als ein „Asozialer“ bezeichnet, der Urlaube nicht genehmigte und die Mitarbeiter regelmäßig niedermachte – selbst vor den Gästen. Und hier hätte er es besonders auf Frauen abgesehen. Eine ehemalige Köchin schilderte, dass Schwabl nicht davor zurückschreckte, mit Gegenständen nach ihnen zu werfen. Schwabl ist eben zu uns Frauen äußerst unsozial eingestellt. 64 Im März 1941 zeigte sich die Kreisleitung schockiert. Er findet für den kleinsten Fehler, den irgendein Gefolgschaftsmitglied begeht, nur Schimpfworte. Diese Beschimpfungen führen so weit, dass die Ehre eines Gefolgschaftsmitgliedes und damit die Ehre der Arbeit in den Kot gezogen wird. […] Wie er Frauen, die bei ihm arbeiten, behandelt, ist ein Skandal.65 Hinzu kam, und das war ein wahrlicher Affront gegen sämtliche NS-Werte, dass Rudolf Schwabl homosexuell war und es nicht als nötig erachtete, es großartrig zu verbergen. Es war ein offenes Geheimnis, worüber Gutschke eine umfangreiche Recherche einleiten ließ. So erklärte der Kaffeehauspächter Gustav Sima: Unter den Gästen meines Kaffeehauses ist wiederholt davon gesprochen worden, dass im Kaffeehaus Schwabl häufig weit über die Sperrstunde hinaus gezecht und Orgien gefeiert worden sind, Schwabl homosexuell veranlagt und dass dieses von Gästen des Kaffeehauses Schwabl, und zwar von jungen Soldaten, offen erzählt worden sei.66 Eine Aushilfsköchin sagte ferner aus, dass Schwabl nur Männer, möglichst Russen, in der Küche haben will und dass er die Frauen hasse. Allgemein wurde unter den Ange62 StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf; Mappe III – Aussagen gegen Schwabl (05.05.1940). 63 Ebd. – Bericht Schutzpolizeiabteilung (06.04.1940). 64 Ebd. – Bericht Schutzpolizeiabteilung (06.04.1940). 65 Ebd. – Hauptarbeitsgebietswaltung II an Kreisleitung (20.03.1941). 66 Ebd. – Aussage Gustav Sima (geb. 1883) Bericht Schutzpolizeiabteilung (05.04.1940).
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stellten behauptet, dass Schwabl ein „Warmer“ sei. Eine Köchin aus der Flakkaserne erzählte: Kurz vor meinem Weggang von dieser Stelle erzählten junge Soldaten in der Küche, dass man sich bei Schwabl gut amüsieren könne und dass das ein männlicher Puff sei. Das Café Schopf avancierte zum Männer-Hurenhaus von Baden, und es hieß: Wenn man den Arsch hinhält, kann man sich billig einen ansaufen.67 Polizeichef Gutschke leitete alles an Bürgermeister Schmid und Landrat Wohlrab weiter und bat, die Gestapo einzuschalten – doch es passierte „nichts“. Ihm wurde nur ausgerichtet, dass Schwabl verwarnt würde.68 Gutschke blieb aber dran, und ein Jahr später, im November 1941, hatte er endlich Zeugen an der Hand, die Schwabl in flagranti erwischt haben sollen. Derweilen war Schwabls sexuelle Orientierung schon längst stadtbekannt. Gewisse Stammgäste des Café Schopf trugen Spitznamen wie „Schwabls Frau“, „Erste Liebe“ oder „Lieblingsfrau“. Und die von Gutschke aufgetriebenen Zeugen, hauptsächlich Frauen und hauptsächlich nicht mehr bei Schwabl beschäftigte Mitarbeiter, brillierten mit allerlei intimen Details, die der Polizeichef auf über 20 Seiten zu Protokoll brachte. Letztendlich hatte er dennoch nichts Greifbares, weil Aussage gegen Aussage stand. Und dass die Belegschaft schwieg, weil sie um ihre Anstellung fürchtete, konnte er durchaus nachvollziehen. Deswegen empfahl er: Ich halte es für notwendig, dass die noch bei Schwabl bediensteten Personen bei Gerichtsstelle unter Eid, gegebenfalls unter Gegenüberstellung vernommen werden.69 Um eines klarzustellen, es geht mir hier nicht um schlüpfrige Schlüssellochgeschichten oder einen billigen Voyeurismus in Bezug auf Schwabls sexuelle Orientierung. Doch im Kontext der NS-Herrschaft bietet dieser Aspekt einen interessanten Einblick, wie im Nationalsozialismus mit Homosexualität umgegangen werden konnte. Das Feld war weit. Es reichte von Vertuschung, dem Wegschauen, dem Nicht-groß-darüber-Sprechen – denken Sie an Ernst Röhm – bis zur Diffamierung jener Menschen als Perverse und Sodomiten und der Internierung in ein KZ-Lager. Erste Konsequenzen für Rudolf Schwabl erfolgten Ende November 1941. Ihm wurde vom Standortältesten Oberst Bednar mitgeteilt, aufgrund einer Befugnis habe er bis auf weiteres sämtlichen Wehrmachtsangehörigen den Besuch Ihres Kaffeehauses verboten. Die Einhaltung des Verbotes werde ich durch Straßenstreifen der Wehrmacht überwachen lassen.70 Eine weitere Konsequenz für Schwabl bestand darin, dass ihm der zustehende Blutorden – schließlich hatte er gemeinsam mit Schmid das Illegale Hilfswerk geleitet und war in Wöllersdorf und Kaisersteinbruch interniert gewesen – wegen seiner Unwürdigkeit nicht ausgehändigt wurde.71
67 68 69 70 71
Ebd. – Bericht Schutzpolizeiabteilung (06.04.1940). Ebd. – Bericht Schutzpolizeiabteilung (20.08.1940). Ebd. – Bericht Schutzpolizeiabteilung (18.11.1941). Ebd. – Verbot des Kaffeehauses Schopf (29.11.1941). Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf; Mappe I – Gerichtsurteil (30.12.1949), S. 3.
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Danach wird es quellenmäßig ruhig um Rudolf Schwabl. Im August 1943 finden wir ihn bei der Wehrmacht wieder. Stationiert in Bonn, sorgte er nun dort für mehrere Skandale, sodass er in Abwesenheit, im Mai 1944, aus der Partei ausgeschlossen wurde. Er soll sich gegenüber Kameraden fortwährend über die NSDAP und die deutsche Wehrmacht derart abfällig geäußert haben, dass seine Kameraden deshalb mit ihm ständig in Streit gerieten. Er habe unter anderem gesagt „die Partei, das Gesindel hat mir meine Wohnung weggenommen, und im Kaffeehaus hat man die Wehrmacht einquartiert, dies alles, ohne mich zu fragen.“ Wenn im Wehrmachtsbericht von einer Absetzung im Osten die Sprache gewesen sei, habe er gesagt „nur so weiter, dann wird das Gesindel bald ausgespielt haben.“72 Bis zum Kriegsende blieb er in Bonn stationiert. Danach kam er in englisch-französische Kriegsgefangenschaft. Das Kriegsgefangenenlager Hallein durfte er im Juli 1946 verlassen. Er kehrte nach Baden zurück, und das erste, was passiert sein soll, er geriet sogleich in eine Auseinandersetzung mit einem sowjetischen Offizier.73 Nach seiner Verhaftung und konfrontiert mit seinen Verbrechen als Mitglied oder Anführer des Exekutivkomitees, versuchte er zuerst, die schwerwiegenden Delikte entweder ganz einfach abzuleugnen, bezw. mit seinem angeblichen Nichtmehrerinnernkönnen abzutun, oder als Lappalie, ein Theater etc. zu bezeichnen […]. Und als seine Opfer ihm direkt vorgeführt wurden, führten seine an den Tag gelegten Allüren wie Arroganz, Rechthaberei etc. zu unliebsamen Auftritten. Angesprochen auf die einzelnen Fälle, war seine Standardantwort, dass er zu den Misshandlungen nichts angeben könne und er sich an nichts erinnere. Niemanden hatte er verhaftet, geschlagen oder gefoltert. Das alles sei eine Lüge und Unterstellung, alles sei aufgebauscht worden, und sollte es zu Gewaltakten gekommen sein, so waren das unbekannte SS-Agenten aus Wien, deren Namen er nicht kenne. Erst nachdem die Opfer detailliert die Folter beschrieben und diese auch durch den damaligen Gefängnismeister Johann Stephan bezeugt wurde, erst dann musste Rudolf Schwabl seine Taten, die Misshandlungen und förmlichen Torturen notgedrungen zugeben.74 Im Gerichtsakt finden wir eine treffende Analyse: Der Angeklagte, der – das sei vorausgeschickt – über ein glänzendes Gedächtnis verfügt, sich fließend, zusammenhängend, die Worte sorgfältig wählend und äußerst geschickt, ja geradezu raffiniert verantwortet – dort wo es ihm nicht passt, schiebt er die Verantwortung auf die Polizei und dort, wo er als Exponent der Polizei Rede stehen soll, schiebt er alles auf die Partei, bzw. SS oder SA […].75 Alois Klinger hatte auch bei Rudolf Schwabl eine Empfehlung anzubieten, was mit ihm passieren sollte: Es solle ihm daher durch eine entsprechende Sühne und dann durch Einstellung in einem Arbeitslager, Bergwerk etc. sein Machtwahn und sein Vorgehen abgewöhnt werden, damit er nicht mehr in die Lage kommt, sein Unwesen wieder betreiben zu können.76 72 73 74 75 76
Ebd. – Gerichtsurteil (30.12.1949), S. 3. Vgl. ebd. – Klinger an das Landesgericht (30.07.1946). Ebd. – Klinger an das Landesgericht (30.07.1946). Ebd. – Gerichtsurteil (30.12.1949), S. 2. Ebd. – Klinger an das Landesgericht (30.07.1946).
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Es wurde kein Arbeitslager oder Bergwerk. Das Gericht sah in Schwabl eine absonderliche Persönlichkeit. Der Angeklagte wurde psychiatriert. Die Sachverständigen Reg. Rat Dr Dimitz und Prof. Dr. Bischoff erklären ihn übereinstimmend als voll zurechnungsfähig, bezeichnen ihn allerdings als einen erblich belasteten und nervös veranlagten Menschen, der in seiner Persönlichkeitsbeschaffenheit ein gewisser Sonderling mit Neigung zu überwertiger Gefühlsbetonung bestimmter Ideen, Affektempfindlichkeit und Labilität ist.77 Er wurde zu 2,5 Jahren schweren Kerkers verurteilt, 1 Jahr hartem Lager ¼-jährlich, inklusive Vermögensverfall. Er starb 1955 in der Nervenheilanstalt Maria Gugging.78 Zusammenfassend kann gesagt werden: Rudolf Schwabl war ein Mann des Exekutivkomitees, und seine Brutalität richtete sich nicht nur gegen rassische oder politische Feinde. Volksgenossen wie auch Parteigenossen kamen ebenso zum Handkuss. Sein Verhalten wurde von Jahr zu Jahr untragbarer. Nicht nur, dass er gegenüber der Partei und der Wehrmacht jeglichen Respekt vermissen ließ, er scheute sich nicht, über das NS-Regime oder einzelne Funktionäre herzuziehen, und dann war da noch seine „offen“ ausgelebt Homosexualität. Werfen wir einen Blick auf die Strafausmaße bezüglich solcher „Vergehen“, so wurde zum Beispiel der 34-jährige „Verführer“ eines 19-jährigen SS-Mannes zu drei Monaten schweren Kerkers verurteilt, während über den „Verführten“ zwei Monate strenger Arrest ausgesprochen wurden.79 In einem anderen Fall wurde der Beschuldigte wegen widernatürlicher Unzucht zu drei Monaten Haft verurteilt. Um Gnade für den Betroffenen bat die eigene Mutter, die befürchtete, dass der Sohn bei Abbüßung der Strafe noch tiefer sinken würde; bei einer Nachsicht jedoch die Rettung zu erblicken wäre.80 Bei Rudolf Schwabl wurde anfänglich großzügig weggesehen, und damit bewies das NSSystem, wie großzügig, selbst bei solch essentiell ideologischen Dogmen, der Spielraum in der Praxis war. Denn solange Schwabl „brav“ folterte und bei den Gegnern des Regimes Angst und Schrecken verbreitete, waren seine Neigungen kein Problem bzw. nicht der Rede wert. Erst als er immer ungezwungener damit umging und zugleich nicht fähig war, die Zeichen der Zeit nach dem Anschluss zu deuten, erst dann wurden die Badener Behörden initiativ, und das ohnehin recht zögerlich. Denn wer weiß schon, was Rudolf Schwabl so alles von sich gegeben hätte, hätte man ihn zu fest angepackt. Es hatte schon seine Gründe, dass er sich lange Zeit der schützenden Hände verdienter und langjähriger männlicher Parteigenossen erfreuen durfte. Und eines dürfen wir auch nicht ganz vergessen: Inwieweit die sexuellen Ausschweifungen nach gebrochener Sperrstunde in dem geschilderten Ausmaß der Wahrheit entsprachen, wäre durchaus zu hinterfragen. Dass hinter irgendwelchen verschlossenen Türen allerlei Orgien veranstaltet wurden, waren des Öfteren vorgebrachte Vorwürfe – ich erinnere an Johannes Horn mit seiner 17-Zimmer-Villa in der Marchetstraße (Kapitel 17). 77 78 79 80
Ebd. – Gerichtsurteil (30.12.1949), S. 6. Vgl. StA B, Karteikarten groß, Rudolf Schwabl und Neues Biographisches Archiv. Vgl. StA B, GB 052 Personalakten: P. Ludwig (geb. 1919). StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. II Korrespondenz; Juni 1942.
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Teilweise waren dies haltlose Gerüchte. Schließlich war das alles sehr delikat und pikant, die Neugier war auf alle Fälle geweckt, die Phantasie beflügelt, besonders bei jenen, die nie dabei waren – es aber vielleicht gerne gewesen wären. Und als letztes darf ebenso nicht außer Acht gelassen werden, nach 1945 wurden Menschen wie Rudolf Schwabl zu Prototypen eines Nationalsozialisten erklärt. Er wurde zum Sinnbild einer pervertierten Zeit und damit zum absolut Bösen. Sein Sadismus war dermaßen eklatant, dass andere Nationalsozialisten bzw. alle, die das Gewissen plagte, sich an ihm „abputzen“ konnten. Er wurde pathologisiert, entnormalisiert und damit als der „normalen“ Gesellschaft nicht zugehörig betrachtet. Und damit wurde zugleich der gesamte Nationalsozialismus beiseitegeschoben bzw. auf wenige Personen, deren Verbrechen außer Frage standen, fokussiert. Und der Rest? Der Rest war, im Angesicht dieser wenigen sich exponierten NS-Elemente und ihrer Taten, vernachlässigbar. * Aber kommen wird nochmal in die NS-Zeit zurück, in die Jahre 1943 und 1944, als es bergab ging. Konnte man mit solchen Leuten wie oben beschrieben den Abstieg aufhalten? Den „Endsieg“ erringen? Wir lasen über etliche einfache Parteigenossen, die das NS-Ethos mehr schlecht als recht mit Leben erfüllten und, sobald es brenzlig wurde, rechtzeitig absprangen. Wir sahen auch Parteigenossen der ersten Stunden, die vom Glauben abfielen oder sich vollkommen ins Abseits manövrierten. Die Zukunft des NS-Staates sah mehr düster als braun aus. Und bekanntlich fängt der Fisch beim Kopf zu stinken an. Wir haben bereits in Kapitel 22 gelesen, dass Leute wie Landrat Wohlrab es mit der Treibstoffmeldung nicht ganz exakt nahmen. Und Schmid, der Saubermann, der mit seinem Spruch „Gemeinnutz vor Eigennutz“ bereits in den 20er und 30er Jahren den Gemeinderat in Baden erheitert hatte. Er pflegte nach außen Bescheidenheit und Zurückhaltung, eine Lebensweise, in der die Liebe zum Führer, zum Volk und zum Vaterland an erster Stelle stand, und sicher nicht der schnöde Mammon. Nach 1945 fiel auch hier der Vorhang. Als es hieß, dass Kürzungen bei den Ruhegehältern vorgenommen werden sollten, wandte er sogleich ein, dass er als ehrenamtlicher Bürgermeister kein Gehalt, sondern nur eine Aufwandsentschädigung von der Stadt Baden beziehe und diese zu 2/3 als steuerpflichtig herangezogen wird – obwohl meine repräsentativen Ausgaben in einem Heilbad mit vielen kulturellen und sonstigen Veranstaltungen weit über das Drittel hinaus gehen – und meine Ruhegenüsse in dem gleichen Maße gekürzt werden […].81 Schmid stellte das so dar, als würden ihn etwaige Bezugskürzungen finanziell massiv treffen. Er bat, deswegen davon Abstand zu nehmen oder ihm zumindest einen „Repräsentationszuschuss“ zu gewähren. Nimmt man jedoch Klingers Ermittlungen nach 1945 her, so ergibt sich, dass Schmid, außer seinen Bezügen als Mitglied des Deutschen Reichstages, ein Ruhegehalt als Postdirektor per 559 RM, als ehrenamtlicher Bgm. 81 StA B, 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. III; Finanzen Schmid – Schreiben an die Reichspostdirektion (23.02.1942).
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500 RM, dann verschiedene Zulagen von 200 bis 3000 und auch darüber, vom Casino zumindest 270 RM, von der Sparkasse, Trabrennverein etc. noch nennenswerte Einkommen ganz ungekürzt beziehen konnte.82 Gemeinsam mit seiner Ehefrau, Marie Schmid, saß er dann in seiner kleinen Villa in der Allandgasse 5, welche sie allein bewohnt haben, und man weiß bis jetzt nicht, wohin sie ihr auffallend hohes jährliches Einkommen von über 20.000 RM durch sieben Jahre hindurch angelegt haben. Bei den großartigen Beziehungen, welche die Vorgenannten hatten, war es eine Unmöglichkeit, so hohe Beträge für den alltäglichen Lebensunterhalt zu verbrauchen.83 Und als im April 1945 schon alles in Trümmern lag, war für Schmid der Griff in die Gemeindekasse, kurz vor seiner Flucht, wohl nur noch Formsache – dazu schon bald mehr.
Die letzte Party der Badener Nationalsozialisten Als Mitglied der NSDAP im Jahre 1944 war es sicher nicht abwegig, mit Sorge der Zukunft entgegenzublicken. Versprochenes ging nicht in Erfüllung. Die feindlichen Armeen kamen immer näher, die Nachwuchsarbeit stockte, das Fallen für Führer, Volk und Vaterland an der Front riss Lücken in die Personaldecke, die nicht mehr zu füllen waren, bzw. die Nachbesetzungen erwiesen sich als alles andere als ideologisch gefestigt. Klagen über Parteigenossen, die ihre Zeit in den Amtsstuben nur mehr abzusitzen gedachten, waren unüberhörbar. Trotzdem gab es in der Schwefelstadt für die örtlichen Parteimitglieder etwas zu feiern. Am 18. Juni 1944, bei 300 Litern Wein, genehmigt vom Gauleiter Jury höchstpersönlich, wurde das 25-Jahr-Jubiläum der NSDAP Baden zelebriert. Einen Tag zuvor wurde ein Kameradschaftsabend im Hotel „Stadt Wien“ abgehalten. Die eigentliche Feier fand nicht dort statt, sondern zwei Häuser weiter, im Sozialgewerk – wo normalerweise Ausspeisungen von Volksgenossen vorgenommen wurden. Der städtische Musikbeauftragte, Rudolf Zahlbruckner, der offenbar für die Lokation zuständig war, machte darauf aufmerksam: Leider ist dort kein Garten vorhanden, sondern ein Saal. Aber ich hoffe, dass die Herren zufrieden sein werden, denn sie erhalten dort außer Getränken über Wunsch auch ein warmes Essen. 84 Bevor es soweit war, musste allerdings geklärt werden, wann eigentlich exakt die Ortsgruppengründung erfolgt war. Mit 1919 besaß man ein eindeutiges Datum, andererseits war die Badener Ortsgruppe im Jahr 1926 in die Hitler-Bewegung überführt worden und damit tatsächlich zur „wirklichen“ NSDAP. Hauptabschnittsleiter und Kreisleiter Camillo Gärdtner legte die Datumsrecherche in die Hände des Hauptbereichsleiters Theodor Holezius, der sich für das Jahr 1926 aussprach, doch wäre das dann ein 18-jäh82 StA B, 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. III; Ermittlungen nach 1945 – Amtsbericht (10.06.1946). 83 Ebd. – Kriminalabteilung an Landesgericht (08.08.1946). 84 StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. II; Gründungsfeier der NSDAP-Ortsgruppe Baden – Zahlbruckner an Dr. Leo Helmer (03.06.1944).
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riges Jubiläum gewesen, was seltsam gewirkt hätte, also wurde dann doch als Gründungsjahr 1919 auserkoren. Die Vorbereitungen für die Festivitäten liefen währenddessen auf Hochtouren. Der städtische Musikbeauftragte, Rudolf Zahlbruckner, der offenbar auch für die Verköstigung zuständig war, drängte in Erfahrung zu bringen, mit wie vielen Teilnehmern zu rechnen wäre. Auf dem Speiseplan stand ein Schweinsbraten mit Knödeln und Salat. Sollte aus unvorhergesehenen Gründen kein Schweinefleisch verfügbar sein, so wäre die Alternative ein Rindsgulasch mit Knödeln. Neben den ausgefallenen kulinarischen Genüssen kamen die musikalischen hinzu, wobei hier etwas Wesentliches geklärt werden musste. Weiters bitte ich um gefl. Bescheid, ob die Sängerin Nikolaidi eine Deutsche oder eine Ausländerin ist. Der letztere Fall wäre wohl bei einer so bedeutenden Partei-Feier nicht recht tragbar.85 Mit Werken von Franz Schubert nahm im Kurpark der Festakt seinen Lauf. Musisch und lyrisch ging es dahin: „Deutschland, heiliges Wort“, „Der Gondelfahrer“, „Die Rose stand im Tau“, ein „Oberschwäbisches Tanzlied“, dazwischen haben wir lyrische Einschübe von Heinrich von Kleist und Joseph von Eichendorff. Bezüglich der geschwungenen Reden schöpfte man aus dem klassischen NS-Themenrepertoire. Man sprach vom Krieg, dem „Endsieg“, verfluchte Juden und Bolschewiken, erinnerte an die gute alte Zeit, die nicht so gute, aber dennoch kämpferische Verbotszeit, sinnierte über den glühenden Idealismus der deutschen Seele, schwelgte in beispiellosen Heldentaten vergangener und aktueller Tage. All das Gesprochene wurde natürlich mit stürmischen Beifällen goutiert.86 Die gesamte Veranstaltung triefte nur so von Heldenpathos, Todessehnsucht sowie Todesverachtung. Die Lieder oder Ansprachen hießen: „Deutschland, heilige Mutter“, „Wo wir stehen, steht die Treue“ oder „Treu kann nicht sterben“. Allein das Wort Treue findet sich dutzende Male in den Rednertexten. Es wurde akribisch aufgelistet, wem aller die Treue geschuldet wurde. Treue zum Vaterland, Treue zum Führer, zu den Kameraden, zum Nationalsozialismus, zur Partei, zur Wehrmacht usw. Außerdem, so wurde historisch-fiktional eingefügt, waren Siegfried und Hagen von Treue erfüllt, Hagen dann später nicht mehr so wirklich, aber er erstach Siegfried aus Treue-Motiven – alles lag im Auge des Interpreten. Über die Treue grundsätzlich hieß es: Sie wohnt bei seinen Rittern und Soldaten. Sie wohnt wieder in uns. Die Treue ist unsere Ehre. Wer will ehrlos sein unter den Tapferen und Helden. Zwischendurch Gedichte, viele Gedichte, hier ein paar ausgewählte Verse: Kamerad, reich mir die Hände Ohne Hass und ohne Reu. Wie sich auch das Schicksal wende, wie auch unser Leben ende – Kamerad, wir bleiben treu!
85 Ebd. – Zahlbruckner an Dr. Leo Helmer (03.06.1944). 86 Vgl. BZ Nr. 49 v. 21.06.1944, S. 1.
Kapitel 28 Apostasie
Ballet die Fäuste und betet dann so: Brüder wir werden euch rächen! Hunderte starben da nirgendwo, Nun werden wir für euch sprechen. Treue kann nicht sterben, fällt auch Mann für Mann. Über den Entseelten Steigt sie himmelan.87
Weiter im Texte kamen noch Millionen von Getreuen vor, die ihrem Führer wohin auch immer folgen würden. Nicht einmal ein Jahr später folgten von den Anwesenden nur die Allerwenigsten ihrem Führer in den Tod. Die Allermeisten bevorzugten die Flucht in die Arme der GIs, die von Westen her anrückten, anstatt sich den Rotarmisten entgegenzustellen. Sie werden darüber noch lesen – die Treue hatte ein Ablaufdatum. So übertrieben und weltfremd das Ganze mittlerweile war, eines muss uns bewusst sein, das NS-Regime herrschte weiterhin. Zu Recht darf man sich fragen: wieso eigentlich? Ende 1943 fehlte es bekanntlich sowohl an Heizmaterial als auch an Heizmöglichkeiten. Seit Monaten gab es kein frisches Obst mehr, Fisch und Fleisch waren eine Rarität, der Hunger war spürbar, Klopapier Mangelware und in den eigenen vier Wänden saßen im Nebenzimmer, getrennt durch eine von den Behörden verordnete eingezogene Zwischenwand, Flüchtlinge aus dem Altreich, mit denen genauso der Luftschutzkeller geteilt wurde, wenn wieder einmal die Sirenen ertönten, und sie ertönten oft – sehr oft. Weshalb kollabierte das System nicht längst, wo es doch an so vielen Ressourcen mangelte und die Stimmung dermaßen am Boden war, dass selbst verdiente Parteigenossen sich nach Alternativen umsahen? Wäre man Gast auf dem 25-Jahr-Jubiläumsfest gewesen, wäre die Erklärung sicher gewesen: Es läge am Führer, am deutschen Siegeswillen, der deutschen Überlegenheit, dem deutschen Fleiß, der rassischen Vorherrschaft, wonach die arische Rasse und damit Deutschland über allem und jedem stehe usw. Unter Sieg-Heil- und Heil-Hitler-Geplärr, Deutschen Grüßen, der Gruppeneuphorie und der Leerung von 300 Litern Wein hätte solch monströses Phantasiegeschwafel vielleicht plausibel geklungen, aber einer objektiven Betrachtung hält solch plumpe Propaganda keine Millisekunde stand. Vielmehr war es einem beispiellosen Angriffskrieg, Raubzug und dem Ausbeuten besetzter Gebiete sowie einem millionenfachen, zwangsimportierten Sklavenheer zu verdanken, dass das NS-Regime nicht bereits zwei Jahre nach Kriegsbeginn vor die Hunde gegangen war. Werfen wir deshalb einen Blick auf diese Menschen und ihren „Arbeitseinsatz“ in unserer schönen biedermeierlichen Kurstadt Baden.
87 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. II; Gründungsfeier der NSDAP-Ortsgruppe Baden,
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Kapitel 29 Systemerhalter Oder: Von einer Überfremdung, einem Bevölkerungsaustausch und einer multikulturellen Sklavengesellschaft
„Den“ Fremd- und Zwangsarbeiter in der NS-Zeit zu definieren, ist gar nicht so einfach. Die Bandbreite reichte von freiwilligen Fremdarbeitern aus verbündeten Ländern bis hin zu ungarischen Juden, die 1944 nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Ungarn, massenhaft ins Reich deportiert wurden und deren Status niedriger als der von antiken Sklaven war. Dazwischen finden wir Zivilarbeiter, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge, die für allerlei erzwungene Arbeit benötigt wurden. All diese Gruppen besaßen unterschiedliche Rechte und Pflichten, die obendrein einem zeitlichen Wandel unterlagen. Kriegsgefangene konnten aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und in zivile Arbeitsverhältnisse übergeführt werden. Die Veränderungen konnten in sämtliche Richtungen ablaufen. Denken wir alleine an französische oder italienische Soldaten oder Zivilisten. Anfänglich war Frankreich der Feind und in Gefangenschaft geratene Soldaten wurden zu Kriegsgefangenen. Nicht selten wurden sie als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich deportiert. Als sich jedoch das Vichy-Regime etablierte und sich von seiner wohlwollenden, neutralen und kooperativen Seite präsentierte, konnte sich die rechtliche Stellung der Betroffenen zum Positiven bzw. Besseren wandeln. Bei den Italienern stoßen wir auf eine gegenläufige Entwicklung. Von Verbündeten zu Verrätern. Der Status der Zwangs- und Fremdarbeiter war von unterschiedlichsten Faktoren abhängig. Aufgrund der NS-Rassenideologie machte es einen großen Unterschied, ob man es mit der germanischen, romanischen, slawischen oder der erfundenen jüdischen Rasse zu tun hatte. Gegenüber jedem Fremden gab es eigene Benimm- und Verhaltensregeln. Und die Tücken steckten im Detail. Engländer oder Niederländer waren Germanen, aber Feinde des Deutschen Reiches. Während die Niederlande kapitulierten, kämpfte England bekanntlich bis zum Schluss gegen das NS-Regime weiter. Und wie sah es mit den Flamen aus? Ebenso Germanen, aber ohne eigenen Staat, dafür Staatsbürger einer anfänglich feindlichen, danach unterworfenen/okkupierten Nation. Italiener und Rumänen waren zwar Verbündete, aber Romanen und damit eigentlich rassisch minderwertiger. Genauso die Ungarn oder Finnen, alles Verbündete, aber rassisch unter dem Germanentum angesiedelt. Bei den Slawen sah es nicht anders aus. Polen, Russen oder Serben galten als minderwertig und sollten ausgemerzt oder zu einem Sklavendasein degradiert werden. Slowaken, Kroaten und Ukrainer waren zwar genauso Slawen, aber Verbündete, und zumindest hatten die ersten beiden einen eigenen Staat bzw.
Kapitel 29 Systemerhalter
tolerierten Satellitenstaat. Und die Bulgaren? Verbündete Slawen mit eigenem Königreich. Die Tschechen hatten als Protektoratsangehörige überhaupt einen eigenen Status. Man könnte noch „ewig“ so weitermachen und Nationen/Völker einbeziehen, wie Spanier, Griechen, Türken, Skandinavier, Balten, Bosnier, Britische Kolonialangehörige usw., und deren Platz in der NS-Hierarchie erörtern. Neben rassischen und völkischen Kategorisierungen spielten auch politische Einstellungen eine wichtige Rolle. Waren die Fremd- und Zwangsarbeiter Linke, Rechte, Konservative, Liberale, Katholiken, Protestanten, Muslime usw. Auf all das einzugehen würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Mir ist wichtig, dass man stets die Dynamik und die Veränderbarkeit innerhalb dieses Themenkomplexen im Hinterkopf behält. Und zu solchen Überthemen wie Ideologie oder Kriegsverlauf kommen ganz profane oder alltägliche Dinge hinzu, die das Dasein von Zwangs- und Fremdarbeitern bestimmten, wie: Wo wurden sie eingesetzt? In der Fabrik oder der Landwirtschaft? Welche Arbeit hatten sie zu verrichten? Wo waren sie untergebracht? In Lagern oder bei ihren Dienstherren? Wer war für sie zuständig? Örtliche Machthaber wie der Bürgermeister? Ein Hof- oder Fabriksbesitzer? Die SS? Wer war der unmittelbare Vorgesetzte/Aufseher? Ein anderer Fremdarbeiter? Ein Wehrmachtssoldat? Ein SA-Mann? Grundsätzlich kann jedoch grob gesagt werden, dass freiwillige Fremdarbeiter aus verbündeten „germanischen“ Staaten die meisten Rechte genossen, während am unteren Ende der Skala Russen und Juden standen, die, definiert als Artfremde bzw. Schädlinge, der NSideologischen Dehumanisierung unterlagen. Einzig zum Kriegsende hin, als die NS-Welt in Trümmern lag, konnte eine Wertsteigerung jüdischen Lebens aufblitzen, wenn sie als Faustpfand einiger NS-Granden herhalten durften, die sich dadurch ein alliiertes Wohlwollen zu erkaufen gedachten. Das Thema Fremd- und Zwangsarbeiter ist eigentlich ein immens entscheidendes, weil nur durch diese Menschen und deren weitgehend brutal ausgebeutete Arbeitskraft es möglich war, sechs Jahre lang Krieg zu führen. Allein die Zahlen sprechen Bände: 7 bis 14 Millionen Menschen verrichteten Fremd- und Zwangsarbeit im Deutschen Reich. Das entsprach in etwa zehn bis zwanzig Prozent der Reichsbevölkerung.1 Auch wenn es genau genommen nicht immer der „Wahrheit“ entspricht, werde ich grundsätzlich von Fremd- und Zwangsarbeitern sprechen bzw. dieses Wortpaar als Bezeichnung für all jene Fremden anwenden, die im Reichsgebiet gearbeitet haben – sei es freiwillig oder zwangsweise. Schauen wir uns im Folgenden an, wo Fremd- und Zwangsarbeiter in der Stadt und dem Bezirk Baden untergebracht und eingesetzt wurden.
Das Fremde im Alltag Vor dem Krieg spielten die Fremd- und Zwangsarbeiter in der Ostmark noch eine untergeordnete Rolle. Bis auf die Landwirtschaft, die unter akuter Landflucht litt, gab es genug 1
Vgl. SCHREIBER Gerhard, Der Zweite Weltkrieg (München 2013), S. 65 und BAUER, Die dunklen Jahre, S. 307.
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Arbeitslose, um die Großbaustellen und Fabriken in den Städten mit Arbeitskräften zu versorgen. Erst im Sommer 1939 begannen sich erste Engpässe bemerkbar zu machen.2 Fremd- und Zwangsarbeiter wurden Thema. Ihr Einsatz sollte den Arbeitskräftemangel lindern, verstärkte aber gleichzeitig einen anderen Mangel – den Wohnraummangel. Das ist ein wichtiger Aspekt, der in weiterer Folge nicht aus den Augen gelassen werden sollte. Die Unterbringung von Fremd- und Zwangsarbeitern konnte ganz unterschiedlich ausfallen – wiederum je nach rassistischer Kategorisierung der Betroffenen, ihrem rechtlichen Status und ihrem Einsatzgebiet. Die Bandbreite war enorm, von eigenen Wohnungen, einzelnen Zimmern, Kabinetten, Höfen, Lagerhallen, Gefängnissen, provisorisch aus dem Boden gestampften Baracken oder gar unter freiem Himmel. Doch egal wie und wo, das musste organisiert werden. Im Juni 1940 teilte Landrat Wohlrab den Bürgermeistern seines Landkreises im Namen der Wehrmacht mit: Die große Zahl der in das Reichsgebiet einströmenden und in Zukunft noch zu erwarteten Kr. Gef. macht es voraussichtlich erforderlich, zu ihrer Unterbringung sämtliche nur irgendwie verfügbar zu machende Räumlichkeiten auszunutzen.3 Der Landrat gab den Bürgermeistern drei Tage Zeit. Drei Jahre später, im Oktober 1943, das Gleiche noch einmal. Diesmal aber sollte es koordinierter bzw. zentralisierter ablaufen. Der Sinn dahinter war jedoch der gleiche, man erwartete eine weitere Zufuhr an Fremd- und Zwangsarbeitern. Der Landrat verlangte von den Bürgermeistern, sämtliche Unterkünfte ausfindig zu machen. Die Stadt Baden hatte nur Militärbaracken anzubieten, und die einzige sonst verfügbare Unterkunft, eine Bauhütte, war bereits durch 30 Ostarbeiter belegt, die für die Herstellung einer Uferschutzmauer im Schwechatbach im Einsatz waren.4 Und nur zwei Monate später, im Dezember 1943, brauchte man – infolge der Räumung von Gebieten an der Ostfront – Platz für ganze Ostarbeiterfamilien.5 All das sind nur kleine Ausschnitte aus der großen Welt der damaligen Verschiebung von Menschenmassen. Und es waren Massen. Der Fremde begegnete einem auf Schritt und Tritt. Jedes Mal, wenn Gertrud Maurer an Weinbergen vorbeiging oder selbst als Feldarbeiterin eingeteilt war, traf sie auf viele Franzosen oder Ostarbeiter. Sie nahm an, dass jeder Weinhauer sich nach Lust und Laune welche bestellen könnte.6 Als sie im Jahre 1944 auf den Feldern des Schlosses Leesdorf zum Erbseneinsammeln eingeteilt war, erschien regelmäßig der Gutsverwalter hoch zu Ross, und er schien sie nur für eine Art bessere Ostarbeiter zu halten, von denen übrigens eine ganze Menge auf den Erbsenfeldern arbeitet; nur die Knute fehlte ihm noch so viel schrie und kommandierte er herum.7 Einmal wurde sie sogar tatsächlich für eine junge 2
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Vgl. FREUND Florian, PERZ Bertrand, Zwangsarbeit in Österreich. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 645–695. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1940 – Landrat an Bürgermeister (06.06.1940). Vgl. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1943 – Schmid an Landrat (04.10.1943). Ebd. – Landrat an Bürgermeister (22.12.1943). Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 37. MAURER Rudolf, Privatarchiv, Das 1000-jährige Reich I, S. 141.
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Ostarbeiterin gehalten. Als sie mit ihrer Mutter in der Straßenbahn fuhr und diese fest ihre Hand hielt, sagte eine Frau: Ham S‘ recht, halten S‘ as nur fest, daß s‘ Ihna net davonrennt! 8 Wir dürfen nicht vergessen, dass neben diesen Fremden weitere Fremde die Kurstadt bevölkerten. Deutsche Familien, die für die nationalsozialistischen Ost-Kolonisierungsphantasien vorgesehen waren, mussten 1943, genau wie die Wehrmacht, einen taktischen Rückzug antreten. Waren die „Kolonisten“ zufälligerweise in Baden gestrandet, waren sie gezwungen, mit der Kurstadt vorlieb zu nehmen – die Wohnungsnot dadurch weiter anzuheizend – oder, falls möglich, zurück in den Westen ins Altreich zu ziehen. Gleichzeitig strömten aus derselben Himmelsrichtung ihnen Menschen entgegen, die vor den alliierten Bombenangriffen flüchteten. Es waren regelrechte Völkerwanderungen. Mobilität war ein Schlagwort jener Zeit. In den Quellen beschreibt eine in Wien geborene und in Prag aufgewachsene Tschechin, wie sie als Arbeiterin in der Ostmark anfänglich bei den Wiener Neustädter Flugwerken begann, anschließend als Lagerarbeiterin in einer Reifenfabrik in Wimpassing ihr Auskommen finden musste und letztendlich in Baden in einem Hotel als Hilfskraft unterkam. Aufgrund einer Schwangerschaft wurde sie entlassen und durfte im September 1943 nach Hause zurückkehren.9 Von einer ähnlichen Odyssee berichtet ein Arbeiter aus Slowenien. Er begann bei den Reichsbahnen in Gratwein. Ab Mai 1941 war er für eine Wiener Kanzlei tätig. Im Herbst 1944 fand er eine Anstellung als Chorsänger bei der Gaubühne in Baden. Danach ging es nach Berndorf und später nach Tribuswinkel, jeweils in einen Rüstungsbetrieb. Zu Ende war seine Reise durch die unterschiedlichsten Beschäftigungsfelder allerdings nicht. Nach dem Einmarsch der Roten Armee leistete er Dolmetscherarbeiten für die sowjetischen Besatzungsmächte.10 Der Ausflug dieses Slowaken in die Kunst- und Kulturwelt als Chorsänger war eher die Ausnahme. Der Einsatz in der Rüstungsindustrie, der Land-, Forst- und Waldwirtschaft sowie in einzelnen Haushalten (hier besonders weibliche Arbeitskräfte) war hingegen die Regel. Zu sagen, wo die Arbeitsbedingungen besser waren, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Denn, wie oben erwähnt, das hing von zahlreichen Faktoren ab. Mag die Arbeit am Feld anstrengend gewesen sein, so war sie dennoch unter den Fremd- und Zwangsarbeitern „beliebter“ als Industriearbeit. Die Arbeit in der Landwirtschaft versprach bessere Versorgung mit Lebensmitteln – ich rede hier nicht von guter, sondern besserer. Während es nämlich verboten war, gewisse „Luxus-Lebensmittel“ an Fremd- und Zwangsarbeiter auszugeben, dazu gehörte zum Beispiel Salz, waren solche Verbote in einer Fabrikkantine eher umsetzund kontrollierbar als auf einzelnen Bauernhöfen.11 8 9
Vgl. MAURER Rudolf, Privatarchiv, Das 1000-jährige Reich II, S. 215. Vgl. RAFETSEDER Hermann, NS-Zwangsarbeits-Schicksale. Erkenntnisse zu Erscheinungsformen der Oppression und zum NS-Lagersystem aus der Arbeit des Österreichischen Versöhnungsfonds (Bremen 2014), S. 196. 10 Vgl. ebd. S. 411. 11 Vgl. BZ Nr. 69 v. 29.08.1942, S. 5.
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Hinzu kam eine milieubedingte Komponente. Der bäuerlich-konservative Standesdünkel der Hofherren war weitgehend immun gegenüber der NS-Ideologie geblieben. Anders sah es in den Fabriken aus, wo Werkschutzmänner für Ordnung sorgten, die wesentlich NS-affiner eingestellt sein konnten. Zwar gab es auch innerhalb der bäuerlichen Welt klare Hierarchien, doch stützten sich diese nicht auf rassische NS-Herrenmenschen-Attitüden. Ein wohlwollendes Miteinander zwischen „Herr und Knecht“ war möglich. Und dass es dazu kam, davon werden wir noch lesen. Dennoch will ich keine rurale Romantisierung hier betreiben, wonach das bäuerliche Familienoberhaupt zusammen mit all jenen zur Hofgemeinschaft gehörenden Personen an einem Tisch gütig beisammensaß und aß. Das Herr/ Knecht-Verhältnis konnte allerdings, neben dieser „standesgemäßen bäuerlichen Ordnung“, durchaus in Sadismus umschlagen.12 Das meiste hat sich wohl irgendwo dazwischen abgespielt, so wie im Falle von Benedikt Rasser – jenem Mann, der das Parteiabzeichen als Dreck bezeichnet und den Krieg für verloren erklärt hatte (siehe Kapitel 26). Im November 1940 wurde er beschuldigt, seinen polnischen Landarbeiter, Karel Bobofski, misshandelt und ihn nicht ausreichend ernährt zu haben. Es stellte sich heraus, dass es „nur“ eine Ohrfeige gewesen war und zum Essen, beteuerte Rasser, hätte es stets ausreichend gegeben. Mehr noch, im Winter saß Karel Bobofski mit am Esstisch und nicht, wie es das Gesetze verlangte, separiert in einem eigenen Raum. Ermittlungen ergaben schließlich: Bei Tisch wurde Bobofski in der kalten Jahreszeit geduldet, um Heizmaterial zu sparen und die Geschirrreinigung zu beschleunigen, jedoch nicht aus Sympathie oder Mitleid. So weit so gut, aber dann wurde man offenbar schleißig im Hause Rasser. In den wärmeren Jahreszeiten wurde diese Gepflogenheit allerdings von der Gattin Rassers wegen Zeitersparnis fortgesetzt, nunmehr nimmt Bobofski aber seine Mahlzeiten wieder in einem gesonderten Raum ein.13 Das Ehepaar Rasser wurde zurechtgewiesen, und dass der Pole Wein bekam, durfte auch nicht mehr passieren. So etwas störte die Kreisleitung besonders, und dabei hatte man doch allen ein Merkblatt mitgegeben, auf dem genau geschrieben stand: Lasst Polen nicht an Eurem Tisch essen! Sie gehören nicht zur Hofgemeinschaft, noch viel weniger zur Familie, Ihr sollt ihnen zwar genügend zu essen geben, sie sollen aber getrennt von Euch essen.14 Vieles davon war in solchen Fällen abhängig von den einzelnen Persönlichkeiten und dem getroffenen Arrangement zwischen den jeweiligen Protagonisten. Die Beziehungsverhältnisse konnten deshalb von Hof zu Hof variieren. Neben der womöglich besseren Versorgung mit Lebensmitteln bot die Einquartierung auf einem Bauerhofhof üblicherweise mehr Platz, da weniger Personen auf einem Raum zusammenkamen, als in irgendwelchen Baracken-Arbeitslagern. Das wiederum senkte die Wahrscheinlichkeit der Seuchengefahr. 12 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 309 und vgl. LANGTHALER Ernst, Eigensinnige Kolonie. In: TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002), S. 348–375. 13 StA B, GB 052/Personalakten: Rasser Benedikt – Landrat an Kreisleitung (22.11.1940). 14 Ebd. – Kreisleitung an Landrat (09.11.1940).
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So erfahren wir zum Beispiel, dass im Dezember 1941 in einem Arbeitslager in Alland-Heiligenkreuz Fleckentyphus ausgebrochen war. Man zählte 27 erkrankte russische Kriegsgefangene – Todesfälle hatte es angeblich noch keine gegeben. Einen Monat später brach die Seuche erneut aus. Ebenso lesen wir, dass die Arbeit an den Reichsautobahnen deswegen und wegen des eingetretenen Frostwetters gestoppt wurde. Der Wetterumsturz war offenbar dermaßen einschneidend gewesen, dass selbst die Arbeit in den Enzesfelder Metallwerken eingestellt wurde. Dort waren übrigens „Zigeuner“ aus Tschechien beschäftigt, die dann, aufgrund der Witterungsverhältnisse, nach Hause geschickt wurden.15 Bleiben wir kurz bei diesem Lager in Heiligenkreuz und dem Autobahnbau, dem etwas NS-Klischeemäßiges anhaftet. Die „Reichsautobahnen Wien Oberste Bauleitung Wien“ hatte mit dem Fokus auf die geplanten Reichsautobahnstrecken „Wien–St. Pölten“, „Wien– Graz“ und die Protektorats-Strecke „Wien–Breslau“ in Baden sogar eine eigene Bauabteilung.16 Mit 93 Männern und 100 Frauen, die im September 1941 im Landkreis Baden eintrafen, sollten diese Infrastrukturprojekte Wirklichkeit werden. Es handelte sich dabei um Fremd- und Zwangsarbeiter bzw. in den Zivilstand überführte Kriegsgefangene.17 September 1939 waren dort hingegen 45 Arbeiter aus Wien und weitere 75 Arbeiter aus Bulgarien im Einsatz gewesen. Anfänglich soll alles gepasst haben, doch dann waren die Bulgaren plötzlich mit dem Essen nicht mehr zufrieden. Sie verlangten Speisen, die sie aus ihrer Heimat kannten, und das war Gänse- und Hühnerbraten. So ist es in den letzten Tagen mehrmals vorgekommen, dass Bulgaren ganze Portionen Liptauerkäse durch die Fenster vor die Baracke geworfen haben, ohne denselben überhaupt zu berühren.18 Die Lage zu klären war nicht leicht, denn kein einziger der bulgarischen Arbeiter konnte Deutsch, und ein Dolmetscher war weit und breit nicht in Sicht – obwohl vom Lagerführer schon mehrmals angefordert. Er war auch bereit, sobald ein Dolmetscher vor Ort wäre, den Speiseplan der Bulgaren nach ihrem Geschmack auszurichten. Es ist anzunehmen, dass es sich hierbei um Zivilarbeiter handelte, die in Bulgarien angeworben worden waren. Denn ihnen stand Fleisch, Kaffee, Zucker und ein Bad zur Verfügung. Neben all den verschiedenen Betätigungsfeldern kamen noch allerlei Hilfsarbeiten in Frage, wie Schneeschaufeln im Winter. Von ihrem Fenster aus sah Gertrud Maurer regelmäßig französische Kriegsgefangene, wie sie, in braunen Uniformen mit einer KG-Aufschrift, die Straßen und Gassen Badens vom Schnee befreiten. Dabei wurde sie Zeugin einer für sie sehr interessanten Begebenheit. Eine ihr unbekannte Frau hinterlegte jedes Mal, wenn sie an den Franzosen vorbeiging, ein Päckchen auf einem Fensterbrett hinterlegt, das dann, wenn niemand hinsah, von einem der Kriegsgefangenen unauffällig eingesteckt wurde. Was es damit auf sich hatte, konnte sie sich anfänglich nicht erklären bzw. 15 16 17 18
Vgl. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Dezember 1941. Vgl. RAFETSEDER, NS-Zwangsarbeits-Schicksale, S. 356. Vgl. ebd. S. 361 (Fußnote). StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fast. III Gendarmerieposten: Alland – Missstände im Lager der Reichsautobahn in Heiligenkreuz (11.09.1939).
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ihr Erklärungsversuch hatte etwas wahrlich Rührendes. Das war eine Mutter, deren Sohn im Feld oder in Kriegsgefangenschaft war, und das Gute, das sie ihm nicht tun konnte, tat sie einer anderen Mutter Sohn.19 Damit haben wir einen wunderbaren Übergang, um näher auf die Behandlung, den Umgang und das Zusammenleben zwischen Badenern sowie Fremd- und Zwangsarbeitern einzugehen.
Das Fremde und ich Im Jänner 1940 machte Landrat Wohlrab seine Bürgermeister im Landkreis Baden darauf aufmerksam, dass man sich entscheiden müsste, wen man aufnehme, entweder polnische Kriegsgefangene oder polnische Zivilarbeiter – beides zugleich ging nicht. Denn damit würde die Spionage- und Sabotagegefahr zunehmen und zudem, weil es einfach unmöglich ist, den besonders streng verbotenen Verkehr zwischen „Zivilarbeitern“ und Kriegsgefangenen in diesen Fällen zu unterbinden. Dies ist natürlich umso weniger möglich, wenn nun auch die Bewachung durch die Hilfspolizei nicht funktioniert.20 Wir sehen hier, mit welchen „Herausforderungen“ sich die damaligen Städte und Gemeinden auseinanderzusetzen hatten. Grundsätzlich wären polnische Zivilarbeiter die angenehmere Variante gewesen. Diese erforderten nicht den gleichen Bewachungsaufwand wie polnische Kriegsgefangene. Aber letztendlich musste man nehmen, was kam, und sich damit arrangieren – was auch nicht immer leicht war. Die Landwirte klagen darüber, dass die Kriegsgefangenen, insbesondere Franzosen Beginn und Ende der Arbeitszeit viel zu genau nehmen, so dass die Einheimischen längst noch arbeiten müssen, wenn die Kriegsgefangenen sich schon ausruhen.21 Solche Klagen erreichten Landrat Wohlrab im Sommer 1943, die er pflichtbewusst an die Reichstatthalterei Niederdonau weiterleitete. Das Verhalten der Ausländer […] erscheint stark uneinheitlich. Während einerseits Klagen vorliegen, dass sich besonders die Tschechen frech und arbeitsunlustig gebären, ist die Einsatzfreude gerade französischer Arbeiter beim Hochwasserunglück im Triestingtal allgemein anerkannt worden.22 Dagegen wurde die Arbeitswilligkeit bei italienischen Kriegsgefangenen als minimal bezeichnet. „Uneinheitlich“ ist ein wunderbares Stichwort, was sowohl Verhalten als auch Behandlung anbelangte – auch gut sichtbar an zwei Beispielen aus Bad Vöslau. So stand einem Kroaten, nachdem der Fliegerhorst bombardiert worden war und er Sachschäden erlitten hatte, eine Entschädigung zu, und ein bei der Bad Vöslauer Gemeinde beschäftigter Tscheche kam sogar in den Genuss einer eigenen Versicherung.23 Davon konnten zum Beispiel russische Kriegsgefangene nur träumen. 19 20 21 22 23
MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 94. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1940 – Landrat an Bürgermeister (26.01.1940). NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Juni 1943. Vgl. StA B, GB 052/Kreisleitung; Fasz I; Lagebericht Juli 1944. Vgl. BREZINA, ZGIERSKI, Bad Vöslau, S. 185f.
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Für die zuständigen Behörden bzw. Bürgermeister sowie Kreis- und Ortsbauernführer, die oftmals für die Fremd- und Zwangsarbeiter zuständig waren, war das eine wahre Herausforderung, sich in all dem zurechtzufinden – Unterbringung, Versorgung und dann die Regelungen, wie man sich gegenüber den einzelnen Fremden zu benehmen hatte. Aber zum Glück lieferte das Reich regelmäßig eine Bedienungsanleitung, wie das Fremde zu handhaben sei. Für Polen gab es getrennte Gottesdienste, Beichten in polnischer Sprache war nicht gestattet, dafür das Singen von Kirchenliedern. Die Messe durfte nur von deutschen Priestern gelesen werden. Deren Namen waren übrigens dem Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, mitzuteilen, und Landrat Wohlrab erwartete sich, dass die deutschen Priester sich ihres deutschen Volkstums und ihrer staatsbürgerlichen Pflichten voll bewusst sind. Ihre Tätigkeit hat sich auf die reine Seelsorge zu beschränken, jeder darüber hinausgehende Verkehr mit den Arbeitern und Arbeiterinnen polnischen Volkstums hat zu unterbleiben. Ansonsten werde er das sofort unterbinden, und im Übrigen mache ich auch darauf aufmerksam, dass der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei für den Fall eines zu beanstandenden Verhaltens der Geistlichkeit staatspolizeiliche Maßnahmen angeordnet hat. 24 Das vom NS-Staat vorgegebene Verhaltensreglement gegenüber den Fremden baute grundsätzlich auf Misstrauen, Abgrenzung, Verachtung, Feindschaft und Hass auf. Ein Teil der Fremd- und Zwangsarbeiter hatte, wie es Himmler bei einer Rede 1943 zum Besten gegeben hatte, den Status von Menschentieren – was aber nicht ganz negativ gemeint war. Wir Deutschen, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zu Tieren haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen, aber es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, uns um sie Sorgen zu machen […].25 Und eine anständige Behandlung, so Himmler weiter, werde schließlich mit einer Hundetreue dieser Menschentiere gegenüber ihren Herren belohnt. Die verordnete Anständigkeit fußte auf einem reinen Nützlichkeitsdenken. Sympathie und Empathie waren nicht vorgesehen und galten demnach als unanständig. Nicht zu vergessen, auch hier spielten die Ehre und der Respekt eine entscheidende Rolle: Zu dem Kriegsgefangenen, dem wir, soweit er ehrenhaft kämpfte, unsere Achtung nicht versagen, halten wir in jeder Beziehung Abstand. Er bleibt auch als waffenloser Gefangener der Gegner, der auf unsere Brüder, unsere Väter und Söhne geschossen hat. Sein Volk muss sich unsere Freundschaft erst wieder gewinnen, wenn der Friede geschlossen ist.26 Wir haben hier diese Pseudo-„Hart aber gerecht“-Maxime und gleichzeitig ein Paradoxon: Auf der einen Seite wird Anständigkeit auch gegenüber Feinden zur Tugend erklärt, auf der anderen Seite als „Wahnsinn“ bezeichnet.27 Indifferenz und Widersprüchlichkeit waren aber bekanntlich ein Markenzeichen des NS-Regimes. Man brauchte nur die Badener Zeitung aufzuschlagen. Kaum hatte man 24 25 26 27
StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1940 – Landrat an Bürgermeister (10.07.1940). LONEGRICH, Heinrich Himmler, S. 320. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1941 – Informationsblatt der Gauleitung s.d. LONEGRICH, Heinrich Himmler, S. 320.
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Polen und Frankreich niedergerungen – die Züge an billigen Arbeitskräften rollten ins Reich – fürchtete man bereits im September 1940 die totale Überfremdung. Deutschland, so sagt man hier und da, im Überschwange der militärischen und politischen Erfolge, sei doch offensichtlich durch das Schicksal dazu bestimmt, ein Herrenvolk zu werden und andere für sich arbeiten zu lassen. Eigentlich die NS-Zukunft schlechthin, aber diese Herrenvolktheorie zeugt von einer weitgehenden Verkennung der einfachsten Voraussetzungen des Gemeinschaftslebens der Völker ebenso sehr, wie von einer geradezu gefährlichen Einschätzung des Wertes der Arbeit. Lange Rede, kurzer Sinn: Der Boden wird von dem regiert, der ihn bearbeitet, nicht von dem, der ihn bearbeiten lässt! Nach einem Jahr Krieg waren neben den Unterwanderungsängsten – heute sprechen manche Milieus von einem Bevölkerungsaustausch – auch Degenerations- sowie Dekadenzängste hinzugekommen. Denn, Gott behüte, als Deutscher das Arbeiten zu verlernen wäre der rassische Untergang. Hierbei wäre „arisches“ Augenmaß gefragt. Der Fremdarbeiter war nur eine Notlösung, jetzt, in so schwierigen Zeiten. Danach müsste wieder der Deutsche zum Pflug greifen oder den Hammer schwingen, denn so die BZ weiter: Nur das Volk, das mit seiner eigenen Hände Arbeit sich immer seine Lebensrechte erkämpft, ist zur Erfüllung großer Aufgaben imstande.28 Diese Widersprüchlichkeit hatte ferner den Vorteil, dass sie einen hohen Interpretationsradius bot, für jeden war etwas dabei. Und dadurch konnte auch jeder für was auch immer belangt werden. Hatte er sich zu sehr mit den Fremden abgegeben, konnte er belangt werden. Hatte er sich zu sehr auf deren Arbeitskraft verlassen, konnte er ebenso belangt werden. Eigentlich eine Non-plus-ultra-Regelung – solange man an der NS-Nahrungsspitze stand. Dennoch war es sicher nicht von Nachteil für die NS-Führung, gewisse Richtwerte festzulegen – zumindest bis zur nächsten Reform der Fremd- und Zwangsarbeiter-Behandlungsauflagen. Im Februar 1943 erreichte den Landkreis ein Schreiben, das von Himmler und dem Gauleiter vom Thüringen sowie Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, ausgearbeitet worden war. Darin, so hieß es laut Landrat Wohlrab, wurden umfangreiche Richtlinien über die Abwehr der Gefahren beim Ausländereinsatz erlassen, welche ich zur strengen Beachtung bekannt gebe. Zuerst einmal wurde gemahnt, dass Betriebsführer und Betriebsobmänner staatspolizeilich verfolgt würden, falls sie gegen die Richtlinien verstoßen oder zu vertrauen Umgang mit den Fremd- und Zwangsarbeitern pflegen würden. Und dann kamen Regeln wie: Gegen deutsche Arbeiter darf in Anwesenheit von Ausländern nicht eingeschritten werden. Sie dürfen auch in Gegenwart von Ausländern weder zurechtgewiesen noch belehrt werden.29 Ferner wären körperliche Züchtigung der polnischen Arbeiter nur der Polizei oder Gendarmerie erlaubt – sollte das ernst gemeint gewesen sein, gab es hier wahrscheinlich die meisten Übertretungen. Die einzelnen Regelungen waren ohne eine wirklich klare Gliederung aufgelistet. Während ganz oben die Polen abgehandelt wurden – aber nur wenn jene als Volksdeutsche galten –, tauchten zwischendurch die Ungarn auf. Bei den Polen hieß es, dass sie bei gewöhnlichen 28 BZ Nr. 73 v. 11.09.1940, S. 1. 29 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1943 – Ausländerbehandlung (20.02.1943).
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Vergehen an die Gestapo zu übergeben seien, bei Vergehen „wider die Natur“ (homosexuelle Handlungen) hingegen an die Kriminalpolizei. Bei den Ungarn erfahren wir, wenn sie illegal eingewandert seien, dürften sie nur mit der Zustimmung des Arbeitsamtes eingesetzt werden. Im Anschluss folgte ohne einen ersichtlichen Bezug oder weitere Erklärung: [N]ach Italienern darf nicht gefahndet werden. Oder: Sittlichkeitsdelikte von Angehörigen der Baltenländer werden nur durch die Gestapo behandelt. Bei den Bulgaren wurde nur angemerkt: Hier ist zu beachten, dass die Leute 3 Namen haben (Vorname, Vorname des Vaters und Zuname). Einen grundsätzlichen Überblick bot eine hierarchische Vierer-Einteilung: 1. Italiener: Ihre Behandlung muss jederzeit von dem Geiste der Waffengemeinschaft getragen sein. 2. Flamen, Dänen, Norweger u. Holländer: Gewinnung für die germanische Völkergemeinschaft. 3. Nichtgermanische, mit dem Deutschen Reich verbündete Nationen (Slowaken, Kroaten, Rumänen, Ungarn, Spanier, Bulgaren, Franzosen) verständnisvolle und gerechte Behandlung. 4. Nichtgermanische, unter unserer Schutzhaft stehende Nationen (Tschechen, Serben, Slowenen, Baltenländer, Polen, Ostgebiete) gerechte Behandlung bei jederzeitiger Einhaltung eines klaren Abstandes.30 * Neben internen Schreiben, die von der Reichsleitung über die Reichsstatthaltereien und Landräte an die Städte und Gemeinden durchsickerten, gab es auch die lokalen Medien, denen einiges in Bezug auf die Fremdenbehandlung zu entnehmen war. Im Juni 1943 galt folgende Lohngestaltung für Ostarbeiter in der Haus- und Landwirtschaft: Männliche Arbeitskräfte wie Stallarbeiter erhielten 27 RM, Traktorfahrer und Kutscher 21 RM, Hilfskräfte über 18 Jahren 18 RM, darunter 12 RM. Hinzu kam eine Ostarbeiterabgabe – gestaffelt nach der zuvor genannten Einteilung – von jeweils 6 RM, 3 RM sowie 1,5 RM. Für die unter 18-jährigen Hilfskräfte war keine Ostarbeiterabgabe zu entrichten. Weibliche Stallarbeiterinnen verdienten 18 RM und damit 9 RM weniger als ihre männlichen Kollegen. Weibliche Traktorfahrer und Kutscher waren gar nicht angeführt – wahrscheinlich gab es auch keine – und weibliche Hilfskräfte erhielten entweder 13,25 oder 11,25 RM, wenn sie unter 18 Jahre alt waren. Hier entfiel ebenfalls die Ostarbeiterabgabe, während sie bei den Stallarbeiterinnen 1,5 RM ausmachte. Die besagte Ostarbeiterabgabe durfte nicht vom Lohn abgezogen werden. Des Weiteren waren die Löhne gedeckelt und durften damit nicht höher ausfallen als angegeben. Vergleichbare Regelungen finden wir bei Hausgehilfinnen. 15 RM Lohn für die Über-18-Jährigen, darunter 12 RM. Unterkunft und Verpflegung waren inbegriffen und durften nicht vom Lohn abgezogen werden. Ferner musste der Haushaltsvorstand 4 RM in die Krankenkasse einbezahlen – soweit die Theorie.31 30 Ebd. 31 Vgl. BZ Nr. 51 v. 30.06.1943, S. 3.
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In Bezug auf das Verhältnis zwischen Deutschen auf der einen und Fremd- und Zwangsarbeitern auf der anderen Seite wurde der Obrigkeit schnell klar, dass die eingeforderte Härte und Strenge bei weitem nicht von allen Volksgenossen beherzigt werde. Theorie und Praxis klafften stellenweise weit auseinander. Regelmäßige Aufforderungen und Weisungen seitens der Gau- oder Kreisleitung, der Landräte, Ortsgruppen oder den Polizeidienststellen, keine freundschaftlichen Beziehungen einzugehen, sind Indizien dafür, dass es oft genug dazu kam. Um auf die Gefahren hinzuweisen, wurde medial als Abschreckung ein zu vertrauenswürdiger Landwirt bemüht, der seinen polnischen Ostarbeitern viel zu gutmütig gesinnt gewesen und dann von diesen hintergangen worden wäre. Dabei hatte das Regime doch stets davor gewarnt, die Polen verstehen es meisterhaft, mit geschauspielerten Demut denjenigen gegenüberzutreten, die sie täuschen wollen und sie mit gespielter Offenheit einzuschläfern. Und hatte dieser Landwirt vergessen, dass heute noch, während er sich gemein mit diesen Feinden machte, immer mehr Opfer der Polengreuel aus der Erde, in die ihre Mörder sie verscharrt haben, ausgegraben werden. Unsere Feinde waren und sind bereit, wo immer sie es konnten, jeden einzelnen Deutschen ihren infernalischen Hass und ihre brutalen Instinkte in schrecklicher Weise spüren zu lassen.32 Denn Mitleid mit sogenannten Untermenschen war schlichtweg undeutsch – und offenbar gab es genug Deutsche, die undeutsch waren. Gemeint waren Aktionen wie jene von Anna Stubreiter und Karl Lenardin.33 Während er – als Illegaler – einen halb verhungerten und mangelhaft begleiteten französischen Kriegsgefangenen aus dem Arrest in seine Wohnung mitnahm und ihm eine Hose schenkte, servierte Anna Stubreiter dem Mann eine Tasse Kaffee und ein Stück Brot.34 Kleinigkeiten, möchte man meinen, aber genau das war dieser „zu vertraute Umgang“, der drakonisch sanktioniert werden konnte. Unerwünschte Sympathien finden wir auch beim Bindermeister Otto Wolkerstorfer. In einem Fass ließ er einmal ein Radio verstecken, das anschließend zu französischen Kriegsgefangenen in Pfaffstätten geschmuggelt wurde.35 Noch einen Schritt weiter ging Stephanie Hirschmann. Als Schneiderin bei der Gaubühne angestellt, versorgte sie die dort tätigen französischen Kriegsgefangenen mit Lebensmitteln, Gemüse, Früchten, Eiern, ohne jegliche Gedanken an Bezahlung oder Gegenleistung. Die Theaterdirektion sowie die Nazipolizei drohten wiederholt sämtlichen Angestellten des Theaters mit schärfster Bestrafung und Sanktionen, falls sie nicht jegliche Beziehungen zu den K.G. per sofort abbrechen würden. Nichts desto weniger stand Frl. Hirschmann uns nach wie vor zur Seite. Da ich aber die unmenschlichen Methoden der Nazi’s in diesen Fällen kannte, habe ich sie selbst gebeten größte Vorsicht zu bewahren […]. Doch Stephanie Hirschmann wollte auf die weisen Worte des französischen Unteroffiziers Jean Trimel nicht hören. Als kurz vor dem Einmarsch der Sowjets die französischen Kriegs32 33 34 35
BZ Nr. 73 v. 11.09.1940, S. 1. Anna Stubreiter (geb. 1879). Sein Antrag wurde abgelehnt. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Lendarin Karl (geb. 1895). Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 42.
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gefangenen fest davon ausgingen, mit in den Westen abtransportiert zu werden, kam ihnen erneut Stephanie Hirschmann zu Hilfe. Sie versteckte die Männer in einem der Allgemeinheit nicht bekannten Teil des Theaterkellers. Die Gestapo suchte, konnte aber nichts finden. Obwohl noch Leute im Theater waren und die Stadt voll mit deutschen Truppen war, verpflegte Frl. Hirschmann mit größter Gefahr für ihre eigene Person uns, bis zur Ankunft der russischen Armee und stand uns auch nachher hilfreich zur Seite. Stephanie Hirschmann war eine im linken Lager sozialisierte Frau, und Jean Trimel konnte sich alsbald davon überzeugen, dass sich diese Frau kein Blatt vor den Mund nahm und auch sonst großen Mut an den Tag legte. Umso mehr war ich erstaunt, als ich erfuhr, dass Frl. Hirschmann Mitglied der NSDAP war, und ich bin überzeugt, dass sie dazu nur durch den Umstand gezwungen war, um ihre Anstellung beim Theater nicht zu verlieren.36 Und so war es auch, wobei man ihr schon zuvor geraten hatte, sich mit der NSDAP gut zu stellen, weil mir seitens meines Innungsvorstandes Begünstigungen bei der Ablegung der von mir zu dieser Zeit in Aussicht genommenen Meisterprüfung als Damenschneiderin durch die erworbene Mitgliedschaft der Partei zugesagt worden sind. Auch bei meiner kurz nachher erfolgten Einstellung bei der hiesigen Gaubühne als Schneiderin machte der damalige Intendant Kroll meine Anstellung von der Mitgliedschaft zur Partei abhängig.37 Dem Schicksal der Fremd- und Zwangsarbeiter verpflichtet fühlten sich auch der Croupier Karl Holly und seine Ehefrau Julia Holly. Er war Parteianwärter und NSKK-Mitglied – eine kurze „Gastrolle“ hat der Mann bereits in Kapitel 9 eingenommen, wo er zu jenen gehörte, die ihr Heil beim NSKK suchten, um nicht ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Er wurde daraufhin tatsächlich nicht gekündigt, jedoch 1940 zur Wehrmacht eingezogen, wo er als Dolmetscher im Leutnantsrang Verwendung finden sollte. Doch dann, laut eigener Aussage, wurde mir mitgeteilt, dass ich als Leutnant wegen politischer Unzuverlässigkeit gestrichen worden bin, und ich wurde als Obergefreiter dem Heer überstellt, wo ich bis zur Kapitulation verbleiben musste. Mit ihrem Misstrauen bewies die Wehrmacht ihren guten Riecher, denn Karl Holly schmuggelte einmal einen Brief von Frankreich nach Deutschland – den Brief eines Vaters an seinen in Berlin in einem Kriegsgefangenenlager internierten Sohn. Ferner besorgte Holly dem französischen Offizier, Raymond Faugeras einen Zivilanzug bzw. ließ seinen abändern, damit dieser flüchten konnte. Doch die Flucht misslang. Der genannte Franzose konnte sein Vorhaben nicht ausführen, verblieb in Baden, wo er später Vertrauensmann der franz. Kriegsgefangenen Kdo-GW-KW in Baden Franzensring 5 wurde. Am letzten Kampftag in Baden fiel er einem Bombenangriff zum Opfer. Geglückt war die Flucht hingegen bei dem Italiener Franzesco Borea, den Karl Holly ebenfalls mit Zivilgewand ausgestattet hatte. Erwähnen möchte ich noch, dass Borea nach seiner Entlassung von der Gestapo in halbtotem Zustand bei mir aufgenommen und gesund gepflegt wurde, was mit großen Gefahren für mich und meine Frau verbunden war. Die gleiche fürsorgliche Behandlung erfuhr der Kriegsgefangene Pierre Micouleau. Er wurde damals vom hiesigen Arzt Dr. Wagenbichler auf 36
Ihrem Antrag wurde stattgegeben. GB 054/Registrierungslisten: Hirschmann Stefanie (geb. 1909) – Aussage Jean Trimel (29.06.1945). 37 Ebd. – Aussage Hirschmann (28.06.1945).
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meine Kosten behandelt, was von diesem Arzt bestätigt werden kann. Des Weiteren stellte das Ehepaar Holly ihre Wohnung den Fremd- und Zwangsarbeitern als „Abhörstation“ verbotener Sender zur Verfügung. Bestätigt wurde das durch mehrere Zeugen und durch einen Brief des geflüchteten Franzesco Borea. Darin – er wendet sich direkt an Julia Holly, die den Brief dann übersetzen ließ – beschreibt er das Chaos in seiner Heimat, er berichtet von zerstörten Städten, verschreckten Zivilisten, dass er nicht wisse, wie es weitergehen würde, aber die Hoffnung nicht verloren habe. Er endete mit: Ich habe dir in Eile den Brief geschrieben, da mein Begleiter nach Wien zurückkehrt, der dir den Brief zukommen lassen soll. Mit den Gedanken an dich, danke ich für alle Fälligkeiten und sende die die herzlichsten Grüße.38 Karl Holly hatte auch Glück. Er wurde nie erwischt – andere schon. Für NS-Unmut sorgte die Baronin und Schlossbesitzerin Nadine Drasche-Wartinberg aus Ebreichsdorf.39 Nicht nur, dass sie für die französischen Kriegsgefangenen, die auf ihrem Gut arbeiteten, größere Essensrationen durchsetzte, sie mit Kleidung versorgte, ihnen Zigaretten zukommen ließ, sie in ihrem Kriegsgefangenenlager aufsuchte, sich nach ihrem Wohl erkundigte, sie tat das auch alles in deren Muttersprache und in Anwesenheit von deutschen Wehrmachtssoldaten. Das war ein Schlag ins Gesicht für all die anwesenden Deutschen und natürlich auch überaus verdächtig. Spionage wollte man der Frau dann aber doch nicht unterstellen, schließlich waren zwei ihrer Söhne bei der Wehrmacht, aber dieses Verhalten der Baronin gegenüber den Kriegsgefangenen fällt der hiesigen Bevölkerung unangenehm auf, nachdem sie sich angeblich der bodenständigen Arbeiterschaft nie so teilnehmend gezeigt hatte.40 Hier haben wir übrigens diese beliebte Floskel, wonach es hauptsächlich die anderen stören würde und deswegen die NS-Behörden einschreiten müssten. Andererseits, was konnte man von Nadine Drasche-Wartinberg anderes erwarten? Sie war die Tochter einer Polin und eines Franzosen. Beim Zusammenbruch der Monarchie 1918 hatte sie die Trikolore geschwenkt. Sie war ferner die Gründerin und Schutzherrin des katholischen Kindergartens in Ebreichsdorf gewesen, den sie großzügig gefördert hatte. Dagegen versagte sie nach dem Anschluss dem neugegründeten NSV-Kindergarten jedwede Unterstützung und entfernte sogar alle Möbelstücke und Einrichtungsgegenstände, sodass der NSV-Kindergarten völlig neu eingerichtet werden musste. Sie schimpft bei jeder Gelegenheit über die Maßnahmen und Einrichtungen des nationalsozialistischen Staates.41 Aus diesem Grund geriet die Baronin auch in NS-behördliche Bedrängnis. Im Jänner 1941 wurde sie aufgrund des Heimtückegesetzes verhaftet, weil sie den Deutschen Gruß mit gemeinen, von niedriger Gesinnung zeugenden Worten erwidert hatte. Bis Mai 1941 war sie im Landesgericht Wien eingesperrt, danach wurde sie an die Gestapo überstellt.42 38 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Holly Karl (geb. 1908). 39 Nadine Drasche-Wartinberg (geb. 1878). 40 StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 II; Gendarmerieposten Ebreichsdorf – Bürgermeisteramt an Landrat (29.08.1940). 41 Ebd. – Bürgermeisteramt an Landrat (11.09.1939). 42 www.doew.at – Opferdatenbank (10.04.2023).
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Zwangs- und Fremdarbeitern zu helfen, ihnen Sachen zuzustecken oder gar zur Flucht zu verhelfen, waren keine Bagatellvergehen und konnten, der Willkür geschuldet, zu allerlei nicht immer nachvollziehbaren Strafausmaßen führen. In der Badener Zeitung lesen wir zum Beispiel, dass bereits das gemeinsame Tischtennisspiel mit Kriegsgefangenen mit bis zu zwei Monaten Gefängnis sanktioniert werden konnte.43 Und bei Fluchthilfe, da winkte durchaus der Gang zum Schafott. Um es gar nicht einmal so weit kommen zu lassen, wurden Volksgenossen, die sich um Fremd- und Zwangsarbeiter bewarben, auf Herz und Nieren überprüft. Politische Einstellung, moralische Lebensweise, Geberfreudigkeit, rassische Eignung, all das wurde penibel abgefragt – die „guten alten“ Beurteilungsbögen blieben weiterhin in Verwendung. * Stephanie Hirschmann, Karl Holly oder Nadine Drasche-Wartinberg waren nicht die Einzigen, wenn auch wenigen, die sich dermaßen exponierten und unter Gefährdung ihrer Existenz Fremd- und Zwangsarbeitern ihre Unterstützung zukommen ließen. Es gab aber genug andere, die weitaus weniger taten und trotzdem die Wut des NS-Staates auf sich zogen. Im Jänner 1942 musste die Badener Zeitung in Erinnerung rufen, dass es weiterhin verboten war, französische Kriegsgefangene in Gaststätten zu bewirten, ihnen Einlass ins Kino zu gewähren oder den Besuch eines Frisörs zu gestatten.44 Oder im Mai 1943 sah sich die BZ verpflichtet, darauf hinzuweisen, kein deutsches Geld, in Form von Trinkgeldern, an Kriegsgefangene auszuhändigen.45 Dass sich ein Teil der Badener – also in den Augen der NS-Machthaber viel zu viele – „normal“ gegenüber den Fremd- und Zwangsarbeitern benahmen, davon wusste auch Polizeichef Alfred Gutschke Anfang 1942 zu berichten. Als Gerüchte laut wurden, wonach in einem russischen Kriegsgefangenenlager in der Ostmark die Häftlinge Leichen verzehren müssten, weil sie nicht ausreichend Nahrung bekommen würden, löste dies eine Welle des Mitgefühls aus. Für Gutschke etwas Widernatürliches, aber wirklich überrascht war er vermutlich nicht, denn: Der Ostmärker ist allgemein sehr mitleidig. Da in Baden viele „brave“ und „fesche“ französische Kriegsgefangene in den Familien ihre Arbeitgeber (Weinhauer usw.) bekannt geworden sind, ist etwas Neigung vorhanden, auch den russischen Kriegsgefangenen Mitleid zuzuwenden.46 Dabei hätten diese eigentlich kein Mitleid verdient, nicht nur wegen ihrer rassischen Disposition oder der Gräuel, die sie an dem deutschen Volk Jahrhunderte lang angetan hätten, sondern auch aufgrund des tagesaktuellen Kriegsgeschehens. Denn der Fremde – die NS-Propaganda hatte es schließlich schon 43 44 45 46
Vgl. BZ Nr. 78 v. 30.09.1942, S. 4. Vgl. BZ Nr. 8 v. 28.01.1942, S. 2. Vgl. BZ Nr. 39 v. 19.05.1943, S. 2. StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1942 – Gutschke an Reichstatthalterei (26.01.1942).
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immer gesagt – zeigte besonders Ende 1942/Anfang 1943 seine wahre verräterische und undankbare Fratze. Im November 1942 konnte man noch ganz zufrieden sein. Unter den Kriegsgefangenen herrscht Ruhe und Ordnung; Entweichungen kommen nur vereinzelt vor. […] Polen noch immer unruhige Elemente. Gehäufte Disziplinlosigkeit und Vertragsbrüche, daneben allerdings teilweise recht gute Erfahrungen. Unterschiedliche Haltung bei Protektoratsangehörigen; teils fleißig, teils disziplinierte Arbeitskräfte. Griechen wenig beliebt. Erfahrung mit Ostarbeitern weiter zufriedenstellend. Mangel an geeignetem Personal. Über Zivilfranzosen bisher keine Klage. […] sowjetische und serbische Kriegsgefangene arbeiten zufriedenstellend, französische unter dem Eindruck der augenblicklichen Verhältnisse in Frankreich zur Zeit besser.47 Doch dann kam Stalingrad, und zwei Monate später lesen wir bereits: Durch die letzten Kriegsereignisse an der Ostfront konnte die Wahrnehmung gemacht werden, dass die Einsatzbzw. Arbeitsfreudigkeit sowohl von den Kriegsgefangenen, als auch von den vielen eingesetzten ausländischen Arbeitern nachgelassen hat, wobei die Protektoratsangehörigen besonders Freude zeigen.48 Und so ging es weiter. Im Mai 1943, als der afrikanische Kriegsschauplatz von der deutschen Wehrmacht geräumt werden musste, war bei den Fremd- und Zwangsarbeitern eine lebhafte Bewegung und sichtliche Freude wahrzunehmen, wenn auf den Kriegsschauplätzen zu unserem Nachteil ein kleiner Rückschlag eingetreten ist. Und was noch dazu kam: Recht unliebsam wirkt sich auch aus, dass viele Kriegsgefangene, insbesondere Franzosen die Schwerarbeiterkarte beziehen, außerdem von ihrer Heimat Lebensmittelpakete bekommen und daher besser leben als der deutsche Arbeiter, der schon lange auf derlei Sachen verzichten musste.49 Hier haben wir gleich einen weiteren Grund, den Fremden noch mehr zu hassen. Und trotz solch unverschämter Hinterhältigkeit gäbe es weiterhin Volksgenossen, die viel zu vertraut mit den Fremd- und Zwangsarbeitern umgehen und sich damit, laut Himmler, zutiefst unanständig verhalten würden. Aber zum Glück für den Reichsführer-SS gab es genug anständige Volksgenossen. So jemand war Elfriede Haslinger. Sie machte Parteigenosse Alois Schwabl sen. darauf aufmerksam, in etwas zynischem Tone, ob ich nicht bemerke, dass in der Wohnung der Frau Marie Schneider […] ständig der ausländische Arbeiter verkehre. Ich gab Frau Haslinger zur Antwort, dass ich viel zu tun haben würde, wenn ich mich um solche Angelegenheiten kümmern müsste. Am nächsten Tag dasselbe Spiel, doch Alois Schwabl sen. verhielt sich erneut wie einer dieser Unanständigen und erwiderte, sie solle mich in Ruhe lassen, da ich mich mit dieser Angelegenheit nicht zu befassen gedenke […].50 So sah sich Elfriede Haslinger gezwungen, das Heft selbst in die Hand zu nehmen bzw. ihren Ehemann, Konrad Haslinger, einzuspannen, der wiederum die Polizei aufsuchte. Diese nahm dann eine Hausdurchsuchung bei Marie Schneider vor und verhaftete den französischen Arbeiter George Lavalle. Der 47 48 49 50
NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Dezember 1942. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Jänner 1943. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Mai 1943. StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Alois sen. – Aussage (26.03.1946).
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Mann wurde zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt.51 Mehr als nur andere aufzufordern, gegen Fremde vorzugehen, tat der Hilfsarbeiter Josef Mücke. Er war kein Parteimitglied, er war schwer kriegsbeschädigt und aufgrund dessen nach einiger Zeit nicht mehr in der Lage, seine reguläre Arbeit in den Semperit-Werken in Traiskirchen nachzugehen. Doch er fand als Werkschutzmann eine neue Verwendung. Als solcher war es seine Aufgabe, in den verschiedenen Werken in Traiskirchen, Kottingbrunn und Tribuswinkel für Ordnung zu sorgen. Dabei bestritt er nicht, zwei russische Arbeiter und eine russische Arbeiterin geohrfeigt zu haben, nachdem er die Männer des Diebstahls überführt hatte und die Frau, weil sie sich ins Lager der Italiener schleichen wollte, er sie erwischte, sie ihm den Fuß stellte, er daraufhin stürzte und aufs Gesicht fiel. Aber im Endeffekt, so rechtfertigte er sich: Hätte ich in diesen beiden Fällen Anzeige an die Gestapo erstattet, wie es meine Pflicht gewesen wäre, dann wären die beiden Täter zum Tode, zumindest aber zu jahrelangen Zuchthausstrafen verurteilt worden. Ich habe, um den Arbeitern dieses Schicksal zu ersparen, selbst den Richter gemacht. 52 Und er sagte aus, dass sein Vorgesetzter ihm vorgeworfen hatte, seinen Dienst nicht scharf genug versehen zu haben, und er wäre auch immer wieder aufgefordert worden, die Arbeiter bei Unregelmäßigkeiten nicht zu schonen, sondern sofort zuzuschlagen.53 Der an sich plausiblen, weil den Zeitumständen entsprechenden Erklärung widersprachen jedoch seine Arbeitskollegen, wie etwa Alfred Blaszyk. Laut ihm hatte Josef Mücke die Gefangenen in den Semperit-Werken misshandelt und die ausländischen Arbeiter, hauptsächlich Russen, Polen und die russischen Zivilarbeiter auf das brutalste geschlagen und getreten […]. Die Vorgänge spielten sich in der Arrestzelle der Semperit-Gummi-Werke ab.54 Auch Werkschutzmann Richard Uhrl gab an bzw. versicherte, dass fast keine Woche verging, in der Mücke nicht fremdländische Arbeiter – vor allem Russen und Polen – geschlagen und misshandelt hatte. Oft ging er mit dem Gummiknüppel gegen sie vor und trat sie mit den Füßen. Und Richard Uhrl sprach auch etwas ganz Wesentliches an. Ich kann nicht bestreiten, dass Mücke Auftrag hatte, bei Fremdländern vorgefundene Lebensmittel abzunehmen, ob er aber auch Auftrag hatte, die Arbeiter zu schlagen, kann ich nicht sagen. Mir ist jedenfalls ein derartiger Auftrag niemals gegeben worden, ich kann auch nicht behaupten, dass er anderen Werkschutzmännern erteilt wurde.55 Demnach bestand – das ist ein ganz entscheidender Punkt – keine Verpflichtung, sich sadistisch gegenüber Fremd- und Zwangsarbeitern zu benehmen. Es war aber auch nicht verboten. Man hatte die Wahl. Hierbei war der NS-Staat äußerst liberal. Wenn man so will, ich formuliere es hier sehr flapsig, man konnte als Wache oder Werkschutzmann die Fremd- und Zwangsarbeiter aus ihren Lagern treiben, sie meinetwegen beschimpfen, aber dann herumstehen, sich, falls vorhanden, eine Zigarette anzünden und dabei in die Luft 51 52 53 54 55
Marie Schneider (geb. 1918), Elfriede Haslinger (geb. 1913), Konrad Haslinger (geb. 1914). StA B, GB 052/Personalakten; Mücke Josef (geb. 1892) – Vernehmung Mücke (05.02.1946). Ebd. – Vernehmung Mücke (05.02.1946). Ebd. – Blaszyk (1898–1965) Zeugenaussage (04.02.1946). Ebd. – Zeugenaussage Richard Uhrl (11.02.1946).
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schauen. Oder man konnte sie bereits bei der morgendlichen Aufstellung mit dem Ochsenziemer bearbeiten. Für Letzteres entschied sich in Baden der SS-Scharführer Eduard Schilk, ein Illegaler, welcher infolge seiner besonderen Verdienste für die NSDAP als gelernter Tischler bei der Stadtgemeinde Baden nach dem März 1938 als Verwalter angestellt und laut der blgd. Abschrift als Folterknecht bezeichnet wurde, hat die ukrainischen Ostarbeiter und ungar. Juden (es waren damals ca. 120 Köpfe bei der Stadtgemeinde zugeteilt) alle Tage bei den täglichen Arbeitseinteilungen im Wirtschaftshofe in Baden, Rohrgasse 3, durch Schlagen, Treten mit seinen Stiefeln misshandelt.56 Schilks Arbeitspensum war dermaßen enorm, dass Bürgermeister Schmid sogar ein Ansuchen stellte, ihn von seiner Parteiarbeit zu beurlauben – was auch geschah, und das für Jahre.57 Während Eduard Schilk sich den Spitznamen „Folterknecht von Baden“ erarbeitete, war jener von Rudolf Skoda, dem Vorstand des Badener Gaswerks, der „Henker von Baden“, weil er die Fremd- und Zwangsarbeiter nur allzu gerne mit dem Tod bedrohte.58 Rudolf Kulmann, der gegenüber dem Wirtschaftshof wohnte, war daher Augenzeuge, wie Eduard Schilk des Öfteren die Kgf. und Zivilisten misshandelt hat, so durch Schläge gegen den Kopf, dass ihnen die Kopfbedeckung heruntergefallen ist. Auch Tritte gegen die Schienbeine etc. waren an der Tagesordnung. […] U.a. hat Schilk einmal zwei Russen derart geschlagen, sodass sie zu Boden gestürzt sind, weil sie bei einer großen Hitze nur Wassertrinken gegangen sind. […] Die wehrlosen Gefangenen haben schon immer gezittert, wenn diese Unmenschen gekommen sind.59 Für Alois Klinger stand Hans Löw, der als Stadtkämmerer ebenso für die Fremd- und Zwangsarbeiter zuständig war, unmittelbar über dem ganzen Terror. Er wusste Bescheid und ließ es zu, dass sich Eduard Schilk und die anderen Mitschuldigen beinahe hemmungslos ausgetobt haben, um Steigerung bei den Arbeitsleistungen erzielen zu können. 60 Und über Löw stand Bürgermeister Schmid, der auch die Verantwortung trug, weil er von den Quälereien und Misshandlungen, sowie Verletzungen der Menschlichkeit und Menschenwürde, welche an den Kgf., Zivil- und jüdischen Arbeitern etc. bei der Stadtgemeinde Baden begangen wurden, hinreichend in Kenntnis war, bezw. hierzu durch seine Kritik über die zu geringe Arbeitsleistung etc. beigetragen habe.61 Zugleich sagte aber seine Großnichte Josefine Dawson aus, dass ihr Großonkel mäßigend eingegriffen hätte. Als Beschwerden aufkamen, dass Juden aus dem Elsass, welche auf den Badener Weinbergen Zwangsarbeit verrichten mussten, 56 StA B, GB 052/Personalakten: Löw Hans – Baden Kriminalabteilung an das Landesgericht (04.07.1946). 57 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schilk Eduard (1912–1978). 58 Rudolf Skoda (1897–1964). 59 StA B, GB 052/Personalakten: Schilk Eduard – Rudolf Kulmann (geb. 1892) Aussage (04.07.1946). 60 StA B, GB 052/Personalakten: Löw Hans – Baden Kriminalabteilung an das Landesgericht (04.07.1946). 61 StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. III; Ermittlungen nach 1945 – Amtsbericht (10.06.1946).
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zu viel Nahrung bekämen, soll Schmid erwidert haben: „Ihr wollts, dass die euch was zum Essen produzieren. Da müssts ihnen auch genug zum Essen geben, sonst habens keine Kraft zum Arbeiten.“ Und dabei blieb es auch.62 Nicht immer muss pathologischer Sadismus gepaart mit ideologischer Überzeugung der Gewalt Pate gestanden haben. Hans Doleschal, Dachdeckermeister und Geschäftsführer sowie Gesellschafter der Firma „H. L. Schwab’s Witwe“, beschäftigte in seinem Dachdeckerunternehmen und seiner Baumaterialienhandlung in Baden zahlreiche Fremd- und Zwangsarbeiter. Er war kein Parteimitglied, aber alibihalber beim NSKK, wo sich sein Einsatz für diese Gliederung auf eine Handvoll Motorradausfahrten beschränkte. Sein Betrieb wurde als kriegswichtig eingestuft, und er leitete sein Unternehmen den damaligen NS-Gesetzen entsprechend. Von seinen Mitarbeitern wurde er als Arbeitstier bezeichnet, das auch viel von seinen eigenen Arbeitern abverlangte. Er sei ein strenger Vorgesetzter, der manchmal nervös, jähzornig und impulsiv gewesen sei, weshalb es zu unliebsamen Auftritten gekommen sei. Manchmal hätte er die tschechischen Arbeiter scharf angepackt, aber sich grundsätzlich stets korrekt verhalten, und vor allem gesetzeskonform – so zumindest die Meinung der meisten Mitarbeiter. Für Politik soll er sich nicht interessiert haben, einzig für seinen Betrieb. Wenn daher die tschechischen Arbeiter nach ihrem Urlaub nicht zurückkehrten oder ohne Erlaubnis ihren Arbeitsplatz verließen, erstattete er nach drei bis vier Tagen Anzeige bei der Gestapo – was er auch nach 1945 nicht in Abrede stellte. Als der tschechische Dachdecker Anton Susak sich unerlaubt von seinem Arbeitsplatz entfernte, setzte sich Hans Doleschal zuerst mit ihm brieflich in Verbindung und teilte ihm mit, wie sie ja selbst wissen, sind Sie am 3. Sept. ds. J. auf eigenes Risiko und ohne unser Wissen, sowie ohne jede Bewilligung nachhause gefahren. Inzwischen waren wir gezwungen, gegen Sie die Anzeige wegen Arbeitsvertragsbruch stellen sowie die Geheime Staatspolizei von Ihrer sträflichen Vorgangsweise zu benachrichtigen. Wenn wir heute neuerlich, trotz wiederholter Ermahnung an Sie herantreten und Sie zur sofortigen Wiederaufnahme Ihrer kriegswichtigen Arbeit auf der Baustelle in der Heeresmunitionsanstalt Groß-Mittel auffordern, so geschieht dies aus unserem guten Willen heraus. Wir machen Sie besonders darauf aufmerksam, denn das Leid, das über Sie hereinbrechen wird, falls Sie Ihre Vorgehensweise nicht ändern, haben Sie sich selbst zuzuschreiben und vollauf verdient.63 Laut dem Lehrmädchen, Marie T., wurde Anton Susak zu sechs Wochen Lagerhaft verurteilt. Danach wurde er wieder im Betrieb aufgenommen.64 Anders ausgedrückt, in Hans Doleschals Betrieb herrschte Strenge, aber keine Willkür vor, d.h. von bewusster Denunziation konnte in dem Fall keine Rede sein – so sahen es zumindest die Behörden nach 1945. Es konnte lediglich festgestellt werden, dass in Fällen von Arbeitsvertragsbrüchen seitens seines Betriebes Meldung an die zuständigen Gestapostellen er-
62 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 38. 63 StA B, GB 052/Personalakten: Doleschal Hans (geb. 1909) – Doleschal an Anton Susak (geb. 1902) (24.09.1943). 64 Vgl. ebd. – Marie T. (geb. 1926) Aussage (03.05.1946).
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stattet wurde, wie dies für kriegswichtige Unternehmungen vorgeschrieben war.65 Nimmt man Hans Doleschal her, so hat er wohl einer Mehrheit von Arbeitgebern angehört, die ihre Fremd- und Zwangsarbeiter weder drangsaliert haben noch ihnen freundschaftlich verbunden waren, sondern sie lediglich der Zeit entsprechend behandelten. Er nutzte ihre Arbeitskraft, forderte Leistung ein, konnte mal streng, mal nachsichtig sein und benahm sich weitgehend dem NS-Gesetz entsprechend. Die rassisch-völkisch pseudowissenschaftliche Hierarchisierung hatte Auswirkung sowohl auf die arischen Herren, aber auch auf die fremdvölkischen Knechte. Dieses rassistische Herrenmenschendenken war eine Ausgeburt menschenverachtender Phantasien, welche beim Gegenüber wenig bis gar keinen Anklang fand. Aber innerhalb der Gemeinschaft der Geknechteten gab es dadurch ebenso hierarchische Abstufungen – ein Mikrokosmos der Entrechteten, der nicht unbedingt durch eine Klammer der Solidarität zusammengehalten wurde. Im Oktober 1943 kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen russischen Legionären und in Leobersdorf arbeitenden und wohnhaften Tschechen. Die Folgen, ein Fremdarbeiter wurde dabei getötet und sechs weitere schwer verletzt. Hierbei haben die Tschechen ihre Deutschfeindlichkeit von neuem unter Beweis gestellt und gezeigt, dass ihre Beaufsichtigung wegen Unzuverlässigkeit unbedingt notwendig ist.66 Nur einen Monat später, im November 1943 kam es in Hirtenberg erneut zu Spannungen zwischen den beiden Gruppen, bei denen ein Tscheche von acht Russen schwer misshandelt wurde. Alle acht russischen Angreifer wurden anschließend der Gestapo übergeben.67 Leopold Wiesinger, angestellt bei den Enzesfelder Metallwerken als Sachbearbeiter, war oftmals mit Diebstählen konfrontiert gewesen, die die Fremd- und Zwangsarbeiter untereinander verübten. Und weil man ihm vorgeworfen hatte, jene Menschen misshandelt zu haben, konterte er damit: Es mag schon vorgekommen sein, dass man aus meinem Dienstraum Schreie und Wehklagen gehört hat, aber nicht weil vielleicht ich jemand geschlagen habe, sondern vielmehr, weil die vorgeführten Arbeiter sich oftmals gegenseitig misshandelt und geschlagen haben.68 So wie der NS-Staat klare Hierarchien hatte, so waren diese auch unter den Fremd- und Zwangsarbeitern zu finden bzw. sie waren omnipräsent. Egal ob im Arbeitslager, Gefangenenlager oder KZ-Lager. Überall gab es die da oben und die da unten. Zusammenfassend wäre es wichtig im Kopf zu behalten, dass der theoretische Katalog, wie mit den Fremden zu verfahren, nicht immer ganz eindeutig, weil eben wandelbar war. Eine Konstante bildete jedoch: die stets eingeforderte Distanz zu den Fremden. Und eine Personengruppe war hier besonders in die Pflicht genommen: Wieder einmal die Frauen.
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Ebd. – Aktenvermerk BH-Baden (16.08.1946). NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Oktober 1943. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, November 1943. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Wiesinger Leopold (geb. 1893) – Aussage (08.12.1945).
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Eva „Unsere Frauen für unsere Leute“, hätte ein wunderbarer Slogan sein können. Dem Deutschen das Deutsche, dem Fremden das Fremde. Eine Vermischung war nicht vorgesehen. Ein Informationsblatt der Gauleitung brachte als Metapher ein Getreidefeld, wo alle Halme exakt die gleiche Größe hatten – die ideale Situation. Wären die Halme alle unterschiedlich hoch, so die NS-Conclusio, wäre die Ernte Mist. Mit dieser Gleichsetzung von Menschen und Halmen wandte sich die Gauleitung vor allem an Frauen. Es galt im Umgang mit den Fremden die weibliche Ehre hoch zu halten und als arische Frau nicht der Versuchung bzw. dem Verbrechen einer rassischen Vermischung zu erliegen. Dem Fremden, der als Freund zu uns kommt, bringen wir das Wohlwollen entgegen, das er verdient. Er wird dieses Wohlwollen umso höher zu schätzen wissen, wenn er dabei fühlt, dass wir unsere Ehre und unsere Art ihm gegenüber wahren! Das gilt besonders für Dich, deutsches Mädchen! Deine Zurückhaltung gegenüber dem Fremdblütigen ist keine Beleidigung, im Gegenteil: Jeder anständige Ausländer, ob er nun als Besucher, Industrie- und Landarbeiter oder Student bei uns weilt, wird Dich deswegen besonders achten. Denn auch der Fremde weiß, dass der Schutz des eigenen Blutes keine Verachtung der anderen Völker bedeutet.69 Das NS-Regime hatte berechtigte Sorgen. Denn einerseits schwemmte es das Reich mit dem Fremden, und gleichzeitig verfrachtete es das Heimische, also den deutschen Mann, massenhaft in die Fremde – wo er massenhaft auf den Feldern der Ehre zurückblieb, während an der Heimatfront wiederum die deutsche Frau zurückblieb. Und wir haben es ja so oft gelesen, die Frau, sie ist halt emotional, ihren weibischen Emotionen schutzlos ausgeliefert, mitleidig, hat keine Ahnung von Politik, lässt sich leicht verführen, das schwache Geschlecht eben. Solch einem Mangelwesen musste ganz eindringlich klargemacht werden, was es auf keinen Fall machen durfte. Mitten in unserem Lebensbereich aber sehen wir den kriegsgefangenen oder dienstverpflichtenden Polen, den Angehörigen jenes Volkes, das sich durch seine grauenhaften Morde an unseren volksdeutschen Brüdern jedes Anrecht auf menschliche Achtung verwirkt hat. […] Zwischen ihm und uns klafft für alle Zeiten ein unüberbrückbarer Abgrund. Jegliche Gemeinschaft oder gar geschlechtliche Vermischung mit ihm wäre Hochverrat. Verflucht und ehrlos, wer ihn beginge!70 Wobei, es war nicht so sehr der Pole, der der deutschen Artreinheit gefährlich wurde – es war vielmehr der Franzose. Stadtpolizeichef Gutschke hatte schließlich Anfang 1942 von der ostmärkischen Wehleidigkeit gegenüber den Fremden berichtet, und besonders der weiblichen Verzückung für den feschen „Franzmann“. Es gab aber Situationen, da musste man auf Tuchfühlung mit dem Erbfeind treten. Seitdem Marschall Petain das „Westfrankenreich“ auf die „rechte“ Seite gezogen hatte, brauchte es eine Art von Völkerverständigung mit dieser französischen Chimäre. Um dem irgendwie gerecht zu werden, wurde Gertrud Maurers Mutter, Julia Hauer, 1941 als Französischleh69 StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1941 – Informationsblatt der Gauleitung s.d. 70 Ebd.
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rerin angeheuert, um französischen Arbeitern in der Traiskirchner Semperit Deutschunterricht zu erteilen.71 Es ist anzunehmen, dass sie zuvor ordentlich gebrieft wurde, es ja nur bei dem Sprachunterricht zu belassen. Als verheirateter Frau und Mutter zweier Töchter wird ihr dies womöglich leichter gefallen sein als zum Beispiel Margarethe Dietrich. Diese schilderte, wie sie im jugendlichen Alter von 15 Jahren, gemeinsam mit ihren Freundinnen, für französische Kriegsgefangene geschwärmt habe. Liebestrunken hatten sie kleine Briefchen geschrieben, oder im Winter mit ihren Fingern Nachrichten auf beschlagene Fensterscheiben gemalt, und hier und da hatten sie es sogar geschafft, einem ihrer Angeschmachteten Zigaretten zukommen zu lassen. Einer der jungen Franzosen, der es ihnen allen besonders angetan hatte, war in einer ehemaligen jüdischen Villa in der Weilburgstraße (heute Wohnhausanlage Weilburgstraße 10–12) untergebracht. Gearbeitet wurde in einer Fleischbank in der Waltersdorferstraße. Für die Zigaretten revanchierten sich die Franzosen mit dem eben von dort herausgeschmuggelten Fleisch. Eigentlich eine bizarre Situation, Zwangsarbeiter ließen Volksgenossen Fleisch zukommen. Über die Gefährlichkeit solcher Unterfangen waren sich die jungen Frauen durchaus bewusst. Dass darauf die Todesstrafe folgen konnte, war bekannt. Doch die Emotion, das betörte Herz, siegte über die Ratio, zumal der deutsche Soldat, der für die Bewachung der angehimmelten Franzosen abgestellt war, auf sie einen halbdebilen Eindruck machte.72 Dass aus Schwärmerei mehr werden konnte, erfahren wir von Therese Rampl nach 1945. Großdeutsch sozialisiert, dem Deutschen Turnerbund angehörig und seit 1938 NSDAPMitglied, konnte sie dennoch nicht verhindern, dass sie und der französische Kriegsgefangene Lucien Favout sich näher kamen. Niemand durfte davon erfahren, und 1943 folgte eine geheime Verlobung. Brenzlig wurde es 1944, als sie wegen Schwarzschlachtung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde – eigentlich war es ihr Verlobter gewesen, doch sie nahm die Schuld auf sich, um ihm wesentlich Schlimmeres zu ersparen. Dabei packte die Gestapo die Gelegenheit beim Schopf, um näher auf ihren Umgang mit ihm einzugehen. Denn obwohl alles im Geheimen vonstattengegangen war – Baden war ein Dorf, und die Gerüchteküche brodelte. Sie schilderte nach 1945, dass sie hochnotpeinlichen Verhören unterzogen wurde. Wenngleich nun ein Beweis für meinen unzulässigen „Umgang“ mit meinem damaligen Bräutigam nicht erbracht werden konnte, wurde die Sache kurzerhand dadurch erledigt, dass ich aus der NSDAP im Februar 1944 ausgeschlossen wurde.73 So bitter das auch war – und natürlich nicht ungefährlich –, sie hatte dennoch mehr Glück als Hermine Fischer. Ihre Affäre vom Sommer 1943 mit dem französischen Kriegsgefangenen Raymond Potier brachte sie und ihn sowie Anna Holubar – die ihre Treffen ermöglichte, indem sie ihnen eine Gartenhütte zur Verfügung stellte –, hinter Gitter.74 Er71 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 96. 72 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1942, S. 48. 73 Ihrem Antrag wurde nicht sattgegeben. StA B, GB 054/1945 Registrierungslisten: Rampl Therese (1906–1969) 74 Hermine Fischer (geb. 1910), Raymond Potier (geb. 1912), Anna Holubar (geb. 1892).
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schwerend kam hinzu, dass Raymond Potier als Arbeiter der Molkerei Baden von dort Butter entwendet hatte, um sich damit die Gunst, Mithilfe und Verschwiegenheit von Anna Holubar zu erkaufen bzw. grundsätzlich einen regen Tauschhandel mit ihr zu betreiben. Dafür fasste sie zweieinhalb Jahre Zuchthaus aus und er vier Monate Gefängnis. Hermine Fischer konnte im Februar 1944 noch Hoffnung schöpfen, unbeschadet aus der Sache herauszukommen, denn die beiden Zeuginnen, Franziska Baumrock und Maria Guttmann, hatten jene Frau, die in der besagten Gartenhütte einkehrte, als dick und blond beschrieben, während diese [Hermine Fischer] nun tatsächlich keineswegs dick und überdies brünett ist. Obwohl die Zeuginnen behaupten, dass die Zeugin Fischer trotzdem die von ihnen beobachtete Frauenperson sei, liegen soweit Bedenken vor, dies als richtig anzusehen dies der Beweis nicht erbracht erscheint.75 Im Mai 1944 waren offenbar alle Bedenken vom Tisch, und Hermine Fischer wurde ebenso zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Und eines, das wir bisher immer wieder angetroffen haben, begegnet uns auch in diesem Fall. Die Denunziantin Maria Guttmann sagte nach 1945 aus: Ich lebe schon seit Jahren mit Frau Holubar in Feindschaft. Ich war nie Mitglied der NSDAP und habe mich sonst nie politisch betätigt.76 Und auch Franziska Baumrock hatte ihre Motivation, so zu handeln, wie sie gehandelt hatte. Frau Holubar hat mich seinerzeit ebenfalls wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen angezeigt und wurde ich im Dezember 1943 von der Gendarmerie Baden und im Jänner 1944 von der Gestapo Wr. Neustadt verhört. […] Ich gebe schließlich noch an, dass mich Frau Holubar im November 1943 bereits angezeigt hat, und zwar wegen Abtreibung der Leibesfrucht, doch wurde die Voruntersuchung gegen mich mangels eines Beweises eingestellt.77 Es gab eigentlich nur Verlierer in diesem Fall. Der größte war Raymond Portier. Er verlor bei einem missglückten Fluchtversuch sein Leben.78 Und für Hermine Fischer war nicht nur die Haftstrafe eine Katastrophe. Sie war eine verheiratete Frau. Sich mit einem Ausländer einzulassen, während ihr Mann derweilen an der Front stand, war aus Sicht des NSStaates eines der verräterischsten und abscheulichsten Verbrechen überhaupt. Ähnliches widerfuhr Marie Schneider – jene Frau, die von Konrad Haslinger denunziert wurde (siehe oben). Während ihr Liebhaber George Lavalle zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, wurde ihre Ehe geschieden, sie landete auf der Straße, sie verlor ihre Anstellung als Beamtin beim Ernährungsamt und erhielt vom Gericht den Verweis, Baden zu verlassen.79 All das war mit einer ungeheuren Scham verbunden. Diese Frauen galten als geächtet. Und bei der Ächtung solcher Frauen gab es genug Luft nach oben. Oft genug fühlte sich in solchen Fällen der Mob dazu auserkoren, das Urteil zu sprechen und gleich darauf zu 75 DÖW, franz. Kriegsgefangener verbotener Umgang mit Frau; 17229, abgerufen auf www.jewishhistorybaden.com/archive (10.04.2023). 76 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Baumrock Franziska (geb. 1901) – Maria Guttmann (geb. 1877) Aussage (30.07.1945). 77 Ebd. – Aussage Baumrock (09.08.1945). 78 Vgl. ebd. – Aussage Hermine Fischer (30.07.1945). 79 Vgl. StA B, GB 052 Personalakten: Schwabl Alois sen. – Marie Schneider (geb. 1918) Aussage (02.11.1946).
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exekutieren. So wurde im März 1944 in Berndorf die Ehefrau eines Parteigenossen, der ein Verhältnis zu einem Franzosen nachgewiesen werden konnte, an einen Laternenpfahl gebunden, ihre Haare wurden ihr geschoren und ihr wurde ein Schild mit folgender Aufschrift umgehängt: Haare sind des Weibes schönste Zierde, und trägt dieselbe sie mit Würde, weiß sie aber nicht des deutschen Volkes Sitten, dann werden ihr die Haare kurz geschnitten, darum deutsche Volkgenossin, lasst das sein, und lasst euch nicht mit Ausländern ein.80 Verstörend endete auch ein intimer Vorfall zwischen einer polnischen Hilfsarbeiterin und einem verheirateten dreifachen Familienvater und Hilfsarbeiter aus Traiskirchen – beide Jahrgang 1913. Nach einer durchzechten Nacht in Wien, in Begleitung weiterer Arbeitskollegen und polnischer Arbeiterinnen, endete es in einem Hotelzimmer. Was dann wirklich geschah, kann keiner sagen. Aber nachdem sie überführt worden waren, und da jeder seine Haut retten wollte – schließlich hatte man sich nach dem „Gesetz zum Schutze der Wehrkraft des deutschen Volkes“ schuldig gemacht –, wurde aus der Liebesnacht eine versuchte Nötigung bzw. Verführung, und das Ganze endete mit einem gescheiterten Selbstmordversuch des Mannes und der Einweisung beider in ein Konzentrationslager.81 Bei all diesen Fällen schwang immer auch die Ehre mit, und hierbei war der Mann doppelt gefordert. Er musste sich zuerst einmal um seine Ehre sorgen und den Verführungen all der Fremdarbeiterinnen widerstehen. Denn wie eine polnische Arbeiterin unverblümt aussagte: Ich habe es gerne, wenn mir die Burschen zu rauchen, zu trinken und zu essen zahlen. Speziell trinken tue ich gerne. Da ich wenig verdiene mit meiner Arbeit, lasse ich mich von Burschen aushalten.82 Und als so ein Bursche konnte man doch schon mal schwach werden oder eine Gegenleistung erwarten. Aber der Mann musste auch um die Ehre seiner Frau besorgt sein, so wie Hauptmann Alexander Krzyzanowski. Empört wandte er sich an die Kreisleitung, weil seine Frau offensichtlich genötigt worden war, in der Zweigniederlassung der „Radiowerke Horny“ in Tribuswinkel vor Polen und Franzosen die Aborte zu reinigen, die noch dazu von diesen benützt werden! Dafür hätte sie zwei Kinder zu nützlichen Gliedern der Volksgemeinschaft großgezogen […]? Doch seine Frau zeigte Widerstandswillen: Meine Gattin hat als ehrbewusste deutsche Soldatenfrau und -mutter diese Verrichtung selbstverständlich verweigert, unbeschadet der Folgen, die diese Weigerung für sie etwa zeitigen könnte. Für ihn war klar, solche Arbeiten 80 Vgl. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Februar 1944. 81 Vgl. StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 II; Gendarmerieposten Traiskirchen, Mappe I – Mathias P. und Anna. P, Polizeidienstabteilung Traiskirchen an Landrat (06.01.1942). 82 Ebd. – Stanislawa S. (geb. 1915) Aussage (05.01.1942).
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eignen sich wohl eher für Ostarbeiterinnen oder Kriegsgefangene. Hier ging es nicht nur um die Ehre der deutschen Frau, sondern aller deutscher Frauen. Ich halte es für empörend, wenn die Frauen unter Zurufen „Arbeit ist keine Schande“ zum Abortputzen getrieben werden […]. Wenn dies etwa einer der Franzosen hören und verstehen würde! Ich bin nicht gewillt, mir im Feld darüber Sorgen machen zu müssen, dass meine Gattin gekränkt und drangsaliert wird und zur Verrichtung herangezogen werden soll, die Schande nicht nur für sie, sondern auch für mich bedeuten.83 Diese Schande ließ sich laut Alexander Krzyzanowski sicher einfach aus der Welt schaffen – genauso wie unerwünscht-rassische Mischschwangerschaften. In den 1943 an die Gemeinden ausgeschickten Ausländerbehandlungsinformationsblättern stand es schwarz auf weiß: Falls vertrauter Umgang zwischen Polen und Deutschen stattgefunden hat, ist bei Frauen sofort festzustellen, ob Schwangerschaft vorliegt (wegen allfälliger Unterbrechung).84 Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen, sei es bei Volksgenossinnen oder Fremd- und Zwangsarbeiterinnen, waren eine legitime Methode der Reproduktionspolitik. Eine russische Zwangsarbeiterin berichtete, wie von Lagerärzten, sei es in Hirtenberg oder im Krankenhaus Baden, bei ihr eine Abtreibung und Sterilisation vorgenommen worden war und laut ihrer Schilderung unter unhygienischen Bedingungen, ohne Schmerzmittel oder Betäubung, mit der Begründung, man wolle „keine weiteren Untermenschen“; die Schwangerschaft war dabei schon so weit fortgeschritten, dass es zu einer schweren Entzündung der Milchdrüsen kam, die nur „durch Hilfe von Mitgefangenen“ nicht zum Tode führte [….].85 In den Badener Krankenhausakten aus dem Jahre 1945 finden wir Zwangsarbeiterinnen, bei denen Abtreibungen – womöglich auch Sterilisationen – vorgenommen wurden. Mit dem Einmarsch der Roten Armee nahmen diese Eingriffe ein vorläufiges Ende. Einige Monate später begann die Zahl wieder zu steigen. Diesmal waren es hauptsächlich Badenerinnen, die aufgrund der Massenvergewaltigungen, begangen durch Soldaten der Roten Armee, vermehrt Schwangerschaftsabbrüche durchführen ließen.86
Die Rückkehr der Juden Die katastrophale Situation im Jahr 1944 betraf weite Teile der „Volksgemeinschaft“ und jene ganz besonders, die nicht dazu gezählt wurden. Im Februar 1944 ließ Landrat Wohlrab die Reichsstatthalterei Niederdonau wissen: Die Sterblichkeit der Ostarbeiterkinder ist im steten Zunehmen und sind z.B. bei den Ostarbeiterfamilien des Betriebes Enzesfeld bereits 23 Kinder gestorben.87 Während also die Kinder der Fremden elendig verreckten, verlangte 83 84 85 86 87
Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Krzyzanowski Alexander (geb. 1896). StA B, GB 052/Allgemein I; Fasz. I Korrespondenz; 1943 – Ausländerbehandlung (20.02.1943). RAFETSEDER, NS-Zwangsarbeits-Schicksale, S. 278. Vgl. StA B/G/Gr/KH/Pat 1945 – insgesamt 14 Kartons. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Februar 1944.
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das NS-Regime zugleich Dankbarkeit von den Fremd- und Zwangsarbeitern – die in der Badener Zeitung fallweise als Gastarbeiter bezeichnet wurden. Denn schließlich war das Deutsche Reich nicht nur zum Verteidiger der Grenzen seines eigenen Lebensraumes geworden, es musste darüber hinaus Europa vor den Horden der bolschewistischen Steppe schützen, es musste später auch gegen die frevlerische Überheblichkeit der Gangster der Vereinigten Staaten die Waffen führen. Und wenn Deutschland schon für die Freiheit Europas focht, war es nur rechtens, von den unter dem Schutz des Reiches stehenden Menschen einen Beitrag einzufordern, weil sie auch durch den Einsatz der deutschen Soldaten vor dem Blutrausch des Bolschewismus geschützt werden und bis zu diesem Augenblick noch kaum eine Handreichung zu dem Lebenskampf unseres Erdteils beigetragen hatten. Wir brauchen darum bei aller Achtung ihrer Leistung die Arbeiter aus dem Osten und Westen Europas, die nunmehr seit vielen Monaten in Deutschland arbeiten, nicht mit besonderer Anteilnahme zu betrachten. […] Ist es nicht mehr als selbstverständlich, dass die Völker der von uns befreiten Ostgebieten, dass die Angehörigen der Westvölker hier mit Hand anlegen, um an ihrer Stelle einen Beitrag zum Schicksalskampf Europas zu leisten, in der es auch im ihre Zukunft geht? Bedarf es etwa darum rührseliger Anteilnahme an ihrem rechtlich und wirtschaftlichen vollgesicherten Dasein hier im Reich, weil sie – wie Millionen deutscher Soldaten – für kurze oder längere Zeit von ihrer Familie und ihren Angehörigen getrennt sind?88 Fragen über Fragen – derweilen schritt die Realität unermüdlich voran. Die Spannungen nahmen deutlich zu, und nicht nur diese. Im Jänner 1944 klagte Wohlrab: Die Arbeitsleistung der ausländischen Arbeiter ist im Allgemeinen im Rückgang begriffen, insbesondere die der Ostarbeiter. Hier sind Diebstähle, frecher werdendes Benehmen und Arbeitsflucht leider öfter zu verzeichnen. Unheilvoll wirkt sich hier ganz bestimmt der Einfluss der tschechischen Arbeiter aus, wobei auch die Tschechen als Schwarzhändler in Erscheinung treten.89 Im April 1944 sah es nicht besser aus. Bei den Ostarbeitern ist in letzter Zeit sehr auffällig zu bemerken, dass sie die Kriegsereignisse aufmerksam verfolgen und frohlocken, da sie sich einbilden, der Krieg wird zu Gunsten Russlands enden – und sie würden Lieder singen, die man nicht verstehe. Von verschiedenen Dienstgebern wird auch gemeldet, dass die Ostarbeiter ein immer frecheres Benehmen zur Schau tragen und vermutet, dass die Ursachen in einer Verhetzung von irgendeiner Seite her liegen. Lagerflucht und Vertragsbrüche sind keine Seltenheit.90 Es war ein Aufbegehren der Geknechteten, gepaart mit Sympathien seitens eines Teils der Bevölkerung – die hetzerischen Artikel, sich von den Fremden fernzuhalten, nahmen schließlich nicht ab. Und 1944 passierte noch etwas, das die NS-Führung nicht für möglich gehalten hätte bzw. wogegen sie stets gearbeitet hatte. In Baden erschienen wieder Juden in einer Zahl, die man nicht für möglich gehalten hatte. Es waren ungarische Juden, die nach der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht im März 1944 zu Hunderttausenden deportiert worden waren. Einerseits um ermordet zu werden, andererseits um 88 Vgl. BZ Nr. 20 v. 11.03.1944, S. 3. 89 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Jänner 1944. 90 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, April 1944.
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als Sklavenarbeiter ihr Dasein zu fristen. Es gab schon zuvor jüdische Zwangsarbeiter in unserer Gegend, doch ihre Anwesenheit war eher sporadischer Natur und passte nie so recht mit dem NS-Vorhaben einer „Judenreinheit“ überein. Im Juli 1938 verlangte die Gauleitung, darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, wo es Unterkünfte im Kreis gäbe, um dort Juden für landwirtschaftliche Umschulungszwecke unterzubringen. Die Kreisbauernführer wurden angehalten, verschiedene Fragen zu beantworten. Wo wäre der Ort? Wie viele Juden könnte man dort unterbringen? Welche Tätigkeit würde dort zum Tragen kommen?91 Allerdings wurden solche Judenlager nicht gerne gesehen, wie in Unterwaltersdorf im Oktober 1938, als geplant war, dort ein Umschulungslager für jüdische Jugendliche zu errichten, wogegen sich der Ortsgruppen- sowie der Kreisleiter heftig sträubten (siehe Kapitel 10). Und als im Mai 1939 das Reichsministerium f. Landwirtschaft eine Arbeitsgruppe von 30 bis 40 Juden nach Kottingbrunn zu verlegen beabsichtigte, zeigte sich Kreisleiter Kernstock wenig begeistert, da Kottingbrunn früher vollkommen marxistisch verseucht war und die Arbeit der Partei ohnehin kolossal schwierig ist. Außerdem bestehen deswegen Bedenken, da in Kottingbrunn ein Flugplatz der Luftwaffe und verschiedene militärische Objekte bestehen.92 Doch mit der Zeit verlor man offenbar die Scheu und unter bestimmten Voraussetzungen sollte dem Einsatz jüdischer Zwangsarbeiter nichts im Wege stehen. Im Februar 1942 genehmigte Kreisleiter Hajda unter strengster Bewachung und einem vollkommenen Kontaktverbot zu Ariern den Einsatz von Wiener Juden in Klausen-Leopoldsdorf bei allfälligen Holzarbeiten. Man setzte hier auf jüdische Zwangsarbeiter anstatt auf Kriegsgefangene, weil, so Landrat Wohlrab, das nötige Bewachungspersonal für die einzelnen Arbeitspartien nicht beigestellt werden kann. Bei Juden hingegen reichte offenbar die Bestellung eines Juden, der das ordnungsgemäße Verhalten der übrigen Juden zu überwachen hat und hierfür verantwortlich ist.93 Womöglich wurde angenommen, dass die Juden bereits dermaßen demoralisiert, verschreckt und verstört waren, dass sie weder an Flucht noch an Widerstand denken würden. Bei Kriegsgefangenen hatte Wohlrab da seine Bedenken. Vor1944 eingesetzte jüdische Zwangsarbeiter waren, wie gesagt, in unserer Gegend noch die Ausnahme. Das änderte sich ab März 1944 schlagartig. Plötzlich stieg die Zahl jüdischer Menschen enorm an. In Baden treffen wir sie als Zwangsarbeiter im Dienste der Stadtgemeinde oder der Badener Bahn. Für die Reinigung der Zugsgarnituren wurden zumeist Frauen und Kinder herangezogen, wobei sie genauso Wartungsarbeiten an Gleisen vornehmen mussten. Des Weiteren finden wir zahlreiche ungarische Juden im gesamten Landkreis wieder. Im Elektrizitätswerk Bad Vöslau, bei der Gutsverwaltung Drasche-Wartinsberg in Ebreichsdorf, in der Esterhazy‘schen Gutsverwaltung Pottendorf, in den Landwirtschaften 91 Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung III; Fasz. II Schädlinge; Mappe I; f. 3. 92 StA B, GB 052/Ortsgruppen Kreis Baden; Kottingbrunn – Kreisleitung an Ministerium f. Landwirtschaft (24.05.1939). 93 StA B, GB 052/Ortsgruppen Kreis Baden; Klausen-Leopoldsdorf – Landrat an Kreisleitung (10.02.1942).
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und Gärtnereien des Stiftes Heiligenkreuz oder bei Hochwasser-Aufräumarbeiten in den Gemeinden Weissenbach und Altenmarkt.94 Dass plötzlich so viele Juden im Landkreis anzutreffen waren, wirkte zwar lindernd auf den Arbeitskräftemangel, und Kreisleiter Gärdtner begrüßte wegen des Fehlens anderer Kräfte diesen Einsatz. Aber, so die Kreisleitung weiter, in einem pedantisch-menschenverachtenden Ton: Der Judeneinsatz begegnet heftigster Kritik. So u.a. wird vorgebracht, dass die Juden samt ihrer Familien kommen und schon am Bahnhof zufolge der vielen Gehunfähigen (besonders alte Judenweiber) mit dem Fahrzeug abgeholt werden mussten, wie überhaupt die Anzahl der Arbeitsfähigen in keinem Verhältnis zu der Anzahl der Arbeitsunfähigen stehe. Anders ausgedrückt, die geschickte Ware war defekt. Und dann haben wir wieder das alte ostmärkische Leid. Der jüdischen Mischpoche gegenüber werde auch ein allzu großes Entgegenkommen gezeigt, indem man Familien nicht zerreißen will, während doch viele deutsche Familien dies schon seit Jahren sind (Einrückung, Dienstverpflichtung).95 Desselben Geistes Kind war Georg Holler, Aufseher über ungarische Juden, sechs Männer und acht Frauen, die für die Straßenreinigung in Baden eingesetzt wurden. Die Juden sind meines Wissens gut verpflegt. Trotzdem betteln die Juden die Volksgenossen auf der Straße an. Es ist dies auf die raffinierteste Art. Auch verstehen sie durch ihre Schlauheit, das Mitleid der Volksgenossen zu erregen.96 Und diese Juden sollen wahrlich voller Raffinesse gewesen sein, denn eines ihrer „Opfer“ wurde Parteigenossin Barbara Kümmel. Sie hinterlegte den Juden ein Kuvert mit Brotmarken und ein paar RM, hatte aber das Pech, von Georg Holler erwischt zu werden. Erschwerend kam hinzu, dass sie sich mit den Juden auf Ungarisch unterhalten hatte. Sie gab bei ihrer Vernehmung an, dass sie und ihr Ehemann, Hauptmann Otto Kümmel – jener Mann, der als Leiter des Aufstellungsstabes in St. Pölten bevorzugt Österreicher untauglich geschrieben hatte und sie in Schreibstuben unterbrachte (siehe Kapitel 28) –, überzeugte Nationalsozialisten seien, Illegale, ihr Ehemann Offizier und seit 1942 eingerückt sei. Sie gab ferner an, dass ihre NS-Welt lange Zeit heil gewesen sei, doch dann sei sie auf diese eine Jüdin getroffen, die sie um Brot angebettelt hätte. Sie sei zwar weitergegangen, doch in ihrer Wohnung hätte sie an diese Frau denken müssen, an das, was sie ihr erzählt hatte, dass sie Mutter von sechs Kindern sei. Und dann passierte es, Barbara Kümmel dachte plötzlich an ihre fünf Kinder und besonders an ihren Sohn Otto jun., der seit 1942 ebenso eingerückt war, zweimal verwundet worden war und nun wieder an der Front stand. Ich bin sehr weichherzig und dachte, ohne etwas Schlechtes dabei zu denken, über der Jüdin Worte nach. Ich nahm ein Kuvert, gab in jedes 2 RM und ein 50 gr.-Brot- und 10 Semmelmarken a 50 gr. Sie legte das Kuvert auf die Straße, ging danach zurück in die Wohnung, um erneut von ihren Emotionen überwältigt zu werden. Diesmal war es nicht das Mitleid, sondern die Angst. Sie packte zwei ihrer Kinder, eilte nach draußen, doch war das Kuvert schon weg. Dafür kam ihr ein Mann mit dem Motorrad entgegen und forderte sie auf, in ihre Wohnung zurückzu94 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/time (10.04.2023). 95 StA B, GB 052/Kreisleitung; Fasz I; Lagebericht Juli 1944. 96 StA B, GB 052/Personalakten: Holler Georg (geb. 1888) – Aussage Holler (30.09.1944).
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kehren und in sich zu gehen, wo sie zu dem Schluss kam: Ich bereue meine Handlung.97 Doch Reue war zu wenig, das Konzentrationslager wartete schon, doch war ihr in diesem Fall das Glück hold. Ich verdanke es nur einer glücklichen Fügung des Schicksals, dass ich damals relativ glimpflich davonkam und nicht in ein Konzentrationslager zu wandern hatte.98 Juden zu helfen war in den Augen des NS-Staates eine der abscheulichsten und volksverräterischsten Taten. Dass Volkgenossen weich wurden, war schon eine Perversion an sich, aber bei Parteigenossen wog es noch schlimmer. Gegen solch fundamentale NS-Dogmen verstieß auch Parteigenossin Rosalia Recknagel im August 1944. Sie wurde dabei ertappt, wie sie einem jüdischen Straßenarbeiter ein Päckchen mit 23 Brotmarken, drei Zigaretten und einer Reichsmark zuwarf. Sie leugnete die Tat bzw. gab an – dabei bediente sie sich eines „weiblichen“ Arguments –, dass sie im „Affekt“ einem Judenbuben eine Zigarette hingeworfen habe, da derselbe ihrem in russischer Kriegsgefangenschaft befindlichen Sohn sehr ähnlich gesehen habe. Bei ihr kam erschwerend hinzu, dass sie als Angestellte der Kartenstelle in Baden durch fingierte Eintragungen und Diebstähle sich mehrere Lebensmittelkarten unerlaubt angeeignet hatte. Für die Partei war die Sachlage klar, Rosa Recknagel hatte die für eine Nationalsozialistin selbstverständliche Haltung gegenüber Juden vermissen lassen und dadurch zu erkennen gegeben, dass sie innerlich mit dem Nationalsozialismus nichts gemein hat. Ihre strafbaren Handlungen und ihre für eine Parteigenossin unwürdige Haltung schließen ihr weiteres Verbleiben in der NSDAP aus.99 Und für die Gerichte war die Sache ebenso klar. Rosa Recknagel wurde zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, die sie im KZ Aichach in Bayern abzubüßen hatte. Eine namentliche Erwähnung in der Badener Zeitung war ebenso vorgesehen.100 Es hätte aber genauso die Todesstrafe sein können. Dass sie Juden etwas zugesteckt hatte, wurde in der BZ nicht erwähnt. Vielleicht war es für die NSDAP zu peinlich. Bei Volksgenossen hatte man da keine Bedenken – aber Parteimitglieder, die Juden halfen! Ein unfassbareres Imagedesaster sondergleichen! Als unfassbar empfand es nämlich Leopoldine Krailler, jene Arbeitskollegin, die Rosa Recknagel dabei gesehen hatte, wie sie Juden Päckchen zuwarf und sie danach denunziert hatte. Dass Rosa Recknagel, so Leopoldine Krailler nach 1945, ausgerechnet dem dämonischsten Feind des deutschen Volkes geholfen hatte und das noch als Parteimitglied, hatte sie fassungslos und wütend gemacht. Ich habe die Anzeige nur erstattet, weil ich wusste, dass Frau Recknagel ebenfalls Parteimitglied sei und weil es mich empörte, dass Frau Recknagel, die bei der Kartenstelle angestellt war, den Juden Lebensmittelkarten (Brotmarken) zuwarf, während wir mit den einfachen Karten schwer das Auslangen finden konnten.101
97 Ebd. – Barbara Kümmel Aussage (30.09.1944). 98 Ihrem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Kümmel Barbara (geb. 1905). 99 StA B, GB 052/Personalakten: Recknagel Rosa (1890–1956) – Kreisgerichts Urteil (18.09.1944). 100 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Fasz. III; Ermittlungen nach 1945 – Amtsbericht (10.06.1946) und BZ Nr. 81 v. 11.10.1944, S. 2. 101 Vgl. StA B, GB 052 Personalakten: Krailler Leopoldine (1889–1955) – Aussage (27.09.1945).
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Aber es mussten nicht einmal zugeworfene Brotmarken, Reichsmark oder Zigaretten sein, ein Wortwechsel reichte, und man bekam es mit den Sicherheitsbehörden zu tun. Julius Tökes wurde im Jahr 1944 angezeigt, weil er sich auf offener Straße mit einem jüdischen Zwangsarbeiter aus Ungarn unterhalten hatte. Die Unterhaltung wurde von Elisabeth Laschitz beobachtet. Sie stellte Julius Tökes zur Rede bzw. machte ihm klar, dass es strafbar sei, mit Juden in Kontakt zu treten. Nach 1945 sagte sie aus, dass nicht sie diejenige gewesen wäre, die die Anzeige erstattet hätte. Sie hatte ihre Beobachtung bloß einem Parteimitglied geschildert, und ehe sie sich versah, war sie bereits vor Gericht als Zeugin geladen, um ihre Aussage bloß zu bestätigen. Solche Erklärungsmuster waren nach 1945 kein Einzelfall. Interessant war ihr Motiv. Hinter ihrer Denunziation steckte keine Bösartigkeit. Meine Anklage gegen Tökes beruhte lediglich auf meiner Überzeugung als Antisemitin, da ich einen strengen Trennungsstrich zwischen Nationalsozialisten, Ariern und Juden machte und verurteilte damals Herrn Tökes sehr, weil er sich als Aria mit Juden abgab und sich daher in meinen Augen erniedrigte.102 Demnach wollte sie ihn nur schützen bzw. eine Lektion erteilen, damit er seine arische Ehre bewahre. Dieser Schutz brachte Julius Tökes einen Monat Haft und einen strengen Verweis ein.103 Eines sollten wir uns hier vergegenwärtigen: Wenn schon Volks- und Parteigenossen, die ungarischen Juden halfen bzw. mit ihnen bloß sprachen, dermaßen ins NS-Visier gerieten, wie muss es erst den ungarischen Juden selbst ergangen sein. Als Beweis solcher Vorfälle wird noch angezeigt, dass die Anna Großberger mit einem Sohn und zwei Töchtern als ungarische Juden aus Szolnok, welche u.a. auch bei der Gemeinde Baden unter dem Verwalter Schilk und Kämmerer Löw, in Arbeit gestanden sind, durch viele Wochen widerrechtlich in dem kalten Winter 1944/45 in den ungeheizten Arresten bei der Polizei in Baden, bis knapp vor dem Einmarsch der Roten-Armee angehalten wurden, weil sich der Großberger jun. verkühlt hatte und dessen Mutter daher einen ärztlichen Beistand verlangt hatte.104 Welche Martyrien ungarische Juden durchzustehen hatten, geht ebenso aus den Erinnerungen von Ellen Bokor hervor. 1944 wurde sie aus Ungarn deportiert. 89 Menschen wurden auf engstem Raum zusammengepfercht. Die Fahrt dauerte mehrere Tage. Sie bekamen nichts zu essen oder zu trinken. Ihr Sohn dehydrierte während der Fahrt, doch er überlebte, andere nicht, und die Leichen verblieben jedoch bis zur Ankunft in Strasshof im Waggon. Die Daten der Überlebenden wurden aufgenommen, Frauen und Männern wurden die Haare geschnitten und sie mussten sich duschen. Dabei hatte Ellen Bokor in jedem Raum das Gefühl, umgebracht zu werden. Danach ging es nach Wiener Neustadt. Dort wurden sie wie auf einen Viehmarkt an interessierte Betriebe ausgestellt. Die Forstverwaltung von Siegenfeld wurde auf sie und ihren Sohn aufmerksam. Untergebracht war sie in Baden, in einer Baracke. Von dort mussten sie jeden Tag zu Fuß nach Siegenfeld marschieren und Forstarbeiten verrichten. Bei all dem schrecklich Erlebten erinnerte sich Bokor Ellen trotzdem an Baden als 102 StA B, GB 052/Personalakten: Laschitz Elisabeth (geb. 1890) – Aussage (06.04.1945). 103 Julius Tökes (geb. 1880). 104 StA B, GB 052/Personalakten: Löw Hans – Klinger an Landesgericht (04.07.1946).
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„Beautiful Health Place“ zurück.105 Die Kurstadt wusste zu beeindrucken – grotesk! Als die Rote Armee immer näher heranrückte, wurde ihr aufgetragen, sich abmarschbereit zu machen. Doch der Oberförster, Norbert Hoffmann, der eigentlich für ihre Bewachung zuständig war, verhalf ihr und ihrem Sohn zur Flucht. Versteckt in den Wäldern, warteten sie noch die letzten Kampfhandlungen ab und wurden kurze Zeit später durch die sowjetische Armee endgültig befreit. * Werfen wir zuletzt einen Blick auf die Zahlen, die im von mir verwendeten Quellenbestand vereinzelt anzutreffen sind. Auf einer Liste aus dem Jahr 1941 finden sich 35 Namen von Kriegsgefangenen, davon waren 17 dem Gaswerk zugeteilt.106 Im Juni 1941 erfahren wir aufgrund einer Anzeige wegen Arbeitsverweigerung, dass am Haidhof fünf polnische Zivilarbeiter und fünfzehn polnische Kriegsgefangene beschäftigt waren.107 Hinzu kommen jene Menschen, die bereits im Text erwähnt wurden. 30 Ostarbeiter, die 1943 am Schwechatufer gearbeitet hatten, 120 Fremd- und Zwangsarbeiter im Wirtschaftshof in der Rohrgasse, 193 Menschen, die für den Autobahnbau Zwangsarbeit verrichten mussten und dann die nicht eruierbare Zahl an ungarischen Juden und sonstigen Menschen, von denen zwischendurch berichtet wurde, die in arisierten Villen untergebracht waren, bei ihren Gutsherren wohnten oder in irgendwelchen provisorischen Lagern hausen mussten. Genaue Zahlen liegen derzeit nicht vor. Die Fluktuation war außerdem groß, und für Nachschub war stets gesorgt. Mauthausen war nicht weit weg. Das Lager verfügte zudem über 48 Nebenlager. Nicht weit von der Kurstadt entfernt fristeten zahlreiche Fremd- und Zwangsarbeiter unter anderem in Wiener Neudorf, Guntramsdorf, Hinterbrühl, Felixdorf, Sittendorf, Heiligkreuz oder Alland ein menschenunwürdiges Dasein. Diese Nebenlager oder Nebenlager von Nebenlagern belieferten den gesamten Landkreis mit Sklavenarbeitern.108 Zugleich, was wiederum vollkommen abstrus wirkt, die Masse alleine reichte nicht aus. Im Mai 1943 brachte Landrat Wohlrab zu Papier: Die Land- und Forstwirtschaft leidet nach wie vor trotz Zuweisung von Kriegsgefangenen an geschulten Arbeitskräften.109 Im Badener Stadtarchiv finden sich unter anderem Berichte über die Zustände in den Fabriken im Triestingtal, wie in Enzesfeld oder Berndorf. Von Sadismus, Züchtigung, Willkür, Hunger bis hin zu Hinrichtungen – Menschen wurden erschossen und aufgehängt und das kurz vor dem Einmarsch der Sowjets. Über all dem stand laut Alois Klinger Kreisleiter Gärdtner, dessen Name unter den Fremd- und Zwangsarbeitern alleine schon Furcht aus-
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www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023). Vgl. StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen/Liquidierungen/Repression; Mappe III. Vgl. StA B, GB 231/Polizeiakten 1933–1945 I: Fasz. II; Mazurowski Stefan. Vgl. RAUCHENSTEINER, Unter Beobachtung, S. 216. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Juni 1943.
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löste.110 Wir lesen hier, wie sich hinterher die Angestellten gegenseitig beschuldigten, wer welchen Fremd- und Zwangsarbeiter wann, wie und wie oft geschlagen hatte. Der bereits erwähnte Leopold Wiesinger aus den Enzesfelder Metallwerken gab in solchen Fällen zu bedenken: Man darf nicht vergessen, dass sich unter den zahlreichen fremdländischen Arbeitern teilweise sehr üble Elemente befanden und es daher nicht immer leicht war, Herr über diese Leute zu werden. Ich möchte betonen, dass es oftmals notwendig war, gegen diese Elemente mit Ohrfeigen vorzugehen, um Ordnung und Sicherheit im Betrieb zu gewährleisten.111 Ein Kollege von ihm, Friedrich Schlesinger, dem der Werkschutz oblag, war zuständig gewesen für an die 15.000 Arbeiter – vorwiegend Fremdländer, wie er aussagte – und auch er versicherte, immer korrekt vorgegangen sein. Ganz nach Vorschrift, manchmal streng, manchmal sei eine Ohrfeige notwendig gewesen, aber alles hätte sich im Rahmen des Gesetzes befunden. Und auch er brachte ein bekanntes Argument vor: Man darf nicht vergessen, dass sich vor allem unter den fremdländischen Arbeitern sehr üble Elemente befanden, die strafweise nach Enzesfeld zur Arbeit verpflichtet worden waren.112 Eigenartigerweise berichteten zahlreiche dieser Elemente, dass nicht bloß die flache Hand zum Einsatz gekommen wäre, sondern die Faust, der Stiefel, der Ochsenziemer... Aber all das wiederzugeben, würde den (geographischen) Rahmen dieser Arbeit sprengen – auch wenn der Landkreis als Ganzes von mir immer wieder einbezogen wurde. Aber das wird sicherlich noch eine andere Geschichte. Deswegen blicken wir wieder auf die biedermeierliche Kurstadt. Wir nähern uns langsam dem Ende der NS-Herrschaft und läuten den letzten Kursommer unter dem Hakenkreuz ein.
110 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Gärdtner Camillo; Mappe III – Aussage Alois Klinger (26.06.1946). 111 StA B, GB 052/Personalakten: Wiesinger Leopold (geb. 1893) – Aussage (08.12.1945). 112 StA B, GB 052/Personalakten: Schlesinger Friedrich (geb. 1908) – Aussage (07.12.1945).
Kapitel 30 Pathologische Zuversicht Oder: Von der letzten Kur unter der Swastika
Der Haushaltsplan war ausgeglichen. Die Finanzgebarung der Heilbäder erfreute sich einer guten Entwicklung. Die Badener Ratsherren brachten am 24. April 1944 in der Gemeinderatsitzung ihre Wünsche und Anregungen ein, und die Stadtführung war bemüht, sie alle zu berücksichtigen. Lokalpolitische Harmonie und Zuversicht – möchte man meinen. Doch schon auf den ersten Blick war ersichtlich, dass es gar nicht so rosig um die politische Zukunft der Kurstadt beschieden war. Während früher Gemeinderatssitzungen mehrere Seiten in der Badener Zeitung einnehmen konnten, brachte es diese auf gerade einmal vier kümmerliche Absätze.1 Vergleichen wir die Berichterstattung über die 44er-Kursaison mit den vorangegangenen Kursaisonen, so lief die aktuelle unter ferner liefen. Wesentlich seltener sprang dem Leser etwas Kurpolitisches ins Auge, wie dass etwa der Ortsfremdenverkehrsverband ohne eine gesonderte Beitragserhebung auskommen und dass die Aufstockung des Tourismus-Werbeetats vorläufig eingestellt werden müsse. Für die Kurortreklame wurde einzig ein Diorama in Auftrag gegeben. Mehr gab das Budget nicht her.2 Die Kur, wie man sie kannte bzw. wie man sie sich vorstellte und herbeisehnte, das Flanieren durch Parkanlagen, Wanderungen durch das Helenental, ausgelassene Kaffeehaus- und Heurigenbesuche sowie das ausgiebige Frequentieren der Schwefelbäder, gehörte der Vergangenheit an – zumindest für den klassischen Kurgast. Aus dem beliebten Café „Schopf“ in der Weilburgstraße wurde das zweite VerwundetenSoldatenheim im Landkreis – das erste befand sich in Weißenbach an der Triesting. In Zeiten Napoleons unter dem Namen „Scheiner“ eröffnet, war der Nachfolger „Schimmer“, genauso wie letztendlich das „Schopf“, das „Seitenblicke-Lokal“ der Kurstadt schlechthin, wo sich Reich und Schön die Klinke in die Hand gaben. Nun, im fünften Kriegsjahr, war die Zeit der Schickeria endgültig vorbei. Laut der lokalen Berichterstattung wäre das Konzept „KurstadtVerwundeten-Soldatenheim“ ein voller Erfolg gewesen. Das eher schlechte Omen, wonach ausgerechnet dort im „Schopf“ die Hauptfigur der Schnitzler-Novelle „Spiel im Morgengrauen“, Offizier Leutnant Wilhelm Kasda, all sein Geld verspielt hatte und in weiterer Folge aus damaligem Ehrgefühl seinem Leben ein Ende setzen musste, scheint dem Initiator, dem Kreisbeauftragten für Soldatenbetreuung Sepp Groß, egal oder unbekannt gewesen zu sein. Finanziert hatte das Soldatenheim ohnehin die NS-Volkswohlfahrt (NSV), und betrieben 1 2
Vgl. BZ Nr. 35 v. 03.05.1944, S. 2. Vgl. BZ Nr. 04 v. 04.03.1944, S. 4.
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wurde es durch die NS-Frauenschaft.3 Letztendlich war die Übernahme des traditionsreichen Badener Cafés durch das Militär nur noch eine unbedeutende Randnotiz der Lokalgeschichte – womöglich auch besser so, schließlich hatte Rudolf Schwabl (siehe Kapitel 28 Höllensturz) den Ruf des Schopfs ohnehin etwas ramponiert. Die Kurstadt war schon längst zu einer Lazarettstadt mutiert, wobei es immer noch Einrichtungen gab, die sich dem Zugriff der Wehrmacht entzogen hatten. Für diese wurde es nun ebenso eng. Im Jänner 1944 schielte die Waffen-SS auf das Hotel „Rauch“ in der Pelzgasse, und die Luftwaffe auf das Hotel „Grüner Baum“ in der Renngasse. In einem Schreiben vom Februar 1944 an Landrat Wohlrab unterrichtete Bürgermeister Schmid darüber, dass dem Kurort von den einst 4500 Fremdenverkehrsbetten in den gewerblichen Beherbergungsbetrieben für die zivile Nutzung nur mehr rund 800 übrig geblieben seien. Das Hotel „Sacher“ mit seinen 150 Betten würde theoretisch noch dazukommen, allerdings bestünde keine Heizmöglichkeit im Winter, sodass nur die Sommersaison in Frage käme. Hinzukam, dass die kriegsversehrten Soldaten auch Besuch empfangen würden, der schließlich ebenso irgendwo untergebracht werden musste – falls jener von weit außerhalb anreiste. Schmid dazu: Es ereignet sich häufig der Fall, dass Lazarettbesucher (meist Frauen) notdürftige Unterkünfte im Polizeiarrest finden. […] Die Unterkunftsverhältnisse in Baden bei Wien sind, wie aus obiger Schilderung hervor geht, mehr als beengt, ja zuweilen katastrophal.4 Nicht nur, dass Schmid das böse Wort „Katastrophe“ in den Mund genommen hatte, wir dürfen die Fremd- und Zwangsarbeiter wie auch die Flüchtlinge, die aus allen Ecken und Enden des Dritten Reiches vor den angloamerikanischen Bomben oder der Roten Armee die Flucht ergriffen hatten und sich teilweise in Baden wiederfanden, nicht vergessen. Laut Gertrud Maurer war die Stadt von Letzteren regelrecht überschwemmt. Eine ihrer neuen Mitschülerinnen kam sogar aus dem fernen Odessa. Sie war ein regelrechter Exot, der dann von Klasse zu Klasse gereicht wurde, um über die Kriegsgeschehnisse im Osten zu berichten.5 Im August 1944 stand die Errichtung weiterer Lazarette an der Tagesordnung. Gauleiter und Reichsstatthalter Hugo Jury fiel das mittlerweile verwaiste Casinogebäude ins Auge – dazu später gleich mehr. Kreisleiter Camillo Gärdtner war von dem Vorschlag seines Gauleiters nicht sonderlich angetan, weil sich das Casinogebäude seiner Meinung nach nicht als Lazarett eignen würde. Von solchen gab es in Baden ohnehin bereits elf an der Zahl, in denen sich 2800 Patienten aufhielten. Da aber Widerspruch in einem totalitären Regime nicht vorgesehen war, probierte es Gärdtner mit einem Alternativangebot: Für die Einrichtung eines Verwundetenheimes der NSDAP wäre es ausgezeichnet geeignet. In einem so großen Ort wie Baden können die kranken und verwundeten Soldaten keinen Familienanschluss mehr finden, wir dürfen diese jedoch nicht mehr weiter sich selbst überlassen.6 3 4 5 6
Vgl. BZ Nr. 101 v. 20.12.1944, S. 2. StA B, GB 053/Kriegsalltag III; Fasz. II Abwehrkämpfe u. Abwehrmaßnahmen; Beschlagnahmungen – (02.02.1944). Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 47. StA B, GB 334/Casino I; Fasz. II – Gärdtner an Jury (19.08.1944).
Kapitel 30 Pathologische Zuversicht
Um Platz für weitere Verwundete zu schaffen, tat man sein Möglichstes. Dienststellen der NSADP und deren Gliederungen wurden zusammengelegt. Das NSKK musste das „Batzenhäusl“ für das Lazarett in der Pfarrschule räumen, die Ortsgruppe Baden-Leesdorf im Schloss Leesdorf weitere Räume abgeben, und ein Teil der Kreisleitung sollte im Schloss Doblhoff untergebracht werden – was die Kreisleitung ablehnte, mit der Begründung, es sei zu prunkvoll.7 Der Kampf um Kurbetten erhielt 1944 eine ungewöhnliche Schärfe. Allen voran zwischen der Lazarettverwaltung der Luftwaffe und der zivilen Sanatoriumsverwaltung von Gutenbrunn – wo die Luftwaffe seit 1940 einquartiert war (siehe Kapitel 19). Nachdem die Sanatoriumsverwaltung in Erfahrung gebracht hatte, dass auch die verbliebenen 50 Zivilkurbetten beschlagnahmt werden sollten, wandte sie sich an Schmid und setzte ihn davon in Kenntnis, dass die jeweils auf Grund des Vertrages zur Verfügung gestellten Betten niemals annähernd zur Gänze belegt waren, sodass dem Fremdenverkehr bezw. der Privatwirtschaft einerseits ein großer Verlust entstanden ist und andererseits die Luftwaffe für Bettgarantie eine sehr große Summe unnötig bezahlte, insbesondere das jetzt, wo man sogar noch die restlichen Betten beschlagnahmen will und die derzeit zur Verfügung gestellten 150 Betten weit unter der Hälfte nur belegt sind und ein großer Teil der Zimmer sogar für Privatwohnungen und unnötige Kanzleien verwendet werden […].8 Die Sanatoriumsverwaltung, an deren Spitze Direktor Johann Christ stand, beklagte sich nicht nur bei Schmid, sondern auch bei Landrat Wohlrab. Und Johann Christ – den wir aus Kapitel 27 „Schatten und Zwielicht“ kennen – scheute sich nicht, dem Landrat dabei detailliert zu schildern, wie sich die Luftwaffe als Mieter so gebären würde. Am 7. Jänner 1945 wurde festgestellt, dass eine illustre Truppe an Oberund Unterärzten des Luftgaukommandos gemeinsam mit einem Oberzahlmeister, einem Oberleutnant und einem Stabsintendanten eine Jause, bestehend aus Bohnenkaffee und Keks und dann ein kräftiges Abendessen, in Form eines Spanferkels mit Kartoffeln zu sich genommen hatten, danach Bohnenkaffee und scheinbar so viel Wein, Cognac und Sekt getrunken hatten, dass alle nicht mehr wussten, was los war. […] Man hat die Luftschutzsandsäcke vom 1. Stock in die Halle hinuntergeworfen, und sollen die Herren nur mehr in der Lage gewesen sein, zu zweit und zu dritt auf die Toilette zu gehen. Gegen Früh ist man dann mit dem Auto, höchstwahrscheinlich mit den Sanitätswagen, von Baden nach Wien gefahren. Das soll die sogenannte Feier des Sieges, dass doch die Beschlagnahme gelungen ist, sein.9 Wohlrab informierte daraufhin die Reichsstatthalterei Niederdonau. Er bestätigte, dass die Luftwaffe ihre verfügbaren Bettkapazitäten bisher nie aufgebraucht hatte, und er beschrieb, wie von Seiten der Lazarettverwaltung mit der Zivilverwaltung umgegangen werde, wenn diese auf Tatsachen und bestehende Verträge verweisen würde. „Das geht uns nichts 7 8 9
StA B, GB 053/Kriegsalltag III; Fasz. II Abwehrkämpfe u. Abwehrmaßnahmen; Beschlagnahmungen – NSKK (17.10.1944), Ortsgruppe Leesdorf (10.10.1944), Schloss Doblhoff (18.05.1944). StA B, GB 053/Kriegsalltag III; Fasz. II Abwehrkämpfe u. Abwehrmaßnahmen; Beschlagnahmungen – Sanatoriumsverwaltung an Bürgermeister (01.12.1944). Ebd. – Sanatoriumsverwaltung an Landrat (08.01.1945).
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an“, „Das interessiert uns nicht.“ Daraus geht hervor, dass für die Herren der Lazarettverwaltung die geflissentliche Außerachtlassung meiner Behörden geradezu grundsätzlich maßgebend ist. Er äußerte zudem die leichte Vermutung, dass vielleicht nicht ausschließlich Erfordernisse und Notwendigkeiten der operativen Kriegsführung für das Verlangen maßgeblich sind, sämtliche im Sanatorium befindlichen Personen einzuquartieren. Und er machte zum Schluss darauf aufmerksam: Das bisherige, einer Requirierung in Feindesland bezw. einer Aktion gegen eine Feindbevölkerung sehr ähnliche sehende Vorgehen einzelner militärische Verwaltungsorgane bringt vor allem auch den Nachtteil einer besonderen Erschwerung und Komplizierung der ganzen Arbeit mit sich, deren Entwirrung erfahrungsgemäß letzten Endes doch wieder mir und meinen Sachbearbeitern zur Last fällt.10 Was Wohlrab hier suggerierte, bedeutete nichts anderes, als dass sich Teile der Wehrmacht gegenüber Baden so benehmen würden, als würde es sich um eine feindliche Stadt handeln. Das Ergebnis des ganzen Aufbegehrens sah eine Handvoll Tage später wie folgt aus: Ab sofort ist das Sanatorium Gutenbrunn einschließlich sämtlicher Nebengebäude beschlagnahmt. Sämtliche Bauarbeiten und sonstige für das Lazarett erforderlichen Arbeiten sind sofort durchzuführen. Seitens der Direktion dürfen keinerlei Widerstände eintreten und dürfen auch seitens des Luftgaukommandos nicht geduldet werden.11 Allerdings hatte man wohl vergessen, Direktor Johann Christ dahingehend genauer zu instruieren – ich habe es bereits in Kapitel 27 angesprochen. General der Flieger Egon Doerstling beschwerte sich im Februar 1945 rückblickend, dass Generaldirektor Johann Christ alle ihm zu Gebote stehenden Verbindungen ausnützt, um die Einrichtung des Lazarettes zu verhindern oder möglichst zu verzögern. Zu diesen Verzögerungen gehörten zum Beispiel, einen Beschlagnahmungsbescheid vorzulegen, der von dem Landrat in Baden entgegen dem Beschlagnahmungsbescheid des Herrn Reichstatthalters völlig verändert und weitgehend eingeschränkt war. Diese Veränderung ist offenbar auf irreführende Angaben des Generaldirektors Christ gegenüber dem Landrat von Baden und dem Bürgermeister zurückzuführen. Neben der Bescheidzurechtbiegung scheint Christ auch vor handfesteren Methoden nicht zurückgeschreckt zu sein. Handwerkern, die von der Luftwaffe beauftragt wurden, begegnete er mit der Drohung, ihnen nie wieder Aufträge zukommen zu lassen, wenn sie nicht augenblicklich das Haus verlassen würden. Und dem vom Luftgaukommando entsandten Heizungsingenieur verweigerte er schlichtweg die Auskunft über die Kohlenversorgung des Sanatoriums. Fliegergeneral Doerstling urteilte: Seine Machenschaften und seine offen geäußerte Einstellung gegenüber den Organen, die für die Opfer der Front, die nach dem Willen des Führers und nach der Auffassung der Volksgemeinschaft Anspruch auf besonders gute Betreuung haben, ein Lazarett bereitstellen wollen, läuft dem nationalsozialistischen Denken so zuwider, dass die Ablehnung von Verhandlungen der mir unterstellten Offiziere und Beamten mit Generaldirektor Christ nur eine Mindestmaßnahme ist. Es muss befürchtet werden, dass Generaldirektor Christ bei Betreten des Lazarettgeländes das dort befindliche Personal in dem von 10 Ebd. – Landrat an Reichsstatthalterei (09.01.1945). 11 Ebd. – Luftwaffenlazarett 14/XVII an Sanatoriumsverwaltung (12.01.1945).
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ihm zur Schau getragenen Geist beeinflusst.12 Konsequenzen waren vermutlich seine erneute Verhaftung – aber das haben wir ebenso bereits in Kapitel 27 gelesen. Was ebenfalls als mögliches Lazarett ins Spiel gebracht wurde, war Schloss Weilburg. Dort, so Kreisleiter Gärdtner, wäre sowieso nur eine Genesungseinheit der deutschen Spezialeinheit „Brandburg“ einquartiert – maximal 30 bis 40 Personen.13 Die Weilburg als weiteres Lazarett konnte man durchaus gut vermarkten. Die Erbauung durch Erzherzog Karl, dem Bezwinger von Napoleon bei Aspern 1809, ein militärischer Triumph sondergleichen, bedeutete ein weitaus besseres Omen als die literarische Geschichte des Café „Schopf“. Noch dazu befand sich gleich ums Eck das „Wegerl ins Helenental“, wo man in die Fußstapfen Beethovens treten durfte, der dieses Wegerl mit seinen Schritten veredelt hatte. Die Stadt rühmte sich der idyllischen Kulisse des gesamten Helenentals, welches so hingebungsvoll von der NS-Frauenschaft gepflegt wurde. Bei Jodlern, frohen Liedern und Akkordionweisen ließen sich die Gäste die Jause gut munden, und abends beim Nachhausegehen sah das vielbesungene Helenental nur heitere, entspannte Gesichter. Immer wieder konnte man unsere Soldaten sagen hören: „Schon lange haben wir keinen so schönen Nachmittag erlebt.“14 Doch es war bei Gott nicht nur dieses „Wegerl im Helenental“, das die soldatische Psyche und Physis wieder auf Vordermann bringen sollte. Für die mentale Verköstigung der deutschen Krieger war der Kurstadt nichts zu teuer. Einmal noch sollten alle braunen Register der Badener Kunst- und Kulturszene gezogen werden. Im März 1944 schaltete die Gaubühne einen weiteren Spieltag ein. Schon zuvor war ein vierter Spieltag eingeführt worden, dann ein fünfter und nun der sechste. Freilich, Baden war Lazarettstadt und es musste dafür gesorgt werden, die Erinnerungen der hierorts Stationierten und Leidenden an Krieg, Verwundung, Schmerz und Todesgefahr zu verdrängen.15 Neben dem ideologischen Aspekt kam der ökonomische hinzu. Schließlich hatte man es mit potentiellen zukünftigen Kunden, sprich Kurgästen und Sommerfrischlern zu tun. Sich hier von der Schokoladenseite zu präsentieren, zumal das Geld für sonstige Reklame fehlte, war ein PR-Gebot der Stunde. Heldenpathos und Todesverachtung, das Propagieren der totalen Hingabe an Führer, Volk und Vaterland, und zugleich betrat „Das Mädchen aus der Vorstadt“ von Johann Nestroy die Bühnen der Kurstadt und es rann das „Wiener Blut“ von Johann Strauß oder es erschien „Iphigenia auf Tauris“ von Wolfgang Goethe oder „La Traviata“ von Verdi oder „Sappho“ von Grillparzer und so weiter und so fort… Unter der Führung der Badener Beethovengemeinde und der unmittelbaren Schirmherrschaft Franz Schmids hatten Ludwig van Beethovens Werke das zweifelhafte Vergnügen, bis zum bitteren Ende des NS-Regimes aufgeführt zu werden. Neben dem gewöhnlichen Zeitvertreib, dem Wunsch nach Ablenkung oder im Kampf gegen die Langweile ganz ohne innerliche Passion zur Hochkultur 12 13 14 15
StA B, GB 054/Registrierungslisten: Christ Johann (geb. 1897). Vgl. StA B, GB 334/Casino I; Fasz. II – Gärdtner an Jury (19.08.1944). BZ Nr. 49 v. 21.06.1944, S. 2. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 10.
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konnte ebendiese auch wahrlich sinnstiftend wirken. Ein Kunstkenner wie Hans Meissner konnte ein Lied davon singen. A propos Burgtheater: alles damals, und sei es noch so Inhumanes, war – so meinten wir jedenfalls – nur erträglich durch Bezüge auf hochkulturelle Zusammenhänge. Also viel Ästhetik und kaum oder gar nicht Religion. Als ich später (nicht in Lebensgefahr) im Lazarett lag, predigte ein Militärpfarrer. Ich hatte das Gefühl, dass es allen beim einen Ohr hinein- und beim anderen hinausging. Der Krieg war anders durch die bloße Erlebnisintensität. Erträglich nur durch ein Untergehen in der Gemeinsamkeit, im Notfall gleichgültig mit wem.16 Beethoven und die Mädchen aus der Vorstadt brachten auf andere Gedanken, doch wir dürfen uns nicht täuschen lassen und ein Bild von zwar verletzten, doch im Großen und Ganzen ganz passabel zurechtgeflickten und bandagierten Soldaten vor Augen haben, die leicht humpelnd mit Krücke oder verwegener Augenklappe im Kurpark flanierten oder im Theater saßen und danach bei einem Glaserl Wein spannende Frontgeschichten zum Besten gaben. Einer dieser Kriegsversehrten erinnerte sich an seine Ankunft in der kunstaffinen Kurstadt, wo er erst einmal fünf Stunden warten musste, bis er endlich vom LKW ausgeladen wurde. Auf einer Tragbahre brachte man ihn in die ehemalige Volksschule am Pfarrplatz – nun Lazarett. Noch vor einer Woche war er mittendrin gewesen in seiner Nachwuchsoffiziersausbildung. Da kamen der Einberufungsbefehl und zugleich der Fronteinsatz. Sieben Tage später lag er im Keller des Pfarrschulgebäudes, ohne sein rechtes Bein, das von einer Granate abgerissen worden war. Es war stickig gewesen, erinnerte er sich, nebelig, spärlich beleuchtet und die Kellergemäuer vom Gestöhne und Geschrei der Verletzten erfüllt. Ich hielt mit beiden Händen meinen blutigen Beinstumpf in die Höhe, auch die Verbände waren abgerissen worden, so lagen wir da, für mich unzählige Verwundete mit blutigen Armstümpfen, Schädelverletzungen, einer hatte beide Beine verloren. Immer gab es welche, die es schlimmer getroffen hatte. Einer rief ständig: „I siegh nix, i siegh nix mehr.“ Da lagen wir nun, elend nackte Menschen, und die Sanitäter spritzen uns mit warmem Lysol ab. Ein Gruselkabinett.17 Erzählungen dieses Genres schafften es nicht in die Badener Zeitung. Hier dominierten weiterhin der Heroismus, militärische Husarenstücke, blutige Widerstandskämpfe und kühne Furchtlosigkeit gegen eine feindliche Übermacht. Man beweihräucherte sich, vier feindliche Panzer zerstört oder sieben gegnerische Flugzeuge vom Himmel geschossen zu haben.18 Dass die Alliierten um ein Vielfaches an Panzern und Kampfflugzeugen verfügten, obendrein Treibstoff in Hülle und Fülle sowie die Lufthoheit, von solchen Tatsachen las man nichts. Doch von Zahlen, Fakten und dem beschriebenen Gruselkabinett ließen sich echte deutsche Männer – wie es das NS-Regime gerne gehabt hätte – nicht abschrecken. Der 21-jährige Karl Ga. aus Siegenfeld, wie es in der Badener Zeitung geschrieben stand, marschierte trotz seiner Verwundung zum vierten Mal an die Front, um womöglich, was ihn in keiner Weise beunruhigte, seinen drei Brüdern zu fol16 StA B; Oral History 1933–1955, Hans Meissner Matura-RAD-Studium, S. 8. 17 WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 42. 18 Vgl. BZ Nr. 16 v. 26.02.1944, S. 3 und BZ Nr. 67 v. 23.08.1944, S. 1.
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gen – in den Heldentod. Wir werden vor Gott bestehen durch unseren Willen zum Guten und Reinen. […] Vertraut auf den Führer und zweifelt nie an unserer guten deutschen Sache.19 Mit diesen Worten gedachte er bzw. die Badener Zeitung seinen Eltern Mut und Trost zu spenden – und ein paar Floskeln für den Partezettel waren auch gleich dabei. Kriegspropaganda sowie Kunst-und-Kultur-Nachrichten waren die dominanten Themenfelder der lokalen Berichterstattung. Neben den Gastauftritten nationaler und internationaler Größen wurde auf die lokalen Kunstgrößen nicht vergessen. Der akademische Maler Karl Cizek präsentieret seine Werke unter dem Titel „Es erzeugt in nimmermüdem Schaffen die Heimat die allerbesten Waffen!“. Der gleichen Kunstbranche gehörte der 85-jährige Gustav Lautenschläger an, dem zum Geburtstag von Gemeinde und Partei eine Sammelschau gewidmet wurde. Als alter Schönerianer, Anhänger der „Los von Rom“-Bewegung, war es für Lautenschläger naheliegend, sich der NSDAP anzuschließen, zumal er seine nationalsozialistische Überzeugung selbst vor dem Ständestaat nicht zu verheimlichen gedachte.20 Solche Künstler waren für die lokale Parteielite ideal dafür geeignet, als schmückendes Beiwerk zu fungieren, auch wenn nicht alle unbedingt überzeugte Nationalsozialisten waren.21 So wie der Wiener Gauleiter und Reichstatthalter Baldur von Schirach den Schriftsteller Gerhart Hauptmann und den Komponisten Richard Strauss gerne zur Linken und Rechten in seiner Burgtheaterloge begrüßte, war es in Baden Kreisleiter Gärdtner, der den in Wien geborenen Badener Komponisten Heinrich Strecker mit „Lieber Meister Strecker“ anschrieb und seinen Auftritt vom Februar 1944 mit Wein und Blumen im Wert von 100 RM goutierte – die Blumen gingen an die Interpretin Hannerl Elsner. Es folgten weitere Veranstaltungen, bei denen Streckers Werke zum Besten gegeben wurden und bei denen Gärdtner es nicht verabsäumte, seinen Stolz kundzutun, solch kompositorischen Genius in seinem Kreis zu hofieren. Nach einem Konzert schwärmte Gärdtner: Es bot eine solche Fülle verschiedenster Eindrücke und Empfindungen, dass es erstaunlich wirkt, wie ein Mensch so vielseitig ist. Dabei habe ich es besonders als wohltuend empfunden, dass auch die heitere Seite frei von der sonst üblichen Zote war. Der Kreisleiter plante schon den nächsten Konzertabend – nicht dabei auf seine eigene Rolle vergessend. Ihr Abend war das, was ich mir vorstellte, und ich möchte dem Gauleiter zeigen, dass eine Veranstaltung in meinem Sinne möglich ist.22 Heinrich Strecker war 1933 der Partei beigetreten, er galt politisch als einwandfrei, arisierte die Liegenschaft Heller-Rutter und Erben, Marchetstraße 76. Mit der Zeit vergrößerte er das Areal durch weitere Zukäufe. Dass ihm seine Parteimitgliedschaft und sein gutes Verhältnis zu Kreisleiter Gärdtner, der oftmaliger Gast seiner Villa war, so manches erleichterte, liegt 19 BZ Nr. 66 v. 19.08.1944, S. 5. 20 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 18. 21 Vgl. RATHKOLB Oliver, Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler (Wien-Graz 2020), S. 190 u. 208. 22 StA B, GB 052/Personalakten: Strecker Heinrich (1893–1981) und NSDAP Karteikarten groß: Strecker Heinrich.
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auf der Hand. Er revanchierte sich nicht nur mit seinem künstlerischen Schaffen, sondern auch mit dem gelegentlichen Verzicht eines Honorars. Solche Großzügigkeit passte perfekt in die selbst im Jahre 1944 nicht versiegenden immerwährenden Spendenaufrufe. Geld, Sachspenden, zusammengestellte Päckchen wechselten in gewohnter Manier vom habenden zum nichthabenden Volksgenossen oder fuhren auf gewohnten Bahnen Richtung Osten, Westen, Süden oder Norden an die verschiedenen Fronten. Neu war hingegen die Kinderfotoaktion. Hier wurden jenen Vätern Fotos ihrer Sprösslinge zugeschickt, die ihren Nachwuchs aufgrund ihres Fronteinsatzes schon lange nicht oder überhaupt noch nie zu Gesicht bekommen hatten. Laut Badener Zeitung war der Kinderfotoverschickungs-Aktion ein außergewöhnlicher Erfolg beschieden, zumal sie propagandistisch hervorragend ausgeschlachtet werden konnte.23 Reaktionen der Väter wurden veröffentlicht – ob sie fingiert waren, sei dahingestellt. Jedenfalls schrieb der Obergefreite Dürmoser, dass die Ankunft der Fotografie seines Kindes für ihn einem persönlichen Feiertag gleichkam und deswegen ein Ansporn mehr, die Heimat nicht zu enttäuschen und uns ihrer Opfer würdig zu erweisen.24 Die angeblich so grandiose Aktion wurde wenig später Opfer des Mangels an Fotomaterial und der unsicheren Postwege.25 Wir sehen also, Baden war bemüht um seine Mannen an der Front und um seine kriegsversehrten Mannen vor Ort, die durchaus so etwas wie Kurstimmung erleben konnten – sofern sie nicht elendig in irgendwelchen Lazarettkellern verreckten. Allerdings mussten auch sie mittlerweile Abstriche machen. Denn ein kurörtlicher Gigant musste letztendlich doch noch zu Grabe getragen werden, der zuvor für sehr viel gute Laune gesorgt hatte. Das Casino bzw. das Glücksspiel, egal ob mit Jetons oder Pferden, kam den Hasardeuren abhanden.
Rien ne va plus Im Jahre 1943 trabten zum letzten Mal die Pferde über die Badener Trabrennbahn unter dem Banner des Hakenkreuzes. Man hoffte zwar inständig, dass die Rennbahn bald wieder ihre Pforten öffnen werde, doch für die Badener Pferdesport-Enthusiasten galt es, zeitweilig auf den Rennbetrieb in Wien auszuweichen.26 Wesentlich gravierender für Baden war allerdings, dass die Runden machenden Gerüchte bezüglich Spielbankschließung Wirklichkeit wurden. Deadline war der 25. August 1944. Gauhauptmann Sepp Mayer, als Gaubeauftragter für Kommunalpolitik und nun zum Oberprokurator in Sachen Casino-Stilllegung ernannt, informierte ganz sachlich in einem Schreiben vom 1. September 1944 Präsidenten Robert Hammer über die Schließung des Spielbetriebes und das Erlöschen sämtlicher 23 24 25 26
Vgl. BZ Nr. 71 v. 06.09.1944, S. 2. BZ Nr. 58 v. 22.07.1944, S. 3. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 21. Vgl. BZ Nr. 18 v. 04.03.1944, S. 5.
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Arbeitsverträge. Für die bisherige Tätigkeit und Mitarbeit wurde gedankt. Er endete mit: In nächster Zeit werden noch einige Fragen einer Klärung bedürfen, wobei ich auf Ihre freundliche Auskunftserteilung rechne. Hierfür werde ich Ihnen einen Betrag in Höhe eines Monatsgehalts anweisen lassen.27 Und ein paar offene Fragen gab es tatsächlich. Drei Tage später, am 3. September 1944, erstattete Sepp Mayer bei der Kriminalleitstelle Wien „Strafanzeige gegen unbekannte Täter wegen Veruntreuung und Amtsmissbrauchs.“ Es ging um „Zusatzverdienste“ mehrerer Mitarbeiter zu ihrem ohnehin schon exorbitanten Monatseinkommen sowie ein sich eingebürgertes Wegsehen bzw. ein Gar-ein-wenig-an-so-manch-nicht-ganz-legaler-Gewinnausschüttung-Mitnaschen. Aber alles der Reihe nach. Bereits 1939 verdienten die Casinomitarbeiter deutlich mehr als Beschäftigte in der Rüstungsindustrie, und es wurde von Jahr zu Jahr mehr. Hauptverantwortlich dafür war nicht etwa das Grundgehalt. Es waren zwei Dinge, die sich gegenseitig aufschaukelten. Zum einen waren es die Cagnotte (Trinkgelder) – die zusammengelegt und dann an alle Mitarbeiter nach einem Schlüssel verteilt wurden. Und zum anderen, so Sepp Mayer, dass verschiedene Gesellschaftskreise viel verdienten und infolge der Bewirtschaftung der Gebrauchsgegenstände nicht in der Lage waren, ihr Geld in Waren umzusetzen. So wandten sich auch einfache Leute dem Spiel zu.28 Wir haben hier exakt das, was wir jetzt seitenlang gelesen haben – einen Mangel an Waren, jedoch nicht an Geld. Die Leute wussten demnach nicht, wohin mit ihren Moneten – also auf ins Casino. Und da immer mehr Menschen zu spielen begannen, wuchsen gleichzeitig die Trinkgelder. Betrachtete man das Monatsgehalt eines Croupiers, so betrug dieses im Februar 1943 1.923 RM und im September des gleichen Jahres bereits 2.580 RM. Gibt man diese Zahlen in einen gegoogelten „Historischen Währungsumrechner“ ein, so ergeben sich Einkommen von 10.878 Euro und 14.595 Euro pro Monat. Und das waren nur die Croupiers. Auf Betriebsdirektorebene haben wir Einkommen von 30.949 und 41.641 Euro monatlich. Und selbst die Garderobenfrau hatte einen Monatsverdienst von 2.698 Euro und 3.581 Euro. Als 1942 Stimmen laut wurden, gegen diese ausufernden Gehälter etwas zu unternehmen, setzte sich die Gefolgschaft unter ihrem kämpferischen Betriebsobmann Leopold Pandak erfolgreich zur Wehr. Ein Jahr später, 1943, als die Schließung drohte – die dann eh nicht kam – und es wieder um die Gehälter ging, ging die Gefolgschaft erneut auf die Barrikaden. Zumindest konnte von Seiten des Casino-Reichstreuhänders durchgesetzt werden, dass 20 Prozent der Cagnotte in einen Sozialfonds fließen sollten. Aber von einem Betriebsfrieden konnte weiterhin keine Rede sein. Klagen wurden erhoben, wonach die Rechte der Gefolgschaft verkürzt worden wären. Die Deutsche Arbeiterfront DAF, der Gauleiter persönlich und die Reichstreuhänder in Berlin und Wien wurden eingeschaltet. Und dann, stellte Sepp Mayer in den Raum, ereigneten sich in der Folge Vorfälle, die mich annehmen ließen, dass sich die
27 Vgl. NÖLA; Spielkasino Baden bei Wien Stilllegung K6; f. 6 – Mayer an Hammer (01.09.1944). 28 Ebd.; f. 9 – Strafanzeige (04.09.1944), S. 2.
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Gefolgschaftsmitglieder strafbarer Handlungen schuldig machten.29 Währenddessen ging der Kampf zwischen Führung und Gefolgschaft weiter. Laut dem damaligen Personalreferenten, Leopold Kraft, hatten die Gefolgschaftsmitglieder Ende 1943 über 170 Gerichtsklagen eingereicht.30 Im Jänner 1944 erhielt der Kampf neue Nahrung, als der Reichstreuhänder die Cagnotte auf 800 RM deckelte und sie nur mehr an die spieltechnischen Angestellten ausgezahlt werden sollte. Bereits einen Monat später kam es erneut zu einer Welle an Klagen der Gefolgschaftsmitglieder – die in einem Ausgleich in der Höhe von 1,5 Millionen RM endete. Zugleich senkten sich rapide die Einnahmen des eingerichteten Casinofonds, während die Cagnotte wundersamerweise gleichblieb bzw. sogar stieg – was eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war. Gauhauptmann Sepp Mayer witterte nun endgültig verbrecherische Handlungsweisen und konnte sich ferner nicht vorstellen, dass die Direktions- und Inspektionsetage nichts davon mitbekommen hatte. Als der Gauhauptmann eine Klärung verlangte, erhielt er die Auskunft, egal ob vom Direktor Kurt Wiesend oder dem Betriebsobmann Leopold Pandak, Pechserien kämen bei jeder Bank vor. Doch Sepp Mayer ließ sich damit nicht abspeisen, und siehe da, einzelne schwarze Schafe innerhalb der Croupiers wurden ausfindig gemacht. Doch es stellte sich bald heraus, es blieb nicht bei ein paar schwarzen Hornträgern, es war eine ganze Herde. Es fing an mit Taschenspielertricks bis hin zu falsch zugeschobenen Gewinnen, wie die an einen Schuhhändler, bei dem mehrere Croupiers Schuhe zu Fantasiepreisen bestellt hatten. Entlohnt wurde der Glückspilz mit rein zufälligen Gewinnserien. Neben Schuhen wurden auf diese Weise genauso Juwelen und Teppiche gehandelt und die Inspektoren, die eigentlich darauf ein Auge haben sollten, erfreuten sich derweilen mit größeren Mengen an raren Gütern wie Kaffee. Der Gauhauptmann war regelrecht verstört. All dies zeigt die Hemmungslosigkeit die in der Badener Gefolgschaft eingerissen ist. Unbegreiflich ist mir, dass von diesen sozusagen öffentlichen Lumpereien die die Aufsicht führenden Angestellten und der Betriebsobmann nicht gewusst haben. Auf der anderen Seite, wenn wir uns zurückerinnern (Kapitel 4 Mammon II), Direktor Adolf Köfer und seine illegale NS-Betriebszelle, die erst nach dem Anschluss gegründet wurde, zeugten nicht unbedingt von Integrität. Oder Betriebsdirektor Kurt Wiesend, sein etwas legerer Zugang wurde ebenso in Kapitel 4 Mammon II näher erläutert. Und der Mann blieb sich seiner offenbar treu. Sepp Mayer als Oberprokurator war nämlich zu Ohren gekommen, dass Wiesend seinen Dienst sträflich vernachlässigt, da er oft statt um 15 Uhr erst um 17 Uhr im Casino erschien, viel Zeit im Restaurant statt im Spielsaal zubrachte, dort mit Weibern verkehrte und Weingelage hielt. Ich halte ihn nicht für so dumm, dass er das Märchen von der Pechserie für bare Münze gehalten hatte.31 Laut der Berechnung von Sepp Mayer verschlang diese Pechsträhne etwa zwei Millionen RM – laut Währungsumrechner wären das knapp zwölf Millionen Euro gewesen. Und in der Art ging es weiter. Die eingeleiteten Ermittlungen ergaben, dass immer wieder Gelder und Jetons verschwanden, um kurze Zeit 29 Ebd.; f11 – Strafanzeige (04.09.1944), S. 4. 30 Ebd.; f39 – Kraft an Dr. Pulheim (31.08.1944). 31 Ebd.; f13 – Strafanzeige (04.09.1944), S. 5.
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später woanders wieder aufzutauchen, wo sie eigentlich nicht sein dürften. Genauso kamen Einnahmen, Gewinne, Trinkgelder und Spenden in der Buchung und Verrechnung vollkommen durcheinander. Dass bei der Stilllegung der Spielbank ein Haufen Schmutzwäsche nach oben gespült wurde, war dann der nächste Super-GAU. Man begann sich gegenseitig zu denunzieren und anzuzeigen, Gerüchte zu streuen und nicht unbedingt schmeichelhafte Leumundszeugnisse auszustellen. Der Betriebsobmann, ein geistig nicht übermäßig bemittelter Mann, geriet in die Hände von 4 bis 5 Radikalinskis, die aus einer so bunt zusammengewürfelten Gefolgschaft nur allzu bald auftauchen, wenn Trübung vorliegt. Das war die Einschätzung des ehemaligen Personalreferenten Leopold Kraft. Für ihn hatten sich unter Pandaks Obmannschaft unerträgliche bis katastrophale Zustände etabliert. Ein aufrechter Mann im Kuratorium des Casinos hat bei dieser Mitteilung gefragt, ob der Mann schon von der Gestapo abgeholt worden ist. Dies ist leider nicht der Fall. […] Wie heilsam aber wäre so eine Abholung zur Gestapo. Nur wenige Tage würden genügen um die „Volkskommissare“ des Spielbetriebes in Baden würden als stille Lämmer an die gut bestellte Futtergrippe zurückkehren.32 In dem Gewirr an Anzeigen, Diffamierungen und Gerichtsverfahren fielen manche Ungereimtheiten da fast schon unter den Tisch, wie dass zwei Zauberer, Spiridione Musti und Gaston Cambron, das Casino um 1.500 RM erleichtert hatten oder ein 17-jähriger Lehrling gar um 2.000 RM.33 Und als es darum ging, die Auflösung der bestehenden Dienstverhältnisse ordentlich abzuwickeln, platzte die nächste Bombe. Ordentliche Abfertigungen gab es nur für jene, die auch ordentlich angemeldet waren. Und siehe da bzw. Sepp Mayer sah, dass ich mit der Dienstverpflichtung allein keine durchgreifende Ordnung in die Abwicklung bringen kann, es wurde vom Arbeitsamt eine Anzahl von Gefolgschaftsmitgliedern nicht sofort dienstverpflichtet, die Tage des Beginns der Dienstverpflichtung waren verschieden, einige Arbeitskräfte werden nur zeitlich dienstverpflichtet und eine nicht unerhebliche Anzahl von Arbeitskräften konnte überhaupt nicht dienstverpflichtet werden, weil sie im Augenblick nicht greifbar waren.34 Dann gab es noch die nicht wenigen ausländischen Arbeiter – hauptsächlich Italiener, aber auch Belgier, deren Namen man fallweise nicht einmal wusste. So konnte der richtige Name eines Belgiers, den man zuvor der „Engländer“ oder „Bob“ genannt hatte, erst nach eingeleiteter Recherche eruiert werden.35 In Anbetracht der verfahrenen Situation, im Angesicht des sich auftuenden halb- und vollkriminellen Molochs, stand sogar im Raum, einen Teil der Abfertigungen vorerst nicht auszuzahlen und sie stattdessen auf ein Sperrkonto zu transferieren – man wandte dieselbe Praktiken wie bei den Juden nun gegen Volksgenossen an. 32 Ebd.; f39 – Kraft an Dr. Pulheim (31.08.1944). 33 Vgl. ebd.; f44 – Strafverhandlung (13.09.1944) und f100 – Gerichtsverhandlungsbericht (23.10.1944). 34 Ebd.; f25 – Mayer an Reichstreuhänder und Reichsministerium für Inneres (13.09.1944). 35 Vgl. ebd.; f102 – Kriminalpolizeidienststelle Wien an Dr. Ziegler (25.10.1944).
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Verkomplizierend war außerdem, dass eine Betriebsstilllegung in den Augen vieler kein gewohntes Kündigungs- oder Entlassungsprozedere beinhalten hätte. Hinzu kamen verschiedene Möglichkeiten der Anrechnung von Dienstzeiten, Berechnungen von Abfertigungen sowie Rück- und Nachzahlungen. Wir dürfen nicht vergessen, etliche mussten zwischendurch einrücken oder wurden sonstwie kriegsbedingt versetzt – wie war dann mit ihren Fehlzeiten zu verfahren? Alles war Premiere. Es gab keine Blaupause. Und es ging schließlich um Dutzende Gefolgschaftsmitglieder. Und einige von ihnen hatten ihre Arbeitsverträge noch in einer Zeit abgeschlossen, wo es einen Bundesstaat Österreich gegebenen hatte und ein österreichisches Angestelltengesetz. Fest stand, einige Rechtsanwälte rieben sich die Hände ob des bald über sie hereinbrechenden Geldregens. Es folgten Klagen und Gegenklagen, etliche Komplikationen waren vorprogrammiert. Rechtsanwalt Dr. Hans Mann verlangte für seine Dienste – er hatte den 1,5 Millionen-Vergleich mit der Gefolgschaft für den Oberprokurator Gauhauptmann Sepp Mayer ausgehandelt – ein sattes Honorar von 12.000 RM.36 Zwei Monate später, im November 1944, schien das Geld immer noch nicht überwiesen, allerdings hatten sich auch gewisse Parameter verändert. Rechtsanwalt Hans Mann wurde durch eine Fliegerbombe getötet, nun übernahm im Namen der Witwe, Grete Mann, Dr. Karl Schreiber die Angelegenheit und fragte dezent nach, weshalb die 12.000 RM noch nicht überwiesen worden seien.37 Doch der Oberprokurator Sepp Mayer war mit den Diensten des Verstorbenen nicht ganz zufrieden gewesen, die Summe von 12.000 RM hielt er für nicht angebracht – wobei Mayer jetzt nicht den nächsten Prozess eröffnen wollte. Für ihn war die Sache wahrlich eine unerquickliche Angelegenheit. 5.000 RM wäre er bereit zu zahlen, aber im selben Atemzug schlug er noch weitere 3.000 drauf, um dem tragischen Ende des für die Partei verdienstvollen Rechtsanwalt Rechnung zu tragen […].38 Die Witwe zeigte sich erquickt. Das Debakel rund um die Casinoschließung war natürlich für Baden äußerst peinlich. Gauhauptmann Mayer schlug auch vor, den Prozess – schließlich wurden mehrere Croupiers und Spieler verhaftet – in Wien abzuhalten, und nicht in Wiener Neustadt. Im Interesse der Spielbank liegt es nicht, dass eine größere die Öffentlichkeit zweifellos stark interessierte Strafsache in einer Kleinstadt durchgeführt wird, wo trotz aller Rücksicht nicht verhindert werden kann, dass zahlreiche Personen davon sprechen.39 Dass in so einem Fall der Gang vor Gericht auch in Friedenszeiten zu jahrelangen Prozessen führen würde, war so sicher wie das Amen im Gebet. Und der Krieg machte es ja nicht besser. Die Gerichte, die Kläger und Ankläger mussten sich auf Verzögerungen einstellen, die in kriegsfreien Zeiten eher nicht vorkommen würden. Involvierte Juristen mussten einrücken, fielen an der Front oder wurden, wie im Falle von Hans Mann, von alliierten Bomben getötet. 36 37 38 39
Vgl. ebd.; f26 – Mann an Mayer (07.09.1944). Vgl. ebd.; f110 – Schreiber an Mayer (02.11.1944). Ebd.; f112 – Mayer an Schreiber (13.11.1944). Ebd.; f77 – Mayer an Generalstaatsanwaltschaft (09.10.1944).
Kapitel 30 Pathologische Zuversicht
Im Dezember 1944 musste das Casino und das sich darin befindende Inventar von der Polizei bewacht werden.40 Noch bis zum März 1945 tagte die Justiz zur Causa Badener Spielbank und hätte es sicher noch länger getan, wenn das NS-Regime nicht zuvor durch die alliierten Mächte niedergerungen worden wäre.41 * Mit den Angestellten der Spielbank und den Wehrmachtssoldaten haben wir in Baden zwei Gruppen, die eindeutig eine privilegierte Stellung einnahmen bzw. lange Zeit eingenommen hatten. Erstere waren ganz offensichtlich finanziell viel bessergestellt und Zweitere genossen eine bessere Versorgung und Behandlung, und das nicht nur medizinischer Natur. Für die die Straßen und Gassen nachts patrouillierende SA gab es ab August 1944 nicht nur klare Dienstzeiten (22:00 bis 24:00), sondern genauso klare Anweisungen, verdächtige Vorkommnisse sofort zu melden. Zweck dieser Patrouillen war der Bevölkerung die Wachsamkeit des Regimes vor Augen zu führen und das Vertrauen in den „Endsieg“ zu beflügeln. Die SA-Männer waren bewaffnet und zum rigorosen Einsatz bei Sabotageakten ermächtigt. Ansonsten hatte man die Order, freundlich, aber mit energischem Ton Ausweiskontrollen durchzuführen, insbesondere bei Ausländern, da diese im Verdacht standen, übermäßig viel zu lärmen und deutsche Frauen zu belästigen. Einzig mit Wehrmachtsangehörigen jederzeit auf gutem Fuß zu stehen und eventuell Verfehlungen nicht in dem Ausmaße, wie bei Zivil, bewerten.42 Die eindeutige Besserstellung kam sicher nicht bei allen gut an. Hier kommen wir wieder zu den mannigfaltigen Mängeln in all ihren Daseinsformen, die 1944 eine weitere Steigerung erfahren mussten. Im Jänner 1944 wurde von offiziell interner Seite die Versorgung mit Lebensmitteln als geordnet bezeichnet. Und was das Heizmaterial anbelangte, hier sah es dann eher „ungeordnet“ aus. Die Versorgung mit Öfen und Herden war weiterhin katastrophal. Und der Mangel an Bekleidung und Schuhen beeinflusst zum Teil auch die Arbeitsleistung und Stimmung empfindlich.43 Apropos „katastrophal“. Da diesem Wort doch etwas Negatives anhaftet, verordnete die Kreisleitung unter dem Titel Ausmerzung des Wortes „Katastrophe“, eben jenes aus dem Wortschatz zu streichen.44 Landrat Wohlrab und vor allem die Kreisbevölkerung werden solch sprachliche Nuancen eher kalt gelassen haben. Man klagte und mahnte, reichte Gesuche ein – mehr konnte man ohnehin nicht mehr machen, abgesehen von vereinzelten gut gemeinten Aktionen, die zugleich eine unübersehbare Hilflosigkeit aufzeigten. Das Neupflanzen von 10.000 Obstbäumen sollte den Obstmangel an der Wurzel packen. Allerdings gingen die bestehenden Obstbaumplantagen aufgrund des harten Winters und der unsachgemäßen Betreuung 40 41 42 43 44
Ebd.; f178 – Bewachung des Casinos (20.12.1944). Vgl. ebd.; f178. StA B, GB 052/Parteiform. III; Fasz. I SA; Befehlsausgabe. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Jänner 1944. Vgl. StA B, GB 052/Kreisleitung; Fasz I; Lagebericht Juli 1944
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infolge des Fachkräftemangels zugrunde.45 Im März 1944 klagten vor allem Landwirte in den höheren Lagen des Landkreises über Schneemassen und den totalen Ausfall von Tierfutter. Das Heu war fast vollständig aufgebraucht. Doch nicht nur das Vieh litt Hunger. Auch die Kartoffelknappheit wird immer fühlbarer, umso mehr weil der gänzliche Ausfall von Sauerkraut und Hülsenfrüchten sich besonders für die Ernährungslage beunruhigend auswirkt.46 Aber dann, im April 1944, hieß es auf einmal: Lebensmittel: Die Versorgung der Bevölkerung ist geregelt. Und das obwohl: Der Kartoffelmangel macht sich bereits in vielen Haushalten recht empfindlich bemerkbar. Nach wie vor wird aus allen Gemeinden der Mangel an Gemüse gemeldet. Außer Spinat war überhaupt kein anderes Gemüse zu haben.47 Das sind übrigens Sätze, die nacheinander aufgeschrieben wurden. Dass das fallweise keinen Sinn ergab oder sich widersprach, schien nicht aufzufallen. Und dass, wie anfangs erwähnt, die Kur in der Badener Zeitung kaum Erwähnung fand, lag auch daran, dass sie dem Brennstoffmangel zum Opfer gefallen war. Die meisten Schwefelbäder konnten nicht mehr beheizt werden, jedenfalls nicht für Zivilisten. Hinzu kam es zu Einschränkungen der Öffnungszeiten bei den Wannenbädern. Dienstag, Mittwoch und Donnerstag waren diese nicht mehr zugänglich.48 Bedenkt man, dass damals nicht alle Haushalte über Duschen oder Badewannen verfügten, so wirkte sich die Schließung der Wannenbäder auf die Hygiene äußerst negativ aus – der saubere Volkskörper war nicht mehr. Genauso erging es dem satten und gesunden Volkskörper. In der Badener Zeitung erschien im August 1944 ein Artikel, in dem davor gewarnt wurde, verdorbene Lebensmittel zu verzehren.49 Offenbar kam es mittlerweile dazu! Besser hatten es jene, die von irgendwo Extrarationen erhielten, wie Ingeborg Hackl, deren Vater Verpflegungsoffizier in Belgrad war und von dort die Familie in Baden mit Mehl, Bohnen, Gänsefett und vor allem dem Zahlungsmittel Tabak versorgte. Er schickte die Sachen in verlöteten Blechwürfeln, um allzu leichten Diebstählen vorzubeugen.50 Mangelnde Ernährung, fehlende Hygiene, da waren Unterernährung und allerlei Krankheiten nicht weit. Gertrud Maurer musste miterleben, wie ihre Mutter mit Furunkeln übersät war und der Vater von einem nässenden und übelriechenden Ausschlag zwischen den Zehen gequält wurde. Sie selbst schlug sich mit Schafblattern herum. Für die behandelten Ärzte nichts Neues – der Mangel forderte eben seinen Tribut!51 Es waren logische Wechselspiele. So konnte sich der Lebensmittelmangel auf unterschiedlichen Ebenen bemerkbar machen – nicht nur an dem geschwächten Körper. Der Mangel an Geflügel auf dem Esstisch führte zu einem Mangel an Bettfedern in Pölstern.52 45 46 47 48 49 50 51 52
Vgl. BZ Nr. 6 v. 22.01.1944, S. 2. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, März 1944. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, April 1944. Vgl. BZ Nr. 92 v. 18.11.1944, S. 2. Vgl. BZ Nr. 63 v. 09.08.1944, S. 2. Vgl. MAURER Rudolf, Befreiung? – Befreiung! Baden 1945 – 1955 (Baden 2005), S. 4. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944 - 1945, S. 49. Vgl. BZ Nr. 68 v. 26.08.1944, S. 4.
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In Bezug auf mangelnde Hygiene und die daraus folgenden Erkrankungen spielten allen voran die Wohnverhältnisse eine große Rolle. Zustände wie in der Gymnasiums-Straße 22 – Wände morsch, Fußboden verfault – strapazierten die angeschlagene Gesundheit zusätzlich. Es war nicht die einzige Wohnung, deren Wände bis auf eine Höhe von zwei Metern nass war. Weitere befanden sich in der Wassergasse 15 oder der Schlossgasse 15. In der Andreas-Hofer-Zeile 15 war der Fußboden größtenteils morsch, in der Schlossgasse 15 faulte ebenso der Fußboden weg, während die Decke quadratmetergroße Löcher aufwies. Oder die Mühlgasse 19. Hier treffen wir auf eine Dachgeschoßwohnung, bestehend aus einem Raum mit drei Dachschrägen. Die Toilette befand sich im Stockwerk darunter. Heizmöglichkeiten? Fehlanzeige! Und die Wasserleitung musste im Winter wegen Frostgefahr abgesperrt werden. Für Wohnzwecke eigentlich ungeeignet, aber im Oktober 1944 konnte sich das Wohnungsamt schon durchaus vorstellen, hier Volksgenossen unterzubringen. Einzig ein Rauchfang müsste eingebaut werden. Bewohnbar wäre die Wohnung selbstverständlich nur auf Kriegsdauer, so wie all die anderen Wohnungen, die von Feuchtigkeit und Schimmelpilzen zersetzt wurden.53 Der Wille zur Sanierung war zugegebenermaßen vorhanden, doch fehlten die Ressourcen. Baumeister Robert Haydt wandte sich im Mai 1944 etwas ratlos an Reichstatthalter Hugo Jury, als er den Auftrag erhielt, Wohnraum zu schaffen. Er wusste um die Dringlichkeit, nur ohne Baumaterial konnte er nicht zur Tat schreiten, ebenso wenig seine ihm zugewiesenen Kriegsgefangenen – die wiederum in ausreichender Zahl vorhanden waren.54 Um die vielfältigen Mängel in den Griff zu bekommen, setzte das Regime wie all die Jahre davor auf Kontingentierung sowie offene und versteckte Zwangsmaßnahmen. Im Februar 1944 wurden die Frischmilchrationen, die jedem Erwachsenen zustanden, nur mehr an jeden Haushalt ausgegeben.55 Im September wurden die Weinhauer verpflichtet, pro 1000 Stock Weingarten mindestens 10 Kilo Trauben für Kinder, Verwundete, Kranke und Fronturlauber abzugeben. Schmid teilte mit, dass die Kreisbauernschaft Baden, die Zuteilung von Zucker für die kommende Weinlese davon abhängig machen wird, dass jeder Weinhauer seine Ablieferungspflicht, die in diesem Fall nur einen kleinen Beitrag zur Ernährungssicherung bedeutet, voll nachkommen wird.56 Und es gab auch das altbekannte Hin-und-her-Getausche-und-Gekürze, wie im Oktober während der 68. Zustellungsperiode. Für den Normalverbraucher gab es wöchentlich 200 g und für Kinder unter sechs Jahren 100 g weniger Brot. Mehr erhielten hingegen die Lang- und Nachtarbeiter, bei den Schwerarbeitern blieb alles unverändert, und bei den Schwerstarbeitern wurde wiederum reduziert.57 Niedergeschrieben war dies naturgemäß im schönsten Beamtendeutsch. Die Inhaber der Bezugsausweise für Speisekartoffel, welche 53 54 55 56 57
Vgl. StA B, GB 341/Hochbau III; Fasz. I Amtsberichte an das Wohnungsamt; 1944. Vgl. NÖLA; Reichstatthalter Gkc 15, K20. Vgl. BZ Nr. 9 v. 02.02.1944, S. 3. StA B, GB 322/Wein-, Obst- u. Gemüsebau I; Fasz. I – (14.09.1944). Vgl. BZ Nr.80 v. 07.10.1944, S. 3.
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wegen Nichtausnützung der szt. Einkellerungsmöglichkeit im laufenden Bezuge von Speisekartoffeln stehen, erhalten auf die Bezugsabschnitte I, II und III auf Grund des abgegebenen Bestellscheines 62 eine Wochenmenge von je 250 kg Speisekartoffeln. Der Wochenabschnitt IV der 62. Zuteilungsperiode wird nicht mit Speisekartoffeln beliefert. […]. Über die als Ausgleich für den in der 4. Woche der 62. Zuteilungsperiode entfallenden Kartoffelbezug zu gewährende Lebensmittelkarte und Menge folgt eine gesonderte Weisung.58 Für Kenner der Materie in den amtlichen Kartenstellen war der Technolekt sicher nicht das Problem. Viel eher waren es die leeren Lager und die langen Schlangen davor. Seit April 1944 kam kaum mehr was nach. Im Mai 1944 erhielt Gertrud Maurer ihre letzten neuen Schuhe, zwar Bubenschuhe, aber immerhin.59 Nicht minder niederschmetternd muteten die in kämpferischer Sprache verfassten Berichte über die Nähstuben an. Frauen recycelten aus alten Stoffen neue Gewänder, für Alltag, Front und „Endsieg“. Und für jeden zu Hause gab es eine Anleitung, wie man in Eigenregie Schnürsenkel herstellen könnte.60 Das förderte nicht nur die deutsche Handwerkskunst und Kreativität, sondern entlastete die Kartenstellen – wo übrigens der Personalmangel dazu führte, dass man gezwungen war, auf minderjährige Aushilfen wie Gertrud Maurer zurückzugreifen, um den Betrieb irgendwie noch am Laufen zu halten.61 Landrat Wohlrab wusste nicht mehr weiter: Beim Wirtschaftsamt stehen die Leute Tag für Tag Schlange und kommt es täglich zu recht unliebsamen aufregenden Szenen. Die Mengen der zugewiesenen Schuhe und Textilwaren reicht kaum für einen Bruchteil der gestellten Anträge aus. Das war aber für Wohlrab nicht das einzige Problem. Ein Großteil der abgewiesenen Antragsteller kommt daher zum Landrate persönlich, der ja auch nicht helfen kann und durch nutzlose langwierige Verhandlungen an den Vormittagen an jeder anderen Arbeit gehindert wird.62 Alles war dermaßen knapp bemessen, dass, wer zu spät kam, mit leeren Händen wieder nach Hause gehen musste. Bei der Weinausgabe – Flaschen und Korken waren mitzubringen – verfiel von jedem der Anteil, der den Termin versäumte. Nichts wurde aufgehoben oder nachgeliefert.63 Und wer zu viel hatte, dem wurde es weggenommen. Volksgenossen, die zum Beispiel selbst Butter herstellen konnten, durften keine Buttermarken erhalten, und Betriebe, die keine Genehmigung zur Butterherstellung besaßen, aber dafür die Gerätschaften, denen wurden diese konfisziert.64 Nichts durfte doppelt bezogen oder produziert werden. Nach gleicher Logik gestaltete sich die Fahrradbeschlagnahmung im Oktober 1944. Der DAF-Kreisobmann Ernst Ziegler schlug Bürgermeister Schmid vor, der Familie Burkhartshofer zwei ihrer vier Fahrräder
58 59 60 61 62 63 64
Vgl. BZ Nr. 37 v. 10.05.1944, S. 3. Vgl. MAURER, Das 1000jährige Reich II, S. 205. Vgl. BZ Nr. 38 v. 13.05.1944, S. 3 und BZ Nr. 65 v. 15.08.1944, S. 2. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 186. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, April 1944. Vgl. BZ Nr. 38 v. 13.05.1944, S. 5 und BZ Nr. 66 v. 19.08.1944, S. 5. Vgl. BZ Nr. 100 v. 16.12.1944, S. 2.
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wegzunehmen, der Familie Chaudoir ihr Zweitfahrrad, und dann gab es noch Gertrude Büx, die ein Damenfahrrad besitzt, das praktisch nur zum Spazierfahren benützt wird. Ich möchte Dich bitten, Bürgermeister, trotzdem dass es ein Damenfahrrad ist, es für den Grenzeinsatz zu beschlagnahmen, da sich schon viele Werktätige darüber aufgehalten haben, dass dieses 16-jährige Mädel, das in eine höhere Schule geht, ein Rad besitzt. Im Falle der Familie Burkhartshofer gab es übrigens ebenso öffentliche Erregung, denn während Mann und Sohn eingerückt waren, fuhr die Frau nach Aussage der Hausparteien mit dem Damenfahrrad „tratschen“ herum.65 Es stellt sich für mich die Frage, was eigentlich peinlicher war, dass man gezwungen war, Volksgenossinnen ihre Damenfahrräder wegzunehmen oder dass darauf anschließend Soldaten ihren Grenzdienst versehen mussten.
Tödliche Premiere Man mochte den Radio einschalten, wann man wollte, immer war die Luftlagemeldung: „Feindliche Kampfverbände im Anflug auf…, über…“ oder „…im Anflug von West- (oder Nordwest-)deutschland.“66 Das Nichtgeglaubte wurde Wirklichkeit und es war ein Novum. Die Stadt Baden musste in ihrer Geschichte schon mehrmals Plünderung, Brandschatzung und feindliche Besatzungsmächte über sich ergehen lassen. Es war nicht der erste Krieg, der einen hohen Blutzoll forderte, aber noch nie zuvor in der Stadtgeschichte fielen Bomben auf die Kurstadt darnieder. Am 12. April 1944 war es soweit. Baden war zwar als Lazarettstadt deklariert und der Fokus der US-amerikanischen Luftkriegsstrategie lag auf konzentrierten Luftangriffen gegen feindliche kriegswirtschaftliche Industrieziele – Baden als Kurstadt passte demnach so gar nicht in das Konzept –, aber die Stadt war nun einmal von diesen kriegswirtschaftlichen Industriezielen umgeben. Auserkoren an diesem 12. April 1944, um vom Erdboden getilgt zu werden, waren die Messerschmitt-Werke in Wiener Neustadt, Fischamend und Bad Vöslau. An diesem Luftangriff waren um die 650 Kampfflugzeuge beteiligt. Allein über dem Fliegerhorst und dem Stadtgebiet Bad Vöslau wurden an die 500 Bomben abgeworfen. Nicht unüblich war es in solchen Fällen, wenn Bomber über das geplante Abwurfgebiet hinausgerieten und noch Bombenlast übrig war, die tödliche Fracht halt woanders abzuwerfen. Es sollten die Weinberge am Harterberg werden. Mehrere Weinhauer fanden den Tod.67 Darunter befand sich auch die die 15-jährige Schülerin Maria Nachtnebel. Für ihren Vater, Friedrich Nachtnebel, sollte es aber nicht bei der einen Tragödie bleiben. Als er 1944 um ein Ehestandsdarlehen ansuchte, hieß es von Seiten der Ortsgruppe Leesdorf lapidar: Sein Verhalten in der Systemzeit war gleichgültig. Sein derzeitiges Verhalten ist teilnahmslos. 65 Vgl. StA B, GB 231/Polizeiakten 1938–1945 I; Fasz. II: Burkhartshofer. 66 WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 53. 67 Vgl. BREZINA, ZGIERSKI, Bad Vöslau 1938–1945, S. 274f u. 286.
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Nachtnebel ist Bombengeschädigter und ist seine Frau [Christine Nachtnebel] einem Terrorangriff zum Opfer gefallen. Der obige arbeitet nicht gerne, seine wirtschaftlichen Verhältnisse sind mäßig. Spenden gibt er angemessen. Nachtnebel hat auch sein einziges Kind beim Terrorangriff am 12.4.1944 verloren.68 Die Überzeugung, dass die Arbeit auf dem Felde sicherer wäre als in der Fabrik, wurde zwar am 12. April 1944 Lügen gestraft, doch rein statistisch und nach Hausverstand war es tatsächlich so. Fabriken zu bombardieren war eindeutig lukrativer als Weinberge. So pochten Gertrud Maurers Eltern darauf, dass ihre Tochter anstatt in irgendwelchen Werkhallen ihren Arbeitsdienst lieber auf den Badener oder sonstigen Feldern absolvieren sollte.69 Man wollte so gut es ging vermeiden, dass sie das gleiche Schicksal erleide wie etwa Gerda Schierach. Die junge Frau verrichtete im März 1944 ihren RAD in Steyr, wo sie hautnah eine Bombardierung miterleben musste. Als sie wieder nach Baden zurückkehrte, machte sie auf ihre Mutter, Anna Sofia Schierach und deren Freundin, Erna von Heyszl, einen dermaßen verstörten und beklagenswerten Eindruck, dass beide Frauen um den Verstand der jungen Kriegshilfsdienstmaid fürchteten.70 Noch dazu sollte Gerda Schierach erneut in Steyr zum Einsatz kommen. Dabei, so Anna Sofia Schierach und Erna von Heyszl übereinstimmend – beide Frauen wandten sich an die Bezirksführerin des RAD Hackenberg –, werde Gerda Schierach noch immer von Albträumen heimgesucht, wo ihr abgerissene Köpfe und entstellte Leichen toter Kameradinnen erscheinen würden. Und beide Frauen wiesen darauf hin, dass es genug junge Menschen gäbe, die sich vor dem RAD erfolgreich gedrückt hätten. Weshalb, so die Mutter, müsse nun ausgerechnet ihre Tochter, die doch verlobt sei und demnächst dem Führer Kinder schenken wollte – dazu bräuchte es schließlich eine gesunde Physis und Psyche –, wieder der Gefahr eines Bombenangriffes ausgesetzt werden. Die Führerin des Bezirkes XXI Donauland des RAD Hackenberg zeigte sich jedoch unbeeindruckt. Sie kontaktierte Kreisleiter Gärdtner und schlug vor: Ich fände es sehr wichtig, wenn Sie als Hoheitsträger diesen beiden Frauen den sich aus unserer heutigen Zeit für das gesamte deutsche Volk ergebenden notwenigen Einsatz klar vor Augen führen würden. Des Weiteren wären Gerda Schierach sowie 449 weitere Kriegshilfsdienstmaiden wieder in Amt und Würden, und bezüglich der Bombardierung hätte man kleine und geringfügige Blessuren erlitten – von zerfetzten Leichen weit und breit keine Spur. Und was das anbelangte: Auf die in den beiden Briefen angeführten Einzelheiten gehe ich gar nicht ein, da im Fall der Kriegshilfsdienstmaid Schierach ständig von irgendeiner Seite Briefe bei mir einlangen. Dass ich heute an jedes einzelne Gesuch den allerstrengsten Maßstab anlegen muss, um die an den Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend gestellten Anforderungen innerhalb meines Bezirksbereiches gerecht zu werden zu können, brauche ich Ihnen gegenüber nicht besonders zu betonen.71 Die „Boden68 StA B, GB 052/Personalakten: Friedrich Nachtnebel (geb. 1904) –Ortsgruppe an Kreisleitung (05.09.1944). 69 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 140. 70 Gerda Schierach (geb. 1925), Erna von Heyszl (geb. 1887). 71 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schierach Anna Sofia (geb. 1900) – RAD an Kreisleitung
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ständigkeit“ der Bezirksführerin machte auf Gärdtner Eindruck. Er beorderte wie erbeten Anna Sofia Schierach und Erna von Heyszl zu sich, um ihnen ins Gewissen zu reden. Auf deren Einwand, dass es nicht ganz wenigen weiblichen Jugendlichen gelinge, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen, begegnete ich mit dem Hinweis darauf, dass es Pflicht sei, sich nach dem Beispiel der Anständigen und nicht nach dem der Unanständigen zu richten. Die beiden Frauen sahen das auch ein und schieden nach längerer Aussprache beruhigt und getröstet.72 Gelegenheit, sich an den Anständigen zu orientieren, bekam man in Baden nur wenige Tage später. Am 23. April 1944 wurde erneut die Region rund um Wiener Neustadt, Bad Vöslau und Schwechat durch die alliierten Bombengeschwader anvisiert. Es war ein Großangriff auf die deutsche Flugzeugindustrie im gesamten Wiener Raum. In Bad Vöslau sollte der Fliegerhorst restlos zerschlagen werden. Um die 950 Kampfflugzeuge (Bomber und Begleitjäger) nahmen an diesem Angriff teil.73 Baden war alarmiert. Die Feuerwehr rückte aus. Eine sechsfache Mutter war diesmal unter den Opfern. Am 24. April wieder ein Fliegerangriff. Diesmal schwieg die Badener Zeitung. Ängste und Sorgen wurden dennoch wahrgenommen. Die BZ verfasste verklausulierte Artikel, dass solche Tragödien besorgniserregend seien, aber kein Grund für gedankenloses Geschwätz und defätistische Neigungen. Viel mehr gebühre es, den Widerstandwillen zu heben und den Hass gegenüber dem Feind lebendig zu halten.74 Es gab da auch das Gerede von Rache- und Vergeltungsangriffen. Das Volk verlangte schließlich danach, und der NS-Staat versprach sie auch – es blieb beim Versprechen. Ohne Lufthoheit, Bomber und Treibstoff war da halt nicht viel zu machen. In der BZ finden wir deswegen, wenn wir zwischen den Zeilen lesen, auch nüchterne bis resignierende Zeilen – natürlich nicht auf der Titelseite. Nach einer Bombardierung, so die Badener Zeitung, sollte gemeinsam aufgeräumt werden, Scherben Aufsammeln, Unrat Entsorgen, sich gegenseitig zu helfen, jeder freiwillige Handgriff konnte hilfreich sein, man appellierte an ein verständnisvolles Miteinander.75 In dieselbe Kerbe schlug auch die Kreisleitung im Juli 1944. Das luftschutzmäßige Verhalten der Bevölkerung bei Luftangriffen lässt zwar noch zu wünschen übrig, die Haltung aber ist gut und bei Schadensfällen initiativ.76 Der Ausdruck „initiativ“ zeigt augenscheinlich, wie es mit dem Luftkrieg damals so stand. Mit anderen Worten, die NS-Spitze war nicht mehr in der Lage, ihre Volksgenossen vor feindlichem Bombenterror zu schützen. Aber zumindest, nachdem der Feind seine tödliche Fracht abgeworfen hatte, würde die Bevölkerung danach bei den Aufräumarbeiten eine durchaus gute Figur machen. Was sich also im Vorjahr, von Baden aus gut sichtbar, am Horizont über Wiener Neustadt zusammengebraut hatte, war demnach nur der Vorgeschmack auf das, was 1944 nun
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(24.03.1944). Ebd. – Kreisleitung an RAD (11.04.1944). Vgl. BREZINA, ZGIERSKI, Bad Vöslau 1938–1945, S. 279 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 24f. Vgl. BZ Nr. 34 v. 29.04.1944, S. 3. StA B, GB 052/Kreisleitung; Fasz I; Lagebericht Juli 1944.
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folgen sollte. Die lange Zeit belächelten Luftschutzmaßnahmen wurden jetzt zum überlebensnotwenigen A und O. Zu den dominierenden Themen der Badener Zeitung 1944 gehörte die Luftschutzthematik. In fast jeder Ausgabe stoßen wir auf zehn bis zwölf Anzeigen wegen mangelnder Verdunkelung.77 Im Winter galten die Verdunklungsmaßnahmen von 16.00 bis 07.30 Uhr und im Sommer von 22.00 bis 4.00 Uhr in der Früh. Anfang Oktober, erinnerte sich Gertrud Maurer, war in allen Gassen regelmäßig ein Kuckuck zu hören. Ein Warnsignal, das darauf aufmerksam machte, dass demnächst Luftschutzsendungen im Radio zu hören sein würden. Neben dem Kuckuck aus den Radioapparaten begannen sich die Menschen gegenseitig Kuckuck zuzurufen und eilten schleunigst nach Hause bzw. zum nächstbesten Luftschutzbunker. Alles war reglementiert. Je nach Sirene wusste die Bevölkerung, was demnächst am Himmelszelt erscheinen würde, wohin es flog, wo man sich verstecken sollte und was man mitnehmen durfte. Des Weiteren wurden ununterbrochen Vorkehrungen gegen Bombenangriffe und Bombenschäden getroffen. Dachböden mussten von allen leicht entflammbaren Dingen geräumt, die Dachstühle mit feuerfester Farbe bestrichen und überall sollten griffbereite Wasserbehälter oder Sandsäcke platziert werden. Wenn man bedenkt, dass bei den Luftangriffen mehrere hundert Bomber zum Einsatz kamen, waren all die Maßnahmen bei genauerem Hinsehen oftmals reine Augenauswischerei.78 Zu der Palette an propagandistischen Kniffen, um das Unheil zu erklären, gesellte sich die Verharmlosung hinzu. So wurde die Wirkung von Brandbomben einfach heruntergespielt. In den von Brandbomben durchschlagenden Dachgeschossen und Stockwerken pflegten sich stets Entstehungsbrände von größerer Mächtigkeit zu entwickeln, die selbst beherzten Menschen zunächst Angst und Schrecken einjagen können. Um dem entgegenzutreten, empfahl die BZ eine Beherztheit und kühle Überlegung und zudem, sich ja nicht durch falsche Vorstellung vom „Phosphorregen“ zu Ängstlichkeit und Verzagtheit verleiten zu lassen.79 Anders ausgedrückt, wenn Bomber im Anflug waren, empfahl die Obrigkeit, sich ruhig zu verhalten. Solche Ratschläge waren eines, Kreaturen der Theorie. Denn sobald der Lärm der Flugzeugmotoren, das Pfeifen der Bomben, das Rattern der Bordgeschütze zu vernehmen war, waren Tipps und Tricks dieser Art augenblicklich Makulatur. Als Gertrud Maurer und ihre Kameradinnen während der Arbeit in den Weingärten von einem Fliegeralarm überrascht wurden, eilten sie, so schnell sie ihre Beine zu tragen vermochten, auf und davon. Zum Stehen kamen sie ausgerechnet am jüdischen Friedhof. Ob der Ort sicher war, war fraglich, aber hier waren sie auf alle Fälle alleine und ungestört. Am Boden zusammengekauert, erblickten sie, dass sie sich inmitten eines Erdbeerfeldes befanden. Die Angst vor dem Bomben wich der Freude, sich mit Erdbeeren den Bauch vollzuschlagen. Eifrig fingen sie an, die Früchte zu pflücken, bis plötzlich eine von ihnen in sich ging und zögerlich die Frage aufwarf: Meint ihr, sollen wir die essen? Denn schließlich, 77 Vgl. BZ Nr. 6 v. 22.01.1944, S. 4 und BZ Nr. 14 v. 19.02.1944, S. 3. 78 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 26 f, 51 u. 53. 79 BZ Nr. 30 v. 15.04.1944, S. 3.
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so ihre Überlegung, wuchsen die Erdbeeren auf einem Friedhof, und eines der Mädchen warf ein: Sie sind doch auf Toten gewachsen, aus toten Juden.80 Die Sorge bezüglich der Konsumation war gar nicht so abwegig für junge Menschen, die seit Jahren eingetrichtert bekamen, dass Juden Schädlinge, Parasiten und Gift für das deutsche Volk seien. Durfte man dann als Arier solche Erdbeeren zu sich nehmen? Die menschenverachtende Skurrilität war hier Normalität – änderte aber nichts daran, dass letztendlich sämtliche Erdbeeren verspeist wurden. Das Menscheln begegnet uns auf Schritt und Tritt und ist für mich immer dann am Faszinierendsten, wenn rundherum die Welt zusammenbricht. Inmitten des Chaos, wie wir es teilweise 1944 vorfinden bzw. wenn wir in die Luftschutzräume blicken, wo Mensch und Moral im Keller waren. Zu der Angst, Leben und Heim zu verlieren, kam noch die Furcht hinzu, dass die Zwangs- und Fremdarbeiter, denen oftmals der Zutritt zu den LSR verwehrt wurde, derweilen die unbeaufsichtigten Häuser und Wohnungen ausräumen könnten.81 Dicht zusammengedrängt, in stickigen und schlecht beleuchteten Kellern, gebannt wartend auf das Entwarnungssignal, musste nicht immer der Krieg oder die Politik als Gesprächsstoff herhalten. Es konnte genauso eine junge Frau sein, die nicht unweit von einem selbst apathisch dasaß, mit ihren drei Kindern. Man sah sie an, und es begann die Flüsterei, sie sei noch nicht zwanzig Jahre alt, die drei kleinen Kinder aber gehören ihr. Sie sei jedoch nicht verheiratet, denn der Vater ihres Freundes wolle sie nicht zur Schwiegertochter haben und erlaube daher seinem Sohn die Heirat nicht und der müsse sich fügen, weil er gleichfalls noch minderjährig sei.82 Während also auf der Erdoberfläche Gebäude zerbarsten und die Bombenexplosionen dumpf hörbar das Gemäuer zum Erzittern brachten, zerriss man sich darunter die Mäuler über Seinesgleichen. Klatsch und Tratsch als Möglichkeit der Ablenkung – es menschelte in bestialischen Zeiten. * Durch vermehrte Berichterstattung über Luftschutzmaßnahmen und die zahlreichen aufoktroyierten Benimmregeln versuchte das NS-Regime, die Situation zu normalisieren und vorzugaukeln, dass es alles im Griff hätte. Solange sich die Bürger an die vorgegebenen Maßnahmen halten würden, könne das Schlimmste abgewendet werden. Noch dazu wurden die Bombardierungen als etwas Temporäres dargestellt. Sich auf das Vergeltungs- und Rachegerede und das Daherschwadronieren über Wunderwaffen stützend, suggerierte die NS-Propaganda, dass demnächst wieder das Deutsche Reich in die Offensive gehen würde. Bis dahin hieß es ausharren, an den Führer glauben und Dachstühle mit feuerfester Farbe bestreichen. Und wir dürfen eines nicht vergessen, der Bombenterror kam zum „gewöhnlichen“ NS-Terror noch hinzu. Denn die Schergen des NS-Regimes hörten schließlich nicht 80 MAURER, Das 1000jährige Reich I, S. 145. 81 Vgl. BREZINA, ZGIERSKI, Bad Vöslau 1938–1945, S. 272. 82 MAURER, Das 1000-jährige Reich I, S. 142.
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damit auf. Die Kombination beider Arten des Terrors musste der ehemalige Gemeinderat Georg Gehrer schmerzlich am eigenen Leib erfahren. Bei ihm waren es nicht die Bomben, die letztendlich sein Leben zerstörten, sondern das NS-Regime und dessen Reaktion auf sein eigentlich luftschutzkonformes Verhalten. Im April 1944 erhielt er als Spediteur den Auftrag, vom Badener Frachtenbahnhof Umzugskisten und Möbel, kommend aus Berlin, abzuholen. Die Bahnhofsverwaltung machte ihm bereits Druck, da sie aufgrund der Bombengefahr keine Verantwortung für das Frachtgut zu übernehmen gedachte. Zwischengelagert bei ihm im Hof sollen die Sachen sich nun mehrere Tage in seinem Besitz befunden haben. Infolge der damaligen schweren Bombenangriffe und Überbürdung mit Arbeit, habe Gehrer erst am 3. Tage telefonisch mit dem Besitzer Kontakt aufnehmen können. Zuerst habe sich ein Fräulein durch das Telf. gemeldet und hierauf ein ihm unbekannter Herr, mit welchem es zum Schluss hart auf hart hergegangen ist. Gehrer fragte, ob sie heute um 14 Uhr ihre Möbel abholen, wenn nicht, so sende er dieselben wieder nach Berlin an den Absender zurück.83 Was Georg Gehrer nicht wissen konnte, bei dem Besitzer handelte es sich um Friedrich Breker – einer der SD-Männer, vor denen Baden gezittert haben soll (siehe Kapitel 4 Exekutive). Und er stattete daraufhin Georg Gehrer einen Besuch ab – im Schlepptau Hermann Krebs, der zweite SD-Mann, vor dem die Stadt gezittert hatte. Dieser behauptete bei seiner Einvernahme nach 1945, dass die Umzugskartons und Möbel vom Regen durchnässt gewesen seien sowie von Hühnern beschmutzt, die darin eine wunderbare Klettermöglichkeit und Toilette erkannten. Obendrein sollen russische Kriegsgefangene darauf gelungert haben. Ein Schaden von 10.000 RM solle hierbei entstanden sein.84 Laut Breker und Krebs hätte Georg Gehrer nicht nur die Sachen unsachgemäß gelagert, sondern sich noch eindeutig im Ton vergriffen, indem er sich anmaßte, einen Mann des SD dazu zu drängen, sein Zeug endlich abzuholen. Laut Krebs hätte Gehrer obendrein am Telefon großschnauzig von sich gegeben, Breker solle ruhig sein, sonst packe er den Krempl zusammen und schicke ihn zurück nach Berlin. Und als Breker den Einwand erhoben hätte, dass sich darunter auch Dinge eines Gestapobeamten befinden würden, solle Gehrer erwidert haben: „Ihre Berliner Gestapo ist mir gleichgültig“ und den Hörer aufgelegt haben.85 Über die vollkommene Absurdität, dass ein Mensch, der von NS-Schergen bereits nach dem Anschluss durch die Straßen getrieben wurde (siehe Kapitel 1), sich nun anschicken würde, quasi das Götz-Zitat gegenüber der Gestapo in den Raum zu werfen, also darauf müssen wir nun wirklich nicht eingehen. Während Gehrer nun Besuch von Krebs und Breker sowie weiteren Uniformierten erhielt, erstellte zwischenzeitlich Revierinspektor Josef Heitzer eine sehr ungünstige Beurteilung über ihn. Gehrer und seine Frau, Leopoldine Gehrer, mussten sich daraufhin ins Rathaus begeben, woselbst sie stundenlang verhört und förmlich gemartert wurden. Gleich 83 StA B, GB 052/Personalakten: Heitzer Josef – Aussage Gehrer (1884–1946) im Jänner 1946, im Schreiben Klingers an die Staatsanwaltschaft (16.12.1947). 84 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Krebs Hermann – Aussage (20.01.1947). 85 Ebd. – Krebs Aussage (17.01.1947).
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einmal 1,5 Jahre Dachau wurden in Aussicht gestellt. Danach wurde Georg Gehrer nach Wiener Neustadt zur Gestapo überstellt. Da schlussendlich nichts Stichhaltiges gegen ihn vorlag, wurde er noch am selben Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. Trotzdem, die Verhöre, die Einschüchterung mit KZ-Haft, das Rede-und-Antwort-Stehen vor der SS und Gestapo, man schrieb von hochpeinlichen Verhören – so etwas streift man als Betroffener nicht so einfach ab. Die Eheleute Gehrer mussten alle diese nervenaufzehrenden Prozedere ohne jedwede Hilfeleistung etc. über sich ergehen lassen und waren durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gar nicht in der Lage, sich gegen den geschilderten Terror mit Erfolg wehren zu können, weil sie beständig in Furcht und Unruhe versetzt waren bezw. leben mussten, weil ihnen die Einweisung in das KZ-Lager nach Dachau in Aussicht gestellt worden war, infolge des von Heitzer ausgestellten schlechtesten Leumundes.86 Die letzten Monate der NS-Herrschaft verbrachte das Ehepaar in Furcht und Schrecken, und das auf mehreren Ebenen. Jederzeit konnten Bomben vom Himmel fallen und jederzeit konnte die Deportation in ein KZ-Lager erfolgen. Nichts davon sollte eintreffen, doch die Angst und Anspannung soll Georg Gehrers Gesundheit dermaßen strapaziert haben, dass er bereits im März 1946 verstarb. Bombenopfer konnten übrigens genauso wie gefallene Soldaten mystifiziert werden. Auch in ihrem Fall begegnet uns eine mediale Theatralik, eine uns bereits bekannte Opferthematik – wie eben bei Gefallenen oder bei Geld- bzw. Sachspenden, mit all den Ehren, Pflichten und Würden. Ein anderes Bild ergibt sich allerdings, wenn wir den Blick von dem für die Öffentlichkeit bestimmten Schauspiel abwenden und ihn auf die Zustände am Badener Friedhof lenken. Nach den Bombenangriffen im April 1944 kursierten Gerüchte, wonach die Lagerung der Bombenopfer am städtischen Friedhof für Bestürzung sorgen würde. Josef Heitzer führte persönlich eine Inspektion durch und stellte tatsächlich ein Bild des Grauens fest. Hinter dem Gebäude der Friedhofsverwaltung stehen z.Z. 58 Särge. Die Särge sind zum Teil übereinandergeschichtet und mit Papierzetteln beschriftet. Der Großteil der Särge lässt sich nur schlecht schließen. Aus den Särgen fließt Blut und sind Blutspuren am Rasen und Gehweg zu sehen. Viele Neugierige stehen bei den Särgen umher und müssen immer wieder von einem Friedhofsarbeiter weggeschafft werden. Die Särge stehen in der Sonne, und es macht sich ein Leichengeruch bemerkbar. Ein Teil der Leichen u. zw. Zivilpersonen liegen noch uneingesargt am Boden in der Leichenkammer. […] Die Pietät erscheint in diesem Falle nicht gewährleistet.87 Bei der zwei Tage später erfolgten feierlichen Leichenbeisetzung waren Vertreter von Partei, Stadt, Staat und Wehrmacht anwesend, und in der Badener Zeitung war natürlich nichts von offenen Särgen, Blutlachen und Verwesungsgeruch zu lesen. Viel eher wurde herumposaunt und eingefordert, den Opfern treu zu gedenken, ihnen Dankbarkeit entgegenzubringen und sich ihrem Opfer als würdig zu erweisen. Der ganze Artikel umfasst einen einzigen Absatz. Der „Wiener Mozartgemeinde“ und ihrem nächsten Konzert widmete man auf derselben Seite mehr Raum.88 86 StA B, GB 052/Personalakten: Heitzer Josef – Klingers an die Staatsanwaltschaft (16.12.1947). 87 Ebd. – Bericht (14.04.1944). 88 Vgl. BZ Nr. 32 v. 22.04.1944, S. 3.
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Es ging bergab. Egal, ob man die Bombardierungen ausgeklügelt kleingeschrieben oder totgeschwiegen hätte – die von Bomben zerfetzten oder verschütteten Leichen ließen sich nicht „wegpropagandisieren“. Fakt war, die von Bomben getöteten Menschen wurden wie Tierkadaver hinter der Friedhofsmauer gestapelt. Nicht nur, dass das NS-Regime nicht mehr in der Lage war, seine Volksgenossen vor Fliegerangriffen zu schützen, es war auch nicht mehr in der Lage, die Opfer entsprechend zu bestatten. Propagandistisch war das eine weitere Schlappe für das NS-Regime, das zeitgleich einen Krieg gegen feindliche Propaganda zu führen hatte. Es waren nicht nur todbringende Bomben, die vom Himmel herabfielen, sondern auch den Endsieg und den Führerglauben zersetzende feindliche Flugblätter. Lüge und Geschwätz, hallte es aus allen NS-Rohren, wenn etwa geschrieben stand, dass das NS-Regime demnächst zugrunde gehe. Über so etwas zu reden, es anzudeuten oder zu verbreiten, war strengstens verboten, nicht einmal das Sammeln und Behalten dieses alliierten Lügengewäschs war gestattet. Wer dagegen verstieß, durfte kein Pardon erwarten. Himmler gab zu verstehen, dass auf Zuwiderhandeln gegen diese Anordnung Gefängnisstrafen und in schweren Fällen Zuchthaus oder die Todesstrafe steht.89 Das hinderte Ingeborg Hackl nicht daran, gebannt Feindsender zu hören, trotz Gefahr und dem Wissen um Peilsender, nur um in Erfahrung zu bringen, wo und wann die nächsten Flugblätter niedergehen würden.90 Um so ein verräterisches Verhalten gleich im Keim zu ersticken, wurden bei zu Boden geflatterten feindlichen Flugzetteln prompt die Oberstufen ausgehoben und zum raschen Aufsammeln rekrutiert. So fand sich Gertrud Maurer mit ihren Klassenkameradinnen Ende Mai 1944 hinter dem Ziegelhof wieder und suchte eifrig die Gegend nach vom Himmel gefallener alliierter Propaganda ab. Gefunden wurde ein einziges Exemplar, das sogleich der Finderin durch die Polizei aus der Hand gerissen wurde. Ein kurzer Blick war nur möglich, und geschrieben stand in etwa: Den Österreichern würde von den Alliierten nichts geschehen, da Hitler sie überfallen habe und sie keine Schuld am Kriege trügen, usw.91 Es waren schöne Worte, sie spendeten womöglich Hoffnung oder ließen Wut aufkeimen – doch wurde das alles durch die zeitgleich abgeworfenen Bomben konterkariert. Und außerdem gilt bekanntlich, dass der Zorn jener, die von Bombardierungen heimgesucht werden, sich in den allermeisten Fällen nicht gegen das Regime wendet, dem sie den Luftterror womöglich zu verdanken haben, sondern gegen jene, die die Bomben abwerfen – egal ob im Deutschen Reich der 40er Jahre oder Jahrzehnte später in Palästina, Serbien, Afghanistan, Irak, Syrien usw.
89 BZ Nr. 30 v. 15.04.1944, S. 3. 90 Vgl. MAURER, Befreiung, S. 3 – Ingeborg Hackl (geb. 1932). 91 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 49.
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Das Uhrwerk und die Zahnräder Betrachten wir das letzte Jahr der NS-Herrschaft, so finden wir exakt dieselben Aspekte wieder wie all die Jahre zuvor: abstruse Propaganda, Denunziationen, Willkür, Gewalt, Antisemitismus usw. Die Badener Zeitung hatte schon Anfang des Jahres einen apokalyptischen Endkampf zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus ausgerufen und gab damit zugleich die zukünftige Blattlinie vor: Unausweichlich und unvermeidlich! Die schicksalhafte Notwendigkeit des Kampfes auf Leben und Tod mit dem Bolschewismus.92 Wenige Wochen später bei einer Veranstaltung in der Badener Trinkhalle gab Kreisleiter Gärdtner einen historischen Rückblick auf das Jahr 1918, wie damals das Deutsche Reich gedemütigt worden sei und es dennoch, fünfzehn Jahre später, 1933, wie der Phönix aus der Asche in glanzvolle Gefilde emporstiegen sei. Für ihn sprach nichts dagegen, dass sich diese Erfolgsgeschichte 1944 oder spätestens 1945 wiederholen würde. Dieser Krieg, so Gärdtner, war ein weltanschaulicher, ein heiliger Krieg. Die ganze Veranstaltung firmierte unter dem supercoolen Spruch „Der Sieg wird unser sein“, und Ortsgruppenleiter Fritz von Reinöhl beendete mit einer markigen Ansprache die große Kundgebung. Mächtig brausten die Lieder der Nation durch die Halle.93 Wer dagegen argumentierte, wer Bedenken hegte und diese womöglich noch offen artikulierte, dem sollte entschieden begegnet werden. Jenen, die so etwas streuten, diese unsinnigen Gerüchte, dieses leere Geschwätz, der anständige Deutsche würde schnell erkennen, die ganze Hohlheit und charakterliche Minderwertigkeit dieser Menschen. […] Wenn diese Menschen ahnten, wie lächerlich und abstoßend sie wirken!94 Neben der Verachtung und Verunglimpfung durfte natürlich die Drohung nicht zu kurz kommen. Mancher Streit und manche Beleidigungsklage wären unterblieben, manche Tränen wären nicht geweint worden, hätte der Mensch im rechten Augenblick die Klugheit besessen, zu schweigen.95 Und nur drei Ausgaben später haben wir erneut die Aufforderung, sich in der „Kunst des Schweigens“ zu üben. Gerüchte über eine bevorstehende Niederlage des Großdeutschen Reiches seien reines Gift und Verderben, die aus bösen und verräterischen Mundwerken hervorkämen, deren Besitzer von der Ichsucht befallen seien. Wie viel Zank, Streit, Kummer und Sorge kann doch ein loser, böser Mund heraufbeschwören. Er redet seinen lieben Nachbarn stets das Übelste nach und weidet sich schadenfroh an den kleinen Fehlern des Nachbars, ohne sich um die eignen, weit schlimmeren Fehler zu kümmern. […] Neugierde, Neid und Ichsucht gehen mit dem losen Munde inniglich vereint.96 Bei der Disziplinierung vom Kurs abgekommener Volksgenossen durfte übrigens jeder mitmachen – was jetzt auch nichts Neues war. Und sollte jemand nicht wissen, wie das Pro92 93 94 95 96
BZ Nr. 1 v. 05.01.1944, S. 1. BZ Nr. 9 v. 02.02.1944, S. 1. BZ Nr. 3 v. 12.01.1944, S. 2. BZ Nr. 5 v. 19.01.1944, S. 2. BZ Nr. 8 v. 29.01.1944, S. 3.
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blem angegangen werden sollte, offerierte die Badener Zeitung einen kleinen Denkanstoß, in Form der Überschrift: Ohne jede Rücksicht. Gegen die, die unser Kraftentfaltung hemmen – Faustrecht gegen das Gerücht.97 Damit war eigentlich alles gesagt – es folgte die Tat. Zu dem Zweifel am „Endsieg“ und damit an den Worten des Führers gesellte sich der Witz hinzu, der sich für das NS-Regime nicht minder zersetzend auf die NS-Eschatologie auswirken würde. Im Jänner 1945 zeigte sich Parteigenosse und NSKK-Mitglied Stefan Süß so gar nicht besorgt als es hieß, „Sowjet ante portas“. Er witzelte: Wenn die Russen kommen, so kann mir nichts passieren, ich mache einen Bierschank auf und werden die Russen bedienen. Außerdem soll er gegen Altreichsdeutsche gehetzt haben sowie gegen gut situierte Parteigenossen und dabei Aussagen getätigt haben wie: Beim Sacher fressen sich die Parteibonzen den Wanst voll und das Volk hat nichts zu fressen.98 Das Parteikreisgericht wurde eingeschaltet, doch zu Süß‘ Glück stand der NSKK hinter ihm. NSKK-Truppführer Eugen Lohner versicherte, dass Stefan Süß ein guter und dienstwilliger Kamerad und immer zur Stelle war. Dass er sich zu solchen Aussagen hinreißen ließ, nun ja, Eugen Lohner empfahl in Betracht zu ziehen, dass Süß ein schwer herzleidender Mann, von Natur aus ein großer Plauderer und sehr impulsiv ist. Auch könnte sein, dass er im Zeitpunkt, da er die Äußerung getan hat, nicht nüchtern war, weil er zu alkoholischen Getränken Zuneigung hat. Da er immer Spaß machen will, besonders in weiblicher Gesellschaft, kann seine Redensart nicht ernst genommen werden.99 Stefan Süß war nicht der Einzige, dem es nach Späßen zumute war. Die Weiterverbreitung politischer Witze ist in letzter Zeit einigermaßen gestiegen – das fiel der Kreisleitung im Juli 1944 grundsätzlich auf. Als Kostprobe gab es gleich ein paar Ein- und Zweizeiler. Die Abkürzung „LSR“ heißt nicht mehr Luftschutzraum, sondern: Lern schnell russisch! Oder: Blumenverteilung: dem Führer der Lorbeer, Göring der Rittersporn, Goebbels das Froschmaul, den Parteigenossen das Zittergras. Humor bewies die Kreisleitung keinen. Witze dieser und ähnlicher Art haben deutlich das Bestreben die untere Führung lächerlich zu machen. Ihr Ursprung aus Kreisen kommunistischer Beeinflussung ist anzunehmen.100 Auch in Berlin fand man so etwas nicht lustig. Wir haben hier wieder diese beleidigte Ehre und diese verletzten politisch-ideologischen Gefühle. Und noch etwas kam hinzu. Für Goebbels war insbesondere der politische Witz eine jüdische Erfindung.101 Jeder, der sich seiner bediente, bediente sich demnach einer jüdischen Schöpfung und beginge dadurch Verrat an der arischen Rasse – klingt überaus logisch. Apropos Juden: Eigentlich möchte man meinen, mit diesem Thema hätte man 1944 keine Politik mehr machen können, schließlich waren die allermeisten vertrieben oder ermor97 BZ Nr. 83 v. 18.10.1944, S. 1. 98 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Süss Stefan (geb. 1893) – Eröffnungsbeschluss des Parteikreisgerichts (18.01.1945). 99 Ebd. – Eugen Lohner (geb. 1906) an das Parteikreisgericht (15.03.1945). 100 StA B, GB 052/Kreisleitung; Fasz I; Lagebericht Juli 1944. 101 Vgl. LONGERICH, Goebbels, S. 404.
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det worden. Doch weit gefehlt. Der NS-Judenhass fantasierte bzw. hetzte durchgehend. Hoch im Kurs waren irgendwo in London, Washington, Moskau oder sonst wo sitzende Juden, die im Hintergrund ihre jüdischen Fäden spannen und an einem Höllenstrafgericht werkten. Die hiesigen Hetzer waren allerdings nicht darauf angewiesen, nach Übersee, über den Ärmelkanal oder Richtung Ural zu blicken. In Baden lebten schließlich immer noch Menschen, die als Juden oder „Mischlinge“ klassifiziert waren. Entrechtet und in ständiger Todesgefahr, konnten diese Badener wie eh und je nach NS-Herzenslust terrorisiert werden. Man achtete ganz genau darauf, was jene Menschen, die in „Mischehen“ lebten oder als „Mischlinge“ galten, den ganzen Tag so trieben und man suchte akribisch nach versteckten „Volljuden“ oder nach jüdischem Blut in vermeintlich deutschen Adern. Isabella Helmling, seit 1923 in Baden gemeldet, war im September 1944 mit ihren 75 Jahren dazu gezwungen, ihre arische Herkunft nachzuweisen. Die 1869 geborene Frau wurde vor eine nicht lösbare Aufgabe gestellt. Denn sie konnte weder lesen noch schreiben, ihre leiblichen Eltern hatte sie nie kennengelernt, bis zu ihrem 13. Lebensjahr hatte sie auf einem Gut in Polen gelebt, von wo sie dann mit den „Leuten“ (Näheres geben die Quellen nicht her) nach Wien und danach nach Baden übersiedelt war. Über ihre wahre Herkunft hatte sie niemand aufgeklärt. Aber was machte sie verdächtig? Sie besaß keinen Taufschein, sie will ihn vor mehreren Jahren mit einer Handtasche verloren haben. Es ist vielleicht möglich, dass aus diesem Dokument ihre nicht ganz arische Abstammung hervorgeht und sie daher dieses Dokument gerne verloren hat.102 Eine Vermutung – mehr nicht – machte es möglich, eine 75-jährige Frau, gegen die ansonsten nichts vorlag, was eindeutig aus ihrer Beurteilung hervorging, in Lebensgefahr zu bringen. Übrigens, derselbe Sachverhalt wurde bereits 1942 erörtert – mit demselben Ergebnis. Aber die Gestapo wollte zwei Jahre später offenbar auf Nummer sicher gehen. Sie erhielt dann den identischen Bericht wie von vor zwei Jahren. Über die Klassifizierung bei dem Ehepaar Gerda und Friedrich Koch hätte man eigentlich nicht lange herumrätseln müssen. Er war „Mischling 1. Grades“, sie Volljüdin. Für behördliche Verwirrung sorgten ihre Scheidung 1938 und ihr erneuter Zusammenzug 1944. Wir sehen hier ein Paradebeispiel an rassenidiotischer Absurdität, denn Friedrich Koch muss, obwohl der Rasse nach Mischling 1. Grades, durch seine Heirat mit der Jüdin Gerda Koch […] vom 22.12.1921 bis zum 18.5.1938, als Jude gelten, zumal er jetzt den gemeinsamen Haushalt mit seiner geschiedenen Gattin wieder aufgenommen hat. Getraut wurden sie obendrein durch einen evangelischen Pfarrer. Demnach war er eigentlich aus religiöser Sicht Protestant, aus rassischer Sicht „Mischling 1. Grades“, allerdings nur bis zur Heirat 1921. Von da an galt er bis zu seiner Scheidung 1938 als „Volljude“ (weil er mit einer „Volljüdin“ verheiratetet war), von 1938 bis 1944 erneut bloß als „Mischling 1. Grades“ und dann, durch das erneute Zusammenziehen – die Scheidung wurde offenbar einfach so rechtsunwirksam –, wurde er wieder zum „Volljuden“. Ihr Fall war zum Haareraufen, zumal beide behaupteten, dass 102 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Helmling Isabella (geb. 1869) – Ortsgruppenleitung an Kreisleitung (25.09.1944).
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die Sicherheitsbehörden in Baden nicht die richtigen Dokumente besäßen. Der Fall ging zurück an das Gausippenamt in Wien. Es schien, dass sich die Angelegenheit Koch in die Länge ziehen würde, da die beiden bereits im November 1943 aufgefordert wurden, endlich sämtliche Dokumente vorzulegen. Doch zum Glück für die NS-Behörden stellte sich nach Recherche der Ortsgruppe Baden-Weikersdorf heraus, dass sich Gerda und Friedrich Koch seit jeher systemfeindlich benommen hätten. Laut Informationen vom 8.7.44 befinden sich die beiden noch heute im ungestörten Besitz ihrer Wohnung (Radio usw,) und sollen dem Vernehmen nach zudem noch durch abträgliche Reden und Gegenpropaganda sich höchst unliebsam bemerkbar machen, sodass die endliche Abschiebung der ganzen Blase derzeit notwendig ist.103 Aufgefordert, sich beim Gausippenamt zu melden, um endlich Klarheit in ihre rassische Angelegenheit zu bringen, wurden sie bei ihrer Ankunft in Wien durch die Gestapo sogleich in Schutzhaft genommen. Einen Tag später wurde ihre Wohnung in Baden (Marchetstraße 78) durch die Gestapo versiegelt und ihre Wertsachen wurden beschlagnahmt. * Eine weitere Konstante neben der tödlich obskuren Rassenlehre bildete die verklausulierte Sprache in den internen Berichten – wie jenen von Landrat Wohlrab an die Reichsstatthalterei Niederdonau. Die Bevölkerung verfolgt die Kampfhandlungen der Truppe mit erhöhter Aufmerksamkeit. Vereinzelt werden Besorgnisse wegen des Vorrückens der Sowjettruppen an der Ostfront laut.104 Oder: Besonderes Absinken der Stimmung war nicht wahrzunehmen; wenn sich auch entsprechend dem 5. Kriegsjahr speziell in Arbeiterkreisen eine gewisse Kriegsmüdigkeit bemerkbar macht, so ist doch die Überzeugung von der Notwenigkeit des Durchhaltens bis zum Endsieg allgemein. Die oftmals angekündigte Vergeltung gegen England wird mit Spannung und Besorgnis erwartet. Eine gewisse Gedrücktheit wegen allfälliger bevorstehender Luftangriffe ist wahrzunehmen.105 Die Kunst, die Dinge nicht beim Namen zu nennen und kleinzureden, wurde auch von Kreisleiter Gärdtner meisterhaft beherrscht: Die Versorgung mit Obst gibt in dieser Zeit wieder zahlreiche Ansatzpunkte für Unzufriedenheit. Oder: Nach wie vor kann von einer zuversichtlichen Stimmung in der Bevölkerung gesprochen werden, wenn diese auch durch die Ereignisse im Osten bereits wesentlich beeindruckt wird. Oder: Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die allgemeine Stimmung unter der deutschen Bevölkerung nach wie vor gut und zuversichtlich ist, dass selbst Volksgenossen, die früher abseits standen, nunmehr sagen: „Den Krieg müssen wir gewinnen, sonst ist es aus mit uns“, dass aber eine gewisse Gruppe von Zweiflern wieder langsam an Boden gewinnt.106 Solche Berichte sind ein wunderbarerer Fundus an Ausflüchten und Um-den-heißenBrei-herum-Rederei. Demnach „beeindruckte“ die unaufhaltsame sowjetische Dampfwalze die Stimmung innerhalb der Bevölkerung. Oder denken Sie, lieber Leser oder liebe Leserin, 103 StA B, GB 052/Verfolgung II; Fasz. I Arisierungen, Liquidierungen, Repression; Mappe IV – Gerda Koch (geb. 1891), Friedrich Koch (geb. 1894). 104 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, März 1944. 105 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, Jänner 1944. 106 StA B, GB 052/Kreisleitung; Fasz I; Lagebericht Juli 1944.
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an die Versorgung mit Lebensmitteln, die war auch einmal „geordnet“, einmal „geregelt“ – in der Alltagssprache der betroffenen Menschen sagte man dazu vielmehr „desaströs“ bzw., um das der Ausmerzung zugeführte Wort in den Mund zu nehmen, „katastrophal“. Etwas konkreter drückte sich Kreisärzteführer Edmund Hess in einem Brief an einen Kameraden Loitzl im September 1944 aus. Laut ihm war die Sehnsucht nach Frieden groß, wobei nach einem ganz bestimmten Frieden. Wenn auch jeder ein Ende dieses Krieges herbeisehnt, so doch nur ein siegreiches.107 Wer es glaubte, wurde nicht selig. Längst war die Stimmung vergiftet, die Nerven lagen blank, Angst und Wahn beherrschten das alltägliche Leben. Neben den feindlichen Bombern am Himmelszelt, die sichtbar und hörbar waren, sah es bei den Saboteuren in den eigenen volksgemeinschaftlichen Reihen, von denen es nur so wimmeln sollte, etwas anders aus. Das hinderte allerdings nicht, hinter jeder Panne, jedem Rückschlag oder bloßem Unfall Sabotage zu vermuten und solches auf Teufel komm raus zu propagieren. Als am 23. März 1944 eine gewaltige Explosion in der Enzesfelder Munitionsfabrik die Gemeinde im wahrsten Sinne des Wortes erschütterte, einen Großbrand entfachte, 11 Menschenleben forderte sowie weitere 18 Schwer- und 50 Leichtverwundete und am Ende des Tages an die 400 Obdachlose bilanziert wurden, war für viele klar, das war Sabotage – zumal zahlreiche Fremd- und Zwangsarbeiter die Möglichkeit zur Flucht ergriffen hatten.108 Wahrlich absurd wurde es dann, als im Sommer der Landkreis von einem Hochwasser heimgesucht wurde, bei dem ebenso Tote zu beklagen waren sowie weitere 2500 Obdachlose – in Anbetracht des knappen Wohnraumes eine weitere Katastrophe. Und auch da tauchten Sabotagegerüchte auf, die für die NS-Machthaber allerdings eher ärgerlich als nützlich waren. Denn hinter der Hochwasserkatastrophe wurde „der Russe“ vermutet. Die Gerüchteverbreitung hält weiterhin in großem Umfang an. Neben phantastischen Verlustziffern bei Fliegerangriffen und anderen Ereignissen, z.B. dem Hochwasserunglück im Triestingtal, wird in Altenmarkt besprochen, der Feind habe durch irgendwelche unbekannte Mittel den Wolkenbruch, der zur Überschwemmung führte, herbeigezaubert und zum Einsatz gebracht.109 Dabei war es doch das NS-Regime selbst, das sehr darum bemüht war, mit fantastischen Wunderwaffen auf sich aufmerksam zu machen. Doch bei der „V1“, die den martialischen Beinamen „Vergeltungswaffe 1“ trug, zeigte sich die Bevölkerung „zurückhaltend“. Ihr Wert wurde nicht sehr hoch, keineswegs aber kriegsentscheidend eingesetzt. Die ausführlichen Berichte in der Presse in letzter Zeit mögen die Wertung einigermaßen gesteigert haben. 110 Die Badener Zeitung gab ihr Bestes, schweres deutsches Kriegsgerät anzupreisen. Alle diese schweren Waffen dienen der höchsten Aufgabe: Blut zu sparen und dem Grenadier, dem männlichsten Einzelkämpfer, dem wahren Herren des Schlachtfeldes, der das Weiße im Auge des Feindes sieht, den Weg aufzureißen über die Zone des Todes zum Gegner, zu Einbruch und Durchbruch, 107 StA B, GB 052/Parteiformationen III; Fasz. III; NS-Ärztebund. 108 Vgl. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, April 1944. 109 StA B, GB 052/Kreisleitung; Fasz I; Lagebericht Juli 1944. 110 Ebd.
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und dies auch im wechselvollen Auf und Ab der geschmeidig geführten gegenwärtigen, harten Abwehrkämpfe […].111 Doch die Propaganda von 1944 war nicht mehr jene von 1938, genauso wenig war es der Volksgenosse. Es lagen sechs Jahre NS-Herrschaft und fünf Jahre Krieg dazwischen. Zeit genug um die Probe aufs Exempel zu machen, und die Bilanz fiel bekanntlich verheerend aus. Die „Volksgemeinschaft“ mit Wunderwaffen wie Raketen, Riesenpanzern oder Riesengeschützen zu ködern, war ein weiterer hilfloser Versuch, wie das Vorhaben, 10.000 Obstbäume zu pflanzen oder Schnürsenkel in Eigenproduktion herzustellen. Neidlos musste man eingestehen, dass „der Russe“ einem hier die Show gestohlen hatte – schließlich konnte er das Wetter manipulieren. Gegen solch Gegner bedurfte es richtig schwerer Geschütze, nur dass diese nicht vorhanden waren und der pathologisch pathetischen NS-Kriegspropaganda mittlerweile der Biss fehlte. Gift und Galle zu spucken hatte sich mehr oder weniger totgelaufen, die Ostfront bestand nur mehr aus taktischen Rückzügen, Gegenangriffe schien es keine mehr zu geben, und die Kunst und Kultur mit ihren Bühnen boten gerade einmal Ablenkungen. Um gegen Kaliber wie die bolschewistischen Wettermanipulatoren im Ring zu bestehen, bedurfte es anderer Mächte. Zu allem Ungemach für das NS-Regime gab es da einen altbekannten Konkurrenten, der dieses metaphysische Feld mit seinem schier unbegrenzten Arsenal an Tradition, Dogmatik und Autorität bravourös zu bespielen verstand – und das seit beinahe 2000 Jahren. Der Kirchenbesuch zeigt allerorts eine ansteigende Tendenz.112 Der Trend vom Vorjahr ging unermüdlich weiter. Man kann annehmen, dass im Hintergrund schon längst nicht nur die Kirchenglocken läuteten. Es war für das NS-Regime ein Schlag ins Gesicht. Dabei hatte man doch einen so erfolgreichen Kampf à la „Los von Rom 2.0“ geführt. Der Klerus wurde eingeschüchtert, die ganz widerspenstigen Hirten in KZ-Lager deportiert oder ermordet – hauptsächlich jene mit nur zwei Weihestufen. Die mit der dritten hielten sich in den meisten Fällen nobel zurück. Wir haben hier das gleiche „Phänomen“ wie im gegenüberliegenden politischen Spektrum, das ganz gut durch einen pauschal verurteilenden Spruch deutlich wird: „Die Straßenschlachten sind für die Proleten da, die linken Bonzen bevorzugen das kugelsichere Exil.“ Wie das Spruch-Pendant auf klerikal-schwarzer Seite ausschaut, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Aber zurück zu Kirche, Krieg und 1944. Das NS-Regime musste gegenüber der katholischen Kirche mehrere Fronten bespielen. Denn neben Wunderglauben an sich gab es da noch das Jenseits – wo bekanntlich die Herren in den schwarzen Soutanen auch einen deutlichen „Wissensvorsprung“ besaßen. Es begann damit, dass die Helden oder, um Goebbels zu zitieren, die Vorausgegangenen, die ihr Leben für Führer, Volk und Vaterland gelassen hatten, auf alle Fälle würdigst geehrt werden mussten, und das am besten durch NS-germanische Heldengedenkstätten und Heldenfriedhöfe. Nur leider ruhten die allermeisten Gefallenen auf katholischen Fried111 BZ Nr. 3 v. 12.01.1944, S. 1. 112 Vgl. NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, April 1944.
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höfen. Und leider hatte die Stadtgemeinde Baden bereits einen Pachtvertrag mit der Stadtpfarre unterzeichnet. Eine vorzeitige Vertragsaufkündigung war offenbar nicht so einfach. Das passte so gar nicht mit der NS-Ideologie zusammen, deshalb wurde angedacht, die unbelegten Heldengedenkstätten des jetzigen Krieges aus dem Bereich der Gemeindefriedhöfe zu ziehen und Plätze zu wählen, die für die künftige Generation naturverbundene Weihestätte heldischer Natur sein werden.113 Wo diese naturverbundene Weihestätte liegen sollte, darüber war man sich noch nicht im Klaren. Sondiert wurde im Kurpark bei der Raimundaussicht, der Annahöhe und der Bienenburg. Dann noch am Harterberg in den Weingärten und östlich der Reichsbahn, also irgendwo im Stadtteil Leesdorf. Einen Ort hatte man aber noch, wo diese Heldengedenkstätte großdeutschen Opfermutes „wunderbar“ hingepasst hätte. Die Gemeinde hatte nämlich von der jüdischen Kultusgemeinde deren in sehr schöner Lage befindlichen Friedhof käuflich erworben. Da die Judengräber aber doch eine gewisse Anzahl von Jahren nicht zerstört werden sollten, rechnete man mit der Umänderung des jüdischen Friedhofs in einen deutschen Kriegerfriedhof ungefähr im Jahre 1949.114 Es wäre die perfekte Umideologisierung bzw. Schändung gewesen. Wobei, es wurde auch ein ganz profaner Grund angeführt. Die Hanglage des jüdischen Friedhofes würde den arischen Heldenfriedhof schon von Weitem schön sichtbar machen. Bei allen Gegensätzen zwischen NS-Regime und katholischer Kirche gab es auch etliche Überschneidungen. Die Predigten aus den Volksempfängern waren jenen von den Kanzeln thematisch nicht unähnlich – der Bolschewismus, der „Gottseibeiuns“ beider Welten, den niemand aufzuhalten vermochte, außer der Glaube an Gott den Allmächtigen oder halt an das Hakenkreuz und seinen braunen Propheten in Berlin. Das NS-Regime kopierte zudem das Heils-Vokabular der Christenheit. Finsternis herrschte, und dann kam Hitler als Erlöser, Retter und Bezwinger, und er vertrieb die Dunkelheit. Das Heil war nahe, doch siehe da, auserwähltes deutsches Volk, wieder sind es die Juden, die Verrat begingen, den Erlöser von sich stießen, das deutsche Volk von hinten zu erdolchen versuchten und so weiter und so fort.115 Aber trotz Kopisten und Parallelitäten, die verlorenen Schäfchen wussten nur allzu gut, wer der Schmiedel und wer letztendlich der Schmied war. * Betrachten wir die mediale Berichterstattung und die interne Korrespondenz bzw. den Schein und das Sein, tun sich uns zwei Welten auf. Die eine voller Mängel, wo Volksgenossen hungern, frieren, sich vor den Kartenstellen prügeln und ihr Heil wieder im Schoße der Mutter-Kirche suchen, während man in der anderen Welt pompöse Bauten plante, immer nur ganz kurz davor war, Wunderwaffen auf England abzufeuern, und wo demnächst ein 113 StA B, GB 385/Friedhöfe I; Fasz. I; Mappe IV – Rundschreiben „Deutsche Kriegerfriedhöfe und Heldengedenkstätten im Gau Niederdonau (01.09.1944). 114 StA B, GB 385/Friedhöfe I; Fasz. I; Mappe IV – Niederschrift „Der Generalbaurat“ (14.08.1944). 115 Vgl. BZ Nr. 33 v. 24.04.1940, S. 1 und BZ Nr. 21 v. 15.03.1944, S. 2.
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Keil in die unheilige alliierte Allianz hinein gerammt werden sollte. In dieser Welt konnte Himmler im August 1944 auf der Titelseite der Badener Zeitung den Vormarsch der Roten Armee als vorläufig für gestoppt erklären oder Goebbels einen heiligen Volkskrieg ausrufen, wo der Feind demnächst die totale Rache und die Vergeltung zu spüren bekommen würde.116 Es ging aber auch subtiler, wenn es darum ging, Werbung für den „Endsieg“ zu schalten. Es ist klar, dass der harte, entsagungsreiche Alltag jedem unter uns ein Höchstmaß an Pflichten und Sorgen auferlegt. Die Nerven sind empfindlicher und gereizter denn je. Eben diese Erkenntnis sollte jeden unter uns veranlassen, Geduld und Selbstbeherrschung an den Tag zu legen. […] Mit Geduld trägt sich alles leichter und besser. Wer Geduld übt und sie im täglichen Umgang zeigt, zaubert blühende Rosen auf die dornigen Pfade des menschlichen Lebens. 117 So verführerisch solche Kalendersprüche auch sein mochten, so verbissen das deutsche Volk auch kämpfte und so unmittelbar die versprochenen Wunderwaffen am Firmament zu sehen sein würden, in der realen Welt zog sich die alliierte Schlinge enger und enger und Tonnen über Tonnen von feindlichen Bomben tilgten deutsche Städte vom deutschen Reichsboden. Herr im eigenen Haus war das NS-Regime schon lange nicht mehr. Den Lauf der Dinge bestimmten nun die Herren in Washington, Moskau und London und natürlich die NS-Illusionisten in Berlin. Genauso sah es auf Gemeindeebene aus. Wobei, im Rathaus wurde dennoch eingehend beraten, gearbeitet und referiert. Aber wie eingehend der Arbeitseifer war, das wurde nur sehr spärlich in der Badener Zeitung offengelegt. Details blieb man schuldig. Von der Ratsherrensitzung vom 11. Jänner 1944 erfahren wir nur, dass Stadtrat Löw eingehend auf die Stadtfinanzen eingegangen war und er sie als konsolidiert erachtete. Schmückendes Beiwerk waren die üblichen NS-Floskeln eines Wohlrabs, Gärdtners oder Schmids. Optimistisch mutete die Ankündigung an, dass die Amtszeit der Ratsherren bis zum 16. Jänner 1945 festgelegt wurde. Das betraf: Karl Eichholzer, Eduard Fischer, Theo von Gimborn, Hans Grundgeyer, Hans Herman, Edmund Hess, Josef Hofmann, Matthias Haydn, Josef Hammerschmidt, Josef Jäger, Emmerich Kochwasser, Hans Lang, Ludwig Müller, Roland Mollik, Dr. Walter Reiffenstuhl, Fritz von Reinöhl, Franz Rothaler, Julius Clemens Schuster, Josef Schöfmann, Rudolf Schemel, Johann Steindl und Anton Weinschenk.118 Die Festlegung der Amtsperiode war ein Hoffungsschimmer, dass es in einem Jahr noch Nationalsozialisten geben würde. Andererseits blieb ein fahler Beigeschmack, denn nur mehr die Hälfte der Ratsherren wohnte dieser Gemeinderatsitzung bei. Gemeindepolitik auf Sparflamme. Mehr war bei solchen Voraussetzungen nicht drin – ganz gleich, wo man hinsah. Der personelle Blutzoll der vorherigen Jahre war nicht versiegt. Viele waren gefallen, noch mehr waren eingezogen oder versetzt worden. Es galt, neue Kräfte einzustellen, aber woher nehmen? Schon zu Anfang des Buches haben wir gelesen, dass die Personaldecke 116 Vgl. BZ Nr. 19 v. 08.03.1944, S. 1 und BZ Nr. 50 v. 24.06.1944, S. 3 und BZ Nr. 64 v. 12.08.1944, S. 1. 117 BZ Nr. 4 v. 15.01.1944, S. 3. 118 Vgl. BZ Nr. 4 v. 15.01.1944, S. 3 und WOLKERSTORFER, Baden 1944 - 1945, S. 6.
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bereits beim Anschluss in Bezug auf die politisch und moralisch erforderlichen NS-Parameter recht dünn war. Und nun, sechs Jahre später, mit dem Rücken zur Wand oder ungebremst auf eine zurasend, war es noch viel schwieriger, Personal zu rekrutieren, das den vorgeschriebenen NS-Vorstellungen entsprochen hätte. Aber die Maschinerie lief weiterhin. Die Beurteilungsbögen, Bewerbungs- und Empfehlungsschreiben hatten durchgehend Hochkonjunktur – eine wahre Endlosschleife. Was trieben die Kandidaten vor 1938? Was haben sie danach getan? Wie haben sie sich in den letzten Jahren gemausert? Es folgten Einreichfristen, Aufschübe, Verlängerungen und Sonderregelungen. Viele Herren hatten hier mitzureden – Gau, Kreis, Landrat, Rathaus, Ortsgruppen, Sicherheitsbehörden, der Blockwart XY usw. Die Recherchen förderten Interessantes zu Tage – vor allem für mich als Historiker. Der Geschäftsmann Hermann Kreidl bewarb sich im Mai 1944 für den Posten eines Schiedsrichters für das Markt- und Lieferschiedsgerichtes. Er besaß das nötige Know-how, er galt als ein tüchtiger Unternehmer und politisch war er auf Linie. Störend war nur, dass er erstens: ein geborener Russe war (ab 1917 hatte er auf Seiten der Weißen gegen die Roten gekämpft und war 1919 nach Baden emigriert), zweitens: seit seiner Emigration staatenlos war, drittens: bis zum Anschluss vorwiegend in jüdischen und monarchistischen Kreisen verkehrt hatte, viertens: Mitglied der Rotarier war, fünftens: mit seiner Familie ausschließlich Russisch sprach und sechstens: den Plan verfolgte, nach dem Sieg Deutschlands nach Russland zurückzukehren. Die Ortsgruppe, in Anbetracht des Fachkräftemangels, zeigte sich ein wenig unschlüssig in ihrer Beurteilung. In fachlicher Hinsicht wäre Kreidl als Schiedsrichter des Markt- u. Lieferschiedsgerichtes sicherlich geeignet, ob jedoch ein staatenloser Russe für eine solche Stellung die geeignete Person ist, bleibt dahingestellt.119 Auch wenn er den Posten nicht erhalten sollte, er wurde zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen. Aber allein, dass so jemand überhaupt in Erwägung gezogen wurde, spricht schon Bände. Selbst die Kreisleitung musste sich gegenüber der Gauleitung rechtfertigen, weshalb er nicht letztendlich den Posten bekommen hatte. Im Jahre 1944 war es für das NS-System mehr noch als 1938 notwendig, über gewisse Dinge großzügig hinwegzusehen oder bestimmten Lebenslauflücken bzw. Ungereimtheiten mit weniger Elan nachzugehen. Im November 1944 richtete Bäckermeister Rudolf Steiner an Gauleiter Hugo Jury die Bitte, seine Tochter, statt sie dem Kriegshilfsdienst zu überlassen, lieber in seiner Bäckerei behalten zu dürfen. Aufgrund des Arbeitskräftemangels bräuchte er jede nur erdenkliche Hilfe. Als Lebensmittelproduzent stand er in der Hierarchie ein paar Sprossen über den gewöhnlichen Volksgenossen. „Ohne Mampf kein Kampf“, dachte man auch im Landrat und der Kreisleitung und unterstütze Rudolf Steiners Ansuchen. Personelle Alternativen zu seiner Tochter als Bäckergehilfin schien es keine zu geben. Dass Rudolf Steiner die Familie des wegen Wehrkraftzersetzung und sozialistischem Gebaren inhaftierten Johann Gleichweit während dessen achtmonatiger Haft 1943/44 mit 119 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Kreidl Hermann (geb. 1899) – Ortsgruppe an Kreisleitung (08.05.1944).
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Nahrungs- und Finanzmitteln unterstützt hatte – es ist anzunehmen, dass Landrat und Kreisleitung davon Kenntnis hatten –, schien sein Ansuchen nicht zu belasten bzw. es war nicht einmal der Rede wert.120 Der Personalmangel, das dadurch bedingte Durcheinander, die Verzögerungen sämtlicher administrativer Tätigkeiten machten weder vor den Amtsstuben noch vor den Parteibüros halt. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis wird erneut deutlich, wenn wir einerseits die Badener Zeitung aufschlagen und andererseits auf Zeitzeugenberichte zurückgreifen. Als Beispiel bietet sich das NS-Frauenwerk an, wo bei einem Schlussappell der Kreisleitung verkündet wurde: Die Männerarbeit in der Heimat liegt zum großen Teil vollwertig in Frauenhänden und auch die Alten leisten im freiwilligen Einsatz Erstaunliches.121 Nach außen hin herrschte Zucht und Ordnung. Ein Blick hinter die Kulissen offenbarte eher Laxheit statt Straffheit. Ermüdungserscheinungen, Frustration und die Unlust, sich zu engagieren, standen auf der Tagesordnung. Ihre Tätigkeit als Kassiererin beim NS-Frauenwerk, erzählte Hermine Novak nach 1945, hatte sie solange gewissenhaft ausgeübt, solange die Gefahr bestanden hätte, dass sie für irgendeinen Arbeitsdienst zwangsverpflichtet werden könnte. Sobald das nicht mehr gedroht hätte, hatte sie ihre Arbeit schleifen lassen, keine Versammlungen mehr besucht und damit genau das erreicht, was sie beabsichtigt hatte – von ihrem Posten enthoben zu werden.122 Solch eine Arbeitsmoral soll laut der Sekretärin Aurelia Vever in allen Frauenorganisationen anzutreffen gewesen sein. Während anfänglich die NS-Frauenschaft nur für Parteimitglieder zugänglich war und das NS-Frauenwerk auch ohne Parteibuch die Mitgliedschaft erlaubte, war diese strikte Einteilung 1944 nicht mehr aufrechtzuerhalten. Zumal reihenweise junge Frauen aus dem BDM und der Unterorganisation „Glaube und Schönheit“ einfach in die NSF überführt wurden – ohne dass sie Parteimitglieder gewesen wären. Es wurden nicht einmal mehr die Beiträge getrennt kassiert und verrechnet, sodass man kassentechnisch nicht mehr wusste, wer bei welcher Organisation Mitglied war.123 Und so propagandistisch lobenswert der Fraueneinsatz in den Fabriken auch war, die Volks- und Parteigenossinnen fehlten dadurch in den NS-Organisationen. Außerdem gab es da noch Heim, Herd und die Nähstuben als das eigentlich weibliche Haupteinsatzgebiet, wo es galt, den Mangel auf kreative Weise zu managen. Laut der Badener Zeitung war der Frau größtes Sorgenkind die Flickwäsche, zerrissene Strümpfe und die Leibwäsche der Kleinsten. Und dann, wer hätte das gedacht, wächst der Nachwuchs auch noch aus dem Gewand heraus! Was dann? Sinnend steht die junge Hausfrau vor diesen Fragen. Dabei wäre es doch so einfach, man muss anstückeln, oder aus zwei eines machen, oder ist es nicht doch 120 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Steiner Rudolf (1895–1963). Johann Gleichweit (geb. 1900). 121 BZ Nr. 1 v. 05.01.1944, S. 2. 122 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Novak Hermine (geb. 1898). 123 Ihrem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Vever Aurelia (geb. 1902).
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besser, es gleich für die Kleinen wegzulegen, wie bald wird es ihnen passen. Und wenn die junge Hausfrau erneut auf der Leitung stehen sollte, dann hieß es: Oh, ich schaue wieder in die Beratungsstelle, da gibt es immer etwas Neues. Aber Obacht vor der Gefahr, von all den Neuigkeiten in Sachen Textilarbeit überwältigt zu werden, denn es gab ja noch den Kochtopf und den Gemüsegarten. Ja, liebe Hausfrau, heuer bebauen wir jeden Fleck im Garten mit Gemüse und Nutzpflanzen. Da musst Du dir gut überlegen, was Du da anbauen willst.124 Es schien eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass die Badener Zeitung mit Frauen per „Du“ war und in einer Sprache, die beinahe schon als Kindersprache anmutete, mit ihnen zu kommunizieren pflegte, als würden jene mit geistigen Defiziten zu kämpfen haben. Auch wurde des Weiteren auf das weibliche Äußere gelegt. Betrachten wir einmal den fraulichen, insbesondere den hausfraulichen Lebenskreis. Unter dem Motto die „Kunst der Vereinfachung“ wurde der fraulichen Extravaganz der Krieg erklärt. Es kommt heute nicht darauf an, modisch, apart oder abwechslungsreich gekleidet zu sein. Je einfacher, desto besser, denn einfache Dinge sind auch meist geschmackvoll. Dieser Minimalismus betraf auch die Frage der Frisur. Einfach, leicht zu schneiden, leicht zu pflegen – das war’s. Es ist ja nicht unbedingt nötig, dass jede Frau, auch diejenige, die von Natur aus glattes Haar hat, sich durch wahre „Lockengebirge“ auszeichnet. Das waren alles gut- und ernstgemeinte Ratschläge. Wir wollen bereit sein zu allem, nicht aus Zwang, sondern aus eigenem gutem Willen! Denn die Freiheit und Unversehrtheit des Reiches, die Zukunft unserer Kinder gilt uns mehr als alle augenblicklichen Opfer und Entbehrungen.125 * Politische Beurteilungen wurden 1944 aber nicht nur erstellt, um dringend benötigtes Personal genauer unter die Lupe zu nehmen. Was die ehemaligen Gegner in den sechs Jahren NS-Herrschaft so alles getrieben hatten, war genauso von größtem Interesse. Der ehemalige Krankenkassenbeamte Franz Schefzig wurde im September 1944 wieder einmal einer Überprüfung unterzogen. An seiner gegnerischen Einstellung hatte sich nichts geändert. Er, ein Sozialist, der nur in solchen Kreisen verkehrt hatte, schien 1944 sein sozialistisches Herz sogar dem Kommunismus geöffnet zu haben. Weshalb sich die Gestapo jetzt explizit für den 65-jährigen Pensionisten interessierte, geben die Quellen nicht her.126 Im Dezember 1944 war der Maurergehilfe Josef Berger an der Reihe. Ein Kommunist, der sowohl während des Ständestaates als auch im Nationalsozialismus inhaftiert gewesen war. Nach dem Umbruch war er auch noch immer mit bekannten Kommunisten in regem Verkehr. In moralischer Hinsicht ist er einwandfrei und gilt als anständiger Arbeiter. Politisch gilt er als bedenklich. So sah seine, von der Kreisleitung dringend eingeforderte, ausführliche politische und charakterliche Beurteilung Ende 1944 aus. Betrachten wir seine politische 124 Vgl. BZ Nr. 12 v. 12.02.1944, S. 2. 125 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944 - 1945, S. 31. 126 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schefzig Franz (geb. 1878).
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Beurteilung vom Oktober 1939, hätte man sich eigentlich die Arbeit 1944 auch sparen können, denn dort lesen wir: Nach dem Umbruch war er auch noch immer mit bekannten Kommunisten in regem Verkehr. In moralischer Hinsicht ist er einwandfrei und gilt als anständiger Arbeiter. Politisch ist er als bedenklich zu bezeichnen.127 Am anderen politischen Ufer haben wir Oberleutnant d.R.z.V. Norbert Knotzer, ein Legitimist, seit jeher gegnerisch gegenüber dem NS-Regime eingestellt, der sich jedoch kurz vor dem Anschluss für einen Ausgleich mit dem Deutschen Reich ausgesprochen und sich dadurch innerhalb der Vaterländischen Front unbeliebt gemacht hatte. Doch diese germanophile Episode behielt ihren episodischen Charakter. Im Oktober 1944 galt sein Verhalten als gegnerisch, sein politisches Verhalten als unzuverlässig, sein soziales Verhalten als gut und sein moralisches Verhalten als bemerkenswert – weil er weiterhin Kontakt zu einer Jüdin pflegte, die acht Jahre lang in seinem Betrieb gearbeitet hatte, wofür er 1940 sogar eine Arreststrafe erhalten hatte. Nun war die Jüdin nach England ausgewandert, und es hieß, der Oberleutnant plane, ihr dorthin zu folgen.128 In Kombination mit teilweise skurrilen Beurteilungen gingen willkürliche Festnahmen einher. So war der ehemalige SDAP-Landtagsabgeordnete Alois Mentasti aus Sooß – der schon 1934 seine politischen Aktivitäten ruhend gestellt hatte (siehe Kapitel 11 Die linke Kurstadt) – in den Augen der NS-Behörden weiterhin bedenklich. Während sein Arbeitgeber mit ihm vollends zufrieden war, war es die Gestapo nicht. 1944 wurde er von ihr eingezogen. Gründe sind aus dem vorliegenden Quellenbestand nicht überliefert, aber bekanntlich musste es keine wirklichen Gründe geben, um in der NS-Zeit verhaftet zu werden. Trotz Gestapo-Vorladung und Verhaftung, konnte Alois Mentasti wahrscheinlich noch einigermaßen gelassen an die Sache herangehen, denn der Zellenleiter und Bürgermeister von Sooß, Ernst Sowik, war sein Schwiegersohn, der sich, genauso wie der Ortsgruppenleiter von Bad Vöslau, Alfred Stanzl, wohlwollend für ihn verbürgte.129 Vergleichbares haben wir bei Dr. Alois Wagenbichler, nur dass er nicht den Rückhalt lokaler NS-Prominenz genoss, weil er, aus Salzburg kommend, von dort den Ruf eines Nazifressers mitbrachte. An sich galt er als tüchtiger Arzt, der seit 1941 in Baden eine Praxis betrieb, einen großen Patientenkreis aufwies, politisch nicht mehr aktiv war und durch seine Geberfreudigkeit auffiel. Verdächtig machte ihn aber eben seine Vita von vor 1938. In den salzburgischen Gauen hatte er im Heimatschutz gedient, als schärfster Gegner der NSDAP gegolten, als ein fanatischer Hasser des Nationalsozialismus, der die NS-Bewegung als einen vorübergehenden pathologischen Zustand bezeichnet hatte und Führer aller gegnerischer Verbände gewesen war. Als solcher soll er nach Gutdünken Hausdurchsuchungen bei zahlreichen Nationalsozialisten durchgeführt haben und war, bei solch an den Tag gelegtem Engagement, verdienterweise zum Landesführerstellvertreter des Heimatschutzes und zum 127 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Berger Josef (geb. 1900). 128 Vgl. StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Knotzer Norbert (geb. 1898) und ZGIERSKI, Kruckenkreuz, S. 150. 129 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Mentasti Alois (1887–1958).
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Landesstatthalter von Salzburg aufgestiegen. Obwohl nichts Konkretes gegen ihn vorlag – es ist sicher anzunehmen, dass derselbe auch jetzt noch führend im feindlichen Lager tätig ist, obwohl man ihm dies nicht direkt nachweisen kann –, wurde er dennoch am 23. August 1944 durch die Gestapo in Haft genommen.130 Und wie es sich gehörte, bei all den Verhaftungen konnten sich die NS-Sicherheitsorgane durchgehend auf die Mitarbeit eifriger Denunzianten verlassen. Die Angst, wegen irgendetwas denunziert zu werden, war weiterhin enorm und die Folgen nicht absehbar. Ferdinand Albasser, aus dem Elsass stammend und bereits 1939 von der SS in der Strasserngasse inhaftiert – seine Gattin verlor kurz vor Kriegsbeginn grundlos ihre Anstellung bei der Gemeinde Traiskirchen –, wurde im September 1944 ins KZ-Trassdorf bei Tulln deportiert. Was konkret gegen ihn vorlag, irgendwas mit Wehrkraftzersetzung, behaupteten zumindest drei Denunzianten. Erst am 2. April 1945 kam er frei. Die Folgen des siebenmonatigen KZ-Aufenthalts: eine Herzwassersucht sowie Erfrierungen ersten Grades an beiden Füßen […]. Die Gewichtsabnahme betrug 17 kg.131 Genauso einer anonymen Anzeige wegen Wehrkraftzersetzung gedankt, wurde auch Margarethe Biegler verhaftet, nachdem sie im Dezember 1944 beim Fleischhauer ihres Vertrauens offen ihre pazifistische Meinung ausgesprochen sowie eine klare Sachdarstellung der militärischen Situation darlegt hatte und zwar, dass die Soldaten ihre Gewehre wegwerfen sollen […] da ja schon alles aus sei.132 Kurze Zeit später erfolgte die behördliche Vorladung. Neben der Anklage der Wehrkraftzersetzung gesellte sich der denunziatorische Hinweis hinzu, dass sie Feindsender höre und Juden mit Lebensmitteln unterstützen würde. In puncto Denunziation treffen wir übrigens 1944 wieder auf ein interessantes Geschlechterstereotyp. Es schien, als ob Frauen hier etwas an der Hand genommen werden mussten und einer Anleitung bedurften, um das Handwerk des Disziplinierens mittels Denunziation zu erlernen. Selbsthilfe gegenüber Saboteuren. Das Gesetz berechtigt zum persönlichen Eingreifen – Auch die Frau ist zur Mithilfe verpflichtet – Kein falsches Mitleid. Es folgte eine Art Anleitung, was die Frau zu tun hätte, wenn ihr Miesmacher und Schwätzer über den Weg laufen würden. Im Allgemeinen haben Frauen eine unbestimmte Scheu davor, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken und aktiv in einen Vorgang einzugreifen. Sie fühlen sich gegenüber Frechheit und Großsprecherei nicht sicher genug und wissen auch nicht, wie sie dagegen vorgehen sollen. Das heißt, zuerst musste das weibliche Selbstbewusstsein gehoben werden, gefolgt von der Stärkung der kognitiven Funktionen. Sie muss klar unterscheiden können zwischen einer kritischen, aber positiven Äußerung, die jedem deutschen Menschen erlaubt ist und einer bewusst unwahren Verdächtigung, Zersetzung und Lüge. Und meisterte sie auch diese Herausforderung, dann galt es, vor dem finalen denunziatorischen 130 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Wagenbichler Alois (geb. 1895) – Kreisleitung an Gestapo (23.08.1944). 131 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Albasser Ferdinand (geb. 1895) – Aussage s.d. 132 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Biegler Margarete (1908–1960).
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Schlag und dem Gang zur Polizei noch die letzte weibliche Hürde zu überspringen. Vor allem darf sich die Frau nicht durch falsches Mitleid von ihrem Entschluss abbringen lassen, etwa wenn der Schwätzer jammert, um Gnade bittet und alle seine staatsfeindlichen Äußerungen plötzlich abstreitet. […] Wenn sie die Entschlusskraft dazu aufbringt und sich nicht durch ihr allzu weiches Herz oder ihre Scheu vor der Öffentlichkeit davon abbringen lässt, dann hat sie einen wesentlichen Beitrag geleistet zur Stärkung der deutschen Geschlossenheit, Ruhe und Zuversicht.133 Dabei waren es Frauen, die vor allem die Denunziation als Waffe verwendeten – während die Männer lieber zur Faust griffen. Was, so einem Gesindel [gemeint war ein damals im Geschäft anwesender in Uniform befindlicher Politischer Leiter] geben sie Zigaretten und mir nicht?134 So in der Art soll sich die Hilfsarbeiterin Marie Pasetti im April 1944, in der Trafik von Johanna Trilety geäußert haben. Wilhelm Seehof sen., der bei dem Vorfall gar nicht zugegen war, sondern nur vom Hörensagen davon Kenntnis hatte, trug Johann Trilety auf, Anzeige gegen Marie Pasetti zu erstatten. Die Trafikbesitzerin ließ sich nicht lange bitten. Im August 1944 stand Maria Pasetti vor Gericht, wo der ganze Hergang der heimtückischen Äußerungen akribisch genau nachgestellt wurde. Hörn’S, dass Ihnen Sie da herstellen, mit solchen Verbrechern, die bediene ich doch nicht einmal – mit dieser Aussage soll alles seinen Anfang genommen haben. Johanna Trilety war bestürzt und forderte Marie Pasetti auf, ihre Trafik augenblicklich zu verlassen. Diese tat es, aber nicht ohne vorher zu erwidern: Ich weiß eh, zu Ihnen kommen lauter Nazi herein. Zwei Tage später suchte Marie Pasetti die Trafik erneut auf, um sich diesmal Tabakabfall abzuholen – Tabak, der in den Zigarettenschachteln übrigbleibt. Als es jedoch keinen mehr gab, soll sie Johanna Trilety regelrecht angekeift haben: Sie haben alleweil solche Schmauzes (Ausreden). Sicher war dies wieder ein Nazi, dem Sie den Abfall gegeben haben. Wieder wurde sie von Johann Trilety der Trafik verwiesen, und diesmal soll sich Marie Pasetti sogar zu einer Drohung hinreißen lassen: Aber wenn es morgen anders wird, es dauert eh nimmer lang, ich werde umeinanderfuttern (eilig herumlaufen), ich werd mirs alle aussaholen und Sie sind die Erste.“135 Marie Pasetti wurde zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Danach wurde sie ins KZ Oberlanzendorf verfrachtet, wo sie bis zur Befreiung durch die Rote Armee ausharren musste. Als sie nach Baden zurückkehrte, war ihre Wohnung restlos geplündert worden. Nach 1945 wurde der Fall um eine uns bereits bekannte und um eine eigentlich tragisch-komische Facette reicher. Marie Pasetti gab an: Ich, Frau Pasetti, hatte im Jahre 1944 eine persönl. Auseinandersetzung mit der Trafikbesitzerin Triletti. Diese Auseinandersetzung, in der ich sie eine Schleichhändlerin nannte, und auch den Nationalsozialismus beschimpfte, hatte Folgendes zur Folge: Frau Triletti, aus Angst ich könnte eine Anzeige wg. Schleichhandel erstatten, kam mir zuvor und zeigte mich wegen Beschimpfung des Nationalsozialismus an.136 Wenn 133 134 135 136
Vgl. BZ Nr. 68 v. 26.08.1944, S. 1. StA B, GB 052/Personalakten: Seehof Wilhelm sen. (geb. 1882) – Niederschrift (16.05.1945). StA B, GB 052/Personalakten: Marie Pasetti (geb. 1888) – Anklageschrift (30.08.1944). Ebd. – Niederschrift (07.06.1945).
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man so will, man musste halt schneller als sein Gegenüber sein, um in dieser NS-Welt, die kurz vor dem Zusammenbruch stand, bestehen zu können. Und es konnte jeden treffen. Rosa Welz, die unter anderem das jüdische Ehepaar Richard und Rosa Marcus mit Dutzenden Anzeigen traktiert hatte (siehe Kapitel 24 Darwin), wurde im Mai 1944 nun selbst Opfer einer Denunziantin, der Wäschereiangestellten Susanne Reisinger. Welz‘ Vergehen bestand in der Frage: Jetzt hauen sie ganz Berlin zusammen und der Hund kapituliert nicht. Daraufhin wurde sie von der Gestapo verhaftet, vier Wochen eingesperrt, dann jedoch wieder freigelassen, weil Frau Reisinger als unglaubwürdige Denunziantin sogar von der Gestapo erkannt wurde.137 Und auch diesem Fall lag ein gewöhnlicher Streit zugrunde, wie Susanna Reisinger nach 1945 zu Protokoll gab: Ich habe die Anzeige gegen Frau Welz deswegen gemacht, weil sie gegen mich unverträglich war.138 Susanna Reisinger galt als eine streitsüchtige und gefährliche Angeberin und Rose Welz als eine eifrige Denunziantin, die auch nicht davor zurückschreckte, handgreiflich zu werden – demnach zwei Menschen, denen man am besten aus dem Weg ging. Nach 1945 wiesen beide Frauen zwei weitere Gemeinsamkeiten auf. Beide mussten sich wegen Denunziation verantworten und bei beiden versagte das Erinnerungsvermögen. * Was die Strafverfolgung anbelangte, finden wir auch weiterhin das Modell „Willkür und Antirechtsstaat“ vor – mit den Pendelschlägen Richtung „Gnade vor Recht“ auf der einen und drakonischen Strafausmaßen auf der gegenüberliegenden Seite. Was aber im Hinterkopf zu behalten ist, ist, dass wir uns im Jahre 1944 befinden. Der Frust saß tief, das Wasser stand dem NS-Regime bis zum Hals, und der Ertrinkende greift bekanntlich nach jedem Strohhalm. In unserem Fall bedeutete das, dass an der Terrorschraube gedreht wurde. Vorwürfe bezüglich verschwundener Schweinehälften, nicht mehr auffindbarer Weinflaschen oder Zahlenstürzen bei Preisbildungen und Mengenangaben wogen 1944 deutlich schwerer, als der Feind bereits auf Reichsboden stand, als noch 1942, wo die deutsche Wehrmacht die Reichsgrenzen vom Atlantik bis nach Stalingrad und von Skandinavien bis in die afrikanischen Wüsten ausgedehnt hatte. Kleine und notwendige illegale Tricksereien, um den Alltag zu meistern, wie sie die Jahre zuvor praktiziert worden war, bargen dadurch ein viel größeres Risiko, unverhältnismäßige Strafen auszufassen. Die Badener Zeitung berichtete durchgehend über illegale Schlachtungen, Schleichhandel, fehlerhafte Preisbeschilderung und Überschreitungen der Höchstpreisgrenzen. Hinter all dem stand der Vorwurf der Sabotage und Wehrkraftzersetzung. Der Kaffeehauspächter Gustav Sima musste 319 RM Strafe zahlen, als bei einer Kontrolle im März 1944 festgestellt wurde, dass er eine Teeschale schwarzen Kaffee (ohne Milch) um 40 Rpf und eine gleichgroße Teeschale schwarzen Kaffee mit Milch um 32 Rpf verabreicht hatte. 137 StA B, GB 052/Personalakten: Reisinger Susanne (geb. 1889) – Aktenvermerk (27.04.1945). 138 Ebd. – Reisinger Aussage (26.04.1945).
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Was noch dazu kam, war eine politisch inkorrekte Bezeichnung: Bei der Gelegenheit mach ich Sie aufmerksam, dass die Bezeichnung „Mokka“ als den heutigen Verhältnissen entsprechend als irreführend zu bezeichnen und daher an sich zu beanstanden ist.139 Offenbar ein Flüchtigkeitsfehler seinerseits, doch die Behörden legten so etwas als kriegsschädigendes Verhalten aus. Gleich 5000 RM Strafe wurden dem Gastwirt Max Krebs (Palffygasse 2) aufgedonnert, weil er bei der Zubereitung seiner Speisen nicht die vorgeschriebenen Mengen verwendet hatte, die den erlaubten Lebensmittelmarken entsprochen hätten – nähere Details liegen nicht vor.140 Neu war das alles nicht und ist bereits oftmals von mir thematisiert worden. Aber es wirkt auf mich persönlich grotesk und eigentlich klischeehaft, wenn ich lese, dass der Wäschereibesitzer Rudolf Schmiedt bei der amtlichen Viehzählung vom März 1944 drei Enten und zwei Gänse verschwiegen hatte und dadurch in behördliche Bedrängnis geriet. Bei ihm kam hinzu, dass er die Tiere schoppen (mästen) ließ und damit gegen das Tierschutzgesetz verstieß. Wenn wir bedenken, in KZ- und Vernichtungslagern wurden zur selben Zeit Menschen täglich zu Tausenden ermordet und in Baden wird, nach den Gesetzen ein und desselben Regimes, jemand wegen Tierquälerei angezeigt. Und die Gutsverwalterin Rosa Schawerda hatte bei selbiger Viehzählung angegeben, acht Hühner zu besitzen, dabei waren es vierzehn. Somit verschwieg die Frau sechs Hühner. Die behördliche Hochrechnung ergab, dass das pro Henne und Jahr 70 Eier ausmachte, mal sechs ergab das eine Summe von 420 Eiern. Das hieß nichts anderes, als dass sie das deutsche Volk um 420 Eier betrogen habe und das in einer Zeit, wo ebendieses um seine Existenz kämpfte.141 Vermutlich mehr Glück als Verstand hatte August Hauer, Gertrud Maurers Vater, der als Blockwart für das Ausspähen von freiem Wohnraum zuständig war, seine Aufgabe aber nicht ganz so akkurat nahm. So wurde eine alleinstehende Nachbarin gleich bleich, als Papa mit seinem Fragebogen daherkam. „I waß,“ sagte Papa, „Sie haben eh nur das Zimmer da und a Kabinett – “ er deutete mit den Augen auf die Zimmertüre hinter der Dame – , „und a paar Kinder, für die S‘ an Platz brauchen…“ – „Ja, ja,“ stotterte die Dame, „eine Tochter in Wien…“ – “Na, dann kann i ja glei wieder gehen,“ sagte Papa und erzählte zu Hause belustigt, was für einen Schreck die Dame gehabt hätte. Obendrein gab es für das Wegsehen eine Gegenleistung. Bei nächster Gelegenheit steckte sie ihm dankbar ihre Raucherkarte zu und blieb bei dieser löblichen Gewohnheit bis zum Ende des Krieges.142 Eine Nettigkeit, die glücklicherweise nicht durch eine anonyme Anzeige besorgter Volksgenossen das behördliche Interesse weckte. Schließlich machte sich August Hauer damit schuldig, das Deutsche Reich zu schädigen, zu verraten, zu sabotieren oder Sonstiges, je nach Laune der Anklage – und das als Parteigenosse. Ein besonders interessanter Fall, was Willkür und vor allem Glück anbelangte, ereignete sich rund um den Elektriker Karl Klima. Als Elektriker war er zu jener Zeit in der Villa 139 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Sima Gustav (1883–1966). 140 Vgl. BZ Nr. 76 v. 23.09.1944, S. 3 – Max Krebs (1901–1954). 141 Vgl. StA B, GB 231/Preis- und Lebensmittelkontrolle II; Fasz II; März 1944 – Rosa Schawerda (geb. 1906). 142 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 211.
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Albrechtsgasse 6 beschäftigt gewesen, wo es hieß, General von Kluge verbringe dort seinen Urlaub. Offenbar dürfte er dort so einiges aufgeschnappt haben, und er war nicht abgeneigt, sein Wissen auch zu teilen. Er tat dies im Jänner 1944, mitten im Geschäft von Erich und Franziska Hanay (Kaiser Franz Josef-Ring 51). Die Arbeit müsse in 10 Tagen fertig sein, weil das Führerhauptquartier und der Stab Rommel herkommen. Drei im Geschäft anwesende Kundinnen konnten es kaum fassen und als sie erstaunt nachfragten, soll Karl Klima noch zum Besten gegeben haben: Ja, ja die kommen her, in 14 Tagen wird Baden bombardiert werden. Mit seinem Gerede hätte er die drei Frauen dermaßen in Unruhe versetzt, dass sie ihre Unruhe nur durch eine Anzeige zu bändigen vermochten. Das Gericht erkannte, zehn Monate später im November 1944, in Karl Klimas Aussage eine wissentlich herbeigeführte Beunruhigung der „Volksgemeinschaft“, die beunruhigend und auf den Willen der von diesen Mitteilungen betroffenen Personen zur wehrhaften Selbstbehauptung nachteilig einwirken könnte, ferner dass diese Äußerungen von den drei Frauen weitergetragen und in einem unkontrollierbaren Umkreis diese schädliche Wirkung zu üben vermochten. Mildernd wirkte sich aus: Er [Karl Klima] hat seiner Wichtigtuerei und Schwatzsucht nachgegeben und dabei die eben bezeichneten Wirkungen mindestens in Kauf genommen. Ein darüber herausreichender böser Vorsatz ist nicht nachweisbar und nach dem persönlichen Eindruck des Angeklagten nicht einmal wahrscheinlich.143 Dennoch: Zwei Jahre Zuchthaus waren die Folge – die im Jänner 1945 auf fünf Jahre erhöht wurden. Er kam nach Stein a.d. Donau bzw. in die Außenstelle, in das Lager Moosbierbaum. Über seinen dortigen Aufenthalt gab er sich ziemlich bedeckt. Über die dortselbst erlittenen Quälereien und Misshandlungen will ich hier nicht näher eingehen.144 Trotz all dem würde in seinem Fall der Spruch „Glück im Unglück“ seine Berechtigung haben. Denn Karl Klima war „Mischling 1. Grades“ und bereits zweimal wegen Betrugs und einmal wegen Diebstahls verurteilt worden, und das als Wehrmachtssoldat, der sich 1938 freiwillig zur Luftwaffe gemeldet hatte und an den Feldzügen gegen Polen und Frankreich teilgenommen hatte. Ordensmissbrauch, Amtsanmaßung, Diebstahl und Erschleichung eines Urlaubs – dieser Vergehen hatte er sich schuldig gemacht. 1942 entwendete er aus einem Lazarett eine Offiziersuniform, mit vielen schönen Orden darauf, fälschte einen Urlaubsantrag, und das alles mit dem Vorhaben, sich nach Jugoslawien abzusetzen, um sich dort den Partisanen anzuschließen. Die Todesstrafe wäre ihm sicher gewesen, doch offenbar verfügte er über eine Gabe, die man mit Bauernschläue umschreiben könnte. In der Verhandlung sei es Klima und seinen Mitschuldigen gelungen, als kleiner Gernegroß dargestellt zu werden, die sich genau eine Spielerei gemacht hätten, einmal in Offiziersuniform spazieren fahren zu können. Damit sei es zu erklären, dass sie verhältnismäßig glimpflich davongekommen sind. Die wahren Hintergründe seien nicht aufgeflogen.145
143 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Klima Karl (geb. 1920) – Gerichtsurteil (20.11.1944). 144 Ebd. – Aussage (01.01.1946). 145 Ebd. – Magistrat Linz an Klinger (25.10.1947).
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Ideologie zu vergeben und die Ehre auf Abwegen Der Zweite Weltkrieg weist zahlreiche „große“ Begebenheiten, Daten und Schauplätze auf, die in keinem Geschichtsbuch fehlen dürfen. Beginnend am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen, dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 in Compiègne, Unternehmen Barbarossa, Stalingrad, Wannseekonferenz, Pearl Harbor, Hiroshima usw. – um hier nur ein paar zu nennen. Solche epochalen Ereignisse hatten Einfluss auf die entlegensten Winkel des Großdeutschen Reiches – Baden war keine Ausnahme. Angst und Freude über den Kriegsbeginn, Angst und Freude über das Niederringen Frankreichs, Angst und Freude über die Niederlagen im Osten usw. Es ließen sich genug weitere Daten und Ereignisse anführen und die vielfältigen Reaktionen darauf darlegen, doch wieder einmal würde das den Rahmen dieses Buches sprengen. Trotzdem möchte ich drei Ereignisse aus dem Jahre 1944 hernehmen und darstellen, welche Auswirkungen sie auf Baden hatten bzw. auf bestimmte Badener. Das erste Ereignis fand am 19. März 1944 statt und gehört nicht unbedingt zur historischen Prominenz unseres historischen Wissensfundus. In dem Situationsbericht lesen wir dazu: Die Regierungsumbildung in Ungarn und der Einmarsch deutscher Truppen in dieses Land hat unter der deutschen Bevölkerung allgemeine Befriedigung ausgelöst.146 Interessant, wie hier Einmarsch mit Regierungsumbildung umschrieben wurde. An diesem Tag marschierte die deutsche Wehrmacht in Ungarn ein und löste in Folge die Massendeportationen ungarischer Juden aus. Ein Teil dieser Menschen fand sich, wie wir im Kapitel zuvor gelesen haben, in Baden wieder, wo sie unter unerträglichen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten mussten, brutaler Gewalt ausgesetzt waren und ihre Ausgrenzung dermaßen hermetisch ausfiel, dass es nicht einmal für Volksgenossen möglich war, mit ihnen ein paar Worte zu wechseln, ohne selbst zur Zielscheibe des NS-Terrors zu werden. Einige Badener bezahlten für solch ein Fehlverhalten einen hohen Preis. Die meisten unterließen es lieber von vornherein. Gleichgültigkeit, aber vor allem Angst lähmten und zwangen hier zum Wegsehen. Aber es war nicht nur Angst. Es war auch ein irrationales Schuldgefühl darüber, dass wir das Land verlassen hatten, während unsere Familien dort geblieben waren.147 Hier spricht kein Badener, der in Baden weilte. Hier hören wir Karl Pfeifer, der damals, als die Wehrmacht in Ungarn einmarschierte, schon seit fast einem Jahr in Palästina im Kibbuz Schaar Haamakim lebte. Sein dortiges Dasein beschrieb er als spartanisch und inmitten eines Völkergemischs, wo ein jeder eine andere Sprache sprach. Um die babylonischen Verhältnisse zu entwirren, galt es, so schnell wie möglich Hebräisch zu erlernen. Für ihn kein leichtes Unterfangen, doch die Motivation war da. Was er nicht schaffte, war das Schlachten von Kaninchen. Hierbei, wie er es formulierte, versagte er total. Geprägt war der Alltag von harter Arbeit auf Maisfeldern, bei unwirtlichen Temperaturen, stürmischen Winden, Millionen an Gelsen und einem Arbeitsdrill, der es in sich hatte. Wer seine Reihe abgeerntet hatte, konnte Wasser trinken und sich hinsetzen. Wer aber so wie wir als letzte kam, 146 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10, März 1944. 147 PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 79.
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hatte weniger Zeit, um sich auszuruhen.148 Man möchte meinen, nicht anders erging es vielen beim Reichsarbeitsdienst (RAD) oder auf den Weinbergen rund um Baden. Es fehlte auch nicht an politischer Propaganda und an teilweise selbst auferlegter Indoktrinierung und Askese, schließlich gehörte er der Schomer Hazair an, der Internationalen sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation. Ich nahm die Lehren des Schomer Hazair – kein Alkohol, kein Tabak und kein sexueller Verkehr – sehr ernst und hielt mich auch daran.149 Marx und Engels waren Pflichtlektüren, Stalins Rede sowieso, und zwischendurch wurde Selbstkritik geübt. Politische Debatten waren alltäglich. Es ging um nichts weniger als darum den Kommunismus mit dem säkularen Judentum und dem modernen Zionismus zu vermengen. Was aber nicht fehlen durfte, waren religiös-völkisch traditionelle Werte, basierend auf der Hingabe zu den alten Traditionen, zur hebräischen Sprache und zum biblischen Palästina, und das alles in einem gemeinschaftlichen Setting, wo das Gemeinschafts- und Gruppengefühl hochgehalten wurde, wo der Wunsch nach der Reifung eines neuen Menschen bestand und wo Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit an erster Stelle stehen sollten. Was hier betrieben wurde bzw. das Ziel des Ganzen ähnelte der Quadratur des Kreises. Als er von der Besatzung Ungarns erfuhr, keimten nicht nur Schuldgefühle auf, sondern auch Neid. Neid auf seine älteren Kameraden, die als Soldaten der britischen Armee gegen Hitler-Deutschland in den Krieg ziehen durften, während er, mit seinen sechzehn Jahren, zum Zusehen verdammt war. Diese Tatsache ließ ihn beinahe verzweifeln, und er spielte mit dem Gedanken, sich bei den Rekrutierungsbehörden älter zu machen. Letztendlich verwarf er die Idee, denn zu groß war die Angst, dass man bald mein richtiges Alter herausfinden und mich mit Schimpf und Schande nach Schaar Haamakim zurückschicken würde.150 Dieser Krieg sollte ihm keine Gelegenheit bieten, um in die Schlacht zu ziehen. Ein bisschen musste er sich noch in Geduld üben – 1948 sollte es dann soweit sein. Tausende Kilometer westlich von ihm entfernt treffen wir einen weiteren Badener, der, ähnlich wie Karl Pfeifer, sich ebenso von gewissen Ideen verabschieden musste. Mit dem 6. Juni 1944, der Landung alliierter Armeen an der Nordküste Frankreichs, änderte sich Alois Brusattis bisheriges Leben als Besatzungsoffizier in Boulogne – nicht gleich, aber doch. Wir studierten nur die Situation und sahen die seit Ende Juli näherrückende Front. Dabei lebten wir dahin – manchmal wie auf einem Vulkan, wir soffen (so muss ich es wohl sagen), und manche von uns trieben es mit den „Fräulein“ ziemlich ausgiebig.151 Dann folgte die Ernüchterung. Keine Reitstunden, kein Champagner und keine Sightseeing-Touren mehr durchs besetzte Frankreich. Operation Overlord, sprich die Invasion alliierter Truppen in der Normandie, erregte auch in Baden die Gemüter, wie es Kreisleiter Gärdtner zu Papier brachte, wobei er eigentlich nur von einer „beeindruckenden“ Stimmung im Kreisgebiet schrieb. Es herrschte die 148 149 150 151
Ebd. S. 70. Ebd. S. 77. Ebd. S. 79. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 41.
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Überzeugung vor, dass diese neu eröffnete Front im Norden Frankreichs sich massiv auf die Ostfront auswirken würde – der Russe stand schließlich schon kurz vor der Ostsee.152 Für Alois Brusatti war dies viel mehr als nur eine „beeindruckenden“ Stimmung. Der feindlichen Übermacht im Westen hatten die deutschen Truppen nichts entgegenzusetzen. Am 1. September 1944 begann die Belagerung von Boulogne. Bombenhagel, Sturm- und Gegenangriff – so sahen die nächsten Tage aus. Ob Alois Brusatti sie überleben würde, stand in den Sternen. Einmal wurde er zwischen zwei Bombentrichtern lebendig verschüttet, doch Fortuna blieb ihm treu. Zwölf ganz jungen Kameraden von ihm jedoch nicht. Brusattis letzter Tag als kämpfender Wehrmachtssoldat fiel auf den 17. September 1944. Es war eine schaurige Nacht; überall brannten Häuser; dort wo die eigene Artillerie gewesen war, ragten nur mehr zerschossene Geschütze in die Luft und immer wieder krachten um uns herum Granaten. Eine davon traf den Bunker, in dem er und seine Männer sich verschanzt hatten. Der Einschlag war dermaßen heftig, dass der Bunker in sich zusammenstürzte. Ein Teil der Mannschaft schaffte es, sich auszugraben, doch an Flucht war nicht mehr zu denken, feindliche Panzer rollten bereits an. Erkennend, dass es vorbei war, und den Kampf bis zum letzten Mann ablehnend, ergaben sie sich – nur bei Alois Brusatti regte sich auf einmal die Todessehnsucht. Ich weiß auch heute nicht recht: Ich zog meine Pistole und richtete diese gegen mich: Wollte ich mich wirklich erschießen oder spielte ich mir was vor? Es ertönte kein Schuss aus seiner Waffe, die weiße Flagge wurde gehisst, er wurde von einem Soldaten gepackt, von einem Sergeant auf einen Jeep gezogen und in ein mehrere Kilometer entferntes, mit Stacheldraht umgebenes Feld verfrachtet. Als erstes nahm mir übrigens der dortige Offizier meine Uhr weg. Ohne irgendwas, nur mit einer defekten Uniform kam ich in die Gefangenschaft…153 Seine aus NS-ideologischer Sicht an den Tag gelegte Feigheit, nicht bis zum letzten Atemzug gekämpft zu haben, brachte ihn für die nächsten 27 Monate in alliierte Gewalt. Für ihn bedeutete das: 27 Monate Abstinenz, 20 Kilo weniger an Leibesfülle und ein emotionales Wirrwarr. Dieses bestand aus der Angst, getötet zu werden, dem Hadern, sich seinem Schicksal zu fügen, dem Verlangen, Widerstand zu leisten und der Hoffnung auf den baldigen Einsatz von Wunderwaffen.154 Hoffnung beflügelte auch der 20. Juli 1944, als eine Verschwörungstruppe aus Offizieren rund um Stauffenberg, Witzleben, Beck, Stülpnagel und viele andere ihren Oberkommandierenden in die Luft zu sprengen gedachten. Als Alois Brusatti davon erfuhr, blieb ihm zum einen die Rede Hitlers in Erinnerung, die er als widerlich empfand, weil voller Hass und Geifer, und zum anderen, dass er an jenem Tag ins Freie stürmte – an diesem Tag verlor ich meine Naivität und Sorglosigkeit. Alle Werte, die mir auferlegt waren, veränderten sich radikal. Ich fing an, laut zu kritisieren, allerdings unbestimmt ohne zu wissen, was damals etwa gegen Juden und andere Reichsfeinde gemacht wurde.155 152 153 154 155
StA B, GB 052/Kreisleitung; Fasz I; Lagebericht Juli 1944. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 42. Vgl. ebd. S. 44f. Ebd. S. 41.
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Dass das Stauffenberg-Attentat ein zentrales Thema in puncto Widerstand darstellt, ist weitgehend bekannt. Dass die fehlgeschlagene Aktion sogar bis nach Baden ihre Wellen schlug, wahrscheinlich eher weniger. Die Badener Zeitung wandte dafür am 22. Juli 1944 eine Viertelseite auf. Dem Führer ginge es gut, ansonsten fehlten jegliche Hintergrundinformationen. Danach kam es zu Treuekundgebungen, Fahnenumzügen, Treuemärschen und einem Ansprachen-Marathon im gesamten Kreisgebiet.156 Und das war auch bitter nötig, denn die Gerüchteküche brodelte. Hitler wäre aufgrund des Bombenanschlags vollkommen wahnsinnig geworden und hätte durch ein Double ausgetauscht werden müssen. Ein verrückter Hitler, eigentlich ein Schulbeispiel für einen Pleonasmus, aber so etwas kam Gertrud Maurer zu Ohren157 Hinter den Kulissen spielte sich jedoch auch eine ganz andere Szenerie ab. Die Sicherheitsbehörden gingen selbst in Baden gegen altbekannte Systemgegner vor. In Bedrängnis geriet der ehemalige CSP-Politiker und Gymnasialdirektor Otto Sulzenbacher. Der Mann, der ohnehin ein Geisterdasein lebte und sich sogar an den Mondsee zurückgezogen hatte, wurde trotzdem aufgespürt, verhaftet und durfte die nächsten Monate in Wien, Linz und Wiener Neustadt in Untersuchungshaft verbringen – ohne ein einziges Mal vernommen zu werden. Um auf Nummer sicher zu gehen, ging es für ihn von der U-Haft direkt zu Schanzarbeiten an den Ostwall.158 Getroffen hatte es auch den ehemaligen Heimwehrmann Dr. Franz Eckert, der jedoch, dank der Intervention von Ludwig Schumits jun. die Haft unbeschadet verlassen durfte (siehe Kapitel 27 Schatten und Zwielicht).159 Auch Hans Hanauska – jener Mann, der als Angestellter bei den Wiener Neustädter Flugzeugwerken im Lohnbüro Regimefeinden, Juden sowie Fremd- und Zwangsarbeitern half (siehe Kapitel 28 Bitternis) – geriet nach dem 20. Juli 1944 ins Visier der Gestapo. Er stand schon auf der Liste der zu entfernenden Mitarbeiter. Nur durch das Einschreiten der Unternehmensführung behielt er seine Anstellung. Und Hans Hanauska war ganz und gar nicht im konservativ-bürgerlich-adeligen Milieu verankert, wie die Gruppe rund um Stauffenberg, sondern durch und durch im sozialistischen.160 Indirekt geriet auch Otto Kümmel in Schwierigkeiten – jener Mann, der als Leiter des Aufstellungsstabes in St. Pölten vor allem österreichische Soldaten aus fadenscheinigen Gründen zurückbehielt (siehe ebenso Kapitel 28 Bitternis). Als nach dem gescheiterten Attentatsversuch der deutsche Gruß in der Wehrmacht eingeführt wurde, quittierte er diese Neuerung mit abfälligen Bemerkungen. Beliebt machte er sich dadurch nicht. Es kam zu einer Anzeige seitens der Gestapo und der Abwehrstelle im Wehrkreis XVII.161 Und Ernst Röschl berichtete nach 1945 noch, dass ein 156 157 158 159 160
Vgl. BZ Nr. 59 v. 26.07.1944, S. 1. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 218. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 39. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Schumits Ludwig jun. – Aussage (16.11.1945). Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Hanauska Hans (geb. 1914) – Aussage (25.04.1947). 161 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Kümmel Otto (geb. 1898).
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Regimentskamerad seines Vaters aufgrund von Verwicklungen in das Stauffenberg-Attentat in der Badener-Kaserne erschossen worden war.162 In den Berichten ist davon allerdings nichts zu lesen. Darin blieb es in der Kurstadt relativ ruhig. Die Stimmung in der Bevölkerung schwankt, dies ist nicht verwunderlich in diesem bewegten Kriegsgeschehen, doch kommt es auf die ohnedies wandelbare Stimmung nicht an, entscheidend ist die Haltung.163 Doch trotz anständiger Haltung wurde Baden sicherheitshalber in Alarmbereitschaft versetzt, die SS zusammengezogen und die Ortsgruppenleitungen blieben die ganze Nacht über besetzt. Danach stellte man fest, dass nirgends im ganzen Kreisgebiet Zeichen der Unruhen aufscheinen. Aber gewisse Unruhe herrschte dann doch vor, denn Gärdtner bat in taktvollerweise um Aufschluss über die Haltung des Offizierskorps. Schließlich befand sich in der Kurstadt eine Kaserne. Ich wies daraufhin, dass mir bekannt ist, welche politische und weltanschauliche Entwicklung einzelne hier ansässige Offiziere nahmen, dass diese aber niemals weiter beachtet wurden, weil die Auffassung bestand, der Soldat werde seinen dem Führer gegebenen Fahneneid nicht brechen. Das gestrige Attentat auf den Führer erlaubt nicht mehr, diese Auffassung allgemein gültig aufrecht zu erhalten, obgleich die Wehrmacht wegen der Schurkerei Einzelner nicht insgesamt verurteilt wird.164 Der Attentatsversuch brachte das Regime in eine missliche Lage. Das Vertrauen in die Wehrmacht war erschüttert, aber für den „Endsieg“ brauchte es fähige Offiziere. Am besten solche, die politisch aktiv waren und eine nationalistische Haltung an den Tag legten. Das Aufspüren legte die Gauleitung im September 1944 in die Hände der Kreisleiter und forderte ein, dass die Aktion in außerordentlich taktvoller Weise durchgeführt werden müsse, damit sie nicht in die Öffentlichkeit dringe. Doch einige Kreisleiter delegierten den Auftrag an ihre Ortsgruppenleiter weiter. Damit vergrößerte sich automatisch der Personenkreis – was für die taktvolle Geheimhaltung natürlich suboptimal war – und es passierte das, was nicht passieren sollte. Die Wehrmacht bekam davon Wind und fühlte sich von der NSDAP dadurch hintergangen. Die Gauleitung war erbost. Hierdurch entsteht eine unerwünschte Belastung des Verhältnisses Partei-Wehrmacht, die gerade jetzt unbedingt vermieden werden muss.165 Das Endergebnis der Rekrutierung NS-affiner Offiziere fiel zu allem Überfluss auch noch recht bescheiden aus. In den meisten Fällen haperte es am Alter. Die meisten Ortsgruppen lieferten ohnehin Leermeldung ab. Fünf Ortsgruppen fanden es nicht einmal der Mühe wert, die Leermeldung mit der Schreibmaschine abzutippen. Es waren regelrechte Schmierzettel, wo einfach mit Bleistift „Leermeldung“ draufgeschmiert wurde. Letztendlich konnte man 23 Kandidaten auftreiben. Eine Handvoll wurde rot unterstrichen oder
162 Vgl. StA B, Oral Historie 1938–1955. 163 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Gimbosia Aurel (geb. 1887) – Gärdtner an Blechinger (28.7.1944). 164 StA B, GB 053/Kriegsalltag III; Fasz. II Abwehrkämpfe u. Abwehrmaßnahmen; Stauffenberg-Attentat – Lagebericht Kreisleitung (21.07.1944). 165 StA B, GB 052/Kreisleitung Baden; Fasz. II; Meldung von NS-Offizieren – Gauleitung an Kreisleitungen (22.09.1944).
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mit einem Haken versehen. Darunter haben wir Personen wie den durch seine Karikaturen in Ungnade gefallenen Franz Bilko (siehe Kapitel 6). Weiters auf der Liste finden wir den späteren Bürgermeister Viktor Wallner. Er und Hauptmann Robert Weiß waren von den 23 Personen die einzigen, die keine Parteimitgliedschaft besaßen. Weshalb jene Männer eine aktive nationalistische Haltung an den Tag gelegt hätten, erschließt sich aus der vorliegenden Liste nicht. Der 20. Juli 1944 zählt zu den berühmtesten Widerstandsaktionen, insbesondere im bürgerlich-nationalkonservativen Lager. Die allermeisten führenden Protagonisten bezahlten dafür mit ihrem Leben. Die Gefahr war bekannt. Die meisten Menschen wollten aber lieber überleben. Allem voran, weil die Niederlage mit Riesenschritten immer näherkam – dann noch zusätzliche Risiken eingehen! Die alliierte Deklaration, dass Österreich zu seiner Befreiung einen Beitrag leisten musste, konnte großzügig bzw. realistisch ausgelegt werden. Als Aufruf zum bewaffneten Kampf wurden sie in den allerwenigsten Fällen verstanden. Irgendwie durchkommen, überleben um jeden Preis, sich möglichst ruhig, möglichst passiv verhalten – so lautete die Devise ab 1943. Das war es, was die allermeisten Österreicher zu ihrer Befreiung beitragen konnten und wollten. Mehr nicht.166 Dafür bereicherte das Stauffenberg-Attentat die Denunziation um eine weitere Nuance. Gebe Ihnen bekannt, dass Frau Ittmann Ausland hört und die Feindpropaganda weiter verbreitet. […] Sie gehört der Menschenklasse an, die am 20. Juli 1944 unseren Führer beseitigen wollte. […] Sie hetzt die Leute auf, sie sollen Revolution machen und die verfluchten Nazi zum Teufel hauen. Sie hat auch einen Revolver bei sich, dass sie bei einem Aufstand gegen die Nazi schießen kann. […] Als Hure ist sie verschrien, arbeiten tut sie nichts, sie sabotiert.167 Dies schrieb ein gewisser Alfred König nieder, wobei wir sehr Ähnliches genauso von einem Josef Maier zu lesen bekommen. Beide Herren teilten sich nicht nur den Hass auf Elfriede Ittmann, eine Krankenschwester und Arztgehilfin im Ärztehaus in den Semperit-Werken in Traiskirchen, sondern auch dieselbe Handschrift. Wer sich hinter den beiden Namen verbarg, konnten die Behörden nicht restlos klären, aber es störte nicht dabei, gegen die besagte Frau vorzugehen. Schließlich sei sie schon vor dem Anschluss gegnerisch eingestellt gewesen, würde nichts spenden, habe politischen Leitern den Zutritt in ihr Haus verweigert, höre Feindsender, entziehe sich bei jeder Gelegenheit durch Krankmeldung ihrer Arbeit und würde sich abfällig über den Staat äußern. Von der Ortsgruppe Baden-Weikersdorf wiederholt vorgeladen, hat sie diesen Aufforderungen unter nichtigen Ausflüchten bis heute nicht Folge geleistet.168 Noch dazu soll sie einem an der Front stehenden „Arbeitskollegen“, Franz Knotz, Päckchen mit Schokoladenzuckerln und Zigarren zugeschickt haben. Woher sie diese Dinge hatte, das musste sogleich in Erfahrung gebracht werden. Aber eine bei ihr durchgeführ166 BAUER, Die dunklen Jahre, S. 317. 167 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Ittmann Elfriede (geb. 1898) – Kreisleitung an die Gauleitung (04.11.1944). 168 Ebd.
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te Hausdurchsuchung konnte nichts Belastbares liefern. Auch wurden keine Salami, kein Schmalz und keine Eier vorgefunden – all das hätte sie ebenso bei sich zu Hause horten sollen, so zumindest Alfred König und Josef Maier. Elfriede Ittmann vermutete, dass es sich bei der Denunziation um einen gewöhnlichen Racheakt handeln könnte. Ihr Verdacht fiel auf eine vorgesetzte Ärztin. Grund der Rache: Eifersucht. Grund der Eifersucht: der Franz.169 * Im Angesicht der aufziehenden Niederlage des Großdeutschen Reiches begann in Baden – natürlich nicht nur – ein Nachdenken über die Zeit danach. Gertrud Maurer, die zuvor aufgeschnappt hatte, dass Hitler vollkommen durchgedreht sei und durch einen Doppelgänger habe ersetzt werden müssen, schnappte nun auf, dass Josef Kollmann, trotz Hausarrests weiterhin genug Autorität ausstrahle, um die Zügel wieder in die Hand zu nehmen und bereits Pläne für die nach-NS-Zeit schmieden würde. Als Nummer 1 bei den Schwarzen war er gesetzt, bei den Roten geisterte der Name Ludwig Werba umher – der jedoch am letzten Kriegstag einer Bombe zum Opfer fallen sollte.170 Selbiges bestätigte Ernst Röschl. Im Juli/August 1944 wurde ich von Bgm., Min. a.D. Josef Kollmann zu einem Gespräch über die Zukunft Badens nach dem Kriege eingeladen. Im Café Scherer am Franz-Ring Ecke Mariengasse war das Treffen mit Kollmann, Schwabl (Germergasse), Felix Stika, einem Hr. Modena u. besonders interessant Carl Seitz, der ehem. Bürgermeister von Wien, als Vertreter von Gen. Körner. Für mich mit meinen 20 Jahren eine besondere Ehre.171 Und da haben wir sie wieder, die Ehre, die uns von Anfang an begleitet hat. Die Putschisten rund um Stauffenberg sprachen auch von Ehre, der Ehre des Deutschen Reiches, die es vor Hitler und seinen Schergen zu retten galt. Ebenso Offizier, aber kein Putschist, war Alois Brusatti, der seine Ehre als deutscher Offizier etwas anders definierte als Stauffenberg und Konsorten und die er auch mit seiner Gefangenschaft nicht ad acta zu legen gedachte. Manche, wie er sich erinnerte, trugen, um ihrer Ehre Ausdruck zu verleihen, während der Gefangennahme oder Gefangenschaft demonstrativ das Ritterkreuz. Für ihn ein kindischer Protest. Sein Akt der Ehrendemonstration sah anders aus und erfolgte, als er von einem französischen Kriegsgefangenenlager in ein englisches ausgeflogen wurde. Dort angekommen, wurden Name, Dienstgrad und letzter Truppenteil verlangt. Da ich dies nicht gleich sagen wollte, bekam ich einen Schlag mit einem Stock und jenes „fucking german“ zugeschrieben; das sollte ich noch oft hören.172 Seine Ehre war dem siegreichen Feind vollkommen gleichgültig, und man ließ ihn das von Anfang an spüren. Als einmal ein Kanister Trink169 StA B, GB 052/Polit. Beurteilungen: Ittmann Elfriede – Schupo Baden an Kreisleitung (17.10.1944). 170 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 248. 171 StA B, Oral History 1938–1955, Röschl Ernst 1938–1945, S. 10. 172 Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 42.
Kapitel 30 Pathologische Zuversicht
wasser für die Gefangenen herbeigeschafft wurde, „übersah“ man offenbar den Ölfilm, der auf der Wasseroberfläche in den schönsten Farben schimmerte. Erst die Frau eines kanadischen Soldaten brachte frisches Wasser und etwas Brot.173 Alois Brusatti machte nicht nur die Erfahrung, dass ihm sein Ehrgefühl hier hinter alliiertem Stacheldraht nicht viel nützen würde. Er wurde auch Zeuge, welch mannigfaltige Auslegungsvarianten es bei der Ehre eines deutschen Offiziers denn gäbe. Offizierskameraden von früher mutierten reihenweise zu Feinden Hitlers – Stauffenberg hatte es schließlich salonfähig gemacht. Seine einst geäußerte Kritik am NS-Regime, die, wie er es sagte, unbestimmt war oder sich hauptsächlich gegen NS-Bonzen richtete, verschaffte ihm plötzlich neue Freunde. Als ein Oberleutnant an ihn herantrat, um ihn in die Reihen der Hitler-Gegner aufzunehmen, reagierte Brusatti irritiert und meinte, dass ich ja noch an den Eid gebunden sei. Er lächelte nur höhnisch und ließ mich stehen. Streitgespräche über Eide, Ehre, Stolz und Verrat waren vorprogrammiert. Es ließ mir keine Ruhe und es stürzte mich in große Gewissensnöte. Nachdem ich aber etwas später deutsche Offiziere traf, die auf einmal hundertprozentig „alte Gegner des Nazismus“ waren, kam ich mit diesen Leuten öfters ins Krachen. Mir erschien dieses Getue widerlich. Vielleicht dauerte meine geistige Umstellung auch länger als bei anderen.174 So schnell ließ ihn seine Ehre nicht aus ihren Fittichen. Die mit Baden-Bezug – im Zusammenhang sowohl mit dem Ehrgefühl als auch dem Stauffenberg-Attentat – wohl skurrilste Begebenheit lieferte Rosa Rudolph. Am 22. Juli 1944 wandte sich die Frau an die Führerkanzlei und schrieb: Zutiefst erschüttert und entrüstet von dem ruchlosen Anschlag auf Ihr Leben, erlaube ich mir als eine deutsche Frau, die schon viel für die Partei gearbeitet hat, Ihnen, mein Führer, meine herzlichsten Glückwünsche zu Ihrer wunderbaren Rettung hiermit auszusprechen! Gott erhalte Sie auch weiterhin zum Segen des Reiches – das ist unser aller innigster Wunsch! Aber ihre Sorge um des Führers Leben war nur das vordergründige Motiv ihres Schreibens. Das war nur die Präambel. Ich verbinde hierbei eine persönliche Bitte, mein Führer. Es handelt sich um meinen Ehemann, den techn. Kaufmann Alfred Rudolph. Ihr ging es darum, dass ihr Ehemann, der für Deutschland, für die Partei, für die Machtübernahme, für die Wehrmacht Unvorstellbares geleistete hätte, seine Uniform ablegen musste. Er wurde 1938 von Dresden zuerst nach Wien, dann nach Enzesfeld in die Metallwerke berufen, wo er sich, allen Widerständen zum Trotz und gänzlich nur allein auf sich gestellt, in der Rüstungsindustrie durchgesetzt und seine Abteilung, den Zünderbau, zu einem Musterbetrieb gemacht, welcher leider beim Explosionsunglück am 23.3.d.L. gänzlich vernichtet worden ist. Aber ihr Göttergatte gab nicht auf, er kannte nichts anderes als seinen Dienst, seine Aufbauarbeit und nichts anderes in steter Sorge, der Front die nötige Munition in brauchbarster Vollkommenheit zu beschaffen und so zu seinem Teile nach besten Kräften zum Siege unserer Waffen mit beizutragen. Ja, Rose Rudolph ließ sich Zeit, um zum eigentlichen Anliegen ihres Briefes zu kommen. Wichtig zu wissen ist, dass ihr Mann im Jänner 1942, als alter Frontsoldat, langjähriges Partei- und SA-Mitglied, zum Kriegs173 Vgl. ebd. S. 43. 174 Ebd. S. 44.
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techniker a.K. (auf Kriegszeit) ernannt wurde. Das bedeutete, er gehörte dem gehobenen technischen Dienst im Offiziersrang an und durfte dabei eine Uniform tragen. Ende des Jahres hätte dann die Umwandlung von „auf Kriegszeit“ auf „beamtet“ erfolgen sollen, wie dies bei all seinen Dresdener Kameraden inzwischen schon geschehen war. Doch es kam anders. Er wurde, da er die Altersgrenze überschritten hatte, von einem Heeresbeamten zu einem Zivilangestellten „degradiert“, musste deshalb seine Uniform ablegen und damit, wenn wir Rose Rudolph folgen, seine Ehre. Und das war der eigentliche Grund, weshalb sie sich persönlich an den Führer gewandt hatte. Bedeutet dies nicht gerade das Todesurteil, wenn er jetzt mitten im Kriege und noch dazu in einer militärischen Dienststellung eines Rüstungsbetriebes befindlich inmitten seiner Soldaten die Uniform ablegen muss […]? Jeder Pimpf ist stolz auf seine Uniform – aber mein Mann darf eine solche nicht einmal bei feierlichen Gelegenheiten, wie Heldengedenkfeiern usw. tragen, sondern muss mit seinem heißen Herzen verärgert beiseite stehen – ist das nicht mehr eine Strafe für ihn und wofür? Sie bat den Führer aus ganzem Herzen: Geben Sie meinem Mann, der sich dienstlich keiner Schuld bewusst ist und der ein Leben voller Mühen und Arbeit und viele Enttäuschungen durch die Hinterhältigkeit seiner Mitmenschen hinter sich hat, seine Uniform wieder – und wäre es nur für Kriegsdauer – indem Sie ihm zum „Wehrmachtsbeamten d.B.“ machen, nachdem er nahezu 12 Jahre im Heeresdienst verbracht hat. Und die Uhr tickte. Der jetzige entehrende Zustand ist für meinen Mann auf die Dauer ganz untragbar und ich muss befürchten, dass er mir aus Kummer darüber zugrunde geht! Machen Sie ihn, mein Führer, wieder zu einem glücklichen Menschen – seines steten Dankes dürfen Sie gewiss sein! Zum Schluss fügte sie noch ein kleines, aber nicht uninteressantes Detail hinzu. Es mag vielleicht nicht alltäglich sein, dass eine Frau sich in die milit. Dinge ihre Mannes einschaltet (ohne Wissen desselben!) aber der Ehefrau steht wohl ohne Zweifel das Recht zu, in einer so wichtigen Angelegenheit für ihren Mann zu bitten, was hiermit geschieht.175 Dieser Fall würde auch in das Kapitel 27 passen, wo wir uns mental-ideologischen Parallelwelten gewidmet habe. Denn in der Welt von Rose Rudolph war die Adjustierung ihres Mannes eine dermaßen wichtige Angelegenheit, dass sie überhaupt keinerlei Zweifel hegte, damit einen Menschen zu befassen, der noch vor zwei Tagen in die Luft gesprengt werden sollte und nur mit Glück überlebt hatte. Und sie verspürte genauso keine Skrupel, auf die Explosion in den Enzesfelder-Metallwerken einzugehen – in heutigen Zeiten wäre zumindest eine Trigger-Warnung angebracht gewesen. Berlin leitete ihr Ansuchen an die Parteizentrale in München weiter. Als Rosa Rudolph davon erfuhr, entsandte sie im August 1944 noch ein Ergänzungsschreiben hinterher. Diesmal ging es um einen ehemaligen Vorgesetzten ihres Ehemannes, einen jungen Mann – einer von denen, die in seinem bisherigen Leben für die Partei und die Machtübernahme unseres Führers noch niemals auch nur einen Finger gerührt – der dann ihrem Mann eine schlechte Bewertung ausgestellt hätte. Und sollte jemand geglaubt haben, Rosa Rudolph würde klein 175 StA B, GB 052/Personalakten: Rudolph Alfred (geb. 1883) – Rosa Rudolph an Adolf Hitler (22.07.1944).
Kapitel 30 Pathologische Zuversicht
beigeben oder sich abwimmeln lassen, dem versicherte sie: Ich werde nicht eher ruhen, bis meinem Mann Gerechtigkeit widerfahren ist […].176 Anfang Oktober 1944 nahm sie mit Gauleiter Jury Kontakt auf, da die Reaktion der Parteizentrale in München offensichtlich nicht ihren Erwartungen entsprochen hatte. Erneut zählte sie all die Verdienste ihres Ehemannes auf, wo er überall tätig gewesen sei und was er nicht alles für die NS-Bewegung geleistet habe – keiner Saalschlacht wäre er aus dem Weg gegangen und hätte dabei beinahe sein Leben verloren. Und auch das mit der Uniform, all der Kummer, den er nun erleiden musste, es war eine episch breite Suade im Namen ihres Gatten, die in der Forderung kulminierte: „Gebt meinem Manne, einem alten Frontsoldaten, der sich für seinen Führer in Stücke reißen ließe, seine Uniform wieder, die er allezeit in Ehren und mit Stolz getragen hat!“ Weiter will ich und er nichts – und dies ist gewiss nichts Unmögliches verlangt! […] (Er weiß auch von diesem Schreiben nichts!).177 In der Gauleitung hatte man ebenso nicht die Muße, sich mit ihrem Anliegen so richtig auseinanderzusetzen. Der Fall wanderte eine Zeitlang zwischen Gauleitung, Kreisleitung und dem Wehrkreis XVII hin und her, um letztendlich bei Kreisleiter Gärdtner zwecks endgültiger Bereinigung auf dem Schreibtisch zu landen. Gärdtner sah die Sache eher nüchtern. Für ihn war Alfred Rudolph Wehrmachtsbeamter bei den Enzesfelder Metallwerken und wurde dann wegen Erreichung der Altersgrenze aus dem Wehrmachtsbeamtenverhältnis entlassen, damit erloschen die von Frau Rudolph so sehnlichst begehrten Bezüge an Uniformpauschale, Verpflegungsgeld und Wehrsold, zusammen 135,- pro Monat. Rudolph verblieb als Zivilangestellter weiterhin in dieser Abnahmestelle und hat seinen geregelten und auskömmlichen Verdienst. Mit dem zunächst etwas unangenehmen Gefühl, dass im Dienst und an Jahren jüngere Leute in Uniform verwendet werden, er jedoch Zivilangestellter sein muss, hat sich Rudolph abzufinden; so geht es doch jedem Soldaten, der wegen Erreichung der Altersgrenze ausscheiden muss.178 Aus dem gesamten Schriftverkehr geht leider nicht hervor, ob Alfred Rudolph irgendetwas von all dem mitbekommen hatte. Wenn dem so war, dann hatten tatsächlich alle Beteiligten dichtgehalten – Chapeau. Eigentlich ein Wunder, schließlich setzte Rosa Rudolph Kreis-, Gau- und Reichsleitung sowie die Wehrmacht von alldem in Kenntnis. Womöglich wollte man ihm, sollte er tatsächlich dermaßen unter der Uniformablegung gelitten haben, die in seinem Namen beherzten Initiativen seiner Ehefrau, die schließlich doch ein wenig seine Mannesehre schmälerte, nicht auch noch aufbürden. Einen inneren Kampf gegen das Hinnehmen von Tatsachen führten sehr viele Menschen. Gertrud Maurer konnte sich selbst 1944 immer noch nicht mit dem deutschen Deutsch anfreunden. Nur das „Nee“ übernahm sie, weil es für sie einfacher über die Lippen kam als ein „Nein“. Ansonsten aber war ihr der altreichdeutsche Akzent ein Graus und besonders die Sprecherinnen, denn diese schnatterten […] wie ein umgeworfener Gänsewagen, und 176 Ebd. – Rosa Rudolph an die Parteizentrale München (27.08.1944). 177 Ebd. – Rosa Rudolph an Jury (07.10.1944). 178 Ebd. – Gärdtner an Ifland (31.10.1944).
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dabei kamen dauernd Wörter wie „zackig“ und „schnittig“ vor! 179 Ebenfalls nicht angekommen war Alois Brusatti in der sich für ihn neu gestalteten Realität. Er glaubte fest an ein Sendungsbewusstsein des bzw. seines Deutschen Reiches als europäische Ordnungsmacht. Es war für mich ein langandauernder geistiger Umstellungsprozess nötig, um mich von diesem Traum vom „Reich“ frei zu machen und mich in die Realität der Welt nach 1945 einzufügen.180 Das Denken in großdeutschen Dimensionen konnte man nicht so einfach ablegen – genauso wenig konnte man akzeptieren, dass der Krieg verloren war. Mit unseren gläubigen Herzen und starken Fäusten brechen wir in fester Ruhe den Übermut des Feindes und zwingen den Sieg herbei.181 Sieg durch Zwang, mittels Glauben an den Führer, denn die Alternative bedeutete Untergang. Ein Dschingiskhan in moderner Gestalt rast mit seinen gepanzerten Sklavenarmeen gegen das Abendland an, um diese Stätte der menschlichen Kultur für immer zu zerstören.182 Während hier Stalin als der neue Mongolenherrscher firmierte, der nur Tod und Zerstörung bringen würde, und Hitler das letzte Bollwerk des Abendlandes darstellte, waren in der Welt von Karl Pfeifer Verdammnis und Erlösung ganz anders gelagert. Er erinnerte sich, wie er damals ganz aufgeregt war, als ein Neuer ins Kibbuz kam, und das frisch aus der Sowjetunion. Als er ihn fragte, wie es dort wäre, in Stalins verheißungsvollem Land, erhielt er die unerwartete Antwort: „Antisemitismus und Hunger“. Ich war erschüttert, und sagte „Antisemitismus ist doch in der Sowjetunion verboten“, worauf er mich mit Recht darauf aufmerksam machte, dass er dort war und nicht ich. Doch so leicht ließ sich Karl Pfeifer nicht aus der ideologischen Bahn werfen. Er bohrte nach und wollte wissen, was die Eltern seines neuen Kibbuz-Kameraden in Polen von Beruf gewesen wären. Jener antwortete: „Sie hatten ein kleines Geschäft“. Nun war alles klar und ich plärrte heraus: „Aus dir spricht der Klassenstandpunkt“, denn nach meiner damaligen Anschauung gehörte ein kleiner Händler zu den Ausbeutern, der für uns natürlich auf der politisch falschen Seite stand.183 Auch Karl Pfeifer musste nach einiger Zeit die Erfahrung machen, dass gewisse Dinge nun einmal nicht so sind, wie man sie gerne hätte. Aber noch war es nicht soweit. Noch gab es das Gute und das Böse. Noch hatte der Tag Struktur. * Liebe Leserin oder lieber Leser, damit schließe ich das Jahr 1944 ab. Wir kommen dem Ende der Geschichte immer näher. Begeben wir uns nun in das Jahr 1945, besser gesagt, in die letzten vier Monate und zwei Tage der NS-Herrschaft über die Schwefelstadt.
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MAURER Rudolf, Privatarchiv, Das 1000-jährige Reich I, S. 136. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 52. BZ Nr.81 v. 11.10.1944, S. 1. BZ Nr.84 v. 21.10.1944, S. 1. PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 76.
Kapitel 31 Die letzten Tage des größten Schwefelkurortes Großdeutschlands Oder Warum noch Kleinkrieg des Alltags? Höflichkeit des Herzens erleichtert das Leben – Streitigkeiten lassen sich vermeiden1
Nicht von dieser Welt, diese Unterüberschrift, die einem die Badener Zeitung Anfang 1945 entgegenschleuderte. Der Inhalt dahinter war weniger „ungewöhnlich“. Aber was war eine Handvoll Monate vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches schon gewöhnlich. In der ersten Ausgabe im neuen Jahr der BZ kurbelte Gauleiter Hugo Jury ordentlich die NS-Gebetsmühle an: Treue um Treue, Leben oder Sterben, Kämpfen oder Untergehen – die übliche NS-Schwurbelei halt. Es lebe der Führer! Es lebe Deutschland! Glückauf und Siegheil 1945!2 Ihm zur Seite auf der Titelseite ließ man Theodor Fontane zu Wort kommen, der dem Leser offenlegte, wie verlogen die Briten doch nicht alle seien. Und für die Obstbauern gab es noch eine erfreuliche Nachricht, Pomona zeigte sich gnädig, eine gute Obsternte wurde prophezeit. Eine Ausgabe später finden wir erneut Jury auf der Titelseite. Repetitiv wird zum Volksopfer aufgerufen. Alte Spinnstoffe, Kleider, Ausrüstungsgegenstände, alles wird benötigt, alles darf geopfert werden und betonte, dass jede Faser Wolle, die ihr abgebt, zum Siege und damit zu Beendigung dieses furchtbaren Ringes beiträgt.3 Verbrämt war die ewiggleiche NS-Propaganda mit den ewiggleichen Wortklaubereien, ob es sich nun um eine Spende oder um ein Opfer handeln würde. Neu im Ausdruckssortiment in Bezug auf den Opfer/Spende-Disput war „Generalinventur der Haushalte“.4 Unabhängig davon, welches Wording sich nun durchgesetzt hatte, laut der Badener Zeitung gaben, spendeten und opferten die Volksgenossen, und das Regime nahm, drosselte und rationierte. Im sechsten Kriegswinter war ein noch radikaleres Brennstoffsparen angesagt. Am 6. Jänner 1945 gab Schmid bekannt, dass die Gasversorgung aufgrund des Kohlemangels nur mehr zwischen 6 und 7, 9 und 13 sowie 18 und 20 Uhr erfolgen werde. Am 14. Februar wurde in der Früh eine Stunde hinzugefügt, dafür am Vormittag ein Stunde
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BZ Nr. 8 v. 27.01.1945, S. 2. BZ Nr. 1 v. 03.01.1945, S. 1. BZ Nr. 2 v. 06.01.1945, S. 1. Vgl. BZ Nr. 6 v. 20.01.1945, S. 2.
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gekürzt – mit der Option, die Gaszufuhr auch noch früher zuzudrehen.5 Und selbst in den Heiz-Stunden durften nicht alle Räume gleichermaßen beheizt werden. Das galt für sämtliche Haushalte, den Handel, das Gewerbe sowie die Landwirtschaft und die Industrie. Der Gasverbrauch wurde an eine Höchstverbrauchsgrenze gekoppelt. Die Warmwasserbereitung mit Gas wurde übrigens gänzlich eingestellt.6 Ende Jänner folgte das Verbot, Räume mit elektrischem Strom zu beheizen. Hinzu kam, dass in jedem Raum nur mehr eine Glühbirne leuchten durfte bzw. fünf Watt pro Quadratmeter. Bei Verstößen drohten zwei Jahre Haft und nach oben hin offene Geldstrafen.7 Die Drosselung der Energiezufuhr verlangte nach einer effizienteren Raum-Heiz-Volumina-Bewirtschaftung. Schulen wurden geschlossen, der Unterricht in Gasthäuser verlegt, wo die Räume kleiner waren und dadurch der Heizbedarf niedriger. Die Schulgebäude, wenn sie nicht bereits zu Lazaretten umfunktioniert waren, wurden es spätestens jetzt, oder sie dienten als Flüchtlingsheime. Die Massen, die sich dann in den Sälen zusammenpferchten, konnten sich untereinander aufwärmen – zwei Fliegen mit einer Klappe waren geschlagen.8 Damit hatte die Stadt Baden indirekt weitere Wärmestuben errichtet, zusätzlich zu den bereits bestehenden in den Volksschulen Leesdorfer Hauptstraße, Uetzgasse und Helenenstraße sowie den Gymnasien Biondekgasse und Frauengasse.9 Eine weitere Möglichkeit, um Wärme zu erzeugen, lag in den behördlich ausgestellten Schlägerscheinen. Kräftige Volksgenossen, die noch im Besitz einer Axt waren und sie noch nicht dem „Endsieg“ geopfert hatten, durften sich fortan im Helenental eines Baumes mittels eigenhändiger Fällung bemächtigen.10 Man kann durchaus sagen, dass eine Zeit gekommen war, in der ein Reich, das sich anschickte, Europa zu beherrschen, Wärmestuben aus den Boden stampfte, Volksgenossen in den Wald auf eigene Faust schlägern schickte und aus Betriebsabfällen Weihnachtsgeschenke für die Kinder herstellte – was DAF-Kreisobmann Ernst Ziegler mit besonderem Stolz erfüllte, wie es in seiner mitreißenden Rede hieß, die er vor den freiwilligen Helferinnen aus den Handwerks- und Handelsbetrieben der Arbeitsgemeinschaft „Weihnachtliches Werkschaffen“ des Sozial-Gewerks zum Besten gab. Dabei durfte natürlich die obligatorische Schuldzuweisung für diesen Krieg nicht fehlen, und jene lag an den Kriegshetzern und plutodemokratischen Reaktionären des Kommunismus […].11 Wie die Spielsachen aus Betriebsabfällen bei den Kindern ankamen, lässt sich schwer sagen, aber da es eh nichts gab, waren die Beschenkten wohl zufrieden gewesen. Denn für die Kleinen nur das Beste, schließlich bedeuten Kinder die Zukunft. Am 31. Jänner 1945
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Vgl. BZ Nr. 2 v. 06.01.1945, S. 3 und BZ Nr. 13 v. 14.02.1945, S. 3. Vgl. BZ Nr. 5 v. 17.01.1945, S. 3. Vgl. BZ Nr. 9 v. 31.01.1945, S. 3. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944 - 1945, S. 31. Vgl. BZ Nr. 15 v. 21.02.1945, S. 3. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 237. BZ Nr. 3 v. 10.01.1945, S. 2.
Kapitel 31 Die letzten Tage des größten Schwefelkurortes Großdeutschlands
in der womöglich letzten Gemeinderatssitzung – bei der nur 10 Ratsherrn anwesend waren, 15 fehlten, 9 unentschuldigt, darunter lokale NS-Größen wie Josef Hammerschmidt und Ortsgruppenleiter Fritz v. Reinöhl – übernahm die Stadt eine Patenschaft für Kinder aus kinderreichen Badener Familien. Die Gemeinde beabsichtigte, den Betroffenen finanziell etwas unter die Arme zu greifen. Diese Frauen und Männer hatten schließlich ihren nationalsozialistisch-biologistischen Zweck mehr als erfüllt – Spitzenreiter war eine Familie mit zehn Kindern. Bei solch einer Fertilitätsrate gab sich Bürgermeister Schmid siegessicher, und er verwies darauf, dass jeder Sieg über die Feinde eines Volkes nur dann seine Früchte tragen könne, wenn das Volk geburtenfreudig ist und wenn genügend erbgesunde Kinder die Lebensreihe innerhalb der Gemeinschaft unseres Volkes fortsetzen.12 Das Ehepaar Schmid hatte übrigens null Kinder. Damit die Prämierung der deutschen Lendenkraft glatt über die Bühne liefe, wurden die auserkorenen Familien zuvor einer sorgfältigen Erbgesundheitsprüfung unterzogen. Eine Unzahl an Kindern alleine reichte bekanntlich nicht aus. Die erbbiologische Selektion lief im Hintergrund ab, alles streng vertraulich. Prämiert sollte schließlich nur die geburtenfreudig arisch-anständige Familie werden und keine asozialen Elemente, die unüberlegt und verantwortungslos Kinderscharen in die Welt warfen. Aber es gab auch weitere Gründe, die zu einem Ausschluss führen konnten. Frau Hain ist Kroatin, kann schlecht deutsch und ist die Haushaltsführung keineswegs vorbildlich.13 Sie lasen ein Originalzitat. Wir finden hier die altbekannte und nicht nur im Nationalsozialismus angewendete Politik von Zuckerbrot und Peitsche – nur wenn man brav war, durfte man eine Belohnung erwarten. Und wie es sich für brave Untertanen gehörte, musste man auch brav um Erlaubnis fragen, bevor man Verwandte oder Bekannte in den eigenen vier Wänden zu beherbergen gedachte. Besuch einfach so zu empfangen, gehörte der Vergangenheit an. Nun war er genehmigungspflichtig. Nicht umsonst hatte die Obrigkeit im Rathaus oder im Landrat lange Listen an ausgebombten Flüchtlingen aus dem gesamten Reich parat, die es zuvor abzuarbeiten, sprich einzuquartieren, galt.14 Und wir reden hier nicht von Wohnungs- oder Zimmervermietung, es geht um bloße Verwandtschaftsbesuche. Das System Hakenkreuz lag darnieder, und seine Vertreter mussten sich regelrecht Haarsträubendes aus den Fingern saugen, um noch irgendwas Positives an den Volksgenossen zu bringen. So wurde freudig verkündet, dass gleich hinter der Geburtenstation im Badener Krankenhaus ein zusätzlicher Bunker errichtet wurde. Während die Volksgenossin also in den Wehen lag oder das neugeborene Kind in den Armen hielt, wäre sie nun vor Bombenangriffen sicher. Dass Windeln und Wäsche für die neugeborenen Volksgenossen mitzubringen waren, da in den Krankenhauslagern gähnende Leere herrschte, war wiederum weniger erfreulich.15 Und an alles schien gedacht zu sein. Sollte vor einem Fliegerangriff der 12 13 14 15
StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. II; Patenschaften. Ebd. – Landrat Gesundheitsamt an Bürgermeister Franz Schmid (13.06.1944). Vgl. BZ Nr. 17 v. 28.02.1945, S. 3. Vgl. BZ Nr. 7 v. 24.01.1945, S. 3.
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Strom ausfallen und dadurch die Sirenen verstummen, auch dafür hatte die Stadtgemeinde vorgesorgt. Ein PKW mit aufmontiertem Lautsprecher würde dann durch die Straßen kurven und in den Kuranstalten, dem Gaswerk und anderen Einrichtungen würden wieder die alten Dampfsirenen erklingen – pure Nostalgie.16 Wenn wir unser Augenmerk von der Theorie wieder auf die Praxis lenken, so ergibt sich, wenig überraschend, ein ganz anderes Bild. Obwohl das deutsche Volk NS-theoretisch zum Endkampf fest entschlossen war, war es nicht verkehrt, vorsichtshalber zu packen. Bei Gertrud Maurer begann das Packen im Februar 1945. Ihre kleine Schwester Nora hatte extra einen Merkzettel verfasst, mit der Überschrift: Zum Flüchten nehme ich folgendes mit. Als die Ältere den Zettel sah und einen Blick darauf werfen wollte, musste sie ihrer jüngeren Schwester zuvor schwören, über den Inhalt Stillschweigen zu bewahren. Den Eid abgelegt, bekam Gertrud Maurer dann zu lesen: Dradi, Murlibrumm und Tetz [Namen von Puppen und Stofftieren], meine Schulhefte von der 1. + 2. Kl. und die Schultasche und Schulsachen.17 Am selben Tag belauschte sie noch ein Gespräch ihrer Eltern. Die Mutter wünschte sich inständig, dass dieser Krieg endlich zu Ende sei. Selbst ein Ende mit Schrecken sei ihr lieber als ein Schrecken ohne Ende gewesen. Es war ihr nicht zu verübeln. Die Finsternis, die Kälte und die Sirenen – das Nervenkostüm war ruiniert. Und in der Badener Zeitung, die meistens nur noch aus zwei Seiten bestand, ging es mit den Rationskürzungen Schlag auf Schlag weiter. Statt 125 g Schweineschlachtfett nur mehr 100 g Butterschmalz. Die Käserationen von 125 g wurden halbiert, und manches wurde gleich ganz gestrichen. In den Gaststätten wurde die markenfreie Abgabe von Stammgerichten eingestellt, und etwaige Zuschläge wurden herabgesetzt.18 Laut Gertrud Maurer hätte es kulinarisch nur mehr einen Höhepunkt 1945 gegeben. Das einzige freundliche Ereignis in diesem letzten Kriegswinter war ein Hendelessen in der „Stadt Wien“ [Hotel]. Eine Aktion der Stadt Baden ermöglichte Familien mit Kindern eine solche Attraktion. Sie und ihre Familie ergatterten irgendwo hinter einem hervorspringenden Windfang und den Verdunkelungsvorhängen noch den letzten freien Tisch. Dort nahmen sie Platz und harrten des verheißenen Huhns. Als es endlich aufgetragen wurde, krempelte sich Nora arbeitsmäßig die Ärmel ihrer Strickjacke auf! So zollte sie der Feierlichkeit des Augenblicks ihre Ehrerbietung – ein gebratenes Huhn, wie im Schlaraffenland!19 An dieser Verköstigung nahmen unzählige Badener teil, der Saal war gesteckt voll. Nahrung lockte die Massen herbei. Stundenlanges Schlangestehen fürs Brot war nichts Ungewöhnliches. Der Andrang war so groß, dass die Bäcker fallweise Türsteher organisieren mussten. Und wenn man dann endlich an der Reihe war, konnte es passieren, dass genau in jenem Moment der Fliegeralarm losging und all das Warten umsonst gewesen war. Wobei nicht alle schnurstracks den erstbesten Luftschutzraum aufsuchten, es gab genug 16 17 18 19
Vgl. BZ Nr. 22 v. 17.03.1945, S. 2. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 225. Vgl. BZ Nr. 16 v. 24.02.1945, S. 3 und BZ Nr. 20 v. 10.03.1945, S. 3. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 224.
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Menschen, denen das Brot wichtiger war – trotz seiner erbärmlichen Qualität. Zu Hause beim Schneiden, erinnerte sich Gertrud Maurer, zerbröselte es in seine Einzelteile.20 Aber immerhin, so die achtjährige Grete Wolkerstorfer: Wir hatten wenig, aber doch zu Essen. Mit einem Minimum kam man aus.21 Es grenzte beinahe an ein Wunder, dass Anfang des Jahres Gertrud Maurers Mutter, Julia Hauer, neue Schuhe erhielt – die sie Wochen zuvor beantragt hatte. Bevor sie ihr aber ausgehändigt wurden, erschien ein Kontrolleur, der sich alle Kästen und Schubladen zeigen ließ, ob nicht vielleicht irgendwo bereits neue Schuhe zu finden wären. Zum Glück hatte er nicht unter das Bett gesehen. Dort hatte Julia Hauer vorsichtshalber die Schuhe mit den wenigsten Löchern versteckt.22 Dass nichts so war wie versprochen, das sahen auch die Träger des NS-Systems, und wir könnten nahtlos an das „Kapitel 28 Apostasie“ anschließen. Die NSDAP-Ortsgruppe Baden-Weikersdorf registrierte im Jänner 1945 um die 50 Parteigenossen, die auf die Aufforderung, endlich mitzuarbeiten, nicht reagiert hatten. Einige rangen sich dann doch noch dazu durch, in irgendeiner Art mitzuhelfen, womit die Ortsgruppenleitung eh schon zufrieden war. Der Rest sollte beurlaubt oder ausgeschlossen werden. Die Kreisleitung empfahl im März gleich einmal 20 Ausschlüsse.23 Es gab aber Parteigenossen, die weitaus mehr machten, als nichts zu machen. Zellenleiter Josef Gruber, Ariseur einer Trafik, Leiter der Kohleabteilung im Landrat, der früher gerne davon geschwärmt hatte, wie er einst mit dem Führer höchstpersönlich die Schulbank gedrückt hatte, war im Februar 1945 aus Baden nach St. Konrad bei Gmunden „verzogen“ – Ausdruck und Anführungszeichen dem Akt entnommen. Bereits zuvor soll Grubers Arbeitseifer sichtlich zurückgegangen sein – er erschien einen Monat lang nicht in der Arbeit. Auch sonst verhielt er sich verdächtig. Als sich vor seiner Hauseinfahrt Kisten und Möbel stapelten, seien es nicht seine gewesen, sondern die von einem Verwandten. Wenig später gestand er zumindest ein, er wolle nur etwas verreisen. Seine „Abreise“ erfolgte alsbald und etwas spontan. Denn weder übergab er ordentlich im Landrat noch in der Zellenleitung sein Amt an seine Nachfolger, noch reichte er eine polizeiliche Abmeldung ein. Dafür nahm er eine Reisekasse von 110.000 RM mit – um so viel Geld nämlich hatte er sein Haus (Kaiser Franz Josef-Ring 5) verkauft. Man schrieb, dass sich Parteigenosse Gruber wohl wegen der Frontnähe „verkrümelt“ hatte, und es wurde sogar ein Parteigerichtsverfahren angedacht. Eine sehr unangenehme Situation für die Ortsgruppe. Zellenleiter Franz Vock brachte zu Papier: Das Verhalten Grubers hat in der Zelle einen sehr ungünstigen Eindruck hervorgerufen. Besonders die Bevölkerungsschicht, welche nicht in der Lage ist, sich und ihre Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen, hat laut ihren Unwillen zum Ausdruck gebracht und an mich die Anfrage gestellt, ob für Pg. die Sperre von Transportmittel und Benzin für nicht 20 21 22 23
Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 232 u. 239. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 43. Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 224 Vgl. StA B, GB 052/Allgemein II; Fasz. II; Erfassung untätiger Parteigenossen.
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kriegswichtige Güter keine Anwendung findet.24 Offenbar gab es noch immer Volksgenossen, die davon ausgingen, dass in dieser deutsch-arischen „Volksgemeinschaft“ alle gleich seien. Diese Naivität wurde brutal Lügen gestraft. Solche „Abreisen“ waren eine äußerst delikate Angelegenheit. Sie waren Gift für den verordneten „Endsieg-Wunderwaffen-Durchhalteglauben“. Die Kreisleitung musste reagieren. Um weitere Beunruhigungen der Bevölkerung – Evakuierungspsychose – zu verhindern, ist […] eine Versammlungswelle im Gange, die in allen Orten dem Volksgenossen Aufklärung und Richtlinien vermittelt.25 Um vorzugreifen und es klar zu sagen, die allermeisten Volkgenossen wurden von keiner „Evakuierungspsychose“ ergriffen – dafür aber die gesamte NS-Führung im Kreis Baden.
Die letzten Ausgaben Versammlungswellen und Durchhalteparolen hin oder her, der Krieg war verloren. Diese Tatsache einzugestehen war jedoch für die NS-Führung unmöglich. Um die militärische Kehrtwende zu bewerkstelligen, mobilisierte das NS-Regime seine letzten Reserven bzw. beabsichtigte, auch das Allerletzte aus seinem Volk herauszupressen. Beachtliche 13,5 Millionen Männer mussten zur Waffe greifen. Dieser sogenannte Volkssturm, der an Mannschaftsstärke die Wehrmacht um über zwei Millionen übertraf, hatte jedoch bei weitem nicht deren Kampfkraft. Männer zwischen 16 und 60, unzureichend ausgerüstet und ausgebildet, wurden der hochaufgerüsteten, kampferfahrenen und nicht mehr aufzuhaltenden sowjetischen Übermacht entgegengeworfen. Ausgehoben wurde das letzte Aufgebot von den Block-, Zellen-, Ortsgruppen- und Kreisleitern. Es gab Regeln und Quoten, welche Zahl jeder Block, jede Zelle, jede Ortsgruppe und jeder Kreis auszuheben hatte.26 Es war ein Trauerspiel. Wer wollte schon so kurz vor dem Ende des Krieges sein Leben verlieren? Der Abzug aller kampftauglichen Männer aus dem Hinterland bedeutete jedoch nicht, dass die Heimatfront ungeschützt dastand. Allen voran die Fliegerabwehr musste gefechtsbereit bleiben, und da die ausgebildeten Flaksoldaten an der Front dringender gebraucht wurden, schlug die Stunde der Flakhelfer-Jugend. Die Rekrutierung und Ausbildung hatte bereits im Februar 1943 begonnen.27 Die totale Mobilisierung machte auch vor körperbehinderten Menschen nicht halt. Betroffene erhielten die Order, dem Reichsbund für Körperbehinderte (RBK) beizutreten. Mit bereitgestellten Prothesen oder speziellen Vorrichtungen
24 GB 052/Personalakten: Gruber Josef (geb. 1889) – Franz Vock (1883–1969) an Ortsgruppe (13.02.1945). 25 StA B, GB 053/Kriegsalltag III; Fasz. II Abwehrkämpfe u. Abwehrmaßnahmen; Ortsbefestigung – Gärdtner an Gauleitung (01.03.1945). 26 Vgl. KELLERHOFF, Die NSDAP, S. 352. 27 Vgl. EGGER Hans, JORDAN Franz: Brände an der Donau. Das Finale des Zweiten Weltkriegs in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland (Graz 2004), S. 32.
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wurden diese Menschen in Maschinen eingespannt. Ein „schönes“ gesellschaftlich-mechanistisches Bild, der Mensch als Teil der Maschine, als Teil des Systems. Heute würde man wohl von Inklusion sprechen, also Inklusion für den „Endsieg“.28 Für das letzte Schlachten kam der Jahrgang 1929 an die Reihe. Aus Baden mussten im Jänner 1945 noch 27 Männer einrücken. Sie wurden durch Volkssturmeinheiten und Feuerwehrverbände ergänzt und ins Burgenland verlegt. Gegen die kriegserprobten Sowjets waren diese Einheiten chancenlos. 180 Mann sollen zum Einsatz gekommen sein. Angeblich gab es „nur“ zwei Gefallene zu beklagen, ein paar Männer gerieten in Gefangenschaft, der überwiegende Teil konnte sich jedoch nach Baden zurückziehen. Die Jänner-Einrückungen wurden übrigens auf der Rückseite eines Bewerbungsformulars für eine Heeresoffiziersschule abgetippt.29 Letztendlich hatten die Männer des Volkssturmes nichts anderes zu erwarten, als ein Kanonenfutter-Dasein anzutreten. Und darüber waren sich genügend Volkssturmkommandanten im Klaren. Zu ihnen gehörte der Rechtsanwalt Dr. Karl Dandl. Obwohl 1939 der NSDAP beigetreten, soll er laut eigener Aussage schnell gemerkt haben, dass zwischen dem, was als Programm der Partei verkündet wurde und was schließlich zur Ausführung gelangte, ein ganz gewaltiger Unterschied bestand. Als dann noch die Rückschläge im Osten ihren Anfang nahmen, fing ich an, die russische Sprache zu erlernen […]. Als die Rote Armee dann schon an der Reichsgrenze stand, erhielt Karl Dandl im Dezember 1944, als ehemaliger Oberleutnant, nach einer zweiwöchigen Scheinausbildung zum Volkssturmkommandanten, das Kommando über eine Volkssturmkompanie – bei der es sich im Allgemeinen um alte und kranke Personen handelte. Ohne ausreichende Ausrüstung oblag es ihm und seinen Männern nun, sich dem sowjetischen Heer entgegenzustellen. Nach einer militärtisch-taktisch-strategischen Besprechung mit gleichgesinnten Volkssturmkommandanten sah die Befehlsausgabe dann wie folgt aus: Plangemäß habe ich demnach auch die Volkssturmmänner, als die rote Armee sich unserer Stadt näherte, einfach nach Hause geschickt.30 Er selbst desertierte Richtung Tribuswinkel – dazu später gleich mehr. Aber es gab auch Volkssturmkommandanten, die aus ganz braunem Holz geschnitzt waren. Zu ihnen gehörte der aus Köln stammende ehemalige kaufmännische Direktor der Enzesfelder Metallwerke, Bataillonskommandant Heinrich Gunkel. Noch am 2. April 1945 stachelte er die Badener auf, sich den Sowjets entgegenzuwerfen, und fantasierte von der Sprengung des Aquädukts im Helenental.31 Dass sich die Schwefelstadt bis zum letzten Mann zu verteidigen hatte, davon waren NS-Fanatiker felsenfest überzeugt. Gertrud Maurers angeheirateter Onkel, Ferdinand Helpap, alias Onkel Feri, seit Mai 1938 Parteimitglied, seit 1940 bei der Kreisleitung, betraut mit organisatorischen Sonderaufgaben, war einer von ihnen.32 Onkel Feri mit seiner braunen 28 29 30 31 32
Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 32. Vgl. ebd. S. 38 und GB 052/1938–1945 Allgemein III; Fasz. I; Einrückungen u. Entlassungen. Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Dandl Karl (geb. 1890). Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Gunkel Heinrich (geb. 1893). Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Helpap Ferdinand (geb. 1900).
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Präpotenz hatte sich übrigens in Baden seit langem schon so unbeliebt gemacht, dass man jetzt bereits ganz offen von ihm als „Henker von Baden“ sprach […].33 Aufgrund seiner Funktion war er über die politische und militärische Situation bestens informiert und damit, bis zu einem gewissen Grad, auch Gertrud Maurer – da der Onkel nur allzu gerne seine „Endsiegpläne“ offen darlegte. Seine 16-jährige Nichte konnte mit dem nichts anfangen und merkte in Bezug auf diese Kämpfen-bis-zum-letzten-Mann-Rhetorik nur trocken an, als ob die Stadt Baden das Ende des tausendjährigen Reiches verhindern könnte!34 Doch sich der „Endsieg-Kampfstimmung“ zu entziehen, war nicht leicht, mehr noch, es barg eine nicht kalkulierbare Gefahr. Im März 1945 wurde Ludwig Lepisch zur Schanzarbeiten abkommandiert und wenig später verhaftet, wegen Arbeitsverweigerung und Nichtbefolgung des Einrückungsbefehls zum Volkssturm. In Haft erkrankte er an einer Lungenentzündung. Als er wieder bei Kräften war, wurde er in der Osterwoche 1945 nach Oberösterreich abgeschoben, wo er wiederum an Fleckentyphus erkrankte. Das Spital in Bad Hall konnte er, nachdem er beinahe das Zeitliche gesegnet hatte, erst Ende Mai 1945 verlassen. Dermaßen zugerichtet, war er bis zum März 1946 arbeitsunfähig geschrieben.35 Sein Fall bietet eine gute Überleitung zu den aus militärischer Perspektive – neben dem Volkssturm – nicht weniger sinnlosen Schanz- und Ostwallarbeiten im heutigen Burgenland. Dort waren an die 300.000 Menschen damit beschäftigt, Wälle, Sperranlagen und Bunkersysteme zu errichten. Die Arbeitstrupps bestanden weitgehend aus HJ, Fremd- und Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und Juden. Vor allem letztere Gruppen mussten unter katastrophalen Arbeitsbedingungen Schwerstarbeit leisten. Schätzungen gehen von 33.000 Opfern aus, die für diese aberwitzige Grenzsicherung, deren militärische Effektivität bei null lag, ihr Leben lassen mussten.36 Die Ostwallphantasien beruhten nicht einzig auf Ideologieverbohrtheit und der Realitätsverweigerung straffer Regimeanhänger. Der nahe Osten im Burgenland eignete sich auch hervorragend dafür, um „Störenfriede“ zwecks Disziplinierung dorthin abzuschieben. Als im Oktober 1944 der Mechaniker Josef Mayer überzeugt von sich gab, dass tausende deutsche Wehrmachtssoldaten eingekesselt seien, die Sowjetunion niemals vorgehabt hätte, Deutschland anzugreifen, und dass jugoslawische Partisanenverbände im Vormarsch seien, bezahlte er seine Äußerungen aufgrund der Denunziation durch Zellenleiter Franz Werner mit der Abkommandierung zu Schanzarbeiten nach Oberpullendorf. Nach fünf Wochen wurde er untauglich geschrieben. Der sinnlosen Schinderei vorerst entkommen, geriet er jedoch sogleich in die Fänge der Gestapo. Vier Monate blieb Josef Mayer in Haft, danach ging es schnurstracks ins Krankenhaus, da er an Diphterie erkrankte. Einzig dem Einmarsch der Roten Armee war es zu verdanken, dass er sich wenigstens eine Verhandlung 33 MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 236. 34 Ebd. S. 234. 35 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Feldner Alfred – Ludwig Lepisch (geb.1906) Aussage (03.01.1947). 36 Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 332.
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vor einem NS-Sondergericht ersparte – dafür aber keine Folgeschäden wie ein Herzleiden und diverse Lähmungserscheinungen.37 Bei Josef Chwojka hingegen war es kein „defätistisches Dahergerede“, das ihn im September 1944, zu Schanzarbeiten nach Strebersdorf bei Lutzmannsburg brachte. Es war seine Vita vor dem Anschluss. Als Polizist hatte er unter anderem Exekutivkomiteemitglied Franz Rosensteiner zusammengeschlagen, und es gab Hinweise, dass seine Großmutter eine Jüdin gewesen sei. 1940 aus der Stadtpolizei entlassen, verdiente er sich sein Geld in der Privatwirtschaft, 1942 wurde er zum Heeresdienst als Sanitäter einberufen, wo er ein Jahr später erneut aus rassischen Gründen ausgeschieden wurde – offenbar hatte man diese „Tatsache“ vergessen gehabt. Danach kam er beim Technischen Notdienst unter, wo er ebenso nach einiger Zeit entlassen wurde, bis ihn schließlich die Ortsgruppenleitung, die ihn ohnehin ständig auf dem Radar hatte, zu Schanzarbeiter aushob. Er kam zur Kolonne Baden I, wo er alte Bekannte bzw. Leidensgenossen wiederfand, wie den ehemaligen und nach 1945 erneuten Schuldirektor Georg Resnitschek, Fritz Dollak (nach 1945 Funktionär bei der ÖVP), Johann Schermann (nach 1945 Amtsdiener der Stadtgemeinde Baden), den Schuhmachermeister Mathe Heinrich sowie die beiden Bad Vöslauer Polizisten Josef Mildner und Josef Slansky. Der Terror begann unmittelbar nach der Ankunft, denn dort, in Strebersdorf, hatte der Badener Franz Rothaler das Sagen. Er war zwar Kolonnenführer einer Ausländerkolonne, nahm sich jedoch immer wieder das Recht heraus, sich in die Belange der Kolonne Baden I einzumischen – die eigentlich von Alfred Stanzl, dem ehemaligen Bürgermeister von Bad Vöslau, geführt wurde. Franz Rothaler war seit 1933 SA-Mitglied, nach dem Anschluss Block- und Zellenleiter, Ratsherr und NSV-Obmann. Ihm eilte ein gewisser Ruf voraus – nämlich zu allem bereit zu sein. Und für Charaktere wie ihn war die Funktion als Aufseher, dieses Grenzgebiet und die Schanzarbeiten, ein ideales Habitat, um gewisse Neigungen auszuleben. Er pflegte stets bewaffnet aufzutreten, die Drohung jederzeit jeden erschießen zu können hatte er stets parat und das Eindreschen auf Fremd- und Zwangsarbeiter war ebenfalls eines seiner Markenzeichen.38 Für Josef Chwojka gestaltete sich sein Aufenthalt im Burgenland folgendermaßen: Ich wurde nach 14-tägiger Schanzarbeit krank und bekam ein schweres Hodenekzem, welches Leiden mir schwer zu schaffen machte, da einerseits in den dortigen Verhältnissen keine Reinigungsmöglichkeiten vorhanden war und auch die Behandlungsmöglichkeiten stark behindert waren. Mehrere Wochen wurde er einer erfolglosen Behandlung unterzogen, bis er schließlich, wie zwei weitere Schanzer, als arbeitsunfähig eingestuft und in die Heimat zurückverfrachtet werden sollte. Doch Franz Rothaler, so Chwojkas Annahme, pfuschte dazwischen. Alle drei wurde zu einem anderen Arzt bestellt, der sie auf wundersame Weise tauglich schrieb – zumindest für leichte Tätigkeiten. Der Preis für diesen Zynismus war hoch. Mein Leiden (Hodenekzem) wurde immer schlechter, sodass ich noch druckempfindliche Schmerzen in den 37 Vgl. StA B, GB 052/ Personalakten: Werner Franz (geb. 1887); Mappe II – Josef Mayer (geb. 1895) Aussage (15.10.1945). 38 StA B, NSDAP Karteikarten groß; Franz Rothaler (1895–1964).
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Drüsen bekam und fast nicht mehr gehen konnte. Ich wurde bettlägerig. Da solch lädierte Menschen keine guten Schanzarbeiter abgaben, kam Chwojka auf einem Bauernhof zum Einsatz, wo er gewisse Haushaltstätigkeiten verrichten musste. Doch selbst hier ließ ihn Franz Rothaler nicht aus den Augen. Er suchte ihn regelmäßig auf, um ihm mit der Gestapo zu drohen oder damit, dass er ihn höchstpersönlich zusammenschlagen werde, bis er sich in Kot wälzen würde, wenn er nicht endlich zu arbeiten anfinge. Rothalers mehrmaligen Aufforderungen, mitzukommen, hatte Chwojkas tunlichst vermieden nachzukommen, denn Rothaler ist zu allem fähig, ebenso besteht die Gefahr, dass R. von der Schusswaffe, welche er ständig bei sich trug, Gebrauch machen würde. Aber auch so wäre Josef Chwojka fast vorzeitig aus dem Leben geschieden, denn er erkrankte Mitte Dezember 1944 an Grippe. Die Möglichkeit einer Einweisung in das Krankenlager Lutzmannsburg war zwar gegeben, doch lehnte Chwojka diese entschieden ab. Lieber blieb er bei der Bauernfamilie, wo er sich einer besseren Verpflegung und Behandlung sicher war. Doch Wunder konnten seine Quartiergeber nicht bewirken. Mit 40 Grad Fieber wurde er letztendlich per Bahn nach Baden überstellt. Verwaltungsführer Dr. Friedrich Sommer hatte Erbarmen mit ihm.39 Und Franz Rothaler? Der hatte noch genug andere Menschen, an denen er sich austoben konnte. Bemerken will ich, dass durch dieses allgemeine Verhalten des Rothaler Franz nicht nur ich selbst, sondern auch die dort damals schwer arbeitenden Ausländer und auch die Badener Schanzer schwer zu leiden hatten und soll nach damaliger Aussage der Ortsbewohner von Strebersdorf, Rothaler als späterer Kolonnenführer der Judenkolonnen in Klein-Mutschen sich auch sehr unmenschlich gegen diese benommen haben.40 Schilderungen von unerträglicher Schinderei, und das trotz maroder Gesundheit – bereits vor der Einberufung –, finden wir so einige in den nach 1945 erstellten Zeugen- und Vernehmungsberichten. Dass solche Menschen überhaupt zu schwerer körperlicher Arbeit herangezogen wurden, verdankten sie vor allem einer Handvoll engagierter NS-Ärzte. Ebenso in Lutzmannsburg sinnlos Erdwälle und Gräben aushebend, finden wir den Schlosser Vinzenz Lebisch. Untergebracht bei einem Bauern, brauchte er mit vier anderen Männern fast zwei Stunden, um an seinen Arbeitsplatz zu gelangen. Dabei war er gesundheitlich alles andere als auf der Höhe, doch dem Vertrauensarzt der Krankenkasse Baden und Chefarzt der Städtischen Kuranstalt, Dr. Alfred Feldner, war das vollkommen gleichgültig. Zwei Monate hielt es Vinzenz Lepisch durch. Dann musste er aufgrund starker Magenschmerzen im Jänner 1945 nach Baden abtransportiert werden. Alfred Feldner wartete bereits mit der Überstellung zum Volkssturm. Das Ganze endete für Vinzenz Lebisch am Operationstisch – Magen und Blinddarm.41 Arbeitstauglich, laut Alfred Feldner, wäre auch Alois Smolar aus Traiskirchen gewesen, ein schwer Kriegsbeschädigter, der an ein einer Herzmuskelschädigung, unregelmäßigem 39 Friedrich Sommer (geb. 1896). 40 Vgl. GB 052/Personalakten: Rothaler Franz – Josef Chwojka (geb. 1902) Aussage (19.07.1946). 41 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Feldner Alfred (geb. 1894) – Vinzenz Lepisch (geb. 1904) Aussage s.d.
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Puls, Atembeschwerden und Ohnmachtsanfällen litt. Um sein monatliches Krankengeld beziehen zu können, musste Alois Smolar regelmäßig bei den Gesundheitsbehörden vorstellig werden. Alfred Feldners Anamnese sah dann wie folgt aus: Er untersuchte mich jedoch überhaupt nicht, fragte mich, warum ich im Krankenstand wäre, und sagte, von ihm aus könne ich sofort arbeiten. Zum Glück für Alois Smolar erhob sein Hausarzt, Dr. Wilhelm Prantl, Einspruch gegen die Gesundmeldung. Er verwies ihn an einen Facharzt in Wien, wo seine Arbeitsunfähigkeit eindeutig bestätigt wurde. Wie dieser Befund war, ist mir unbekannt, ich hatte mich daraufhin am 3.7.1944 abermals bei Dr. Feldner vorzustellen. Er untersuchte mich damals auch nicht und sagte, ich solle weiterhin im Krankenstand bleiben.42 Und wenn wir schon bei Ärzten sind, die ihren Hippokratischen Eid mit Füßen traten, darf der Badener Amtsarzt Robert Fischer natürlich nicht fehlen. Alte und kranke Männer habe er zu den Schanzarbeiten, zum Volksturm, in die Rüstungsbetriebe etc. förmlich gepresst und man beziffert die von ihm ganz ungehörig Behandelten auf zwei- bis dreitausend Personen.43 Franz Vilaghy erhielt trotz intertriginösem Ekzem und Bettlägerigkeit im August 1944 seine Einberufung zur Wehrmacht. Ein Aufschub wurde ihm nicht gewährt, weder durch das Wehrmeldeamt noch durch Robert Fischer – der ihn sogar zu sich zitierte und mit der Polizei drohte, sollte er nicht augenblicklich einrücken. Doch Franz Vilaghy hatte zumindest einen Trumpf im Ärmel, seine Bekanntschaft zum Badener Polizeichef Alfred Gutschke. Dr. Fischer hatte ihn wohl angerufen um mich verhaften zu lassen, er denke aber nicht daran, doch habe Dr. Fischer in vielen Fällen bereits ähnlich gehandelt.44 Verhaftet wurde er also nicht, einrücken musste er dennoch. 14 Tage erhielt er noch Schonfrist – er war in ärztlicher Behandlung – und dann ging es schon Richtung Ostfront, die mittlerweile die Grenzen des Deutschen Reiches erreicht hatte. Ebenso wurde im Jänner 1945 trotz einer 55-prozentigen Weltkriegsinvalidität der 60-jährige Major Erich Adolph von Robert Fischer in den Volkssturm gezwungen – und das, obwohl ihn Fischer selbst vor zwei Jahren als arbeitsunfähig eingestuft hatte. Dabei hatte dieser noch bestätigt, dass Erich Adolph alles andere als tauglich sei. Als jener dann seinen Musterungsbescheid in Händen hielt, muss dessen Verwunderung ziemlich groß gewesen sein. Ich betone besonders, dass im Musterungsschein, welcher mir von Dr. Fischer ausgestellt wurde, seine Diagnose, Lungenblähung, eigenhändig vermerkt war.45 Erich Adolph machte den Amtsarzt genau darauf aufmerksam, doch Fischer faselte dann etwas von anderen Maßstäben, die nun beim Volkssturm gelten würden. Erich Adolph kam nach Deutschkreuz und brach wenig überraschend nach wenigen Tagen zusammen. Nach Baden zurücküberstellt, wurde er mit dem Tauglichkeitsgrad „B“, eingestuft, was so viel bedeutete: ohne Waffe, viertes Aufgebot. 42 43 44 45
Ebd. – Alois Smolar (geb. 1883) Aussage (21.06.1945). StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Robert – Amtsbericht Alois Klinger (29.06.1946). Ebd. – Franz Vilaghy (geb. 1893) Aussage (14.10.1946). Ebd. – Erich Adolph (geb. 1886) Aussage (08.11.1946).
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Genauso enthemmt agierte Fischer im Falle des Kaufmanns Karl Rossmann. Von Magengeschwüren geplagt, ging es für Karl Rossmann Ende 1944 zu Schanzarbeiten nach Strebersdorf. Seine Bitte, Fischer möge ihn doch untersuchen und sich selbst von den Magengeschwüren überzeugen – die Tauglichkeit wurde am Telefon festgestellt – lehnte der Amtsarzt kategorisch ab. Fischers Antwort: Es hat keinen Zweck, mich am Sonntag aufzusuchen, denn mit Magengeschwüren können sie ohneweiters die Schanzarbeit verrichten, oder ist es ihnen lieber, wenn in einigen Tagen die Russen in Baden sind? Körperlich am Ende, seelisch gebrochen – in etwa zur gleichen Zeit erreichte ihn die Nachricht, dass sein Sohn, Karl Rossmann jun., vermisst werde – fügte sich Karl Rossmann seinem Schicksal. Nach 1945 gab er zu Protokoll: Bemerke, dass ich punkto meiner Person nicht aus Hass gegen den Beschuldigten handle, sondern es solle nur hierdurch lediglich vermieden werden, dass ein Element mit solchen unmenschlichen Qualitäten, als wie der Dr. Fischer ist, jemals noch als Arzt auf die unwissende Menschheit losgelassen wird.46 Glück im Unglück, Karl Rossmann sen. wurde, trotz seiner angeschlagenen Psyche und Physis, beinahe 90 Jahre alt. Und auch seinen Sohn sollte er wiedersehen. * Das waren sie also, die geplanten Abwehrmaßnahmen, mit denen das NS-Regime gedachte, der Roten Armee Einhalt zu gebieten. Minderjährige sowie gesundheitlich angeschlagene und alte Männer, die Schutzwälle, Stacheldrahtverhaue oder Gräben auszuheben hatten. Rekrutiert und geködert wurde mittels Zwang und Gewalt, aber auch mit Idealismus, Fatalismus und Heroismus. Das letzte Aufgebot war aber letztlich nicht mehr als bloßes Kanonenfutter. In der Welt von NS-Fanatikern war das jedoch die Ultima Ratio. Es ging schließlich um Führer, Volk und Vaterland – und um Ehre und Würde und Treue usw. Die Realität sah dann so aus, erinnerte sich der Badener Beamte Guido Grundgeyer, dass er in der Karwoche am Dienstag in der Früh sein Büro betrat und sich noch am selben Tag als Volkssturmmann in einem Schützengraben, ausgerüstet mit einem Gewehr, 90 Schuss und einer Panzerfaust, in Neusiedl am Neusiedlersee wiederfand.47 Sein Befehl war banal: Russische Panzer abschießen. Reguläres Militär und SS machten sich derweilen Richtung Westen auf – wieder einmal einer dieser taktischen Rückzüge.48 Wie Guido Grundgeyer zu den Schanzarbeiten kam, das erläuterte Alois Klinger nach 1945, und er verwies zugleich auf einen lebensgefährlichen Umstand betreffend die Volkssturmmänner – neben
46 Ebd. – Karl Rossmann sen. (1894–1983) Aussage (20.10.1946). Karl Rossmann jun. (1925– 2014). 47 Guido Grundgeyer (1894–1976). 48 Vgl. MASCHER-PICHLER Heid Angelika, Baden bei Wien zur sowjetischen Besatzungszeit 1945–1955 mit besonderer Berücksichtigung der ersten beiden Besatzungsjahre und des Jahres 1955 (Wienersdorf 2009) Dissertation, S. 28. Online abrufbar auf https://services.phaidra. univie.ac.at/api/object/o:1259641/get (10.04.2023).
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der grundsätzlichen Gefahr, im regulären Kampf getötet zu werden. Der gewesene Gemeindebeamte Guido Grundgeyer, musste laut dem Gutachten des Amtsarztes Dr. Fischer noch am Karfreitag 1945 zum Volkssturm einrücken und befindet sich daher in Moskau als Kgf. Es ist allgemein bekannt, dass die Volkssturmmänner infolge ihrer Zivilkleider als Partisanen behandelt wurden.49 Aber das kümmerte in Berlin niemanden. Genauso wenig wie in all den anderen regionalen Schaltzentralen, ob nun Gau, Kreis oder Ortsgruppe. Und am wenigsten kümmerte es die NS-Propaganda, die natürlich nicht damit aufhörte, vollkommen wahnwitzigen Stuss unter das Volk zu bringen. Was hat der Feind bisher erreicht? Er hat wichtiges Gebiet aus unserem Lebensraum gerissen, aber die Widerstandkraft unserer Wehrmacht nirgends entscheidend treffen können. Laut Badener Zeitung konnten sämtliche Fronten stabilisiert werden, mehr noch, der Feind blutete sich regelrecht aus, seine Reserven würden sich dem Ende zuneigen, und man fantasierte bereits einen kraftvoll auflebenden U-Boot-Krieg herbei. Und in Bezug auf die „herausgerissenen“ Gebiete – eine selbstverständlich nur temporär befristete Angelegenheit –, das war zwar schmerzlich, aber der Lebensraum, über den wir im ganzen verfügen, ist immer noch viel beträchtlicher als jemals im ersten Weltkrieg.50 Um Siegeshoffnung zu tanken, musste bloß die richtige Perspektive eingenommen werden. Die Verluste an Menschenleben und an Raum im Osten waren hart, aber das waren ausschließlich Momentaufnahmen. Sich in Details zu verlieren, drücke nur auf die Stimmung. Man solle das Ganze von Weitem betrachten, einen Schritt zurücktreten, und aus dieser Perspektive kämpfte das deutsche Volk unerbittlich weiter. Ein anderer NS-Propaganda-Zugang propagierte eine „Zwei-Sichtweisen-Theorie“. Die Führung machte darauf aufmerksam, dass es schließlich zwei Sichtweisen gäbe, die des Feindes und „die unsrige“. Das Regime empfahl, sich auf „die unsrige“ zu konzentrieren, die sei nämlich erfreulicher.51 Wenn es nicht so tragisch wäre, könnte man durchaus laut lachen. Und leider kommt eines hinzu – heute, im Jahre 2022, ist um nichts besser. Stichwort: Entnazifizierung der Ukraine, weil jenes Land schließlich von jüdisch-drogensüchtigen Satanisten-Neonazis regiert werde. Offensichtliche Kriegsgräuel werden, ohne dass den Protagonisten die Schamesröte ins Gesicht steigt, geleugnet oder gar den Opfern in die Schuhe geschoben. Diesbezüglich hat sich nichts geändert. Die Realität wird auf Biegen und Brechen verleugnet, heute wie auch im Jahre 1945. Die Verluste der Roten Armee schnellten in der Badener Zeitung in lichte Höhen, während die der Wehrmacht kaum der Rede wert waren. Und außerdem, so die Badener Zeitung, die Sowjetmacht im Osten sei zerschlagen – wieder einmal. Zwischendurch streute man eine Prise soldatische Lagerfeuerromantik. Die letzten Zigaretten werden geraucht, ein Kanten Brot und eine Feldflasche mit Barack, dem ungarischen Aprikosenschnaps, gehen reihum.52 Nicht fehlen durfte die Angstmache vor einer Niederlage und 49 50 51 52
StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Robert – Amtsbericht Alois Klinger (29.06.1946). BZ Nr. 16 v. 24.02.1945, S. 1. BZ Nr. 24 v. 24.03.1945, S. 1. BZ Nr. 4 v. 13.01.1945, S. 1.
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einer Besatzungszeit. Ein Terrorregime würde über Deutschland herrschen, die totale Entwaffnung, selbst Jäger dürften keine Büchsen mehr mit sich führen, eine Besatzungszeit bis zum Jahre 2000 und die Vernichtung von 40 Millionen deutschen Seelen.53 Das sowjetische Regime auf der anderen Seite setzte alles daran, um die zirkulierenden Horrorszenarien zu widerlegen. Man komme als Befreier und nicht als Besatzer. Als Feinde wurden die deutsch-faschistischen Truppen klassifiziert, und nicht die österreichische Bevölkerung als Ganzes, wie man es einem Flugblatt entnehmen konnte – unterzeichnet vom Befehlshaber der 3. Ukrainischen Front und Marschall der Sowjetunion F. Tolbuchin. Kein Stück österreichischen Bodens werde erobert, die totale Unabhängigkeit werde garantiert, das Privateigentum werde nicht angetastet und die vollkommene Zusammenarbeit, egal mit wem, wurde versprochen – gleichgültig ob Bauer, Priester oder Industrieller. Doch das hatte seinen Preis. Das sowjetische Imperium forderte Zusammenarbeit ein, insbesondere bei der Dingfestmachung von Hitleragenten, Provokateuren, Spionen, Schädlingen, von Deutschen, die sich für Österreicher ausgeben und von allen Elementen, die die rascheste Säuberung Österreichs von den Deutschen verhindern und den Maßnahmen der Roten Armee entgegenarbeiten.54 Aber noch war es nicht soweit. In den letzten drei Monaten fanden noch einige Feierlichkeiten statt, wo der Kadaver des Nationalsozialismus mit Pauken und Trompeten am Leben gehalten wurde. Am 30. Jänner 1945 fand eine Morgenfeier im Stadttheater statt, wo an die Machtergreifung Hitlers erinnert wurde. Die Ortsgruppenleiter von Baden-Leesdorf und Baden-Stadt, Karl Zanetti und Fritz v. Reinöhl, gaben propagandistisch ihr Bestes. Dem Führer sicherte Reinöhl zu: In dieser Stunde wollen wir schwören, dass wir lieber untergehen als unseren Boden unseren Feinden überlassen, dass wir dem Führer folgen wollen zu jeder Stunde, zu jedem Kampfe, zu jedem Ziele.55 Er sollte sein Versprechen nicht halten. Er folgte seinem Führer nicht – jedenfalls nicht 1945. Er ließ sich hierbei noch etwas Zeit – 24 Jahre. Fantastereien auch bei einer Frauenversammlung im Hotel „Stadt Wien“. Gaufrauenschaftsleiterin Anna Vietoris durfte noch einmal das Wort ergreifen, genauso Kreisleiter Gärdtner und Kreisfrauenschaftsleiterin Hendrich. Für den Fall, dass es jemand vergessen hätte, wurde ein letztes Mal klargestellt, wem die deutsche Frau Verantwortung schulde, und zwar dem Staat und der Sippe gegenüber. Dem Staat gegenüber Verantwortung auf dem Gebiet der Hauswirtschaft, d.h. jede einzelne Frau hat darüber zu wachen, dass nichts verhamstert und verschleichhandelt wird, aber auch nichts dem Verderb heimfällt. Zum x-ten Male wurden die zugewiesenen Geschlechterrollen im Krieg rekapituliert. Während die Waffen des Mannes Panzer, Flugzeuge und U-Boote waren, so waren die Waffen der Frau der unerschütterliche Glaube an ihren Mann und ihren Sohn und an das ewige Leben, sie ist die Treue zu ihren Kindern, zum Mann, zur Familie und zu unserem Führer. Die Waffen der Frau ist 53
Vgl. BZ Nr. 82 v. 14.10.1944, S. 2 und BZ Nr. 20 v. 10.03.1945, S. 1 und WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 3. 54 StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1945. 55 BZ Nr. 9 v. 31.01.1945, S. 1.
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die heiße Liebe, aus der die Treue und der Glaube erwachsen, ist die Tapferkeit der Herzen, mit der sie hinter den Männern draußen an der Front oder in der Heimat steht, ist die Einsatz- und Opferbereitschaft in der Heimat, vom frühen Morgen bis zum späten Abend wachen, dass in der Heimat Ruhe und Frieden herrschen.56 Zu den Anschlussfeierlichkeiten vom 13. März sprach Gauleiter Jury auch noch irgendetwas NS-mäßiges.57 Die letzte größere Festivität mit gewisser NS-Prominenz in Baden lief am 22. März 1945 über die Bühne. Der ehemalige NSDAP-Gauleiter von Wien, Alfred Frauenfeld, stattete der Kurstadt einen Besuch ab. Für Menschen wie ihn, der als Generalkommissar auf der Krim und nach dem Rückzug von dort in der Propagandaabteilung untergekommen war, war es ein Ding der Unmöglichkeit, dass dieser Krieg verloren gehen könnte. Dass es ernst war, das mussten Menschen wie er eingestehen, aber zu mehr konnten sie sich auch nicht durchringen. Anwesend bei der Veranstaltung war Gertrud Maurer, die Frauenfelds Rede beeindruckend fand, weil sie so klar und verständlich war – so inklusiv und nahe beim einfachen Volk. Besonders in Erinnerung blieben ihr seine Ausführungen über die US-Amerikaner, die er als Halbaffen und Lemuren verunglimpfte. Diese Brandrede schien dermaßen Eindruck geweckt zu haben, dass ihre Mutter, Julia Hauer, am Heimweg triumphierend von sich gab: Na also, steht’s doch noch nicht so schlecht um uns!58 Die Realitätsverweigerung war systemimmanent. Gertrud Maurers Vater, der am Karsamstag die Kreisleitung aufsuchte, um sich als Blockwart zum Thema Flucht und Rückzug zu informieren, konnte zwar nichts Gehaltvolles in Erfahrung bringen, dafür wurde er Zeuge einer endzeitlichen Begebenheit: „Auf der Kreisleitung waren gerade die Zellenwarte,“ erzählte Papa, „und ham mit der Panzerfaust geübt…“59 Eigentlich eine Groteske, aber auch hier, wenn wir wieder ins Jahr 2022 und in die Ukraine blicken, dort wurden Menschen darin trainiert, Molotowcocktails herzustellen. * In der vorletzten Ausgabe der gleichgeschalteten Badener Zeitung verabschiedete sich das NS-Regime auf eine ganz unübliche Art. Nach einer vollkommen hanebüchenen militärischen Analyse und dem Geschwurbel von contra Feigheit und Verzagtheit und pro Aufopferung und Tapferkeit folgte: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. […] Wir vertrauen darauf, dass im Kampf gegen die Teufelei des Bolschewismus und gegen den eiskalten Materialismus der Plutokratien das deutsche Volk in seinem Gottvertrauen nicht enttäuscht wird, wenn es nur sich selbst treu bleibt.60 Nachdem also die weltliche Führung alles in Schutt und Asche gelegt hatte, durfte wieder der Allmächtige ran. Schluss für die Badener Zeitung war dann am 28. März 1945. Ihre letzte Ausgabe unter dem Hakenkreuz war gedruckt – zwei Seiten sollten es zum Finale sein. Auf Seite 1 wurden 56 57 58 59 60
BZ Nr. 19 v. 07.03.1945, S. 1. Vgl. BZ Nr. 21 v. 14.03.1945, S. 1. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 241. Vgl. ebd. S. 255. BZ Nr. 24 v. 24.03.1945, S. 1.
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Jugendliche beiderlei Geschlechts ab dem 14. Lebensjahr sowie Frauen bis zu ihrem 55. und Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr aufgefordert, die Städte und Ortschaften des Landkreises zu sichern. Jederzeit mussten sie damit rechnen, für Hilfsdienste herangezogen zu werden. Dramen spielten sich ab, und das sogar wortwörtlich. Zum einen in den Straßen und zum anderen auf den Theaterbühnen, die fallweise bis zum Schluss bespielt wurden. Am 22. März kam die Pianistin Erika Jung-Steidl samt Band im Herzoghof zum Zug. Sie spielte für verwundete Soldaten, und die Begeisterung war ihr sicher. Nach ihren letzten Tastenschlägen gratulierte und begrüßte Oberst a.D. Groß die Künstler und sprach ihnen schließlich mit der gleichzeitigen Bitte um eine gelegentliche Wiederholung der Feierstunde den wärmsten Dank aus.61 Es sollte kein nächstes Mal geben. Auf Seite 2 wurden die Volksgenossen dazu aufgefordert, leere Bierflaschen zwecks Neuabfüllung zurückzubringen. Des Weiteren eröffnete eine hauswirtschaftliche Beratungsstelle für Frauen ihre Pforten, wo auf vielfachen Wunsch die Vorführung einer Kochkiste wiederholt werden sollte. Im Anzeigenteil tauschten Menschen Uhren gegen Mäntel oder suchten nach Kinderwägen. Und ein Konzert des Deutschen Roten Kreuzes vom 25. März im Stadttheater Baden (man schrieb nicht mehr von der Gaubühne) hatte, wie zu erwarten war, totale Begeisterung ausgelöst.62 Danach fiel der Vorhang für die gleichgeschaltete alte Tante – wie das Medium hier und da bezeichnet wurde. Erst am 2. Juni 1945 sollte das Badener Lokalblatt wieder erscheinen. Die Schlagzeile würde lauten: Der wirtschaftliche Neuaufbau in Baden bei Wien!. Aber noch war es nicht soweit.
Der Abstieg und das leere Grab Das bittere Ende des sinnlosen Krieges war herangekommen. […] Niemand glaubte mehr dem albernen Gerede Goebbels und eine allgemeine Mutlosigkeit und Angst bemächtigte sich uns aller. Es war die Osterwoche herangekommen. […] Es war fast wie ein Hohn auf die Menschheit, die gerade jetzt in ihren ärgsten Wehen lag.63 Die letzten Kriegstage in Baden werden quellenmäßig hauptsächlich von Zeitzeugenberichten dominiert. Eine offizielle Hofberichterstattung war aufgrund der chaotischen Lage nicht mehr möglich. Es war die Zeit der endgültigen Flucht, der Bomben und der Angst vor der Vergeltung der näherkommenden sowjetischen Übermacht. Die Gefahr, getötet zu werden, war riesengroß, aber nicht nur durch die zuvor erwähnten Eventualitäten. Hausmeister Josef Dobner wagte es am Karfreitag, zu behaupten, dass die Rote Armee bereits nach Leobersdorf vorgedrungen sei. Daraufhin soll, laut Zellenleiter Franz Werner, 61 Vgl. BZ Nr. 25 v. 28.03.1945, S. 1. 62 Vgl. BZ Nr. 25 v. 28.03.1945, S. 1. 63 Vgl. MASCHER-PICHLER, Besatzungszeit 1945–1955, S. 31. Online Abrufbar, hier am 15.12.2020, zitiert nach Anna Tilp, S. 190 StA B; D 359, Erinnerungen von Anna Tilp an das Ende des II. Weltkrieges.
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Panik unter den Frauen ausgebrochen sein. Als pflichtbewusster Nationalsozialist gebot es sich nun, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um wieder für Ruhe und Ordnung zu sorgen und ein gewisses Missverständnis aufzuklären. Denn der Russe stünde mitnichten in Leobersdorf, sondern erst in Wiener Neustadt. Unerfreulicherweise musste er auch Josef Dobner mitteilen, dass ich gezwungen sei, gegen ihn die Anzeige zu erstatten, weil er Beunruhigung in die Bevölkerung trage.64 Josef Dobner blieb diese Episode anders in Erinnerung. Dort stürzte Zellenleiter Franz Werner auf ihn zu und schrie „Sie sind verhaftet, nehmen Sie Abschied von ihrer Familie, denn sie sehen sie nicht wieder.“ Dabei fuchtelte er mit einer Pistole vor meinem Gesicht herum. Josef Dobner wurde abgeführt und dem DAF-Kreisobmann Ernst Ziegler im Hotel „Löwen“ vorgeführt, wo sich der lokale NS-Organisationsstab breitgemacht hatte. Während man sich nun den übelsten Gerüchtemacher Dobner zur Brust nahm, erinnerte sich dieser an einen angenommenen Telefonanruf und bemerkte ich, dass die anwesenden Herren sehr nervös wurden. Ziegler ließ mich dann hinausgehen und sollte ich vor der Tür warten. Ich zog es jedoch vor zu fliehen und ging nach Hause.65 Was haben die Herrn des Organisationsstabes denn bloß durch den Hörer zu hören bekommen, dass sie so nervös wurden, an diesem Karfreitag im Jahre 1945? Hatte Josef Dobner vielleicht gar nicht so unrecht gehabt mit seiner geographischen Angabe, wo sich der Feind damals bereits befinden würde? * Wer in den letzten Tagen „wirklich“ das Sagen in der Kurstadt hatte, lässt sich schwer sagen. Obergefreiter Dr. Rudolf Lewandowski, Schreiber des Wehrmachtsstandortältesten in Baden, bezeichnete die militärische und die zivile Situation als ausgesprochen chaotisch. Der Wehrmachtsstandortälteste, Herr Oberst Füchtner, war schon in den letzten Tagen vollkommen apathisch, kaum imstande Befehle zu geben und nur selten nüchtern. Der Kampfkommandant von Baden, Major Libl, hielt sich Stunden und halbe Tage lang von der Dienstelle abwesend und war ebenfalls derartig überreizt, dass von ihm keine klaren Direktiven zu erwarten waren. Verschiedenste Befehle vom WK XVII und von der Kreisleitung Baden, die sich offensichtlich zum Kampfe vorbereitete und denselben auch leiten wollte, vergrößerten nur die Ratlosigkeit.66 Wirklich motiviert, die Stadt zu verteidigen, war die Kreisleitung mit Kreisleiter Gärdtner und seinem engsten Beraterkreis. Zu diesem gehörte sein Stellvertreter Dr. Ferdinand Helpap. Beide Männer besaßen das Oberkommando über die Volkssturmeinheiten und beide gebärdeten sich überaus kämpferisch in ihrer Absicht, dem Roten Goliath die Stirn zu bieten. Es gab die irrwitzigsten Ideen, wie die sowjetische Armee vor den Toren der Kurstadt zum Stehen gebracht werden sollte. Auf keinen Fall durfte Baden zur offenen Stadt 64 StA B, GB 052/ Personalakten: Werner Franz; Mappe II – Aussage (30.10.1945). 65 Vgl. ebd. – Josef Dobner (geb. 1903) Aussage (15.10.1945). 66 StA B, GB 052 Personalakte: Helpap Ferdinand (1900–1973) – Rudolf Lewandowski (1920– 1989) Bericht (10.11.1945).
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erklärt werden. Rein zufällig aber war Gärdtners Hauptquartier nicht in Baden stationiert, sondern im Helenental. Welchen Sinn das hatte, erläuterte Alois Klinger nach 1945, in seiner bekannt zynischen Art. Der Kreisleiter Gärdtner hatte sich mit seinem engeren Stabe aus übergroßer Vorsicht in die Ausflugs- und Erholungsstation „Zur Krainerhütte“ welche ca. 8 km westlich von Baden liegt, abgesetzt, und es sollte behufs Verhinderung des Vormarsches der Sowjettruppen durch das Helenental längs der Schwechat, gegen Siegenfeld, Heiligenkreuz und Wien etc. der Straßentunnel beim Urtelstein, an der Bez. Straße ca. 4 km westlich von Baden, durch den Feuerwehrkommandanten in die Luft gesprengt werden.67 Das bedeutete nichts anderes, als dass die Badener in der Falle sitzen würden. Das Helenental wäre in Richtung Westen nicht mehr passierbar gewesen und der von Südosten anrückenden Roten Armee schutzlos ausgeliefert. Eine Situation wie zwischen Hammer und Amboss. Dessen waren sich Josef Wolkerstorfer und die Männer des Feuerwehrvolkssturms bewusst, als sie den Befehl erhielten, kurz vor dem endgültigen Rückzug den Urtelstein-Tunnel zu sprengen. Sie taten es nicht. Stattdessen bauten sie den bereits angebrachten Sprengstoff schleunigst ab.68 Dabei wäre der Urtelstein bei weitem nicht das einzige Objekt gewesen, das dem regionalen Nerobefehl zum Opfer gefallen wäre. Das Wasserwerk, der Aquädukt, sämtliche Infrastruktur sollte vernichtet werden. Nichts durfte dem Feind in die Hände fallen – mit Ferdinand Helpap hatte die Kreisleitung den richtigen Mann parat. In Feuer und Rauch ging die Kreisleitung in der Strasserngasse 6 auf. NS-Karteikarten, Registraturen, Akten, Verzeichnisse usw. gingen dadurch verloren. Nichts sollte darauf hindeuten, dass es in der Kurstadt Nationalsozialisten gegeben hätte. Opfer der Flammen wurde genauso Schloss Weilburg. Die Berichte, wie es genau zu dem Feuer kam, weichen fallweise voneinander ab (Unfall, Brandlegung, Artilleriebeschuss, Bombenangriffe usw.), und dieser Umstand führt teilweise bis heute zu hitzigen Diskussionen. Als im Badener „Kaiserhaus“ eine Ausstellung zum Thema Weilburg weilte und ich dort Führungen hielt, wurde ich Zeuge, wie Besucher aus diesem Grund untereinander zu streiten anfingen. Es scheint so, als habe damals gefühlt jeder zweite Badener gerade an jenem Tag einen Bekannten oder Verwandten vor Ort gehabt oder wäre selbst dabei gewesen und wisse deshalb genau Bescheid, was damals wirklich passiert war. Hinzu gesellen sich auch etwas „gewagte“ Theorien, die mir auch persönlich zugetragen wurden, wie es tatsächlich zu dem Brand der Weilburg gekommen sei. Darin verstrickt sollen zum Beispiel sogar die Freimaurer gewesen sein… Laut einem vorliegenden Bericht waren in der Weilburg viel militärisches Material wie Rucksäcke, Kletterseile, Ski, Zelte, Monturen, Wäsche etz. untergebracht. Auch Kriegsmaterialien, wie Handgranaten, Gasmasken, Minen etz. waren dort eingelagert. Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee hatte das Restkommando der „Brandenburger“ einen Teil der Güter an die vor der Weilburg erschienene Zivilbevölkerung verteilt. Und dann, am Oster67 StA B, GB 052/Personalakten: Gärdtner Camilo, Mappe III – Klinger an Sicherheitsdirektion Niederösterreich (06.06.1946). 68 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 45.
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montag am Nachmittag passierte es. Es brachen an vier Stellen der Weilburg Feuer aus, und zwar im Küchentrakt, in den beiden Mitteltrakten, im 1. Stockwerk und im Souterrain. Da der Brand an mehreren Stellen gleichzeitig ausbrach, ist aus der Entstehung zu schließen, dass der Brand gelegt worden sein dürfte. Man vermutet, dass das Restkommando die Aufgabe hatte, die in der Weilburg eingelagerten Sachen zu vernichten und zu diesem Zweck die Weilburg angezündet hat. Am Montagabend erschien die Feuerwehr der Stadt Baden und wollte den Brand löschen. Die Feuerwehr wurde jedoch von den Angehörigen des Restkommandos an den Löscharbeiten verhindert […]. Am Dienstag wurde kein Löschversuch mehr unternommen, denn die Feuerwehr hatte bereits Baden verlassen.69 Es waren nicht nur Sprengungen und Brandlegung angedacht, um dem Feind nichts an eigener Infrastruktur zu überlassen. Genauso zerbrach sich die Kreisleitung darüber den Kopf, ob es denn nicht möglich wäre, die Industrieanlagen im Kreis zu demontieren und mit in den sichereren Westen abzutransportieren. Allerdings kristallisierten sich rasch Schwierigkeiten sowohl logistischer als auch propagandistischer Natur heraus. Nach Beratungen mit einigen Betriebsführern kam Kreisleiter Gärdtner zu dem Schluss, dass alleine die Demontage und der Abtransport der Metallwerke in Berndorf zwei bis drei Tage und 12 Waggons erfordern würden. Ein anderes Szenario wäre gewesen, wichtige Teile einzelner Industriemaschinen abzubauen und anschließend zu verstecken, damit sie durch den Feind nicht in Betrieb genommen werden könnten. Allerdings lehrte die Erfahrung, dass sich der Feind davon nicht beeindrucken ließ, da er durch Repressalien an der ihm in die Hand fallende Bevölkerung die Auffindung des vergrabenen Gutes bewirkt. Und was die totale Zerstörung anbelangte, hier zeigte sich Gärdtner genauso skeptisch. Eine Sprengung der größeren Maschinen scheint nicht gut, weil damit bei der Bevölkerung der Eindruck erweckt würde, als gäben wir das Gebiet auf und weil wahrscheinlich auch die nötige Menge an Sprengmitteln fehlt.70 Interessantes zum lokalen Nerobefehl lieferte auch Rudolf Lewandowski. Am Ostersonntag, dem 1. April 1945, meldete sich nachts das Wehrkreiskommando XVII, um sich über die militärische Lage einen Überblick zu verschaffen und um nachzufragen, ob die befohlenen Sprengungen bereits durchgeführt worden waren. Dieser Befehl war laut Rudolf Lewandowski ungefähr 16 Tage vorher eingelangt und besagte, dass bei drohender Gefahr sämtliche militärische Dienststellen sowie wichtige Zivilobjekte zu sprengen seien. Beides war nicht erfolgt, trotz drohender Gefahr. Ein Major Neumann, der sich am anderen Ende der Leitung befand, war über den Umstand der Nichtsprengung nicht sonderlich erfreut. Und seine Stimmung wurde nicht besser, als er augenblicklich den Kampfkommandanten Libl zu sprechen verlangte, der allerdings wieder einmal nicht vor Ort war. Während Major Neumann in Rage geriet, weshalb noch nichts gesprengt worden wäre, agierte Major Libl, sofern er zugegen war, weitaus besonnener, was das anbelangte. Er hatte angeordnet, 69 GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; Weilburg 70 StA B, GB 053/Kriegsalltag III; Fasz. II Abwehrkämpfe u. Abwehrmaßnahmen; Räumungs- und Zerstörungsmaßnahmen – Gärdtner an Gauleitung (14.02.1945).
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dass eventuelle Sprengungen seiner ausdrücklichen Genehmigung bedurften. Doch da das Chaos schon längst jegliche Befehlskette unterbrochen hatte, lagen solche Vorhaben in der Hand einzelner Akteure, die nun nach Lust und Laune in Aktion treten konnten. So erfuhr Lewandowski an diesem Tag, dass die Kreisleitung vorhatte, das Wasserwerk in Baden zu sprengen. Der damalige Kreisleiter war verschwunden, die Geschäfte führte Dr. Helpap und ist dieser für alle sinnlosen Handlungen, Befehle sowie den Plan halb Baden zu zerstören, voll und ganz verantwortlich. Dass es nicht soweit kam, lag letztendlich an mehreren Faktoren. Zum einen soll es an Rudolf Lewandowski selbst gelegen sein, dass es zu keinen Sprengungen kam. Ich hatte als Geheimschreiber diesen Befehl übernommen, ihn aber weder in das Geheimtagebuch eingetragen, noch auch meinen Vorgesetzten gezeigt, geschweige denn ihn, wie es ausdrücklich befohlen war, sofort an sämtliche Einheiten weitergegeben. Des Weiteren soll er am 1. April, als er von der beabsichtigten Sprengung des Wasserwerks erfuhr, die Kreisleitung beschworen haben, von ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen und um auf Nummer sicher zu gehen, gab ich dem Pioniertrupp die angebliche Weisung des WK VXII, dass sie unter keinen Umständen sich an den Sprengungen ziviler Einrichtungen beteiligen dürfe. Im Laufe dieser Nacht rief ich noch mehrfach die Kreisleitung an und gab immer wieder die Sinnlosigkeit einer derartigen Sprengung zu bedenken. […] Die Sprengung wurde nicht durchgeführt, und ich bin überzeugt, dass hauptsächlich meine Intervention dazu beigetragen hat.71 Auch der Obergefreite Karl Hufnagel gab als Ohrenzeuge an, wie die Kreisleitung bzw. Ferdinand Helpap darauf gepocht habe, das Wasserwerk zu sprengen.72 Dieses Gespräch, so Hufnagel, nahm der Obergefreite Dr. Rudolf Lewandowski entgegen, bezeichnete es als Wahnsinn und übermittelte es dem anwesenden Major Libl.73 Es mag durchaus sein, dass gewisse Objekte aufgrund des Mutes Einzelner nicht gesprengt wurden – wie etwa jenem von Rudolf Lewandowski oder den Männern des Feuerwehrvolkssturmes rund um Josef Wolkerstorfer. Hinzu kam – sie werden, liebe Leserin oder lieber Leser, das Wort wahrscheinlich kaum mehr hören können – der Mangel, und zwar der Mangel an genügend Sprengstoff und der Mangel an Zeit. Denn es gab natürlich noch die unaufhaltsame und rasch vorrückende sowjetische Offensive. Nur durch den massenhaften und überraschenden schnellen Vormarsch der Sowjetarmee, wurde die von den ganz verblendeten Machthabern, zu welchen auch der Kreisleiter Gärdtner gehörte, geplante restlose Zerstörung der schönen Kurstadt Baden, noch zum Teil verhindert.74 Das Durcheinander in Bezug auf den Nerobefehl trieb auch sonderbare Blüten. Kurios mutete ein Vorfall in der Mühlgasse 50 an, und das noch am 3. April 1945. Julius Bayer, aufgescheucht durch das Klirren von Fensterscheiben und in der festen Überzeugung, sowjetische Soldateska würde das Zinshaus in Beschlag nehmen, wagte einen Blick nach 71 StA B, GB 052 Personalakte: Helpap Ferdinand – Rudolf Lewandowski Bericht (10.11.1945). 72 Karl Hufnagel (geb. 1904). 73 StA B, GB 052/Personalakten: Gärdtner Camilo, Mappe III – Klinger an Sicherheitsdirektion Niederösterreich (06.06.1946). 74 Ebd. – Klinger an Sicherheitsdirektion Niederösterreich (06.06.1946).
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draußen, um jedoch festzustellen, hier wüteten gar nicht die Russen. Ich sah, wie mein Hausmeister Josef Neff sämtliche Fensterscheiben in der Veranda, sowie im Hoftrakt mit einer Mistgabel einschlug. Ich stellte daraufhin Neff zur Rede, worauf Neff erwiderte, er habe den Auftrag, vermutlich von der NSDAP, die Wohnungen zu verwüsten, damit dieselben für die Rote Armee nicht bewohnbar sind. Außerdem hatte ich am Gang 4 Kästen stehen, bei denen Neff auch sämtliche Türen einschlug.75 Dem wahnwitzigen Sammelsurium an Ideen, wie die Rote Armee an den schon in den 1810er Jahren abgetragenen Stadtmauern der Kurstadt zum Stehen gebracht werden sollte, fielen auch die alten Kastanienbäume in der Wienerstraße zum Opfer. Reihenweise gefällt, sollten sie die sowjetische Panzerarmee aufhalten. 76 Solcher eher amüsanten Anekdoten standen dann auch regelrechte Himmelfahrtskommando-Ideen gegenüber, wie die Aushebung von Werwolf-Einheiten – als das letzte Bollwerk NS-herrschaftlicher Herrschaft. Für dieses Vorhaben hatte sich ganz besonders die Kreisleitung rund um Kreisleiter Gärdtner erwärmen können und laut Klinger auch nicht davor gescheut, mit diesem Ansinnen selbst an ältere Leute heranzutreten.77 Eine Groteske diesbezüglich erlebte Wenzel Cafourek, als vor seinem Haus plötzlich ein Auto anhielt, aus dem seine Tochter, Maria Horny, ausstieg – jene Frau, die als Minderjährige 1933 an dem Anschlag auf die Badener Bahn mitgewirkt hatte, danach ins Altreich geflüchtet war, einen Legionär geheiratet und danach Karriere bei der Kreisleitung in Baden gemacht hatte (siehe Kapitel 13). Maria Horny überreichte ihrem Vater eine Kiste mit Butter sowie zwei Handgranaten, Letztere mit der Empfehlung: Da hast du, und wehre Dich damit, wenn die Russen kommen!78 Laut dem Zeugen Franz Tröstl klang ihre Formulierung gar: Wenn die Russen kommen, haust Du das denen ins Gfries.79 Wie auch immer das Appellativ ausgesehen haben mag, der Vater tat nicht, wozu ihn die Tochter anzustiften gedachte. Stattdessen verteilte er die Butter an mehrere Hausparteien, und die beiden Granaten wollte er so schnell wie möglich loswerden. Ein Nachbar riet ihm, die Handgranaten einzugraben, was Wenzel Cafourek jedoch geistesgegenwärtig ablehnte, da ich fürchtete, dass bei einer eventuellen Ausgrabung ein Unglück geschehen könnte und schaffte daher die 2 Stk. Eierhandgranaten in das gegenüberliegende Haus, in welchem eine Abteilung der SS einquartiert war.80 Wie die Aushebung von Werwolf-Einheiten in die Praxis umgesetzt werden sollte, darüber klärten am Ostersonntag um 10 Uhr auch die Volksempfänger auf. Normalerweise würden um diese Zeit Nachrichten laufen, doch diesmal gab es einen Vortrag zum Thema Werwolf. Es war nichts anderes als die Ausrufung des totalen Guerillakrieges. Der „Wer75 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Neff Josef (geb. 1885) – Julius Bayer (geb. 1878) Aussage (16.08.1945). 76 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 215f und 249. 77 StA B, GB 052/Personalakten: Gärdtner Camillo; Mappe III – Klinger an Sicherheitsdirektion Salzburg (28.06.1946). 78 StA B, GB 052/Personalakten. Horny Maria – Aussage (09.03.1946). 79 Ebd. – Franz Tröstl (geb. 1892) Aussage (12.04.1945). 80 Ebd. – Wenzel Cafourek (1889–1961) Aussage (15.03.1946).
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wolf“ hieß es, sei „die Vereinigung aller deutschen Männer, Frauen, Buben und Mädel“, die in besetztem Gebiet zurückgeblieben seien. […] Die Feinde – das waren die Amerikaner – seien vogelfrei, und jedes Mittel, ihnen zu schaden, sei recht. „Wehe den Feinden, und dreimal wehe den Verrätern in den eigenen Reihen. Lange konnte sich Gertrud Maurer den Vortrag nicht anhören, denn Papa drehte kommentar- und wortlos den Radio ab.81 Sie wusste aber, dass sich hinter den Werwolf-Einheiten nichts anders als Partisanenverbände verbargen. „Partisanen“ hatte man solche Leute in Jugoslawien, Frankreich usw. genannt und kalt lächelnd an die Wand gestellt. Und jetzt? Gab es nur mehr Wahnsinnige auf der Welt, zumindest in den Sendern? Ja, Gertrud Maurer hatte Recht, der Wahnsinn regierte, die Barbarei kannte keine Grenzen, und um diese zu erleben, musste man nicht auf den Partisanenkrieg auf dem Balkan schielen und sonst wohin. Was sich in unserer Gegend damals abspielte in den letzten Tagen der NS-Herrschaft – natürlich auch die Wochen, Monate und Jahre zuvor –, war um nichts zivilisierter. * Auf die Situation ungarischer Juden habe ich bereits in Kapitel 29 hingewiesen. Ihre Lage wurde gegen Kriegsende noch verheerender. Es wurden sogar intern Stimmen laut, Juden nicht mehr als Zwangsarbeiter öffentlich einzusetzen, da ihr Elend bei Volksgenossen zu viel Mitleid hervorrufen würde.82 Davon blieben ihre Peiniger natürlich unberührt. Deren Hass und Sadismus wurden mit den militärischen Rückschlägen und der sich abzeichnenden Niederlage nur verstärkt. Sie übten an ihren Opfern Rache und Vergeltung dafür, dass ihre eigene Welt zu Grunde ging. Es war ein Mittel, um die eigene Hilflosigkeit durch brutale Handlungsmacht zu ersetzen. Gefangenenerschießungen im Landkreis Baden waren keine Seltenheit, Misshandlungen an der Tagesordnung. In Weissenbach im Taßhofer Steinbruch wurden im April 1945 42 ungarische Zwangsarbeiter ermordet und in Tenneberg bei Altenmarkt 15 ungarische Juden.83 Selbiges hätte genauso in Baden passieren können. Ein Lagerführer Magloth (11 Personen mit diesem Nachnamen kämen hier in Frage) hatte laut der 1926 geborenen ungarischen Jüdin Lilla B. gegen Ende des Krieges den Befehl erhalten, alle ungarischen Juden zu erschießen – es handelte sich hauptsächlich um Frauen und Kinder. Er tat es nicht. Stattdessen brachte er die Frauen und Kinder ins Badener Krankenhaus.84 Es war halt das eine, antisemitischen Schwachsinn von sich zu geben und seinen Judenhass in die Welt hinauszuposaunen, aber es war etwas ganz anderes, dann selbst den Abzug zu betätigen und kaltblütig Menschen zu ermorden. 81 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 259. 82 Vgl. MULLEY Klaus-Dieter, Niederdonau: Niederösterreich im „Dritten Reich“ 1938–1945. In: EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik, S. 73–103, hier 97–100. 83 Vgl. www.jewishhistorybaden.com/time (10.04.2023). 84 Vgl. RAFETSEDER, NS-Zwangsarbeits-Schicksale, S. 552.
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Im Badener Raum fielen all diese Morde in die Verantwortung von Kreisleitung und Landrat. Gärdtner und Wohlrab, wie es Klinger nach 1945 beschreibt, ließen der Gestapo freie Hand. Der Kreisleiter, so Klinger weiter, setzte sich nie für irgendwen ein. Für Bagatellen setzte es bereits KZ-Haft oder Todesurteile. In den Enzesfelder Metallwerken wurden in seiner Amtszeit acht Arbeiter hingerichtet, einer starb in Haft, 24 weitere wurden in ein KZ deportiert, wovon einer nicht mehr lebend zurückkam. Genauso kam es zu öffentlichen Hinrichtungen. Selbst schon beim Herannahen der Front, wurden erwiesenermaßen bei der Friedhofsmauer in Enzesfeld drei Personen durch die S.A. etc erschossen.85 Über die Massaker der letzten Kriegstage sind wir sowohl durch überlebende Opfer unterrichtet als auch durch Täter, die jedoch mit erstaunlichen Erinnerungslücken brillierten bzw. werden wir auch mit erstaunlichen Zufällen konfrontiert. Der Beamte Ernst Schimmel sen., Parteigenosse seit 1935, Zellenleiter und provisorischer Leiter des Badener Säuglingsheimes, erhielt kurz vor dem Einmarsch der Sowjets den Auftrag, die Ehefrau des Landrats, Anna Wohlrab, nach Weißenbach zu geleiten, danach zurückzukommen und mit der Evakuierung des Säuglingsheimes zu beginnen. Doch das interessierte die Behörden nach 1945 eher weniger, vielmehr was Ernst Schimmel in den Tagen und Wochen davor getan hatte, als er, als Baustreifenführer und Aufseher in St. Margarethen im Burgenland beim Stellungsbau, das Kommando über 600 Ostarbeiter innehatte. Den Fremd- und Zwangsarbeitern blieb vor allem sein „Hansl“ in Erinnerung, ein selbstgebauter Schlagstock, den er oft genug zum Einsatz gebracht haben soll. Nach 1945 konnte er sich allerdings daran nicht erinnern bzw. blieb ihm ein anderer Sachverhalt im Gedächtnis. Ich gebe zu, dass ich in St. Margarethen einen Schläger, den sogenannten „Hansl“ bei mir trug, bestreite es aber entschieden, jemals mit diesem irgendwelche Arbeiter damit geschlagen zu haben. Diese Waffe war nur als Abwehrwaffe bei etwaigen Angriffen seitens der Arbeiter auf mich gedacht. Des Weiteren hätte er am 27. oder 29. März 1945 St. Margarethen bereits in Richtung Baden verlassen, was auch Bestätigung fand, denn das, was danach passierte, interessierte die Behörden am meisten. Am 30. März 1945 wurden in St. Margarethen durch die SS-Division „Steckenpferd“, mit tatkräftiger Hilfe einiger Angehöriger des Stellungsbaues, am Nachmittag 40 und am Abend weitere 120 ungarische Juden ermordet. Ernst Schimmel, befragt nach einzelnen Aufseher-Kameraden, ob er mehr über jene wüsste, schien einige gar nicht gekannt zu haben. Und wegen der Juden? Von einem Judentransport zur besagten Zeit kann ich nichts angeben, sondern ich hörte nur vor meiner Abfahrt, dass für einen Transport Kaffee gekocht werden sollte.86 Es wäre nicht das erste Mal gewesen – auch wenn es bei Ernst Schimmel der Wahrheit entsprach –, dass bei solchen Kriegsverbrechen die Verdächtigen ausgerechnet an jenem Tag auf Urlaub waren oder das Lazarettbett hüteten und damit nichts mit den Morden 85 StA B, GB 052/Personalakten: Gärdtner Camillo, Mappe III – Stadtpolizei Baden an Landesgericht s.d. 86 StA B, GB 052/Personalakten: Schimmel Ernst (geb. 1899) – Vernehmungsprotokoll (25.07.1946).
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zu tun hatten. Eine andere Erklärung bot der Lagerführer der „Gustloffwerke HirtenbergKottingbrunn“, SA-Obertruppführer Otto Lexa, an. Am Karfreitag wurde er zum Volkssturm Leobersdorf einberufen. Am Karsamstag fasste er eine Maschinenpistole aus. Und am Ostersonntag erhielt er den Befehl, bei der Exekution von Ausländern zu assistieren. Laut eigener Aussage weigerte er sich entschieden, doch Befehl war Befehl. Allerdings soll er dann selbst keinen einzigen Schuss abgeheben haben, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Auf dem Weg zur Exekutionsstelle konstatierte ich, dass meine Maschinenpistole nicht funktionierte. Ich wollte nämlich probeweise auf einen alten Blechtopf schießen, wobei ich feststellte, dass die Maschinenpistole nicht funktionierte. Ich bleibe dabei, dass ich den Exekutionsbefehl, gegen die drei italienischen Kriegsgefangenen, nicht ausgeführt habe. […] Ich war froh, dass meine Maschinenpistole nicht funktionierte, da ich ansonsten gezwungen gewesen wäre, den Exekutionsbefehl auszuführen.87 All das konnte natürlich der Wahrheit entsprechen. Es gab Ladehemmungen und grundsätzlich dysfunktionales Kriegsgerät, all das konnte passieren, keine Frage. Genauso terminliche Überschneidungen, Fronturlaube, sodass die Betroffenen tatsächlich an exakt diesem einen Tag nicht vor Ort waren. Aber man merkt beim Quellenstudium, dass sich solche Zufälle nach 1945 mehr als nur häuften. Ähnlich verhielt es sich schließlich auch bei diesen von mir genannten „Arisierungen unter Freunden“. Und um wieder einen zeitgeschichtlichen Impact zu bringen, mich erinnern solche Aussagen an jene der IS-Kämpfer, die nach ihrem „Einsatz“ im Nahen Osten zurückkehren bzw. in ihre „Heimat“ Österreich zurückgeholt werden. Vergewaltigungen, Versklavungen, Menschen bei lebendigem Leibe den Kopf abschneiden, sie anzünden oder sie von Hochhäusern werfen, kein einziger der Kurzzeit-Dschihadisten war mit solchen Gräueln in Berührung gekommen. Schließlich waren sie dort in Syrien und im Irak bloß Sanitäter, LKW-Fahrer oder Köche gewesen. Die Gnadenlosigkeit der NS-Schergen kannte übrigens keine rassischen Grenzen und machte vor niemandem halt. Mein Sohn, Franz Krojer, 16 Jahre alt, wurde angeblich von Herrn R. bei Lunz am See absichtlich erschossen. Mein Sohn war beim Volkssturm. […] Ich bitte um Ausschreibung eines Haftbefehls über R. Außerdem möchte ich noch bemerken, dass ein gewisser B. auch dabei war, wie ca. 16 Buben erschossen wurden.88 Das passierte auch in unserer Gegend. Maria Krojer war nicht die einzige Mutter, die ihren minderjährigen Sohn an Führer, Volk und Vaterland und noch dazu durch die Kugel oder den Strick aus den eigenen Reihen, verlor. Man kann durchaus von Kindersoldaten sprechen, die da an die Front geworfen wurden. Den Feind aufhalten konnten sie nicht, und der Feind nahm keine Rücksicht auf das Alter – genauso wenig wie das NS-Verbrecherregime. Nach dem Krieg, Jahre später, traf Gertrud Maurer einen alten Bekannten wieder, den 1930 geborenen Hans Lechleitner. Jener erinnerte sich an seinen letzten Schultag und an die letzten Worte des Direktors. Ich hoffe, euch alle nie mehr wiederzusehen, es sei denn in Walhall! Beim Volks87 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Lexa Otto (geb. 1912). 88 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Krojer Maria (geb. 1897) – Aussage (24.06.1945).
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sturm, als 15-Jähriger, bestand seine Aufgabe darin, feindliche Panzer aufzuspüren und mittels Panzerfaust zu vernichten. Er erspähte keinen einzigen und hielt es für wesentlich sinnvoller, sobald es Nacht wurde, nach Hause zu rennen, um zu überleben. Ein anderer Mitschüler, Frieder Heukeshoven, hatte nicht das Glück. Er bekam eine Panzerfaust und sollte russische Panzer abschießen, aber er war nicht voll ausgebildet, er wusste nicht, dass es für eine Panzerfaust im Rücken frei sein muss, ein Graben, weil ein Feuerstoß herauskommt. Und weil er das nicht wusste, hat ihn der Feuerstoß selbst erwischt.89 Der 16-Jährige verbrannte bei lebendigem Leibe. Das NS-Regime verheizte erbarmungslos die eigene Jugend, jene Menschen, die es zuvor in den Himmel gelobt und als die Zukunft des Deutschen Reiches schlechthin glorifiziert hatte. Und wenn wir uns vergegenwärtigen, dass dieses Regime keine Gnade gegenüber seiner, unter enormem Zeit- und Geldaufwand über Jahre hinweg indoktrinierten, geschulten und geschliffenen, Jugend hatte, was konnten sich dann erst jene erwarten, die als Schädlinge galten. * Trotz Endkampf-Propaganda setzte schon vor den Osterfeiertagen der große Exodus ein. Die Stadt, so Rudolf Lewandowski, wurde regelrecht von durchmarschierenden und sich in Auflösung befindlichen Truppen geflutet. An elendslange Kolonnen konnte sich auch der achtjährige Walter Stiastny erinnern, da er nicht unweit der Wienerstraße wohnte. In der Woche vor Ostern […] zogen durch die Wienerstraße westwärts Tag und Nacht die Kolonnen der deutschen Truppen, die am Rückzug waren.90 Selber Eindruck brannte sich auch bei Gertrud Maurer ein. Trecks, Rotkreuzwagen und Militärautos. Jetzt waren schon die Leute zu Fuß darunter und der Kanonendonner, den man erst nur im Freien vor der Stadt, wo man das dumpfe Geräusch des Flüchtlingszuges nicht vernahm, wie leises Grollen von einem fernen Gewitter gehört hatte, war geschwollen und lauter und lauter geworden und war jetzt schon eine Geräuschkulisse, die nur selten verstummte. Unerbittlich ergoss sich der Strom des Flüchtlingszuges die Wiener Straße herauf durch die Stadt, um sie durch das Helenental wieder zu verlassen. Desertiertes ungarisches Militär war darunter, Offiziere mit ihren Pupperln, in Pelz gekleidete „Damen“. Ostersonntag früh kam eine Abteilung Donkosaken durch, die auf deutscher Seite gekämpft hatten.91 Divers war auch die Zusammensetzung der verbliebenen Soldaten im Schloss Weilburg. Nach dem Anschluss waren dort zuerst deutsche Polizeitruppen untergebracht gewesen. Im Laufe der Zeit diente das Schloss verschiedenen Militäreinheiten als Quartier. Nachdem eine Flakabteilung von dort abgezogen wurde, wurde das Lehrregiment „Brandenburg“ einquartiert, später die Division „Brandenburg“. Kurz vor dem Zusammenbruch kamen 89 Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, 4.5.2007, Wiedersehen mit H.L. nach 60 Jahren. 90 Vgl. MAURER Rudolf, Befreiung? – Befreiung! Baden 1945–1955 (Baden 2005), S. 4. 91 Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 257.
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noch ukrainische Soldaten in deutschen Uniformen hinzu, vermutlich Angehörige der Wlassow-Armee – ein russischer Kampfverband, der unter General Andrei Andrejewitsch Wlassow auf der Seite der Wehrmacht kämpfte – sowie ungarische Truppen in ungarischen Uniformen. Etwas weiter unten, in den Holzbaracken am Holzrechenplatz, waren ausländische Sanitätshelferinnen untergebracht, hauptsächlich aus Lettland.92 Aber genug der Diversität und zurück zum Badener Exodus. Der Messerschmied Johann Kassecker, Parteimitglied seit 1938, zeitweise Block- und Zellenleiter, wurde am Karsamstag, den 31. März 1945, zum Landrat zitiert und erhielt den Befehl, am Ostersonntag, den 1. April 1945, sich für die Evakuierung um fünf Uhr früh bereitzuhalten. Alles was man noch auftreiben konnte, was für die Evakuierung von Wert war, wurde aufgetrieben, aufgeladen und mitgenommen. Am Tag darauf konnte der Treck, hauptsächlich Frauen und Kinder, sogar pünktlich Richtung Klausen-Leopoldsdorf losstarten. Johann Kassecker wurde zu einem Transportleiter ernannt. Die 68-jährige Marie Stagl schilderte nach 1945, dass es für Kassecker sehr schwer war, den Transport weiterzubringen. Er hatte bei den fast ständigen Fliegerangriffen mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen, vor allem deswegen, weil sich die nahezu durchwegs fremdländischen Kutscher immer wieder widersetzten und nach Baden zurück kehren wollten.93 Dermaßen nervlich überreizt gab er selbst an, hinter Michelbach weigerten sich einige Fuhrwerker, noch weiterzufahren und habe ich diese Fuhrwerker mit vorgehaltener Pistole gezwungen, den Transport fortzusetzen. So ging es weiter nach Waidhofen a.d. Ybbs, wo sie jedoch erfahren mussten, dass die Ernährungslage vor Ort es nicht zulasse, weitere 120 Frauen und Kinder aufzunehmen. Gleichzeitig war ein Weiterziehen auch nicht mehr möglich, da das Futter für die Pferde aufgebraucht war. Der Treck musste aufgelöst werden. Die Flüchtlinge wurden mittels Bahn nach Salzburg, Landegg und Dornbirn verfrachtet. Johann Kassecker selbst hatte sich nach Erledigung des Auftrages bei der Kreisleitung in Dornbirn abgemeldet und habe ich mich auf die Suche nach meiner Frau und Kindern begeben.94 In diesen Tagen verließen etliche Menschen und „Institutionen“ die Stadt. Am Karsamstag hörte Baden auf, Lazarettstadt zu sein – eine wirkliche Kurstadt war sie bekanntlich schon lange nicht mehr. Stationsschwester im Sauerhof, Annemarie Mahlendorf, erzählte, wie Oberstabsarzt Dr. Mitterberger, Chef des Peterhofs und der Hälfte aller Badener Lazarette, am Karsamstag völlig verschmutzt und verstaubt mit seinem Motorrad angefahren kam, suchte uns im Sauerhof auf und teilte mit, dass die russische Panzerspitze bereits in der Wiener Neustädter Ebene eingebrochen sei und sich daher schon alles im Zustande der völligen Auflösung befinde. Es erfolgte die Anweisung, den Sauerhof zu evakuieren. Allein ihre Abteilung umfasste 140 Soldaten, insgesamt waren es 500. Der Sauerhof war zu der Zeit restlos überbelegt. Es war Normalität, dass Schwerverletzte auf den Gängen herumlagen und die 92 GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; Weilburg. 93 StA B, GB 052/Personalakten: Kassecker Johann (1892–1976) – Marie Stagl (1877–1964) Aussage (28.11.1945). 94 Ebd. – Kassecker Aussage (19.10.1945).
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Zimmer mit Dreistockbetten vollgestellt waren. Und als der Sauerhof noch einen Bombentreffer erhielt, brach die Stromversorgung vollkommen zusammen. Daraufhin wurde von irgendwo eine Stalllaterne geholt und im Scheine dieser arbeiteten wir die ganze Nacht bis zum Morgen durch, um die Ausweispapiere, Krankengeschichten und Entlassungsscheine jedem Soldaten noch mitgeben zu können. 95 Am Ostersonntag machte sich auch der achtjährige Walter Stiastny bereit für die Flucht. Der Leiterwagen war gepackt, Decken und Lebensmittel, mehr konnte man ohnehin nicht mitnehmen. Er und seine Familie kamen bis in die Einöde, wo sie in einem Höhlenkeller Schutz fanden bzw. finden mussten, da auch diese Ost-West-Fluchtachse (Pfaffstätten-Einöde-Gaaden-sicherer Westen) mit Flüchtenden verstopft war.96 Für Gertrud Maurer schlug am Ostersonntag noch nicht die Stunde der Flucht. Stattdessen musste sie die Schule aufsuchen, da der Fliegeralarm ertönte und sie als BDM-Angehörige bis zum 3. April schließlich Bereitschaftsdienst ausgefasst hatte. Zuvor half sie noch schnell zu Hause, einzelne Wertgegenstände in Sicherheit bringen. Ihre Mutter holte eilends ihre Schulbücher aus der Schule, während der Vater seinen Achat-Aschenbecher vergrub. Seine Wertpapiere wollte er am nächsten Morgen auf die Bank bringen. Jetzt rollten er und Gerti den Perserteppich auf und schaufelten in der Schupfen – gut, dass sie nicht betoniert war! – Koksstaub und Erde darüber. Mutti half ihnen, das schöne Geschirr in zwei große Kisten neben den Hasenställen in der Schupfen zu verpacken. („Fertig zum Abtransport für die Plünderer!“ dachte Gerti).97 Sich und seinen Besitz in Sicherheit zu bringen, war das Gebot der Stunde. Wobei die Gefahr nicht ausschließlich von Seiten plündernder Rotarmisten ausgehen sollte. Die damals 13-jährige Ingeborg Hackl wohnte mit ihrer Familie in der Elisabethstraße 15. Als ihr Vater, der Besatzungssoldat in Belgrad gewesen war, mit dem großen Rückzugstreck in Baden eintraf, bestand er vehement darauf, dass die Familie die Stadt zu verlassen habe. Am 1. April 1945 fuhren sie nach Wien, um von dort weiter nach Linz zu gelangen. Als der Vater am selben Tag noch einmal nach Baden zurückkehrte, war die Wohnung schon geplündert, und es waren nicht die Russen – die sollten erst in zwei Tagen erscheinen.98 Zurück im Hause Hauer machte sich August Hauer für den zu erwartenden Einsatz im Volkssturm bereit. Revolver, Kartentasche und Stiefel waren hergerichtet. Jetzt zeigte er Gerti – sie wunderte sich, warum –, wie man mit einem Revolver umging, wie man ihn lud und entlud, sicherte und spannte… Dazu schärfte er ihr ein, das Losungswort der Sparkassenbücher sei Caesar, Caesar mit a-e. […] Dann holte Papa seinen alten, mit Hasenfell gefütterten Militärmantel aus dem ersten Krieg und gab ihn Gerti für die Flucht; die Nächte konnten noch kühl sein. Aus den alten Fellen fielen büschelweise die Haare. Um diese vollkommen absurde Situation wenigstens ansatzweise aufzulockern, zog Gerti ein Paket Spielkarten hervor. Sie und Papa schnapsten den ganzen Abend. Das Norli schlief schon, Mutti wälzte sich schlaflos im 95 96 97 98
WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 65. Vgl. MAURER Rudolf, Befreiung? – Befreiung! Baden 1945–1955 (Baden 2005), S. 5. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 257. Vgl. MAURER Rudolf, Befreiung? – Befreiung! Baden 1945–1955 (Baden 2005), S. 4.
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Bett, Oma murmelte Gebete; [Tante] Josi war unsichtbar, sie hatte sich in ihre Kemenate zurück gezogen.99 Es sollte eine kurze Nacht werden.
Das Erscheinen des Messias… Um ein Uhr früh am Ostermontag ertönte das Geschrei des Blockleiters: „Herr Hauer! Hauer!“ Gerti schlief den tiefen, traumlosen Schlaf der Jugend, Papa im Nebenzimmer den bleischweren Schlaf der Erschöpften. Als Erste fuhr die Mutter mit einem Angstschrei hoch, weckte augenblicklich ihren Ehemann, der sogleich zum Fenster stürzte, wo ihm der Blockleiter entgegenschrie: „Die Russen, die Russen….“ stieß er hervor. „Am Doblhoff – die Frauen und Kinder…“100 Das Chaos brach aus. Man weinte, man lief umher, packte Sachen, wie einen Teddybären oder vergaß Dinge wie den Ehering, dafür aber nicht die Rumflasche aus der Küchenkredenz. Die Zeit lief, war kostbar und zugleich gefährlich. Am Ostermontag, dem 2. April 1945, kam es erneut zu schweren Fliegerangriffen. Zwischen 9 und 10 Uhr am Vormittag erfolgte der erste Angriff und am Nachmittag, zwischen 14 und 15 Uhr, der zweite. An diesem Tag sollten Dutzende Menschen durch Bomben getötet werden. Viele Bombenopfer traf es überraschend, denn die Stromversorgung war zusammengebrochen, und damit fielen die Sirenen aus. Einzig die mit Dampf betriebenen Sirenen und ein Auto mit einer montierten Sirene heulten warnend auf.101 Wäre es nach den Plänen der Kreisleitung gegangen, so hätte sich die Lage noch schlimmer gestalten können. Denn die Feuerwehren, die zu einem Feuerwehrvolkssturm zusammengeschlossen wurden, hatten den Befehl erhalten, sich nach Trumau zu begeben, um dort Panzersperren zu besetzen. Versammelt in der Grabengasse beim Feuerwehrhaus und bereit zum Abmarsch, erfolgte in dem Augenblick der erste Fliegerangriff. Sowohl das auf der anderen Straßenseite liegende Kaiserhaus als auch das Feuerwehrgebäude erhielten Treffer bzw. wurden indirekt beschädigt. Damit war der Einsatz in Trumau vom Tisch. Es hieß in Baden zu bleiben, erste Hilfe zu leisten und ausbrechende Brände zu bekämpfen.102 Allerdings wurde schon am Ostersonntag ein Großteil der Löschgerätschaften in den Westen verfrachtet und die Hydranten waren ohne Druck. Die Feuerwehrmänner mussten improvisieren. Den Brand im Kaiserhaus konnte man noch mit dem Wasser aus den Zisternen unter Kontrolle bringen – das war’s dann aber auch. Was jetzt noch möglich war, war, so gut es ging die unter den Trümmern begrabenen Menschen zu bergen. In der Neustiftgasse konnte ein Badener lebend geborgen werden, in der Wörthgasse hingegen, wo 21 Personen verschüttet waren,
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MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 259. Ebd. S. 260. Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 40. Vgl. Tätigkeitsbericht der Freiwilligen Feuerwehr der Stadt Baden, S. 1f. Aufliegend im StA B, Per18.
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konnte nur mehr ein Schwerverletzter gerettet werden.103 Wie sich so ein Bombentreffer anfühlte, das erlebte Grete Wolkerstorfer am eigenen Leib. Am Mittagstisch, an diesem christlichen Feiertag, durfte sie sich tatsächlich noch eines einfachen Gulaschs erfreuen, von dem sogar etwas übrigblieb. Das Abendessen schien damit gesichert, doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Auf einmal hieß es Fliegeralarm, und die Familie rannte so schnell sie konnte in den Keller. Meine Mutter kehrte plötzlich auf halbem Wege um, weil sie den Dokumentenkoffer vergessen hatte und meinte, wir müssten im Ernstfall uns ausweisen können. Meine Brüder hängten sich an ihren Rockzipf und waren plötzlich mit ihr weg. Ich war alleine im Keller übriggeblieben. Und dann passierte es. Auf das Haus Antonsgasse 10–12 fielen mehrere Bomben. Als der Spuk vorbei war und nach einer gewissen Zeit kam ein Mann in den Keller und meinte: „Oben sind alle tot!“ Grete begann hysterisch zu schreien. Gott sei Dank grundlos – die Geschwister und die Mutter hatten sich irgendwie retten können und mich aus dem Keller geholt.104 Die Feuerwehren taten, was sie konnten, wurden allerdings selbst zum Ziel feindlicher Fliegerangriffe, als am Nachmittag, ohne Vorwarnung, der zweite Angriff aus der Luft erfolgte. Der Feuerwehrmann Karl Wimmer war sofort tot, Anton Just erlag zwei Tage später seinen Verletzungen, und Fritz Weitzel musste wochenlang das Spitalsbett hüten. Als sich am Abend dieses für die Feuerwehr besonders tragischen Ostermontags die Kampfhandlungen schon unserer Stadt näherten, erfolgte endlich die Auflösung des unseligen Feuerwehr-Volkssturmes. Das Feuerwehrhaus wurde abgesperrt und die abgesetzten und übermüdeten Männer konnten nun endlich zum Schutze ihrer eigenen Familien heimeilen.105 Die in weiterer Folge ausbrechenden Brände, ausgelöst durch weitere Bomben, Artilleriegranaten, sonstige Kampfhandlungen, Brandlegung, Funkenflug usw. konnten ungehindert wüten.106 Grete Wolkerstorfer fasste diese apokalyptische Stimmung passend zusammen: Zahlreiche Menschen irrten ängstlich durch die Straßen und es roch überall nach Phosphor.107 Phosphorgeruch in einer Stadt, in der es ohnehin nach Schwefel riecht! Wenn wir bedenken, dass sich um die Entstehung der Stadt Baden mehrere Sagen ranken, wo oftmals der Höllenfürst höchstpersönlich seine Finger im Spiel gehabt haben soll, so haben wir eine „ideale“ Dystopie vor uns. Die alliierten Bomben und Granaten machten auch keinen Unterschied zwischen Freund und Feind. Ob Sozialist, Nationalsozialist, Christlichsozialer, Denunziant, Kriegsgefangener, Zwangs- oder Fremdarbeiter, das alles war egal. Es traf Menschen wie Johanna Schön, die einfach nur unterwegs war, um Zucker einzukaufen. Den Obst- und Gemüse103 StA B, GB 342/Feuerpolizei, Brandbekämpfung, Brandschäden III; Fasz. II 1938–1945 – Der Monat April 1945. 104 WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 43. 105 StA B, GB 342/Feuerpolizei, Brandbekämpfung, Brandschäden III; Fasz. II 1938–1945 – Der Monat April 1945. 106 Vgl. Tätigkeitsbericht der Freiwilligen Feuerwehr der Stadt Baden, S. 1f. Aufliegend im StA B, Per18. 107 WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 43.
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händler Karl Steinmayer erwischte es am Brusatti-Platz am Marktplatz, Leopoldine Gunhold in der Marchetstraße 13, die Verkäuferin Anna Lukas in der Antonsgasse 18 und den Hotelier Heinrich Steigner sowie den Selchermeister Paul Mitacek Ecke Wassergasse-Bahngasse. Sie alle wurden getötet oder schwer verletzt.108 Oder der Schulwart Johann Sinzinger, sein Schicksal können wir seiner Grabplakette am Badener Friedhof entnehmen: Hier ruht Herr Johann Sinzinger Schulwart geb. 8.X.1878 gest. 2.IV.1945 am Dienstweg während eines Bombenangriffes gefallen. Ruhe sanft!109 Bei den Bombardierungen am Ostermontag wurden auch Hans Posiles und Maria Fasching getötet – beide sind uns in Kapitel 24 Natur und Technik begegnet, als aktive Widerstandskämpfer. Und beide fielen einer alliierten Bombe in der Weilburgstraße zum Opfer, und noch dazu am letzten Kriegstag in Baden. Hans Posiles verstarb vor Ort, Maria Fasching im Krankenhaus. Mehr Glück hatte sein Halbbruder. Zu Schanzarbeiten im Lager Steinberg zwangsrekrutiert, wurde er wenig später durch die Gestapo verhaftet. Die Gestapo wusste von seinen Halbbrüdern und deren Aktivitäten. Zuerst gab er sich unwissend, allerdings war er sich darüber voll im Klaren, dass er einem Verhör durch die Gestapo nicht standhalten würde. Da er außerdem fest davon überzeugt war, sowieso getötet zu werden, verhalfen ihm sein Fatalismus und ein Moment der Unachtsamkeit seiner Peiniger zur Flucht. Mit einem Sprung aus dem Fenster setzte er den ersten Schritt in die fragile Freiheit. Oberpullendorf war die nächstgelegene Ortschaft. Dort angekommen versteckte er sich in einem Zug, und dann wurde es wunderlich. Wie durch ein Wunder fuhr der Zug bald darauf ab. Er hielt – das ist ein weiteres Wunder – in Wiener Neustadt. Von dort wanderte ich nach Baden und weiter zu meinen Brüdern nach Wien.110 Eine mörderische Odyssee samt Versteckspiel zwischen Leben und Tod, davon konnte auch der Elektromonteur Franz Sänger Zeugnis ablegen. Als Sozialist und Angehöriger der Revolutionären Sozialisten (RS) im Ständestaat erhielt er 1935 fünf Monate Haft wegen Hochverrats. Nach dem Anschluss stand er unter der Beobachtung der Gestapo und zugleich im Dienste der Technischen Nothilfe (TN) – wo es ihn ins besetzte Frankreich verschlagen sollte. Im Mai 1942 kehrte er nach Baden zurück, wo ihm ein TN-Posten in Wien winkte, den es allerdings nur gegen eine Parteimitgliedschaft gab. Er trat bei. Politische Motive spielten laut eigener Aussage keine Rolle. Gegenteilig hab ich mich – im Burgen108 StA B, GB 053/Kriegsalltag III; Fasz. I; Fliegerangriffe April 1945. 109 Stadtfriedhof Baden, Johann Sinzinger (1878–1945) Gruppe 18, Reihe 09, Nummer 10. 110 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1940, S. 45 und www.jewishhistorybaden.com/people (10.04.2023).
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land von der Landesleitung der Technischen Nothilfe beim Aufbau des Südostwalles eingesetzt – eigenmächtig von meiner Dienststelle entfernt, somit fahnenflüchtig geworden, und habe mich seit 1. Februar 1945 bei Bauern arbeitend verborgen halten können, bis die Rote Armee auch mir die Freiheit brachte.111 Es gab verschiedene Möglichkeiten, sich den letzten sinnlosen Kämpfen zu entziehen. Hubert Fischbach, der im Jänner 1945 den Entschluss fasste, zu desertieren, fügte sich absichtlich Erfrierungen an seinen Fingern zu, um dann auf Umwegen über verschiedene Verbandsplätze nach Baden zu kommen (schwarz ohne Fahrschein), wo ich im Lazarett „Sauerhof“ durch Intervention von Bekannten unterkam. Mit Hilfe eines Arztes gelang es mir, den Lazarettaufenthalt zu verlängern. Am 1. April 1945 wurde ich entlassen und sollte zur Dienststelle zurück. Ich kleidete mich zivil und hielt mich im Keller des Herrn Fritz Weiser, Uetzgasse, verborgen, wo ich den Eingang der Roten Armee abwartete.112 Noch mehr als „nur“ zu desertieren, tat Paul Karger – ehemaliger Offizier des Ersten Weltkrieges, Kriegsgefangener bis 1921, der 1928 in der Badener Krankenkasse unterkam, im November 1938 entlassen und im Dezember 1943 wegen Defätismus und Wehrkraftzersetzung verhaftet wurde (siehe Kapitel 11 Von braven Bürgern, Bauern und Edelleuten). Seiner Verhandlung vor dem Volksgericht am 24.10.1944 entzog er sich drei Tage zuvor durch seine Flucht – das Chaos nach einem alliierten Fliegerangriff machte es möglich. Sein Ziel war Wien, wohin er sich erfolgreich durchschlagen konnte und wo es ihm gelang, Verbindung mit der Widerstandbewegung zu erlangen u. zw. durch einen meiner alten Freunde, den ehemaligen Bürgermeister von St. Pölten, Herrn Viktor Müllner, einem alten Dachauer, der in der Leitung von O5 tätig war. Diesem stellte ich mich zur Verfügung und wurde ich beauftragt, mit geheimen Weisungen zu den russischen Linien mich durchzuschlagen. Durch den raschen Vorstoß der Russen wurde jedoch dieser Plan fallen gelassen und hätte ich tags drauf als Einzelgänger die russischen Linien bei Pressburg erreichen sollen. Auch dieser Plan musste fallen gelassen werden, genauso wie alle anderen geschmiedeten Pläne, denn die unaufhaltsame Rote Armee schuf jeden Tag neue Wirklichkeiten. Letztendlich blieb Paul Karger in Wien, wo das weitere Vorgehen verschiedener Widerstands- und Partisanengruppen koordiniert werden sollte, als uns durch einen telefonischen Anruf mitgeteilt wurde, dass die SS uns auf der Spur sei und das Nest ausheben wolle. Wir zerstreuten uns hierauf und musste ich mich, da ich keine Verbindung mehr bekommen konnte, die folgenden Tage verborgen halten.113 Sobald die sowjetische Armee in Wien einmarschiert war, eilte er nach Baden zurück und stellte sich dem neuen alten Bürgermeister, Josef Kollmann, zur Verfügung. Obwohl das NS-Regime als Ganzes mittlerweile kaum mehr handlungsfähig war, galt das nicht für einzelne NS-Fanatiker, die Jagd auf alle machten, die vom „Endsiegglauben“ abgefallen waren. Ihre Mordlust barg nicht nur Gefahr für Deserteure oder Widerstandskämpfer, sondern genauso für versprengte, aber nicht an Desertation denkende Wehr111 Seinem Antrag wurde stattgegeben. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Sänger Franz (geb. 1889). 112 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Fischbach Hubert (geb. 1908). 113 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Karger Paul (1894–1977) – Niederschrift (10.06.1947).
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machtssoldaten. Fahnenjunker Walter Vogt und seine Einheit, die den Befehl hatten, Wiener Neustadt zu halten – es wäre Selbstmord gewesen –, brachen stattdessen aus der Stadt aus, was natürlich nicht unbemerkt blieb. Die Sowjets hatten unser Vorhaben beobachtet und überschütteten uns mit rasendem MG- und Mpi-Feuer. Wir wurden auseinander gesprengt, und ein großer Teil geriet in Gefangenschaft, während es meiner Gruppe unter Führung Hauptmann Hofer gelang, in allerletzter Minute der sowjetischen Gefangennahme zu entrinnen. Wir hatten unglaubliches Glück. In solch einer Tonalität ging es weiter. Glück hatten sie, dass sie von einer motorisierten Einheit Richtung Baden mitgenommen wurden und Glück hatten sie, dass sie die feindlichen Panzerabwehrgeschosse nicht erwischten, die immer näher einschlugen, und wir glaubten, jeden Augenblick in die Luft zu fliegen. Doch ein Wunder ließ uns entkommen. In Baden, in einem Lazarett angekommen (vielleicht Sauerhof ), hatte Walter Vogt abermals Glück, denn beinahe wäre er durch eine Fliegerbombe getötet worden. Um mich herum gewahrte ich nur noch ein furchtbares Krachen und Bersten. Flammen und Qualm. Der Luftdruck, so erinnerte er sich, schleuderte ihn gegen ein Denkmal, sodass er augenblicklich das Bewusstsein verlor. Als er zu sich kam, stellte er fest, dass er selbst bis auf ein paar leichte Quetschungen unverletzt war, aber ansonsten offenbarte sich meinen Augen ein furchtbares Bild der Zerstörung. Das Lazarett war zum Teil wegrasiert, und im Garten um mich herum lagen Tote und Verwundete. Einem Kameraden wurde das halbe Bein weggerissen, ein Flakoberleutnant hatte einen messergroßen Bombensplitter im Leib stecken und er verhauchte sein Leben unter qualvollen Schmerzen. Durch das entstandene Chaos wurden er und ein weiterer Soldat von der Truppe getrennt. Zu zweit irrten sie suchend umher und hätten das beinahe mit ihrem Leben bezahlt – wenn nicht wiederum Fortuna ihnen zur Seite gestanden wäre. Eine SS-Streife nahm uns beide fest und wollte uns vor ein Standgericht bringen, da Hitlers Befehl lautete, dass jeder Soldat der 24 Stunden ohne Bescheinigung seiner Truppe angetroffen wird, sofort standrechtlich abzuurteilen ist. Dieses Schicksal wäre uns widerfahren, wäre nicht gerade ein Fahnenjunker Stabsfeldwebel gewesen, der uns von der Kriegsschule her kannte und der im Besitz einer Bescheinigung war. So waren wir hier noch in letzter Minute dem Standgericht entkommen.114 * Der Ostermontag 1945 bot die letzte Möglichkeit, um aus Baden vor den herannahenden sowjetischen Truppen zu fliehen. Beim Doblhoffpark, von wo aus Busse Richtung Westen wegfuhren, sammelten sich etliche Badener, darunter auch Gertrud Maurer und ihre gesamte Familie. Den ersten Bus hatte man verpasst, in den zweiten war man nicht hineingekommen, nun rollte der dritte heran, der ebenso von Menschenmassen bestürmt wurde. Dicht zusammengepresst rief Gertrud Maurers Tante Josi auf einmal: Da riecht’s
114 Vgl. BRETTNER Friedrich: Die letzten Kämpfe des II. Weltkrieges (Steinfeld-Wienerwald-Tullnerfeld-Traisental) (Gloggnitz 2002), S. 63f.
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nach Alkohol! Lauter Verbrecher und Besoffene und da wollts ihr mitgehen!115 Es waren keine Besoffenen und auch keine Verbrecher, es war Gertrud Maurers kleine Schwester Nora, in deren Rucksack sich der Stöpsel von der Rumflasche gelöst hatte. Die kostbare Fracht, auf die man beim Packen nicht vergessen hatte, rann aus und verbreitete nun überall einen alkoholischen Duft. Was jedoch wesentlich schlimmer war als dieses schmunzelwerte Ereignis, war Gertrud Maurers Angst um den Vater. Würde er mitkommen können oder würde er tatsächlich beim Volkssturm landen? Denn ein Mal hieß es ja, spätestens bei der Krainerhütte im Helenental werden alle Männer aussortiert und in den Volkssturm überstellt, ein anderes Mal hieß es wieder nein. Die Tochter hegte die große Hoffnung, dass alle gemeinsam fliehen könnten. Schließlich hatte sie in den Flüchtlingskolonnen bisher auch viele Männer erspähen können. Aber sich länger darüber den Kopf zu zerbrechen, dafür war nicht die Zeit, denn es galt, einen der kostbaren Plätze im Bus zu ergattern. Sie, ihre Schwester und Mutter schafften es, dank der Anstrengung des Vaters, der mit aller Kraft von hinten anschob. Für ihn, die Oma und Tante Josi reichte es aber dann nicht mehr aus. Nicht einmal seinen Koffer konnte August Hauer noch mitgeben. Ausgerechnet seine Tochter, die ihn entgegennehmen sollte, wich zurück. Sie hatte doch schon genug Gepäck zum Schleppen, dachte sie sich, und zugleich überkam sie die Angst: Sie bebte vor der Szene, die Papa machen würde, falls seinem Koffer etwas passierte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Dingen nun ihren Lauf zu lassen. Gerti warf einen letzten Blick auf die Zurückbleibenden. Josi war anzusehen wie eine Hexe und schrie mit weit offenem Mund, als sollte sie abgestochen werden. Neben ihr stand Oma und weinte herzbrechend; ohne Papa war natürlich keine Rede davon, dass sie sich der Flucht angeschlossen hätte. 116 Dann fuhr der zum Bersten gefüllte Bus los, um sich in der endlosen Kolonne der Flüchtenden einzureihen. Das war für Gerti das Ende des Tausendjährigen Reiches, wie sie so im ersten Morgengrauen unter Kanonendonner im Schritttempo ins Helenental hineinfuhren und den geliebtesten Menschen der Welt, den Papa, mit Oma und Josi zurückließen und mit ihnen auch die Heimat…117 Der Ostermontag war auch der letzte Arbeitstag der Stationsschwester Annemarie Mahlendorf im Sauerhof. Das Lazarett war bereits am Vortag geräumt worden, bis auf vier schwerverletzte Soldaten, auf die man einfach vergessen hatte. Als die Vergessenen hörten, dass das Lazarett bereits geräumt sei, waren sie wütend über eine solche Behandlung, wurden aber noch rechtzeitig in Marsch gesetzt. Danach, in dem nun wirklich vollständig geräumten Haus, wurden die Lebensmittellager geplündert bzw. an das verbliebene Personal verteilt, während im Hintergrund ein Volksempfänger Feindnachrichten rauf und runter spielte. Zu hören war unter anderem: Österreicher! Harret aus! Es kommt die Befreiung. Versorgt euch nur für 3 Monate mit Lebensmitteln. Wir kommen!118 115 116 117 118
Vgl. MAURER, Das 1000-jährige Reich II, S. 261. Ebd. S. 261. Ebd. S. 262. WOLKERSTORFER Baden 1944–1945, S. 65.
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Der Ostermontag war auch der letzte Tag, an dem Rudolf Lewandowski Soldat der Deutschen Wehrmacht war. An diesem Tag telefonierte er noch mit Bürgermeister Franz Schmid, um nachzufragen, ob Baden vielleicht doch noch zur offenen Stadt erklärt werden sollte. Laut ihm soll Schmid dafür Feuer und Flamme gewesen sein. Daraufhin wandte sich Lewandowski an die Kreisleitung und teilte Ferdinand Helpap mit, dass sowohl der Kampfkommandant von Baden (der wieder einmal unbekannten Aufenthaltes war) und der Bürgermeister übereingekommen seien, Baden als offene Stadt zu erklären. Da schrieb mich Dr. Helpap an, dass, solange er hier sei, Baden bis zum Letzten verteidigt würde, da es den Zugang gegen Wien zum Triesting- und Schwechattal schütze. Ich sei ein Saboteur und ein Verräter an Deutschen Volke und werde alle Konsequenzen zu tragen haben. Er werde veranlassen, dass ich wegen Feigheit und Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt würde. Für Rudolf Lewandowski wurde es nun ernst, denn der neu bestellte Kampfkommandant hatte sich mit Dr. Helpap ins Einvernehmen gesetzt und drohte mir sofortige Erschießung wegen Wehrkraftzersetzung an. Sein Leben rettete Rudolf Lewandowski ausgerechnet der zweite, um ca. halb vier erfolgte Bombenangriff auf Baden. Physisch und psychisch vollkommen erledigt ging ich abends nach Pfaffstätten. Am nächsten Tag versteckte ich mich im Walde.119 Dass nunmehr alles verloren war, das musste auch die hiesige NS-Führung zur Kenntnis nehmen – trotz allen pathetisch-obszönen Durchhalteparolen. Nun war auch für sie die Zeit gekommen, um zu fliehen – ich meine natürlich, sich taktisch zurückzuziehen. Hans Grundgeyer zum Beispiel, jener SA-Mann, der Juden zu „Reibpartien“ gezwungen und sich dabei fotografieren hatte lassen, zog sich bereits am Karfreitag zurück.120 Und der Amtsarzt Robert Fischer, der, laut Karl Rossmann – jenen Mann, den Fischer mit Magengeschwüren zur Schanzarbeit verdonnert hatte –, der die Arbeiter und Arbeiterinnen etc. zu den Schanzarbeiten und in die Munitionswerke etc. einrückend machte, woselbst sie 10–12 Stunden am Tag und auch an Sonntagen schuften mussten, ist […] am Samstag mit Rucksack und Skiern etc., schon zu seiner evakuierten Familie zum Weekend gefahren, woselbst er dann einige Tage immer vom Amte fern blieb.121 Andere bewiesen dann doch noch „Anstand“ und zogen sich erst am Ostermontag zurück. Ein Zeitzeuge der Flucht der lokalen NS-Prominenz war der Illegale und SA-Scharführer Karl Benesch. Im Jänner 1945 wurde er zum stellvertretenden Zugsführer im Volkssturm bestellt und wenig später, vom Volkssturm-Kompanieführer Hans Zissers, zum Waffenmeister befördert. Am 1. April erhielt Karl Benesch den Befehl, einen Lebensmitteltransport nach Lilienfeld zu geleiten. Nach seiner Rückkehr am Tag darauf musste er feststellen, dass sein Kompanieführer Hans Zisser durch eine Bombe getötet und die VolkssturmKompanie bereits aufgelöst worden war. Sein neuer Vorgesetzter war nun Volkssturm-Bataillonsführer Fritz v. Reinöhl. Jener befahl um ca. 22:30, dass die Kreisleitung mit den Pg. und die restlichen Volkssturmmänner, Teile aus Tribuswinkel und Traiskirchen sich nach Sattel119 StA B, GB 052 Personalakte: Helpap Ferdinand – Rudolf Lewandowski Bericht (10.11.1945). 120 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Grundgeyer Hans. 121 StA B, GB 052/Personalakten: Fischer Robert – Karl Rossmann Aussage (20.10.1946).
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bach, Helenental begeben sollen. Alles fuhr mittels Fahrräder, es waren ca. 15–20 Männer, in dieser Richtung ab.122 Beim Urtelstein wurden noch sinnlose Panzersperren errichtet, deren Aufstellung erst in den Morgenstunden ihr Ende fand. Danach floh die Truppe in das Gut „Rehhof“ bei Altenmark a. d. Triesting – das übrigens 1938 vom SA-Obergruppenführer Herman Reschny, dem Führer der Österreichischen Legion, arisiert worden war.123 Dort verweilten sie acht Tage. Anschließend ging es weiter über Wilhelmsburg nach Traisen, wo der größte Teil des Volkssturms in die SS-Division „Hitlerjugend“ eingegliedert wurde. Bis zum 22. April blieb Karl Benesch Teil dieser Einheit. Anschließend machte er sich, bereits in Zivil gekleidet, auf die Suche nach seiner Lebensgefährtin. Er suchte, beginnend in Freiningau bei Melk über Vöcklabruck bis nach Nöstach, doch war sie nirgendwo zu finden. Am 18. Mai kehrte er nach erfolgloser Suche nach Baden zurück. Um 11 Uhr kam er bei seiner Wohnung in der Wienerstraße an, wo bereits fremden Menschen wohnten. Nur eine Stunde später wurde er durch die Hilfspolizei festgenommen und der Rathauswache übergeben.124 Unter den Flüchtenden an diesem Ostermontag befand sich auch Bürgermeister Franz Schmid. Eigentlich hatte er vorgehabt, in Baden zu bleiben, aber er erhielt durch Landrat Wohlrab den dienstlichen Auftrag, Baden zu verlassen und als pflichtbewusster Beamter leistete ich Folge, wie halt alle Bürgermeister der Bez. Hauptmannschaft Baden.125 Aber er und seinesgleichen gingen nicht mit leeren Händen. Zuvor hatte man sich noch mit etwas Reisegeld aus der Stadtkasse eingedeckt. Es wurde nun aus der aufgesperrten Kasse 17.000 R.M. bar entnommen und in das Büro Nr. 29, zum Polizeihauptmann Alfred Gutschke getragen, woselbst der Bürgermeister Schmid Franz (welcher ein monatliches Einkommen von 1.800 R.M. gehabt habe) 3.000 R.M., der Kämmerer Hans Löw 2.000 R.M., Vbgm. Emil Pfeiffer 2.000 R.M., Ratsherr Brandstetter Josef 2.000 R.M., Polizeihauptmann Gutschke Alfred 2000 R.M. und der Verwalter Eduard Schilk 1.000 R.M. trotz ihren namhaften Gagen an sich genommen und mit ihrer Unterschrift bestätigt haben. Übrig blieben 150.000 RM, die eingesperrt zurückgelassen wurden. Der Schlüsselverwahrung nahm sich Hans Löw an. Und damit der Schlüssel nicht in falsche Hände geriete, nahm er ihn auch gleich mit bei seiner Flucht Richtung Westen. Der Kammeramtsrat Rudolf Sigmund, welcher in Baden zurück geblieben ist, konnte daher das Bargeld etc. aus der versperrten Kasse nicht mehr retten und sind die 150.000 RM infolge der Plünderungen etc. verschwunden.126 Dass der schnöde Mammon selbst während der Flucht Thema war, davon berichtete Josef Langer, Direktor des Sanatoriums Rekawinkel, der am 1. April 1945 den Befehl erhielt, das Sanatorium zu räumen und sich nach Wieselburg zurückzuziehen, um dort ein Aus122 123 124 125
StA B, GB 052/Personalakten: Benesch Karl (geb. 1899) – Aussage (18.05.1945). Vgl. SAFRANEK, Wer waren die niederösterreichischen Nationalsozialisten, S. 45. Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Benesch Karl (geb. 1899). StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Mappe III Ermittlungen nach 1945 – Brief an Julius Hahn (12.09.1945). 126 Ebd. – Amtsbericht Kriminalabteilung Baden (27.11.1946).
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weichquartier zu beziehen. Als er am nächsten Tag dort ankam, traf er auf das evakuierte Krankenhaus Baden und lernte bei dieser Gelegenheit Franz Schmid und dessen Vize Emil Pfeiffer kennen. Nach wenigen Tagen wurde die Leitung des Sanatoriums Rekawinkel dem Krankenhaus Baden unterstellt. Gemeinsam sollte es dann Richtung Oberösterreich gehen, wo in der Gemeinde Diersbach (Bezirk Schärding) das nächste Ausweichquartier errichtet werden sollte. Dafür standen 100.000 RM zu Verfügung, zu deren Verwalter Emil Pfeiffer ernannt wurde, was Josef Langer äußerst misstrauisch machte. Da ich wusste, dass Emil Pfeiffer einen unverhältnismäßig hohen Betrag allein verwaltete und mir von verschiedenen Badener Gefolgschaftsmitgliedern die mindere Seriosität Emil Pfeiffers geschilderte wurde, hegte ich Verdacht, dass der hohe Betrag nicht ordnungsgemäß verwaltet werde. Er sollte Recht behalten. Nach nur wenigen Tagen waren 35.000 RM aufgebraucht. Darunter befand sich bei der Gemeinde ein Beleg (Diersbach), nach welchen Pfeiffer der Gemeinde Diersbach für freundschaftliche Aufnahme ein Geschenk von RM 10.000.- gemacht hatte. Ferner hat sich Pfeiffer ein monatl. Gehalt, wie mir erinnerlich von 600.- und für besondere persönliche Leistungen während der Flucht ein Sonderhonorar von RM 2.000,- genehmigt. Von den reichen Lebensmitteln aus den Beständen des Krankenhauses Baden, bekam das neue Ausweichkrankenhaus nichts mehr zu sehen.127 Gemessen an dem, was Schmid jahrelang dem Ständestaat vorgeworfen hatte (Miss-, Sau- und Freunderlwirtschaft), waren die Aktionen der letzten Tage der NS-Stadtverwaltung, für die er Pate stand, deutlich schwerwiegender. „Ungereimtheiten“ passierten aber nicht nur auf Führungsebene. Am Ostermontag beobachtete Wilhelm Baumgartner die endlosen Züge der sich zurückziehenden Soldaten in der Wienerstraße und ihm fiel auf, dass viele von ihnen Kübel und Schaffel mitführten. Nichtsahnend dachte er im ersten Moment, die Leute führten Wasser mit – eine logische Schlussfolgerung, zumal die Wasserleitung unterbrochen war. Doch bei genauerem Hinsehen wurde aus Wasser Wein. Den gab es plötzlich in Hülle und Fülle, ganz ohne Bezugsscheine, bei einem deutschen Posten in der Wienerstraße. Für zehn Zigaretten konnte Wilhelm Baumgartner mehrere Liter griechischen Wermutwein herausschlagen. Das Füllen der Flaschen beanspruchte eine ziemlich lange Zeit, nicht nur, weil nur ein dicker Gummischlauch zur Verfügung stand, sondern weil sich so viele von den vorüberziehenden Soldaten ihre Feldflaschen füllen ließen. Einen angenehmen Nebeneffekt hatte das ganze Unterfangen auch noch. Durch das wiederholte Anziehen am Schlauch war ich schon benebelt, und als ich auch mit meinen acht bis zehn Litern Wein nach Hause ging, dachte ich mir, dass so ein Krieg doch etwas ganz Lustiges sei.128 Rückblickend wäre es gar nicht einmal so eine schlechte Idee gewesen, den letzten Kriegstag in Baden leicht illuminiert zu erleben. Wer wusste schon, ob es ein Morgen geben würde. Und wenn ja, wie würde er sich gestalten? Vielleicht ahnten es bereits manche Badener, was ihnen blühen würde. Denn das, was am Folgetag und die Tage darauf passieren 127 StA B, GB 052/Personalakten: Pfeifer Emil (geb. 1889) – Josef Langer (geb. 1916) Aussage (27.07.1946). 128 Vgl. MAURER, Befreiung, S. 7 – Wilhelm Baumgartner (1875–1966).
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sollte, war eine Gewaltorgie, wie sie die Stadt bereits sieben Jahren zuvor erleben musste. Die Befreiung 1945 wies nämlich eindeutige Parallelen zu den Anschlusstagen und den Novemberpogromen von 1938 auf.
…und das Warten auf den Heiligen Geist Am Vormittag des 3. April 1945 drangen sowjetische Einheiten vom Harterberg und von Pfaffstätten aus Richtung Badener Innenstadt vor. Fast kampflos – bis auf ein paar leichte Gefechte mit sich ins Helenental zurückziehenden Wehrmachtseinheiten – wurde die Stadt Baden eingenommen. Am nächsten Tag wurde die Kurstadt noch einmal beschossen, allerdings nicht durch die Rote Armee, sondern durch deutsche Artillerie.129 Das erste Aufeinandertreffen mit sowjetischen Einheiten erfolgte jedoch schon am 2. April 1945, allerdings zogen diese nördlich an der Kurstadtstadt vorbei. Es waren Verbände, die rasch weiterzogen, um den sich Richtung Norden zurückweichenden Wehrmachtseinheiten nachzusetzen. Walter Stiastny, der sich mit seiner Familie in der Einöde nördlich von Baden in einem Höhlenkeller versteckte, erhaschte an jenem Tag mit einem kurzen Blick nach draußen die ersten Impressionen, wie seine Welt aussehen würde, nachdem das Tausendjährige Reich der Vergangenheit angehört hatte. Ein erschossener Wehrmachtssoldat lag vor dem Versteck, der am Vormittag noch seine Stiefel angehabt hatte, am Nachmittag nicht mehr. Derweilen hatten sein Vater und andere Männer eine weiße Flagge gebastelt und traten damit in Kontakt mit den zukünftigen neuen Herren der Kurstadt bzw. halb Österreichs. Sie ergaben sich, am 2. April, der sogenannten ersten Welle. Die Kontaktaufnahme schien geglückt zu sein.130 Das Grauen kam danach. Es folgte die gefürchtete zweite Welle russischer Soldaten. In der Gemeinde- und Pfarrchronik Pfaffstättens heißt es, dass die russischen Soldaten der zweiten Welle viel Schrecken durch Verbrechen, Zerstörung und Vergewaltigung verbreiteten. Hilfe gegen die Übergriffe jeglicher Art gab es nach Angaben der Einheimischen von sowjetischer Führung in den ersten Tagen der Besatzung nicht.131 Rasch wurde klar, wer nun das Sagen und was die befreite/besiegte Bevölkerung zu erwarten hatte. Die Verkündigungen der Flugblätter, wonach die Österreicher nichts zu befürchten hätten, erfüllten sich nicht. Die Voraussetzungen für Milde und Nachsicht waren äußerst ungünstig. Der nationalsozialistische Vernichtungsfeldzug gegenüber den Völkern des Sowjetimperiums führte unweigerlich zu Racheaktionen. Die ersten Begegnungen mit den „Russen“, wie es zumeist in den Zeitzeugenberichten zu lesen ist, waren für manche Badener die Erfüllung sämtlicher NS-Horrorprophezeiun129 Vgl. BRETTNER, Die letzten Kämpfe, S. 62 und StA B, GB 053/Kriegsalltag III, Fasz. I; Fliegerangriffe April 1945. 130 Vgl. MAURER, Befreiung, S. 5. 131 MASCHER-PICHLER, Besatzungszeit, S. 31.
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gen, wonach Dschingis Khans Horden über sie hereinbrechen würden. Zu den ersten Rotarmisten, die Grete Wolkerstorfer oder der 15-jährigen Thea Frank über den Weg liefen, gehörten ausgerechnet berittene Einheiten asiatischer Herkunft. Für Josef Wolkerstorfer – der noch kurz zuvor den angebrachten Sprengstoff am Urtelstein mit abgebaut hatte – erfolgte die erste Begegnung in Preinsfeld bei Heiligenkreuz. Als Angehöriger des Feuerwehrvolkssturmes war die Angst riesengroß und nicht unberechtigt, sofort erschossen zu werden, da sie alle noch uniformiert waren – zwar nicht in Wehrmachtsuniformen, aber in ihren Feuerwehruniformen. Ein riesiger Unterschied, aber im Angesicht der damaligen Umstände eine Garantie für gar nichts. Zuerst einmal wurden sie von den Befreiern in einer Reihe aufgestellt und von jeglichen Wertgegenständen befreit. Beinahe hätte Josef Wolkerstorfer die erste Begegnung mit einem Finger bezahlt. Seine Hand lag schon am Hackstock, da ein Ring nicht runter wollte. Zum Glück für ihn gelang es in letzter Minute, das Schmuckstück auch ohne Blutvergießen zu rauben.132 Auf der anderen Seite finden wir genauso Berichte, in denen die erste Begegnung einer freundlichen Plauderei glich oder wo sich Befreite und Befreier bzw. Sieger und Besiegte freundlich begrüßten.133 Dennoch waren Tod und Gewalt in diesen Tagen allgegenwärtig, wie der selbstverständliche Diebstahl und Raub, das Eindringen und Einbrechen in Wohnungen, die Randale in Geschäften, die willkürlichen Erschießungen usw. Als Walter Stiastny und seine Mutter am Dienstag, den 3. April, über den Rudolfshof die Flamminggasse heruntermarschierten, erblickten sie in der Germergasse nahe der Winzergenossenschaft zweit tote Zivilisten und einen toten deutschen Soldaten auf der Straße liegen.134 Und von wo sie hergekommen waren, aus dem Kurpark, wurde auch der ehemal. Ortsbauernführer Josef Hoffmann, welcher in Baden […] sesshaft war und mit seiner ganzen Familie in die Höhlen oberhalb des Kurparkes geflüchtet war, dortselbst erschossen und liegen gelassen.135 Tote lagen in den Straßen der Kurstadt. Es war noch nicht die Zeit, sie zu beerdigen. Wenn man so will, die sowjetischen Soldaten hatten die Zeit geraubt. Es dürstete die neuen Herren regelrecht nach den Zeitmessern. Aber nicht nur nach denen. Als sie Bunker, Wohnungen und Häuser durchsuchten, verlangten sie hauptsächlich nach Uhren, Wein und vor allem Frauen – hier insbesondere die „zweite Welle“. So herrschte absolutes Chaos und die Badener Frauen waren nun extrem gefährdet.136 Die zweite Welle sowjetischer Soldaten schien weniger geschult, weniger diszipliniert und weniger straff geführt zu sein – da offenbar nicht genügend Offiziere oder Politkommissare vor Ort waren.137 Eine Horde von wildaussehenden Männern strömte herein und besah sich erst einmal das Häuflein verängstig-
132 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 44,45 und MAURER, Befreiung, S. 7 – Thea Frank (geb. 1930). 133 Vgl. MASCHER-PICHLER, Besatzungszeit, S. 46. 134 Vgl. MAURER, Befreiung, S. 5. 135 StA B, GB 053/Kriegsalltag III; Fasz. I; Fliegerangriffe April 1945. 136 MASCHER-PICHLER, Besatzungszeit, S. 48. 137 Ebd. S. 51.
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ter Menschen, suchten sich einige der jungen Frauen heraus und hießen sie mitzugehen – „zur Arbeit“, wie sie sagten. „Roboti!“ Was dies bedeutete, wurde uns erst später klar. In dieser ersten Nacht erkannten wir, wie schutzlos und ausgeliefert wir waren. Schon bereute ich es, nicht rechtzeitig mich dem Flüchtlingsstrom angeschlossen zu haben […].138 So gestaltete sich für Anna Tilp ihre erste Begegnung mit Angehörigen der Roten Armee. Man durchstöberte nämlich sämtliche Keller, erstens nach „vino“, in der Hauptsache aber nach Frauen, derer man nicht genug bekommen konnte. Angeblich für die Arbeit, in der Hauptsache aber für das Vergnügen. Manch eine von den anwesenden Frauen, besonders aber Mädchen, mussten dann mitgehen zum „Roboti“ – und uns, den Zurückgebliebenen, blutete das Herz ob ihres schrecklichen Schicksals.139 Weibliche Jugend, Vitalität und Attraktivität waren jetzt von enormem Nachteil. Und noch etwas schien zum Nachteil zu gereichen: In der Weingegend rund um Baden hatten es die Frauen – wie schon erwähnt – noch schlechter als irgendwo anders. Denn der Wein holte aus den Besatzern das Schlechteste hervor, das sie vielleicht unter anderen Umständen gar nicht so stark ausgelebt hätten.140 Um den Massenvergewaltigungen zu entkommen, standen unterschiedliche Strategien zur Verfügung. Verstecken war das „Einfachste“, oder Frauen schmierten sich Dreck ins Gesicht, bis hin zu Kot oder sie koteten sich überhaupt gleich ein, um so unappetitlich wie nur möglich zu erscheinen. Auf die Hilfe der eigenen Ehemänner, Brüder oder Väter durfte man als Frau übrigens nicht zählen. Bei geringster Gegenwehr – womöglich befeuert durch einen eruptiv ausbrechenden „männlichen“ Beschützerinstinkt – wurden jene einfach erschossen.141 Eine Tante von Anna Tilp wandte eine andere Strategie an, um die Wahrscheinlichkeit einer Vergewaltigung zu senken. Wohl zwanzigmal in dieser Nacht musste Tante Liesl hinauf in die Wohnung der Russen gehen, die schon ziemlich betrunken waren, um Rede und Antwort zu stehen, wo der deutsche Offizier stecke. Liesl, die jedesmal ihre drei Kinder mit sich schleppte und wahrscheinlich aus diesem Grund auch von den Russen nicht bedrängt worden war, kam diese Nacht nervlich so herunter, das wir für ihre Gesundheit fürchteten.142 Einmal hätte es auch beinahe Anna Tilp erwischt, als wieder einmal sowjetische Soldaten hereinstürmten, „Roboti“ schrien und allen anwesenden Frauen klar war, eine freilich musste dran glauben, und das war… unsere Gastgeberin, die sich für uns freiwillig opferte, und die Russen so lange hinhielt, bis wir in Sicherheit waren.143 Es waren regelrechte Spießrutenläufe. Am besten war es als Frau, sowjetischen Soldaten gar nicht über den Weg zu laufen, gar nicht aufzufallen, und dafür schien jedes Mittel recht. Schreienden Kindern, so Anna Tilp, wurden die Mün-
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StA B, D 359, Erinnerungen von Anna Tilp an das Ende des II. Weltkrieges, S. 6. Ebd. S. 8. MASCHER-PICHLER, Besatzungszeit, S. 75. Vgl. BAUER, Die dunklen Jahre, S. 390 und MASCHER-PICHLER, Besatzungszeit, S. 77 und 79. 142 StA B, D 359, Erinnerungen von Anna Tilp an das Ende des II. Weltkrieges, S. 7. 143 Ebd. S. 8.
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der zugehalten, um ja keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Weniger verstörend war die List, die die Oberin des Marienspitals in Baden anwandte, nachdem sich Anna Tilp und eine Gruppe Frauen dorthin geflüchtet hatten. Im ersten Saal brachte die Oberin nur eingemummte alte Frauen unter, und sie schaffte es damit, die sowjetischen Soldaten davon zu überzeugen, dass sie es hier mit einem Altersheim zu tun hätten, dessen Insassinnen schon mit einem Fuß im Jordan stehen würden.144 Vergleichbares wiederfuhr der Mutter von Grete Wolkerstorfer. Nach der Begutachtung durch Rotarmisten galt sie als „stari“, also als alt. Damit schien sie ungeeignet für eine Vergewaltigung. Während es einerseits die Biologie war, die Frauen das Trauma einer Vergewaltigung ersparen konnte, musste die 20-jährige Hertha Kobale hierbei etwas nachhelfen. Sie setzte sich ein Kopftuch auf und kaschierte dadurch erfolgreich ihr Alter. Als die sowjetischen Soldaten auftauchten, sagten sie nur: „Du nicht alte Frau.“ Einer Nachbarin ist es nicht so gut ergangen. Die ist vergewaltigt worden. Wir haben sie um Hilfe schreien gehört, aber wir konnten da einfach nichts machen.145 Während es für Frauen ratsam erschien, sich älter zu machen, war es bei Männern genau umgekehrt. Als die Familie Wolkerstorfer im Hof der Reihe nach aufgestellt wurde, bläute die Mutter ihrem 16-jährigen Sohn ein, sich möglichst klein zu machen, um jünger auszusehen. Neben dem Rat seiner Mutter war es womöglich ausgerechnet eine vor kurzem auskurierte Lungenentzündung, die ihn zusätzlich elend und damit harmlos aussehen ließ und die ihm auch schon zuvor das Leben gerettet hatte. Die nicht ungefährliche Erkrankung, vor allem in Zeiten, zu denen Arzneien Mangelwaren waren, hatte die positive Nebenwirkung, dass er nicht zum Volkssturm eingezogen werden konnte.146 Die Gewalt der Befreiungstage lag nicht einzig und alleine an der Rache der Überfallenen des Juni 1941. In diesen Tagen haben wir einen Kampf jeder gegen jeden, denn es ging ums nackte Überleben. Nachbarn konnten wieder einmal alte Rechnungen begleichen. Zwangsarbeiter konnten Rache nehmen an ihren Peinigern. Ostmärker konnten Rache nehmen an den Altreichlern – schließlich war vielerorts Common Sense, dass die Altreichler den Krieg nach Österreich gebracht hatten und somit die sowjetische Vergeltung. Es war eine Welt, in der Rache, Gewalt und Willkür regierten, wo es an Nahrungsmitteln mangelte und wo Plünderungen und Vergewaltigungen an der Tagesordnung standen. Und wo es was zu holen gab, wo welche Rechnung zu begleichen war, das wussten die Einheimischen am besten – nicht der Russe. Genauso wie 1938, da wussten auch die Einheimischen, wo es etwas zu holen gab oder wer Jude war, und nicht die Herren aus dem fernen Berlin. Gemeinsam mit den Besatzungsmächten konnten dieser Tage Wohnungen von Nationalsozialisten geplündert werden. Man konnte diese Menschen nach Lust und Laune denunzieren und sie damit wortwörtlich ans Messer liefern. Die Denunziationen, die uns zuvor über etliche Seiten begleitet haben, gingen nun unter anderen Rahmenbedingungen einfach weiter. Diesmal halt 144 Vgl. ebd. S. 8. 145 MASCHER-PICHLER, Besatzungszeit, S. 77 (10.04.2023). 146 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 43.
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nicht mehr unter der Schirmherrschaft des Hakenkreuzes, sondern unter den Insignien von Hammer und Sichel. Und manchmal blieben die Akteure auch dieselben.147 Was in diesen Tagen passierte, wurde später oftmals als „unschön“ bezeichnet. Verharmlosend, teilweise kryptisch, aber auch zutiefst vulgär wurde unter anderem über Massenvergewaltigungen geschrieben. Es hieß, Frauen seien bedrängt worden – ein „wunderbarer“ Euphemismus, um das Wort „vergewaltigt“ nicht in den Mund zu nehmen – oder aber, dass sie so hergenommen wurde, dass sie kaum mehr gehen konnte.148 Diese Zeit der Extreme erforderte extreme Anpassungsstrategien. Die 16-jährige Anna Grabenhofer erzählte, wie sie am Ostermontag Zuflucht in einem Bunker in der Helenenstraße 39 im Wirtshaus Schanzer gefunden hatte. In der Nacht verschafften sich Wehrmachtssoldaten Zutritt. Sie schrien für sie Unverständliches daher, zogen aber bald wieder ab. Am Osterdienstag das gleiche Spektakel. Nun waren es Rotarmisten, die Unverständliches rumschrien. Zum Glück konnte irgendjemand Russisch und damit besänftigend eingreifen.149 Sprache war Macht, Russisch zu können, konnte über Leben und Tod entscheiden. Die Russisch-Kenntnisse des Volkssturmkommandanten Karl Dandl retteten nicht nur sein, sondern auch die Leben jener Männer, mit denen gemeinsam er sich Richtung Tribuswinkel abgesetzt hatte. Die meisten von ihnen hatten noch ihre Wehrmachtsuniformen an, als sie sich den Rotarmisten mit erhobenen Händen ergaben. Doch die sowjetischen Soldaten, so Karl Dandl, gebärdeten sich sehr wild, wollten die 5 Deserteure unbedingt erschießen; erst über meine Intervention, da ich mich auf russisch mit ihnen verständlich machen konnte, ließen sie nach längerem Verhandeln von ihrem Vorhaben ab. Daraufhin nahmen die Rotarmisten die Männer nach Baden mit, wo es erneut brenzlig wurde. Das Auffinden von Fotographien und Kriegsandenken in den Brieftaschen zweier Deserteure gab den russischen Soldaten neuerlich Anlass, um die Militaristen durch Erschießen zu erledigen. Wieder über mein langes Zureden, da sie mir als Alten (stary) Gehör schließlich schenkten, ließen sie von ihrer Absicht ab.150 Einer der Deserteure, Franz Zimmermann, brachte es nach 1945 auf den Punkt: Wir verdanken es Herrn Dr. Dandl, dass er die russische Sprache beherrschte und uns dadurch das Leben rettete.151 Die Fähigkeit, mit den Sowjets zu kommunizieren, bedeutete, Macht zu haben und einen großen Vorteil gegenüber jenen, die es nicht konnten. Ich erinnere an Elisabeth Trenner (siehe Kapitel 24 Blutsbrüder und Blutsschwestern). Russischkenntnisse senkten massiv die Gefahr, unter die roten Räder zu kommen, und erhöhten zugleich die Chance, andere vorzuschicken. Wilhelm Michalsky, laut eigenen Angaben ein in Wilna geborener polnischer Staatsbürger, kam nach dem Überfall auf Polen in ein Arbeitslager in Braunschweig, von wo er nach 147 148 149 150 151
Vgl. StA B, GB 052 Personalakten: Fibi Marie (geb. 1898), Fibi Rudolf (geb. 1892). MASCHER-PICHLER, Besatzungszeit, S. 74 (10.04.2023). Vgl. MAURER Rudolf, Befreiung? – Befreiung! Baden 1945 – 1955 (Baden 2005), S. 11. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Dandl Karl – Aussage (28.07.1945). Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Zimmermann Franz (1915–1993).
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acht Monaten zur Wehrmacht eingezogen wurde. Im März 1944 fand er sich in Pfaffstätten wieder – zerstörte Telegraphenleitungen reparierend. Den Einmarsch der Roten Armee erlebte er in der Einöde, wo er sich kurz davor noch seiner Wehrmachtsuniform entledigen und sie durch Zivilkleider ersetzen konnte. Sein Auskommen fand er wenig später als Dolmetscher in der Tribuswinkeler Radiofabrik. Das war seine Version. Eine andere Version bot der Kommunist Johann Hasenöhrl, nachdem Wilhelm Michalsky im Mai 1945 verhaftet worden war. Seine Staatsbürgerschaft ist zweifelhaft. Er gibt sich als Pole aus. Da er die polnische Sprache schlecht beherrscht, wird vermutet, dass er ein Reichsdeutscher ist. Dies umso mehr, als er in der letzten Zeit zwei Tage vor dem Umbruch in einer deutschen Wehrmachtsuniform gesehen wurde. Nach dem Umbruch hat er sich mit den Russen herumgetrieben, mit den Russen Trinkgelage angehalten und den Russen Frauen zugetrieben. Er drang mit den Russen in die Häuser ein und holte die Frauen aus den Zimmern. Er selbst hat die Frauen auch verschiedentlich unter den Betten hervorgezogen.152 Was traf zu? Fest steht nur, dass die allermeisten Menschen überleben wollten und bereit waren, sehr viel dafür zu tun, um ihre eigene Haut zu retten. Dazu gehörte es, im richtigen Augenblick die Seite zu wechseln oder die Wahrheit flexibel handzuhaben. Und ob man dann überlebte, war teilweise dem reinen Glück geschuldet. Zufälle entschieden über Leben und Tod. Zufälle entschieden aber auch darüber, ob man in seinen eigenen vier Wänden verbleiben durfte, und nicht vertrieben wurde oder das traute Heim in Flammen aufging. Beinahe wäre Letzteres Stanislava Klisowska und ihrem Sohn Heinz Klisowski passiert, der noch dazu gerade so die KZ-Haft überlebte hatte – es war jener Mann, der uns ganz am Anfang (siehe Kapitel 2 Quellen) begegnet ist, über dessen Identität ich so lange gerätselt habe und der 1942 in ein KZ deportiert wurde. Ihr Haus in der Eichwaldgasse 16, dessen Besitzerin Stanislava Klisowska war, wurde von dem Ehepaar Theodor und Marie Nachtnebel bewohnt. Theodor Nachtnebel war Mitglied des Exekutivkomitees, was ihn offenbar über Jahre davon befreite, Miete zu zahlen. Als die Sowjetische Armee im Anmarsch war, so haben Sie [Marie Nachtnebel] die S.A.-Uniform Ihres Mannes und die viele NSDAP-Literatur ohne Wissen der Stanislava Klisovska in deren Kellerabteil hineingeschmuggelt, woselbst die kompromittierten Sachen von Russen, welche mit Spürhunden gesucht wurden, auch gefunden wurden. An einem Haar ist es gehängt, und das ganze Haus wäre von den Russen einfach in die Luft gesprengt worden […].153 Ein ähnliches Beinahe-Unglück wäre auch dem „Mischehepaar“ Franz und Aurelia Rottenberg wiederfahren – beide sind uns bereits in Kapitel 1 und 24 begegnet. Zu all den Schikanen, die sie sieben Jahre lang erdulden mussten, gehörte unter anderem die Einquartierung des SA-Oberscharführers Franz Grill samt Familie in ihrer Villa in der Elisabethstraße 45. Dem nicht genug, wohnte gleich nebenan, Elisabethstraße 47, Ratsherr Hans Lang. Damit stand das Ehepaar Rottenberg unter ständiger Kontrolle. Den Alltag fasste 152 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Michalsky Willhelm (geb. 1914) – Aussage Johann Hasenöhrl (08.05.1945). 153 StA B, GB 052/Personalakten: Nachtnebel Theodor – Klinger an Marie Nachtnebel (12.11.1947).
Kapitel 31 Die letzten Tage des größten Schwefelkurortes Großdeutschlands
Franz Rottenberg kurz wie folgt zusammen: Das Nebeneinander gestaltete sich furchtbar. Und neben dem alltäglichen Horror wäre das Ehepaar Rottenberg beinahe auch noch nach der Zerschlagung des NS-Regimes zum Handkuss gekommen. Denn als die sowjetische Soldateska in ihre Villa eindrang, fanden sie neben den mit Hitlerbildern vollbehangenen Wänden und mindestens 10 Exemplaren von „Mein Kampf“ zusätzlich noch sechs Gewehre, 15 kg Munition, zwei Revolver und weiteres belastendes Material vor. Wenn wir in dieser sehr kritischen Situation am 4.4.1945 früh, nicht den Schutz des russ. Generals Ossipenko und Major Karasow genossen hätten, so wäre durch die eingangs geschilderte Provokation der Familie Grill, unser schöner Besitz bestimmt in Flammen aufgegangen.154 Solche kritischen Situationen konnten aber auch damit enden, dass sich die Rotarmisten nicht nur mit der Brandlegung begnügten, sondern mit den vermeintlichen Besitzern ebenso kurzen Prozess machten. Überleben und Sterben lagen so nahe beieinander, genauso das Leid und die Erlösung. Mochten noch so viele Männer und Frauen in Baden von den Befreiern drangsaliert, vergewaltigt oder ermordet worden sein, der Einmarsch der Sowjets rettete zugleich Leben, zahlreiche Leben. Wie das eines Badener „Mischehepaares“, wo dem Mann gegen Ende des Krieges die Gestapo mit der KZ-Internierung drohte, weil er sich partout weigerte, sich von seiner arischen Freundin und den gemeinsam gezeugten Kindern zu trennen. Noch bevor ich ihrer Vorladung Folge leisten musste, kamen die Russen nach Baden und beendeten meinen Alptraum.155 Genauso erging es all den anderen Menschen, die als Kriegsgefangene, Fremd-, Zwangsoder Sklavenarbeiter dahinvegetieren mussten oder in Gefängnissen, Zuchthäusern und KZ-Lagern die sichere Ermordung zu erwarten hatten. Für sie bedeutete der Einmarsch Leben – wenn auch keine Garantie, kein weiteres Leid mehr zu erfahren. Die Rote Armee kam als Befreier von der NS-Herrschaft, doch den Frieden und die Freiheit, die wir bzw. die meisten Menschen heute schätzen, und die sich deshalb nicht nach einem starken Führer sehnen, brachte nicht die Sowjetunion mit ihrem Kommunismus, sondern die alliierten Westmächte mit ihrem Kapitalismus. * Es ist für mich sehr verlockend, die Geschichte weiter zu erzählen, und ich werde es auch tun, selbst wenn mit dem Einmarsch der Roten Armee und der Vernichtung der NS-Herrschaft in Baden unsere historische Reise an ihr Ende gekommen ist. Aber so leicht fällt es mir dann doch nicht, und ich möchte noch ein wenig auf geplatzte Träume eingehen und auf Albträume, die Wirklichkeit wurden, ich möchte versuchen, eine Bilanz zu ziehen und einen Ausblick in die für uns bekannte, aber für unsere Protagonisten unbekannte Zukunft zu geben.
154 StA B, GB 052/Personalakten: Grill Franz (geb. 1903) – Aussage Franz Rottenberg (08.12.1946). 155 WOLKERSTORFER, Baden 1939, S. 42.
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Kapitel 32 Buchende Oder: Eine Ode an den Homo Sapiens…
Die Scheußlichkeiten über KZ usw. glaubten wir nicht, ja wir machten sie noch lächerlich. Ich glaube, keiner von uns konnte ahnen, was da wirklich passiert ist – ausgenommen, einige Mitgefangene, die irgendwie mit solchen Dingen zu tun gehabt hatten und die beharrlich schwiegen….1 Alois Brusatti konnte es einfach nicht glauben, was ihm die Sieger während seiner Gefangenschaft alles so unter die Nase schoben. Selbst das bewegte Bild, ein Film über die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, entlockte ihm und seinen Offizierskameraden nur ein müdes Lächeln. Wir sahen den Film – so unglaubwürdig das heute klingen mag – wir glaubten nicht, was im Film dargelegt wurde, sondern hielten es für Propaganda! Wir saßen nachher zusammen, und es gab Aussprüche, wie etwa: Das hätte Goebbels besser gemacht und nicht eine so dumme Propaganda vorgesetzt; am meisten Beifall fand ein Hauptmann, der schließlich sagte: „Deutsche würden sich nicht zu solchen scheußlichen Dingen hergeben“.2 Auch als Karl Pfeifer das erste Mal vom Holocaust erfuhr, von den Dimensionen und der Dynamik dieses in der Menschheitsgeschichte einzigartigen Verbrechens, wollte und konnte er es nur schwer glauben. Die grauenvollen Informationen überstiegen das Vorstellungsvermögen vieler, und man versuchte sie zu verdrängen.3 Zu den „Ungläubigen“ gehörte auch sein Onkel Arthur in Ungarn, der auf sein und das Ungarntum allgemein schwor und in dessen Hände er sein und das Leben seiner Familie legte. Er war der Meinung: „Hier ist nicht Deutschland, hier ist nicht Polen, hier gibt es eine tausendjährige christlich-ungarische Kultur, außerdem war ich Offizier im Krieg und wurde mit dem Karlskreuz ausgezeichnet.“ Diese Haltung war damals typisch für die meisten ungarischen Juden, je mehr man sie diskriminierte, umso patriotischer wurden sie.4 Im Frühjahr 1944 wurden seine Ehefrau, zwei Söhne, eine Enkelin und er in Auschwitz ermordet. Wie viele Badener Juden ermordet wurden, erschließt sich aus der Internetrecherche in den verschiedenen Opferdatenbanken. Als Beispiel sei hier die Opferdatenbank von Yad Vashem angeführt. Gibt man in die Suchrubrik „Ort“ die Ortsangabe „Baden bei Wien“ ein, erhält man mehr als 270 Namen. Weit über 90 Prozent gelten als ermordet, bei ganz wenigen lesen wir: keine Angaben. Bei der Eingabe „Baden bei Wien“ erhält man alle 1 2 3 4
StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 46. Vgl. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 54. PFEIFER, Einmal Palästina und zurück, S. 41. Ebd. S. 42.
Kapitel 32 Buchende
Menschen, die irgendwie mit der Kurstadt in Berührung gekommen sind. Fächert man die Suche auf und gibt „Baden bei Wien“ in die Suchrubriken „Geburtsort“ oder „Aufenthaltsort vor dem Krieg“ oder „Aufenthaltsort während des Krieges“ ein, erhalten wir folgende Zahlen: 185, 85 und 60 – wiederum gelten die allermeisten Menschen als ermordet. Die Möglichkeit, die Opfer auf diese Weise ausfindig zu machen, erübrigt in meinen Augen die namentliche Auflistung in diesem Buch, zumal die Internetdatenbanken aktuell gehalten werden, was in einem gedruckten Buchformat nicht möglich ist. Hier verweise ich auch nochmals auf die Homepage jewishhistorybaden.com – die eine eigene Badener Schicksalsdatenbank aufweist. Sehr lange Zeit waren überhaupt keine Zahlen und Namen jüdischer Opfer vorhanden bzw. nicht so leicht einsehbar. Ganz anders verhielt es sich bei den nicht jüdischen Opfern, sprich den „normalen“ Volksgenossen oder gefallenen Wehrmachtssoldaten – deren Namen in die verschiedensten Kriegerdenkmäler eingraviert wurden. Im Stadtarchiv haben wir eine Liste „Kriegssterbefälle“, in der 501 Namen verzeichnet sind – die meisten davon gefallen.5 Warum das so war, diese Diskrepanz in der Opfer-Darstellung, war der damaligen Erinnerungspolitik geschuldet – ein eigenes geschichtliches und bücherfüllendes Kapitel. Richten wir unser Augenmerk auf die Bombenopfer in Baden, vor allem auf den 1. und 2. April 1945, so sprechen manche Quellen von 34 getöteten Menschen und 10 Schwerverletzten. 68 Häuser wurden beschädigt.6 Andere sprechen von 72 getöteten Badenern, wenig später waren es schon 86 Badener, die in den Osterfeiertagen durch alliierte Flugangriffe ihr Leben lassen mussten, und 71 wurden schwer verletzt.7 Die Zahl der Toten stieg mit der Zeit genauso, wie die Zahl der beschädigten und zerstörten Objekte. Aus den anfänglich 68 beschädigten/zerstörten Objekten wurden 184, und wenige Monate später waren es bereits 248.8 Andere Quellen sprechen von 271 durch Fliegerangriffe und sowjetische Soldaten getöteten Personen. Davon wären 44 auf das Konto betrunkener, plündernder und vergewaltigender Rotarmisten gegangen. 58 Personen sollen Selbstmord verübt haben.9 Da Baden obendrein von der sowjetischen Besatzungsmacht als Hauptquartier auserkoren wurde, kam es überdies in der Folgezeit zu zahlreichen Festnahmen, Einkerkerungen, Misshandlungen und Deportationen ins Sowjetische Reich. An die 90 Menschen wurden in Baden von einem Militärgericht zum Tode verurteilt, in die Sowjetunion verschleppt und dort hingerichtet.10 Einer von ihnen war Wilhelm v. Habsburg, der nach einem gewonnenen Ersten Weltkrieg als König der Ukraine gehandelt worden war – sein Bruder, 5 6
Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II; Liste der Kriegssterbefälle. Vgl. 10 Jahre Freiw. Feuerwehr der Stadt Baden 1938–1947, S. 35. Aufliegend im StA B, Per/1938/47. 7 Vgl. WOLKERSTORFER, Baden 1944–1945, S. 65 und vgl. MASCHER-PICHLER, Besatzungszeit, S. 26f (10.04.2023). 8 Vgl. MAURER, Befreiung, S. 3. 9 Vgl. BRETTNER, Die letzten Kämpfe, S. 64. 10 Vgl. RAUCHENSTEINER, Unter Beobachtung, S. 292.
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Karl Albrecht v. Habsburg-Altenburg, hingegen als König von Polen. Wilhelm v. Habsburg selbst weilte mehrmals in Baden, hauptsächlich als Kurgast. Nur sein letzter Aufenthalt war der eines Gefangenen. Er war zudem der Onkel von Rainer v. Kloss – jenem jungen Mann, der am Anschlusstag in Baden auf die SA gefeuert hatte.11 Die verschiedenen Zahlen an Toten und zerstörten Objekten wirken für sich alleine ziemlich statistisch, genauso wie die zumeist in Tonnen angegebene Bombenlast, die auf Baden und andere Städte niederfiel, oder die Informationen, wie viele alliierte Flugzeuge dabei jedes Mal im Einsatz waren. Dahinter, das wird wohl niemanden verwundern, verbargen sich regelrechte Abgründe und wahrliche Tragödien, wie die Bergung halbverkohlter Leichen oder das Auffinden von einem blutdurchtränkten Wickelpolster, in dem nur noch eine breiige formlose Masse erkennbar war.12 Mit dem Verstummen der Detonationen verschwand das Grauen nicht. U.a. liegen bis dato noch die Leichen der Eheleute Alfred und Josefine Krombas unter den Trümmern des gänzlich zerstörten Hauses in Baden, Lambrechtsgasse Nr. 7. Der ehemal. Kaufmann Karl Unden aus Baden, Vöslauerstraße. Nr. 26 hat Anfang April 1945 ebenfalls sein Leben vorzeitig eingebüßt und ist auch tagelang als Leiche unter den Trümmern seines zerstörten Wohnhauses gelegen.13 In Dutzenden Archivkartons ruhen etliche Einzelschicksale von Menschen, die das Glück gehabt hatten, den Krieg und die NS-Herrschaft zu überleben, aber dem Horror noch lange nicht entkommen waren. Der gebürtige Wiener und Badener Hutmacher Karl Puxbaum war 1941, wie er aussagte, aus geschäftlichen Gründen der NSADP beigetreten. Er verkehrte weiterhin mit Antifaschisten, hörte Feindsender, äußerte sich vor Zeugen abfällig über das NS-Regime und machte „Mischehepaaren“, die in seinem Haus in Wien (Kandlgasse 5) wohnten, niemals Schwierigkeiten – so die Aussagen zweier Betroffener: Margarethe Oswald und Robert Lissau. Nach 1945 sah er dann ein, dass mein Eintritt in die Partei ein Fehler war, dass ich damit eine Verantwortung auf mich genommen habe, die ich durch restlose Einstellung auf die neue Österreichische demokratische Republik gutzumachen bereit bin, und den einzigen Wunsch habe, an dem Wiederaufbau Österreichs mitwirken zu dürfen. Pragmatismus, Reflexion und ein Schuldeingeständnis – seinem Ansuchen um Streichung aus den NS-Registrierungslisten wurde stattgegeben. Ob er sich darüber richtig freuen konnte, wage ich zu bezweifeln. Ich musste im Feber 1945 zum Volkssturm in die Slowakei einrücken und fand bei meiner Rückkehr meine Frau und den 6jährigen Sohn sowie die Schwägerin tot auf. Die näheren Umstände der Todesursachen konnten nicht festgestellt werden. Auch die Wohnung war vollständig ausgeplündert.14
11 Vgl. SNYDER Timothy, Der König der Ukraine. Die geheimen Leben des Wilhelm von Habsburg (Wien 2009), S. 113, 116, 257, 295. 12 Vgl. StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. I Allgemein; Mappe 1941–1945. 13 StA B, GB 053/Kriegsalltag III; Fasz. I; Fliegerangriffe April 1945. 14 Seinem Antrag wurde stattgegeben. Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Puxbaum Karl (geb. 1897).
Kapitel 32 Buchende
* Die Zeitenwende 1945 war eindeutig und an Klarheit nicht zu überbieten. Ein Blick in ein stinknormales Mitteilungsblatt vom 15. April 1945 genügte. Alle Gewalt ist in meiner Person konzentriert als dem Repräsentanten des Oberkommandos der Roten Armee. Die Anordnungen des Oberkommandanten der Roten Armee sind für die Bevölkerung bindend und haben Gesetzeskraft.15 Gezeichnet war es von Major Matuchow. Seinen Worten folgten weitere Anweisungen des Kurzzeitnachkriegsbürgermeisters Josef Kollmann. Inhalt und Wortwahl versprachen Zucht, Ordnung und Gerechtigkeit. Und diese war auch bitter nötig. Sie und ihre Untergebenen kennen die Vorgenannten und ich glaube, dass nicht eine Stimme sich erheben wird, sie zu verteidigen. Deswegen hoffe ich, dass die internationalen Richter nicht werden beitreten müssen, weil Sie vorher Gerechtigkeit schaffen werden.16 Das war der Wunsch von Jean Trimel und Michael Paix, zwei französischen Fremd- und Zwangsarbeitern, die uns in Kapitel 29 begegnet sind – wo sich Jean Trimel wunderte, dass ihre Beschützerin im Stadttheater, Stephanie Hirschmann, Parteimitglied war. Mit den „Vorgenannten“ meinten Jean Trimel und Michael Paix, jene Menschen, die Spitznamen wie „Henker“ oder „Folterknecht“ von Baden trugen und weitere Personen, wie Schmid, Löw oder Brandstetter. Wie die Umsetzung dieser verlangten Gerechtigkeit aussehen sollte, geht aus dem Schreiben nicht eindeutig hervor. War es ein: „Mir wern kan Richter brauchen“? Sollte man kurzen Prozess machen? Oder sollte man sich doch eher eines Rechtsstaates würdig erweisen? Sagen wir mal so, die sowjetische Kommandantur präferierte ersteres, den „kurzen Prozess“, die hiesigen Kräfte letzteres, den rechtsstaatlichen Prozess. Um das überhaupt in Gang zu setzen, mussten die jeweiligen Behörden von Null anfangen – und das auf mehreren Ebenen. Ganz zu Anfang stellte sich einmal die Frage: Wer sollte damit beginnen? Wer sollte gegen all die Nationalsozialisten und ihre Verbrechen ermitteln? Es finden sich hier einige uns bereits bekannte Namen. Ernst Röschl, nachdem er es geschafft hatte, aus der Gestapohaft zu entkommen (siehe Kapitel 2 Quellen), hatte gemeinsam mit Josef Kollmann, Dr. Maximilian Straßner und Dr. Ernst Bausek am Dienstag, den 3. April 1945 eine provisorische Stadtregierung der ersten Nachkriegstage auf die Beine gestellt. Von Kollmann persönlich soll er zu einem Polizeichef ernannt worden sein.17 Ein nicht unkluger Schachzug, denn Ernst Röschl war schließlich als „Halbjude“ Opfer des NS-Regimes gewesen und obendrein sozialistisch/ kommunistisch eingestellt. Dadurch hatte er sicher einen besseren Draht zu den Besatzungsmächten als die g’standenen christlichsozialen Politiker rund um Kollmann. So konnte er gleich in den ersten Tagen verhindern, dass um die Peststäule bis zum Café Central ein Stacheldrahtverhau angelegt wurde, in dem die Russen, wie sie sagten, ein „KZ“ für die Nazis 15 StA B, GB 053/Kriegsalltag I; Fasz. II Allgemein; 1945. 16 StA B, GB 052/Personalakten: Löw Hans – Anschlag in der Toreinfahrt des Rathauses. 17 Vgl. StA B, Neues Biographisches Archiv, Ernst Röschl.
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und sonstige Missliebige einrichten wollten. Zu Röschls Aufgabenbereich gehörte es nicht nur, Hilfspolizisten anzuwerben, 300 Mann sollen es in Kürze gewesen sein, sondern er musste den neuen roten Herren „bei was auch immer“ zur Hand gehen. Dazu gehörte auch, ihnen bei etwaigen feuchtfröhlichen Zusammenkünften Gesellschaft zu leisten, um im Anschluss, nach einem dieser Gelage, in einer Badener Villa Leichen erhängter Nationalsozialisten herunterzuschneiden und sie danach zu bestatten. Der erste hing im Parterre über dem Eiskasten an einem Stiegengeländer. Im Stock oben gingen ihnen die Augen über. Da gab es ein Zimmer voll Klopapier, ein Zimmer voll Marmelade usw. – die hatten sich für das ganze 1000-jährige Reich eingedeckt. Und an jedem Fensterkreuz hing eine Leiche, insgesamt 6–7 Personen, wenn nicht mehr. Es waren Bilder, die er nie wieder vergessen konnte. Ein Fall blieb ihm besonders in Erinnerung. Es passierte in der Goethegasse. Frau Meissner, die Mutter vom Meissner-Hansi, war schon evakuiert, kehrte aber noch einmal in ihre Wohnung in der Goethegasse zurück, um irgendwas zu bergen, wurde von den Russen erwischt, serienweise missbraucht und schließlich erschlagen (Schädel eingeschlagen).18 Ihre beiden Söhne, Hans und Heimo, befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in alliierter Kriegsgefangenschaft und ihr Ehemann, Hans sen., war auf der Flucht und bereits in „Kontakt“ mit seiner zukünftigen zweiten Ehefrau. Lange scheint Ernst Röschl den Posten eines Polizeichefs nicht ausgeübt zu haben, jedenfalls scheint er bald in den Quellen als solcher nicht auf. Kein Wunder, da seine Ernennung viel eher einer Hauruck-Aktion geglichen haben wird als einem ordnungsgemäßen Reigen an Wahl, Bestellung und Bestätigung. Aber dafür war ein anderer uns gut bekannter Mann zur Stelle – Alois Klinger. Beide Männer teilten eine interessante Gemeinsamkeit. Bevor Röschl Polizeichef wurde, hatte er sich in Gestapo-Haft befunden – bei Klinger war es die sowjetische Haft gewesen. Nach der Befreiung am 3. April 1945, wurde er 26 Stunden durch die Besatzungsmächte festgehalten. Am Nachmittag des folgenden Tages wurde er in Freiheit entlassen, um dann zu erleben, wie die letzten preußischen Bomber unser Heim in Baden, Elisabethstraße Nr. 35 in Brand geschossen hatten wo durch unsere ganze Habe, welche wir durch ca. 40 Jahre erspart hatten, vernichtet war. Wir alten Leute standen nun als Bettler da und besaßen nichts als das, was wir am Leibe trugen. Hilfe ist aber von keiner Seite zu erwarten, weil wir zu einer Unmasse von ganz Ausgebombten gehören. Mit 1. Juli 1945 wurde ich wieder reaktiviert und versehe den schweren Dienst eines Amtsleiters von der Kriminalabteilung in Baden, wodurch ich 40 Jahre im Exekutivdienst stehe, 3 Jahre beim Militär aktiv diente und durch 7 Jahre (1938–1945) enthoben war, also durch 50 Jahre dem Staate, der Gemeinde und meinen Mitmenschen dienstbar war.19 Obwohl er der Kriminalabteilung vorstand, scheint er federführend an der Entnazifizierung Badens beteiligt gewesen zu sein – die eigentlich in den Aufgabenbereich der Politischen Polizeiabteilung fiel. Sei’s drum. Ihm haben wir einen umfangreichen Quellenfundus zu verdanken – und das, obwohl die Ausgangslage verheerend war. 18 StA B, Oral History 1945–1955, Ernst Röschl – Interview mit Rudolf Maurer (09.09.1998). 19 StA B, Neues Biographisches Archiv, Alois Klinger s.d.
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Das Landratsgebäude am Conrad v. Hötzendorf-Platz hatte einen Bombentreffer erhalten. Damit waren etliche Akten auf Nimmerwiedersehen verbrannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach klafft deswegen auch eine Lücke zwischen 1942 und 1945 in den BH-Akten im NÖ-Landesarchiv. Des Weiteren hatten die NS-Machthaber schon zuvor begonnen, Akten zu vernichten. In der Strasserngasse ging die Kreisleitung in Flammen auf, allerdings nicht durch alliierte Bomben, sondern durch deutsche Brandlegung. Das Fehlen von Quellen erschwerte die Suche nach der Wahrheit und erleichterte die Lüge und Vertuschung. Bei der überstürzten Evakuierung anfangs Mai habe ich diese Karte [Bestätigung, dass er nur Parteianwärter war] mit den anderen Dokumenten in einem Geheimfach liegen lassen, sie ist verschwunden. Die Papiere liegen wüst durcheinander, sind teilweise verbrannt.20 Ein durchaus mögliches Szenario, das Heinrich Ehrenreiter, Außendienstmitarbeiter für die vereinigten Deutschen Metallwerke A.G., hier beschreibt. Ob das der Wahrheit entsprach, ist natürlich eine andere Frage. Das Chaos der Befreiungstage ermöglichte zudem die skurrilsten Begebenheiten. Bei Haftentlassung sind Sie somit ein aus der Haft tretender Häftling, dessen Aufenthalt im Lande Niederösterreich und insbesondere in der Kurstadt Baden, aus Gründen der Sicherheit der Person und des Eigentums, unzulässig ist.21 Hier geht es nicht um irgendeinen Nationalsozialisten. Solch Schreiben erhielt Alfred Blaszyk im März 1935 von der Bezirkshauptmannschaft Baden. Er war von kleinkrimineller Natur, der Exekutive und Justiz kein Unbekannter, ein Störenfried und obendrein ein Kommunist, den die mondäne Biedermeier Kurstadt so schnell als möglich loswerden wollte – vor allem, weil sie nicht zuständig für ihn war. Aufgrund des damaligen Heimatrechts war es möglich, missliebige Personen in ihre jeweiligen Heimatgemeinden abzuschieben – quasi innerstaatliche Abschiebungen. Im Falle von Alfred Blaszyk war die Gemeinde Schwanberg im Bezirk Deutschlandsberg (Steiermark) zuständig. Doch so leicht wollte sich das Unterfangen dann doch nicht gestalten. Alfred Blaszyk legte Berufung, Beschwerden und Bitten ein. So versprach er unter anderem, Baden zu verlassen, jedoch nicht Niederösterreich, und gab an, in Breitensee bei Gänserndorf bei einem Verwandten unterzukommen. Einziger Haken, der Verwandte beteuerte, mit Alfred Blaszyk in keiner Weise verwandt zu sein und die Gemeinde Breitensee schrieb klipp und klar, dass der Herr Blaszyk unerwünscht sei. Als die Abschiebung aus Baden unmittelbar bevorstand, konnte sie jedoch nicht durchgeführt werden, weil Blaszyk wegen dringenden Verdachts, dass er mit Komplizen Fischdiebstahl verübt, unter h-ä.Zl.3460 am 16.6.1935 dem Bezirksgericht in Baden eingeliefert wurde, woselbst er sich unter 4 Z 308/35 noch in Haft befindet.22 Und als er dann doch noch erfolgreich abgeschoben werden konnte, reichte er mehrere Gesuche ein, um wieder nach Baden kommen zu dürfen. Mit seinen Briefen, Anträge und sonstigen Schreiben hielt er den Amtsschimmel ordentlich auf Trab – auch wenn 20 Vgl. StA B, GB 052/Personalakten: Ehrenreiter Heinrich (geb. 1890) – Aussage (17.12.1945). 21 StA B, GB 231/Polizeiakten 1933–1938 II; Fasz. I: Blaszyk Alfred (geb. 1898) – BH-Bescheid an Blaszyk (26.03.1935). 22 Ebd. – Aktenvermerk (02.07.1935).
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alles vergebens sein sollte und er bei Nichtbefolgung wegen verbotener Rückkehr belangt werden würde. Erst mit dem Anschluss erfolgte die Rehabilitation. In Kapfenberg, bei der Firma Böhlau als Schlosser tätig, suchte er um die Versetzung in die Böhlau-Werke in Sollenau an. Er führte an, dass seine Schwiegereltern weiterhin in Baden wohnten und das Grab seiner Mutter sich ebenso in Baden befände – das er seit Jahren nicht gesehen habe. Die NS-Behörden hatten nichts dagegen einzuwenden, schließlich hatten sie die Heimatrechts-Gesetzgebung abgeschafft, darüber hinaus haben die Erhebungen ergeben, dass Bedenken irgendwelcher Art gegen Ihre Anwesenheit nicht mehr vorliegen.23 Dieser für Alfred Blaszyk überaus erfreuliche Bescheid wurde allerdings nicht ihm zugestellt, sondern einem Dr. Dr. Alfred Blazizek aus Bruck a.d. Mur. Der Mann nahm es mit Humor, weil mein Name sehr häufig verschrieben wird. Ich bin mit dem gegenständlichen Alfred Blaszyk in keiner Weise identisch und war auch nie in Baden.24 Zwischendurch wurde aus Alfred Blaszyk auch ein Alfons Blaszyk. Nachdem das Original das Stadtgebiet Badens wieder betreten durfte, verschwindet er weitgehend aus den Quellen, um jedoch, wie Phönix aus der Asche, 1945 wieder aufzuscheinen. Ende 1945 wurde zum einen bestätigt, dass er nun bei der Stadtpolizei Baden seinen Dienst versah und zum anderen teilte die Gendarmerie Baden der Bezirkshauptmannschaft in Mürzzuschlag mit, dass Alfred Blaszyk am 31.V.1945, den ehemaligen Revierleutnant von der Schupo und S.S. Unterstrmfhr. Josef Heitzer festgenommen [hatte], welcher dadurch bis zum 27.9.1945, beim Bez. Ger. in Baden in Haft war.25 Fassen wir zusammen, so wurde jener Mann, von dem es in den 30er Jahren noch hieß, er stelle eine Gefährdung für Leib, Leben und Eigentum in Baden dar, nach 1945 in eben jener Stadt als Exekutivbeamter eingesetzt und er schaffte es obendrein, einen der führenden Lokal-Nationalsozialisten zu verhaften. Der Fall mag auf den ersten Blick äußerst kurios erscheinen, allerdings nicht, wenn wir die zeitlichen Hintergründe mit einberechnen. Er zeigt die Wirklichkeit der damaligen Exekutive auf – bei einem Teil der neuen Sicherheitskräfte handelte es sich schlichtweg um „Kriminelle“.26 Stichwort: Personalmangel. Man musste nehmen, was da war. Das, was 1938 die SA-Leute waren, waren 1945 nun die Kommunisten oder zumindest Personen, die den Besatzungsmächten nicht zuwider waren. Dies war so augenscheinlich, dass sogleich der Witz auf den Zug aufsprang: Was ist der Unterschied zwischen der Polizei vor dem Kriegsende und der Polizei nach dem Kriegsende? Vorher war die Polizei aus Eisen, jetzt ist sie aus Stein. Wortspiel: Gefängnis Stein :-) * 23 24 25 26
Ebd. – BH-Bescheid an Blaszyk (25.08.1938). Ebd. – Blazizek an BH-Baden (07.09.1938). Ebd. – BH-Mürzzuschlag an Gendarmeriepostenkommando Baden (22.03.1948). Vgl. MAURER, Befreiung, S. 52.
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Chaos und Mangel, tagelanges Verbrennen von Aktenmaterial, die alten NS-Machthaber hatten „ordentliche“ Arbeit geleistet, aber mit einem hatten sie wohl nicht gerechnet: dem Eifer einiger weniger. Trotz Flammeninferno und Ascheregen, wodurch uns im Interregnum nicht ein Akt gegen die Angehörigen der NSDAP und ihrer Gliederungen zur Verfügung stand, so wurde aus dem förml. Nichts, eine zwar nicht vollständige Kartei wiederhergestellt, nach welcher weit über 300 Anzeigen gegen die Illegalen, Pg. und jene Personen, welche sich nach dem V.G. und K.V.G etc. schuldig gemacht haben, an die St.A. und Gerichte etc. erstattet wurden.27 Noch dazu kam, dass aufgrund des Mangels nicht einmal ein Bogen weißes Papier vorhanden war und wir den Wiederaufbau im Polizeiamte auf braunem Packpaier beginnen mussten.28 Es waren wahrliche Herkulesaufgaben, die da von Klinger und Konsorten gemeistert wurden, und die Arbeit zahlte sich aus. Die Sprachlosigkeit, die die NS-Machthaber so vielen Menschen aufgezwungen hatte, konnte durchbrochen werden. Theodor Cappe ist einer jener Helden, welche trotz ihrer gut besoldeten Staatsanstellung, durch ihre „Illegalität“ die Selbstständigkeit Österreichs untergraben und die in Österreich verbotene NSDAP gefördert und unterstützt und somit zur gewaltsamen Ansichreissung des freien und selbstständigen Staates Österreich an Deutschland im März 1938 beigetragen haben. Zuerst haben diese eidbrüchigen Illegalen die Stadt Baden und ihre fleißigen und strebsamen Bewohner in’s Unglück hineingeritten und brachten dann ihre Person etc. nach dem Westen in Sicherheit, während wir hier büßen und darben müssen.29 Es war ein verbaler Befreiungsschlag. Endlich konnte man die Wahrheit niederschreiben und mit den NS-Protagonisten der Stadt abrechnen. Deren Namen waren bekannt. Endlich konnte man das eigene Leid ausformulieren. Fallweise war das angeführte Darben immens, und für die Buße hatte es obendrein keine Absolution gegeben. Doch, das wussten jene nur allzu gut, die sich eines Rechtsstaates würdig erweisen wollten, der Emotion mussten Zügel angelegt werden. Das bedeutete, sich einer Aufgabe zu stellen, die immens herausfordernd und die letzten Ressourcen zu rauben imstande war. Denn Leute wie Klinger, denen tatsächlich daran gelegen war, für Gerechtigkeit zu sorgen, über die brach ein Sturm der menschlichen Schwächen herein, wie Lug und Trug, wie auch die bewusste Sabotage aus den eigenen Reihen, um der Gerechtigkeit eben nicht zum Erfolg zu verhelfen. Jenen, die sich trotzdem der Aufarbeitung widmeten, wurden mehr als nur Steine in den Weg gelegt. Es begann ein altbekanntes Spiel. Die Badener mussten wieder einmal einer Überprüfung unterzogen werden und über ihre vergangenen Taten Rechenschaft ablegen. Neue Beurteilungsbögen warteten nur darauf, ausgefüllt zu werden. Erinnerungen, die 1938 in Vergessenheit geraten waren, kamen jetzt 1945 zurück. Man besann sich auf seine sozialisti27 StA B, GB 052/Personalakten: Zeller Karl (geb. 1876) – Alois Klinger an die Staatsanwaltschaft (22.06.1948). 28 StA B, GB 052/Personalakten: Wiskocil Karl – Klinger (10.10.1947). 29 StA B, GB 052/Personalakten: Cappe Theodor (geb. 1885) – Stadtgemeinde Baden an das Gendarmeriekommando Strasswalchen (09.11.1946).
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schen oder christlichsozialen Überzeugungen und trieb Zeugen auf, die dafür bürgten. Die Aussagen nach 1945 passten in manchen Fällen allerdings so gar nicht mit jenen Angaben überein, die schwarz auf weiß aus zahlreichen, zwischen 1938 und 1945 produzierten Akten herauszulesen waren. Es grassierte ferner eine pandemische Vergesslichkeit und Tatsachenverdrehung durch die Lande der neuen Republik Österreich – die Kurstadt blieb nicht außen vor. Die Beifügung „provisorischer…“ oder „in Vertretung…“ einer Funktion innerhalb der NSDAP wurde nun klar und deutlich vor den Besatzungsmächten kommuniziert, während vor 1945 solche Zusätze eher als lästig erschienen und nicht der Rede wert. So mancher Parteibeitritt wurde offensichtlich hinterrücks rückdatiert oder gar vollzogen – die Empörung darüber war nun groß. Auch konnte eine vor 1945 getätigte Aussage, wonach man Beamter DER Gestapo war, sich nach 1945 so wandeln, dass man Beamter BEI der Gestapo war – damit war schon eine sprachliche Distanzierung geschaffen worden. Alois Brusatti war entgeistert über den neuen Zeitgeist, den die Vernichtung des NS-Regimes nach oben gespült hatte. Nach der Kapitulation Deutschlands zog ich mich zurück und war nur verwundert, wie viele ehemals stramme Anhänger des Nationalsozialismus ihr Herz für die Demokratie, oder was sie darunter verstanden, entdeckten.30 Bei der Suche nach Wahrheit und Aufklärung wurden wahre Aktenberge produziert. Es war ein Schriftverkehr zwischen Gemeindebehörden, Landesbehörden, Bundesbehörden, Besatzungsbehörden und ausländischen Behörden. Recherchen in Bezug auf einzelne Personen, die über etliche nationale wie internationale Behörden abgewickelt werden mussten, nicht zu vergessen das stete allgemeine Nachkriegschaos, führten verständlicherweise zu manch ernüchterndem Resümee. So war Klinger nicht nur einmal dazu genötigt, solch eine Phrase zu Papier zu bringen: Infolge dieser Beschuldigungen mussten im In- und Auslande sehr umfangreiche Erhebungen durchgeführt werden, welche aber alle mehr oder weniger zu keinem positiven Tatbestand geführt haben. Der ganze Akt, welcher schon ein Konvolut gebildet hat, wurde am 26.2.1947 rekommandiert an die Staatsanwaltschaft nach Wien zurück gesendet.31 Und obwohl das NS-Regime als totalitäre Diktatur inklusive Angriffskrieg und Völkermord es uns leicht macht, es als das Böse anzusehen (sofern man keine charakterlichen sowie intellektuellen Defizite aufweist) – Opfer- und Täterrollen sind eindeutig verteilt –, wird diese Tatsache beim Abstieg in Richtung Gemeindeebene bzw. Individualebene spürbar verwässert. Das Schwarze und das Weiße vermischten sich oftmals. Und hauptsächlich in diesem Grau fischten dann Menschen wie Klinger & Co.
30 StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 47. 31 StA B, GB 052/Personalakten: Ranftler Paul – Klinger an Bezirksgericht Baden (22.05.1947).
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…und eine an Sisyphos Als Angestellter in einer Leitungsfunktion bei der donauländisch-landwirtschaftlichen Hauptgenossenschaft Raiffeisen suchte Rudolf Cociancig 1938 um Aufnahme in die NSDAP an, wurde aber erst im Jahre 1943 nach vielen Schwierigkeiten, insofern man mir einen regen Verkehr mit Juden vorwarf, in die Partei aufgenommen. Während der ganzen Mitgliedsdauer habe ich mich in keiner Weise betätigt und habe die schwersten Vorwürfe geduldig ertragen, aber trotzdem jede Annahme einer Funktion abgelehnt.32 Die ermittelnden Behörden nach 1945 hatten allerdings neben seinen eigenen Angaben eine Beurteilung aus dem Jahre 1941 vorliegen, wo Ortsgruppenleiter Fritz v. Reinöhl festgehalten hatte: Genannter ist Parteigenosse, sympathisierte schon während der Systemzeit mit der NSDAP und verkehrte auch zu dieser Zeit vorwiegend in nationalsozialistischen Kreisen. Sein heutiges Verhalten ist als einwandfrei zu bezeichnen und auch in moralischer Hinsicht ist nichts Nachteiliges bekannt.33 Was stimmte nun? Rudolf Cociancig charakterisierte sich als alter österreichischer Offizier, geboren in Pola, monarchistisch sozialisiert, ein Frontsoldat, der als Oberleutnant abgerüstet hatte. Er nannte mehrere Zeugen für seine Anti-NS-Haltung, die von jenen auch bestätigt wurde. Doch entsprach es der Wahrheit? Wenn nicht, haben alle für ihn gelogen? Und was war nun mit seiner Beurteilung von 1941? Vielleicht war ihm Reinöhl damals bloß wohlgesonnen und er kehrte Cociancigs Judenkontakte dezent unter den Teppich. Aber all das sind reine Spekulationen meinerseits und zugleich Parameter, mit denen Alois Klinger und andere Ermittler ihr Rechercheauskommen finden mussten. Und das war nur die Spitze des Eisberges. Nehmen wir den Fall des Schuhmachermeisters Franz Berlakovits, ein Mensch, der 1926 der NSDAP beigetreten war und bis zum Parteiverbot 1933 Mitglied blieb. Danach soll er sich, laut eigener Aussage, von der Partei distanziert bzw. sie gar offen kritisiert haben. Als jedoch 1938 der Anschluss erfolgte, bekam er es mit der Angst zu tun, weil er fürchtete, für sein zuvor kritisches sowie unkooperatives Verhalten in Teufels Küche zu geraten. Eilends trat er der NSDAP erneut bei. Demnach erfolgte der zweite Beitritt aus purer Angst und nicht aus politischer Überzeugung wie 1926. Dass er zum Obermeister in der Fachorganisation des Schuhmacherhandwerks aufgestiegen war, hätte auch nichts mit der Parteimitgliedschaft zu tun gehabt, sondern wäre nur seiner fachlichen Qualifikation geschuldet gewesen. In der Hoffnung, damit irgendwie ungeschoren durch die NS-Zeit zu kommen, musste er aber bald feststellen, dass bei Amtsstellen und Behörden nur dann etwas zu erreichen war, wenn man in großer Uniform erscheinen konnte oder sonst wie als einflussreich in der Partei galt. Da bot es sich an, um das Goldene Parteiabzeichen anzusuchen, schließlich war er schon 1926 der NSDAP beigetreten. Zu seinem Glück schien die Partei seine während der illegalen Zeit 32 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Cociancig Rudolf (geb. 1893) – Schreiben an Kollmann und das Innenministerium (29.06.1945). 33 StA B, GB 052/Personalakten: Cociancig Rudolf (geb. 1893) – Politische Beurteilung (20.06.1941).
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geübte Kritik vergessen zu haben und so erhielt er auch diese heiß begehrte Auszeichnung. Dermaßen gerüstet, konnte er sich nun noch mehr als zuvor für die Schusterinnung und deren Mitglieder einsetzen. Das österr. Schuhmacherhandwerk erhielt auf mein Betreiben 50 % des gesamten Materials, das in ganz Deutschland zur Herstellung von Maßschuhen zur Verfügung stand. Allerdings zog er sich dadurch den Zorn einiger Parteimitglieder zu. Nach der Verleihung des Ehrenzeichens wurde von der Partei in Baden, über Betreiben von Neidern, gegen mich Schritte unternommen, die zur Aberkennung des Ehrenzeichens und zum Verlust meiner Ämter in der Fachorganisation führen sollten. Letztendlich rettete ihn erneut seine Qualifikation aus der sich zuziehenden Schlinge und dass er sich bis dahin nichts zuschulden hatte kommen lassen, und das trotz schwerster Vorwürfe, wie ihn der Vorsitzende der Handwerkskammer wissen ließ. Sein Fazit: Da ich mich niemals einer ungesetzlichen Handlung schuldig machte, in der Verbotszeit der Partei nicht angehörte, niemanden durch irgendeine Handlung wissentlich geschädigt habe, weder für mich noch meine Familie irgendwelche Vorteile zu erreichen suchte, sondern jedem, der in Not zu mir kam, zu helfen wusste und meine Ehrenämter im Handwerk nur zum Wohle des Handwerks und meines Berufsstandes ausübte, bitte ich um Nachsicht von der Registrierung.34 Haben wir es hier mit billiger Relativierung zu tun? Franz Berlakovits untermauerte seine Version bezüglich seiner Anti-NS-Haltung mit der Aussage, dass er mehreren Wiener Juden oder Menschen, die als solche klassifiziert wurden, geholfen hatte, indem er sie selbst oder ihre Wertgegenstände bei sich zu Hause versteckt oder sonstwie zu ihren Gunsten interveniert hätte. Für all das fand er Zeugen. So erklärte unter anderem Karl Lakowitsch aus Wien, der aus rassischen Gründen aus der Schuhmacher-Innung entfernt werden sollte: Wir hatten im Betrieb der Schuhmacher Lago Wien außer mir auch noch andere Angestellte, die offenkundige Gegner des Nationalsozialismus waren und wurden diese von Herrn Berlakovits deswegen nie beanstandet.35 Und Emil Bernhart bestätigte, dass er von Herrn Berlakovits auf der Flucht vor der Gestapo eine Woche lang in dessen Wohnung in Baden beherbergt und verköstigt worden ist. In der folgenden Zeit hat sich H. Berlakovits auch an den Lebensmittelsendungen beteiligt, welche mir in die K.L. aus Wien gesendet worden sind.36 Während sich die Behörden 1946 von Franz Berlakovits‘ Ausführungen und denen seiner Fürsprecher noch unbeeindruckt zeigten, wurde 1949 seinem Entregistrierungsansuchen stattgegeben. Nicht leicht zu entwirren waren auch jene Fälle, wo Menschen als Parteimitglieder aufschienen, ohne es jedoch zu sein – zumindest behaupteten sie es. Als Alois Rosenits nach 1945 eine Vorladung erhielt, weshalb er sich aufgrund seiner SS-Mitgliedschaft nicht hatte registrieren lassen, war er vermutlich leicht konsterniert, denn er war weder der NSDAP noch der SS jemals beigetreten. Wieso er als Parteimitglied auftauchte, war für ihn schleierhaft. Seine Vermutung war, dass seine damalige Chefin – er war Schlosser 34 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Berlakovits Franz (geb. 1900) – Berlakovits an das Bürgermeisteramt (15.01.1946). 35 Ebd. – Karl Lakowitsch Aussage (27.09.1945). 36 Ebd – Emil Bernhart Aussage (02.10.1945).
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und Kraftfahrer in der genossenschaftlichen Sodawasserfabrik in Baden –, um mich von der Wehrmacht freizubekommen, bei irgendwelchen Dienststellen, vielleicht beim Wehrbezirkskommando, angab, dass ich Angehöriger der SS sei und sie dadurch meine Freistellung erreichte.37 Wiederum ein durchaus realistisches Szenario, das aber, so wie die „Arisierungen unter Freunden“, dysfunktionales Kriegsgerät oder Spontanurlaub, während zeitgleich Massaker an Juden oder Kriegsgefangenen verübt wurden (siehe Kapitel zuvor), nach 1945 ins Treffen geführt wurde. Bei Alois Rosentis sollte es jedoch zutreffen, denn Arbeitskollegen, Bekannte und Freunde, aber auch SS-Mitglieder, Zellenleiter Anton Bitterer sowie der für ihn zuständige Blockleiter Franz Blumauer sagten aus, dass der Betroffene dem NS-System niemals angehört hatte. Franz Blumauer als Blockleiter, der für das Eintreiben der Mitgliedsbeiträge zuständig gewesen war, war diesbezüglich kein einziges Mal bei Rosenits vorstellig gewesen, auch von einer SS-Mitgliedschaft wüsste er nichts und er hätte es wissen müssen. Ich weiß nur, dass Rosenits im Jahre 1941/42 als Kommunist bezichtigt, jedoch von meinerseits, bzw. von Seiten des Zellenleiters dagegen nichts unternommen wurde. Rosenits war in seinen Äußerungen sehr zurückhaltend und kann daher nicht angeben, dass er ein ausgesprochener Gegner der nsBewegung war, aber auch mit dieser nicht sympathisierte. Seine Frau Anna Rosenits dagegen war eine ausgesprochene Gegnerin der NSDAP und war in Äußerungen sehr offen.38 Hinsichtlich des Vorwurfs, dass Alois Rosenits gar Kommunist gewesen wäre, erinnerte sich Zellenleiter Anton Bitterer: […] obwohl ich als Zellenleiter die Pflicht gehabt hätte, der Angelegenheit nach zu gehen, [konnte ich] daraus ersehen, dass es sich um einen sogenannten Weibertratsch handelte, schenkte ich der Sache keine besondere Bedeutung, weshalb alles im Sande verlief. Ich konnte damals in ihm keinen Kommunisten, aber auch keinen SS-Angehörigen erkennen.39 Tratsch, Ahnungen und Vermutungen – damit operierten die Ermittler, egal ob nun nach 1938 oder nach 1945. Während es bei Alois Rosentis darum ging, ob er überhaupt Parteimitglied gewesen war, war dies bei Johann Bayer sonnenklar – Mitglied seit 1932 bei der SA und der NSDAP. Bei ihm ging es vielmehr darum, was er alles so in der braunen Uniform angestellt hatte. Und bei ihm haben wir ein vorzügliches Beispiel, mit welch täglich Brot sich die ermittelnden Behörden ebenso herumzuschlagen hatten – widersprechenden Zeugenaussagen. Einerseits heißt es durch eine Nachbarin: Mir ist nicht bekannt, dass Herr Bayer irgendjemanden wegen etwaiger Gegensätzlichkeit zur NSDAP Schaden zugefügt hat. So hat er z.B. genau gewusst, dass ich ungarischen Juden, die im Jahre 1944 in der Marchetstraße arbeiteten, durch Lebensmittelzuwendungen unterstützt habe. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, mich deshalb anzuzeigen, er hat das jedoch nicht getan. Dabei kannte er mich als erbitterte Gegnerin des Nationalsozialismus.40 37 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Rosenits Alois (geb. 1898) – Aussage (22.08.1949). 38 Ebd. – Franz Blumauer (1908–1979) Aussage (08.09.1949). 39 Ebd. – Anton Bitterer (1889–1983) Aussage (10.09.1949). 40 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Bayer Johann/Hans (geb. 1899) – Hildegard
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Andererseits: Mir ist von Personen, die im Hause des Beschuldigten in Baden, Marchetstr. 70–72, wohnten bzw. wohnen, mitgeteilt worden, dass Bayer sich, wenn er sich gelegentlich von Urlauben zuhause befand, damit gebrüstet habe, dass er in Polen als Arbeitseinsatzleiter Juden und Judenkinder misshandelt und „umgelegt“ habe.41 Dieser vom Hörensagen dargestellte Sachverhalt erhielt Bestätigung durch eine Freundin der Tochter Johann Bayers. Sie [Tochter von Bayer] hat mir auch eine schöne große Puppe gezeigt und mir erklärt, der Vater habe sie aus Polen mitgebracht – und zwar habe er sie einem Judenkind abgenommen, nachdem er dasselbe vorher erschlagen hatte. Das war im Jahre 1944. In dieser Zeit waren Puppen überhaupt nicht oder nur sehr schwer zu bekommen.42 Doch um wieder die Nachbarin zu zitieren: Ich könnte mir vorstellen, dass das Kind [Tochter von Bayer] die Äußerung aus einem gewissen Geltungsbedürfnis heraus gemacht hat, da es oft lügt und die phantastischsten Dinge erzählt.43 Wiederum, jede einzelne Aussage klingt plausibel und kann der Wahrheit entsprochen haben. Und außerdem, nichts spricht dagegen, in Baden ein Auge zuzudrücken und in Polen Menschen zu ermorden. Zu der Aussage-gegen-Aussage-Problematik, Gerüchten und fehlendem Beweismaterial gesellte sich ein weiterer Aspekt hinzu, der die Ermittlungsarbeit massiv beeinflussen konnte – die Jugend und die Jugendsünde. Dr. Ernst Zweymüller, geboren 1917, trat im Februar 1932, mit 15 Jahren, dem NS-Schülerbund bei, der damals aus sechs Personen bestand. Die „Vereinsarbeit“ tröpfelte vor sich hin, im August selben Jahres schien das ganze Unterfangen einzuschlafen und wurde aufgelöst. Erst nach dem Anschluss kam wieder Leben ins Spiel, und Ernst Zweymüller trat der NSDAP und SA bei. Aber nur, wie er behauptete, um seinem Onkel Dr. Anton von Mörl zu Pfalzen und Sichelburg beizustehen, der als Sicherheitsdirektor von Tirol nach dem Anschluss ins KZ Dachau deportiert wurde und nach seiner Entlassung mittellos dastand. Obwohl die Familie Zweymüller laut Aussage von Martha Hebenstreit sich in Baden betont eines nationalsozialistischen Rufe erfreute, führte die familiäre Verbindung zum Tiroler Sicherheitsdirektor – dieser habe schließlich eng mit dem Schuschnigg-Regime zusammengearbeitet und war durch die Verschwörer vom 20. Juli 1944 als politischer Beauftragter für den Wehrkreis XVIII (Salzburg) auserkoren gewesen – zu einem gewissen innerparteilichen Dämpfer bezüglich Treue und Verlässlichkeit. Um hier gegenzusteuern, wandte sich Ernst Zweymüller an Josefine Brandstetter, Ehefrau von Ratsherrn Josef Brandstetter, und erbat einen Gefallen von ihr, mir auf meinem Antragsformular zu bestätigen, dass ich während der illegalen Zeit Beiträge geleistet hätte, obwohl dies in Wirklichkeit nie der Fall war. Derselbe Gefallen erfolgte im Falle des Goldenen Ehrenzeichens der HJ. Mir wurde vielmehr das goldene Ehrenzeichen der HJ lediglich aufgrund meiner wissenschaftlich falschen Angaben, sowie deren fälschliche Bestätigung durch Frau Kappert (1911–1986) Aussage (31.01.1946). 41 Ebd. – Kurt P. (geb. 1920) Aussage (23.01.1946). 42 Ebd. – Olga J. (geb. 1930) Aussage (24.01.1946). 43 Ebd. – Hildegard Kappert Aussage (31.01.1946).
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Brandstätter verliehen.44 Seine Rechtfertigung fand ein breites Bestätigungsfeld. Josefine Brandstetter bestätigte ihre ihm gegenüber getätigten wohlwollenden Trixereien. Seinem ehemaligen Gymnasialprofessor, Dr. Franz Thiel, der nach dem Anschluss entfernt wurde, war in den 30er Jahren nicht der geringste Anhaltspunkt einer Illegalität aufgefallen. Die Mutter eines Schulfreundes, die Ernst Zweymüller von Kindheit an kannte, sagte aus, dass dieser nie eine nat soz. Denkungsweise gezeigt, geschweige denn nat. soz. Gedankengut verbreitet hat.45 Auch Aglaya Gabriele Kubesch, Mitglied der SPÖ, bestritt vehement, dass Ernst Zweymüller ein Illegaler gewesen wäre, vielmehr soll ihr durch Gespräche mit ihm klar geworden sein, dass er mit der Zeit zu einem Gegner des NS-Systems geworden wäre. Mehr oder weniger durch seine militärische Dienstleistung war er – wollte er seine gesamte Familie nicht in ein Unglück stürzen – an ein gewisses Schweigen und Stillhalten gebunden.46 Und auch der ehemalige CSP-Gemeinderat, Josef Prechtl, legte für Ernst Zweymüller ein gutes Wort ein. Seine Illegalität konnte nicht nachgewiesen werden, zumal auch die NSDAP seine Illegalität bestritt und ihm bloß eine Sympathie für die NS-Bewegung zugestand. Und da Ernst Zweymüller im Juni 1940 eingezogen wurde, lag jegliche Parteiarbeit ohnehin auf Eis. War er nun Nationalsozialist? Ich verweise hier auf das Kapitel 12, wo wir uns der Jugend angenommen und deren Euphorie für Führer, Volk und Vaterland beleuchtet haben. Ihre Hingabe bezahlten viele mit ihrem Leben. Doch wir müssen nicht gleich vom höchsten Preis ausgehen. Für eine Besatzungszeit-Bredouille reichte es vollkommen aus, wenn man dann vor den Behörden oder gar den Besatzungsmächten Rede und Antwort stehen musste, für Dinge, die dem jugendlichen Sturm und Drang geschuldet waren. Aber auch hier gilt: Ich war jung und brauchte das Geld – dieses Motto kam ebenso en masse in der Welt nach 1945 zum Vorschein. * Positive Leumundszeugnisse, wie wir sie nun schon mehrmals gesehen haben, sind in Bezug auf ihren Wahrheitsgehalt eine heikle Sache. Sie einfach so vom Tisch zu wischen, war für die damaligen Ermittler nicht so einfach. Zumal wenn sie von gewichtigen Personen verfasst wurden, die nach 1945 das Sagen oder zu 100 Prozent nichts mit dem NS-Regime zu tun gehabt hatten, weil sie selbst dessen Opfer gewesen waren. Ob deren Fürbitten der Wahrheit entsprachen, ist wiederum eine andere Frage. Leichter hatten es die Behörden bei Fürsprachen von engeren Familienmitgliedern. Deren Zusicherungen – dass Mama, Papa, Tante, Bruder oder Sohnemann sich nicht unanständig benommen hätten – konnten getrost besonders kritisch gesehen werden. Eine ins Auge stechende Inbrunst hierbei legten manche Witwen an den Tag, um das Bild des verstorbenen Gatten, aber auch ihr eigenes, ins rechte Licht zu rücken. Zu ihnen gehörte 44 StA B, GB 052/Personalakten: Zweymüller Ernst (1917–2014) – Aussage (20.08.1947). 45 Ebd. – Helene Schell (geb. 1890) Aussage (20.03.1947). 46 Ebd. – Aglaya Gabriele Kubesch (geb. 1881) Aussage (08.04.1947).
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Theodora Hanak. Verzweifelt wandte sie sich an die Bezirkshauptmannschaft Baden mit der Bitte, nicht mehr als Illegale betrachtet zu werden und sie bat, ihr mitzuteilen, ob jemand illegal sein kann, wenn er selbst nicht in der Partei tätig war […] und die Einzahlungen seitens des 1943 verstorbenen Mannes möglicherweise, ohne Wissen der Frau, stattfanden. Sie schrieb ferner, dass sie erst 1938 bei der NSDAP Mitglied geworden sei. Deswegen stehe ich vor einem Rätsel und möchte vielmehr um Aberkennung der Illegalität bitten, da doch meine Witwenrente, mein Haus in Baden […] meine Möbel u. vor allem österreichische Staatsbürgerschaft davon abhängt. Des Weiteren sei sie von äußerst kränklicher Natur – ebenso wie dies ihr verstorbener Mann, Andreas Hanak gewesen sei. Er war immer kränklich u. im Fürsorgewesen im SS Oberabschnitt „Donau“ Wien, in seiner Freizeit tätig. Doch dies alles gehörte der Vergangenheit an: Wir wollen alle gerne u. freudig am Wiederaufbau unseres Landes mithelfen, die Kinder in diesem Sinne erziehen, wenn wir nur eine kleine Lebensmöglichkeit bekommen. Ich bitte Sie vielmals mein Gesuch milde u. menschlich zu behandeln.47 Mit der Antwort ließ sich die Behörde mehrere Wochen Zeit – doch dafür hatte sie es dann in sich. Mit Ihrem oben zitierten Schreiben versuchen Sie, illegale Parteizugehörigkeit in Abrede zu stellen und sowohl sich als auch Ihren inzwischen verstorbenen Mann als harmlose Mitläufer hinzustellen. Demgegenüber stellen wir fest, dass sich in unseren Händen genügend Dokumente befinden, welche beweisen, dass Sie laut Mitgliedskarte eine Mitglieds-Nr. 780.375 mit einem Eintrittstag vom 12.12.1931 besaßen. Des Weiteren sind wir im Besitz eines Schreibens der Kreisleitung Baden, aus welchem hervorgeht, dass Sie ein ukrainisches Dienstmädchen namens Valerie der Gestapo übergeben haben. Und dass ihr Mann kränklicher Natur gewesen sei, hätte gut möglich sein können, doch das schien ihn nicht daran gehindert zu haben, am Juliputsch 1934 teilzunehmen, zum SS-Oberscharführer aufzusteigen und aufgrund einer Bescheinigung des SS-Reichsführers Heinrich Himmler den Ehrenwinkel des Alten Kämpfers tragen zu dürfen. Es steht somit einwandfrei fest, dass sowohl Sie wie auch ihr verstorbener Mann zu den im § 17 des VG genannten Personen gehören und ist es gerade zu herausfordernd, wenn eine derart schwer politisch Belastete den Versuch unternimmt, sich politisch reinzuwaschen.48 Vergleichbaren Enthusiasmus beim politischen „Hemdwechsel“ für ihren verstorbenen Ehemann, den Polizisten Karl Pfeiffer, bekundete dessen Witwe Antonia Pfeiffer. Eigentlich hätte es in seinem Fall nicht viel zu diskutieren gegeben. Ein Schreiben der Stadtpolizei Baden, bestimmt für das Bürgermeisteramt in Bad Vöslau, das in Erfahrung bringen wollte, nach welchem Paragraphen des Verbotsgesetzes Karl Pfeiffer angeklagt worden wäre (§ 4 oder doch § 17), wurde, nachdem man seine Illegalität bestätigte hatte, recht eindeutig beendet: Über das sonstige Tun und Lassen des nunmehr Verstorbenen bitte uns nicht mehr weiter befragen zu wollen, weil die Kritik hierüber eine sehr abfällige wäre, indem sich dessen
47 StA B, GB 052/Personalakten: Hanak Andreas (1896–1943) – Theodora Hanak (1909–1981) Brief (24.10.1945). 48 Vgl. ebd. – Bezirkshauptmannschaft Baden (04.01.1946).
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Kameraden, Bekannte, Verwandte etc. veranlasst sahen, sich von ihm abzuwenden.49 Doch davon ließ sich Antonia Pfeiffer nicht entmutigen. Sie wandte sich an einen ehemaligen Kollegen ihres Mannes, Josef Schlager, und bat diesen, er möge doch ein paar gute Worte für ihren verstorbenen Gatten einlegen – zumal sie seit seinem Ableben ohne Bezüge dastand. Ein Sterbegeld oder eine Pension sei schließlich nicht zu viel verlangt, und sie versicherte, niemals etwas mit der NSDAP am Hut gehabt zu haben. Bei ihrem Mann sah die Sachlage anders aus. Doch Antonia Pfeiffer sollte sämtliche Register ziehen, um dessen Verstrickung so gering wie nur möglich aussehen zu lassen und ihn zu einem Opfer von Zeit, Zufällen und den unglücklichsten Umständen zu erklären. Für meinen armen Mann wird es ja sehr schwer sein, da er sich selbst nicht mehr rechtfertigen kann und das Denunziantentum momentan vorherrschend ist. Der Vorwurf, er sei ein Illegaler gewesen, das entspräche ihrer Recherche nach nicht der Wahrheit, schließlich habe sie eine Aufschreibung meines Mannes vorgefunden, wo er den Eintritt in die Partei und die Mitgliedsnummer vermerkt hat. Es war der 1. Mai 1938, also keine Spur von Illegalität. Und bezüglich einer Fotografie, die seine Illegalität beweisen sollte, dazu möchte ich bemerken, dass dies erst nach dem März 1938 geschehen ist und zu dieser Zeit schon die Partei erlaubt war. Definitives Mitglied sei er erst im Februar 1940 geworden. Im selben Jahr sei die Versetzung nach Bad Vöslau erfolgt, und von da an war er von der Partei geheilt, da er doch auch durch seinen Dienst Verschiedenes sah was ihm sehr missfiel. Antonia Pfeiffer versicherte ferner, ihr verstorbener Ehemann sei nie ausgezeichnet worden, hätte sich unentwegt über radikale Kollegen bei ihr beklagt und hätte grundsätzlich nur Befehle befolgt. Sie beteuerte, ihrem Gatten sei es als Polizist immer nur darum gegangen, dem jeweiligen Staat zu dienen. Er hatte es bereits unter den roten, schwarzen und braunen getan und ich bin davon überzeugt, wenn er heute noch Dienst machen müsste, dass er der jetzigen Regierung genauso dienen würde. Sie war aber nicht nur um seine Ehre und sein Ansehen bemüht, sein Seelenheil lag ihr besonders am Herzen, denn keiner konnte ihm das letzte Geleit geben, so arm musste er sterben. Er ist doch seinerzeit durch Beeinflussung aus der Kirche ausgetreten und es war immer sein Wunsch, wieder der Kirche beizutreten, doch war dies praktisch nicht gut möglich und als jetzt die Kapitulation war, war auch sein erster Weg in die Kirche, und er wurde wieder aufgenommen […]. Ob Antonia Pfeiffer ihrem verstorbenen Gatten mit dieser Charakterisierung als willfähriges Fähnchen im Wind einen guten Dienst erwiesen hat, sei dahingestellt – ich bezweifle es jedenfalls stark. Auch ist zu bezweifeln, ob Josef Schlager der passende Adressat war, schließlich hatte er zu jenen Badener Polizisten gehört, die nach dem Anschluss bestraft oder aus dem Dienst entfernt worden waren – während Karl Pfeiffer, mit drei anderen Polizisten, nachzulesen in der Badener Zeitung, für ihre Illegalität ausgezeichnet und befördert worden waren. Aber eine weiße Weste für ihren Ehemann war nicht ihr einziges Anliegen. Da ein Unglück selten allein kommt, bekam ich die Nachricht, dass meine Wohnung vollständig ausgeplündert wurde. Ich glaube aber nicht dass alles die Russen davongetragen und kaputt gemacht haben. Wir haben 49 StA B, GB 052/Personalakten: Pfeiffer Karl (1895–1945) – Stadtpolizei Baden Politische Abteilung an Bürgermeisteramt Bad Vöslau s.d.
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da eine liebe Nachbarin eine ganz verkommene Person […]. Sie hat auch einen 12 jährigen Buben, der geborene Verbrecher, gestohlen was nicht angenagelt war, mit seiner Mutter war er es gemeinsam und beide sind sie so verlogen und hinterhältig, dass es einen grausen konnte.50 Darum sollte sich Josef Schlager auch noch kümmern. Sie selbst weilte derweilen in Bad Ischl. Und damit er etwas Greifbares in den Händen habe, sandte sie ihm gleich einmal eine drei A5-seitige Auflistung (beidseitig beschriftet) der ihr gestohlenen Güter. Für mich persönlich stellt ihr Brief eine fast schon „entzückende“ Charakter- bzw. Menschenstudie dar. Und einen Aspekt möchte ich hier noch hervorheben: In ihrem Brief denunzierte Antonia Pfeiffer ihre Nachbarn und zugleich verurteilte sie die Denunziation im Falle ihres Mannes als solche. Und ja, sie hatte recht, die Denunziation florierte weiterhin. Nur war es nicht mehr defätistisches Dahergerede, das einen in behördliche Bedrängnis brachte, sondern Aussagen wie: Alles haben sie geplündert und überall haben sie geplündert. Das kommunistische Gesindel macht’s überall so, die gehören an die Wand gestellt.51 Verweilen wir noch ganz kurz beim Thema Familie und wie Familienmitglieder füreinander in die Bresche sprangen, um dabei einen Vorgeschmack zu bieten auf einen nicht zu unterschätzenden kommenden Konflikt. Im Falle von Emil Krois, der Ferdinand Albasser im September 1944 denunziert hatte (siehe Kapitel 30 Das Uhrwerk und die Zahnräder), versuchte sein Sohn im Namen des Vaters, dessen Tat zu erklären und zu deuten.52 Mein Vater hat den eigenartigen Ehrgeiz bei seiner ursprünglich gefassten Meinung zu verharren, auch wenn er später eingesehen hätte, dass er Unrecht gehabt hat. Nach meiner Meinung dürfte er auch in der gegenständlichen Anzeige Reue gefühlt haben, hat aber nie Einzelheiten mit irgendjemanden besprochen. Er ist als ausgesprochen verschlossener Mensch zu bezeichnen.53 Das weitgehende Nichtsprechen der Kriegsgeneration und die daraus folgende Reaktion der Kinder – ein wiederum spannendes Thema, aber auch wieder eine andere Geschichte… * Wir lasen von mehreren verworrenen Fällen, wo es für die Ermittler wahrlich nicht leicht war, voranzukommen. Zum Glück gab es auch Sachverhalte, die dermaßen klar waren, dass sie eigentlich außer Diskussion standen – allerdings wieder nur auf den ersten Blick. Es geht im Folgenden nicht um irgendwelche Mitläufer, sondern um schwer belastete Personen und ihre völlige Skrupellosigkeit, Tatsachen sogar um 540 Grad zu verdrehen. Die Chuzpe, mit der die jeweiligen Protagonisten an die Sache herangingen, rief bei mir fast schon eine Art „Bewunderung“ hervor. 50 Ebd. – Antonia Pfeiffer (geb. 1898) an Josef Schlager (16.09.1945). 51 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Novak Hermine (geb. 1898) – Anna Oberbacher (geb. 1887) Aussage (25.04.1945). 52 Emil Krois (1892–1979). 53 StA B, GB 054/Entnazifizierung-Ermittlungsakten: Albasser Ferdinand – Erich Krois (geb. 1924) Aussage (17.05.1945).
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Gibt es denn überhaupt ein Recht?! Ich war doch kein Parteigenosse der N.S.D.A.P. noch bei irgendeiner Organisation! Habe mich nie um Politik gekümmert, ich habe mein schwer erarbeitetes Eigentum, meine Aussteuer doch nicht unredlich erworben! Ja warum nimmt man mir es einfach weg? Hier beklagte Marie Nachtnebel bitterlich ihr Nachkriegszeit-Leid. Verleumdung, Unrecht, Krankheit und der Verlust ihres Eigentums, so sah ihre Befreiung aus. Sie bat um Gerechtigkeit und Wiedergutmachung und wandte sich ausgerechnet an Alois Klinger, dem sie Rosen streute und sie war guten Mutes, dass meine Bitte an Sie, mir dazu behilflich zu sein, zu meinem wenigen zu kommen nicht umsonst war.54 Auch wenn es jetzt nur meine Annahme ist, aber ich könnte mir gut vorstellen, dass Alois Klinger beim Lesen dieser Zeilen ein wenig irritiert gewesen sein könnte. Schließlich war Marie Nachtnebel Ehefrau von Theodor Nachtnebel, einem Mitglied des Exekutivkomitees, und beide hatten sich wie im Kapitel zuvor geschildert in der Eichwaldgasse 16 bei Stanislava Klisowska eingenistet, ohne Miete zu zahlen – jene hätte ferner wegen den beiden fast ihren Besitz verloren. Des Weiteren war Marie Nachtnebel Schwiegertochter von Rosa Nachtnebel, die nicht minder amtsbekannt war (siehe Kapitel 25 Gesindel). Außerdem, wegen Menschen wie Marie und Theodor Nachtnebel hatte Alois Klinger sieben Jahre lang um seine Existenz und sein Leben fürchten müssen. Und als deren Regime zugrunde gegangen war, war zugleich sein Haus in Flammen aufgegangen. Man kann nur vermuten, weshalb sich Marie Nachtnebel ausgerechnet an ihn gewandt hatte. War es totales Unwissen (Blödheit) oder eine Kaltschnäuzigkeit, die ihresgleichen suchte? Klinger nahm es auf jeden Fall persönlich und konfrontierte Marie Nachnebel mit all den Verbrechen, für die sie und ihr Ehemann die Verantwortung trugen. Und für diese erwiesenen Bosheiten verlangen Sie heute nach ca. 2 Jahren, dass ich Ihnen helfen solle und verursachen mir ganz unnötige Vielschreibereien. […] Da Ihr Anliegen eine reine Privatsache ist und die Krim. Polizei hiezu auf keinen Fall kompetent erscheint, so wollen Sie sich an Ihre Schwiegermutter Rosalia Nachtnebel geb. Felbermayer, welche sich ja bei allen Ämtern gut auskennt, oder an ihre Verwandten wenden und uns mit derlei Anträgen verschonen, weil wir infolge der jetzt hier vorherrschenden Verhältnisse, hiezu keine Beamten und keine Zeit übrig haben. Mit dem Verlassen von Baden haben sie Ihre Sachen schutzlos in dem großen Kriegswirbel zurückgelassen, und es ist heute ein Unding, nach 2 Jahren Ihre Habseligkeiten sicherstellen zu können.55 Zu wissen, was mit ihrem Besitz in Baden passiert war, verlangten übrigens so einige Personen, von denen man eher annehmen hätte können, dass sie eher unter der Wahrnehmungsgrenze agieren würden. Da das Nationalsozialistengesetz demnächst Gültigkeit erlangen dürfte, kann mit der Durchführung eines Verfahrens gegen mich gerechnet werden. Diese weise Voraussicht, die dann auch Wirklichkeit wurde, kam aus dem Mund von Kreisleiter Camillo Gärdtner, nachdem er am 8. Mai 1945 in Kriegsgefangenschaft geraten war. Da ebenso eine Vermögensabgabe im Raume stand und sein in Baden zurückgelassenes Hab und Gut derweilen den Besitzer gewechselt hatte, bat Gärdtner um eine Liste, aus der er54 StA B, GB 052/Personalakten: Nachtnebel Marie (1909) – Schreiben an Klinger (03.02.1947). 55 Ebd. – Klinger an Nachtnebel (12.02.1947).
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sichtlich ist, welche Einrichtungsgegenstände, Kleidung, Hausrat, Bücher, Kunstwerke usw. an welche Personen übergeben wurden und auf Grund welcher gesetzlich-rechtlichen Vorschriften dies geschah.56 Der Mann war offenbar juristisch durchaus bewandert, und weshalb sollte er sein Eigentum nicht zurückverlangen, wenn die Konfiszierung nicht rechtens abgelaufen war. Schließlich lebte er nun in einem Rechtstaat. Von ähnlich verbrecherischem Kaliber wie Kreisleiter Camillo Gärdtner war Badens Polizeivizechef Josef Heitzer, der jedoch nicht nach seinen geraubten Habseligkeiten Ausschau hielt, sondern nach einer Streichung von den NS-Registrierungslisten bzw. danach, zumindest vom Status eines Belasteten auf einen Minderbelasteten „down-gegradet“ zu werden. Sein Argument, um bei seinem Streichungsansuchen 1950 an sein Ziel zu kommen, konnte, gelinde gesagt, blödsinniger nicht sein. Um wenigstens seine SS-Mitgliedschaft aus der Realität zu tilgen, verschmolz er jene mit seinem Beruf des Polizisten und hob damit die Polizei-SS aus der Taufe. Und dann, ein Blick in die Kriterien, wer sich aller zu registrieren hatte, und voilà – nirgends stand geschrieben, dass Mitglieder der Polizei-SS registrierungspflichtig seien. Das Gericht wies seine Eingabe zurück. Zu der Behauptung des Josef Heitzer, dass die Polizei-SS nicht registrierungspflichtig sei, wird bemerkt, dass es nach dem für die Registrierungsbehörden maßgeblichen Gutachten der Beschwerdekommission vom 9.10.1948, GZ. N 130/48, eine Polizei-SS sui generis nicht bestand.57 Das wäre in etwa so, als hätte ich gesagt: Ja, ich war bei der SS, aber von Beruf bin ich Behindertenbetreuer, demnach bin ich SS-Behindertenbetreuer gewesen und damit eigentlich nicht registrierungspflichtig, weil nirgendwo steht, SS-Behindertenbetreuer seien meldepflichtig. Ja, auf dem Niveau bewegen wir uns hier. Noch war Josef Heitzer 1935 freiwillig der SS beigetreten, und das hatte er auch bei seiner erstmaligen Registrierung 1945 selbst so angegeben. Und dass er von 1938 bis 1945 der NSDAP angehört hatte, hatte er wohl, fünf Jahre nach Kriegsende, ebenso vergessen. Vermutlich hatte er sich auch deswegen, sowohl bei der Schändung der Synagoge in der Grabengasse als auch bei der in der Wassergasse, beide Male ablichten lassen – um eben nicht zu vergessen. Originelle Details und Geradebiegungen brachte auch Viola Wagner vor. Bereits 1923 der NSDAP-Vorgängerpartei beigetreten, 1926 in das Original übernommen, versehen mit der Mitgliedsnummer 52.314 und dem Goldenen Parteiabzeichen prämiert, suchte sie dennoch um die Herabstufung zur Minderbelasteten an, mit den Argumenten, immer nur einen kleinen Mitgliedsbeitrag entrichtet zu haben und das goldene Parteiabzeichen nicht wegen ihrer Betätigung, sondern lediglich auf Grund ihrer langjährigen Mitgliedschaft zur NSDAP erhalten zu haben.58 Dass sie sich von 1923 bis 1945, also 22 Jahre lang, kein 56 StA B, GB 052/Personalakten: Gärdtner Camillo, Mappe III – Gärdtner an städt. Wohnungamt (05.01.1947). 57 Sein Antrag wurde abgelehnt. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Heitzer Josef – Gerichtsbescheid (17.11.1950) . 58 Vgl. StA B, GB 054/Registrierungslisten: Viola Wagner (geb. 1890) – Entscheidung (19.05.1950).
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einziges Mal für die NSDAP betätigt hätte, bezeichnete das Gericht schlichtweg als unglaubwürdig. Ehrlicher agierte da August Hiden, ein gescheiterter 34er-Juliputschist, der danach ins Altreich geflüchtet war. Auf die Frage, weshalb er bei seiner Registrierung seine Illegalität außen vor gelassen hatte, antwortete er: Ich habe das deshalb gemacht, weil ich mich schämte, meine Illegalität zuzugeben, umso mehr als bei der Registrierungsstelle eine größere Anzahl von Menschen herumstand.59 Quellenmäßig bildet er eine rare Ausnahme. Dass ein so verdienter NS-Kämpfer das Wort Scham in den Mund nahm, wirkt beinahe schon verstörend. Normalerweise sprachen jene von Ehre, Stolz und Treue oder sie litten an Gedächtnisstörungen. Aber zu der wohl meisterlichsten Virtuosität in Sachen relativierender Detailverliebtheit und überbordender Amnesie brachte es in Baden das ehemalige Stadtoberhaupt: Franz Schmid. Die Meinungen über Badens NS-Bürgermeister gingen nach 1945 „leicht“ auseinander. Der Ruf „Heim ins Reich“ soll nun daher an den Eheleuten Franz und Marie Schmid und den übrigen Mitschuldigen voll und ganz zur Ausführung gelangen, weil derlei Elemente die ganze Schuld an dem Weltunglück trifft und sie ja auch nicht am Wiederaufbau unseres Vaterlandes mitarbeiten.60 Schmids Stellung und seine Taten standen außer Frage. Seine Handlungsmotive, Handlungsweisen und seine grundlegenden politischen Überzeugungen wurden wiederum differenzierter gesehen. Ernst Röschl, der als „Halbjude“ stets Gefahr gelaufen war, deportiert zu werden, sah in Schmid nach 1945 dennoch eine – innerhalb des NSRegimes – um Entschärfung bemühte Person (siehe Kapitel 27 Malus – ICD-10). Damit sprach er Schmid wahrscheinlich aus dessen Seele. Im August 1950 verfasste dieser ein Gnadengesuch, adressiert an die Sicherheitsdirektion Niederösterreichs und verwies darauf, dass die Ermittlungen gegen ihn sehr ungünstige und auch unrichtige Angaben enthalten, und ich bitte ergebenst, eine neuerliche Überprüfung vorzunehmen und dann einen positiven Bericht an das oben genannte Landesamt zu richten. Das große Ganze bestritt er nicht. Schließlich hatte er seine legalen und illegalen Taten der 20er und 30er Jahre nach dem Anschluss in der Badener Zeitung veröffentlicht. Ihm ging es viel mehr um Details, wie seine ihm zur Last gelegte Kreisleiterfunktion. Ich war bloß unter der österreichischen NSDAP zur Zeit Dr. Riehls Kreisobmann in Baden. Also nicht Kreisleiter, sondern nur Kreisobmann. Hinzu kam, dass er zwar zum Ehrenrichter der Deutschen Arbeiterfront DAF ernannt wurde, aber ab 1943 nicht ein einziges Mal in Aktion trat, und als der Bürgermeister von Traiskirchen, Mikulovsky, zur Wehrmacht einrückte, wurde ich vom Kreisleiter gezwungen, die Stelle als provisorischer Kreisamtsleiter für Kommunalpolitik zu übernehmen. […] Ob ich Gauredner war oder nicht, weiß ich überhaupt nicht, zumal ich infolge meiner beruflichen Tätigkeit als Gemeindeverwalter (Bürgermeister) gar nicht als Redner auftrat. Die Beförderung zum SASturmbannführer erfolgte auch nur, damit ich bei Anlässen in Uniform auftrete, da ich kein 59 StA B, GB 052/Personalakten: Hiden August (1910–1982) – Aussage (30.01.1946). 60 StA B, GB 052/Personalakten: Schmid Franz; Mappe III Ermittlungen nach 1945 – Amtsbericht Klinger (10.06.1946).
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politischer Hoheitsträger war. Er sei ab 1938 lediglich ehrenamtlicher Bürgermeister, also eine ausschließlich verwaltungsmäßige Tätigkeit [gewesen].61 Seinen Behauptungen liegen ausreichend Dokumente und Eigenaussagen gegenüber – aus den Jahren seiner ausschließlich verwaltungsmäßigen Tätigkeit –, die all seine Rechtfertigungen eindeutig widerlegen und Lügen strafen. Es sind Zeugnisse, wo er höchstpersönlich auflistet, was er nicht alles war und welch Ehrung ihm nicht wiederfuhr: Kreisleiter, NS-Hilfswerkleiter in der illegalen Zeit, Geschäftsführer, Gauamtsleiter, Gauredner, Besitzer des bronzenen, silbernen und goldenen NSDAP-Ehrenzeichen usw.62 War es eine Phantasiewelt, in die sich Schmid nach 1945 flüchtete, oder eiskaltes Kalkül? Dachten Menschen wie er tatsächlich, dass ihnen bei solch plumpen Relativierungen und dreisten Lügen – die für mich vollkommen kindisch anmuten – Glauben geschenkt würde? Aber in Scheinwelten lebte nicht nur er. Franz Schmid […] war zwar seit dem Jahre 1919 Mitglied der N.S.D.A.P., doch hat er sich nie unmenschliche oder unanständige Handlungen zuschulden kommen lassen. Er ließ sich lediglich von seinem Idealismus leiten und zeigte sich auch nach der Machtübernahme niemals gehässig. Von der Stadtgemeinde Baden wird daher dessen Ansuchen um § 27 – Begnadigung auf das Allerwärmste befürwortet.63 So sah die Sache für den frisch gewählten ÖVP-Bürgermeister Julius Hahn im Juni 1950 aus. War es Relativierung? Politisches Kalkül? Die tatsächliche Wahrnehmung und Empfindung Julius Hahns? War es eine parteiideologisch übergreifende Männerfreundschaft? War es eine Revanche für Schmids Einsatz 1938 für Hahn und dessen Sohn? Erst im Mai 1950 hatte Julius Hahn das Bürgermeisteramt übernommen. Seine Empfehlung, Schmid zu begnadigen, gehörte offensichtlich zu seinen ersten Amtshandlungen. Zuvor hatte sich Julius Hahn, im Namen der ÖVP-Bezirksleitung Badens, an das Stadtpolizeiamt Baden gewandt und einen kurzen politischen Bericht über Schmid verlangt – alles streng vertraulich. Sein Schreiben endete er Mit Österreichischem Gruss! – wie immer der auch ausgesehen haben mag.64 Das Polizeiamt antwortete zwei Tage später. Zwei Versionen liegen vor, und zwei Passagen aus dem ersten Schreiben hatten es offenbar in die Endfassung nicht geschafft – die beiden Passagen sind von mir in eckige Klammern gesetzt. Franz Schmid, der in der Zeit des Verbotes der NSDAP zu den eifrigsten Propagandisten dieser Partei gehörte [und sein hochverräterisches Treiben bis zur Ansichreissung Österreichs an Deutschland fortsetzte], wurde am 28.3.1946 über hä Anzeige wegen Verdachts von Verbrechen nach dem VG., KVG. und StG. […] verhaftet und dem Landesgericht für Strafsachen Wien I eingeliefert, von wo er nach längerer Haft wegen Krankheit auf freiem Fuße gesetzt wurde. Wegen der angeführten Delikte, wurde von der Staatsanwaltschaft Wien I die Anklage gegen Schmid erhoben, doch konnte die Verhandlung bis jetzt noch nicht durchgeführt werden, weil Schmid angeblich noch
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Ebd. – Gnadengesuch (07.08.1950). Ebd. – Personalfragebogen der DAF Gau Niederdonau (26.01.1943). Ebd. – Hahns Bestätigung (19.06.1950). Ebd. – Hahn an Stadtpolizeiamt (14.06.1950).
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krank ist, [obwohl ha. bekannt ist, dass der Genannte verhandlungsfähig wäre.]65 Die erste Kontaktaufnahme Schmids mit Julius Hahn – die quellenmäßig belegt ist – erfolgte aber schon im April 1946. Damals saß Schmid im Landesgericht Linz ein. Eine A5-Karte liegt vor, wo Schmid Name und Adresse des Empfängers eintrug. Unterstrichen lesen wir über Hahns Namen stehend „Rechtsanwalt“. Auf der Rückseite gab es die Rubriken „Ich wurde verhaftet durch: __“ und „aus folgenden Gründen: __“. Und hier lesen wir tatsächlich: Wahrscheinlich polit. Gründe!66 WAHRSCHEINLICH!!! Hat Schmid das geschrieben, oder wurde es von den Behörden eingetragen? Aller Wahrscheinlichkeit nach trifft Ersteres zu, da es Schmids Schrift ist. Man kann somit seinen Geisteszustand und/oder Charakter durchaus als beeinträchtigt bezeichnen. Würde Zweites zutreffen, wäre es vermutlich noch schlimmer – zumindest für Schmids Ego. Schließlich hatten es die Behörden der neu entstandenen Republik Österreichs mit einem alten NS-Haudegen zu tun. Ein Mann, der in den 20er Jahren reihenweise die NSDAP-Ortsgruppen im Viertel unter dem Wienerwald aus dem Boden gestampft, den Kreis mit aufgebaut, im niederösterreichischen Landtag den Systemparteien die Leviten gelesen und als Führer des illegalen NS-Hilfswerkes den Ständestaat über Jahre hinweg am Nasenring durch die Manege geführt hatte. Und nach dem Anschluss war er von dem Willen beflügelt gewesen, eine „verjudete“ und durch seinen Vorgänger Josef Kollmann verlotterte Kurstadt zu Großdeutschlands größtem Schwefelkurort empor zu heben. Solch ein Unwissen der Behörden bezüglicher seiner tollkühn-heroischen Taten, wäre sicherlich eine wahrliche Kränkung und Demütigung gewesen – für die Nummer 50-Tausend-Irgendwas. * Manche machten es sich in der 45er-Nachwelt sehr einfach – zu einfach. Die Schuldigen waren zumeist jene Nationalsozialisten, deren Namen man nicht kannte, wie irgendwelche SS-Männer aus Wien, die extra in die Kurstadt gekommen wären, um ausgerechnet hier zu foltern. Oder es waren Parteimitglieder, die bereits über den Jordan gegangen waren, wie Hans Zisser, Otto Strohmayer oder Alfred Gutschke, oder Eingekerkerte, deren Schuld unbestritten war, außer von den jeweiligen Protagonisten selbst, wie Josef Heitzer, Rudolf Schwabl oder Franz Schmid – Letzterer verwies wiederum nur allzu gerne auf Landrat Josef Wohlrab oder auf Gauleiter Hugo Jury. Und im Notfall gab es immer noch die Reichskanzlei inklusive Ex-Führer in Berlin. Ein Schuldbewusstsein konnte selbstverständlich nicht allen abgesprochen werden – doch jene gehörten eindeutig zu einer Minderheit. Interessant, fallweise herzig, aber auch verstörend, empfinde ich so manche menschliche Regung, wie jene von Vizebürgermeister Emil Pfeiffer, nachdem seine Welt implodiert war und er sich in Haft wiederfand. Dass gerade ich, der ich doch nur Gutes im Leben getan habe, so leiden muss, erscheint mir selbst 65 Ebd. – Stadtpolizei an die ÖVP Bezirksleitung Baden Stadtpolizeiamt (16.06.1950). 66 Ebd. – Benachrichtigung über Arrest oder Festnahme (11.04.1946).
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rätselhaft, doch ich füge mich auch darein.67 Das Rätselraten hätte womöglich ein Ende gefunden, wenn er sich sein eigenes Schreiben vom Februar 1945, gerichtet an Kreisleiter Gärdtner, zu Gemüte geführt hätte. Dort profilierte er sich als Nationalsozialist erster Stunde. Seit 1920 bei der SA, seit 1929 bei der NSDAP, Vizebürgermeister der Stadt Baden, Freiwilliger bei den Schanzarbeiten 1944 – manche Heldentat hob er sogar noch hervor, indem er sie rot unterstrich. Grund des Schreibens war übrigens, dass ihm zu Ohren gekommen war, Kreisleiter Gärdtner hätte ihn für einen Drückeberger gehalten. Aber bei solchen NS-Verdiensten, nahm Emil Pfeiffer an, dass Ihnen [Gärdtner] dieses harte mich sehr schwer beleidigende Wort für einen Gefolgsmann des Führers nur entschlüpft ist, weil Sie mich nicht näher kennen.68 Gärdtner reagierte leicht verschnupft. Die Sie belastende Bezeichnung Drückeberger ist mir weder „entschlüpft“ noch habe ich diese für Sie erfunden. Und dass er als Kreisleiter einen Irrtum begangen hätte, davon konnte ebenso keine Rede sein. Er empfahl Pfeiffer ferner, umgangssprachlich gesagt, die Füße stillzuhalten, den Fall nicht an die große Glocke zu hängen und sich in Geduld zu üben. Gegen ein Selbstreinigungsverfahren vor dem Kreisgericht, das von Ihnen selbst beantragt werden müsste, hätte ich nichts einzuwenden.69 Aber zurück zu Pfeifers Schreiben vom März 1946 – wo er auf sein stets gutes Wollen verwies. Darin wollte er nicht nur seine Sicht der Dinge darlegen, sondern auch auf gewisse Umstände hinweisen (so ganz nebenbei in Klammern), die ihn sichtlich wurmten. Aus den Badener-Zeitungen die ich hier im Konzentrationslager lese (wo ich seit 2. Juni 1945 bin, während Bgm. Schmid und Löw sich der Freiheit erfreuen) erfahre ich viele Neuigkeiten aus meiner schönen Vater- und Heimatstadt Baden.70 „Warum bin ich noch eingesperrt und die anderen nicht mehr!“ Es menschelte – oder um einen Anglizismus ins Spiel zu bringe: Whataboutismus in kristalliner Reinform. Bezogen auf die Verbrechen und die Verbrecher, die Gewalttäter und überzeugten Nationalsozialisten, ihre Angaben und ihre Rechtfertigungen, die teilweise eine reine Farce darstellten, kam Klinger zum Schluss: Die zynische und verbrecherische Veranlagung der vorgenannten Beschuldigten, welche gegen die Menschlichkeit und Menschenwürde gehandelt und dabei mehrere Menschen gequält und empfindlich misshandelt bzw. durch ihr maßloses und unmenschliches Vorgehen in die Verzweiflung bis zum Selbstmord getrieben haben, bildet einen unaustilgbaren Schandfleck in der Geschichte des Kurortes Baden, welchen sie durch ihre Machtgier und die von ihnen betriebene Politik total zugrunde gerichtet haben.71 Hierbei sollte der engagierte Gesetzeshüter irren. Der unaustilgbare Schandfleck konnte ganz gut entfernt werden. Kaiser, Kur und Biedermeier standen am Programm, während andere Aspekte, wie die Vertreibung und Ermordung von Badenern, die als Juden klassifiziert wurden, in den Hintergrund traten. Pointiert sinnierte Hans Meissner selbst Jahr67 68 69 70 71
StA B, GB 052/Personalakten: Pfeifer Emil (geb. 1889) – Pfeifer an einen Amtsrat (03.03.1946). Ebd. – Pfeiffer an Gärdtner (20.02.1945). Ebd. – Gärdtner an Pfeiffer (23.02.1945). Ebd. – Pfeifer an einen Amtsrat (03.03.1946). StA B, GB 052/Personalakten: Schwabl Rudolf – Klinger an Staatsanwaltschaft (30.07.1946).
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zehnte später noch richtigerweise: Kaum jemandem werden bei der Stadtwanderung Spuren der Auslöschung bewusst. Sie sind praktisch nicht vorhanden. Man geht seit 1945 immer noch durch eine beinahe völlig arisierte Stadt.72 Letztendlich zeigten sich die neuen Machthaber oftmals kulant oder selbst vergesslich. Eine nicht selten zu Papier gebrachte Formulierung lautete wie folgt: „Trotz nachhaltiger Erhebungen konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, dass [XY], obwohl ein begeisterter Anhänger der NS-Regimes, seine Zugehörigkeit zur NSDAP missbraucht hat und ist nach seinem jetzigen Verhalten anzunehmen, dass er zur unabhängigen Republik Österreich positiv eingestellt ist.“ In dubio pro reo – um hier wieder einmal einen passenden Kalenderspruch zu bringen bzw. eine Errungenschaft des Rechtsstaates. Aber dennoch, das Vertrauen in die Annahme einer positiven Einstellung zur nun zweiten Republik war zwar gut, aber Kontrolle ist immer besser. Fünf Jahre nach Kriegsende im März 1950 verlangte die Bezirksgendarmerie eine Liste mit den Badenern VdU-Parteimitgliedern (Vorgängerpartei der FPÖ), da einen VdU Parteiveranstaltung anstand. Man wollte wissen, über was sie referieren würden, was sie bisher so referiert hätten, wer das überhaupt organisiere und wie viele Personen an solchen Veranstaltungen teilnehmen würden. All diesen VdUlern haftete etwas Verdächtiges an, sodass das Schreiben auch mit „Sehr dringend!“ und „Vertraulich!“ versehen wurde. Sollten zukünftig hin Versammlungen des VdU abgehalten werden, so wäre ein diesbezüglicher Bericht außer an die Bezirkshauptmannschaft auch an die Sicherheitsdirektion für das Land N.Ö. zu Händen des Herrn Sicherheitsdirektors vorzulegen. Der Bericht über den VdU ist unverzüglich hierher vorzulegen, auch Fehlberichte sind zu erstatten.73 Zuständig für das Ganze in Baden war ein uns nicht unbekannter Mann. Es war der ehemalige und erneut in Amt und Würden installierte Bezirkshauptmann Carl Rupprecht v. Virtsolog (siehe Kapitel 4 Circulus). Nach seiner Kaltstellung 1938 – Zwangspensionierung und eine Kürzung seines Ruhegenusses um 25 Prozent – wurde er nur wenige Monate später reaktiviert. Zuerst dem Landesamt Baden zugeteilt, wechselt er dann in die Reichsstatthalterei ins Verkehrsdezernat, wo er nebenbei für sechs Wochen den Landrat von Lilienfeld vertrat. Im Dienst der Reichsstatthalterei verblieb er bis zum Zusammenbruch der NS-Herrschaft und wurde Ende April 1945 von den sowjetischen Besatzungsmächten per Handschlag zum „Natschalnik Regioni“ ernannt – also zu einem Bezirkshauptmann. Als solcher stieg er von einem Tag auf den anderen zum obersten Chef der Bezirksverwaltung auf. Ihm waren sämtliche Gemeindefunktionäre unterstellt und er trug die alleinige Verantwortung gegenüber der sowjetischen Kommandantur.74 Ihm oblag damit auch das Aufspüren von registrierungsunwilligen Nationalsozialisten im Kreis Baden bzw. nun wieder Bezirk Baden. Eine Tätigkeit, die er mit Elan vorantrieb, zumindest wusste er seine Beamten und Bürgermeister anzutreiben 72 Hans Meissner, Vortrag s.d., ZGIERSKI Dominik (Privatarchiv). 73 Vgl. StA B, GB 054/Besatzungszeit II; Fast. II Allgemein; Veranstaltungen VdU – Versammlungstätigkeit des VdU und Vorfallenheitsberichte (14.03.1950). 74 Vgl. StA B, Neues Biographisches Archiv: Carl Rupprecht von Virtsolog.
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– nicht nur einmal verlangte er Dinge „sofort“ oder „augenblicklich“.75 Außerdem hatte er schließlich im Aufspüren von Nationalsozialisten in den Jahren zwischen 1933 und 1938 eine gewisse Erfahrung erworben. Seine Fähigkeiten, sein Wissensfundus und seine jahrzehntelange Berufserfahrung als Beamter waren in den 45er Jahren wertvoller als Gold. Er hatte Einblick in verschiedene Bereiche gewonnen, von der Politik über die Verwaltung bis hin zur Exekutive wie auch der Judikative. Des Weiteren hatte seine Beamtenkariere bereits in der Monarchie ihren Anfang genommen. Er hatte zwei Kaisern gedient, Franz Joseph I. und Karl I. Seine Dienste waren der Ersten Republik zugutegekommen, danach dem Ständestaat, gefolgt vom NS-Regime und schließlich der sowjetischen Besatzungsmacht sowie der in Entstehung begriffenen Zweiten Republik. Er tat, was er tun musste, und das bis zum 31. Dezember 1953. Danach winkte der wohlverdiente Ruhestand. Als er dann 1950 den Auftrag erhielt, den Badener VdU-Mitgliedern auf den Zahn zu fühlen, war die Entnazifizierung längst am Abflauen, die Besatzungszeit lag dem heutigen Wissensstand nach in der Halbzeit, und der Wiederaufbau schritt voran. Doch das alles ist jetzt aber wirklich eine andere Geschichte…
75 Vgl. StA B, GB 054/Entnazifizierung I; Fasz. I Richtlinien und Erlässe; Mappe I.
Was wurde aus…
Was wurde aus… Alois Klinger
So viele Ermittlungsakten und damit Quellen Kriminalrat und Polizeioberkommissär Alois Klinger für die Nachwelt auch produziert haben mag, über ihn selbst ist nach seinem Tod nicht viel geschrieben worden. Die Badener Zeitung erwähnt ihn nur im Verstorbenen-Anzeigenteil (Titel, Name, Todesdatum). Und im Badener Volksblatt lesen wir bloß, dass sein Ableben unerwartet und kurz vor seinem 80. Geburtstag erfolgt sei. Das Begräbnis fand in aller Stille am 3. Juni 1955 um halb elf Uhr am Vormittag statt. Er hinterließ eine Ehefrau und zwei Töchter.1 Ihm war leider kein längerer Nachruf vergönnt und das, obwohl, ersichtlich aus den Ermittlungsakten, Klinger noch sicher bis Mitte 1949 als Ermittler tätig war. Was nichts anderes bedeutet, als dass dieser Mann mit 74 Jahren noch immer seinen Beruf als Polizist im Dienste der Kurstadt Baden ausübte. Er starb am 31. Mai 1955.
Alois Brusatti
Es klingt für einen, der nicht in einer solchen Zeit oder unter solchen Umständen aufgewachsen ist, unvorstellbar dass man durch mehr als zwei Jahre von der Welt abgeschlossen war und eigentlich kaum etwas für seine eigene Zukunft machen konnte.2 Alois Brusatti verbrachte seine Kriegsgefangenschaft in walisischen, englischen und schottischen Lagern. Im April 1945 ging es für ihn nach Brüssel und von dort weiter in ein Straf-, Teil-, Muster- und Entlassungslager nach Deutschland. Dort verblieb er weitere Monate bis zum Spätherbst 1946. Der Warterei auf seine offizielle Entlassung überdrüssig, nutzte er das Nachkriegschaos und ein Loch im Zaun. Er ging einfach. Sein Ziel war Baden. Doch einen Zug nach Österreich, geschweige denn in seine Heimatstadt, gab es nicht. Dafür nach Frankfurt, von dort nach Würzburg, dann nach München, Berchtesgaden, Piding, Reichenhall – er drehte sich im Kreis. Erst als er in Nürnberg strandete, ergatterte er einen Fahrschein nach Bruck. Damit war Baden in greifbarerer Nähe.3 So wie er sich geographisch im Kreise drehte, passierte selbiges vorerst auf der Bewusstseinsebene. Sein Nicht-Wahrhaben-Wollen des Holocaust bröckelte. Er kam nach einiger Zeit mit gefangengenommenen SS-Einheiten zusammen, die solche Verbrechen ansprachen, aber etwas von „Befehl war halt Befehl“ daherfabulierten. Glauben schenkte er ihnen aber ohnehin nicht. Für ihn waren das hauptsächlich irgendwelche ungustiösen Angebe1 2 3
Vgl. Badener Volksblatt Nr. 24 v. 18.06.1955, S. 3. StA B, Oral History 1938–1955, Brusatti, S. 42. Vgl. ebd. S. 49.
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reien. Und mit solchen Leuten wollte er außerdem nichts zu tun haben. Und während des Krieges, nun ja: Während des Krieges hatte ich keine Verbindung mit irgendwelchen Juden und wusste auch von nichts – oder, ich wiederhole: Ich drängte mich gar nicht danach, darüber viel zu erfahren. Die Probleme des Krieges, der Bomben usw. standen eben näher als diese Fragen. Erst als die Nürnberger Prozesse durch den Lagerlautsprecher hallten, war er wie vor den Kopf gestoßen. War alles falsch,… was ich getan hatte. Wem bin ich aufgesessen? […] Heute weiß ich um alles, was da geschehen ist und es belastet natürlich mein Gewissen. Mir ist noch heute unverständlich, dass so etwas hatte passieren können. Ich muss weiter mit dieser inneren Belastung leben, auch wenn ich dies nach außen nicht zeigen mag….4 Ansonsten verlief sein Leben nach außen hin überaus sehenswert. Er promovierte 1950 als Industriekaufmann, fünf Jahre später kam er an die Hochschule für Welthandel in Wien, habilitierte sich dort und wurde 1965 Professor. Von 1975 bis 1981 war er Rektor der Wirtschaftsuniversität Wien. Es folgten 11 Bücher, 150 Aufsätze und mehrere Auszeichnungen, wie das große goldene Ehrenzeichen der Republik, das goldene Komturkreuz des Landes Niederösterreich oder der Leopold-Kunschakpreis.5 Er starb am 1. Oktober 2008.
Ernst Röschl
Sein kurzes Intermezzo als Polizeichef von Baden reichte vollkommen aus, um einen der zentralen Aspekte der Entnazifizierung hautnahe mitzuerleben. Damals wurden alle Nazis plötzlich krank, alt, blind, gelähmt, verrückt – keiner konnte zur Verantwortung gezogen werden.6 Wenn auch etwas überspitzt, so traf er doch ins Schwarze, was ihm nicht unbedingt viele Freunde in seiner Heimatstadt einbrachte. Zumal er als Autor in der Badener Zeitung, KPÖ-Mitglied und als Vertreter des KZ-Verbandes „Niederösterreichischer Landesverband österreichischer Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus“ sichtbar in Erscheinung trat. Erpicht auf den Grundsatz „Niemals vergessen“, geriet er in Konflikt mit Viktor Wallner, ÖVP-Bürgermeister von 1965 bis 1988. Dieser folgte nämlich einem anderen Wertekanon. Den Grundsatz „Niemals vergessen“ muss ich als Christ ablehnen. Er stammt aus dem Alten Testament und wurde durch das neue Gesetz der Nächstenliebe überwunden.7 Doch nach biblischer Exegese war Ernst Röschl nicht zumute. Öffentlich fragte er zum Beispiel in der Badener Rundschau 1967 nach, wie Wallner als Bürgermeister, bei einer Rede vor einem Kameradschaftsverein, so manche seiner Aussagen eigentlich konkret gemeint hätte. Dann hast Du also ausgeführt, dass es notwendig wäre, die alten Fragen, wer für wen in den Krieg gezogen ist, wer für wen ein tapferer Mann gewesen ist, wer für wen eine Auszeichnung erhalten hat, zu erledigen. Nun ist es vielleicht gerade ein Zufall, dass auf den Tag 4 5 6 7
Ebd. S. 55. Vgl. BZ Nr. 42 v. 16.10.2008, S. 2. StA B, Oral History 1945–1955, Ernst Röschl. Badener Rundschau Nr. 21 v. 26.05.1967, S. 9.
Was wurde aus…
genau 22 Jahre vergangen waren, da die alliierten Truppen in die damaligen Ostgaue des „großdeutschen“ Reiches einrückten und auf diese Art wieder ein freies, unabhängiges Österreich schufen. Damit ist aber eben die Frage, wer für wen in den Krieg gezogen ist, bereits beantwortet. Jene Österreicher, die freiwillig, dem Befehl gehorchend oder auch gezwungen in der deutschen Wehrmacht, der militärischen Macht des Okkupanten, dienten, kämpften, starben, zu Krüppel geschossen wurden, erlitten dieses Schicksal für das „großdeutsche“ Reich, die NSDAP und den Führer. Jedoch nicht für Österreich.8 Viktor Wallner antwortete zwei Ausgaben später. Dass ihn Röschl mit Sehr geehrter Herr Bürgermeister, lieber Schulfreund anschrieb, nahm er irgendwie persönlich und quittierte es mit: Die Distanzierung von dem Begriff Schulfreund zu dem des Schulkollegen wirst Du mir gestatten. Wir haben beide nur sehr kurz gemeinsam das Badener Gymnasium besucht, und ich habe, entsprechend meiner Ablehnung des Grundsatzes „Niemals vergessen“, auch manches aus dieser Zeit vergessen, das eben eher den Begriff Schulkollege als Schulfreund erlaubt.9 Ernst Röschl kritisierte Viktor Wallner aber auch wegen banaleren Dingen, wie dessen Baupolitik, was jedoch etwas kurios erscheint, dass ausgerechnet er, als Kommunist, sein Herz für die Biedermeierarchitektur der Biedermeierstadt entdeckte, während Viktor Wallner, als eingefleischter ÖVPler so einige Plattenbauten aus dem kurörtlichen Boden stampfen ließ. Der Konflikt der beiden Männer offeriert zahlreiche Facetten der Jahre und Jahrzehnte nach 1945, aber auch hier gilt, das ist eine andere Geschichte. Im Jahre 1964 übersiedelte Ernst Röschl nach Salzburg, als er das Angebot erhielt, die Verwaltung der Wohnbauvereinigung zu übernehmen.10 Darüber war er wahrscheinlich nicht ganz unfroh, denn es hatte sich ja bereits abgezeichnet, dass die alte „Schulfreundschaft“ zu Viktor Wallner nicht so richtig Fahrt aufnehmen wollte. Ernst Röschl wurde Träger mehrerer Auszeichnungen, wie des Ehrenzeichens für Verdienste um die Befreiung Österreichs, des Ordens der französischen Maquisaden (Widerstandskämpfer), der Ehrenmedaille der Tito-Partisanen, und er war Ehrenzeichenträger der SPÖ. Sein Wissen über die NS-Zeit stellte er dem Rollettmuseum und Stadtarchiv Baden zur Verfügung bzw. der Katalogblatt-Reihe „Baden 1938 bis 1945“ von Otto Wolkerstorfer. Es herrschte ein reger Briefverkehr zwischen ihm und dem Leiter des Rollettmuseums, Rudolf Maurer vor, und letztendlich vermachte er auch seinen Nachlass dem Badener Stadtarchiv. Er starb am 7. März 2013.
Hans Meissner
Die bedrückendsten Kriegserlebnisse waren Informationen über den Holocaust in Minsk und der Luftangriff auf Dresden. So wie Alois Brusatti hatte auch Hans Meissner mit seinen Dä8 Badener Rundschau Nr. 18 v. 05.05.1967, S. 7. 9 Badener Rundschau Nr. 21 v. 26.05.1967, S. 9. 10 Vgl. StA B, Neues biographisches Archiv: Röschl Ernst.
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monen zu kämpfen, ob es die Kriegserlebnisse waren oder das Schicksal seiner ermordeten Mutter oder die Tatsache, dass sein Vater für all das stand, was ihm zuwider war. Als Obergefreiter geriet er in Saalfelden in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Juli 1945 entlassen wurde. Eine Zeitlang war er noch als Dolmetscher in der Nähe von Salzburg tätig, bis er Ende 1945 nach Baden zurückkehrte und im Sommersemester1946 sein Studium (Geschichte, Anglistik, Philosophie und Russisch) wieder aufnahm. Seine Lehrtätigkeit begann in Horn an einem Gymnasium, danach kam er ein Jahr im Rahmen eines Austauschprogrammes als Deutschlehrer nach South Dakota. Von South Dakota ging es dann nach Amstetten. Seit 1956 gehörte er dem Lehrkörper des Badener Gymnasiums Biondekgasse an. Im Jahre 1970 kam die Lehrtätigkeit am Pädagogischen Institut Baden (heute Pädagogische Hochschule) hinzu. Er heiratete 1959 und wurde Vater von drei Töchtern und einem Sohn. Seine Professorenschaft endete mit seiner Pension 1987. Ein Jahr später erhielt er das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Nach seiner Pensionierung wurde er im Rollettmuseum und Stadtarchiv Baden vorstellig, wo er sich der Archivalien und der Stadtgeschichte annahm. Er forschte und schrieb über lokale Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts wie Anton Rollett oder Josef Doblhoff. Des Weiteren befasste er sich mit den Anfängen der protestantischen Gemeinde in Baden, er verfasste eine Biographie über Josef Kollmann und war Mitautor bei dem Buch „Die Juden von Baden und ihr Friedhof“ aus dem Jahre 2002. Unvollendet blieb ein mehrere hundert Seiten langes geschichtsphilosophisches Werk, wo er sich mit der Achsenzeit (Karl Jaspers) und wiederkehrend-historischen Zyklen beschäftigte. Vor seinem Tod holte ihn teilweise seine Kriegsvergangenheit ein. Als ausgebildeter Wehrmachtsfunker, der für das Abhören und Dechiffrieren des feindlichen Funks zuständig war, überkam ihn am Sterbebett die Angst, dass er nun dafür von den Russen noch zur Verantwortung gezogen werde. Er starb am 8. Februar 2012.11
Gertrud Maurer
Gertrud Maurers Berufswunsch wurde Wirklichkeit, nachdem sie 1947 mit Vorzug maturiert hatte. Nur vier Jahre später begann 1951 ihre Laufbahn als Professorin am Badener Gymnasium Frauengasse. Sie unterrichtete Englisch, Latein, Französisch und in der Unterstufe Deutsch. Einmal hatte sie auch ein oder zwei Jahre Handarbeiten für Mädchen unterrichtet. Im Jahre 1984 ging sie in Pension. Rückblickend schrieb sie: So weit ich mich zurückerinnern kann, ist unsere Schule in der Frauengasse für mich „die“ Schule gewesen.12 Sie wurde siebenfache Mutter. Zwei Söhne hat sie überlebt. Sie schuf, sehr zu meiner Freude, ein umfangreiches Zeitzeugenkonvolut. Allein ihre Erinnerungen an die NS-Zeit 11 Vgl. ZGIERSKI Dominik (Privatarchiv), Hans Meissner Vita – sowie Gespräche mit seinen Töchtern. 12 Jahresberichte 1983/84 BG und BRG Baden Frauengasse, S. 41.
Was wurde aus…
umfassen mehr als 260 Seiten. Ihre darin beschriebene Begeisterung für den BDM führte dazu, dass sie danach von einem Misstrauen gegenüber jeglicher Politik befallen wurde. Solange ihr Ehemann Hans Maurer lebte, konsultierte sie ihn vor jeder Wahl, um nachzufragen, wen sie wählen solle. Und als jener 1984 verstarb, wandte sie sich an ihren ältesten Sohn, Rudolf Maurer. Der, wie bereits im Kapitel Quellen erwähnt, mir dankenswerterweise die Aufzeichnungen seiner Mutter für meine Recherchearbeit zur Verfügung gestellt hat. Nach seinem viel zu frühen Tod im Jahre 2020 durfte ich mich des Entgegenkommens Jakob Maurers erfreuen – einem ihrer zahlreichen Enkelkinder. Danke Jakob dafür.13 * Um es nicht zu vergessen, Baden ist ein Dorf: Ernst Röschl, Hans Meissner und Viktor Wallner waren teilweise Schulkollegen oder Klassenkameraden. Ernst Röschls Vater, Robert Röschl, war als k.k. Offizier mit dem Schwiegervater von Gertrud Maurer, Rudolf Maurer, bekannt, da dieser ebenso k.k. Offizier gewesen war. Ihr Ehemann Hans Maurer, als Professor im Gymnasium Biondekgasse, war Arbeitskollege sowohl von Hans Meissner als auch von Viktor Wallner, der dort ebenso unterrichtet hatte. Als Gertrud Maurer dann Professorin in der Frauengasse wurde, unterrichtet sie die Tochter von Ernst Röschl, während ihr Sohn, Rudolf Maurer, wiederum mit Hans Meissner im Stadtarchiv zusammenarbeitete und der Sohn von Hans Meissner sowie eine Tochter von Gertrud Maurer, beide ebenso Professoren am Gymnasium Frauengasse und damit Arbeitskollegen waren und usw.…
Karl Pfeifer
Die Kapitulation des Dritten Reiches erlebte Karl Pfeifer im Krankenhaus, während man ihm Wasser aus dem Knie abpumpte, nachdem er sich an einer Harke verletzt hatte. Doch für ihn bedeutete der 8. Mai 1945 noch lange nicht Frieden, auch nicht der 2. September 1945. Erstens: Von unserer großen Familie waren nur wenige am Leben geblieben. Ich verlor 36 meiner nächsten Angehörigen in der Shoa.14 Und zweitens, nun begann der Kampf zwischen Juden und Arabern, der Kampf gegen die britische Kolonialmacht und anschließend der Kampf gegen eine Koalition mehrerer arabischer Länder, die dem neugegründeten Staat Israel sogleich den Krieg erklärten. Teilweise kämpfte Karl Pfeifer gegen britische Deserteure, Soldaten der polnischen Armee, die im Nahen Osten geblieben waren, Einheiten der bosnisch-muslimischen Waffen-SS-Division „Handschar“, kroatische Ustascha-Verbände und ehemalige Wehrmachtssoldaten, die sich allesamt nun als Söldner verdienten. Es war offensichtlich, dass eines ihrer Hauptmotive der mörderische Hass gegen Juden war. Während die allermeisten Juden in Europa nicht die Möglichkeit hatten, gegen die Vernichtungsmaschi13 Persönliche Gespräche mit Rudolf und Jakob Maurer. 14 PFEIFER Karl, Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg (Wien 2013), S. 89.
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938
Vierter Teil Kontraktion und Radikalisierung
nerie mit der Waffe in der Hand zu kämpfen, waren wir – keine drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – entschlossen, uns weder von den ausländischen Söldnern noch von ihren Arbeitgebern abschlachten zu lassen.15 Dieser mörderischen Groteske gesellte sich ein kurios-zynisches Detail hinzu. Wir erhielten unter anderem Gewehre, die bei Skoda für die Wehrmacht produziert worden waren. In ihren Kolben sah man noch die eingebrannten Hakenkreuze, die wir gleich zu entfernen hatten.16 1950 war sein Dienst an der Waffe beendet. Er machte eine Ausbildung zum Schiffskellner und fuhr im selben Jahr zu seinen Verwandten in die Schweiz, wo teilweise Welten aufeinanderstießen. Es war aber grundsätzlich alles verworren. Ich war staatenlos, hatte eine falsche Identität, die mich um ein ganzes Jahr älter machte als ich war und an die ich mich nicht gewöhnen konnte.17 So endete auch sein Ausflug nach Paris mit seiner Verhaftung, ein paar Ohrfeigen bzw. – wie Karl Pfeifer es formulierte – mit Hilfe handgreiflichen Zuredens und seiner Abschiebung in sein Geburtsland. Die einzige Alternative wäre die Fremdenlegion gewesen. Am 15. September 1951 betrat Karl Pfeifer, nach dreizehn Jahren, wieder österreichischen Boden. Dabei hatte ihm der österreichische Konsul in Paris einen anderen Rat gegeben: Sie werden denken, ich sei Antisemit. Ich bin es nicht. Doch eben weil ich es nicht bin, rate ich Ihnen, nicht nach Österreich zurückzukehren.18 Es folgte danach ein Leben in Budapester Dissidentenkreisen, die er mit legalen und illegalen Mitteln unterstützte, bis er durch die ungarischen Behörden verhaftet und aus Ungarn ausgewiesen wurde. Insgesamt passierte das zwischen 1980 und 1987 vier Mal. Karl Pfeifer verfasste mehrere Bücher, hielt unzählige Vorträge und war regelmäßiger Gast zahlreicher Veranstaltungen. Er verstarb am 6. Jänner 2023.
Eva Kollisch
Eva Kollisch begann in Brooklyn deutsche Literatur zu studieren, obwohl ihr Deutsch als Sprache zeitweise regelrecht verhasst war. Die Ironie des Schicksals wollte es obendrein, dass sie mit ihrem ersten Mann Deutsch sprechen musste, weil dieser kein Englisch beherrschte. Dann musste sie sich noch mit Deutschkursen über Wasser halten, und letztendlich erhielt sie eine Stelle an einem kleinen College in der Nähe von New Jersey, wo sie über dreißig Jahre lang Deutsch und vergleichende Literaturwissenschaften unterrichtete. In den 50ern und 60ern besuchte sie mehrmals Wien, doch die Kurstadt Baden, die besuchte sie zum ersten Mal seit ihrer Flucht erst im Jahre 2000. Aber zu dem Zeitpunkt wusste sie bereits, dass ich mich nicht auf feindliches Gebiet begeben würde. Sie folgte der Einladung ehemaliger Klassenkameradinnen. Dieser Einladung gingen Briefwechsel und 15 16 17 18
Ebd. S. 117. Ebd. S. 124. Ebd. S. 161. Ebd. S. 163.
Was wurde aus…
Kopfzerbrechen voraus. Wie werden sie sein, die Freundinnen von früher? Was haben sie getan zwischen 1938 und 1945? Waren sie Nationalsozialistinnen gewesen? Waren sie beim BDM gewesen? Dafür hatte Eva Kollisch Verständnis, diese schönen Uniformen, das viele Singen, das gemeinsame Marschieren usw. Oder werden die Freundinnen, so ihre Befürchtung, gar Hass und Wut verspüren, für all die alliierten Bombardierungen? Skepsis und Unbehagen war anfänglich dabei, denn bei Deutsch sprechenden Leuten meiner Generation bin ich noch immer auf der Hut. Aber mit meinen Schulkameradinnen glaube ich ein kleines, aber gutes Land (ohne nationale Grenzen) gefunden zu haben, dessen Bürgerinnen wir sind, wo wir dieselbe Sprache sprechen – vier alte Frauen, die viel durchgemacht haben, die ängstlich, aufgeregt, glücklich, demütig und stolz sind; die sich um ihre Kinder und Enkelkinder Sorgen machen und über die schreckliche Welt voller Gewalt und Krieg; die gerne ein Glas Wein beim Heurigen trinken; vier Kinder aus meiner Klasse, die weinen und lachen können.19 * Ursprünglich hatte ich geplant, noch auf einzelne Täter einzugehen, Männer des Exekutivkomitees, Ortsgruppenleiter, Kreisleiter und dergleichen, weil ihre Gerichtsakten und Strafausmaße teilweise im Badener Stadtarchiv aufliegen. Aber ich glaube, das hebe ich mir für das nächste Buch auf, zumal die Strafhöhen für ihre Verbrechen, für das Stehlen, Rauben, Einschüchtern, Verschleppen, Drohen, Nötigen, Erpressen, Schlagen, Treten, Prügeln, Vergewaltigen, Deportieren, Quälen, Foltern und Morden fallweise sehr ernüchternd ausfielen. Oder man liest davon, dass ihre körperliche und geistige Konstitution dermaßen angeschlagen sei, dass sie einfach prozess- und haftuntauglich waren. Und da ich, liebe Leserin oder lieber Leser, Ihr Gemüt ohnehin gefordert habe – was ja bei solch einer Thematik leider alternativlos ist, wobei ich hoffe, dass Sie zwischendurch auch manchmal lachen mussten – möchte ich es jetzt am Ende nicht abermals übermäßig strapazieren. Deshalb möchte ich viel lieber unsere gemeinsame Reise durch sieben Jahre der Badener Stadtgeschichte, so wie ich sie begonnen habe, mit einem Zitat von Eva Kollisch abschließen. Es geht darum, wie sie und ihre alten Klassenkameradinnen ihre gemeinsame Welt, die entsteht, wenn sie einander treffen, gestaltet haben. Wir haben Definition wie „Österreicher“ oder „Jüdin“ abgelegt und verwenden sie nur dort, wo sie aufschlussreich sind. Wir haben uns sogar der Kategorien von „alt“ und „jung“ entledigt. Denn wenn wir einander begegnen als die, die wir heute sind, dann bringen wir einander alles, was wir einmal waren, den Reichtum unseres Lebens, die Tragödien unserer Geschichte.20
19 KOLLISCH, Der Boden unter meinen Füßen, S. 130. 20 Ebd. S. 130.
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Anhang
Anhang I. Kreisleitung Baden1 Amt bzw. Gliederung
Name
Amtssitz
Kreisleiter
Dr. Hans Ponstingl
Kreisleitung
Geschäftsführer Organisationsleiter Personalamt Kassenleiter Schulungsleiter
Kurt Wilhelm Haun Sepp Stiasny Kurt Wilhelm Haun Wilhelm Hentschl Wilhelm Prastorfer
Propagandaamt
Rudolf Schachinger
Ausbildungsleiter
Leopold Kremsner
Presseamt
Karl Promberg
Kreisleitung Kreisleitung Kreisleitung Kreisleitung Kreisleitung Kreisleitung 1. St., Zimmer 6 Kreisleitung Kreisleitung 1. St., Zimmer 6
Amt für Volksgesundheit Handwerk und Handel
Dr. Edmund Hess Josef Brandstätter
DAF
Ernst Ziegler
Amt für Beamte
Ignaz Jeitschko
Amt für Erzieher
Franz Wladasch
Kreisleitung 1. St., Zimmer 30
Rechtsamt
Anton Attems
Kreisleitung 1. St., Türe 9
Engelbert Grandl
Boldrinigasse 1
Landwirtschaftl. Fachberater Beauftragter f. Rassenpolitik
8–12, 14–19 DI, FR 14–19 MO, MI u. FR 17.30 – 19 14–17 9–12, 15–18 8–12, 14–16 MO, DO 17–19 MO 14–15 DI 14–16 MI, FR 14–15
Dr. Edmund Hess
Amt für Kommunalpolitik
Robert Schmied
Fachberater für Technik NS-Frauenschaft
Alfred Killmann Viktoria Luckmann
Amt für Volkswohlfahrt
Hermann Janisch
Beauftragter für Kriegsopfer Karl Hillringshaus
1
Rathaus Kreisleitung 2. St. Kreisleitung Zimmer 33
Amtsstunden MO, MI u. FR 8–12 8–12 8–12 8–12 9–11
Vgl. BZ Nr. 53 c. 02.07.1938, S. 4.
Kreisleitung 1. St.
8–12, 14–19
Kreisleitung 2. St.
8–12 8–12, 14–17
Anhang
Amt bzw. Gliederung SA NSKK Parteigericht SS HJ BDM
Name Otto Strohmayer Josef Manhalter Hans Gotz Hans Pissareck Sepp Warta Ilse Bechtloff
Amtssitz Weilburgstraße 18 „Batzenhäusl“
Amtsstunden 8–12, 14–17
8–12, , 14–17 Bezirksgericht Elisabethstraße 63/65 8–12, 14–17 Elisabethstraße 63/65 8–12
II. Ortsgruppen, Zellen und Blöcke im Kreis Baden2 Zelle
Ortsgruppe Alland Altenmarkt a. d. Triesting Baden-Leesdorf BadenPfaffstätten Baden-Stadt Baden-Tribuswinkel Baden-Weikersdorf Bad Vöslau Bad VöslauGainfarn Bad VöslauKottingbrunn Berndorf BerndorfSt. Veit Blumau b. Felixdorf 2
1
2
3
4
13 8
5 7
9 4
4 5
10 10 12 2
5
6
7
8
9 10 11 12 13 14 15 16 17 Summe der Blöcke 31 24
8 10 10
8
8 10 10 10
106
5
5
38
5
6
5
10 12 8 10
8 10 10 5 4
8
9 10 10
10
9 10
8
5
5
8 11
8 10 12 11
10 10 8 10 10 10 10 10 8 10 9 6 10 10 12
9 10
6
6
7
9
6
9
6
9
7
9
8
7
137
9
6
3
6
4
115 53
9 10
10 10 10 13 10 10 14 10 13 10 8 8 8 6 7 8 7 7 6 9
8
7 151 27
41
9
8 10 12
8 10
Vgl. StA B, GB/052 Kreisleitung Baden; Fasz. I; Personallisten Kreis und Ortsgruppen.
149 65 27
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942
Anhang
Zelle
1
2
3
4
BeutschBrodersdorf Ebreichsdorf Enzesfeld a. d. Triesting Furth a. d. Triesting Grillenberg b. Berndorf Heiligenkreuz Hernstein Hirtenberg KlausenLeopoldsdorf Leobersdorf Oberwaltersdorf Pottendorf Pottenstein a. d. Triesting Reisenberg Schönau a. d. Triesting St. Corona a. Schöpfl Tattendorf Traiskirchen Trumau a.d. Aspangbach Unterwaltersdorf Weissenbach a. d. Triesting
5
3
10
8
6
6
8
8
46
8
8
9 10
8
8
51
6
5
5
7
4
11
11
5
16
7 6 8
5 5 7
5 4
5
9 13
6 6 9 10
6 9
7
9
6
6
8
8
6
7
8
9 10 11 12 13 14 15 16 17 Summe der Blöcke
7 8
7 9
7
3
6
6
16
5 9
4 9
5 7
10 5
5 7
9
7
4
2
10 3 6
8 4 6
8 7 5
11 11
8
8
6
8
6 10
7
5
12 43 19
68 28 8
8
72 52
15 28 6
8
Zellen: 221 Blöcke: 1685
7 4 6
8 4
7
4
4
6
6
7
9
4
7
7
4
41 5 92 23 30
6
5
8
2
44
Anhang
III. Ortsgruppenleiter im Kreis Baden 19. April 1944 Vor- und Zuname Dostal Heinrich Dr. Karl Junker Karl Zanetti Gustav Grausam Dr. Fritz v. Reinöhl Emil Liske Alfred Stanzl Johann Kappl Fritz Hasl Rudolf Bachheimer Josef Schmidt Karl Klinghofer Eugen Stanits Richard Haselsteiner Karl Gschiel Johann Müller Leopold Schmid Martin Spörk Ludwig Kopp Hugo Patsch Richard Pürgy Leopold Kremsner Julius Vorhauer Alois Ott Anton Jainecker Max Puntigam Gustav Wunderlich Anton Haas Karl Vetterle Hans Schurgast Emil Schicht Josef Meixner Ernst Dorfner
3
Ortsgruppe Alland Altenmarkt a.d. Triesting Baden-Leesdorf Baden-Pfaffstätten Baden-Stadt Baden-Tribuswinkel Bad Vöslau Bad Vöslau-Gainfarn Bad Vöslau-Kottingbrunn Berndorf Berndorf-St. Veit Blumau Deutsch-Brodersdorf Ebreichsdorf Enzesfeld Furth a. d. Triesting Grillenberg Heiligenkreuz Hernstein Hirtenberg Klausen-Leopoldsdorf Leobersdorf Oberwaltersdorf Pottendorf Pottenstein Reisenberg Schönau a. d. Triesting St. Corona a. Schöpfl Tattendorf Traiskirchen Trumau Unterwaltersdorf Weißenbach a. d. Triesting3
Vgl. StA B, GB/052 Kreisleitung Baden; Fasz. I; Personallisten Kreis und Ortsgruppen
943
944
Anhang
IV. Statistiken und Auswertungen Stand 15. Juni 1945 Registrierte bis zum 15. Juni 1945 Insgesamt 946 Personen, davon 61 Illegale – in Zeitraum vom 11. bis 15. Juni 19454 Stand 16. August 1946 Anzahl der SS-, SA-, SD- und Gestapo-Mitglieder laut NS-Aktenmaterial im Gemeindegebiet Baden. Davon flüchtig bzw. noch nicht zurückgekehrt SS 293 199 SA 750 216 SD 0 0 Gestapo 5 5 Registriert in Baden SS SA SD Gestapo
27 300 0 0
Stand 26. Februar 19475
bis 20 21–30 31–40 41–50 51–60 61–70 71–80 ab 81 Summe
Männer 1 82 335 450 355 201 49 8 1.481
Frauen 13 60 85 143 129 62 16 1 509
Gesamtsumme: 1990
4 5
Vgl. GB 054/Entnazifizierung I; Fasz. II Ermittlungsergebnisse; Mappe: Statistik u. Auswertung – Schlussbericht über die Registrierung der Nationalsozialisten (16.06.1945) Vgl. GB 054/Entnazifizierung I; Fasz. II Ermittlungsergebnisse; Mappe: Statistik u. Auswertung – Übersicht über die registrierten Nationalsozialisten (28.02.1947)
Anhang
Übersicht über die als Illegale registrierten Nationalsozialisten Männer Frauen bis 20 0 0 21–30 33 6 31–40 163 18 41–50 186 35 51–60 113 29 61–70 52 14 71–80 14 7 ab 81 1 0 Summe 562 109 Gesamtsumme: 671
Land- und Forstwirtschaft Industrie und Handwerk Handel und Verkehr Sonstige Erwerbszweige Freie Berufe Angestellte in öffentl. Diensten Angestellte in privaten Diensten Arbeiter in öffentl. Diensten Arbeiter in privaten Diensten Hausgehilfen u. Arbeiter Studenten Haushalt Pensionisten Sonstige Summe
Männer 75 382 117 25 174 244 167 30 88 15 15 3 79 70 1.484
Frauen 6 16 31 6 22 44 75 1 14 11 16 229 19 16 506
Summe: 1990 Stand 30. September 1947 Tabelle Belasteter und Minderbelasteter nach Alter und Geschlecht6 Männer Frauen Gesamt Alter Belastet Minderbelastet Belastet Minderbelastet Belastet bis 20 21–30 31–40 6
0 7 32
1 69 277
0 1 0
0 29 72
0 8 32
Minderbelastet 1 98 349
Vgl. GB 054/Entnazifizierung I; Fasz. II Ermittlungsergebnisse; Mappe: Statistik u. Auswertung – Übersicht über die Ergebnisse des Registrierungsverfahrens (30.09.1947).
945
946
Anhang
41–50 51–60 61–70 71–80 ab 81 Summe
Männer 31 29 13 1 0 113
Frauen 3 3 1 0 0 8
365 290 154 37 9 1201
Gesamt 34 32 14 1 0 121
140 113 52 17 1 424
505 403 206 54 10 1625
Männer Anzahl der Personen, die bis um Tage 1.626 der Auflegung der Registrierungslisten eine Meldung erstattet haben
Frauen 538
Zusammen 2.164
Männer 113
Frauen 8
Zusammen 121
1.200
424
1.624
1.313
432
1.745
Anzahl der Personen die in den aufgelegten Registrierungslisten verzeichnet wurden
Belastet
Minderbelastet Summe Gliederung nach Berufsgruppen
Männer Belastet Land- und Forstwirtschaft Industrie und Handwerk Handel und Verkehr Sonstige Erwerbszweige Freie Berufe Öffentlicher Dienst Angestellte im privaten Bereich Arbeiter im privaten Bereich Hausgehilfen Studenten Haushalt Pensionisten Sonstige Summe
4 10 1 2 4 2 2 54 0 0 0 5 29 113
Minderbelastet 70 96 48 21 57 113 117 412 0 6 0 137 123 1200
Frauen Belastet Minderbelastet 1 2 0 10 0 13 0 4 0 7 0 19 0 38 1 29 0 6 0 1 3 256 1 21 2 18 8 424
Gesamt Belastet Minderbelastet 5 72 10 106 1 61 2 25 4 64 2 132 2 155 55 441 0 6 0 7 3 256 6 158 31 141 121 1624
Anhang
Stand 9. April 19487 Gesamtzahl der Einwohner von Baden im März 1945 Gesamtzahl der Einwohner von Baden im April 1948 Gesamtzahl der im März 1945 in Baden wohnhaften Nationalsozialisten (annähernd) Hiervon Anzahl der: In den Registrierungslisten 1947 und April 1948 registrierte Nationalsozialisten Aufgrund des VG 1947 nicht registrierungspflichtige in den Registrierungslisten 1947 und April 1948 nicht aufgenommene Nationalsozialisten. In den Registrierungslisten 1947 und April 1948 als belastet verzeichnete Nationalsozialisten In den Registrierungslisten 1947 und April 1948 als minderbelastet verzeichnete Nationalsozialisten Nach dem VG und KVG verurteilte Nationalsozialisten
31.411 20.912 2.113
1.873 240 152 1.721 19
Stand 6. September 19488
7
8
Belastete Minderbelastete Summe
135 1.730 1865
SD Gestapo SS Angehörige der SA vom Sturmführer aufwärts Angehörige des NSKK vom Sturmführer aufwärts Angehöriger des NSFK v. Sturmführer aufwärts Funktionäre der NSDAP vom Zellenleiter und Gleichgestellten aufwärts Belastete Angehörige der SA (mit Ausnahme siehe oben) Mitglieder der NSDAP Anwärter der NSDAP Summe
1 0 42 7 3 1 30 51 378 1239 248 1865
Vgl. GB 054/Entnazifizierung I; Fasz. II Ermittlungsergebnisse; Mappe: Statistik u. Auswertung – Nationalsozialisten, zahlenmäßige Erfassung unberücksichtigt ob nach dem VG 1947 registrierungspflichtig oder nicht registrierungspflichtig (09.04.1948). Vgl. GB 054/Entnazifizierung I; Fasz. II Ermittlungsergebnisse; Mappe: Statistik u. Auswertung – Summe der registrierungspflichtigen Personen aus der Registrierungsliste 1947 und Nachtragsliste April 1948 (06.09.1948).
947
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Anhang
Stand 1. Mai 19499 Alter Bis 20 21–30 31–40 41–50 51–60 61–70 71–80 Ab 81 Summe
Männer Belastet 0 5 30 39 30 15 2 0 121
Frauen Minderbelastet Belastet 0 0 53 0 259 3 407 2 324 5 166 4 53 0 9 0 1.271 14
Gesamt Minderbelastet Belastet 0 0 27 5 68 33 127 41 132 35 64 19 24 2 3 0 445 135
Anzahl der Personen, die bis um Tage der Auflegung der Registrierungslisten eine Meldung erstattet haben.
Männer 1.509
Männer Anzahl der Personen die in den aufgelegten Belastet 121 Minderbelastet 1.271 Registrierungslisten verzeichnet wurden. Summe 1.392
Minderbelastet 1 80 327 534 456 230 77 12 1.717
Frauen 498 Frauen 14 445 459
Zusammen 2.007 Zusammen 135 1.716 1.851
V. Flächennutzung und Besitzverhältnisse10 Flächenart Äcker Gärten Wiesen Weiden Weinberge Wälder Gewässer Ödland Bebaute Flächen Straßen Plätze Parkanlagen Friedhöfe Gesamt 9
Fläche gesamt (Hektar) 629,25 241,57 309,02 152,29 344,83 629,76 0,81 116,43 118,62 74 3,99 59,25 9,12 2688,59
Fläche im Besitz der Gemeinde (Hektar) 36,3 10,83 6,19 12,34 4,76 63,75 0 100,40 11,09 74 3,99 57,67 0 380,64
Vgl. GB 054/Entnazifizierung I; Fasz. II Ermittlungsergebnisse; Mappe: Statistik u. Auswertung – Übersicht II (01.05.1949). 10 Vgl. StA B, GB 340/Baupolizei I; Fasz. III 1936–1945; 1939.
Anhang
Betriebe und beschäftigte Personen
Industrie: Stein, Erden, Ton, Glas Baugewerbe Eisen, Metallwaren Holz und verwandte Industrie Papierindustrie Nahrungs-, Genussmittel Gesamt
Anzahl der Betriebe 1930 1938 3 3 8 12 1 1 4 4 1 1 1 1 18 22
Anzahl der Beschäftigten 1930 1938 69 87 112 240 46 70 46 51 28 37 76 97 377 582
Zu den angefragten Betrieben gehörten noch: Bergbau, Elektrizität, Wasserwerke, Leder-, Textilindustrie, Chemische Industrie, Graphische Industrie. Hierbei hatte die Stadt Baden keine Angaben getätigt. Gewerbe und Handwerk Anzahl der Betriebe 1930 1938 Bäcker 22 22 Schlosser 19 19 Schlachter 28 25
Anzahl der Beschäftigten 1930 1938 62 54 49 45 80 92
Land- und Forstwirtschaft Großbetriebe über 125 (ha) genutzter Fläche Anzahl der Betriebe
Zahl der Beschäftigten
Fläche in ha
1930
1938
1930
1938
1930
1938
5
5
160
160
792,61
796,61
Mittelbetriebe 7,5 bis 120 ha Anzahl der Betriebe 1930 1938 4 4
Zahl der Beschäftigten 1930 1938 30 30
Fläche in ha 1930 50
1938 50
Kleinbetriebe 0,5 bis 7,5 ha Anzahl der Betriebe 1930 1938 765 772
Zahl der Beschäftigten 1930 1938 1192 1168
Fläche in ha 1930 321
1938 344
Fläche 1930 7,5
1938 7,6
Kleinwesen, Schrebergärten, Kleingärten in ha
Anzahl 1930 770
1938 735
Zahl der Beschäftigten 1930 1938 2310 2265
949
950
Anhang
Bevölkerung 1923 Gesamt: 21.095 Männer Frauen 9239 11.856
1934 Gesamt: 22.195 Männer Frauen 9753 12.442
Berufliche Gliederung der Bevölkerung 1938 Land- und Forstwirtschaft Industrie und Gewerbe Geld-, Kredit- und Versicherungswesen Öffentlicher Dienst Häuslicher Dienst Freie Berufe Ohne Berufe
1.458 10.318 616 718 2660 1201 3955
Anzahl der Haushalte Jahr 1923 Anzahl 7092
1934 7704
1938 Gesamt: 22.898 Männer Frauen 10063 12.835
1938 7888
Quellen und Sekundärliteratur Monographien ALY Götz, Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939–1945, Eine Gesellschaftsgeschichte (Frankfurt am Main 2014). ANDREASCH Clemens, Illegale politische Aktivitäten in Baden und Bezirk Baden 1933–1938 (Baden 2014). ARNBORN Marie-Theres, Die Villen von Baden. Wenn Häuser Geschichten erzählen (Wien 2022). BAUER Kurt, Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall (Wien/Köln/Weimar 2008). BAUER Kurt, Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1933– 1945 (Frankfurt am Main 2017). BAUMGARTNER Walter, STREIBEL Robert, Juden in Niederösterreich. „Arisierung“ und Rückstellung in den Städten Amstetten, Baden, Hollabrunn, Horn, Korneuburg, Krems, Neunkirchen, St. Pölten, Stockerau, Tulln, Waidhofen a. d. Thaya und Wiener Neustadt (Wien/München, 2004). BAILER-GALANDA Brigitte, JABLONER Clemens et. al., Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellung und Entschädigung seit 1945 in Österreich (Wien/München 2003). BRETTNER Friedrich: Die letzten Kämpfe des II. Weltkrieges (Steinfeld/Wienerwald/Tullnerfeld/Traisental) (Gloggnitz 2002). BREZINA Gregor, ZGIERSKI Dominik: Bad Vöslau 1938–1945 (Bad Vöslau 2017). EGGER Hans, JORDAN Franz: Brände an der Donau. Das Finale des Zweiten Weltkriegs in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland (Graz 2004). PFEIFER Karl, Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg (Wien 2013). GAMAUF Rudolf: Bitte, damals habe ich gefehlt. BG und BRG Baden, Biondekgasse. Eine Schule im Zeitgeschehen von 1861 bis 1988 (Baden 1988). GERLACH Christian, Der Mord an den Europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen (München 2017). GROSS Raphael, November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe (München 2013). GRUEN Arno, Verratene Liebe – Falsche Götter (Stuttgart 2019). JABLONER Clemens, BAILER-GALANDA Brigitte et. al., Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellung und Entschädigung seit 1945 in Österreich (Wien/München 2003). KELLERHOFF Sven Felix, Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder (Stuttgart 2017). KOLLISCH Eva, Der Boden unter meinen Füßen. Mit einem Nachwort von Anna Mitgutsch (Wien 2010).
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Anhang
KOLLMANN Josef, Der Prozess Kollmann. Ein misslungener Anschlag der Nationalsozialisten im Spiegel der stenographischen Protokolle (Baden 1946). LIEBMANN Maximilian, SCHUSCHNIGG Heiner, TAUS Gerhard, WOLKERSTORFER Otto, Für Staat und Kirche zum Tode verurteilt. Antifaschistische Freiheitsbewegung Österreich (Wien 2001). LONGERICH Peter, „Davon haben wir nichts gewusst!“. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945 (Bonn 2006). LONGERICH Peter, Heinrich Himmler. Biographie (München 2010). LONGERICH Peter, Goebbels. Eine Biographie (München 2012). MAURER Rudolf, Befreiung? – Befreiung! Baden 1945–1955 (Baden 2005). MAURER Rudolf, WELLENHOFER Sonja, S wie „Schädling“. Neue Dokumente zur Verfolgung unerwünschter Bevölkerungsgruppen in Stadt und Bezirk Baden 1938–1945 (Baden 2008). MAURER Rudolf, MAURER Johanna, Gestapo–Vertraulich! Die heimliche Kirchenverfolgung im Bezirk Baden 1938–1944 (Baden 2012). MAURER Rudolf, Baden. St. Stephan 1312–2012 (Baden 2012). MEISSNER Hans, Josef Kollmann, Bürgermeister von Baden (Baden 2000). RAFETSEDER Hermann, NS-Zwangsarbeits-Schicksale. Erkenntnisse zu Erscheinungsformen der Oppression und zum NS-Lagersystem aus der Arbeit des Österreichischen Versöhnungsfonds (Bremen 2014). RAPHAEL Lutz, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945 (München 2011). RATHKOLB Oliver, Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler (Wien/Graz 2020). RAUCHENSTEINER Manfried, Unter Beobachtung. Österreich seit 1918 (Wien/Köln/Weimar 2017). SAFRANEK Hans, Wer waren die niederösterreichischen Nationalsozialisten. Biographische Studien zu NSDAP-Kreisleitern, SA und SS (St. Pölten 2020). SCHÄRF Thomas E., Jüdisches Leben in Baden. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (Wien 2005). SCHREIBER Gerhard, Der Zweite Weltkrieg (München 2013). THAMER Hans-Ullrich, Die NSDAP. Von der Gründung bis zum Ende des Dritten Reiches (München 2020). WALLNER Viktor, Kaiser, Kuren und Kommandos. Baden von 1804 bis 1918 (Baden 1999). WIESER Christoph, Badens braune Vergangenheit. Der Weg zur Macht (Baden 2004). WIESER Christoph, Baden 1938. Anschluss Gleichtritt Volksabstimmung (Baden 1998). WOLKERSTORFER Otto, Baden 1939. Das Tor zur Zerstörung Der Alltag im Nationalsozialismus (Baden 1999). WOLKERSTORFER Otto, Baden 1940. Das erste Kriegsjahr Die innere Front (Baden 2000). WOLKERSTORFER Otto, Baden 1941. Dem Sieg, dem Krieg verpflichtet (Baden 2001). WOLKERSTORFER Otto, Baden 1942. Wir sparen für den Krieg Der Krieg rückt näher (Baden 2003).
Quellen und Sekundärliteratur
WOLKERSTORFER Otto, Baden 1943. Der totale Krieg. Einzig die Kultur belebt (Baden 2003). WOLKERSTORFER Otto, Baden 1944–1945. Das Volk steht auf, der Sturm bricht los Die Bomben kommen (Baden 2006). ZGIERSKI Dominik, Jesus, Marx und Nibelungen. Die politische Lagermentalität der Ersten Republik in Baden bei Wien (Baden 2013). ZGIERSKI Dominik, Die Kurstadt unter dem Kruckenkreuz. Gemeindepolitik in Baden während der österreichischen Diktatur 1933–1938 (Baden 2015).
Sammelbände
ARNBERGER Heinz, KURETSIDIS-HAIDER Claudia (Hgg.): Gedenken in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Widerstand, Verfolgung, Exil und Befreiung (Wien 2011).
Daraus Aufsätze: NEUGEBAUER Wolfgang, Die NS-Euthanasiemorde in Niederösterreich 1940–1945. DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES (Hg.), Forschung zu Vertreibung und Holocaust (Jahrbuch 2018). Daraus der Aufsatz: ROTH Stephan: Das U-Boot vom Badenerberg. Wie Bernhard Gol(d)stein den Holocaust in Baden bei Wien überlebte. Online: www.doew.at/cms/download/3cdkc/jahrbuch2018_roth.pdf, EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik (Wien/Köln/Weimar 2008).
Daraus Aufsätze: EVERS John, Gewerkschaftsbewegung und Arbeiterkammer in Niederösterreich. KLÖSCH Christian, Das „nationale Lager“ in Niederösterreich 1918–1938 und 1945–1996. LANGTHALER Ernst, Nahe und entfernte Verwandtschaft. MUGRAUER Manfred, Die Kommunistische Partei in Niederösterreich. MÜLLER Martin, Die niederösterreichische Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert. MULLEY Klaus-Dieter, Niederdonau: Niederösterreich im „Dritten Reich“ 1938–1945. PEFFERLE Roman, Politische Kultur in Niederösterreich: Kontinuitäten und Brüche. EMINGER Stefan, LANGTHALER Ernst et al. (Hgg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 2: Wirtschaft (Wien/Köln/Weimar 2008).
Daraus Aufsätze: BRUCKMÜLLER Ernst, REDL Josef, Land der Äcker. MELINZ Gerhard, Jenseits des Reichtums. EMINGER Stefan, Zwischen Überlebenskunst und Großunternehmen.
953
954
Anhang
KRAMML Peter F., HANISCH Ernst (Hgg.): Hoffnung und Verzweiflung in der Stadt Salzburg 1938/39. Vorgeschichte–Fakten–Folgen (Salzburg 2010).
Daraus Aufsätze: SAFRANEK Hans, Militante NS-Aktivisten mit Rückzugsbasis: Salzburger bei der Österreichischen Legion. TÁLOS Emmerich, HANISCH Ernst et. al. (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2002).
Daraus Aufsätze: BAUER Ingrid, Eine Frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektivierung. BURR BUKEY Evan, Die Stimmung in der Bevölkerung während der Nazizeit. DACHS Herbert, Schule in der „Ostmark“. FREUND Florian, PERZ Bertrand, Zwangsarbeit in Österreich. FREUND Florian, SAFRIAN Hans, Die Verfolgung der österreichischen Juden. HAAS Hans, Der „Anschluss“. JAGSCHITZ Gerhard, Von der „Bewegung“ zum Apparat. LANGTHALER Ernst, Eigensinnige Kolonie. MALINA Peter, NEUGEBAUER Wolfgang, NS-Gesundheitswesen und -Medizin. NEUGEBAUER Wolfgang, Der NS-Terrorapparat. NEUGEBAUER Wolfgang, Widerstand und Opposition. SAUER Walter, Loyalität, Konkurrenz oder Widerstand? SELIGER Maren, NS-Herrschaft in Wien und Niederösterreich. TÁLOS Emmerich, Die Etablierung der Reichsgaue der „Ostmark“. TÁLOS Emmerich, Sozialpolitik in der „Ostmark“. Angleichung und Konsequenzen.
Internetseiten www.doew.at www.erinnern.at www.geschichtewiki.wien.gv.at www.jewishhistorybaden.com www.memorialgugging.at/pdf/B_Czech_MedizinverbrechenGugging.pdf: CZECH Herwig, NS-Medizinverbrechen in der Heil- und Pflegeanstalt Gugging. Hintergründe und historischer Kontext. PDF-Datei, zuletzt abgerufen am 10.4.2023. www.yadvashem.org
Online abrufbare Dissertationen DZUGAN Franziska, Chamäleons im Blätterwald. Die Wurzel der ÖVP-ParteijounalistInnen
Quellen und Sekundärliteratur
in Austrofaschismus, Nationalsozialismus, Demokratie und Widerstand. Eine kollektivbiographische Analyse an den Beispielen „Wiener Tageszeitung“ und „Linzer Volksblatt“ 1945 bzw. 1947 bis 1955 (Wien 2011) https://services.phaidra.univie.ac.at/api/object/o:1276886/get MASCHER-PICHLER Heid Angelika, Baden bei Wien zur sowjetischen Besatzungszeit 1945– 1955 mit besonderer Berücksichtigung der ersten beiden Besatzungsjahre und des Jahres 1955 (Wienersdorf 2009) https://services.phaidra.univie.ac.at/api/object/o:1259641/get
Zeitschriften und Periodika Amts-Blatt der Bezirkshauptmannschaft Baden Badener Zeitung Badener Volksblatt Festschrift zur 50-Jahr-Feier 1902–1952 des Mädchen-Realgymnasiums Festschrift anlässlich der beendeten Generalsanierung der beiden Gebäude des Bundesgymnasiums für Mädchen und des wirtschaftskundlichen Bundesrealgymnasiums für Mädchen in Baden Festschrift 1902–1982 BG und BRG Baden Frauengasse Festschrift BG/BRG Baden Biondekgasse 1863–2013 Tätigkeitsbericht der Freiwilligen Feuerwehr der Stadt Baden, S. 1f. Aufliegend im StA B, Per18 10 Jahre Freiw. Feuerwehr der Stadt Baden 1938–1947, S. 35. Aufliegend im StA B, Per/1938/47 Jahrbuch 2018 Forschung zu Vertreibung und Holocaust (Hrsg.). Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes Daraus Aufsätze: ROTH Stephan, Das U-Boot vom Badnerberg. Wie Bernhard Gol(d)stein den Holocaust in Baden bei Wien überlebte
Archive Niederösterreichisches Landesarchiv
NÖLA; Casino – Baden I, K2 NÖLA; Stadt Baden bei Wien, Planungen, K2 NÖLA; AZ 354 Kuranstalt Sauerhof Peterhof, K1128 NÖLA; AZ 354–1 Kuranstalt Sauerhof Peterhof, Haushalt u. Finanzen, K1128 NÖLA; AZ 319–15. Krkh. Baden Bauten und Anschaffungen, K1126 NÖLA, Lage- und Situationsberichte, Ia-10 NÖLA; Mordanschlag eines Geisteskranken, K104
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Anhang
NÖLA; Spielbank Baden 1943, K4-K5 NÖLA; Spielkasino Baden bei Wien Stilllegung, K6 NÖLA; Reichsstatthalter Gkc 15, K20 NÖLA; BH Baden; Kartons I–XIII
Badener Stadtarchiv
GB/052 – NS-Zeit Allgemein, Politische Beurteilungen, Personalakten, Parteiformationen, Verfolgung GB/053 – Kriegsalltag GB/054 – Entnazifizierung, Besatzungszeit GB/231 – Polizeiakten, Preis- und Lebensmittelkontrollen Gemeinderatsprotokolle 1938–1942
Berliner Staatsarchiv
BBA, Bestandssignatur BS R179 BBA, Bestandssignatur BS R179, Archivnummer 18130 BBA, Bestandssignatur BS R179, Archivnummer 21516 BBA, Bestandssignatur BS R179, Archivnummer 20967
Israelische Kultusgemeinde
IKG Archiv Wien; Arisierungsakten; A/VIE/IKG/I-III/IKG/Baden/1/15
Privatarchive
MAURER Rudolf, Privatarchiv, Das 1000-jährige Reich I MAURER Rudolf, Privatarchiv, Das 1000-jährige Reich II ZGIERSKI Dominik, Privatarchiv, Hans Meissner Kriegstagebuch
Themen-Index Arisierungen/Liquidierungen 225–232, 362–391 Casino 116–119, 440–444, 692–693, 820–825 Einmarsch der Roten Armee 901–907 Einquartierungen 147–148, 403–407, 419–422, 485–486, 814–816 Ermittlungen gegen NS-Mitglieder 517–530, 767–778 Frauenpolitik u. Geschlechterrollen 282–298, 456–458, 461–464, 537, 547, 575–576, 594, 801–805, 846–847, 849, 878 Fremd- und Zwangsarbeiter 782–812, 833, 841 Frontberichte 474–478, 544–556, 586–592, 594–595, 855–856 Katholische Kirche 241–245, 842–843 Kollmann-Prozess 509–512 Kur, Kunst und Kultur 141–147, 350, 419–424, 480–490, 498–499, 551, 558, 564–571, 584–586, 711–716, 813–820, 842 Gleichschaltung Ärzteschaft 104–110 Gleichschaltung Justiz 87–95 Gleichschaltung Medien 119–122 Gleichschaltung Politik und Verwaltung 77–78, 123–128 Gleichschaltung Polizei 78–87 Gleichschaltung Schule 95–104 Hamsterei, Schleichhandel u. Schwarzmarkt 438–440, 488, 495, 532–536, 561, 700 Jugend 269–281, 563–564, 764–767 Luftschutzthematik und Luftangriffe 470– 472, 583–584, 829–833, 892–894 Mangel Nahrungsmittel, Heizmaterial u. Treibstoff 351–353, 394, 396–399, 422, 431–436, 484, 495–497, 531–533, 541, 569, 597, 694–695, 746–748, 781, 786, 825–828, 856–857
Mangel Personal 404, 426–431, 561–564, 690–692, 828, 844–846 Mangel Wohnraum 366, 348–350, 424–426, 490–495, 536–537, 559–562, 695–700, 784, 827 „Mischehen/Mischlinge“ 598–640 Monarchismus 247–254 Novemberpogrom 299–313 NSDAP Auflösungserscheinungen 577–579, 750–781 NSDAP Geschichte 156–170 NSDAP Gliederungen NSKK, SS, SA 183–188, 200–205 NSDAP Kreisleiter 172–179 NSDAP Organisation 179–183, 492–493 Politische Lager: Christlichsoziale 235–256 Politische Lager: Nationale 266–268 Politische Lager: Sozialisten 256–266 Rückwanderer (Bessarabiendeutsche, Sudetendeutsche) 323–324, 425, 457–461, 696 Schanzarbeiten u. Volkssturm 870–877 Stalingrad 592, 681–684, 796 Unausgeführte NS-Bauten 479–482 Verfolgung von „Asozialen“ 641–655 Verfolgung von behinderten Menschen 655–664 Verfolgen von Juden 206–232, 362–391, 409–411, 469–470 500–509, 805–811, 838–840, 886–888 Verfolgung von „Zigeunern“ 672–678, 787 Volksabstimmung 10. April 68–71 Widerstand 197–199, 234–235, 253–254, 263–266, 518–519, 613–617, 686–689, 707–708, 758–764, 792–795, 856–860, 894–896
Personen- und Ortsverzeichnis A Aberer Gruntram 354f Aberl Anna 349 Aberl Friedrich 31 Adamek Gustav 104 Adler Ignaz 592 Adolph Erich 875 Albrecht Karl 696 Albrecht Marie 696 Albrecht Othmar 380f Allbasser Ferdinand 849, 924 Allhof Josef 615 Alland 106, 186, 249, 629f, 787, 811, 941, 943 Almer Hermann 191 Altenmarkt a.d. Triesting 547, 764, 808, 841, 886, 941, 943, Am Hang (Mauer bei Wien) 131 Anavi David 368 Anders Doris 744 Andre Franz 405f Aschenbrenner Jakob 727 Aslan Raoul 456 Attems Anton v. 26, 74, 77, 94f, 116, 228f, 251,330 (Foto), 343, 377ff, 388, 470, 940 Aufschnaiter Otto 420 Autried Sepp 163 Axmann Johann/Hans 71, 266, 319, 460 Axmann Paul 108 B Bad Gastein 753 Bad Vöslau 93, 179, 194, 201, 218, 220, 262, 276, 279f, 289, 315, 351, 422, 428, 439, 469, 481, 485, 492, 524, 542, 564, 650, 694, 752, 788, 807, 829, 831, 848, 873, 922f, 941, 943 Bachmayer Georg 731 Bachzelt Alexander 651f Baltazzi Johanna 616f
Baltazzi Paula 407 Baltinester Felix 207 Banat 176, 555 Banyaluka 635 Barkić Josef 211 Barnstedt Hans 198 Barta Paul 251 Bastiany Karl 48, 201 Bauer Franz 666 Bauer Helli 285 Bauer Josef 735f Bauer Karl 735f Baumgartner Wilhelm 900 Baumrock Franziska 803 Bausek Ernst 94, 911 Bayer Herbert 469 Bayer Johann 919f Bayer Julius 884 Becher Charlotte 613f Becher Edeltrud 613f Beck Alois 31, 77 Beck Rudolf Alois 684 Beer Adolf 647 Beer Josefa 647 Behn Paul 159, 180 Beinhauer Othmar 744f Belfanti Ludwig 216 Belfanti Louis 252 Benesch Karl 898f Bergauer Karl 78, 198, 343, 497, 733 Berger Alois 77 Berger Franz 617, 620f Berger Josef 847f Berger Robert 675 Berka Alexander 511, 513 Berlakovits Franz 917f Bernaschek Carl Heinz 279 Berndorf 70, 113, 159, 265, 541, 589, 765, 766, 785, 804, 811, 883, 941ff Bernhofer Friedrich 77
Personen- und Ortsverzeichnis
Bettelheim Hermann 371 Biach Arthur 435 Biegler Margarethe 849 Bielitz-Biala (Schlesien) 455 Bilko Franz 144f, 147, 222, 356, 423, 506, 859 Bilokapa Ludwig 384 Binder Albine 611f Binder Hermann 408 Biondeck Michael 184, 196f Birkner Ferdinand 204 Bischitz Anna 227f Bischitz Edwin 227f Bischitz Fritz 28 Bitterer Anton 919 Biziste Brunhilde 375 Blank Franz 31 Blaszyk Alfred 797, 913f Blau Johousa 214 Blau Rita 214 Blauensteiner Leopold 145 Blechinger Ferdinand 187 Blechinger Franz 180, 187, 330 (Foto), 345, 415, 427, 479, 483f, 487, 565f, 570f, 603f, 711f, Blechinger Johanne 187 Bleier Michael 259 Bless Wilhelm 408 Bloch Erna 211 Bloch Oskar 211, 228 Blum Friedrich 638 Blum Hermine 637f Blumau 145, 633, 765, 941, 943 Blumauer Franz 919 Blumenfeld Louise 369 Bobofski Karel 786 Bock Rudolf 404ff Bodek Karl 733 Boehnke Kurt 319 Böheimer Franz 21, 132 Böheimer Wilhelmine 657 Böhm Alois 656 Böhm Wilhelm 354 Böhmig Ilse 559
Bohn Alois 280 Bokor Ellen 810 Boldrino Theodor 266, 268, 406 Bolfras Arthur v. 248 Bolfras Egon Freiherr v. 248 Bolfras Roderich v. 248 Boller Helene 285 Bondy Ernst 222 Bondy Hedwig 222, 279 Borea Franzesco 793f Bormann Martin 630, 757 Bosch Anna 582 Bosch Günther 582 Bouchez Eleonore 301 Bourges 112 Bousek Hans 94 Bozek Heinrich 26, 368, 522f, 526 Brammen Heinrich 49 Brandl Erich 556 Brandl Hermine 601, 608 Brandl Leopold 601, 608 Brandl Rudolf 570 Brandstetter Josef 77, 159, 164, 167, 284, 330 (Foto), 345, 416, 494, 496, 712, 733, 899, 911, 920f Brandstetter Josephine 284, 920 Brandweiner Hermine 501 Braun Alexander 224 Braun Eugenia 516 Braun Leopold 224 Braun Rosa 667f Braunsdorfer Karl 243 Braunsperger Hubert 199 Breindl Ilse 49 Breinschmidt Leopold 77, 246 Breker Friedrich 85f, 729, 834 Brenek Anton 417 Breuer Berthold 108 Breyer Alois 77f, 116, 190 Bronsoler Julius 33 Bruck a.d. Leitha 158f, 177, 197, 605, 933 Bruck a.d. Mur 914 Bruckner Berta 378 Bruckner Therese 378
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Personen- und Ortsverzeichnis
Brünn 100, 175, 549, 585, 696 Brunner Alois 604 Brunner Ferdinand 754 Brunner Franz 752f Brusatti Alois jun. 20, 61f, 116ff, 214, 319, 394, 465, 474ff, 543ff, 549ff, 556, 593ff, 682f, 716ff, 856f, 860ff, 908, 916, 933f Brusatti Alois sen. 20, 116ff Brusatti Hubert 241 Brusl Franz 755 Buberl Else 100 Bubik Ludwig 114f Buchart Johann 76 Buchgraber Josef 49 Buchgraber Maria 49 Buchmayer Karl 562f Buckovec Wilhelm 116f Buhl Eduard 168 Bürckel Josef 23, 91, 131, 140, 148, 173, 305, 308, 317, 357ff, 367, 383, 387, 446, 774 Buresch Karl 733 Burger Anton 355 Burger Thomas 761ff Büttner Eugen 278 Büttner Renate 278f Büx Gertrude 829 C Cafourek Marie 284 Cafourek Therese 284 Cafourek Wenzel 885 Cap Franz 31, 51 Cappe Theodor 19, 55, 915 Carlebach Hartwig 224 Chaloupsky Walter 546 Christ Johann 720ff, 815f Christl Erich 31, 98, 101 Christoph Richard 106 Chwojka Josef 873f Cizek Karl 145, 819 Cociancig Rudolf 465, 752, 917 Cortella Josefine 193 Czecselitsch Karl 445ff, 452f
Czecselitz Josef 663 Czerny Karl 572, 574 D Dandl Josef 17 Dandl Karl 657, 871, 905 Dachau 26, 31f, 57, 88, 98, 185f, 191ff, 229, 262, 300f, 316, 375, 439, 587, 606, 646, 651, 721, 730, 758, 835, 920 Darre Walther 417 Dawson Josephine 733f, 798 Decker August 78 Dehnhof/Denhof Ester/Eszter/Erna 380 Deimel Grete 600, 617 Delcambre Roger 727 Dem Gustav 31 Dengler Johann 109 Dengler Josef 77, 108f, 116, 236, 430 Dengler Marie 109 Derntl Franz 331, 343 Deutsch Albert 214 Deutsch Marie 294 Deutsch Max 224 Deutsch Samuel 107, 207 Deutsch Walter 214 Diersbach 900 Dietrich Margarethe/Grete 100, 213, 250, 638f, 802 Dietrich Otto 258 Dietz Bruno 409f, 434f Dimitroff Ivan 432, 454, 558 Dlugolecki Stefanie alias Stefanie Heilbronn 455f Doblhoff Anton 411 Doblhoff Josef 936 Doblhoff Rudolf 411 Doblhoff-Dier Heinrich 77, 151, 491, 536 Dobner Franz 31 Dobner Josef 880f Doleschal Hans 799, 800 Dolezal Arnold 243 Dollak Fritz 873 Dolleczek Franz 103 Dollinger Bernhard 303
Personen- und Ortsverzeichnis
Dollinger Gisela 35, 68, 303, 309 Domenego Viktor 31 Dopplinger Johann 576 Dorbetz/Dorbez Josef 31, 264 Dörfler Fanny 503 Dorfmeister Alois 17 Dorfstetter Franz 260 Dorpmüller Julius 436 Drasche-Wartinberg Nadine 794f, 807 Drimmel Josef 714 Duchan Emilie 284 Duchan Franz 134 Dürpisch Kurt 715 Dürpisch Margarethe 634, 636f Dürr Rudolf 117 Douda Franz 51, 229 Douda Gertrude 51 Dousa Anna 652f Dousa Augustine 652f Dousa Gustav 652f E Ebenfurth 100, 159, 428f, 457, 459, 461, 794, 807, 942f Ebner Franz 180 Ebreichsdorf 150, 159 Eckel Franz 25, 171ff, 440 Ecker August 58 Eckert Franz 77, 371, 375, 386, 728, 857 Ecker Betty 213 Edelbauer Karl 160, 180 Ehrenhauser Franz 31, 343 Ehrentreu Ernst 300 Ehrmann v. Falkenau Alfred 211 Eichholzer Cäcilia 286, 383, 461 Eichholzer Karl 77, 566, 844 Eichner Hermine 219 Eigl Johann 753f Eigruber August 272 Einöde 741, 891, 901, 906 Eisenkolb Hans 168 Eisler Alexander 77 Eisler Ilonka 224 Eisler Johann 261
Eitler Ferdinand 280 Elias Abraham M. 508 Emhofer Otto 315 Emminger Karl 572 Enigl Josef 395, 430, 436 Enzesfeld 50, 196, 244, 272, 643, 666, 694, 765, 805, 811f, 861, 887, 942f, Epernay 593 Epp Franz v. 86 Epstein Gustav Ritter v. 508 Erlach 159 Ernst Alois 18 Ernstthaler Ludwig 547 Ernstthaler Rosina 546 Esch Peter 731f Eywo Herbert 27f, 36 F Fahnler Josef 50 Fahnler Leopold 77 Faltin Rudolf 78 Fasching Emma 383 Fasching Hans 238 Fasching Maria 613f, 894 Faseth Ludwig 659 Faugeras Raymond 793 Fauland Alois 50 Favout Lucien 802 Felber Johanna 385 Fleber Josef 687 Felbermayer Aloisia 304 Felbermayer Eduard 304 Feldner Alfred 872, 874f Felixdorf 159, 239, 811, 941 Fekete Ignaz 31 Fekete Rudolf 78 Felber Johanna 385 Felber Josef 687 Festi Maria 260 Fey Emil 406 Fiebinger Margarethe 295 Fink Emil 430f Fink Götz 160 Finkler Johanne 671
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Personen- und Ortsverzeichnis
Fischamend 829 Fischbach Hubert 60, 196, 895 Fischer Adolf 199 Fischer Christine 294 Fischer Eduard 51, 77, 180f, 331 (Foto), 343, 844 Fischer Franz 374f Fischer Friedrich 692 Fischer Grete 618 Fischer Hermann 274 Fischer Hermine 802f Fischer Johann 411 Fischer Josef 618, 727 Fischer Karl 297 Fischer Leopold 32, 237 Fischer Liselotte 224 Fischer Luise 374 Fischer Marianne 207 Fischer Marie 284, 286 Fischer Max 195 Fischer Robert 89, 106, 430, 659, 664ff, 692, 735f, 740f, 875ff, 898 Fischer Theodor 107 Fischer Willibald 652 Fischer-Deutsch Eva 107f Flaschner Erich 301 Flaschner Friedrich 301 Flaschner Melanie 301 Fleischmann Cornelius 25 Fleischmann Eugenie 501 Fleischmann Franz 707, 724 Fleischmann Heinrich 501f, 601 Fleischmann Jetty 501f Fleischmann Josef 265, 707 Fleischmann Leopoldine 724f Folie Alois 78 Frank Aloisia 502 Frank Josef 493 Frank Karl 502 Frank Richard 20f, 87ff, 93, 204 Frank Thea 902 Franz Günther 31, 691 Frauenfeld Alfred 280, 879 Freillinger Franz 517f
Freisinger Anton 84 Freisinger Johann 268 Frick Wilhelm 346, 427, 485 Frieders Ernst 31 Friedl Herbert 127, 344 Friedmann Salomon 224 Friedrich Josef 223, 469 Fries Egon 105f Fries Heinz v. 251, 760f Fries Helge 617 Frimmel Rudolf 195, 201 Fritsch-Gerlach Theo 423 Fritz Stefanie 702f Fuchs Johann 576 Führer Karl 763f Fürst Walter 105 Fürstenfeld 111 Furth a.d. Triesting 765, 942f Fux Peter 312 G Gaaden 78, 891 Gainfarn 694, 764, 765, 941, 943 Gamauf Hans 408 Gansberger Franz 426 Gardavsky Ernst 354 Garherr Anna 56 Gärdtner Camillo 89f, 127, 150, 171f, 174ff, 184, 227, 278, 281, 332 (Foto), 438, 441ff, 459, 500, 529, 549, 699, 728, 736, 743f, 753, 756, 761, 766, 771, 779, 808, 811ff, 817, 819, 830f, 837, 840, 855, 858, 863, 870, 878, 881ff, 887, 925f, 930 Gehrer Franz 201 Gehrer Georg 31, 35f, 77, 834f Gehrer Leopoldine 834f Gehringer Therese 293 Gelles Adolf 231 Gemeinböck Ernst 192 Gerich Hermine 383, 577 Gerischer Heinrich 51, 687 Gerl Ferdinand 134 Gerstorfer Ludwig 57, 78, 239, 273, 772 Geyer Herbert 196
Personen- und Ortsverzeichnis
Geyer Walter 196 Giebisch Walter 294 Gimborn Ottilie v. 563 Gimborn Theo v. 343, 844 Gimborn Walter v. 193, 251, 322 Gimbosia Aurel 760 Glank Lambert 417 Glanner Friedrich 51, 255, 266 Glanner Marianne 192, 295 Gleichweit Johann 31, 845f Gleichweit Josef 278 Gloggnitz 159 Gmunden 869 Göbel Paul 730f Goebel Wilhelm 652f Goede Lina 738 Goldstein-Gutheil Johann 629ff, 637 Goldstein-Gutheil Johanna 629ff Goldstein Bernhard 611ff Goldstein Franz 243 Goldstein Josef 634 Golek Karl 699 Göring Hermann 15f, 151f, 315, 346, 417, 426, 652, 734, 838 Görö Julius 610 Görö Malvine 610 Gottfried Adolf Abraham 369 Götz Fink 160 Gotz Hans 57, 78, 88f, 91, 97, 160, 331 (Foto), 343, 352, 432, 450, 941 Grabenhofer Anna 905 Grabenhofer Josef 279, 281 Grabner Josef 160 Graf Franz 31 Grammer Alois 527 Grassinger Otto 354 Grausam Gustav 284, 693, 943 Graz 97, 173, 179, 356, 524, 526, 662, 770, 787 Grier Hedwig 140 Griessenberger Franziska 542 Griessenberger Karl 542 Grill Franz 308, 906f Grillenberg 765, 942f
Grob Ernst 556 Gröbel Harry alias Reginald Le Borg 372 Gröbel Julius 372 Gröbel Regina 372 Groiss Karl 97ff, 651f Groß Josef/Sepp Alois 188, 813 Groß-Siegharts (Waldviertel) 382 Großau 70 Grossmann Anna 713 Gruber Aloisia 253 Gruber Anna 76f Gruber Erich 520, 568, 581 Gruber Franz 106 Gruber Hans 76 Gruber Karl 762 Gruber Josef 869 Grumböck Karl 215f Grundgeyer Hans 23f, 27, 77, 97, 300, 307, 331 (Foto), 343, 844, 898 Grundgeyer Guido 876f Grüner Karl 32f, 186, 257 Grünfeld Alfred 72 Grunn Eduard 604 Grünn Johann 186 Grunn Maria 604 Gumpoldskirchen 18, 209, 354, 686 Gunhold Leopoldine 894 Gunhold Othmar 556 Gunkel Heinrich 871 Günselsdorf 242, 524, 694 Günther Franz 691 Gürtler Hans 510f Gutmann Käthe v. 229f Gutschke Alfred 79ff, 85, 245, 317, 374, 512, 517, 532f, 536, 541, 546, 580f, 596, 602f, 617, 627, 773ff, 795, 801, 875, 899, 929 Györi Wilhelm 380, 389 H Haas Anton 943 Haas Ludowika 689 Haas Magdalena 616 Haberl Emmerich 24 Habermann Hermine 193
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Personen- und Ortsverzeichnis
Habres Anton 247 Habres Leopold 377f Habsburg Otto v. 408 Habsburg Wilhelm v. 909f Habsburg-Altenburg Karl Albrecht v. 910 Hacker Kurt 214 Hackl Ingeborg 826, 836, 891 Hagl Franz J. 114 Hahn Helmuth 203 Hahn Julius 28, 31, 48, 77, 90, 116, 165, 176, 203, 239, 303, 501, 510, 899, 928f Haid Ferdinand 430 Haidner Ferdinand 84, 257f Haim Laura 226 Haim Jacques 226 Haim Josefine 372 Hain Karl 576 Hainzl Hans 522 Hajda Franz 172, 179, 240, 290, 292, 371, 504ff, 514, 516, 528, 534, 580f, 597, 600, 627, 631, 633, 652, 728, 742, 807, Halbe Max 424 Halledauer Margarethe 100 Hallenstein Johann 31 Haller Erwin 18f Halmar Hans 137 Hamberger Franz 322 Hameter Konrad 167 Hammer Robert 110, 166, 440ff, 820f Hammerer Eduard 659 Hammerschmidt Hermine 292, 602, 738 Hammerschmidt Josef 409f, 444, 601f, 617, 735ff, 844, 867 Hampel Fritz 370f Hampel Leopoldine 370f Hanak Andreas 171f, 354, 922 Hanak Josef 439f Hanak Theodora 922 Hanauska Hans 758ff, 857 Hanay Erich 853 Hanay Franziska 853 Hanczl Anton 47 Handlos Aloisia 612 Handlos Antonia 612
Handlos Josef 612 Handlos Rudolf 255 Hanisch Wilhelm 175 Hansy Hubert 616 Harner Karl 141, 439 Hartl Franz 203 Hartl Karl 250 Hassfurther Lore-Lotte 288 Haselsteiner Richard 429, 943 Hasenöhrl Johann 906 Hasl Friedrich 521 Haslinger Eduard 200 Haslinger Elfriede 796 Haslinger Friedrich 229f Haslinger Johann 556 Haslinger Konrad 796, 803 Hauck Julius 429 Hauer August 62, 71, 438, 705f, 852, 891, 897 Hauer Julia 62, 437, 709, 801, 869, 879 Hauer Ruth 197 Hauer Willibald 197f, 729 Haun Käthe 549 Haun Kurt 92, 124f, 185, 383, 387, 549, 645, 719 Hauschulz Josef 146, 585, 713 Häuser Emil 146 Hauser Margarethe 619 Hautmann Rudolf 198 Hawel Konrad 161 Haydn Hermine 282 Haydn Matthias 844 Haydt Robert 827 Hayer Josef 108 Hebenstreit Martha 920 Hecht Johann 43 Heiligenkreuz 87, 90, 106, 186, 243, 245, 709, 787, 808, 882, 902, 942f Heilegger Anton 265, 707 Hein Rudolf 190, 297, 649f, 737 Heinrich Mathe 873 Heinz Friedrich 20f Heitzer Josef 17, 29, 78f, 83, 85, 107, 184,
Personen- und Ortsverzeichnis
207, 306, 580, 609, 627, 763f, 834f, 914, 926, 929 Helmling Isabella 839 Helpap Ferdinand 871, 881f, 884, 898 Hendrich Marie 259, 278, 461f, 563f, 594, 647, 764, 878, Hentschl Wilhelm 88f, 254, 306, 940 Hermann Anton 265, 355, 707 Hermann Gustav 542 Hermann Hans 19, 172, 174ff, 180, 231, 285, 332 (Foto), 343, 446ff, 514, 522, 624ff, 688, 717, 756, 768 Hernleithner Ernst 763 Hernstein 942f Herzog Frederike 292, 601ff, 608, 636 Herzog Josef 601 Hesele Hans 361 Hesele Leopoldine 616 Hess Edmund 77, 105, 158, 343, 451, 461, 655, 671f, 741, 841, 844, 940 Hess Elfriede 461 Heß Rudolf 321, 411 Heußeshoven Frieder 889 Heyder Ali 85 Hendrich Marie 259, 278, 461f, 563f, 594, 647, 764, 878 Heydrich Reinhard 85 Heyschl Erna v. 830f Hicke Rudolf 219 Hiden August 135, 927 Hiedl Karl 194 Hilgarth Robert 26, 29f, 305, 523, 526 Hilke Grete 697 Hillebrand Anton 745 Hinger Alois 556 Hinterbrühl 731, 811 Hirschfeld Leopold 363f Hirschmann Stephanie 792f, 795, 911 Hirtenberg 227, 639, 694, 738, 765, 800, 805, 888, 942f Hlavacek Helene 409, 638 Hlavati Josef 98 Hnup Herta 724 Hochbaum-Schmid Ladislaus 619
Hochstöger Erich 520 Hofbauer Josef 596 Hofbauer Viktor 51 Hofer Ferdinand 201, 240 Hofer Walter 157 Höffler Josefa 364 Hoffmann Katharina 663 Hoffmann Norbert 811 Hofians Johann 80f Höfinger Konrad 163 Höfle Karl 36, 185f Höfler Karl 479 Hofmann Josef 343, 844 Hofmüller Josef 196, 581 Höfner Othmar 81 Höld Karl 77 Holezius Theodor 167, 779 Holfelder Hans 160 Holfelder Sophie 160 Hollabrunn 89, 563 Holler Ernst 98 Holler Georg 808 Holler Josef 133 Holly Julia 793f Holly Karl 201, 793ff Holub Leopold 719 Holubar Anna 802f Holzer Adolf 24, 295 Holzer Anton 344, 511, 581 Holzer Berta 686 Holzer Ernst 507 Holzer Julie 294f Holzer Robert 570 Hölzl Josef 71 Homann v. Herimberg Emil 247 Hönig Marianne 660 Hopfinger Alois 758 Hörbinger Leopold 265, 707 Horn Johannes 372ff Horny Georg 284 Horny Maria (geb. Cafourek) 284, 885 Horvath Peter 259 Horvath Stefan 675 Horwarth Theresie 675
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Personen- und Ortsverzeichnis
Höttl Rudolf 343 Hrusa Arnold 23 Hruscha Karl 36 Huber Johann 195 Hübl August 192 Hübl Ludwig 78 Hübner Josef 146 Hueber Elisabeth 650f Hueber Leopold 650f Humm Anny 639f Hummel Max Otto 702f Huppert Wilhelm 222 I Igler Anton 230 Ille Herbert 715 Imenzer Hedwig 364 Ingwer Adele 54ff Ingwer Charlotte 469 Ingwer Chaskel 469 Ingwer Heinrich 55f Ingwer Issak 55f Ingwer Ludwig 54f Innitzer Josef 70, 404f Innsbruck 95, 694 Imre Felix 265, 707 Ismay Dorothy Ladas 744f Ittmann Elfriede 859f Ivanovic Toma 760 J Jacobi Therese 379 Jäger Josef 181, 343, 578. 844 Jäger Roman 22f Jahnel Ernst 586, 588 Jahnel Hermine 160 Jakob Josef 731 Jakob Maximilian 195 Jandl Leopold 377f Janicek Otto 714 Janiczek Karl 101 Janisch Hermann 149, 216, 438, 940 Janisch Julius 77 Jarunek Anna 657
Jeitschko Ignaz 517ff, 940 Jellinek-Mercedes Leopoldine 211, 367 Jellinek-Mercedes Raoul Fernand 211, 367, 376 Jennersdorf 173 Jesser Curt 557 Jezek/Jeschek Herma 642 John Ernesto 503 Jolles Ida 469 Jolles Josef 469 Jülg Hermann 389 Jung Karl 86 Jung-Steidl Erika 880 Jury Hugo 110f, 127, 140, 145, 158, 173, 180, 325, 345, 360, 372, 387, 396, 404, 419, 423, 426, 450, 458, 482, 485, 490, 539, 565f, 582, 607, 671, 681, 683, 685, 693, 768, 770, 779, 814, 817, 827, 845, 863, 865, 879, 929 Just Anton 893 Justitz Siegfried 76, 107, 154 K Kager Rudolf 762 Kainz Eduard 91 Kainz Ernst 91f, 228f Kairies Gertrud 697 Kaiser Guido 21 Kalman Friedrich 207 Kaltenbrunner Ernst 85, 110 Kaltenegger Hans 521f Kammer Alfred 574 Kampf Karla 615 Kappert Hildegard 920 Karas Oskar 631f, 637 Karger Paul 252, 895 Karlau 368, 524 Karoly Hersie 675 Karoly Johann 675 Karoly Maria 675 Karras Ludwig 85, 216, 305 Karthaus Hans 757f Kaspar Josef 742 Kassecker Johann 890
Personen- und Ortsverzeichnis
Katz Rosa 229, 382 Katzer Martha 609 Katzer Stefanie 229 Kaufer David 375 Kaufer Frederike 375 Kenedi Ernst 207 Kerber Reinhold 750 Kernstock Norbert 171, 179, 188, 807 Kiefhaber-Marzloff Helli 250 Kiefhaber-Marzloff Richard v. 31, 249f, 408 Klampfl Franz 556 Klar Bernhard 207 Klar Hermine 596 Klausen-Leopoldsdorf 102, 150, 186, 242, 765, 807, 890, 942f Klein Emmerich 343 Klima Karl 32, 852f Klingenbeck Fritz 423, 585 Klinger Alois 17, 33, 36f, 52, 56ff, 78ff, 80, 88, 127f, 154, 174, 176, 178, 236, 250, 292, 340 (Foto), 374, 528f, 601f, 615, 625f, 662, 722, 729f, 733, 769, 771ff, 776, 798, 811f, 875ff, 882ff, 912, 915ff, 925, 930, 933 Klinger Franz 31, 154 Klisowska Stanislawa 55f, 906, 925 Klisowski Heinz 24, 54ff, 906 Klose Karl 102, 195 Kloss Alphons v. 250 Kloss Karl v. 411 Kloss Maria-Theresia v. 250 Kloss Rainer v. 21, 31, 94, 411, 910 Kluger Rudolf 226, 654 Kienl Maria 668 Kinsbrunner Josef 220 Kiss Ladislaus 265 Kitschelt Lothar 356 Knobl Franz 370 Knobl Hermine 370 Knobloch Walter 697 Knoppek Leopoldine 261 Knotz Franz 859 Knotz Karl 58 Knotzer Norbert 364, 848
Kobale Hertha 104, 904 Kobbe Hermann 458 Kobbe Ruth 458 Kober Rene 513 Kobl Alfred 632 Koch Bruno 107 Koch Charlotte 638 Koch Eugen 633 Koch Friedrich 839 Koch Gerda 839 Koch Georg 17, 82ff Koch Josef 242 Kochwasser Emmerich 78, 343, 844 Koczan Margarete 109 Köfer Adolf 111ff, 194, 554, 822 Köfer Friederike 295 Kohl Bruno 47 Kohl Josef 731 Köhler Elisabeth 604 Köhler Josef 604 Kohlert Karl 117 Koisser Robert 574 Kolar Gustav 260 Kolba Ernst 265 Koller Armin 31 Koller Karl 616 Kollisch Eva 63, 208, 212f, 223, 277, 467, 468, 620, 938f Kollisch Margarethe 208 Kollisch Otto 208 Kollmann Josef 31f, 60f, 73f, 77, 80f, 87, 91f, 110, 114, 116ff, 132, 141, 145ff, 165, 211, 235ff, 260, 263, 266, 268, 292, 345, 412, 415, 421, 426, 430, 443, 448f, 455, 482, 509ff, 664f, 667, 714, 725f, 736, 860, 895, 911, 917, 929, 936 Kolm Franz 700 König Alfred 859 König Walter 138, 444, 473 Kopetzky Franz 30, 81, 321, 624 Kopf Hannes 175, 358ff, 395 Kopp Friedrich 546 Koppel Paul 250 Korutschka Karl 308f, 654
967
968
Personen- und Ortsverzeichnis
Kos Antonia 615f Koschitz Ferdinand 43 Koschitz Karoline 438 Kosmath Walter 480, 711 Kostial-Zivanovic Heinrich 543 Kottingbrunn 265, 462f, 606, 707, 765, 797, 807, 888, 941, 943 Kouff Karl 357, 662 Kowarik Rudolf 153f Kozdas Elisabeth 646 Kozdas Otto 646 Kozeluha Otto 202 Kracker-Semler Sepp 743 Kraft Leopold 823 Kragler Hans 754 Kragler Josef 45, 256f Krailler Leopoldine 809 Krancic Marie 660 Kranebitter Friedrich 299 Kranl Johann 458, 555 Kranzl Gustav 439 Kratochwill Andreas 368, 523f Kratochwill Leopold 591f Kraupa Fritz/Friedrich 160, 628f, 630f Kraupa Johanna 629 Kraupa Josef 694 Kraupp Josef 60, 78, 141f, 214, 483 Kraupp Josefine 142 Kraus Friedrich 201 Krause Emil 697f Krauskopf Maria 301 Krauszler Klothilde 638 Krebs Hermann 85f, 729, 834 Krebs Max 852 Kreidl Hermann 845 Kremla Richard 126, 563 Kremmel Rudolf 186 Kresse Rudolf 192 Kritzendorf 159 Krivka Franz 273 Kriwaczek Martha 370f Krois Emil 924 Krojer Franz 888 Krojer Marie 888
Kroll Karl 145, 425, 793 Krombas Alfred 910 Krombas Josefine 910 Krpetz Rudolf 77, 117, 119, 236 Krüger Herbert 96, 393 Krupp Arthur 417 Krzyzanowski Alexander 804f Kubesch Gabriele 921 Kugel Friederike 505 Kugel Leo 505 Kühn Hugo 108 Kulcsar Stefan 242 Kulmann Rudolf 798 Kümmel Barbara 763, 808f Kümmel Otto 762f, 808f, 857 Kunter Ingeborg 719 Kunwald Gottfried 212 Kurtics Richard 77, 266f Kurz Karl 252 Küttlas Franz 27 Kwasniofsky Karl 190, 649f, 737 L Lackenbacher Ida 508 Lackenbacher Rudolf 107, 508 Lackenbacher Siegfried 107, 207 Lackinger Ludwig 93, 153f, 312, 353, 364, 416, 431, 433, 570, 603, 618, 633 Lakowitsch Karl 918 Lammer Andreas 439f Lanca Kurt 546 Lang Fritz 759 Lang Hans 75, 78, 97, 116, 141, 157, 332 (Foto), 343, 415, 423, 844, 906 Lang Johann 30f Langendorf Paula 638 Langer Alfred 274 Langer Emmo 163, 167 Langer Josef 899 Laschitz Elisabeth 810 Lassner Friedrich 408 Lautenschläger Gustav 356, 819 Lautenschläger Milla/Emilie 355f, 616 Laval Franz 121, 143, 507, 733
Personen- und Ortsverzeichnis
Lavalle George 803 Laxenburg 95 Le Borg Reginald 372f Lederer Walter 136 Leeb Antonia 514 Leeb Ernst 31, 514 Leeb Felix 519 Lechleitner Hans 888 Lehne Heinrich 240 Lehner August 203 Lehner-Wohlfahrt Franz 97 Leichtfried Franz 501f, 576, 608f Leimer Hans 618 Leiner Otto 714 Leinich Ludwig 168 Leiss Walter 104 Leistner Karl 226 Leitner Hans 717 Leitner Robert 102 Lemberger Barbara 369 Lemberger Erich 31 Lemberger Eugen 369 Lenardin Karl 190, 792 Leobersdorf 159, 254, 265, 276, 524f, 707f, 722, 766, 800, 880f, 888, 942f Leopold Josef 162f, 166 Lepisch Ludwig 872 Lepisch Vinzenz 874 Lesjak Luise 701f Leutgeb Leopold 98 Lewandowksi Josef 31, 99 Lewandwski Rudolf 881ff, 889, 898 Leuchtag Alfred 605ff, 639 Leuchtag Karoline 605ff, 638f Lexa Otto 888 Leyerer Theodor 30f, 523, 625f, 692 Liesing 159 Lindner Arthur 115 Lindner Valentin 243 Lintner Franz 234f Linz 23f, 97, 99, 176, 300, 371, 857, 891, 929 Linz Marie 295 Lischka Walter 203
Lissau Robert 910 Löberbauer Franz 523 Lodz 625 Lohbauer Georg 301 Lohbauer Hermine 301 Lohner Alexander 34, 181, 648 Lohner Eugen 838 Lohner Gisela 706 Loibl Hans 115 Lounek Albert 202 Löw Hans 36, 77, 117, 236f, 246, 345, 415, 492f, 539, 560, 772, 798, 810, 844, 899, 911, 930 Luckmann Viktoria 272, 285, 940 Lukas Anna 894 Luksch Wilhelm 481 Lutz Eduard 754 Lutzmannsburg 873f Lux Robert 242 Lux Paul 92 Lux Robert 242 M Magloth Anton 83 Magloth Karl 649, 651 Mahlendorf Annemarie 890, 897 Mahlendorf Elfriede 669f Mahr Rudolf 741f Maier Anna 647 Maier Franz 265, 707 Maier Josef 647, 859f Major Mira 759 Malaniuk Wilhelm 31, 77, 90ff Malina Franz 31 Malina Leopold 370 Maliwa Edmund 480 Maly Trostinec 52, 230, 611 Mandl Olga 19, 582f Mandl Wilhelm 19 Manhalter Josef 343, 941 Manke Karl 688f Mann Hans 824 Mansch Therese 638
969
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Personen- und Ortsverzeichnis
Marcus Richard 175, 231, 601, 624ff, 638, 851 Marcus Rosa 175, 231, 601, 616, 624ff, 638, 851 Marek Josef 115 Maresch Guido 294 Martinek Johann/Hans 34, 307, 578f, 583 Martschini Wilhelm 477f Masak Marie 737 Massinger Leopold 570 Matulke Otto 375, 383 Mauer-Öhling 663f, 657 Maurer Gertrud 20, 24, 62f, 67, 69, 71f, 75, 96, 133, 152, 214, 276, 288, 296, 315, 318, 340 (Foto), 365, 391ff, 397f, 412, 417, 434, 453, 465f, 472, 531, 540, 543, 695, 705f, 709, 713, 746, 767, 784, 787, 814, 826ff, 832, 836, 857, 860, 863, 868f, 872, 879, 886ff, 891, 896, 936ff Maurer Johann 37 Maurer Katharina 33 Maurer Leopold 525 Maurer Rudolf 62, 71, 935, 937 Mauthner Herbert 427, 562f Mayer Arthur 34 Mayer Benno 52 Mayer Gabriele 51f Mayer Hans 49, 81 Mayer Heinrich 52 Mayer Josef 202, 872 Mayer Karl 160 Mayer Leopold 82, 184, 729 Mayer Ernst Leopold 193 Mayer Max 105 Mayer Otto 28, 354 Mayer Sepp 110, 443, 820ff Mayer-Ketschendorf Irma 368 Mayerling 323, 457, 561, 642 Meisel Paula 55 Meissner Hans jun. 15, 22, 42, 60ff, 96, 99, 101, 104, 120, 142, 189, 208, 214, 224, 270, 275, 300, 340 (Foto), 465f, 472f, 531, 550, 553ff, 569, 585ff, 594, 818, 930, 935ff
Meissner Hans sen. 137ff, 473, 553 Meissner Heimo 15, 67, 155, 275, 912 Meixner Franz 260 Meixner Josef 943 Meixner Robert 222, 506 Meixner Rudolf 736, 750 Mels-Collorede Emmy v. 320 Mels-Colloredo Isabella v. 320 Mende Walter 318 Mentasti Alois 260, 848 Merzl Franz 238 Meth Barbara 608f Meth Max 608f Michalek Robert 160f, 435 Mikulovsky Josef 116, 429, 446, 927 Mikunda Albine 611f Mildner Josef 873 Mildner Rolf 186 Milrom Marcell 223 Milrom Regina 223 Milrom Szame 223 Misslitz (Miroslav) 92 Mistelbach 101, 508, 564 Mitacek Paul 894 Mochal Johann 392 Modena Friedrich 31, 77, 860 Mödling 59, 159, 161, 187, 197, 238, 608, 686, 705, 723, 729, 731 Mohl Karl 76f Moidl Franz 30 Möllersdorf 184, 265, 316, 707 Mollik Roland 844 Monetti Robert 574 Mosauer Karl 385 Morgenstern Ernst 31 Mörl zu Pfalzen Anton v. 920 Moser Hans 714 Moskaisk 544 Mücke Josef 797 Müller Johann 943 Müller Ludwig 844 Müller Raimund 547, 643f, 714 Müller Richard 21, 132f
Personen- und Ortsverzeichnis
N Nachtnebel Christine 830 Nachtnebel Friedrich 829f Nachtnebel Maria 829f Nachtnebel Marie 906, 925 Nachtnebel Rosalia 645f, 925 Nachtnebel Theodor 26, 85, 137, 646, 906, 925 Nagl Leo 297 Nathan Lotte 214 Neff Josef 885 Nemetz Roman 725 Nemetz Walter 723ff, 730 Neu-Isenburg 176 Neumayer Josef 36 Neunkirchen 159, 564 Neustädter-Stürmer Odo 406 Neweklovsky Gustav 369 Neweklovsky Helene 369 Newlinsky Hermine 603f Nigl Josef 423 Nikolsburg 100, 188, 261 Nothnagel Heinrich 106, 292f, 395 Nothnagel Helene 293 Novak Hermine 846, 924 Novotny Rudolf 24 O Oberlanzendorf 59, 850 Obernhuber Franz 354 Odessa 814 Oedenburger Alice 52 Oedenburger Barbara 52 Oedenburger Gerda 52 Oedenbruger Grete 52 Oedenburger Helene 52 Oedenburger Moritz 52 Oedenburger Rosa Oedenburger Sarah 51 Oedenburger Terza 52 Oeynhausen 172, 593, 694 Opavsky Franz 31 Ortmann Franz 160, 267f Osel Erwin 26, 408
Oswald Margarethe 910 Ott Alois 429, 750, 943 P Paix Michael 911 Paky Elise 354 Paleczek Alexander 160, 448ff Pandak Leopold 821f Pansky Karl 265, 707 Pasetti Marie 850 Paugger Rudolf 647 Paukner Emil 435 Paukner Olivia 435 Pauler Ferdinand 126, 563 Pavelka Franz 31 Pavelka Liselotte 100 Pawel Anni 357 Pawel Eugen 357 Payer Charlotte v. Thurn 380f Payer-Thurn Helene 380f Payer-Thurn Rudolf Ritter v. 380 Payerbach-Reichenau 408 Pazdersky Josef 459 Pazeller Karl 77 Pecnik Albin 427 Peischl August 31 Penzig-Franz Lisa 407 Perchtoldsdorf 100, 159 Perger Johanna 352 Perz Josef 416 Peta Albin 430 Peters Emma 215 Petrakowits Alois 592 Petsche Josef 368, 645 Peyer Franz 670f Peyer Herma 670f Pfaffstätten 179, 201, 265, 284, 414, 436, 465, 480, 545, 593, 660, 675, 688, 693, 764, 792, 891, 898, 901, 906, 941, 943 Pfeifer Karl 63, 208, 213, 468, 620, 623, 708, 716, 854f, 864, 909, 937f Pfeifer Karl 674 Pfeifer Margit 469f Pfeiffer Antonia 922ff
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Personen- und Ortsverzeichnis
Pfeiffer Emil 18f, 77f, 314, 330 (Foto) 345, 899f, 929f Pfeiffer Karl 17, 28, 35, 675, 922ff Pfeiffer Wilhelm 255, 383 Pfleger Franz 160, 559 Philipp Kurt 280 Pichler Therese 615 Pigler Johann 412 Pilz Adolf 17, 31, 87, 106, 123f, 236, 240 Pilz Auguste 124 Pillhofer Gustav 31 Piron Eduard 515, 525 Ploss Anton 31 Pluschkowitz Georg 663 Pöck Gregor 90 Podobsky Adelheid 548 Podobsky Alois 548 Podobsky Karl 548 Podobsky Otto 204, 548 Pois Ernst 608, 686 Polar Edith 224 Pollach Albert 637 Pollach Berta 637f Polsterer Johann 524ff, 566 Polzer-Hoditz Arthur v. 247, 251 Pomianek Josef 606 Ponsold Margarete 651 Ponstingl Hans 87, 90, 116, 125, 145, 171, 173f, 179, 188, 219f, 272, 305f, 309, 322f, 332 (Foto), 344, 384, 388, 409ff, 442, 450, 500, 635, 528, 768, 940 Ponzen Berta 377f Popp Franz 273 Posamentier Rudolf 523 Posiles Hans 613f, 894 Posiles Ludwig 613f Posiles Walter 613f Pospischil Anna 287 Postl Richard 357 Potier Raymond 802f Pottendorf 150, 159, 243, 429, 735, 750, 807, 942f Pottenstein 429, 707, 942f Pottschach 159
Prantl Wilhelm 875 Prastorfer Wilhelm 376, 940 Prechtl Anton 693 Prechtl Elisabeth 291 Prechtl Josef 77, 921 Preinsfeld 555, 902 Preisz Ludmilla 376 Pressbaum 159 Pribyl Johann 58 Prim Leopold 242 Prokopetz Grete 285, 584 Prokopetz Hans 285 Prunbauer Walter 312 Pöhnl Hermann 30 Pürgy Josef 371 Pürgy Therese 371 Pürringer Maria 46 Putz Richard 77 Q Querner Rudolf 743 R Raab Emil 508 Rademacher Franz 86 Rado Ignaz 31 Raisenmarkt 106 Ramberger Josef 554, 605 Ramm Rudolf 360 Rampl Anton 343, 434 Rampl Karoline 369 Rampl Rudolf 343 Rampl Therese 802 Ramsau 105, 630, 668 Ranftler Paul 624ff Rapaport Jakob 302f Rapaport Hans M. 302f Rappel Franz 186, 310 Rath Johann 192, 242 Rath Josef 192 Rasser Benedikt 688f, 786 Rauch Anton 120f Rausch Florian 644 Rausnitz Cilli 25
Personen- und Ortsverzeichnis
Rausnitz Jenny 25, 224 Rauter Hanns Albin 168 Rautek Franz 736f Ravensbrück 615, 639f Rechinger Josefine 648 Recknagel Rosalia 809 Rehling Franz 168 Reich Franz 81 Reichspfarrer Alois 246 Reiffenstuhl Walter 78, 104, 140, 331 (Foto), 343, 844 Reinöhl Friedrich/Fritz v. 181, 240, 251, 292f, 308, 369, 439, 450f, 505f, 600, 627, 633, 655, 837, 844, 867, 878, 898, 917, 943 Reinthaller Anton 165f Reisenberg 765, 942f Reisnger Susanne 851, Reisz Ludwig 24, 31 Renner Karl 70, 373, 726 Rentmeister Walter 162f Reschny Hermann 31, 186, 899 Resnitschek Georg 101f, 195f, 236, 873 Reumüller Leopold 378, 507, 691f, 700 Richter Olga 610f, 637 Richter Viktor 207 Rieckel August alias Harald Bratt 574 Riegler Heinz 184 Riehl Walter 159f Riess Anton 266, 268 Ringler Sepp 100, 184, 213, 250f Rodenbücher Alfred 168 Robert Rudolf 633 Roigk Hugo 370 Romstorfer Franz 244 Röschl Franziska 59, 195, 292, 602, 605 Röschl Robert 59f, 126, 937 Rosenbaum Wilhelm 107 Rosenberg Alfred 483 Rosenfeld Heinrich 31 Rosenits Alois 918f Rosensteiner Franz 22, 26, 29f, 36, 84, 302f, 873 Rosenthal Ottilie 507
Rosenthal Paul 507 Rosler Moses 224 Rosler Salomon 224 Rosna Elisabeth 622f Rosna Franz Jakob 223, 623 Rosna Walter 49, 192, 623 Rosner Arthur 222 Rosner Augustine 222 Rösner Eduard 460 Rossmann Karl 876, 898 Rosta Leopold 242 Rostov 542, 557 Roth Eugen 714 Roth Georg 105 Roth Ludwig 151 Rothaler Adele 56 Rothaler Alois 381 Rothaler Franz 844, 873f Rothaler Friedrich 56 Rothaler Helene 407 Rothaler Josef 44 Rothaler Maria 769f Rothaler Maximilian 59f, 74, 78, 106, 164, 180, 194, 209, 216, 239, 268, 302, 343, 384, 635, 644, 733, 767ff Rottenberg Aurelia 906f Rottenberg Franz 30f, 906f Rotter Arthur 439 Rotthaler Franz 260 Rubel Leopoldine 374f Ruby Edith 280 Rudolph Alfred 861ff Rudolph Rosa 861ff Rupprecht v. Virtsolog Carl 37, 78, 87, 116, 124ff, 192, 931 Rupprecht Karl 278 Rustler Michael 342 S Sacher Carl 210 Sacher Karoline 210 Sack Edmund 242 Saliger Rudolf 163
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Personen- und Ortsverzeichnis
Salzburg 82, 84f, 112, 126f, 146, 159, 167f, 317, 507, 848, 849, 890, 920, 935f, Sammerhofer Karl 79, 82, 217, 272, 309, 311, 318f, 321ff, 527f Sammerhofer Gertrud 318 Sänger Franz 894 Saphier Moritz Gottlieb 72 Sarabia Josef Pirro 454f Satre Franz 31 Sattelbach 186, 621 Schabes Alfred 27 Schabes Friedrich 27 Schabes Joseph 103, 213 Schabes Lotte 27 Schabes Regina 27 Schachinger Rudolf 272 Schalich Kuno 427, 563 Schallmayer Friedrich 264 Schandl Rudolf 93 Schano Josef 617f, 620 Schanzer Karl 234f Schanzer Michaela 234f Schaschko Leopold 168 Schauer Johann 126 Schawerda Rosa 852 Schawerde Franz 396 Scheerer Johann 304 Schefzig Franz 847 Scheiner Hans 440ff, 588 Schelle August 84 Schemel Rudolf 69, 97, 317, 331 (Foto), 343, 579ff, 844 Scherer Adelheid 719 Schermann Johann 873 Scherz August 130 Schey David 219 Schey Frida 219 Scheywanek Johann 308f Schiemer Franz 556 Schierach Gerda 830 Schierach Sofie 830f Schilcher Anton 31, 35, 77, 116 Schilck Eduard 202, 810, 899 Schimana Walter 743f
Schimmel Ernst 887 Schirach Baldur v. 127, 198, 276, 458, 498, 505, 547, 575, 696, 819 Schirmböck Hans 190 Schlager Josef 78, 321, 438, 502, 923f Schleiss Fredericke 634 Schleiss Rosa 198 Schlenz Herbert 92 Schlesinger Friedrich 812 Schlesinger Wilhelm 427 Schlick-Bolfras Vilma 77 Schliefelner Thomas 243 Schlösser Rainer 498 Schmahl Gisa 224 Schmid Ernst 372f, 612, 638 Schmid Franz (HJ) 274 Schmid Franz 16, 19, 37, 50, 57, 60, 72f, 77, 110f, 116, 119, 133, 140, 156ff, 187, 195, 236, 239, 255, 272, 330 (Foto), 332 (Foto), 365f, 387, 416, 426, 429, 438, 449, 560, 579, 603, 693, 712, 733ff, 772f, 898ff, 927ff Schmidt Josef 24, 27, 29, 943 Schmidt Robert 77, 375 Schmidt v. O’Hegy Theobald 251 Schmidtleitner Rosa 670 Schmidtleitner Rudolf 670 Schmied Jaro 143f Schmutzer Anna 382 Schmutzer Friedrich 382 Schnabel Leopold 576 Schneider Marie 796, 803 Schnötzinger Johann 78, 80 Schobel Martin 249 Schön Johanna 893 Schönau a.d. Triesting 150, 173, 243, 428, 524, 657, 670, 694, 766, 942f Schönfeld Marie 376 Schönberg Elfriede 633 Schönberg Josef Kurt 633 Schönberg Kurt 633 Schönberg Karoline 633 Schönfeld Walter 364, 603 Schöngut Samuel 383
Personen- und Ortsverzeichnis
Schönmann Jakob 34 Schopf Julius 344 Schrantz Franz 692 Schreiber Franz 77, 130 Schreiber Hans Joachim 34f, 773 Schreiber Karl 824 Schüch Gaby 213 Schuloff Johann 222, 637f Schuloff Klara 637f Schulz Karl 160f Schulz Franz 510 Schumits Leopold jun. 627, 726ff, 730, 857 Schumits Ludwig sen. 726ff Schütz Ferdinand 160 Schuster Clemens 93f, 378, 508, 528, 844 Schwab Hannelore 467 Schwabl Alois 32, 108f, 133, 230, 301, 796 Schwabl Franz 77, 860 Schwabl Leopold 108 Schwabl Rudolf 25, 32ff, 81, 195, 390, 767, 772ff, 814, 929 Schwarz Alma 293, 376 Schwarzmann Franz 98 Schwarzott Karl 194 Schweinberger Josef 684 Schwenk Otto 542, Schwertführer Karl 17, 451f Seehof Wilhelm 186, 274, 850 Seidel Adolf 545 Seifert Hans 262 Seiko Marianne 385 Seiko Viktor 385 Seiler-Tomann Anna 219 Seiler Bernhard/Armand 217, 219, 603, 637f Semmering 106 Sewera Elisabeth 215 Seyk Adalbert 77, 502 Seyß-Inquart Arthur 22f, 99 Sgalitzer Oskar 31, 107, 722 Siebenbürgen 75, 176 Sieber Heinrich 171f Siegenfeld 186, 242, 810, 818, 882 Siegmund Anton 512 Siegmund Taussig 107
Sigmund Karl 304 Sigmund Rudolf 73, 80, 511f, 899 Sima Gustav 774, 851 Singer Ambros 439 Sinzinger Johann 894 Sittendorf 811 Skoda Rudolf 798 Slansky Josef 873 Slawik Marie 458 Slawik Michael 458 Slawitsch Josef 378f Smolar Alois 874f Sofer Richard 108 Sommer Friedrich 617, 874 Sooß 237, 260, 294, 593, 848 Sperl Michael 650 Spielmann Anna 379 Spielmann Hugo 224 Spielmann Ignatz 734 Spielmann Jelle 734 Spitzer Johann 160 Spitzer Samuel 207 Spörk Josef 199 Spörk Karl 382 Spörk Martin 943 Srnka Elise 575, 735 St. Corona am Schöpfl 766, 942, 943 St. Konrad 869 St. Margarethen 887 St. Pölten 158, 186, 239, 762, 787, 808, 857, 895 St. Veit 941, 943 St. Veit a.d. Gelsen 103 Stach Julius 386ff Stadelmann Josephine 516 Stagl Marie 890 Stalino 590 Stambach Fritz 31 Stanzl Alfred 873, 848, 943 Starhemberg Rüdiger v. 763 Starnberg Hedwig 33f, 606f, 639 Starnberg Rudolf 33f, 77, 257, 605ff, 616, 639 Stary Josef 657
975
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Personen- und Ortsverzeichnis
Steidl Adolf 266, 268 Steidl Karl 102 Steigner Heinrich 129, 894 Steiner Friedrich 31 Steiner Hermine 638 Steiner Ignaz 301f Steiner Rudolf 845 Steiner Sophie 301f Steinmayer Karl 894 Steinsberg Erich 24 Steinsberg Friedrich 24 Steinsberg Hugo 107 Steinsberg Marcus 24, 107 Steinschneider Karoline 638 Stellbogen Fritz Ferdinand 131 Steltzl Karl 755 Stelzer Josef 146 Stenowetz Hermann 168 Stenzenberger Michael 32, 82, 184, 344 Stern Johanna 773 Stiasny Sepp 220, 272, 940 Stiastny Walter 889, 891, 901f Stimmer Karl 215, 600 Stimmer Margarethe 215, 229 Stockhammer Josef 137 Stockhammer Rudolf 719 Stöhr Hermine 164 Stöhr Karl 132 Stoiber Josef 243 Stolzenthaler Leopold 116, 266 Stolzenthaler Traude 526, 528 Storch Liselotte 607, 727 Storch Maria 727 Storch Otto 727 Stoy Karl 186 Straninger Rudolf 714 Straschek Josef 718 Straßmayr Karl 163 Straßner Maximilian 609, 911 Straßner Valerie 609 Strauß Alice 469 Strauß Friedrich 469 Strecker Heinrich 819 Streckl Johann 193
Strebersdorf 873f, 876 Strengberg (Amstetten) 371 Stricker Rudolf 31, 77 Strohmayer Otto 26, 82, 186ff, 235, 305, 308, 323, 627, 742, 929, 941 Stubreiter Anna 792 Stuchlik Meinhard 203 Stumpf Anton 48, 431, 647f, 666, 676 Stumpf Stefanie 603f, 609 Suchenwirth Richard 160 Sulzenbacher Erika 607 Sulzenbacher Otto 31, 77, 97ff, 101, 236f, 278, 292, 510, 607, 628, 857 Sulzenbacher Walter 237, 628 Surjaninoff Maria 582 Surjaninoff Michael 582 Süß Stefan 838 Susak Anton 799 Swerak Seraphine 619 Swirak August 201f Swoboda Franz 383 Szedenik Georg 60 Szumovsky Hans 265 T Tajovski Ludwig 301f Tajovski Mathilde 301f Tamussino Thomas 171f Tattendorf 668, 942f Tauscher Ignaz 160f, 180 Teesdorf 28, 70, 102, 150, 242, 547 Teltscher Siegfried 27, 216, 527 Terndl Franz 77 Ternitz 159 Terzer Johann 666 Terzer Verosta 85 Theiner Karl 701 Theresienfeld 252, 705 Theresienstadt 26, 52, 54f, 175, 219, 502, 524, 548, 616, 624ff, 773 Thiel Franz 98, 921 Thüringen 177, 790 Tilp Anna 881, 903 Tilp Frederike 29, 729
Personen- und Ortsverzeichnis
Tilp Josef 28f, 31f, 729 Tinhof Therese 606f Todorovic Alexander 31ff Tögle Herta 659 Tokay Julius 194 Tökes Julius 810 Tomenendal Johann 31, 98 Tonko Johann 18 Totzauer Otto 31, 772 Toul 593 Toulouse 111 Trassdorf 849 Traunbauer Franz 751 Traxler Franz 259 Treblinka 219 Tremer Magdalena 445 Tremer Maximilian 444 Trenner Elisabeth 600, 626ff, 729f, 905 Trenner Franz 77, 255, 266f, 421, 510, 628 Trenner Hermann 626ff, 730 Trenner Josef 752 Trenner Otto 281 Trenner Walter 626 Treßler Richard 78 Tribuswinkel 36, 179, 370, 432, 480, 593, 715, 765, 785, 797, 804, 871, 898, 905f, 941, 943 Trilety Johanna 850 Trimel Jean 792f, 911 Trimmel Irmtraut 277 Tripin Rudolf 130 Tröstl Franz 885 Tröthan Adolf 548 Tröthandel Othmar 693 Trübau 98 Trumau 766, 892, 942f Tschögl Karl 181 Turba-Sieber Hermine 18, 602 Turza Walter 743 U Uhl Julius 180 Uhlik Karl 31 Uhlik Margarete 438
Uhrl Richard 797 Ullmann Johann 29 Ullrich Anton 184 Unden Karl 910 Ungar Rudolf 24, 229 Unger Johann 438 Unger Margarethe 438 Unterreiter Maximilian 244 Unterwaltersdorf 150, 220, 457, 807, 942f Urbanek Anselm 500f Ursin Karl 654 V Valenta Ettore 196 Vever Aurelia 846 Vilaghy Franz 875 Vock Franz 869 Vock Hans 253f Vöcklerbruck 899 Vogt Walter 896 Vojir Anna 665f Vojir Karl 665f Voll Robert 293, 395 Voller Hermine 603, 617 W Wachtler Walter 357ff Wagenbichler Alois 793, 848f Wagenhofer Lorenz 714 Wagner Viola 926 Waidhofen .a.d. Thaya 79, 175, 427 Waidhofen a.d.d Ypps 890 Waktor Bernhard 600, 602 Waldheim Kurt 48, 204 Waldmann Karl 297 Wallner Grete v. 251, Wallner Viktor 19f, 350, 601, 738, 859, 934f, 937 Walter Franz 160 Walter Josef 47 Walzhofer Leopoldine 56 Wanek Rosa 638 Wanzenböck Alois 429 Wasilewski Sophie 491
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Personen- und Ortsverzeichnis
Wasservogel Berta 622f Wasservogel Nathan 622f Weigl Friedrich 31 Weiland Katharina 458 Weiler Stefanie 726, 728f Weingrill Johann 31 Weinheber Josef 424, 714 Weinschenk Anton 844 Weintraub Franziska 369 Weiss Carl Friedrich 363 Weiss Johanna 505 Weiß Robert 859 Weissenbach-Neuhaus 227, 808, 886, 942, 500 Weitzel Fritz 893 Welz Josef 624 Welz Rosa 624, 851 Wendl Edmund 29f, 36, 185, 773 Wendl Fritz 31 Wendl Rosa 29 Wengraf Fritz 107, 214 Werba Erik 261 Werba Ludwig 70, 261, 860 Werner Ewald 635 Werner Franz 134, 601, 872, 880f Werner Josefine 634ff Werner Karl 634ff Werner Maria 601ff Wernhart Josef 243 Wessnitzer Josef 589 Wiche Albert 554, 556 Widl Marie 577 Wiedhalm Franz 210 Wiedl Alois 191 Wiener Neustadt 59, 62, 89, 92, 95, 99ff, 117f, 126f, 159, 167, 172, 236f, 239, 257, 299, 307, 439, 509, 511, 516, 563f, 609, 650, 669, 689, 704ff, 732, 741, 759, 810, 824, 829, 831, 835, 857, 881, 894, 896, Wiesend Kurt 113, 719, 822 Wieser Raimar 68, 275f, 303, 555f Wiesinger Franz 687 Wiesinger Leopold 800, 812 Wildner Josef 428
Wilhelm Rudolf 615 Wilhelmsburg 899 Willamowski Reinhold 357 Willner Eleonora 622 Willner Josef 620ff Willner Leo 314 Willsch Herman 512, 587, 589, 591 Wimmer Karl 893 Winkler Josef 733 Winkler Marie 733f Winzendorf 159 Wischau (Mähren) 357 Wiskocil Karl 26, 28, 95, 229, 323, 388ff Witt Gustav 146, 296 Witt Klothilde 296 Witzmann Rudolf 157, 171, 179, 648 Wjasma 544 Wlna Johann 651 Wochner Johann 439f Wochner Rudolf 439f Wohlrab Josef 50, 83, 116, 126ff, 141, 269, 317, 320, 323, 344, 348, 399ff, 416ff, 427ff, 433f, 436, 442, 458ff, 471, 490ff, 518f, 533f, 562, 580, 583, 674, 694ff, 710, 747, 772, 775, 778, 784, 788ff, 805ff, 811, 814ff, 825, 828, 840, 899, 929 Wohlschlager Ferdinand 31, 241 Wohlschlager Hans Wöhrer Hermann 708, 722 Wöhrer Margarethe 722 Woisetschläger Rudolf 19, 31, 77, 236, 264, 455 Wolf Maria 725 Wolff Bruno 509ff Wolkerstorfer Grete 869, 893, 902, 904 Wolkerstorfer Otto 439, 792 Wöllersdorf 26ff, 44, 85, 163, 172, 217, 256f, 263f, 267, 387, 445, 775 Woska Friedrich 92 Wostry Karl 616 Wottawa Aloisia 607 Wunderlich Walter 412 Wunsch Rupert 257, 562
Personen- und Ortsverzeichnis
Z Zagler Karl 660 Zagler Richard 316 Zahlbruckner Rudolf 779f Zahn Margarethe 425 Zallinger-Thurn Hans 370 Zanetti Karl 181, 754, 878, 943 Zänger Alois 19 Zauner Johann 355 Zazel Otto 130 Zech Hellmuth 526ff Zedwitz-Lichtenstein Olga Gräfin v. 657 Zeiner Ernst 16, 238, 510 Zelenka Roman 763 Zeller Carl 134 Zeller Karl 134, 389, 575, 605, 607, 627, 671, 735 Zeßner-Spitzenberg Hans Karl v. 247 Zeugswetter Karl 78, 411 Zeugswetter Viktor, 411 Zieger Friedrich 560, 570 Zieger Hildegard 398 Zieger Katharina 560f
Ziegler Ernst 191, 429, 441f, 444, 520f, 692, 828, 866, 881, 940 Zimmel Richard 224 Zimmermann Alice 385, 461 Zimmermann Alois 385 Zimmermann Franz 905 Zimmermann Roman 510 Zirps Alois 78 Zisser Hans 80, 184, 295, 304, 306ff, 465, 512, 517, 587, 589, 591, 654, 725, 898, 929 Zisser Marie 295 Zlabern bei Neudorf 101 Zöchling Josef 160 Zrost Hermine 648 Zrost Johann 648 Zrost Viktor 353 Zucker Herbert 115, 263 Zweymüller Carl 164 Zweymüller Ernst 920f Zweymüller Karl 439 Zwierschütz Josef 154
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Ich sage Danke
Das Buch entstand in einem Zeitraum von ungefähr fünf Jahren. In dieser Zeit haben mir mehrere Personen ihre Hilfe zukommen lassen. Für diese möchte ich mich bedanken. Zuerst danke ich für die problemlose Zusammenarbeit mit dem Rollettmuseum und Stadtarchiv Baden – hier vor allem meiner Vorgesetzten Frau Dr. Ulrike Scholda. Auch wenn ich dort beschäftigt bin, empfinde ich es nicht als Selbstverständlichkeit, das Archiv jederzeit aufsuchen zu dürfen. Genauso danke ich dem Landesarchiv Niederösterreich für die Beratung und für die Zurverfügungstellung verschiedener Archivalien – hier vor allem danke ich Herrn Dr. Stefan Eminger und Frau Mag. Martina Rödl. Dank gebührt ebenso dem Böhlau-Verlag. Aufgrund meines lockeren bisweilen flapsigen Schreibstils hätte ich ehrlicherweise nicht erwartet, dass ausgerechnet dieser Verlag sich meines Werkes annehmen würde. Hier vor allem danke ich Herrn Mag. Martin Zellhofer. Für die weitere Betreuung bedanke ich mich genauso bei Frau Mag. Celine Semenic und natürlich dem restlichen Team des Böhlau Verlags. Dank geht auch an die Familien Meissner und Maurer. Beide haben mir Dokumente ihrer Familien bereitgestellt. Ohne diese Quellen, wäre das Buch um einiges ärmer an alltäglichen und vor allem an ganz persönlichen Erinnerungen. Ein großer Dank geht an meine gute Freundin Frau Mag. Martina Hobik. Ehrenamtlich verbesserte sie sich durch hunderte Seiten, stand mir dabei mit Rat und Tat zu Seite und versuchte mit gleichzeitig das Demonstrativpronomen näher zu bringen, oder den Dativ, oder Konjunktiv I … Ich erwies mich dabei als sehr schlechter Schüler. Und last but not least – wie es die alten Merowinger immer zu sagen pflegten – gilt mein besonderer Dank meiner lieben Freundin Eva Meissner. Sie ist die einzige Person, der ich meine unkorrigierten Erstversionen zum Lesen gab, da mein Zugang, zur das deutsche Grammatik und Rächdschreipung, ein offenbar anderer ist. Von der Beistrichsetzung, will ich, gar nicht anfangen. Dass sie sich das angetan hatte, empfinde ich ebenso nicht als Selbstverständlichkeit – vielen lieben Dank dafür, du bist die Beste Freundin von Welt