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German Pages 302 Year 2022
Christian Garve Ausgewählte Werke
Werkprofile
Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Frank Grunert, Stefan Klingner, Udo Roth und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Stefanie Buchenau, Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow und John Zammito
Band 15.2
Christian Garve
Ausgewählte Werke
Band 2: De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium / Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört Lateinisch – deutsch Herausgegeben von Giuseppe Motta und Mischa von Perger
ISBN 978-3-11-074325-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074365-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074368-5 ISSN 2199-4811 Library of Congress Control Number: 2021932212 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Anton Graff: Christian Garve, Öl auf Leinwand, 62 x 52 cm, vor 1773 Universität Leipzig, Kustodie, Inventar-Nr. 1951:350
Inhalt Giuseppe Motta, Mischa von Perger Vorwort | 1
1 Essays Giuseppe Motta Ausgang aus der Metaphysik Die Wahrscheinlichkeitslehre von Christian Garve aus dem Jahr 1766 | 5 Mischa von Perger Christian Garves Wahrscheinlichkeits-Syllogistik | 29
2 Einführung und Text/Übersetzung Mischa von Perger Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift | 55 Christian Garve De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium/ Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört | 85
3 Rezensionen Anonymus Rezension zu Garves Hallenser Magisterschrift | 251 Johann Heinrich Lambert Rezension zu Garves Hallenser Magisterschrift | 255
4 Anhang Zeittafel | 263 Siglenverzeichnis | 267 Bibliographie | 269
VIII | Inhalt
Personenregister | 279 Sachregister | 283
Giuseppe Motta, Mischa von Perger
Vorwort Vom 16. bis zum 18. März 2017 fand am Institut für Deutsche Philologie der LudwigMaximilians-Universität in München die internationale Arbeitstagung Christian Garve (1742–1798). Philosoph und Philologe der Aufklärung statt. Unter der Leitung der beiden Organisatoren und Gastgeber Gideon Stiening und Udo Roth wurde in diesem Rahmen über die kulturelle, vornehmlich philosophische, philologische und publizistische Tätigkeit dieser durchaus wichtigen Figur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diskutiert. Die beiden Herausgeber des vorliegenden Bandes hielten auf der Tagung einen Doppelvortrag. Thema war die lateinische akademische Schrift, die der junge Christian Garve 1766 zur Erlangung des Magistergrades an der Universität Halle vorlegte: De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium (Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört). In diesen beiden Vorträgen wollten wir Aspekte und Argumente der logischen und allgemein philosophischen Reflexion, die Garve in jener Schrift anstellt, hervorheben und kommentieren. Nach ungefähr 250 Jahren konfrontierten sich somit zwei Interpreten mit einem Text, welcher de facto in der langen Geschichte der Auseinandersetzungen mit der Philosophie des 18. Jahrhunderts bisher nie diskutiert worden war. Zu dieser Verspätung trug sicherlich der erstaunliche Umstand bei, dass jene Erstlingsschrift nicht in die Ausgaben der ›sämmtlichen‹ oder ›gesammelten‹ Werke Garves aufgenommen worden ist. Aus dem Münchner Doppelvortrag entstanden die beiden Aufsätze, die den ersten Teil des vorliegenden Bandes ausmachen: von Giuseppe Motta Ausgang aus der Metaphysik. Die Wahrscheinlichkeitslehre von Christian Garve aus dem Jahr 1766, von Mischa von Perger Christian Garves Wahrscheinlichkeits-Syllogistik. Auf eben jener Tagung in München entstand auch die Idee, ein Forschungsstipendium beim Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) in Halle zu beantragen, um dort eine Neuausgabe und Übersetzung von Garves Text zu erarbeiten. Ein solches Stipendium wurde bewilligt. Mischa von Perger erstellte im Februar und März 2018 in Halle die Übersetzung und sammelte Material für die Kommentierung. Letztere haben beide Bearbeiter bei verschiedenen Gelegenheiten in den Folgejahren vorbereitet. Im zweiten und dritten Teil des Bandes sind die Resultate dieser historischen und philologischen Arbeit gebündelt: zunächst eine Einführung, in der Christian Garve als Magisterkandidat vorgestellt, jeweils ein schematischer Überblick über den Aufbau und die Quellen seiner Magisterschrift gegeben, die spärliche Rezeption der Schrift skizziert und ein Blick auf spätere Überlegungen geworfen wird, in denen Garve an den Begriff Wahrscheinlichkeit anknüpft; dann jene Schrift selbst im lateinischen Original und in Übersetzung mit Erläuterungen; schließlich ein kom-
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mentierter Neuabdruck der beiden Rezensionen, die seinerzeit zu Garves Erstlingswerk erschienen sind. Die Gliederung des Bandes entspricht somit der chronologischen Ordnung der genannten Ansätze, in denen die Bearbeiter sich Garves Schrift zu erschließen suchten. Selbstverständlich hat aber die philosophische und kritische Reflexion über dieses Werk, wie sie in den bearbeiteten Vortragstexten des ersten Teils festgehalten ist, von der philologischen und historischen Arbeit der zweiten Phase profitieren können. Der Dank der beiden Herausgeber geht an Udo Roth und Gideon Stiening: erstens für die Initiative, zum anderen auch für die editorische Unterstützung in der letzten Phase der Herausgabe. Auch sei Udo Thiel und den Kollegen im Fachbereich für Geschichte der Philosophie an der Universität Graz gedankt, bei denen wir die beiden Vorträge zur Diskussion stellen konnten. Giuseppe Motta
Weiterer Dank ist anzuschließen. Das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA), eine Einrichtung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hat durch das oben erwähnte Stipendium – vor allem auch durch die großzügigen und kollegialen Arbeitsbedingungen in Halle – die Übersetzung und Kommentierung von Garves Text enorm gefördert. Dem damaligen geschäftsführenden Direktor, Daniel Fulda, sei dafür ebenso gedankt wie den mit fachlichem Rat hilfreichen Mitarbeitern, insbesondere Andrea Thiele und Frank Grunert. Für universitätsgeschichtliche Hilfe danke ich Hanspeter Marti (Engi, Kanton Glarus, Schweiz). Mischa von Perger
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Giuseppe Motta
Ausgang aus der Metaphysik Die Wahrscheinlichkeitslehre von Christian Garve aus dem Jahr 1766 Philosophen und Historiker der Philosophie kennen 1766 als das Jahr, in dem Immanuel Kant einen unwiderruflichen Krieg gegen die alte Metaphysik in einer ironischen und fantastischen, wohl aber auch tiefschürfenden, da auf sein späteres System vorausschauenden Schrift erklärte: in Königsberg (anonym) unter dem Titel Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.1 Im selben Jahr 1766 ist interessanterweise ein anderer philosophischer Text (auch in Preußen) erschienen, dessen zerstörerisches und erneuerndes Potenzial meines Erachtens mit demjenigen der Träume vergleichbar ist: die im vorliegenden Band neu edierte Hallesche, auf Latein veröffentlichte Magisterschrift des jungen Christian Garve De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium / Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört (nach dem deutschen Titel der ebenfalls hier veröffentlichten Übersetzung von Mischa von Perger). Kants Träume wirkten bekanntlich als Herausforderung für die Philosophie seiner Zeit. Von manchen verachtet oder ignoriert, wurden sie doch von mehreren Philosophen und Gelehrten der Zeit als eine durchaus legitime, wenn auch außergewöhnliche In-Frage-Stellung aller Sicherheitsfaktoren des alten Systems der Metaphysik aufgenommen. Die vergleichbar mutige, da vergleichbar zerstörerische Schrift von Garve wirkte viel weniger (oder vielleicht besser: sie wirkte gar nicht) auf die gelehrte Öffentlichkeit der Zeit. Es handelte sich schließlich nur um die philosophische, interessanterweise aber von einem damals nicht Philosophie lehrenden Professor wie Johann Andreas von Segner betreute Magisterschrift2 eines jungen, damals unbekannten Studenten aus Breslau (in Schlesien) zu einem der damals am meisten debattierten Themen der Philosophie: zur Logik der Wahrscheinlichkeit. Nichts Auffälliges also. Darüber hinaus wurde die Disputation – wie leicht zu ersehen aus der Wiedergabe des lateinischen Textes in diesem Band – in einer wenig leserfreundlichen Gestalt (ohne Vorrede, ohne Einleitung, ohne systematische Einteilung, ohne Inhaltsverzeichnis, ohne Betitelung der sechsunddreißig Paragraphen, ohne bibliographische Hinwei-
|| 1 Vgl. dazu Giuseppe Motta: Phantasmen. Kant und die – schon kritische? – Objektivation des Geistes in den Träumen eines Geistersehers von 1766. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 29 (2018), S. 355–369. 2 Dazu mehr im vorliegenden Band bei Mischa von Perger: Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift, hier S. 57f. https://doi.org/10.1515/9783110743654-002
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se, ohne Apparat usw.) und in einem sehr elaborierten, zwar schönen aber schwierigen Latein verfasst. Die Rezeption der Schrift in den darauf folgenden 250 Jahren (von 1766 bis 2016) ist sehr beschränkt. Sie beginnt mit zwei relativ kurzen, anonym erschienenen Rezensionen: in den Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen von Dezember 17663 und in der Allgemeinen deutschen Bibliothek im Jahr 17694 (beide Rezensionen sind im vorliegenden Band wiederabgedruckt). Außer diesen sehr interessanten, aber nicht besonders tiefschürfenden Texten, deren zweiter von Johann Heinrich Lambert verfasst worden ist, erschien 1773 eine einschlägige Schrift, in der Karl Heinrich Frömmichen die Stellung Garves innerhalb der Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie würdigte.5 Es folgten noch im Jahr 1799 die partielle und nicht kommentierte, von Georg Gustav Fülleborn (Professor am Elisabethanum in Breslau) herausgegebene Wiedergabe der Paragraphen 16–19, in denen sich Garve mit dem Thema der Akatalepsie in der Philosophie der Antike beschäftigt, und sieben Jahre später eine leichte Bearbeitung eben dieses Auszugs durch Friedrich Hülsemann.6 Sonst nichts! Wir können also behaupten, dass Garves Schrift fast vollkommen ignoriert wurde. ›Revolutionär‹ wirkte dieser Text schließlich nur im Leben des Autors selbst, als hätte Garve zwar kein Ende der scholastischen Metaphysik erklären können (wie Kant), wohl aber wenigstens das Ende seiner eigenen metaphysischen Spekulationen philosophisch begründet. De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium war Garves erste, blieb aber auch seine einzige systematische Auseinandersetzung mit klassischen Themen der Logik und der Metaphysik. Schon im Frühjahr 1765 hatte er Halle verlassen und die Universität Leipzig bezogen; ab 1770 widmete er sich vorwiegend dem Verfassen von moralphilosophischen, ökonomischen und psychologischen Schriften und der Übersetzungstätigkeit. Aber genau deswegen – als quasi ursprünglicher Wendepunkt im Leben Garves – wäre der Text schon längst wichtig zu nehmen gewesen.7
|| 3 Anonymus: [Rezension] Halle. In: Hallische Neue Gelehrte Zeitungen 1 (1766), Stück 98 (4. Dezember), S. 779–782. Siehe den kommentierten Neuabdruck im vorliegenden Band, S. 251‒253. 4 E* (Anonymus = Johann Heinrich Lambert): [Rezension] XIX. De nonnullis quae pertinent ad logicam probabilium. Auctore Chr. Garve. Lipsiae 1766. in 4to. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 9 (1769), Stück 1, S. 167–170. Siehe den kommentierten Neuabdruck im vorliegenden Band, unten S. 255‒260. 5 Karl Heinrich Frömmichen: Ueber die Lehre des Wahrscheinlichen und den politischen Gebrauch derselben, wobei zugleich eine Theorie des Wahrscheinlichen angezeiget wird. Braunschweig, Hildesheim 1773. 6 Siehe Beitrag VI in Georg Gustav Fülleborn (Hg.): Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Stück XI und XII. Jena 1799, S. 197–208; Friedrich Hülsemann (Hg.): M. T. Ciceronis Academica, seu Academicorum veterum disputationes de natura et imperio cognitionis humanae. Magdeburg 1806, S. 462–468. 7 Nicht nachvollziehbar ist vor allem die Abwesenheit des Textes in den beiden großen Sammelausgaben der Schriften Garves (Sämmtliche Werke. 18 Bde. und Reg.-Bd., Breslau 1801–1804; Gesam-
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1 Form und Struktur der Abhandlung Interessant ist zunächst die nicht konventionelle, für die damalige Zeit und vor allem für den Kontext, in dem das Werk verfasst wurde, etwas gewagte Struktur des gesamten Textes. Der Titel täuscht. Wir haben hier nicht nur einige wenige unvollständige Gedanken (De nonnullis [...]) zum Thema Wahrscheinlichkeit vor uns, sondern eine in ihrer Form genau durchdachte systematische Abhandlung, deren Anspruch sogar darin besteht, sämtliche Teile des klassischen Systems der Philosophie unter einem einzigen Begriff zu subsumieren: unter den der Wahrscheinlichkeit.8 Die philosophische Ambition des Texts ist in diesem Sinne doch eine extrem hohe.9
|| melte Werke. Hg. von Kurt Wölfel. 16 Bde. in 18 Bdn. Hildesheim, Zürich, New York 1985–1999 [reprographische Nachdrucke verschiedener Ausgaben aus den Jahren 1772–1830]). Ähnlich unverständlich ist, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Wahrscheinlichkeit, die Garve in seiner Magisterdisputation führt, in sämtlichen historischen Untersuchungen und systematischen Rekonstruktionen der Rolle, die dieser Begriff in der (und für die) Philosophie des 18. Jahrhunderts spielt, komplett fehlt. 8 Zu Recht notiert in diesem Sinne Lambert am Anfang seiner kurzen Rezension aus dem Jahr 1769: »Dem Titel nach, scheint diese akademische Disputation kein Lehrgebäude vom Wahrscheinlichen zu versprechen. Sie enthält aber verschiedenes, so viel systematischer und brauchbarer ist, als gewisse Elementa logices probabilium, die zuweilen zum Vorschein gekommen. Hr. G. bindet sich an einen bestimmten Begrif vom Wahrscheinlichen, vermöge dessen er alles dahin rechnet, was dergestalt ist, daß die Möglichkeit des Nichtseyns dabey nicht ausgeschlossen ist« (Lambert: [Rezension] XIX [s. Anm. 4], S. 167; in diesem Band S. 257). 9 Besonders deutlich hatte damals Claude-Adrien Helvétius in einer langen Anmerkung des ersten Discours von De l’esprit aus dem Jahr 1758 die Notwendigkeit ausgedrückt, die Philosophie auf der Basis einer Wahrscheinlichkeitslehre neu zu konzipieren. Das Buch wurde sehr früh von Johann Christoph Gottsched ins Deutsche übersetzt und war in Preußen sehr verbreitet, als Christian Garve in der Mitte der 1760er Jahre an seiner Hallenser Disputation arbeitete. In der erwähnten programmatischen Anmerkung schreibt Helvétius unter anderem: »Non que je prétende nier l’existence des corps, mais seulement montrer que nous en sommes moins assurés que de notre propre existence. Or, comme la vérité est un point indivisible, qu’on ne peut pas dire d’une vérité qu’elle est plus ou moins vraie, il est évident que, si nous sommes plus certains de notre propre existence que de celle des corps, l’existence des corps n’est, par conséquent, qu’une probabilité: probabilité qui sans doute est très-grande, & qui, dans la conduite, équivaut à l’évidence; mais qui n’est cependant qu’une probabilité. Or, si presque toutes nos vérités se réduisent à des probabilités, quelle reconnoissance ne devroit-on pas à l’homme de génie qui se chargeroit de construire des tables physiques, métaphysiques, morales & politiques, où seroient marqués avec précision tous les divers degrés de probabilité, & par conséquent de croyance qu’on doit assigner à chaque opinion?« (Claude-Adrien Helvétius: De l’esprit. Paris 1758, S. 6. Es handelt sich um die letzte Fußnote zum ersten Kapitel des ersten Discours, die in der hier zitierten dritten Ausgabe mit »(e)« bezeichnet ist, in der ersten Ausgabe mit »(d)«. Siehe zu den drei Pariser Ausgaben des Jahres 1758 David W. Smith: The Publication of Helvétius’s De l’esprit (1758–9). In: French Studies 18 (1964), S. 332–344. Vgl. die deutsche Übersetzung von Johann Christoph Gottsched: Discurs über den Geist des Menschen. Leipzig, Liegnitz 1760. Gottsched folgt der Zweitfassung des Textes, die in der zweiten und der
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Es lohnt sich also sicherlich (nicht nur Form und Struktur, sondern auch) die Inhalte der sechsunddreißig Paragraphen, die das Werk ausmachen, möglichst genau in Betracht zu nehmen. Am Anfang von § 2 seiner Disputation definiert Garve das Wahrscheinliche als das, »was [...] nur immer auf solche Weise gewiss ist, dass dennoch auch möglich bleibt, es sei nicht«: »Quicquid itaque ita certum est, vt tamen relinquatur posse etiam non esse: id omne complectimur probabilium nomine« (§ 2, S. 4).10 Diese Definition || dritten Pariser Ausgabe vorliegt; siehe hier zu obigem Zitat aus Anm. (e) S. 6f. Trotz weiteren Ähnlichkeiten mit Helvétius (s. u. S. 24f.) lässt sich die Inspirationsquelle des philosophischen Projekts des jungen Garve in Halle nicht so leicht bestimmen. Kaum zählbar sind die europäischen Denker des 18. Jahrhunderts, welche die Notwendigkeit einer systematischen Entwicklung der Wahrscheinlichkeitslehre betont hatten. Man denke zum Beispiel an die zentrale Sektion III in David Humes Treatise of Human Nature (Book I: 1739), welche den bedeutungsvollen Titel trägt: »Of knowledge and probability«. Die Notwendigkeit selbst wird bekanntlich hier innerhalb einer Auseinandersetzung mit der Wahrscheinlichkeit unserer Erkenntnis thematisiert. Schon 1710 plädierte sonst Leibniz ganz ausdrücklich in der Einleitung der Theodizee für die Entwicklung einer Lehre des Wahrscheinlichen, welche einerseits auf der Feststellung unserer Unwissenheit basiere (ich weiß, dass ich nicht weiß), andererseits darüber hinaus induktiv (possibilistisch oder probabilistisch) nach Indizien und Vermutungen auf der Basis von (früheren) empirischen Gegebenheiten zu konkreten, wenn auch offenen Aussagen über die Ereignisse der Welt zu gelangen ermögliche (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal. 2 Bde. Amsterdam 1710). An der Wichtigkeit einer Kunst der Wahrscheinlichkeit hatte auch Christian Wolff keinen Zweifel gelassen. So lesen wir in der Deutschen Metaphysik von 1720: »[…] da es in den menschlichen Geschäfften meistentheils auf Wahrscheinlichkeit ankommet, und man dannenhero das wahrscheinlichste erwehlen sol; so wäre es eine sehr nützliche Arbeit, wenn man diese Kunst zu Stande brächte« (Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Halle an der Saale 1720, § 402, S. 28f.). Auf die Entwicklung von Theorien und Definitionen der Wahrscheinlichkeit in der breiten (dem ›Leibnizio-Wolffianismus‹ entgegengesetzten) Tradition der Thomasianischen Philosophie (vor allem bei A. Rüdiger, A. F. Müller, A. F. Hoffmann, Ch. A. Crusius und H. S. Reimarus) werde ich auf den folgenden Seiten mehrfach eingehen. Zum Einfluss, den Johann Heinrich Lamberts Wahrscheinlichkeitstheorie auf Garve ausübte, siehe im vorliegenden Band Mischa von Perger: Christian Garves Wahrscheinlichkeits-Syllogistik, hier S. 48‒51, sowie seine Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift, hier S. 68‒71. Mit Sicherheit kann man behaupten, dass die ›Wahrscheinlichkeit‹ in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem durchaus zentralen Thema des philosophischen Denkens zählte. Man nannte sie sogar »idolum saeculi« (vgl. Johann Martin Chladenius: Idolum seculi: Probabilitas. Coburg 1747; ders.: Vernünftige Gedanken von dem Wahrscheinlichen und desselben gefährlichen Mißbrauche. Hg. und übersetzt von Urban Gottlob Thorschmid. Stralsund, Greifswald, Leipzig 1748). Der Versuch Garves, die ganze Philosophie unter diesem Begriff zu subsumieren, bleibt aber in seiner Radikalität und auf Grund der konsequenten Durchführung des Projekts ein ganz neuer und origineller. 10 Hier und im Folgenden wird Garves Text nach der in diesem Band vorliegenden Neuausgabe – deren Textgestalt gegenüber der Originalausgabe korrigiert und leicht verändert wurde – und nach der ihr beigegebenen deutschen Übersetzung zitiert. Dabei werden die Seitenzahlen der Originalausgabe genannt, die in der Neuausgabe mit angegeben sind.
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basiert auf den Überlegungen des vorhergehenden § 1, in dem Garve traditionsgemäß die menschliche Erkenntnis in zwei Teile getrennt hatte: 1. die Erkenntnis der ideellen Eigenschaften der Dinge nach dem Satz vom Widerspruch, wie im Fall der Geometrie und der Mathematik im Allgemeinen, und 2. die Erkenntnis der Existenz der Dinge oder Tatsachen, die in ihrem konstitutiv zufälligen Charakter keineswegs bloß rational (nach dem Satz vom Widerspruch) begriffen werden können. Interessant und neu in diesen ersten Überlegungen ist sowohl die Auflistung und Beschreibung von drei unterschiedlichen Grundformen der Unsicherheit (persuasionis infirmitas), welche, indem wir den Geist vom einzelnen Ding zu den allgemeinen Eigenschaften der Dinge wenden, jede Form von allgemeiner Erkenntnis des Zufälligen prägen,11 als auch die Tatsache, dass die erste Form von Erkenntnis, welche strukturell vom Satz des Widerspruchs abhängt, hier zunächst quasi propädeutisch vom eigentlichen Objekt der Philosophie getrennt wird, dann aber (vor allem in § 5) im System selbst der Wahrscheinlichkeit doch integriert und quasi reduziert wird. Die drei Grundformen der Unsicherheit betreffen 1. unseren Schluss von ähnlicher Sinnenaffektion auf die Ähnlichkeit der Dinge selbst, 2. Dinge und Ereignisse, die wir nicht sinnlich erkennen, aber als konform mit dem von uns direkt Erlebten annehmen müssen, und schließlich 3. das Vertrauen in die Aussagen der anderen. Unmittelbar nach der Auflistung dieser Unsicherheitsformen in § 1 und nach der Definition des Wahrscheinlichen am Anfang von § 2 unterscheidet Garve vier fundamentale Gattungen des Wahrscheinlichen (genera probabilium), welche die drei Unsicherheiten mit der am Ende von § 1 eingeführten Problematik des Voraussehens von künftigen Ereignissen kombinieren. Die Struktur (nicht der Schrift überhaupt, wohl aber) des zweiten, speziellen Teils der Abhandlung wird auf dieser Basis definiert. Das wird optimal in der ersten anonymen Rezension von 1766 zusammengefasst: [Garve] theilt […] die wahrscheinlichen Dinge in diejenigen ab, die vermittelst der Sinne [§ 16– 24], die durch mangelhafte Induction derer empfundenen Dinge [§ 25–30], die bloß andere erfahren und uns berichten [§ 31] und die aus Vorhersagung künftiger Erfolge sowohl aus ihren Ursachen [§ 31, mit einem Hinweis auf § 10], als auch aus der Zahl einzelner Fälle entstehen
|| 11 Eine konsequent durchgeführte Lokalisierung der Lehre der Wahrscheinlichkeit im Kontext einer Theorie der Irrtümer, der Vorurteile und der Grenze unserer Erkenntnis prägte damals vor allem die Vernunftlehre von Reimarus aus dem Jahr 1755 (laut Titelblatt: 1756). Der Titel des Kapitels, in dem Reimarus die Wahrscheinlichkeit erörtert, lautet dementsprechend: »Von Vermeidung der Irrthümer, Mitteln zur Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit, und vom vernünftigen Zweifel« (vgl. S. 442–493 in Hermann Samuel Reimarus: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs hergeleitet. Hamburg 1756). Vgl. dazu Giuseppe Motta: Vom vernünftigen Zweifel. Die Wahrscheinlichkeitslehre von Hermann Samuel Reimarus. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Natürliche Religion und Popularphilosophie. Hg. von Dieter Hüning und Stefan Klingner. Berlin, Boston 2022, S. 69‒86.
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[§ 31–36]. Darnach zertheilt sich die ganze Abhandlung in den generellen und speciellen Theil: jener geht vom 13ten [richtig: dritten] § bis zum 15ten §; dieser vom 16ten bis zum 36 §.12
Das korrespondiert mit der ausführlicheren Rekonstruktion von Mischa von Perger, die man im vorliegenden Band auf S. 62‒71 findet. Bevor Garve also zu einer systematischen (speziellen) Auseinandersetzung mit den vier Formen der Wahrscheinlichkeit gelangt (§ 16–36), werden die Prinzipien des Wahrscheinlichen selbst in einem ersten (allgemeinen) Teil der Abhandlung betrachtet (§ 3–15). So äußert er sich zu diesem systematischen Punkt am Anfang von § 3 (S. 4): Antequam ad singula descendamus genera probabilium, sunt quaedam principia vniuersalia quasi fundamenta futurae disputationis ponenda: quae vt complectantur id quod est vniuersis commune, nasci debent ex ipsa probabilitatis notione. Bevor wir zu den einzelnen Gattungen des Wahrscheinlichen hinabsteigen, sind einige allgemeine Prinzipien aufzustellen, gleichsam als die Fundamente der folgenden Erörterung. Damit diese Prinzipien umfassen, was all dem Wahrscheinlichen gemeinsam ist, müssen sie aus eben dem Begriff der Wahrscheinlichkeit hervorgehen.
Mit dieser Zweiteilung folgt Garve nur zum Teil der klassischen, erst von Andreas Rüdiger und August Friedrich Müller eingeführten, dann in den Vernunftlehren von Adolph Friedrich Hoffmann und Christian August Crusius bestätigten (nicht aber inhaltlich durchgeführten) Aufteilung der Wahrscheinlichkeitslehre in einen allgemeinen, formellen Teil über die Wahrscheinlichkeit als solche und einen zweiten, eher materiellen Teil über die unterschiedlichen möglichen Inhalte einer wahrscheinlichen Erkenntnis (also über die physikalische, politische, hermeneutische, historische Wahrscheinlichkeit usw.).13 || 12 Anonymus: [Rezension] Halle (s. Anm. 3), S. 779f.; in diesem Band S. 252. 13 In Andreas Rüdigers De sensu veri et falsi (libri IV. Editio Altera. Leipzig 1722) enthält das dritte Buch – unter dem Titel: De veritate probabili – eine sehr komplexe und gut strukturierte Wahrscheinlichkeitslehre. Das Buch besteht seinerseits aus neun Kapiteln (S. 409–524), wobei das erste, welches fast die Hälfte des gesamten Liber III. ausmacht (nämlich die ersten 55½ Seiten der insgesamt 116), eine allgemeine Einführung in die Wahrscheinlichkeit bietet: Cap. I. De probabilitate in genere. In den restlichen acht Kapiteln beschäftigt sich Rüdiger mit einzelnen Arten der wahrscheinlichen Erkenntnis: Cap. II. De probabilitate historica. / Cap. III. […] medica. / Cap. IV. […] hermeneutica. / Cap. V. […] physica. / Cap. VI. […] politica. / Cap. VII. […] κατ̓ ἄνθρωπον. / Cap. VIII. […] practica. / Cap. IX. […] ambigua. August Friedrich Müller übernimmt das Muster annähernd im 19. Kapitel des ersten Teils seiner extrem breiten und reichen Einleitung in die Philosophischen Wissenschaften (Leipzig 1728. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage: Leipzig 1733. Kapitel 19: Von der wahrscheinligkeit, S. 551–598). Der Wahrscheinlichkeit im Allgemeinen werden hier die ersten vierzehn Paragraphen des Kapitels gewidmet. Es folgen: § 15 über die historische Wahrscheinlichkeit, § 16 über die hermeneutische, § 17 über die physikalische, § 18 über die politische, § 19 über die praktische und § 20 über die gemeine Wahrscheinlichkeit. Die Aufteilung der Lehre der Wahrscheinlichkeit in Adolph Friedrich Hoffmanns Vernunft-Lehre aus dem Jahr 1737 (Vernunft-Lehre, Darin-
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De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium unterscheidet sich von vorherigen Untersuchungen nicht nur dadurch, dass hier der erste Teil eine neue, direkte Ableitung der Grundprinzipien des Wahrscheinlichen aus den Formen der Möglichkeit enthält, sondern vor allem dadurch, dass Garve diese Prinzipien zur Basis sämtlichen Wissens in seiner praktischen Bestimmung erklärt (dazu mehr in den Abschnitten 2 und 3 dieses Aufsatzes). Das kritische Potenzial einer Lehre der Wahrscheinlichkeit (wenn ausreichend entwickelt) wird somit von Anfang an fest-
|| nen die Kennzeichen des Wahren und Falschen Aus den Gesezen des menschlichen Verstandes hergeleitet werden. Leipzig 1737) ist eine ganz andere. Wir haben hier in Kapitel 8 (Von dem Wahrscheinlichen) erst eine allgemeine Einführung, dann eine genau strukturierte Reihe: 1 Grundsatz / 11 Lehrsätze / 9 Vergleichungs-Regeln / 2 Aufgaben, dann in Kapitel 9 (Von den Graden der Wahrscheinlichkeit): 18 Erklärungen / 1 Postulat / 6 Lehrsätze / 3 Aufgaben. Doch thematisiert Hoffmann in § 79 (Kapitel 8, nach den 11 Lehrsätzen) auch eine hinzukommende, grundlegende Aufteilung der Wahrscheinlichkeit auf der Basis der Bestimmung erstens ihrer allgemeinen Form bzw. ihrer Formen und zweitens ihrer Materie bzw. ihrer sämtlichen möglichen Inhalte. Christian August Crusius widmet der Wahrscheinlichkeit zwei spezifische Kapitel seines Systems der Logik (Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß. Leipzig 1747): Cap. IX (Von dem Wahrscheinlichen) im ersten theoretischen Teil (§ 359–419) und Cap. VIII (Von der historischen Wahrscheinlichkeit) im zweiten praktischen Teil (§ 605–627). Cap. IX des ersten Teils enthält nach einer Reihe von Definitionen (des Begriffs der ›Wahrscheinlichkeit‹ in § 359–361, der ›logikalischen Möglichkeit‹ als Materie der Wahrscheinlichkeit in § 363–365, der ›mittelbaren‹ / ›unmittelbaren‹, ›subjektivischen‹ / ›objektivischen‹, ›gemeinen‹ / ›gelehrten Wahrscheinlichkeit‹ respektive in § 368, § 369–372, § 373) und, nach der systematischen Auflistung und Beschreibung von 6 Hauptquellen und 18 Regeln der Wahrscheinlichkeit in § 374–393, eine intensive Auseinandersetzung mit den Begriffen der ›Hypothesis‹ (§ 394–396) und der ›Präsumtion‹. Aus der Sammlung der Formen der Präsumtion leitet Crusius dann in § 405 die spezifischen Formen der Wahrscheinlichkeit ab. Präsumtionen, bei denen man »von den natürlichen Ursachen auf die Wirckungen, oder von den Wirckungen auf die Ursachen schliesset«, hängen von einer ›physikalischen Wahrscheinlichkeit‹ als deren Inbegriff ab, Präsumtionen hingegen, »nach denen man von den Zwecken auf die Mittel schliesset, welche einer deshalben gebrauchen wird oder soll; oder von dem Thun und Lassen desselben auf die Endzwecke«, von einer ›politischen‹ oder ›moralischen Wahrscheinlichkeit‹. Wenn man aber keinen kausalen, sondern einen ›Existential-Zusammenhang‹ in Betracht nimmt, »so beurtheilet man entweder den Zusammenhang zwischen einem Zeichen und der Sache« (hier liegt die hermeneutische Wahrscheinlichkeit), oder »man fraget nur sonst nach der Existentz gewisser Sachen«. Letztere ist die historische Wahrscheinlichkeit, »welche in weitem Verstande die Wahrscheinlichkeit des vergangenen, und, im engern Verstande, insonderheit diejenige Wahrscheinlichkeit ist, nach welcher die Zeugnisse anderer beurtheilet werden« (Weg zur Gewißheit, § 405, S. 721). Die hermeneutische Wahrscheinlichkeit wird dann ausführlich in Cap. IX des praktischen Teils behandelt: Von der Auslegung oder Interpretation, die historische, wie oben erwähnt, im vorhergehenden Cap. VIII des praktischen Teils, in dem Crusius unter anderem die Gründe der Glaubwürdigkeit der Zeugen untersucht. Die § 406–419 von Cap. IX im ersten Teil werden vor allem einer Auflistung der Entscheidungsregeln von streitenden Wahrscheinlichkeiten (§ 407–409), dem Begriff der Gewissheit (§ 410f.) und weiter, wie schon der Anfang des Kapitels, dem für Crusius (wie später für Garve) fundamentalen Verhältnis zwischen Theorie und Praxis gewidmet.
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gelegt und Garve kann die Hauptkonsequenz dieser Lehre sofort ziehen. Das ist die Auflösung des klassischen Systems der Metaphysik. Im zweiten Teil der Schrift behandelt Garve keine spezifischen Bereiche der wahrscheinlichen Erkenntnis (im physischen, politischen, moralischen, hermeneutischen oder historischen Sinn). Er setzt sich vielmehr mit der Systematik der Hauptgattungen des Begriffs selbst auseinander, indem er, wie oben erwähnt, die Wahrscheinlichkeit zunächst (1.) in der Sinnlichkeit überhaupt, dann (2.) bei den Formen der Logik, (3.) bei den Zeugnissen der anderen, (4.1.) auf Grund der unterschiedlichen Ursachen und schließlich (4.2.) aus einer eher mathematischen, also rein quantitativen Perspektive betrachtet.14 Wenn auch John Locke nie von der Unsicherheit der sinnlichen Erkenntnis ausgegangen ist, bleibt jedoch das von Garve stark behauptete genetische Primat der sinnlichen Wahrnehmung im Grunde ›lockeanisch‹.15 Garves Zweiteilung der Wahrscheinlichkeitslehre erweist sich aber von Anfang an als sehr problematisch. Mehrere Argumente, die Garve in Teil I der Disputation (über die principia universalia) behandelt, gehören nämlich konstitutiv auch zu Teil II (über die genera). Das führt zu einer Reihe von Wiederholungen und systematischen Unklarheiten, die wir in den beiden folgenden Abschnitten dieses Aufsatzes erst in Bezug auf die systematische Auffassung der Formen der Kausalität (2.), dann bei der Thematisierung des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis (3.) zur Sprache bringen müssen. Ganz im Allgemeinen können wir behaupten, dass die Abhandlung Garves in ihrer Struktur und in ihren Inhalten nahe an der wissenschaftlichen Bestimmung der Grundprinzipien des Wahrscheinlichen bei Hoffmann und Crusius bleibt,16 wobei sie zugleich – wie oben erwähnt – keineswegs als Teil einer || 14 Die dritte Gattung (3.) korrespondiert mit der ›historischen Wahrscheinlichkeit im engern Verstande‹ nach Crusius (Weg zur Gewißheit, § 405; vgl. die vorige Anm.). Die Wahrscheinlichkeit aus der Betrachtung der Ursachen (4.1) korrespondiert sowohl mit der ›physikalischen‹ als auch mit der ›politischen Wahrscheinlichkeit‹ in Crusius’ Logik (ebd.). 15 Über Lockes Auffassung der Wahrscheinlichkeit siehe hier Anm. 29 und 30. 16 Werner Alexander fasst die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitslehre in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts folgendermaßen zusammen: »Während Thomasius, Rüdiger und Müller den größten Teil ihrer allgemeinen Reflexionen der Begründung der Erkenntniswahrscheinlichkeit [als Abgrenzung gegenüber demonstrativ begründbaren Erkenntnisformen] widmen, wird die Existenz einer solchen Erkenntnisform nunmehr vorausgesetzt. Für Hoffmann und Crusius steht außer Zweifel, daß es eine nicht demonstrativ begründbare Form der Erkenntnis gibt, die in zahlreichen praktischen Disziplinen eine wichtige Rolle spielt. Ihnen geht es darum, die beim Wahrscheinlichkeitsschluß angewendeten Prinzipien als exakte Regeln zu formulieren, ähnlich wie dies im Rahmen der Syllogistik seit Aristoteles für die Prinzipien des demonstrativen Schlusses geschehen ist. [...] Schließlich wird eine Theorie entwickelt, die die qualitative Beurteilung des Bestätigungsgrades eines wahrscheinlichen Satzes erlauben soll« (Werner Alexander: Pluraque credimus, paucissima scimus. Zur Diskussion über philosophische und hermeneutische Wahrscheinlichkeit in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 78 [1996], S. 130–165, hier S. 141).
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breiteren Erkenntnistheorie entwickelt wird. Sie stellt vielmehr den Sinn und sogar die Grundlagen der Logik und der Metaphysik auf Grund einer Reflexion über das Wahrscheinliche in Frage. Hierin liegen Besonderheit und Radikalität dieser Magisterschrift.
2 Die Prinzipien der Wahrscheinlichkeit In § 3 behauptet Garve die Zentralität des Begriffs der Möglichkeit in der Definition der Objektivität aller Gegenstände der Erfahrung und somit bei der Bestimmung der Grundlage einer jeden Ontologie. Er rekurriert in diesem Sinne auf die (schon in § 1 eingeführte) Trennung von (1.) Erkenntnis durch Begriffe nach dem Satz vom Widerspruch und (2.) Erkenntnis der Wirklichkeit durch die Konfrontation mit der Existenz der Dinge außer uns. Nach (1.) ist die Auffassung des Realen eine rein rationale. Sie basiert auf der Feststellung, dass etwas (intern oder extern) nicht widersprüchlich ist. Nach (2.) kann die Existenz der Sache nur aus gewissen Ursachen und aus der Zusammenstimmung mit anderen existierenden Dingen gewonnen werden. Zunächst ist laut Garve von den beiden einzigen unbezweifelbaren Existenzen zu abstrahieren: von Gott mit seiner Beweisbarkeit und vom Ich in der Gewissheit des Selbstbewusstseins.17 Darüber hinaus solle man – was von fundamentaler Wichtigkeit ist – die Existenz selbst in den Graden ihrer Wahrscheinlichkeit erkennen, welche die Grade ihrer Möglichkeit sind. Die Möglichkeit wird in diesem Sinne überprüft und quasi gemessen: »Die Möglichkeiten der Sache sind abzuwägen, und von demjenigen, bei dem man zu dem Befund kommt, es sei am meisten möglich, von dem ist anzunehmen, es existiere« / »[…] ponderandae sunt possibilitates rei, & quod reperitur maxime esse possibile, id pro existenti habendum est« (§ 3, S. 6). Die Nicht-Widersprüchlichkeit scheint nun keine Rolle mehr zu spielen. Nichtsdestotrotz soll sie auch im Bereich der realen Existenz thematisiert werden können. Sie wird von Garve unter einem (nicht mehr bloß rationalen) Konzept der ›Möglichkeit‹ aufgefasst und somit – als interne Möglichkeit – als Form der Wahrscheinlichkeit selbst neu definiert. Auf der Basis der somit stark behaupteten Abhängigkeit der Wahrscheinlichkeit vom Begriff der Möglichkeit kann man laut Garve drei fundamentale Formen des Wahrscheinlichen auf Grund von drei Formen des Möglichen definieren und auf dieser Basis die ganze Lehre der Prinzipien der Realität unter dem Begriff der Wahrscheinlichkeit beschreiben. So Garve am Anfang von § 4 (S. 6f.): || 17 Indem Garve von diesen beiden je spezifischen Gewissheiten das Wissen über alle anderen Existenzen abgrenzt, folgt er John Locke. Siehe im vorliegenden Band die Neuausgabe von Garves Text, Erläuterung 14 (zu S. 6, Z. 10‒13), unten S. 236f.
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Quot itaque sunt genera possibilium, tot item probabilium fore intelligitur. Iam tripliciter aliquid possibile concipitur, si vel secum ipso, vel cum aliis rebus siue antecedentibus, vt caussae, siue consequentibus, vt effecta, vel denique cum legibus actionum humanarum comparetur. Es ist daher einsichtig, dass es, wie viele Gattungen des Möglichen, so viele auch des Wahrscheinlichen gibt. Nun fassen wir etwas in dreierlei Hinsicht als möglich auf: [1] wenn es entweder mit sich selbst, oder [2] mit anderen Dingen – sei es vorausgehenden, wie es die Ursachen, sei es folgenden, wie es die Wirkungen –, oder schließlich, [3] wenn es mit den Gesetzen der menschlichen Handlungen verglichen wird.
Somit fasst Garve die ganze Lehre der Prinzipien der (rationalen und realen) Objektivität der Dinge unter den unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs des Wahrscheinlichen. Vor ihm wurden Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit entweder getrennt: von Andreas Rüdiger.18 Oder sie wurden in unterschiedlichen Weisen verbunden und aufeinander bezogen: vor allem von August Friedrich Müller,19 von Adolph Friedrich Hoffmann20 und von Christian August Crusius.21 Besser als seine
|| 18 In der Tat trennt Andreas Rüdiger in seinen Texten ziemlich drastisch die Möglichkeit von der Wahrscheinlichkeit. Als besonders deutlich gilt die Reg. XIX. am Ende von Cap. I. (De probabilitate in genere) in Lib. III. (De veritate probabili) in De sensu veri et falsi (s. Anm. 13), S. 462: »Probabilitatem probe discerne a pura possibilitate«. Dieselbe Trennung wird ausführlich in § 30–36 des Cap. I. dargestellt. In § 30 weist Rüdiger auf manche Behauptungen über diese Differenz aus seiner Philosophia synthetica von 1711 hin: »(1) probabilitas species veri est, possibilitas extra sphaeram ejus constituta: (2) probabilitas una est, possibilitas de una eademque re multiplex: (3) ad probabilitatem requiritur sensionum convenientia, ad possibilitatem sufficit, nullam sensionem manifeste contradicere: (4) ex probabilitate sponte fluunt sensiones, cum possibilitate non nisi operose, suppositis aliis atque aliis fictionibus, conciliantur« (De sensu veri et falsi, Lib. III., Cap. 1., §. XXX., S. 443). Vgl. dazu Federica De Felice: La filosofia di Andreas Rüdiger. Un importante contributo al progresso dell’Aufklärung. In: Paradigmi 2 (2016), S. 171–184, hier S. 181f. 19 Interessanterweise entfernt sich August Friedrich Müller von den Thesen seines Meisters Rüdiger, indem er die Wahrscheinlichkeit und die Möglichkeit als verbunden betrachtet: »Die wahrscheinligkeit [...] ist eine mögligkeit, deren wirckligkeit, in Ansehung ihrer durchgängigen übereinstimmung mit den in die sinne fallenden umständen des objects, zu vermuthen ist« (Einleitung, Teil 1 [s. Anm. 13], Cap. 19, § 8, S. 558; vgl. dazu auch § 11f.). 20 Adolph Friedrich Hoffmann widmet der Möglichkeit und der Unterscheidung von verschiedenen Formen des Möglichen (logikalisch-existentiale, logikalisch-kausale, metaphysische, physikalische und verbale und darüber hinaus reale und idealische Möglichkeit) die wichtigsten Einführungsparagraphen seiner ganzen Lehre der Wahrscheinlichkeit: § 3–9 von Cap. 8 (Von dem Wahrscheinlichen) des zweiten Teils der Vernunft-Lehre (s. Anm. 13). Dementsprechend hängen sowohl die Definition der Wahrscheinlichkeit (in § 21 von Cap. 8) als auch der Grundsatz der Wahrscheinlichkeit (in § 32 von Cap. 8) und schließlich das Postulat der Wahrscheinlichkeit (in § 21 von Cap. 9) unmittelbar vom Begriff des Möglichen ab. Die Definition lautet: »Ein solcher Saz der mehr zu bejahen als zu verneinen ist, doch so, daß das Gegentheil noch möglich ist, heisset wahrscheinlich. [...] Demnach wird ein an sich selbst nur möglicher Saz, der wegen Ermangelung seines eigenen Beweiß-Grundes zu verneinen wäre, dadurch wahrscheinlich, daß sein wiedersprechender Gegensaz noch stärcker als er zu verneinen ist« (S. 1087). Der Grundsatz lautet: »In oder mit welchem möglichen Saze wir
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Vorgänger unterschied jedoch Crusius die ›logikalische Möglichkeit‹ von der ›metaphysischen‹ und von der ›physikalischen Möglichkeit‹ und rechtfertigte somit sowohl Rüdigers radikale Trennung von Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit als auch Hoffmanns Versuch, die Wahrscheinlichkeit auf der Basis des Begriffs der Möglichkeit zu thematisieren.22 Garve stellt den (nicht bloß logischen) Begriff einer metaphysischen Möglichkeit auf eine Stufe mit dem des Wahrscheinlichen und versucht dann, radikale Konsequenzen aus dieser Gleichsetzung für das System der Philosophie zu ziehen. Er tut es in den Anfangsparagraphen seiner Disputation (§ 3–15) durch die separate Darstellung der drei Arten des Möglichen bzw. Wahrscheinlichen: 1. an sich, 2. nach vorhergehenden Ursachen oder darauffolgenden Ereignissen, 3. auf Grund von menschlichen Handlungen.
2.1 Wahrscheinlichkeit durch Nicht-Widersprüchlichkeit Ein jedes wahrscheinliche Ding, wovon wir die Existenz im Gegensatz zur NichtExistenz zu beweisen versuchen, muss zunächst [1] nicht-widersprüchlich sein. Der Grad der Wahrscheinlichkeit einer an sich nicht widersprüchlichen Existenz ist jedoch, so Garve, noch sehr niedrig, wobei schon diese erste Gattung der Wahrscheinlichkeit zwei Arten hat, die zwei unterschiedliche Niveaus oder Grade derselben ausdrücken: [1.1] Wenn ich nicht weiß, ob die Sache sich selbst widerstreitet, und [1.2] wenn ich wohl weiß, dass dies nicht der Fall ist und die Sache also nicht-
|| weniger Dinge ohne Grund als wahr annehmen dürffen, als in oder mit dessen wiedersprechenden Gegensaze, derselbe Saz ist wahrscheinlich« (S. 1093). Das Postulat lautet: »Wenn man in der Vergleichung zweyer Möglichkeiten oder der Beweiß-Kraft zweyer Umstände keinen deutlichen Grund findet eines vor stärcker als das andere zu halten, so sind sie vor gleich zu achten; ob man schon diese Gleichheit nicht biß auf einen Punct erweisen kan« (S. 1168). 21 Crusius sieht in der ›logikalischen Möglichkeit‹ die Materie selbst oder den Stoff der Wahrscheinlichkeit und unterscheidet dementsprechend akribisch (wie schon sein Lehrer in Leipzig Hoffmann es getan hatte) die unterschiedlichen Formen derselben. Wie wichtig nach Crusius die ›logikalische Möglichkeit‹ in der Lehre des Wahrscheinlichen ist, lässt sich sehr leicht sowohl auf Grund der Definition der ersten drei (von sechs) Hauptquellen der Wahrscheinlichkeit (Weg zur Gewißheit [s. Anm. 13], § 375f., § 377f., § 379ff.) als auch der Definition des zentralen Begriffs der ›Hypothesis‹ (ebd., § 390ff.) verstehen. Vgl. dazu Giuseppe Motta: Hypotheses. The Concept of Possibility in Ch. A. Crusius’ Theory of Objectivity. In: Rivista di Filosofia Neo-Scolastica CXII / 3 (2020), S. 655‒670. 22 So Crusius in § 364 vom Weg zur Gewißheit (s. Anm. 13): »Uebrigens ist die logikalische Möglichkeit [...] nicht mit demjenigen Begriffe der Möglichkeit zu verwirren, welcher in der Metaphysik erkläret wird. Denn da heisset die ›Möglichkeit‹ dasjenige Prädicat eines Dinges, vermöge dessen es gedacht wird, aber noch nicht existiret, oder von dessen Existentz noch abstrahiret wird« (S. 646). Und weiter: »Weiß man aber auch natürliche Ursachen dazu, so ist die Möglichkeit […] real, und hernach kan man sie eine ›physikalische Möglichkeit‹ nennen« (S. 646f.).
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widersprüchlich ist. Im zweiten (wahrscheinlicheren) Fall können wir, so Garve, »verneinen, dass eine Sache sich selbst widerstreitet, weil wir deutlich durchschauen, wie die Teile ihrer Idee miteinander übereinkommen, und wir somit [...] die Art und Weise darlegen können, wie mit dem Wesen der Sache ihre Existenz übereinstimmt« (§ 5, S. 10).
2.2 Wahrscheinlichkeit nach vorhergehenden Ursachen oder darauffolgenden Ereignissen Einmal die Nicht-Widersprüchlichkeit einer Sache erkannt, sollen wir [2] sie mit anderen Dingen in Verbindung bringen, die sie umgeben und in einem Verhältnis zu ihr stehen. Damit verbunden ist die genaue Auffassung der Ursache-WirkungBeziehungen und der Bestimmung der Notwendigkeit gewisser Folgen. Diesbezüglich müssen wir zunächst unterscheiden zwischen [2.1] der Abhängigkeit eines Dinges von der Existenz eines anderen Dinges und [2.2] der Abhängigkeit eines Dinges von der Fähigkeit eines anderen Dinges, selbst zu wirken, also in eigentlichem Sinne die Ursache des anderen zu sein (§ 6, § 7). In diesem zweiten Fall können wir entweder die Wahrscheinlichkeit der Folgerung aus gewissen Ursachen [2.2.1], die Übereinstimmung mit anderen Dingen/Ereignissen [2.2.2] oder die Wahrscheinlichkeit der Ursachen selbst aus der Perspektive der Folgerung [2.2.3] in Betracht nehmen. Im Fall der Abhängigkeit eines Dinges von der Existenz anderer Dinge [2.1] unterscheiden wir drei Grade der Gewissheit: Wir können zunächst feststellen, dass die Existenz des Dinges derjenigen der anderen nicht widerspricht [2.1.1]. Stärker ist aber eine Überzeugung, wenn wir sehen, dass die Existenz des Dinges von den schon bekannten anderen Dingen oder Ereignissen besser [2.1.2] oder sogar notwendigerweise [2.1.3] erklärt wird (§ 8). Höher ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, wenn man das Ding [2.2.1] in Bezug auf seine vorhergehenden Ursachen im eigentlichen Sinne betrachtet.23 [2.2.1.1] Das || 23 In der Bestimmung von sechs Hauptquellen der Wahrscheinlichkeit in § 374–393 des Wegs zur Gewißheit behandelt Crusius die fundamentale Funktion der Kausalität sowohl in der dritten als auch in der fünften Hauptquelle. So Crusius in Bezug auf Quelle 3: »Die Realität der Möglichkeit eines Dinges in der Metaphysik bestehet darinnen, wenn bekannt ist, daß zureichende Ursachen darzu vorhanden sind […], welches man theils aus schon da gewesenen oder noch vorhandenen Exempeln, theils aus der Begreifflichkeit des Effects aus schon bekannten Ursachen wissen kan. Daher nenne ich eine logikalische Möglichkeit mehr real, als eine andere, wenn von denen Ursachen und Umständen, welche zu dem gesetzten Dinge nöthig sind, schon mehr bekannt ist, und dabey als bekannt vorausgesetzet werden kan, als in dem Gegensatze« (Weg zur Gewißheit [s. Anm. 13], § 379, S. 669). Und in Bezug auf Quelle 5: »Die fünfte Quelle der Wahrscheinlichkeit ist die Betrachtung des Streites mit schon bekannten Ursachen oder mit der schon bekannten Beschaffenheit der Dinge« (ebd., § 389, S. 689). Aus der dritten Quelle folgt die »Präsumtion der zureichenden
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erste (bloß negative) Niveau besteht hier in dem Umstand, dass man zwar das Vorhandensein von Gegenursachen erkennt, dabei aber entweder nicht erkennt, ob sie wirken, oder erkennt, dass sie nicht wirken. [2.2.1.2] Ein weiteres Niveau besteht in dem Umstand, dass man keine Ursache sieht, die das Ding irgendwie unmöglich machen könnte. Auch damit ist aber noch nichts Positives behauptet. [2.2.1.3] Ein dritter Grad wird erreicht, wenn man die Existenz von gewissen Ursachen wahrnimmt, die in sich irgendwie die Kraft haben, das Ding zu bewirken, man aber nicht weiß, ob sie ausreichen und ob Gegenursachen dasselbe verhindern werden. Man kann darüber hinaus [2.2.1.4] diese Ursachen in ihrer wirkenden Kraft erkennen und feststellen, dass sie, falls sie nicht behindert werden, wohl ausreichen, die fragliche Sache hervorzubringen. Wir sind näher bei der Wahrheit, wenn wir nicht nur wissen, dass die Ursachen da sind, sondern auch [2.2.1.5], dass sie tätig sind (also ihre Wirkung ausüben). Wenn wir schließlich [2.2.1.6] die wirkende Ursache plus die Abwesenheit von entgegengesetzten Gründen erkannt haben, dann sind wir zur Gewissheit gelangt (§ 9).24 Die Wahrscheinlichkeit einer Sache ist nach Garve darüber hinaus vor allem in der Harmonie (congruentia) der Sache selbst mit allen anderen Dingen zu suchen [2.2.2]. Schon Hoffmann und Crusius hatten in diesem Sinne die zentrale Funktion des Begriffs des ›übereinstimmenden Umstandes‹25 bzw. der ›harmonischen phae-
|| Ursache«, nämlich: »[D]ie realere Möglichkeit wird präsumiret, und wenn man zu einer Wirckung zureichende Ursachen weiß, und keine Hindernisse siehet, so wird präsumiret, daß sie erfolgen werde« (ebd., § 401, S. 714). In § 405 fasst Crusius dann unter dem Begriff der ›physikalischen Wahrscheinlichkeit‹ alle Präsumtionen, »nach denen man von den natürlichen Ursachen auf die Wirckungen, oder von den Wirckungen auf die Ursachen schliesset« (ebd., S. 721). Vgl. dazu auch Müllers Bestimmung der Hypothese, wonach sie ein Schluss ist, der der Form nach dem Schluss aufgrund von Kausalität ähnelt (Einleitung, Teil 1 [s. Anm. 13], Cap. 19, § 9), und seine Bestimmung der physikalischen Wahrscheinlichkeit: Diese betreffe das Wesen natürlicher Dinge, das »auf den causis efficientibus alles dessen, was durch jene erste [d. i. die auf die sinnliche Erfahrung gegründete] erkentnüs in den dingen existirend befunden wird, beruhet« (ebd., § 17, S. 585f.). 24 Siehe dazu vor allem Müllers detaillierte Aufteilung der Grade der Wahrscheinlichkeit einer Hypothese, in: Einleitung, Teil 1 (s. Anm. 13), Cap. 19, § 12, wie auch Rüdigers De sensu veri et falsi (s. Anm. 13), Lib. III., Cap. I., §. XXXI. 25 Hoffmann: Vernunft-Lehre (s. Anm. 13), § 66. Hoffmann widmet der Bestimmung der Wahrscheinlichkeit auf Grund der Übereinstimmung mit anderen Wahrheiten den ganzen 9. Lehrsatz des 8. Kapitels (Von dem Wahrscheinlichen) des zweiten Teils der Vernunft-Lehre, also § 64–70. In § 66 beschreibt er den übereinstimmenden Umstand folgendermaßen: »Durch die mit einem möglichen Saze möglicher Weise übereinstimmenden Umstände sind also diejenigen zu verstehen, zwischen welchen und demselben möglichen Saze, oder einem Theile oder Folgerung desselben, ein möglicher caußal-Zusammenhang [...] sich ausdencken lässet, vermittelst dessen die Wahrheit des Sazes an die Wahrheit eines solchen Umstandes möglicher Weise verknüpfet ist« (ebd., S. 1115). Die Definition der ›Hypothesis‹ hängt nach Hoffmann davon ab: »Ein solcher möglicher Saz, welchen man gegen andere Wahrheiten und Umstände hält, um zu sehen ob und wie dieselben damit übereinstimmen, wird in solcher Betrachtung eine Hypothesis genennet« (ebd., § 68, S. 1116).
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nomena‹, die »auch unter einander selbst« übereinstimmen,26 betont. Nennen wir ›Fall‹ (casus) die Serie von Begebenheiten, in denen ein bestimmtes Ereignis geschehen kann, dann – das behauptet Garve in § 13 seiner Schrift – wird die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses aus der Menge der ›Fälle‹ bestimmt, in denen es stattfinden kann. So wie bisher die Wahrscheinlichkeit aus den vorhergehenden Gründen eines Ereignisses oder aus der Übereinstimmung der Ereignisse abgeleitet worden ist, so kann (und muss) dieselbe nach Garve auch [2.2.3] aus den Folgen des Ereignisses bestimmt werden.27 [2.2.3.1] Etwas hat einen (minimalen) Grad an Wahrscheinlichkeit, wenn es nicht etwas unmöglich macht, wovon wir wissen, dass es ist. [2.2.3.2] Wenn auf der Basis von etwas, dessen Existenz wir annehmen, sich die Entstehung von anderen festgestellten Dingen erklären lässt, dann ist wahrscheinlich, dass das Angenommene tatsächlich existiert. In einer Erzählung muss man so zum Beispiel diejenigen Ereignisse als wahrscheinlich einschätzen, die als Erklärung der darauffolgenden Ereignisse gelten können. [2.2.3.3] Wenn etwas gewiss ist, das nur aus bestimmten Ursachen entstehen konnte, dann sind diese Ursachen ebenso gewiss (§ 14).
2.3 Wahrscheinlichkeit von menschlichen Handlungen Der Definition dieser Grade der Wahrscheinlichkeit entsprechend legt Garve drittens [3] die Grade der Wahrscheinlichkeit entsprechend allen möglichen Gründen fest, welche die freien Handlungen des Subjekts bestimmen (§ 10).28 Alle Handlungen basieren nämlich auf Entscheidungen, welche ihrerseits sich auf Gründe stützen, die den Willen in der einen oder anderen Weise steuern. Um ein praktisches Ereig|| 26 Crusius: Weg zur Gewissheit (s. Anm. 13), § 391. Sowohl die zweite als auch die sechste Quelle der Wahrscheinlichkeit hängen nach Crusius mit der Betrachtung einer Übereinstimmung zusammen. Die zweite Quelle besteht in der »Betrachtung des ungefehren Zusammentreffens mehrerer Möglichkeiten« (ebd., § 377, S. 664), die sechste Quelle in der »Uebereinstimmung mit den Phaenomenis oder Umständen« (ebd., § 390, S. 691). Dementsprechend werden alle Phaenomena in ›blosse‹ und ›harmonische‹ geteilt (ebd., § 391) und die entscheidende Bedeutung der harmonischen in der Bestimmung der Wahrscheinlichkeit kräftig betont (ebd., § 392). In diesem Sinne unterscheidet Crusius in § 397 die ›Präsumtions-Wahrscheinlichkeit‹ (»vermöge welcher man die Wahrscheinlichkeit desselben [nämlich eines Satzes], aus einem allgemeinen Satze, dessen Wahrscheinlichkeit man erweisen kan, subsumiret«, S. 711) von der ›Uebereinstimmungs-Wahrscheinlichkeit‹ (»vermöge welcher man die Wahrscheinlichkeit eines Satzes aus der Uebereinstimmung mit den Phaenomenis […] erkennet«, ebd.), welche auch in der sechsten Entscheidungs-Regel streitender Wahrscheinlichkeiten dargestellt wird (ebd., § 409). 27 Man beachte dazu schon Rüdigers De sensu veri et falsi (s. Anm. 13), Lib. III., Cap. I., §. XXI., Marginalie mit Angabe des Themas, S. 439: »Effectus ex quibus concluditur causa probabilitatis theoreticae«. 28 Dazu schon Rüdigers De sensu veri et falsi, Lib. III., Cap. 1., §. XXII–XXVI.
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nis vorauszusehen bzw. als mehr oder weniger wahrscheinlich zu erklären, müssen wir (konform zu unseren theoretischen Reflexionen) eine sehr lange Reihe von zum Teil sehr undurchsichtigen Elementen in Betracht ziehen, wie zum Beispiel: ‒ die Natur der Vorstellungen, die unsere Seele bewegen, ‒ das Vermögen zu handeln und die Proportion der eingeborenen Neigungen bzw. der anderen Vermögen, die Einfluss auf das Handlungsvermögen in uns haben (sinnliche Begierde, Einbildungskraft, Vernunft usw.), ‒ die inneren Kräfte der Menschen und die unterschiedlichsten (internen und externen) Hilfsmittel, ‒ die An- oder Abwesenheit der unterschiedlichsten Gegengründe, usw. Man kann versuchen, die Komplexität der hier dargestellten Formen mit den Graden der Wahrscheinlichkeit (WS) in einem einzigen Schema wiederzugeben.
2.2.3
2.2
2.2.3.3 2.2.3.2 2.2.3.1
2.2.2
2 2.2.1 2.1.3
2.2.1.6 2.2.1.5 2.2.1.4 2.2.1.3
WS 2.1
1
2.1.2 2.1.1
2.2.1.2 2.2.1.1
3
1.2 1.1
3 Theorie und Praxis Auf das Engste verbunden mit der Bestimmung der Grade der Wahrscheinlichkeit ist nach Garve die (psychologische) Tatsache, dass der Mensch gewisse künftige Ereignisse zum Zweck seiner eigenen Aktionen vorauszusehen bemüht sein muss. Wenn auch spontan und für uns durchaus natürlich, sei dies doch eine extrem komplexe Operation, welche im Grunde in der gleichzeitigen Einschätzung aller vorhandenen Ursachen und in ihrer genauen Kombination besteht. Der Mensch besitzt nach Garve die (er meint: quasi unbewusste) Fähigkeit oder das Vermögen (facultas), statt-
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findende Ereignisse in Bezug auf den Zweck seiner Handlungen einzuschätzen und weitere Geschehnisse vorauszusehen. Es lohnt sich, in diesem fundamentalen Punkt die Worte Garves aus § 11 (S. 20) der Abhandlung etwas näher zu betrachten: Illa igitur solertia ingenii quae homines efficit πραγματικοὺς, h. e. ad negotia obeunda aptos, quia maxime in eo cernitur, si quis res euentusque futuros animo praecipere, ingruentibusque malis iam antea possit resistere, haec, inquam, ingenii solertia pendet ex animi quadam facultate res & numero multas & genere varias quasi vno intuitu comprehendendi; caussarum inter se implicitarum totum nexum perspiciendi; quantum singula ad rem efficiendam conferant, sensu magis quodam quam ratiocinando, intelligendi; & sine clara conscientia rationum, quae possint rei futurae certam fidem facere, tamen cum summa persuasione id quod illis rationibus efficitur, apprehendendi. Jene der geistigen Begabung zukommende Geschicklichkeit also, welche die Menschen zu pragmatikoí macht, d. h. geeignet, ihre Geschäfte anzugehen – denn sie ist am ehesten darin zu erkennen, wenn jemand die künftigen Dinge und Ereignisse mit dem Geist im Voraus erfassen und den hereinbrechenden Übeln schon vorher Widerstand entgegensetzen kann –, diese Geschicklichkeit der geistigen Begabung, sage ich, hängt von einem bestimmten Vermögen des Geistes ab, an Anzahl viele und zugleich nach der Gattung unterschiedliche Dinge gleichsam in einem einzigen Anblick zu umfassen; den ganzen Zusammenhang der miteinander verwickelten Ursachen zu durchschauen; wieviel die einzelnen Faktoren beitragen, um die Sache hervorzubringen, mehr durch einen bestimmten Sinn als durch Vernunftschluss einzusehen; und ohne klares Bewusstsein von den Gründen, die einen sicheren Glauben betreffs der künftigen Sache bewirken können, dennoch mit höchster Überzeugung das, was durch jene Gründe bewirkt wird, aufzufassen.
Man sieht hier, wie stark und wie wichtig die Verflechtung und die reziproke Abhängigkeit von Theorie und Praxis in Garves Lehre der Wahrscheinlichkeit sind. Die Menschen sind von der Natur zur Handlung bestimmt. Also zur Praxis. Von der Natur des Menschen können aber auch unsere theoretischen Reflexionen nicht abgesondert werden. Die Vorhersehung der künftigen Ereignisse ist einerseits das Element, welches allein den Menschen überhaupt handlungsfähig macht und ihn zur Aktion (also zur Praxis) bringt. Diese eher theoretische Vorhersehung ist aber ihrerseits nichts anderes als das Resultat einer eher praktischen Gabe oder Fähigkeit des Menschen. Die gleiche Auseinandersetzung mit der Wahrscheinlichkeit der Ereignisse macht ihn somit – gleichzeitig und konstitutiv – sowohl in der Praxis als auch in der Theorie fähig. Sie bestimmt den Menschen als vernunftbegabtes Wesen überhaupt. Schon Antoine Arnauld und Pierre Nicole in der Logique de Port-Royal (1662) oder später vor allem John Locke in An Essay Concerning Humane Understanding (1690) hatten (in sehr unterschiedlicher Weise) die Wahrscheinlichkeit erst im Kon-
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text der Bestimmung der praktischen Handlungen des Menschen thematisiert.29 Der strikt epistemische Sinn des Wahrscheinlichen hatte sich im Allgemeinen am Ende des 17. Jahrhunderts aus einer diffusen Annahme desselben im Kontext der Reflexion über das menschliche Verhalten, also über die Praxis langsam verselbstständigt.30 Viel später wird Christian August Crusius sogar die Unmöglichkeit, Theorie und Praxis überhaupt zu trennen, ausgerechnet im Kontext seiner Wahrscheinlichkeitslehre thematisieren (Weg zur Gewissheit, Teil 1, Cap. IX). In diesem Sinne definiert er in § 361 (also ganz am Anfang seiner Wahrscheinlichkeitslehre) den fundamentalen Übergang von einer mäßigen zu einer starken Wahrscheinlichkeit in diesen klaren Worten: Von einigen [lies: einigem] urtheilen wir nur, daß es leichter möglich, und eher vor wahr anzunehmen sey, als das Gegentheil. Dieses nennet man eine blosse ›Muthmassung‹ [...]. Von manchem urtheilen wir, daß es in einem solchen Grade als wahr angenommen zu werden verdiene,
|| 29 Arnauld und Nicole entwickeln in der Tat eine Theorie der Klugheit, welche vor allem auf der Berechnung der Chancen basiert. Wahrscheinlichkeit und Nützlichkeit seien somit auf das Engste miteinander verbunden. Das lesen wir zum Beispiel quasi am Ende der Logique de Port-Royal: »Le defaut de ces raisonnements est, que pour iuger de ce que l’on doit faire pour obtenir vn bien, ou pour éviter vn mal, il ne faut pas seulement considerer le bien et le mal en soy, mais aussi la probabilité qu’il arrive ou n’arrive pas ; et regarder geometriquement la proportion que toutes ces choses ont ensemble« (Antoine Arnauld und Pierre Nicole: La Logique ou L’Art de penser. Paris 1662, hier Teil IV, Kap. 15, S. 467). Besonders aufhellend sind zu diesem Thema die Reflexionen von AnneSophie Godfroy-Genin: »A la simplicité d’une échelle binaire, vrai ou faux, 1 ou 0, Arnauld substitue une gradation et quatre modèles de complexité croissante où la croyance est indexée par une mesure susceptible d’en précipiter la décision ou de la contrôler« (De la doctrine de la probabilité à la théorie des probabilités. Pascal, la Logique de Port-Royal, Jacques Bernoulli. Thèse de Doctorat, Université Paris IV-Sorbonne 2004, S. 310). Oder später: »Agir rationnellement c’est mesurer non plus deux grandeurs séparées, le gain ou la perte, et leurs probabilités respectives, mais la proportion entre elles. L’espérance devient une grandeur calculable et échappe à l’irrationalité des sentiments ou des impressions« (ebd., S. 323). In Bezug auf Locke zitiert Luigi Cataldi Madonna § 10 des Essay IV, XI und kommentiert folgendermaßen: »L’intento di Locke è chiaro. Dall’impossibilità di giungere in molti casi alla conoscenza non bisogna concludere che in questi casi non sia possibile nemmeno un controllo razionale dell´opinione. Quando non possiamo ottenere proposizioni certe, possiamo però giungere a ›proposizioni razionalissime‹ e a teorie che mirino alla maggiore esattezza ed evidenza possibili per noi. Locke non propone un concetto esteso di scienza che possa comprendere anche l’opinione; ma mostra la necessità di costituire una teoria razionale dell’opinione« (La filosofia della probabilità nel pensiero moderno. Roma 1988, S. 69). 30 Nochmals mit den Worten von Cataldi Madonna: »Locke riprende questo programma [di una teoria razionale del comportamento] e lo estende dal campo morale a quello naturale: la costituzione di teorie razionali deve interessare tutte le discipline empiriche che, senza poter pretendere – secondo un concetto ristretto di scienza – di essere scienze, mirano a raggiungere il massimo rigore, esattezza e evidenza possibili« (La filosofia della probabilità [siehe die vorige Anm.], S. 69).
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daß man ohne Bedencken darnach agiren könne, welches ›zuverlässig‹ (probabile) oder auch ›glaubwürdig‹ genennet wird.31
Im darauffolgenden Paragraphen wird dementsprechend eine strikt praktische Auffassung des Grundes des Beifalls dargelegt: Einige Gründe aber liegen nicht bloß in dem Verstande, sondern in dem Zusammenhange, welchen die Sache mit gewissen Zwecken der Klugheit oder Gerechtigkeit hat. Nemlich es kommt darauf an, wie wichtig der Zweck ist, welcher verlohren gienge, oder in Gefahr gesetzet würde, dafern unser Urtheil fehl schlagen solte, oder nach welchem zu handeln schon eine Verbindlichkeit voraus gesetzet wird; ingleichen ob wir vielleicht neutral bleiben können, oder schlechterdings eine von beyden Meinungen erwehlen und darnach agiren müssen. Dieses kan man daraus abnehmen, weil wir der Wahrscheinlichkeit bald mehr, bald weniger, Gewichte zuschreiben, und eine darnach eingerichtete That bald mehr bald weniger für vernünftig halten, bloß nachdem der Zweck ist, welcher dabey aufgesetzet wird, und nachdem es möglich gewesen ist, daß wir hätten dabey neutral bleiben können, oder nicht.32
Eine vornehmlich praktische, sehr artikulierte Definition der Wahrscheinlichkeit prägt auch zutiefst das letzte Kapitel (über die Wahrscheinlichkeit) des zweiten Teils der oben (Anm. 11) erwähnten Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus aus dem Jahr 1755: »Die Erfahrung«, so Reimarus in der Einleitung, »lehret uns, daß es auch sehr viel von unserm Willen abhängt, was und wie wir denken«.33 Wie schon Crusius und Reimarus betont nun Garve die notwendigerweise praktische Prägung aller unserer (mehr oder weniger wahrscheinlichen) epistemischen Einschätzungen und entwickelt darauf den Vorschlag einer radikalen Auflösung der Theorie in die Praxis selbst. Besonders interessant in diesem Sinne ist die Auffassung des Begriffs der ›moralischen Gewissheit‹, wie dieser in § 7–9 von De nonnullis […] dargestellt wird. Im Unterschied zu seinen vielen Vorgängern betont nämlich Garve die ursprünglich praktische Bedeutung des Begriffs, nicht aber im Sinne einer Entgegensetzung zum Theoretischen, sondern – interessanterweise – im Sinne der
|| 31 Crusius: Weg zur Gewissheit (s. Anm. 13), Teil 1, Cap. IX, § 361, S. 641. 32 Ebd., § 362, S. 642f. Aus dieser Perspektive gelten Freiheit und Wahrscheinlichkeit für Crusius als eng verbunden: »Was ein endlicher Verstand von [den freien Taten] vorher sehen soll, das muß er durch den Weg der Wahrscheinlichkeit erkennen. Denn solte er sie durch den Weg der Demonstration erkennen; so müsste er ihre Existentz und Beschaffenheit aus ihren determinirenden Gründen vorher wissen können. Dieses ist aber widersprechend. Denn hiedurch hörten sie auf frey zu seyn« (ebd., § 412, S. 735). 33 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 11), § 44, S. 50. Vgl. dazu Giuseppe Motta: Vom Vernünftigen Zweifel (s. Anm. 11), vor allem aber Werner Schneiders: Praktische Logik. Zur Vernunftlehre der Aufklärung im Hinblick auf Reimarus. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur »Vernunftlehre« von Hermann Samuel Reimarus. Hg. von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski. Veröffentlichungen der Joachim-Jungius Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg 38. Göttingen 1980, S. 75– 92.
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konstitutiven Verbindung und notwendigen Verflechtung von Theorie und Praxis.34 Zu allen Aktionen gehört nach Garve eine besondere Art von Erkenntnis, welche nicht aus einer strengen Argumentation oder Demonstration stammen kann. Diese Erkenntnis hänge vielmehr von der Bestimmung einer Wahrscheinlichkeit ab, die den Vollzug der Aktion motiviert. Die daraus entstehende Gewissheit wird dadurch definiert, dass sie die Erkenntnis sichert, die zu dem Beschluss einer Aktion notwendig ist. Diese sei eventuell (höchstens) mit einer ›moralischen Gewissheit‹ als verbunden zu sehen, die Garve als gleichbedeutend mit dem höchsten Grad der ›Wahrscheinlichkeit‹ annimmt. Qui autem probabilis nomine ea omnia complectuntur quae nos, vt tam late pateat istud nomen, quam omne id, in quod demonstratio non cadit: ii probabilitatem non tam distinguere a certitudine morali & ei opponere, quam in formas quasdam diuidere debent; scilicet in eam,
|| 34 So Dominik Perler über die historische Entwicklung des Begriffs der ›moralischen Gewissheit‹: »[Dieser] wurde bereits um 1400 von Jean Gerson verwendet, allerdings nur in moralischen Kontexten, die wissenschaftlichen gegenübergestellt wurden. Diese bereichsbezogene Verwendung des Ausdrucks hielt sich bis in das 17. Jahrhundert, insbesondere in der jesuitischen Tradition. [...] Allerdings setzte bereits Roderigo de Arriaga in seinem Cursus philosophicus (1632) diesen Ausdruck ein, um ein bereichsunspezifisches Wissen zu bezeichnen, das zwar in hohem Maße sicher, aber nicht absolut unbezweifelbar ist« (Dominik Perler: Woran können wir zweifeln? Vermögensskeptizismus und unsicheres Wissen bei Descartes. In: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850. Hg. von Carlos Spoerhase, Dirk Werle und Markus Wild. Berlin, New York 2009, S. 43‒62, hier S. 59, Anm.). Eine nähere Betrachtung des Begriffs der ›moralischen Gewissheit‹ bei Descartes zeigt nach Perler, dass dieser schon in einem eher theoretischen als in einem strikt praktischen Sinn aufgefasst wird: »Die entscheidende Opposition besteht somit nicht zwischen einem propositionalen und einem praktischen Wissen, sondern zwischen einem unanfechtbaren und einem anfechtbaren propositionalen Wissen« (ebd., S. 58). Und weiter: »Entscheidend ist für Descartes, dass das Wissen, das auf absoluter Gewissheit beruht, wegen der göttlichen Garantie unanfechtbar ist und daher auch nicht mehr graduell abgestuft werden kann. Es gibt nicht mehr oder weniger absolute Gewissheit und daher auch kein besseres oder schlechteres Wissen, das auf moralischer Gewissheit beruht« (ebd., S. 59). In der Logique de Port-Royal oder – vor allem – bei Leibniz wird der Begriff der ›moralischen Gewissheit‹ benutzt, um eine Gewissheit zu bezeichnen, die gegenüber der mathematischen oder der absoluten schwächer ist, und dementsprechend als ›Obergrenze der Skala der Wahrscheinlichkeit‹ angenommen werden kann (vgl. Luigi Cataldi Madonna: Gewißheit, Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft in der Philosophie von Leibniz. In: Aufklärung 5/1 [1991], S. 103–116, hier S. 113; siehe auch von ihm: Wahrscheinlichkeit und wahrscheinliches Wissen in der Philosophie von Christian Wolff. In: Studia Leibnitiana 19/1 [1987], S. 2–40, hier S. 22). Wie schon Descartes und Leibniz versteht auch Crusius die ›moralische Gewissheit‹ im Bereich der empirischen Wissenschaften als eine an sich nicht demonstrative, sondern durch unendlich viele Wahrscheinlichkeitsgründe hergestellte Gewissheit. Siehe dazu Carlos Spoerhase: Die »mittelstrasse« zwischen Skeptizismus und Dogmatismus: Konzeptionen hermeneutischer Wahrscheinlichkeit um 1750. In: Unsicheres Wissen (s. diese Anm., oben), S. 281, oder schon Luigi Cataldi Madonna: L’ermeneutica probabile di Christian August Crusius. Un contributo alla storia dell’ermeneutica filosofica intenzionalistica nell’illuminismo tedesco. In: Rivista di estetica 15 (2000), S. 171–192.
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quae ad perfectam persuasionem, qualis requiritur ad consilia capienda, actionesque regendas sufficiat, eamque quae minus [...]. Wer aber den Namen des Wahrscheinlichen genauso umfassend gebraucht wie wir, so dass dieser Name offen ist für all das, wofür es keinen zureichenden Beweis gibt, der muss die Wahrscheinlichkeit nicht so sehr von der moralischen Gewissheit unterscheiden und ihr entgegensetzen, als sie vielmehr in bestimmte Formen einteilen, nämlich in diejenige, die zur vollen Überzeugung, wie sie zum Fassen von Entschlüssen und zur Lenkung von Handlungen benötigt hinreicht, und diejenige, die das nicht tut. (§ 4, S. 7)
4 Die Sinnlichkeit Die schon oben erwähnten Schwierigkeiten in der Strukturierung der gesamten Schrift werden besonders deutlich, sobald Garve – am Anfang des zweiten Teils der Abhandlung (am Anfang also von § 16) – innerhalb der Behandlung der ersten Gattung der Wahrscheinlichkeit (der sinnlichen Erfahrungen) in eine lange historische Konfrontation mit antiken Philosophen eintritt.35 Die hier enthaltenen historischen Reflexionen betreffen nämlich nicht nur das Thema ›Sinnlichkeit‹. Sie greifen weiter aus und zeigen schließlich die besondere Garve’sche Auffassung der Geschichte der Philosophie. Zu schätzen sind nach Garve vor allem die Positionen und Behauptungen von einer Reihe von antiken Philosophen, wie Sokrates, Arkesilaos, Karneades, Aristipp und Epikur, die er, zusammen mit manchen neueren Philosophen (recentiores philosophi), welche die Ansichten Aristipps und Epikurs teilen (vgl. § 20), als die wahrhaftigen Vorgänger seiner eigenen Überzeugungen annimmt. Sehr kritisch äußert er sich dagegen über die Positionen der Platoniker und der Stoiker. Die Hauptquellen seiner Wiedergabe scheinen vor allem in den Büchern Ciceros zu liegen (vor allem im Dialog Lucullus). Als Hauptvertreter der »neueren Philosophen«, der die Meinungen der antiken Skeptiker und Epikureer aktualisiert und verbreitet hat, kann man den französischen Naturwissenschaftler und Philosophen Pierre Gassendi ansehen, welcher im Syntagma philosophicum (1658) einerseits gegen René Descartes (und Aristoteles) Sinneseindrücke und Induktion als primäre und exklusive Quelle menschlicher Erkenntnis hervorgehoben, andererseits im Probabilismus (von Karneades her) einen eigenen spezifischen Weg zwischen Skeptizismus und Dogmatismus gefunden hatte.36 Hundert Jahre später (im Jahr 1758) scheint Claude-Adrien Helvétius die
|| 35 Wie oben kurz erwähnt (s. Anm. 5), wurde dieser Teil der Halleschen Magisterschrift Garves in den Jahren 1799 und 1806 erneut abgedruckt. 36 So zum Beispiel Delphine Bellis: »[…] as a historian, Gassendi did not attempt to twist Carneades’ position to accommodate it to his own. As a defense of Carneades’ authentic position,
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Gedanken von Gassendi getreu wiederzugeben, wenn er in der oben (Anm. 9) erwähnten Fußnote (e) von De l’esprit, Discours 1, Kap. 1, die Grundpositionen von Karneades ganz ins Zentrum seiner Reflexion zum Thema ›Wahrscheinlichkeit‹ setzt.37 Als unmittelbare Quelle für Garve hat natürlich eher der Text von Helvétius als der von Gassendi zu gelten. Sokrates wird von Garve quasi im Vorwort seiner historischen Untersuchungen als derjenige gelobt, der das Bewusstsein seiner eigenen Unwissenheit als die Basis der Erkenntnis gesetzt hat. Andererseits sei seine Einstellung zur Wahrheit der Sinne und der Begriffe, wie diese von Plato (also ganz im Sinne der Platonischen Philosophie) wiedergegeben wird, völlig inakzeptabel (vgl. § 16). Arkesilaos (der immerhin mehr als 150 Jahre nach Sokrates lebte: 316/315–241/240 v. Chr.) gilt als der erste der Akademiker, der nicht nur die scheinbaren Gewissheiten der Philosophie Platos radikal in Frage stellte, sondern auch dem sinnlichen Erkennen jede Gewissheit absprach, womit er einen radikalen Skeptizismus in die Akademie einführte (vgl. § 16). Enorm ist aber nach Garve vor allem das Verdienst des schon mehrmals erwähnten Karneades von Kyrene (214/213–129/128 v. Chr.), der gegen Arkesilaos als Erster die Extreme des strengen Skeptizismus aufgegeben und somit Platz für die Wahrscheinlichkeit geöffnet habe. Als Vertreter der sogenannten Akatalepsie sei Karneades der Überzeugung gewesen, man könne nichts als solches mit Sicherheit wahrnehmen, da wir keinen direkten Zugang zu den Dingen hätten. Derselbe habe jedoch das Dogma der Wahrscheinlichkeit hinzugefügt, um nicht in die ›Apraxía‹ zu
|| Gassendi noted that Carneades had not reintroduced a criterion of truth that Arcesilaus had rejected, precisely because Carneades had never claimed to reach the truth but only what was verisimilar (verisimile). Now, for the Pyrrhonians and the Academics, the criterion – if any – had to be a criterion of what is true and not of what is verisimilar« (Delphine Bellis: Nos in Diem Vivimus: Gassendi’s Probabilism and Academic Philosophy from Day to Day. In: Academic Scepticism in the Development of Early Modern Philosophy. Hg. von Sébastien Charles und Plínio Junqueira Smith. Dordrecht 2017, S. 125–152, hier S. 132). 37 Hier schreibt Helvétius unter anderem: »[…] l’état de doute, toujours insupportable à l’orgueil de la plupart des hommes, seroit plus facile à soutenir: alors les doutes cesseroient d’êtres vagues; soumis au calcul & par conséquent appréciables, ils se convertiroient en propositions affirmatives: alors la secte de Carnéade, regardée autrefois comme la philosophie par excellence, puisqu’on lui donnoit le nom d’élective, seroit purgée de ces légers défauts que la querelleuse ignorance a reprochés avec trop d’aigreur à cette philosophie dont les dogmes étoient également propres à éclairer les esprits, & à adoucir les mœurs. // Si cette secte, conformément à ses principes, n’admettoit point de vérités, elle admettoit du moins des apparences, vouloit qu’on réglât sa vie sur ces apparences, qu’on agît lorsqu’il paroissoit plus convenable d’agir que d’examiner, qu’on délibérât mûrement lorsqu’on avoit le temps de délibérer; qu’on se décidât par conséquent plus sûrement, & que dans son ame on laissât toujours aux vérités nouvelles une entrée que leur ferment les dogmatiques. Elle vouloit, de plus, qu’on fût moins persuadé de ses opinions, plus lent à condamner celles d’autrui, par conséquent plus sociable; enfin que l’habitude du doute, en nous rendant moins sensibles à la contradiction, étouffât un des plus féconds germes de haine entre les hommes« (Helvétius: De l’esprit [s. Anm. 9], S. 7).
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geraten und sich gezwungen zu sehen, die Enthaltung von jeder Aktion zu fordern. Somit sei er zu den Positionen gelangt, die Garve selbst in erneuerter Form in seiner Magisterdisputation vertritt: […] neue ἀπραξίαν & ab omni actione suspensionem admittere viderentur, [scil. Academici] addebant alterum dogma de Probabilitate. Quanquam enim visum verum a falso negarent posse quodam diuerso sentiendi modo distingui, tamen & rerum circumstantium & aliorum visorum facta comparatione, posse aiebant probabile fieri, aliquod visum verum potius quam falsum esse. Atque haec probabilitatis momenta colligere ac ponderare, & actionem ad id in quo sit maxima vis probabilitatis, attemperare, id vero esse sapientis. […] oder damit es nicht schiene, sie würden die apraxía und die Enthaltung von jeder Tätigkeit zugeben, fügten sie [nämlich die Akademiker zur Lehre von der Akatalepsie] ein zweites Dogma hinzu: über die Wahrscheinlichkeit. Obwohl sie nämlich verneinten, dass man eine wahre sinnliche Erscheinung von einer falschen auf Grund einer verschiedenen Art des Wahrnehmens unterscheiden könne, behaupteten sie dennoch, dass durch Vergleich der Umstände und der sonstigen sinnlichen Erscheinungen wahrscheinlich werden könne, irgendeine sinnliche Erscheinung sei eher wahr als falsch. Und diese Momente der Wahrscheinlichkeit zusammenzubringen und zu gewichten, und die Tätigkeit demjenigen anzupassen, worin die höchste Kraft der Wahrscheinlichkeit liegt, das komme wahrhaft dem Weisen zu. (§ 17, S. 28)
Ob nun der altgriechische Begriff πιθανόν (›glaubhaft‹) dem modernen Begriff des Wahrscheinlichen entspricht, das ist zwar heute umstritten.38 Überdies sind manche Interpreten der Auffassung, Karneades’ Theorie des πιθανόν sei zwar kritisch gegen die Stoiker gewendet, behaupte aber keine Möglichkeit der Annährung an Wahrheit.39 Garve sieht aber auf jeden Fall eine direkte und sehr starke Verbindung zwischen seiner Lehre der Wahrscheinlichkeit und derjenigen von Karneades und den weiteren Vertretern der sogenannten Neuen Akademie. Die Doktrin der Akademiker, die die Stoiker fälschlich nicht erkannt und geschätzt hätten, sei mit den Theorien der Sinnlichkeit von Aristippos (auch von Kyrene, wie Karneades) und Epikur kompatibel (vgl. dazu § 19). Die Theorie der Sinnlichkeit dieser beiden antiken Denker sei – wie oben erwähnt – später von modernen Philosophen (gemeint ist sicherlich Gassendi, wohl aber auch John Locke)
|| 38 Für eine Übersetzung mit ›wahrscheinlich‹ plädiert zum Beispiel Woldemar Görler in: Karneades. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Bd. 4/2: Die hellenistische Philosophie. Hg. von Hellmut Flashar. Basel 21994, S. 860–866. 39 So Mario Dal Pra: »Muovendo […] dalla teoria stoica della persuasione Carneade la ritorceva contro gli stoici. Egli chiama persuasiva la rappresentazione che appare vera, ossia che è verosimile; ma non bisogna certo credere che la verosimiglianza implichi una maggiore o minore vicinanza al vero […]; persuasiva è la rappresentazione […] che ci spinge all’assenso; […] il πιθανόν di Carneade non è dunque altro che il πιθανόν degli stoici« (Mario Dal Pra: Lo scetticismo greco. Dritte, verbesserte Auflage. Roma, Bari 1989, S. 273–274). Und weiter: »Carneade ha dunque trovato nello stoicismo gli elementi fondamentali della dottrina di gradi della certezza o persuasione« (ebd., S. 278).
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bewiesen worden und solle dementsprechend auch von uns als grundlegend angenommen werden (vgl. dazu den Anfang von § 20). Richtig sehe Epikur vor allem die Tatsache, dass wir das Urteil über die Sache, die wir durch das Sehen und Hören wahrnehmen, vom Urteil über den Sinn selbst des Sehens und Hörens trennen müssen. Die Wahrheit könne dementsprechend nur in die Sinne gesetzt werden. Es sei also einerseits vollkommen ausreichend festzulegen, dass in jeder Wahrnehmung ein Impuls des körperlichen Dinges ist, und dass diesem Impuls eine Änderung in den Mechanismen des Gehirns korrespondiert. Schwieriger sei natürlich zu verstehen, was überhaupt diese Bewegung in uns verursacht. Am schwierigsten sei schließlich, auf Grund dieser Affektionen die Natur und die Eigenschaften selbst der Dinge außer uns irgendwie zu erkennen (vgl. dazu § 20f.). Man könne also – mit Epikur – behaupten, dass die Sinne als solche notwendigerweise sicher sind. Was Epikur allerdings ignoriere, sei eher die zusätzliche Tatsache, dass die Erkenntnis des wahrgenommenen Dinges nur wahrscheinlich sein kann und als solche – in ihrer Wahrscheinlichkeit – thematisiert werden muss. Garve legt dementsprechend noch einmal gewisse Grade oder Kriterien fest, und zwar – in diesem nun der Sinnlichkeit gewidmeten Abschnitt der Disputation – die Kriterien der fundamentalen Unterscheidung der tatsächlichen Wahrnehmungen von den Einbildungen der Phantasie. Erstes Kriterium: die Kraft und Klarheit der Wahrnehmung. Zweites Kriterium: die Koordination (Widerspruchsfreiheit) der Wahrnehmungen. Drittes Kriterium: Körper und Geist sind in einem gewöhnlichen und natürlichen Zustand. Viertes Kriterium: Ordnung und Regelmäßigkeit der Wahrnehmungen nach der Grund-Folge-Ordnung der Dinge. Fünftes Kriterium: die Übereinstimmung unserer Wahrnehmungen mit denen der anderen (vgl. dazu § 22). Darauf folgen die genauso wichtigen Kriterien der Zuschreibung des Wahrgenommenen zu einem externen Ding. Fundamental in diesem Sinne sei die Feststellung, dass nicht Eigenschaften als solche, sondern nur Verhältnisse in Zeit und Raum (also Änderungen und Relationen) uns Unterschiede (oder Gleichheiten) in den Sachen selbst – mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit – zeigen können. Als Wahrnehmende bleiben wir ohnehin immer im Bereich der Wahrscheinlichkeit (vgl. dazu § 23).
5 Schluss Betrachtet man das Verhältnis, das Garves Sinnlichkeitslehre mit den anderen Teilen seiner Abhandlung verbindet, dann ist man mit einem ähnlichen Phänomen wie zum Beispiel einige Jahre später in Kants Kritik der reinen Vernunft konfrontiert. Die Lehre von der Sinnlichkeit (dort Transzendentale Ästhetik) bleibt zwar an sich marginal vor und außerhalb der Entfaltung des Systems der Logik (dort Analytik der Begriffe, der Grundsätze, Transzendentale Dialektik und Methodenlehre); sie prägt
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aber von Anfang an und konstitutiv die fundamentalen Einstellungen und die Grundinhalte des darauf entwickelten Systems. So bleiben auch Garves Analysen der Begriffe, der Urteile und der Schlüsse sowie seine Untersuchungen über die Wahrscheinlichkeit, die bei den Zeugnissen der anderen zu finden ist, von seiner Auffassung des sinnlich Wahrscheinlichen zutiefst abhängig. Wie wir diesen Aufsatz begannen, so enden wir also auch mit einem schnellen Vergleich zwischen Christian Garve und Immanuel Kant. Zusammenfassend kann man vielleicht Folgendes über Garves De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium behaupten: Zusammen mit (1) der Umformulierung der Grundprinzipien der Philosophie im ersten Teil des Texts und (2) dem wiederholt behaupteten Primat der Praxis über die Theorie ermöglicht vor allem (3) seine ganz besondere Auffassung der Sinnlichkeit die Entfaltung des Projekts einer radikalen Ersetzung der Systeme der Logik und der Metaphysik durch eine (allumfassende) Lehre des Wahrscheinlichen.
Mischa von Perger
Christian Garves WahrscheinlichkeitsSyllogistik 1 Kategorische Wahrscheinlichkeits-Syllogismen Eine ›kategorische‹ Aussage ist eine, in der demjenigen, was unter einen bestimmten Begriff fällt, dasjenige, was unter einen zweiten Begriff fällt, zu- oder abgesprochen wird. Der erstere Begriff heißt ›Subjekt‹, der letztere ›Prädikat‹ oder ›Attribut‹, der beide aufeinander beziehende Ausdruck ›Kopula‹. Die aristotelische Syllogistik bietet ein Regelwerk für die Kunst, aus als wahr bekannten Sätzen unbekannte zu folgern.1 Werden die Regeln beachtet, ist der syllogistische Schluss wahrheitserhaltend, d. h.: Sind dann die Prämissen (die geeigneten bekannten Sätze) wahr, ist es auch die Konklusion (der erschlossene neue Satz). Ein einfacher – im Unterschied zu einem zusammengesetzten – Syllogismus besteht aus genau zwei Prämissen und einer Konklusion. Ein Beispiel: Syllogismus 1a Alle Menschen sind sterblich. Alle Eskimos sind Menschen. Also gilt: Alle Eskimos sind sterblich.
Diese Schreibweise, in der die drei kategorischen Sätze voneinander getrennt stehen, hat den Vorzug der Knappheit. Der Syllogismus lässt sich aber auch als ein einziger bedingter Satz (Wenn-dann-Satz) auffassen, wobei die Bedingung zweiteilig ist: Syllogismus 1b Wenn alle Menschen sterblich sind und alle Eskimos Menschen sind, dann sind alle Eskimos sterblich.
|| 1 Zur aristotelischen Syllogistik – vornehmlich betreffend die kategorischen Syllogismen – siehe Wolfgang Detel: Die Logik der wissenschaftlichen Argumentation. In: Aristoteles: Analytica posteriora. Übersetzt und erläutert von Wolfgang Detel (Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 3. Teil II: Analytica posteriora). Zwei Halbbde. Berlin 1993, hier 1. Halbbd., S. 158–188. – Als Folie für die unten referierten Darlegungen Garves kann dem Leser die Lehre von den einfachen (d. h. hier: kategorischen) Syllogismen in der sogenannten Logik von Port-Royal dienen: Antoine Arnauld, Pierre Nicole: Die Logik oder Die Kunst des Denkens. Übersetzt und eingeleitet von Christos Axelos. Darmstadt ²1994, Teil 3: Vom Schluß, Kapitel 1–11 (S. 169–207). https://doi.org/10.1515/9783110743654-003
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Im Folgenden wird stets die erstere Schreibweise (wie in Syllogismus 1a) verwendet. Das Regelwerk erlaubt es, Schlussfehler zu erkennen. Die folgenden vier Syllogismen sind fehlerhaft gebaut (ein regelwidriger Syllogismus wird im Folgenden dadurch gekennzeichnet, dass ein eingeklammertes ›F‹ hinter seine laufende Nummer gesetzt wird). Die Prämissen sollen jeweils als wahr gelten: Syllogismus 2 (F) Vögel fliegen gemeinhin durch die Luft. Der Strauß ist ein Vogel. Also gilt: Der Strauß fliegt durch die Luft. Syllogismus 3 (F) Wer jemanden ermordet, muss bestraft werden. Der Mann auf der Theaterbühne erweckt den Anschein, dass er jemanden ermordet. Also gilt: Der Mann auf der Theaterbühne muss bestraft werden. Syllogismus 4 (F) Niemand, der Mut hat, ist ein Mädchen. Peter hat keinen Mut. Also gilt: Peter ist ein Mädchen. Syllogismus 5 (F) Fische bewegen sich schwimmend durchs Wasser. Wale bewegen sich schwimmend durchs Wasser. Also gilt: Wale sind Fische.
Die Konklusionen all dieser Syllogismen sind – so sei hier angenommen – falsch. Somit können die Syllogismen nicht den logischen Regeln entsprechen. Tatsächlich lässt sich der jeweilige Regelverstoß benennen. Die beiden Prämissen eines einfachen kategorischen Syllogismus – sie werden ›Ober-‹ und ›Untersatz‹ genannt – haben jeweils einen Subjekt- und einen Prädikatbegriff. Einer der beiden Begriffe im Untersatz ist mit einem aus dem Obersatz identisch, so dass die Prämissen aus insgesamt drei verschiedenen Begriffen gebaut sind. Auch der ganze Syllogismus weist nur diese drei Begriffe auf, denn in der Konklusion stehen jene beiden Begriffe, die jeweils in nur einer der beiden Prämissen vorkommen. Derjenige Begriff, der in beiden Prämissen, aber nicht mehr in der Konklusion auftritt, heißt ›Mittelbegriff‹. Zugelassen sind allgemeine Sätze (AllSätze) und partikuläre Sätze (Sätze über einiges, was unter den Subjektbegriff fällt); Einzelsätze (Sätze über ein bestimmtes Subjekt) können wie allgemeine Sätze behandelt werden, denn es sind ja Sätze über alles, was unter den Subjektbegriff fällt, mit der Besonderheit, dass nur eine Sache unter diesen Begriff fällt. Je nach der Anordnung der drei Begriffe, nach der besagten Quantifizierung der Sätze und nach dem Einsatz oder Nicht-Einsatz von Negationen ergeben sich gültige oder nichtgültige Schlussformen, um deren systematische Zusammenstellung und Analyse sich Aristoteles und unzählige ihm folgende Gelehrte bemüht haben.
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Die besagten drei Begriffe können in den Prämissen auf vier Weisen verteilt sein. Entsprechend unterscheidet man vier Figuren der Syllogismen. Zu jeder Figur gehören einige gültige Schlussformen, die von mittelalterlichen Logikern mit Eigennamen versehen wurden. Im obigen Syllogismus 1 steht der Mittelbegriff in der ersten Prämisse an erster Stelle (als Subjekt), in der zweiten an zweiter Stelle (als Prädikat). Diese Anordnung macht die sogenannte erste Figur aus. Zudem handelt es sich in Syllogismus 1 bei allen drei Sätzen um All-Sätze und um bejahende Sätze (ohne Negationen). Ein solcher Syllogismus der ersten Figur trägt den Namen Barbara. Nach einer Auffassung, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gängig war und sich etwa in philosophischen Lexika niedergeschlagen hat, ist ein Wahrscheinlichkeits-Syllogismus einer, bei dem eine der beiden obligatorischen Prämissen nicht wahr, sondern nur wahrscheinlich ist.2 Die Bestimmung wahrscheinlich gibt dem Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat eine besondere Prägung, so wie bei den klassischen ›Modalbegriffen‹ (notwendig, möglich usw.). Aus einer wahren und einer bloß wahrscheinlichen Prämisse ergibt sich dann eine bloß wahrscheinliche Konklusion. Ein Beispiel: Syllogismus 6 An welchem Tun auch immer der Pastor – der ja den Willen Gottes kennt und mäßigend auf die Sitten einwirkt – sich beteiligt, das ist erlaubt. Der Pastor beteiligt sich am Tanz. Also ist der Tanz erlaubt.3
|| 2 Siehe etwa Friedrich Christian Baumeister: Institutiones philosophiae rationalis methodo Wolfii conscriptae. 11., vermehrte und verbesserte Auflage. Wittenberg 1747, S. 229f. (§ 407): »Denjenigen Syllogismus nennen wir wahrscheinlich, in dem eine der beiden Prämissen ein wahrscheinlicher Satz ist.« (»Syllogismum dicimus illum probabilem, in quo alterutra praemissarum est propositio probabilis.«) – Manche Autoren lassen sogar den Fall zu, dass beide Prämissen nur wahrscheinlich sind. (Dabei bleibt unberücksichtigt, dass solche Wahrscheinlichkeits-Syllogismen ungültig sein können, wenn man Grade der Wahrscheinlichkeit zulässt. Hat etwa die Wahrscheinlichkeit jeder der beiden Prämissen einen nur geringfügig höheren Grad als die ihres jeweiligen Gegenteils, ist die Konklusion unwahrscheinlich.) Benjamin Hederich etwa verweist in seinem Lexikon unter dem Stichwort ›Syllogismus probabilis‹ auf das gleichbedeutende ›Syllogismus dialecticus‹ und führt zu diesem aus: »Syllogismus dialecticus ist, dessen Propositiones wahr zu seyn scheinen, iedoch aber nicht so gewiß sind, daß allemahl ein untrüglicher Schluß daher zu machen ist«. Benjamin Hederich: Reales Schul-Lexicon […]. 3., verbesserte Aufl. Leipzig 1748, Sp. 2615 (Syllogismus probabilis) und Sp. 2612 (Zitat). 3 Als Beispiel eines Schlusses, wie er bei ungebildeten Leuten (plebeii homines) üblich sei, findet sich dieser Wahrscheinlichkeits-Syllogismus bei Baumeister: Institutiones (siehe die vorige Anm.), S. 230 (§ 407): »Quicquid pastor, uoluntatem Dei sciens, et morum moderator, suscipit, illud licitum est. Atqui pastor saltationem suscipit Ealtatio est licita.«
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Wären beide Prämissen wahr, könnte auch die Konklusion als wahr gelten. Tatsächlich wissen wir aber nicht, ob alles, was der Pastor tut, wirklich erlaubt ist; möglicherweise lässt seine Frömmigkeit oder Urteilskraft hier und da zu wünschen übrig. Der Obersatz ist bloß wahrscheinlich; deshalb ist auch die Konklusion, in der wir dem vom Pastor nicht verschmähten Tanz zuerkennen, er sei erlaubt, bloß wahrscheinlich. Tragen wir diese Einschätzung des Obersatzes und der Konklusion in Syllogismus 6 ein, ergibt sich Folgendes: Syllogismus 7 Wahrscheinlich gilt: An welchem Tun auch immer der Pastor sich beteiligt, das ist erlaubt. Der Pastor beteiligt sich am Tanz. Also gilt wahrscheinlich: Der Tanz ist erlaubt.
Solche Überlegungen führten dazu, dass manche Wahrscheinlichkeits-Theoretiker wohl der Identifizierung von wahrscheinlichen Sätzen und womöglich auch der Bestimmung des Grades ihrer Wahrscheinlichkeit Aufmerksamkeit schenkten, nicht jedoch der Syllogistik. Die syllogistischen Regeln konnten, so schien es, einfach aus der demonstrativen (beweisenden, wahrheitserhaltenden) Syllogistik in die der Wahrscheinlichkeitslogik übernommen werden. Auf eine wahrscheinliche Konklusion käme man demnach aufgrund der gleichen syllogistischen Regeln, wie sie für das Erzielen von wahren Konklusionen gelten; der Unterschied bestünde nicht in der syllogistischen Form, sondern bloß im Material. In diesem Sinne äußerte sich etwa der Philosoph und spätere Jurist Ludwig Martin Kahle 1735 in seiner Monographie zur Wahrscheinlichkeitslogik.4 Anders Christian Garve in seiner Hallenser Magisterschrift De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium (Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört).5 Garve hat in einem vorangehenden Teil der Schrift dargelegt, inwieweit die
|| 4 Ludwig Martin Kahle: Elementa Logicae probabilium methodo mathematica in usum scientiarum et vitae adornata, Halle an der Saale 1735, S. 195 (§ 202): »Von der Form aber des wahrscheinlichen Syllogismus zu handeln, ist nicht nötig. Es gilt von ihr nämlich alles, was die Logiker vom beweiskräftigen oder gewöhnlichen Syllogismus schreiben, oder vom Syllogismus im Allgemeinen.« (»De forma autem syllogismi probabilis, vt agamus, necessarium non est, valent enim de ea omnia, quae de demonstratiuo, seu ordinario syllogismo, in scriptis logicorum, seu de syllogismo in genere traduntur.«) – Diese traditionelle Form einer Wahrscheinlichkeits-Syllogistik geht auf Aristoteles zurück, der zu Beginn seiner Topik den wahrheitserhaltenden, streng beweisenden Syllogismen solche an die Seite stellt, deren Prämissen nicht wahr, sondern wahrscheinlich sind, wobei die Wahrscheinlichkeit näherhin durch eine quantitativ oder autoritativ ausgezeichnete Gruppe von Menschen bestimmt wird, denen die betreffende Aussage wahr zu sein scheint. Aristoteles zieht überhaupt verschiedene Abschwächungen der Gültigkeit der Prämissen und entsprechend verschiedene Arten von Syllogismen in Betracht. Siehe Aristoteles, Topik I, Kapitel 1, 100a 18 – 101a 4. 5 Christian Garve: De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium […]. Halle an der Saale 1766. Diese Schrift wird hier nach der zweisprachigen Edition zitiert, die im vorliegenden Band enthalten ist. Die dabei gebrauchte Seitenzählung entspricht dem Originaldruck und ist in der
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Sinneswahrnehmung verlässlich ist6 und wie wir aufgrund solcher Wahrnehmung durch unvollständige Induktion zu Ideen und Urteilen kommen, denen, wenn nicht Gewissheit, so doch Wahrscheinlichkeit zugesprochen werden kann.7 Ein kompaktes Lehrstück ist der anschließende Abschnitt, in dem Garve WahrscheinlichkeitsSyllogismen einführt – analog zur klassischen Syllogistik, die in der ›Wahrheitslogik‹ einen festen Platz einnimmt. Dieser Abschnitt ist mit zahlreichen Beispielen gespickt, von denen einige mehr oder weniger formalisiert, andere verschiedenen Bereichen des menschlichen Handelns gleichsam entnommen und in Normalsprache gehalten sind. Ein erster Teilabschnitt gilt den kategorischen Syllogismen, ein zweiter den hypothetischen, die auch in vorliegendem Aufsatz erst weiter unten vorgestellt werden sollen.8 Die Pointe von Garves Darlegungen zur Syllogistik besteht darin, dass er einige in der Wahrheitslogik fehlerhafte, nicht wahrheitserhaltende Schlussweisen, wie sie etwa in den oben aufgeführten Syllogismen 2–5 vorliegen, als in der Wahrscheinlichkeitslogik gültig anerkennt. Er stellt also Wahrscheinlichkeits-Syllogismen auf, die formal keine gültige Entsprechung unter den Wahrheits-Syllogismen haben. Manches, was bei den strikten syllogistischen Beweisverfahren formal fehlerhaft sei und deshalb vermieden werden müsse, könne zum Erschließen von Wahrscheinlichkeit dienlich und gemäß einem entsprechend aufzustellenden Regelwerk korrekt sein. Die Wahrscheinlichkeits-Syllogistik habe somit ihr eigenes Regelwerk.9 Garve versucht sich an einer kurz gefassten Darstellung, indem er vier Grundregeln aufstellt und durch sie die wichtigsten speziell für die kategorischen Schlüsse der Wahrscheinlichkeits-Syllogistik geltenden Schemata begründet. Als Folie dient ihm jedoch die altbekannte Wahrheits-Syllogistik. Um den Syllogismus als Gegenstand einzuführen, erklärt Garve zunächst, was dieses argumentative Gebilde sei, und zwar unter Rückgriff auf eine Schrift, die »ein gewisser höchst kunstfertiger Philosoph«10 kürzlich vorgelegt habe. Gemeint ist offenbar Kants Abhandlung Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren aus dem Jahr 1762. Kant unterscheidet hier die direkten und die indirekten Merkma|| Edition mitangegeben; auch die Zeilenzählung gilt sowohl für das Original als auch für die Neuedition. 6 Ebd., § 16–24 (S. 24–43). Siehe hierzu im vorliegenden Band Giuseppe Motta: Ausgang aus der Metaphysik. Die Wahrscheinlichkeitslehre von Christian Garve aus dem Jahr 1766, hier Abschnitt 4: Die Sinnlichkeit (oben S. 24‒27). 7 Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), § 25 (S. 43–46). 8 Ebd., § 26–28 (S. 47–53) zu den kategorischen, § 29f. (S. 53–59) zu den hypothetischen Syllogismen. 9 Ebd., S. 48, Z. 2–4 (§ 26): »[…] wird man einsehen, dass man solches, was man in der Logik des Sicheren als Fehler tadelt, in der Logik des Wahrscheinlichen als Regeln annimmt.« (»[…] intelligeturque, quae in Logica certorum reprehenduntur vt vitia, ea in Logica probabilium tanquam regulas adoptari.«) 10 Ebd., S. 47, Z. 8 (§ 26): »quidam Philosophus elegantissimus«.
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le einer Sache und begreift den Syllogismus als die erkenntnismäßige Vermittlung der indirekten durch die direkten.11 Entsprechend bestimmt er die oberste, nicht weiter beweisfähige Regel der bejahenden Vernunftschlüsse so: »Ein Merkmal vom Merkmal ist ein Merkmal der Sache selbst« (oder, im Hinblick auf die Schlussformeln ausgedrückt: »ein Merkmal B von einem Merkmal C einer Sache A ist ein Merkmal der Sache A selbst«).12 Diese Regel beweise jene andere, die fälschlich als die oberste angesehen werde: »Was von einem Begriff allgemein bejaht wird, wird auch von einem jeden bejaht, der unter ihm enthalten ist.«13 Garve kann für die Wahrscheinlichkeitsschlüsse die allgemeine Beschreibung, die Kant dem Syllogismus gegeben hat, übernehmen: Auch eine wahrscheinliche Konklusion lässt sich durch die Vermittlung eines indirekten durch ein direktes Prädikat erzielen. Jene Regeln aber, die dem wahrheitserhaltenden Syllogismus zugrundeliegen, verändert Garve für seine Wahrscheinlichkeits-Syllogistik. Die von ihm vorgestellten Formen der Wahrscheinlichkeits-Syllogismen versteht Garve als exemplarische Auswahl; eine vollständige Liste stellt er nicht auf. Die Auswahl genüge, um den Leser in den Stand zu setzen, weitere Formen zu finden, sofern solche überhaupt nützlich seien.14 Die ausgewählten Syllogismen sind in vier Gruppen geordnet. Die in die ersten beiden Gruppen verteilten Schlüsse verstehen sich von zwei Axiomen oder Prinzipien her, die der Gruppen 3 und 4 folgen jeweils einer bestimmten Argumentationsweise (ohne dass klar würde, wie Garve die so bezeichneten beiden Arten von Grundregeln voneinander unterschieden wissen will). Dieser Teil von Garves Abhandlung sei hier entsprechend in vier Abschnitten dargestellt (1.1–1.4). Zunächst erweitert Garve den Bereich, auf den sich die Urteile über die Merkmale beziehen können: Zum einen lässt sich ein indirektes Merkmal nicht nur dem Ganzen, sondern auch dem Teil des Begriffsumfangs eines direkten Merkmals zuschreiben, ohne dass das direkte Merkmal seine vermittelnde Funktion einbüßt; zum anderen kann, wenn das indirekte Merkmal einem direkten als dem Subjekt zugeteilt wird, die Vermittlung nicht nur durch dieses direkte Merkmal selbst, sondern auch durch ein ihm ähnliches (mit ihm Merkmale teilendes) geleistet werden. Diese beiden Möglichkeiten hält Garve in seinen wahrscheinlichkeitslogischen Axiomen fest:
|| 11 Immanuel Kant: Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, erwiesen von M. Immanuel Kant. Königsberg 1762, § 1f. (AA 2, S. 45–61, hier S. 47–49); siehe hier vor allem S. 48 (§ 1): »[…] meine Realerklärung von einem Vernunftschlusse«, und S. 49 (§ 2): »[…] daß die erste und allgemeine Regel aller bejahenden Vernunftschlüsse sei: Ein Merkmal vom Merkmal ist ein Merkmal der Sache selbst (nota notae est etiam nota rei ipsius); von allen verneinenden: Was dem Merkmal eines Dinges widerspricht, widerspricht dem Dinge selbst (repugnans notae repugnat rei ipsi).« 12 Zitat 1: ebd., wie oben; Zitat 2: ebd., S. 51 (§ 4). 13 Ebd., S. 49 (§ 2). 14 Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), S. 53, Z. 18–20 (§ 29).
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Axiom 1 Wenn einem Teil der unter einem Begriff enthaltenen Dinge etwas zukommt, so kommt dies wahrscheinlich auch einem bestimmten unter diesem Begriff stehenden Ding zu, so dass das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit zur Wahrheit dem Verhältnis jenes Teils zum Ganzen entspricht. Axiom 2 Was einem Subjekt zugehört, das gehört wahrscheinlich auch solchen Dingen zu, die unter einem jenem Subjekt ähnlichen Begriff stehen, so dass das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit zur Wahrheit dem Verhältnis der Ähnlichkeit zur Selbigkeit entspricht.15
1.1 Wenn einem Teil der unter einem Begriff enthaltenen Dinge etwas zukommt, so kommt dies wahrscheinlich auch einem bestimmten unter diesem Begriff stehenden Ding zu Aus Axiom 1 folgt laut Garve eine neue Syllogismusform, die er durch fünf Beispiele illustriert.16 In dieser Form ist der Obersatz partikulär, und beide Prämissen sind bejahend. In der Wahrheits-Syllogistik gibt es keinen gültigen Schluss, wenn die erste Prämisse oder gar beide Prämissen partikulär sind; es wäre ein Fehler, auf diesem Weg eine Konklusion erzielen zu wollen. Um bei der ersten Figur zu bleiben, sei dies wenigstens für den Fall gezeigt, dass beide Prämissen bejahend sind, so wie in der gültigen Form Barbara und wie in Garves erstem Wahrscheinlichkeits-Syllogismus. Zum einen gibt es in der ersten Figur keinen wahrheitserhaltenden Syllogismus, dessen erste Prämisse bejahend und partikulär und dessen zweite bejahend und allgemein oder singulär wäre. Dies zeigt folgend Abwandlung von Syllogismus 6: Syllogismus 8 (F) Einiges Tun, an dem der Pastor sich beteiligt, ist erlaubt. Der Pastor beteiligt sich am Tanz. Also ist der Tanz erlaubt.
Die Konklusion ist nicht auf reguläre Weise erzielt worden. Aus den Prämissen folgt weder eine positive noch eine negative Aussage über das Erlaubtsein des Tanzes (vgl. auch oben Syllogismus 2). Wandelt man in Syllogismus 6 sowohl die allgemeine als auch die singuläre Prämisse jeweils in eine partikuläre um, erhält man:
|| 15 Frei nach ebd., S. 47, Z. 23–31 (§ 26). 16 Ebd., S. 48, Z. 5 – S. 49, Z. 26 (§ 26). Garves fünf Beispiele werden unten durch die Syllogismen 10–14 annäherungsweise wiedergegeben.
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Syllogismus 9 (F) Einiges Tun, an dem der Pastor sich beteiligt, ist erlaubt. Der Pastor beteiligt sich an manchen Tänzen. Also sind manche Tänze erlaubt.
Auch hier ist die Konklusion nicht korrekt gefolgert, und es gibt auch keine andere korrekte Konklusion. Aus den Prämissen folgt weder, dass alle Tänze, noch dass keiner erlaubt ist, und weder, dass ein oder mehrere Tänze erlaubt sind, noch, dass ein oder mehrere Tänze nicht erlaubt sind – und zwar deshalb, weil nicht bekannt ist, ob die Tänze, an denen sich der Pastor laut dem Untersatz beteiligt, unter dasjenige Tun des Pastors fallen, von dem laut dem Obersatz gilt, dass es erlaubt ist. Aufgrund seines ersten Axioms führt Garve aber nun fünf WahrscheinlichkeitsSyllogismen der ersten Figur vor, die jeweils einen partikulären bejahenden Obersatz und einen singulären oder allgemeinen bejahenden Untersatz haben.17 Um Garves Wahrscheinlichkeits-Syllogismen formal darzustellen, werden im Folgenden, soweit tunlich, die hier aufgeführten Siglen und Notationsweisen verwendet: Legende ws wahrscheinlich (probabile) ws-¾ wahrscheinlich im Verhältnis des Teils zum Ganzen 3:4 BA BaA BiA B i-¾ A
B i-m A
B ist A (bejahender singulärer Satz, traditionelle Notierung). Jedes B ist A (bejahender All-Satz, traditionelle Notierung). Irgendein B ist A oder irgendwelche B sind A (bejahender partikulärer Satz, traditionelle Notierung). ¾ B sind A (bejahender Satz, dessen Partikularität durch ein Verhältnis zwischen Teil und Ganzem bestimmt ist, hier zur Verdeutlichung von Garves Operationen eingeführte Notierung). Die Mehrheit von B ist A (bejahender partikulärer Satz mit unbestimmter Mehrheit, hier zur Verdeutlichung von Garves Operationen eingeführte Notierung).
Das erste Beispiel, das Garve von einem nach Axiom 1 veränderten Syllogismus gibt,18 lässt sich mit diesen Mitteln wie folgt wiedergeben – zunächst für den Fall, || 17 Garve behauptet freilich, diese Beispiele stünden allesamt für eine Form des Syllogismus, in der nicht nur der Ober-, sondern auch der Untersatz partikulär sei (ebd., S. 48, Z. 5f. [§ 26]: »enuntiatione vtraque praemissa particulari«). Nach der hier vorgelegten Rekonstruktion weisen jedoch die Beispiele 1 und 2 jeweils einen singulären Untersatz auf (siehe unten, Syllogismen 10a/b und 11), während die Beispiele 3–5 jeweils einen allgemeinen Untersatz erkennen lassen (Syllogismen 12, 13 und 14a/b). Tatsächlich führt Garve das dritte Beispiel als einen Fall ein, in dem das Subjekt des Untersatzes nicht eine einzige Sache, sondern eine Mehrzahl von Sachen sei (ebd., Z. 29–31); das Prädikat dieses Untersatzes betrifft jedoch nicht nur einige, sondern all diese unter dem Subjekt begriffenen Dinge. 18 Ebd., S. 48, Z. 8–14 (§ 26).
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dass die Partikularität im Obersatz durch ein numerisches Verhältnis des Teils zum Ganzen bestimmt ist: Syllogismus 10a B i-¾ A Drei Viertel aller B sind A. CB C ist B. ws-¾: C A Mit einer Wahrscheinlichkeit von ¾ gilt also: C ist A.
Die gleiche Form des Syllogismus ist, wie Garve feststellt, auch gültig, wenn der Obersatz sich auf eine unbestimmte Mehrheit desjenigen bezieht, was unter den Subjektbegriff fällt.19 Die Formalisierung lässt sich ganz ähnlich vornehmen: Syllogismus 10b B i-m A Die meisten B sind A. CB C ist B. ws: C A Wahrscheinlich gilt also: C ist A.
Hierbei ist eine Unschärfe beim Begriff wahrscheinlich zu beachten. Wird der Grad der Wahrscheinlichkeit durch ein Zahlenverhältnis benannt, lässt Garve auch solche Verhältnisse zu, deren Zähler kleiner als der Nenner ist – die Konklusion von Syllogismus 10a etwa ließe sich durch die Aussage ergänzen: ›Mit einer Wahrscheinlichkeit von ¼ gilt: C ist nicht A.‹ Somit ist Syllogismus 10a auch gültig, wenn wir ›i-¼‹ und ›w-¼‹ statt ›i-¾‹ bzw. ›w-¾‹ einsetzen. Was aber eine Wahrscheinlichkeit von nur ¼ hat, ist in der landläufigen Ausdrucksweise unwahrscheinlich. Bei nicht bezifferter Wahrscheinlichkeit lässt Garve diesen Gegensatz zwischen wahrscheinlich und unwahrscheinlich hier gelten. So verlangt er für Syllogismus 10b, dass die Partikularität des Obersatzes eine mehrheitliche sei (i-m); wäre das nicht gesichert, so ergäbe sich für die Konklusion keine Wahrscheinlichkeit, sondern es könnte sich dabei auch um einen unwahrscheinlichen Satz handeln oder um einen, der zwischen wahrscheinlich und unwahrscheinlich die Waage hielte. Für den so eingeführten ersten Wahrscheinlichkeits-Syllogismus gibt Garve als nächstes ein konkreteres Beispiel. Durch die neue Syllogismusform lasse sich nämlich eine gewisse moralische Verpflichtung bestätigen: Wenn uns jemand in der Erwartung von Hilfe seine Not klagt, dürfen wir nicht tatenlos bleiben und zur Begründung darauf verweisen, es könne ja der Fall sein, dass der Klagende bloß simuliere. Jemand, der vor anderen seine Not klagt, pflegt tatsächlich notleidend zu sein. Also ist es wahrscheinlich auch im konkreten Fall so, und das hat meine Handlungsweise zu bestimmen.20 Das Beispiel gehört zu den Fällen mit unbestimmtmehrheitlicher Partikularität im Obersatz (vgl. oben Syllogismus 10b):
|| 19 Ebd., Z. 14–16. 20 Ebd., Z. 23f.: »Hac quoque probabilitatis regula confirmatur officium humanitatis […].«
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Syllogismus 11 Der größere Teil derer, die bei der Barmherzigkeit anderer Zuflucht suchen, tut dies von der Notwendigkeit getrieben (und schützt die Hilfsbedürftigkeit nicht nur vor). Herr Meier sucht bei der Barmherzigkeit anderer Zuflucht. Wahrscheinlich also tut Herr Meier dies von der Notwendigkeit getrieben.
Damit hat Garve seine Wahrscheinlichkeits-Syllogistik an das Ziel zurückgebunden, dem er die ganze Abhandlung widmete: An deren Anfang stand die Überlegung, dass die Wahrscheinlichkeitslogik – wenn sich denn eine solche entwickeln lasse – dazu dienen könne, dass wir uns über unser Handeln, insbesondere das Zustandekommen unserer Entschlüsse, verständigen.21 Dem entspricht das besagte Syllogismus-Beispiel. Im Vergleich mit einem traditionellen oder topischen WahrscheinlichkeitsSyllogismus22 (siehe oben Syllogismus 7) fällt auf: Bei letzterem sind eine Prämisse und die Konklusion Wahrscheinlichkeits-Aussagen, in Garves Schema nur die Konklusion. Zwar lässt sich in den Syllogismen 10a/b und 11 der Obersatz jeweils in eine Wahrscheinlichkeits-Aussage ummünzen – im Fall von Syllogismus 11 etwa so: ›Wer bei der Barmherzigkeit anderer Zuflucht sucht, tut dies wahrscheinlich von der Notwendigkeit getrieben‹ –, aber dabei geht es nicht um eine topische Wahrscheinlichkeit (um das, was einer bestimmten Menge von Leuten wahr zu sein scheint), sondern um eine partikulär – und zwar durch ein Verhältnis des Teils zum Ganzen – bestimmte Wahrscheinlichkeit. Eine solche Aussage ist als Wahrheits-Aussage über die Mehrheit einer Reihe von Fällen zu verstehen und auch zu formulieren. In den Wahrscheinlichkeits-Syllogismen 10a/b und 11 ist in diesem Sinne der Obersatz jeweils eine partikuläre bejahende Aussage. Die übrigen drei von Garve aufgebotenen Beispiele illustrieren zwei Besonderheiten, die in gewissen Syllogismen der besagten neuen Form auftreten. Durch das erste Beispiel dieser Gruppe weist Garve darauf hin, dass sich die syllogistisch erschlossene Wahrscheinlichkeit in manchen Fällen bis hin zur höchsten Gewissheit oder Notwendigkeit steigern lässt.23 Einen entsprechenden Fall beschreibt Garve nur, ohne ihn in syllogistische Form zu bringen; eine solche sähe folgendermaßen aus: Syllogismus 12 B i-¾ A Drei Viertel aller Steinchen, die in der Urne verborgen sind, sind schwarz. CaB Alle Steinchen, die ich nun herausziehen werde, sind in der Urne verborgen. ws: C i-¾ A Wahrscheinlich gilt also: Dreiviertel der Steinchen, die ich nun herausziehen werde, sind schwarz.
|| 21 Ebd., § 1f., zusammengenommen mit dem Titel der Schrift. 22 Durch den Ausdruck ›topischer Syllogismus‹ soll hier die Verbindung zu Aristoteles’ Topik angezeigt werden (s. Anm. 4). 23 Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), S. 48, Z. 29 – S. 49, Z. 10 (§ 26).
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Die Wahrscheinlichkeit der Konklusion ist desto höher, je mehr sich die Anzahl der zu ziehenden Steinchen der Anzahl aller Steinchen nähert, die in der Urne liegen. Und sobald die zu ziehenden Steinchen mehr als ein Viertel aller in der Urne verborgenen ausmachen, kommt das Prädikat schwarz einem oder mehreren der zu ziehenden Steinchen zu. Die noch folgenden letzten beiden Beispiele sollen zeigen, inwiefern sich durch einen einschlägigen Syllogismus unter einer zusätzlichen Bedingung die durch ein Verhältnis zwischen Teil und Ganzem bestimmte Partikularität vom Subjekt des Obersatzes auf das Subjekt der wahrscheinlichen Konklusion übertragen lässt. Die hierfür notwendige Bedingung betrifft den jeweiligen Teilungsgrund der in den beiden Prämissen angezeigten Partikularitäts-Verhältnisse: Der Teil des Subjekts, der im Obersatz ein bestimmtes Prädikat zugesprochen bekommt, darf nicht nach dem gleichen Prinzip von diesem Subjekt abgeteilt sein wie das Subjekt des Untersatzes.24 Dies lässt sich an folgendem Syllogismus verdeutlichen:25 Syllogismus 13 ¼ A ist B. C ist eine Form oder Art von A. Also gilt wahrscheinlich: ¼ C ist B.
A i-¼ B CaA ws: C i-¼ B
Die Wahrscheinlichkeit der Konklusion wäre dann nicht gegeben, wenn dasjenige Viertel von A, dem im Obersatz das Prädikat B zugesprochen wird, eine Form oder Art von A gemäß dem im Untersatz angewandten Einteilungskriterium ausmachen sollte. Dann nämlich wäre damit zu rechnen, dass C insgesamt nicht diejenige Form oder Art wäre, der das Prädikat des Obersatzes zukäme, sondern eine andere. Anhand eines konkreten Beispiels26 zeigt Garve, dass die Wahrscheinlichkeit der Konklusion in einem solchen Syllogismus desto niedriger wird, ein je kleinerer Anteil dessen, was unter den Subjektbegriff des Obersatzes fällt, als Subjekt des Untersatzes fungiert. Syllogismus 14a Die Hälfte der Kinder, die im Land X geboren werden, stirbt vor dem Erreichen des zweiten Lebensjahres. Die Kinder, die in der Stadt Y geboren werden, gehören zu den Kindern, die im Land X geboren werden. Wahrscheinlich also gilt: Die Hälfte der Kinder, die in der Stadt Y geboren werden, stirbt vor dem Erreichen des zweiten Lebensjahres.
|| 24 Ebd., S. 49, Z. 11–26 (§ 26). 25 Vgl. ebd., Z. 17–19. 26 Ebd., Z. 20–26.
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Nehmen wir im Untersatz statt der Kinder einer Stadt einen kleineren Anteil der Kinder eines Landes zum Subjekt, verringert sich die Wahrscheinlichkeit der Konklusion: Syllogismus 14b Die Hälfte der Kinder, die im Land X geboren werden, stirbt vor dem Erreichen des zweiten Lebensjahres. Die Kinder, die in der Familie Meier geboren werden, gehören zu den Kindern, die im Land X geboren werden. Wahrscheinlich also gilt: Die Hälfte der Kinder, die in der Familie Meier geboren werden, stirbt vor dem Erreichen des zweiten Lebensjahres.
1.2 Was einem Subjekt zugehört, das gehört wahrscheinlich auch solchen Dingen zu, die unter einem jenem Subjekt ähnlichen Begriff stehen Die bisherigen Beispiele zeigten Wahrscheinlichkeits-Syllogismen, bei denen die Quantoren in den Prämissen so verteilt sind, dass sich in der Wahrheits-Syllogistik keine gültigen Schlüsse ergäben. Die zweite von Garve herausgestellte Abweichung der Wahrscheinlichkeits- von der Wahrheits-Syllogistik betrifft die Anzahl der in einem Syllogismus zugelassenen Begriffe.27 Der einfache Wahrheits-Syllogismus muss, wie weiter oben dargelegt, aus genau drei Begriffen bestehen: einem Mittelbegriff, der in beiden Prämissen, aber nicht in der Konklusion vorkommt, und zwei weiteren Begriffen, von denen der eine im Obersatz und in der Konklusion, der andere im Untersatz und in der Konklusion auftritt. Das zweite von Garve aufgestellte Axiom28 bewirkt nun durch die Einführung eines Begriffs, der dem Subjekt des Obersatzes ähnlich sein soll, dass der Wahrscheinlichkeits-Syllogismus zwei Mittelbegriffe gestattet und somit ingesamt vier Begriffe enthalten kann, was gegen die Regeln der Wahrheits-Syllogistik verstößt (vgl. oben Syllogismus 3). Für einen solchen Syllogismus unterscheidet Garve zwei Fälle. Im ersten Fall soll bekannt sein, dass der zweite Mittelbegriff einige Merkmale mit dem Subjekt des Obersatzes teilt, aber unbekannt, ob er alle Merkmale mit ihm teilt. Ein solcher zweiter Mittelbegriff heiße ›D‹. Als Formalisierung ergibt sich dann: Syllogismus 15 BaA CD ws: C A
|| 27 Ebd., S. 49, Z. 28 – S. 50, Z. 29 (§ 27). 28 Siehe ebd., S. 47, Z. 27–31 (§ 26).
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Die Form dieses Wahrscheinlichkeits-Syllogismus ist an die aus den WahrheitsSyllogismen bekannte Form Barbara angelehnt. Dort aber wäre der Schluss ungültig, wenn der Prädikatbegriff im Untersatz nicht der gleiche wäre wie der Subjektbegriff im Obersatz (vgl. oben die Syllogismen 1 und 2). Ein konkretes Beispiel für einen solchen Wahrscheinlichkeits-Syllogismus entnimmt Garve dem Bereich der Medizin: Syllogismus 16 Alle Fälle von Krankheit B haben den Tod zur Folge. Die beim Patienten Meier vorliegende Krankheit ist eine, die einige Symptome mit Krankheit B gemein hat. Wahrscheinlich also gilt, dass die beim Patienten Meier vorliegende Krankheit den Tod zur Folge hat.
Der Grad der Wahrscheinlichkeit der Konklusion hängt davon ab, wie viele Merkmale des zweiten Mittelbegriffs schon erforscht und auf Übereinstimmung mit den Merkmalen des Subjektbegriffs des Obersatzes überprüft wurden. Der zweite Fall für einen auf Axiom 2 beruhenden Syllogismus ist dadurch charakterisiert, dass zwar die Verschiedenheit der beiden Mittelbegriffe bekannt ist, dass aber der Grund, warum im Obersatz das Prädikat dem ersten Mittelbegriff als dem Subjekt zugesprochen wird, nicht in Merkmalen beruht, die nur diesem ersten Mittelbegriff eigen wären, sondern in solchen, die er mit dem zweiten Mittelbegriff gemeinsam hat. Es stehe ›E‹ für einen solchen Begriff, der mit B die Merkmale X, Y und Z teilt, aufgrund derer Prädikat A dem Subjekt B zugesprochen wird. Dann gilt, unter entsprechender Abwandlung von Syllogismus 16: Syllogismus 17 BaA CE ws: C A
Die Konkretisierung dieses Beispiels erfolgt in Anlehnung an Syllogismus 17: Syllogismus 18 Alle Fälle von Krankheit B haben den Tod zur Folge. Die beim Patienten Meier vorliegende Krankheit ist eine, die von Krankheit B verschieden ist, jedoch diejenigen Symptome mit ihr gemein hat, die bei Krankheit B den Tod zur Folge haben. Wahrscheinlich also gilt, dass die beim Patienten Meier vorliegende Krankheit den Tod zur Folge hat.
Schließlich führt Garve noch vor, dass die auf den genannten Axiomen gründenden beiden Besonderheiten der Wahrscheinlichkeits-Syllogistik, also zum einen die Zulassung von partikulären Obersätzen bei allgemeinen oder singulären Untersätzen, zum anderen die Zulassung von zwei Mittelbegriffen, auch zusammen in einem
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einzigen Syllogismus vorkommen können29 – womit die Unerhörtheit dieser Wahrscheinlichkeits-Syllogistik sozusagen auf die Spitze getrieben wäre. Hierfür gibt er zwei Beispiele von geschichtlicher Tragweite, das erste allgemein gehalten, das zweite aus der römischen Geschichte: Syllogismus 19 Die meisten Feldherren, die in einer bestimmten Situation waren, konnten, wenn sie in den Kampf eintraten, den Sieg davontragen. Ich bin ein Feldherr in einer ähnlichen Situation. Also darf ich hoffen, dass ich, wenn ich in den Kampf eintrete, den Sieg davontragen werde.30
Hier ist, bei singulärem Untersatz, der Obersatz partikulär; zudem ist der Prädikatbegriff des Untersatzes nicht der gleiche wie der Subjektbegriff des Obersatzes, sondern diesem nur ähnlich. Für den räsonnierenden Feldherrn genügt diese Ähnlichkeit aber, um eine wahrscheinliche Konklusion zu erzielen, die sein Handeln leiten kann. – Das zweite Beispiel lautet: Syllogismus 20 Viele wurden eher durch die Gier nach Befehlsgewalt als durch Freundschaftssinn dazu veranlasst, denjenigen, durch deren Vermögen und Dank, wie sie hofften, ihre Macht vermehrt werden würde, mit Ehrerbietung zu begegnen. Cäsar sucht die Nähe zu Pompeius und pflegt Freundschaft mit ihm. Wahrscheinlich also wird ein Bürgerkrieg ausbrechen (denn Cäsar nähert sich Pompeius wahrscheinlich nur aus Machtgier an).
Der Befund ist hier der gleiche; insbesondere sieht Cicero – der laut Garve diese Überlegung anstellte – Cäsars Verhalten als eines an, das etlichen früheren Fällen von machtpolitischer Heuchelei ähnlich ist. In Gestalt von WahrscheinlichkeitsSyllogismen rekonstruiert Garve die handlungsleitende Funktion strategischer und politischer Erfahrung.
|| 29 Ebd., S. 50, Z. 30 – S. 51, Z. 10 (§ 27). 30 Ebd., S. 51, Z. 1–4.
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1.3 Wenn einem Subjekt ein Attribut abgesprochen wird und einem zweiten Subjekt jenes erste Subjekt als Attribut abgesprochen wird, dann kann wahrscheinlich dem zweiten Subjekt das erste Attribut zugeteilt werden Schließlich führt Garve noch zwei Typen von solchen Syllogismen ein, die, ganz regulär, aus jeweils nur drei Begriffen bestehen und deren Prämissen, wie es auch in der Wahrheitslogik zulässig ist, jeweils beide allgemein sind.31 Aber auch diese beiden Syllogismusformen sind nicht wahrheitserhaltend. In der Wahrscheinlichkeitslogik sollen gleichwohl auch sie gelten, wenn auch mit einem geringeren Wahrscheinlichkeitsgrad als die zuvor genannten.32 Zum einen geht es um Syllogismen, deren beide Prämissen jeweils allgemein verneinend sind. So lässt sich zwar keine wahrheitserhaltende Konklusion erzielen (vgl. oben Syllogismus 4),33 wohl aber, so Garve, eine wahrscheinliche, indem man den einen der in der Konklusion verwendeten Begriffe dem anderen zuspricht; das geschieht in der ersten Figur so: Syllogismus 21 Kein B ist A. Kein C ist B. Wahrscheinlich also gilt: C ist A.34
Die entsprechende Argumentationsweise wäre mit der Regel zu beschreiben, die zur Überschrift dieses Abschnitts dient: Wenn einem Subjekt ein Attribut abgesprochen wird und einem zweiten Subjekt jenes erste Subjekt als Attribut abgesprochen wird, dann kann wahrscheinlich dem zweiten Subjekt das erste Attribut zugeteilt werden.35 Garve bezieht diesen Syllogismus auf einen, der in der Wahrheitslogik gültig ist (gemäß dem Barbara-Schema):
|| 31 Ebd., S. 51–53 (§ 28). 32 Ebd., S. 51, Z. 12. 33 In der Wahrheits-Syllogistik muss in der ersten Figur der Untersatz bejahend sein. Siehe Arnauld, Nicole: Die Logik (s. Anm. 1). Teil 3: Vom Schluß, Kapitel 5, Regel 1 (S. 182). 34 Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), S. 51, Z. 21–23. 35 Garve gibt irrtümlich eine andere Beschreibung (ebd., Z. 16–20). Siehe hierzu im vorliegenden Band die Übersetzung des Textes mit Erläuterung 94 (S. 195 und S. 244f.).
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Syllogismus 22 Alles, was nicht B ist, ist A. Kein C ist B (für jedes C gilt: Es ist nicht B). Also gilt: Alle C sind A.36
Die Wahrscheinlichkeit der Konklusion von Syllogismus 21 ließe sich demnach erhöhen, wenn wir den Obersatz desselben Syllogismus demjenigen von Syllogismus 22 annähern könnten. Dazu müssten wir von möglichst vielen Dingen, die nicht B sind, ausschließen, dass sie nicht A seien. Einmal mehr nimmt Garve hier als konkretes Beispiel eine moralische Leitlinie her: Von wem wir nicht wissen, dass er eine unrechte Tat gegen uns verübt habe, den sollen wir für einen guten Menschen halten. In syllogistischer Form sieht diese Maxime so aus: Syllogismus 23 Keiner, der etwas Unrechtes getan hat, ist ein guter Mensch. Der Mensch da hat nichts Unrechtes getan. Wahrscheinlich also gilt: Der da ist ein guter Mensch.37
Auch hier sind wieder Überlegungen anzustellen, in welchem Sinne sich der Obersatz in einen solchen verwandeln ließe, der einen gültigen wahrheitslogischen Schluss ergäbe, nämlich folgenden: Syllogismus 24 Jeder, der nichts Unrechtes getan hat, ist ein gerechter Mann. Der Mann da hat nichts Unrechtes getan. Also gilt: Der da ist ein gerechter Mann.38
Solche Überlegungen ergeben die Bedingungen, unter denen sich die Wahrscheinlichkeit der Konklusion von Syllogismus 23 erhöhen lässt.
1.4 Wenn zwei Subjekten gleichermaßen ein bestimmtes Attribut zugesprochen wird, kann wahrscheinlich das eine Subjekt dem anderen zugesprochen werden Der zweite hier aufgestellte Typ eines Wahrscheinlichkeits-Syllogismus weist zwei allgemein bejahende Prämissen auf. Er gehört zur zweiten Figur (die sich so rekonstruieren lässt, dass der Mittelbegriff in den beiden Prämissen jeweils an zweiter
|| 36 Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), S. 51, Z. 26–28. – Garve formuliert hier als Konklusion einen scheinbar singulären Satz (›C ist A‹), dabei verwendet er aber offenbar C als Kollektivbegriff. 37 Ebd., S. 52, Z. 8f. 38 Vgl. ebd., Z. 17–19.
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Stelle steht, also als Prädikat fungiert). Die Konklusion ist wiederum eine allgemein bejahende Aussage. Die entsprechende Regel lautet, wie soeben in der Überschrift dieses Abschnitts wiedergegeben: Wenn zwei Subjekten gleichermaßen ein bestimmtes Attribut zugesprochen wird, kann wahrscheinlich das eine Subjekt dem anderen zugesprochen werden39 – eine Regel, die wahrheitslogisch nicht gilt (vgl. oben Syllogismus 5). In der Wahrheits-Syllogistik muss in der zweiten Figur einer der beiden Obersätze verneinend sein und ist auch die Konklusion stets verneinend.40 Für die Wahrscheinlichkeits-Syllogistik aber ergibt sich nach Garve folgendes Schema: Syllogismus 25 A B. C B. ws: C A.41
Der Wahrscheinlichkeitsgrad der Konklusion lässt sich hier einmal mehr durch Vergleich mit dem Barbara-Schema der Wahrheits-Syllogistik ermessen: Syllogismus 26 B A. C B. C A.
Je weniger der Begriff B über das hinaus, was unter Begriff A fällt, umfasst, desto näher rückt die Möglichkeit, den Obersatz von Syllogismus 25 umzukehren, wodurch sich der wahrheitslogische Syllogismus 26 ergäbe; je weniger der Begriff B über das hinaus, was unter Begriff A fällt, umfasst, desto wahrscheinlicher wird die Konklusion von Syllogismus 25. Die beiden Beispiele, an denen Garve diese Schlussweise veranschaulicht, sind einander sehr ähnlich;42 das zweite lässt sich so rekonstruieren: Syllogismus 27 Der anonyme Verfasser jenes Buches schreibt in einem so-und-so bestimmten Stil. Der mir bekannte Schriftsteller Meier schreibt in einem so-und-so bestimmten Stil. Wahrscheinlich also gilt: Der mir bekannte Schriftsteller Meier ist der anonyme Verfasser jenes Buches.
Je präziser der Stil jenes anonymen Autors bestimmt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der Konklusion; wäre die Präzision vollkommen, so dass sich
|| 39 Ebd., Z. 21–23. 40 Siehe Arnauld und Nicole: Die Logik (s. Anm. 1). Teil 3: Vom Schluß, Kapitel 6, Regel 1 (S. 185). 41 Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), S. 53, Z. 1–4. 42 Ebd., Z. 7–12 und Z. 13–16.
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der Obersatz umkehren ließe (›Wer in einem so-und-so bestimmten Stil schreibt, ist der anonyme Verfasser jenes Buches‹), ergäbe sich ein Wahrheits-Syllogismus.
2 Hypothetische Wahrscheinlichkeits-Syllogismen ›Hypothetisch‹ ist eine Aussage, in der zwei einfache Aussagen miteinander verbunden sind, etwa durch und oder durch wenn – dann. Die Kleinbuchstaben a und b mögen für Aussagen stehen! Hypothetische Aussagen sind dann etwa: ›a und b‹, oder: ›Wenn a, dann b‹. Entsprechend nennt man einen Syllogismus ›hypothetisch‹, wenn mindestens eine seiner Prämissen eine hypothetische Aussage ist. Gemäß der klassischen Lehre von den hypothetischen Syllogismen43 lässt sich durch die Form des modus ponens erschließen, dass die Folge eines Grundes der Fall ist. Zu diesem Zweck wird in der zweiten Prämisse etwas gesetzt, von dem die erste Prämisse eine bestimmte Folge behauptet. Das Schlussschema sieht dann etwa so aus: Hypothetischer Syllogismus 1 (modus ponens) Wenn a, dann b. a. b.
Wird im Untersatz aber statt des Grundes die Folge gesetzt, ergibt sich kein gültiger Schluss. Die Setzung von b ergibt kein zwingendes Argument für a, insofern b nicht nur aus a, sondern auch aus anderen Gründen folgen könnte. Auch hier bemerkt Garve, was in der Wahrheitslogik ungültig sei, werde in der Wahrscheinlichkeitslogik zur Regel: Die Setzung von b ergibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit für a, und diese ist umso größer, je weniger ein anderer Grund als a für b infrage kommt:44 Hypothetischer Syllogismus 2 Wenn a, dann b. b. ws: a.
|| 43 Siehe Paul Thom: [Art.] Syllogismus; Syllogistik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 10. Darmstadt 1998, Sp. 687–707, hier Sp. 694f. – Wiederum ist es, um Garves Vorgehen nachvollziehen zu können, nützlich, sich etwa den einschlägigen Abschnitt aus der Logik von Port-Royal vor Augen zu führen. Siehe Arnauld, Nicole: Die Logik (s. Anm. 1). Teil 3: Vom Schluß, Kapitel 12 (S. 207–212). 44 Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), S. 53, Z. 21–24 und S. 54, Z. 3–7 (§ 29).
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Garve geht exemplarisch nur auf den modus ponens ein; andere hypothetische Syllogismen behandelt er nicht – insbesondere nicht den modus tollens (›Wenn a, dann b. Nicht b. Also nicht a‹). Was er aber zum modus ponens sagt, genügt, um den Leser auch beim modus tollens ins Bild zu setzen: Je mehr wir a an die notwendige Bedingung oder die vollständige Ursache für b annähern, desto wahrscheinlicher wird es, dass aus dem genannten Obersatz und dem Untersatz: ›Nicht a‹, zu folgern ist: ›Nicht b‹. Die Brauchbarkeit der wahrscheinlichkeitslogischen Abwandlung des modus ponens behauptet Garve vor allem für die Natur- und die Seelenlehre.45 Er skizziert zwei allgemeine Anwendungsweisen: Erstens könne man aus der Wahrheit der logischen Folgerungen, die eine Aussage nach sich zieht, die Wahrscheinlichkeit dieser Aussage erschließen, zweitens aus dem Bestehen einer Wirkung, von der wir wissen, dass sie durch eine bestimmte Wirkkraft zustande kommt, darauf schließen, dass diese Wirkkraft wahrscheinlich in einer Ursache vorhanden sei. Garve beschränkt seine Darlegung auf das erstere Verfahren, da es leichter zu erklären sei als das zweite46 – der Grund dafür mag sein, dass sich Folgen oft weniger deutlich bestimmten Kräften und Ursachen zuschreiben, leicht nachvollziehbar hingegen auf begriffliche Verhältnisse zurückführen lassen. Als Anwendungsfall für den wahrscheinlichkeitslogischen modus ponens schematisiert Garve den Gang einer hypothetisch verfahrenden Untersuchung. Die Frage sei, ob gelte: ›A ist B‹. In der Argumentation wird an den Fall, dass jene Aussage gelte, eine Folge geknüpft: Hypothetischer Syllogismus 3a Wenn gilt: A ist B, dann gilt: A ist C, D, E. A ist C, D, E. Wahrscheinlich also gilt: A ist B.
In einer Untersuchung ist eine solche Argumentation anzuwenden, falls wir wissen, dass C, D und E Merkmale von B sind – dann lässt sich der Obersatz behaupten –, und falls wir auch wissen, dass C, D und E Merkmale von A sind – dann lässt sich der zweite Teilsatz des Obersatzes als Untersatz behaupten. Das entsprechend erweiterte Schlussschema sieht so aus: Hypothetischer Syllogismus 3b Fraglich ist und hypothetisch gilt: A ist B. Bekannt ist: B ist C, D, E. – Wenn also gilt: A ist B, dann gilt: A ist C, D, E. Bekannt ist: A ist C, D, E. Wahrscheinlich also gilt: A ist B.
|| 45 Ebd., S. 53, Z. 25–27. 46 Ebd., S. 54, Z. 7–16 (§ 29).
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Garve erläutert: Je näher wir durch die Merkmale C, D und E an eine Bestimmung der Eigentümlichkeit von B herankommen, desto wahrscheinlicher ist die Konklusion. Sollten eines dieser Merkmale oder alle zusammen nur dem B zukommen, ergäbe sich nämlich ein kategorischer Wahrheits-Syllogismus: Syllogismus 28 A ist C, D, E. C, D, E ist B. A ist B.47
Der jeweilige Forscher – etwa in der Naturphilosophie – hätte demnach, um zu wahrscheinlichen Schlüssen zu kommen, die möglichst eigentümlichen Merkmale von etwas (hier von B), das er als Attribut einem bestimmten Subjekt zuschreiben möchte (hier dem A), auszuwählen, oder er sollte durch die Sammlung möglichst vieler Merkmale den Begriffsumfang von B auszuschöpfen suchen.48 Garve schließt den syllogistischen Teil seiner Abhandlung damit, dass er vier Wege darlegt, auf denen die Untersuchung eines solchen Attributs erfolgen kann; das entsprechende hypothetische Verfahren illustriert er jeweils durch Beispiele aus der Geschichte der Naturwissenschaften, wobei er sich auf Kepler, Kopernikus, Huygens und Newton beruft.49 So erweist er die hypothetische Syllogistik in ihrer wahrscheinlichkeitslogischen Form, die er der üblichen wahrheitserhaltenden an die Seite stellt, als eminent nützlich.
3 Garves Aufnahme von Lamberts Wahrscheinlichkeits-Syllogistik Garves wahrscheinlichkeitslogische Magisterschrift steht in mancher Hinsicht dem thematisch entsprechenden Kapitel des Neuen Organon nahe, jenes erkenntnistheoretischen und logischen Werks, das der Mathematiker, Optiker und Philosoph Johann Heinrich Lambert 1764, zwei Jahre vor Garves Hallenser Disputation, veröf-
|| 47 Nach der notierten Form handelt es sich jeweils um drei (nicht vollständig ausformulierte) Oberund Untersätze, je einen für eines der drei Merkmale C, D und E. Jedoch lassen sich diese drei Merkmale ohne weiteres als ein einziges, zusammengesetztes Merkmal verstehen; dieses wäre dann etwa durch ›M‹ zu bezeichnen. Insofern handelt es sich um einen nicht-zusammengesetzten Syllogismus, der regelkonform nur einen Mittelbegriff hat. – Dieser Mittelbegriff steht im Obersatz an Attributs-, im Untersatz an Subjektsstelle; auf diese Weise ist der Mittelbegriff in der vierten Figur auf die beiden Prämissen verteilt (in der ersten Figur wäre es umgekehrt). 48 Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), S. 54, Z. 17 – S. 55, Z. 9 (§ 30). 49 Ebd., S. 55, Z. 9 – S. 59 (§ 30).
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fentlicht hatte.50 Zu den fünf von Lambert unterschiedenen und untersuchten Arten von Wahrscheinlichkeit gehört diejenige eines Satzes, die sich aus seinen logischen Folgen hypothetisch – unter vorläufiger Annahme jenes Satzes – erschließen lässt. In einer langen Paragraphenreihe untersucht Lambert verschiedene Ausprägungen dieser logisch-hypothetischen Wahrscheinlichkeit.51 Dabei behandelt er zunächst einige hypothetische Schlüsse und führt die Methode, eine Voraussetzung aus ihren logischen Folgen als wahrscheinlich oder womöglich als gewiss zu erweisen, auf bestimmte kategorische Syllogismen zurück. Das erste Beispiel, mit dem Lambert hier arbeitet, hat Garve anscheinend (ohne diese Entlehnung kenntlich zu machen)52 in seine Darlegung der hypothetischen Wahrscheinlichkeits-Syllogismen übernommen: Die oben am Ende des vorigen Abschnitts referierte Schlussweise – der ›hypothetische Syllogismus 3a/b‹ mitsamt ›Syllogismus 28‹ – entspricht in gekürzter Form und mit kleinen, sachlich unbedeutenden Änderungen eben jenem Lambertschen Beispiel, und zwar mitsamt der daran anschließenden methodologischen Forderung, wonach es für den mit besagter Schlussweise arbeitenden Forscher gilt, eigentümliche Merkmale des zu verwendenden Mittelbegriffs zu finden.53 Und wie für den Mathematiker und Optiker Lambert ist auch laut Garve der hypothetische Syllogismus in seiner wahrscheinlichkeitslogischen Ausprägung besonders für die naturwissenschaftliche Hypothesenbildung von Bedeutung.54
|| 50 Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein. 2 Bde. Leipzig 1764, hier Bd. 2 (LPS 2), : Phänomenologie oder Lehre von dem Schein. 5. Hauptstück (Kapitel): Von dem Wahrscheinlichen (§ 149–265, S. 318–421). Vgl. die kommentierte Neuausgabe in modernisierter Schreibweise: ders.: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein. 2 Bde. und Appendix. Hg. von Günter Schenk unter Mitarbeit von Peter Heyl. Berlin 1990, hier Bd. 2, S. 730–823. In dieser Ausgabe finden sich die Seitenzahlen des Originaldrucks mitangegeben; nur durch diese sind im Folgenden die herangezogenen Lambert’schen Passagen nachgewiesen. 51 Lambert: Neues Organon (siehe die vorige Anm.), Bd. 2, : Phänomenologie, § 165–232 (S. 332–395). – Dieser Passus bildet die vierte von insgesamt fünf Teilabhandlungen, die Lambert jeweils einer bestimmten Wahrscheinlichkeits-Art widmet. Siehe im vorliegenden Band Verf.: Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift, hier S. 70. 52 Vielleicht aber ist Lambert derjenige, dem Garve an einer wenig späteren Stelle seiner Schrift seine Referenz erweist, indem er die Leistung eines ›berühmten Philosophen‹ (Philosophus quidam celeberrimus) würdigt, dabei aber – wie damals zu Lebzeiten des jeweils gelobten Autors üblich – dessen Namen verschweigt. Siehe im vorliegenden Band die Edition von De nonnullis […] (s. Anm. 5), S. 60, Z. 16–18 (Schlusssatz von § 31) mit Erläuterung 112 (S. 213 und S. 247). 53 Vgl. ebd., S. 54, Z. 18 – S. 55, Z. 10 (§ 30), mit Lambert: Neues Organon (s. Anm. 50), Bd. 2, : Phänomenologie, § 167f. (S. 334–338). 54 Vgl. Anm. 49 und Lambert: Neues Organon (s. Anm. 50), Bd. 2, : Phänomenologie, S. 335f. (§ 167).
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Bei Lambert findet sich nicht nur jenes syllogistische Modell, sondern auch der engere argumentative Kontext, in den Garve das Modell stellt.55 Hier wie dort gehört jener Wahrscheinlichkeitsschluss zu einem Abschnitt über den modus ponens mit umgekehrtem Untersatz. Der Unterschied zwischen beiden Abhandlungen beruht an dieser Stelle vor allem darauf, dass Lambert den kategorischen und den hypothetischen Syllogismus nicht, wie Garve, lehrbuchartig56 in zwei getrennten Abschnitten behandelt, sondern gleichsam erst durch die Analyse des letzteren auf den ersteren aufmerksam wird und diesen dann in Hinblick auf seine verschiedenen Formen – vor allem die syllogistischen Figuren – untersucht. Der Grund dafür ist der weitere Kontext. Wie oben schon erwähnt, hat Lambert als eine Art von Wahrscheinlichkeit diejenige eines Satzes, die sich aus seinen logischen Folgen hypothetisch erschließen lässt, identifiziert; das schlusstechnisch dieser Wahrscheinlichkeits-Art zunächst entsprechende Instrument ist der hypothetische, nicht der kategorische Syllogismus. Infolge dieses Gedankengangs legt Lambert erst infolge der Ausführung der besagten hypothetischen Schlussweise sein Augenmerk darauf, dass in ihr kategorische Syllogismen Verwendung finden; zunächst führt er ein Beispiel aus, in dem auf einen Syllogismus der ersten Figur, dann eines, in dem auf einen der zweiten Figur zurückgegriffen wird.57 Für Garve hingegen, der die kategorischen Wahrscheinlichkeits-Syllogismen soeben abgehandelt hat und von dort zum Thema der hypothetischen übergegangen ist, ist dieser Gesichtspunkt von geringerer Bedeutung; bezeichnenderweise gerät ihm in seiner Version der kategorische Syllogismus, den Lambert an der ersten Figur ausrichtet, zu einem (nicht weniger gültigen) der vierten Figur,58 ohne dass er dies weiter erläuterte oder gar, wie Lambert, auch die zweite Figur berücksichtigte. Da Lambert vom hypothetischen Wahrscheinlichkeits-Syllogismus zum kategorischen gekommen ist, geht er daran, diesen zu analysieren, und zwar in zwei Schritten: Zunächst bestimmt er, was ein wahrscheinlicher Satz sei, und findet, es sei ein Satz, zu dessen Voraussetzungen ein oder mehrere numerisch bestimmte partikuläre Sätze gehören – nach der Art von ›¾ A sind B‹. Als zweiter Schritt kann
|| 55 Für die Gliederung seiner Schrift dürfte Garve sich wohl von Lambert haben anregen lassen, insgesamt folgt er aber nicht diesem Vorbild, sondern entwirft einen eigenen Aufbau. Vgl. noch einmal im vorliegenden Band Verf., Einführung (s. Anm. 51), S. 62‒71. 56 Die lehrbuchartige Anordnung geht vorzugsweise vom Einfachen zum Zusammengesetzten über. Insofern in hypothetischen Syllogismen zusammengesetzte Prämissen vorkommen – so wie etwa im modus ponens der Obersatz aus zwei durch ›wenn – dann‹ verbundene Aussagen besteht –, ist der kategorische Syllogismus, für den in seiner einfachen Form nur einfache Aussagen verwendet werden, zuerst zu behandeln. 57 Lambert beschreibt sein Vorgehen ausdrücklich in diesem Sinne: Neues Organon (s. Anm. 50), Bd. 2, : Phänomenologie, § 168 (S. 336f.). 58 Siehe oben Anm. 47.
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sich nun die Untersuchung anschließen, welche gültigen Schemata der auf diese Art gebildeten Schlüsse sich jeweils den vier syllogistischen Figuren zuordnen lassen.59 Wie oben in den ersten beiden Abschnitten gesehen, lässt sich Garve auf eine derartige Untersuchungsfolge für die kategorischen Wahrscheinlichkeits-Syllogismen nicht ein; nur selten geht er über die erste syllogistische Figur hinaus, und kompliziertere Erscheinungen, die Lamberts Interesse finden – etwa Kettenschlüsse – berücksichtigt der Hallenser Magisterkandidat nicht. Die Möglichkeit aber, in einem kategorischen Syllogismus mit numerisch bestimmtem partikulären Obersatz eine wahrscheinliche Konklusion zu erzielen, führt Garve auf die gleiche Weise ein wie Lambert: durch den Hinweis darauf, dass sich die Teil-Ganzes-Beziehung, durch die das Subjekt im Obersatz partikulär bestimmt ist, in den Grad der Wahrscheinlichkeit der Konklusion umsetzt.60 Abgesehen davon, dass Garve im Übrigen seinen eigenen Darstellungsweg verfolgt und eine griffige exemplarische Auswahl von kategorischen und hypothetischen Wahrscheinlichkeits-Syllogismen vorlegt, zeichnet er sich vor allem durch die spitzbübische Pointe seiner Darstellung aus, die beim bedächtigeren Lambert nicht zu finden ist: dass, was in der Wahrheitslogik falsch ist, in der Wahrscheinlichkeitslogik richtig und nützlich sei.61
|| 59 Siehe Lambert: Neues Organon (s. Anm. 50), Bd. 2, : Phänomenologie, § 187f. (S. 356– 359, Bestimmung des wahrscheinlichen Satzes), § 189–201 (S. 359–369, WahrscheinlichkeitsSyllogismen der ersten Figur) und § 202–211 (S. 369–377, Wahrscheinlichkeits-Syllogismen der zweiten bis vierten Figur). 60 Siehe Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), S. 48, Z. 8–14 (§ 26) sowie entsprechend oben in Abschnitt 1 Syllogismus 10a, und vgl. Lambert: Neues Organon (s. Anm. 50), Bd. 2, : Phänomenologie, § 189 (S. 358f.). 61 Siehe oben Anm. 9.
| 2 Einführung und Text/Übersetzung
Mischa von Perger
Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift 1 Der Magisterkandidat Christian Garve Der zwanzigjährige Garve begann das Universitätsstudium der Theologie im Sommersemester 1762 in Frankfurt an der Oder an der academia Viadrina.1 Sein zehn Jahre älterer Hauslehrer Gottlieb Ringeltaube war mit von der Partie;2 er war Garves verwitweter Mutter schon seit vielen Jahren eine große Hilfe gewesen und hatte selbst schon u. a. in Frankfurt studiert.3 Der Philosophieprofessor Alexander Gottlieb Baumgarten, den Ringeltaube in guter Erinnerung hatte, erkrankte zu Beginn des Semesters und starb bald darauf noch im Mai. Garve dürfte aber mit Baumgartens gedruckter Logik in Berührung gekommen sein. Hier konnte er eine Definition des subjektiv Wahrscheinlichen sowie kurze Ausführungen zu bestimmten Wahrscheinlichkeits-Arten finden.4 Womöglich waren das erste Anregungen, die Garve auf das Thema seiner späteren Hallenser Magisterschrift, die Wahrscheinlichkeits-
|| 1 Siehe Daniel Jacoby: [Art.] Garve, Christian. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. durch die Historische Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften. Bd. 8. Leipzig 1878, S. 385– 392, hier S. 386. 2 Beide wurden am 1. Mai des Jahres immatrikuliert. Siehe Ernst Friedländer unter Mitwirkung von Georg Liebe u. Emil Theuner (Hg.): Aeltere Universitäts-Matrikeln. I. Universität Frankfurt a. d. O. Bd. 2 (1649–1811.). Leipzig 1888, reprographischer Nachdruck Osnabrück 1965, S. 407a, Z. 43–46. 3 Siehe zu Garves Frankfurter Studienjahr Ernst Poseck: Alte Ohle. Die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner. Berlin ²1941, Kapitel 11f. (S. 465–567); dies ist eine romanhafte Darstellung, jedoch gespickt mit Auszügen aus Briefen, die Garve und Ringeltaube aus Frankfurt an Garves Mutter nach Breslau schrieben. Zu Ringeltaube siehe folgende anonym erschienene Biographie: Glaube, Hoffnung, Liebe, in Erinnerungen aus dem Leben des verewigten GeneralSuperintendenten von Pommern, Gottlieb Ringeltaube, größtentheils mit dessen eigenen Worten. Berlin 1825. Die dort (S. 11f.) angegebenen Jahre für die ersten beiden Universitätsaufenthalte Garves sind freilich nicht korrekt (1763/64 statt richtig 1762/63 für Frankfurt, 1764/65 statt richtig 1763/65 für Halle an der Saale). 4 Siehe Acroasis logica. In Christianum L. B. de Wolff dictabat Alexander Gottlieb Baumgarten profess. Philosoph. p. o. Halle a. d. S. 1761, S. 102f. (§ 351f.: Definition des uns Wahrscheinlichen [probabilia nobis] und des uns einigermaßen Ungewissen [incerta nobis in tantum]), S. 111f. (§ 381: Definition u. a. der historischen Wahrscheinlichkeit [probabilitas historica]) und S. 156 (§ 459: Definition u. a. der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit [probabilitas hermeneutica]). https://doi.org/10.1515/9783110743654-004
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logik, aufmerksam werden ließen. Allerdings wird sich Garves Konzeption der Wahrscheinlichkeit grundlegend von derjenigen Baumgartens unterscheiden.5 Ein Jahr später wechselten Garve und sein Mentor Ringeltaube nach Halle an der Saale. Am 3. Mai 1763 wurde Garve dort eingeschrieben, wiederum im Fach Theologie.6 Nach zwei Hallenser Jahren schließlich bezog Garve seine dritte und letzte Universität, diejenige von Leipzig.7 Auch hierhin begleitete ihn noch der ältere Freund, verließ ihn dann aber bald, um eine Pfarrstelle im schlesischen Scheidelwitz anzutreten.8 Im September 1766 erwarb Garve seinen Magistertitel im Fach Philosophie in Halle. Der Grund für diesen nochmaligen Ausflug an die frühere Studienstätte war politischer und karrieretechnischer Art: Anders als das sächsische Leipzig gehörte Halle damals, so wie Garves Heimatstadt Breslau, zu Preußen, und mit Blick auf eine künftige akademische Laufbahn schien ein Studienabschluss an einer preußi-
|| 5 Nach Baumgartens Definition ist die Wahrscheinlichkeit prinzipiell ungewiss: »Uns wahrscheinlich ist das, von dem wir zwar nicht alles, was zu seiner Wahrheit erforderlich ist, klar wissen, wohl aber mehr als von dem, was zur Wahrheit seines Gegensatzes erforderlich ist. […] Uns einigermaßen ungewiss ist all das, von dem wir keine vollständige Gewissheit haben, und in dieser Bedeutung ist selbst das, was uns in höchstem Maße wahrscheinlich ist, dennoch ungewiss« (»Probabilia nobis – uns wahrscheinlich, oder zuverlässig – sunt, ad quorum veritatem non quidem omnia, tamen plura requisita clare nouimus, quam ad veritatem oppositi. […] Incerta nobis in tantum – uns einiger maassen ungewiss – sunt, de quibuscumque non sumus complete certi, et hoc significatu nobis vel maxime probabilia tamen incerta sunt« (ebd., S. 102f.). Garve hingegen wird dem im höchsten Grade Wahrscheinlichen – obwohl ihm keine absolute Gewissheit wie beim geometrisch Beweisbaren zukomme – zuerkennen, dass es in uns eine vollkommene Überzeugung bewirke. Siehe Christian Garve: De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium. Halle a. d. S. 1766, § 4, S. 7. Diese Schrift wird hier nach der zweisprachigen Edition zitiert, die im vorliegenden Band enthalten ist. Die dabei gebrauchte Seitenzählung entspricht dem Originaldruck und ist in der Edition mit angegeben, auch die Zeilenzählung gilt sowohl für das Original als auch für die Neuedition. 6 Siehe den handschriftlichen Eintrag für »Garve. Christian« in: Continuatio Albi Academici incoepta ProRectore Magnifico Viro Amplissimo et Excellentissimo Domino Domino Daniele Strahlero […] Anno MDCCXXXXIVo, Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Rep. 46, Nr. 74 (Reg. 1744– 1825 Aa–G), Bl. 260r, Zeile 13 (ohne Zählung der Rubriken). Vgl. den handschriftlichen Eintrag Nr. 351 für »Christian Garve« in: Continuatio Albi Studiosorum sub ProRectoratu Viri Illustris et Excellentissimi Domini Christiani Wolffij Consiliarii Regii Intimi, et Vice-Cancellarii Fredericianae d XII. Julii MDCCXLI. Ebenda, Nr. 4 (1741–1767). 7 Siehe Georg Erler (Hg.): Die iüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809 als Personen- und Ortsregister bearbeitet und durch Nachträge aus den Promotionslisten ergänzt. Bd. 3. Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1709 bis zum Sommersemester 1809. Leipzig 1909 [ND Nendeln/ Liechtenstein 1976], S. 104b; demnach wurde Christian »Garbe« aus Breslau am 31. Mai 1765 immatrikuliert. 8 Siehe Anonymus: Glaube, Hoffnung, Liebe (s. Anm. 3), S. 11–13.
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schen Universität für ihn ratsam zu sein.9 Jedoch unterzog sich Garve dann 1768 auch noch dem Leipziger Magisterverfahren – er ist also zweimal Magisterkandidat gewesen –, und die Stellung eines außerordentlichen Professors der Philosophie erlangte er 1769/70 ebenfalls in Leipzig. In einem brieflichen Rückblick spricht Garve Anfang 1768 von seinen beiden – übel und ohne Freunde verbrachten – Hallenser Jahren: Aber warum gehen Sie nicht nach Halle, wenn Sie schon in Crellwitz sind? Ich wünschte doch, daß Sie einen Ort, wo ich zwey Jahre sehr übel zugebracht habe, und wo ich vielleicht noch viele andre, aber besser, werde zubringen müssen, kennten. Der erste Anblick ist widrig, das gebe ich zu; aber das ist doch eben so ausgemacht, daß das Auge die prächtigsten Häuser und die elendesten Leimhütten gleich gut gewohnt wird […]. O besetzen Sie die Hütten mit Freunden, die ich liebe und die ich verehre, und sie werden mir schöner vorkommen als Palläste. Doch auch diese habe ich in Halle noch nicht. Unterdessen kenne ich doch Leute, die vielleicht aufgelegt dazu wären es zu werden.10
Den Vorsitz bei der Disputation von Garves Hallenser Magisterschrift hatte Johann Andreas von Segner,11 der zu dieser Zeit in Halle hauptsächlich reine und angewandte Mathematik unterrichtete.12 Er war ein Universalgelehrter, der außer in den
|| 9 Siehe Leonie Koch-Schwarzer: Populare Moralphilosophie und Volkskunde. Christian Garve (1742–1789) – Reflexionen zur Fachgeschichte. Marburg 1998, S. 53, Anm. 68 (Verweis auf einen diesbezüglichen Brief Ringeltaubes an Garves Mutter). 10 Christian Garve: Vertraute Briefe an eine Freundin. Leipzig 1801 (posthum, GGW 16, 2, Text 1), S. 244f. (Brief 34 vom 24. Januar 1768, aus Breslau). – Mit ›Crellwitz‹ ist ein damals westlich vor Halle gelegener Ort gemeint, der heute ›Kröllwitz‹ geschrieben wird und seit 1900 ein Stadtteil von Halle ist. – Empfängerin der Briefe war Wilhelmine Zitzmann, die Ehefrau eines Leipziger Advokaten. Siehe Koch-Schwarzer: Populare Moralphilosophie (s. Anm. 9), S. 206–208. 11 Johann Andreas von Segner (1704 Preßburg – 1777 Halle an der Saale), 1733 Professor der Mathematik in Jena, 1735 Professor der Mathematik und der Naturlehre (Physik) in Göttingen, 1755 dasselbe in Halle. Siehe Willi H. Hager: [Art.] Segner, Johann Andreas von. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 24: Schwarz – Stader. Hg. von Hans Günter Hockerts. Berlin 2010, S. 164f.; Wolfram Kaiser, Burchard Thaler (Hg.): Johann Andreas Segner (1704–1777) und seine Zeit. Hallesches Segner-Symposium 1977. Halle an der Saale 1977; Wolfram Kaiser: Johann Andreas Segner. Der ›Vater der Turbine‹. Leipzig 1977. Segners Stellung in der Geistesgeschichte umreißt kurzgefasst Yvonne Wübben: [Art.] Segner, Johann Andreas von (1704–77). In: The Bloomsbury Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers. Hg. von Heiner F. Klemme und Manfred Kuehn. London, Oxford, New York, New Delhi, Sydney 2016, S. 715f. 12 Die von Segner seinem Unterricht 1763–1766 zugrundegelegten Themen und Werke gehen aus den gedruckten Vorlesungsverzeichnissen hervor. Siehe etwa Conspectus laborum quibus professores Academiae Fridericianae per semestre aestivum in studiosae iuventutis commodum vacare constituerunt […], Halle an der Saale, 2. April 1763, S. : Mechanik, Physik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie (nach Nicolas-Louis de La Caille); Conspectus […] per semestre hibernum […], ebenda, 29. Sept. 1763, S. : Astronomie wie oben, elementare Mathematik, Arithmetik, Geometrie, Trigonometrie. In den folgenden Semestern bleibt es jeweils bei einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Pensum, mit einer Besonderheit im Wintersemester 1765/66; siehe Conspectus
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von ihm versorgten beiden Universitätsfächern auch etwa in den Bereichen Logik, Medizin und Ingenieurwesen forschte oder geforscht hatte. Zum Zeitpunkt von Garves Disputation war er 61 Jahre alt. Die Universitätsakten zeigen, dass er seit Jahren nur noch wenige Studenten bei ihren Studienabschlüssen betreute.13 Für Segner war, nach Ausweis seiner publizierten Werke, die Logik des Wahrscheinlichen kein Thema von großem Interesse. Zur Wahrscheinlichkeitsrechnung immerhin hatte er einen populärmathematischen Aufsatz veröffentlicht, in dem er die Prognostik für gewisse Glücksspiele darlegte – allerdings, wie es gleich am Anfang heißt, ohne dazu Neues sagen zu können.14 Hingegen hat sich Segners Kollege Georg (oder George) Friedrich Meier mehrfach in gedruckten Schriften mit der Theorie der Wahrscheinlichkeit beschäftigt, freilich nur jeweils en passant in größeren thematischen Zusammenhängen.15 Aufschlussreich für Garves Einstellung zu diesem Thema ist es, Meiers 1745 erschienene Schrift über den ›wahren Weltweisen‹ heranzuziehen. Meier sieht den Weltweisen – den Philosophen – dazu verpflichtet, sich nach Kräften zu bemühen, die Wahrheit mit demonstrativer Gewissheit zu erkennen. Da es allerdings nicht immer oder in allen Bereichen möglich sei, zur Wahrheit zu gelangen, habe sich der Philosoph durchaus auch mit Gewissheiten niedereren Grades zu versehen – hier kommt die || […] per semestre hibernum […], ebenda, 28. Sept. 1765, S. : Statik und Mathematik; »in der dritten Stunde aber wird er [Segner] ’s Gravesandes Einleitung in die Philosophie erläutern« (»Hora autem III. illustrabit Introductionem in Philosophiam GRAVESANDI […]«). Zu dieser Zeit war Garve bereits an die Universität von Leipzig gewechselt; dennoch ist es wohl kein Zufall, dass unter den Werken, auf die er in seiner Hallenser Magisterschrift zu sprechen kommt, auch jenes Buch ’s Gravesandes ist (siehe Garve: De nonnullis […] [s. Anm. 5], § 30, S. 59, Z. 31f.). – Zu den Grundzügen einiger mathematischer Disziplinen legte Segner 1766 ein Lehrbuch vor: Ioannes Andreas Segnerus: Cursus Mathematici Pars I. – Elementa Arithmeticae, Geometriae et Calculi Geometrici. Halle an der Saale 1766. (Ein zweiter Teil, enthaltend die Grundzüge der Analysis des Endlichen, erschien 1768.) 13 Siehe Volumen II. Continuatio Indicis Disputationum et Thematum qu a diversis Dominis Professoribus, Doctoribus et Magistris legentibus in hac alma Fridericiana tam publice quam privatim bitae et in lucem editae anno MDCCLXII. Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Rep. 3, Nr. 489. Laut dem erneuerten Rückenschild enthält der Band die Disputationen und Promotionen der Jahre 1763–1803. Der erste Eintrag mit Nennung Segners betrifft Garves Magisterdisputation 1766 (S. 24f.), danach wird Segner als Vorsitzender erst wieder für das Jahr 1772 genannt (S. 50f.). 14 Johann Andreas von Segner: Von der Berechnung der Glückspiele / Beschluß von der Berechnung der Glückspiele. In: Wöchentliche Hallische Anzeigen 1757, Nr. 10 (7. März), Sp. 161–171, und Nr. 11 (14. März), Sp. 177–188. ‒ Siehe unten S. 83, Anm. 70, Nachtrag nach Redaktionsschluss. 15 Laut den Hallenser Vorlesungsverzeichnissen lehrte Meier in den Jahren 1763–1766 Logik, und zwar auf der Grundlage seines compendium; damit ist wohl gemeint George Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle an der Saale ²1760. Siehe etwa das oben in Anm. 12 genannte Verzeichnis vom 29. September 1763, S. . – Zu einigen Stellen in Garves Hallenser Magisterschrift, die vermutlich von Meiers Vernunftlehre oder dem Auszug daraus beeinflusst sind, siehe die Edition im vorliegenden Band, § 4 mit den Erläuterungen 17 und 22 (S. 107/109 und S. 237f.), § 20 mit Erläuterung 72 (S. 157 und S. 242) und § 31 mit Erläuterung 110 (S. 213 und S. 246f.).
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Wahrscheinlichkeit ins Spiel.16 Garve hingegen stellt das menschliche Handeln fast vollständig eben unter die Maßgabe der Wahrscheinlichkeit. Deren höchster Grad sei, als Maßgabe für das Handeln, der mathematischen Gewissheit äquivalent, insofern nämlich die höchstgradige Wahrscheinlichkeit eine vollkommene Überzeugung (perfecta persuasio) bewirke.17 Und zuvörderst auf die Praxis hin, nicht auf die rein theoretischen Wissenschaften, ist der Mensch laut Garve angelegt.18 In Leipzig lehrte damals der Philosoph und Theologieprofessor Christian August Crusius, der in seinem Logikwerk dem Thema ›Wahrscheinlichkeit‹ ein ausführliches Kapitel eingeräumt hatte.19 Die Art und Weise, wie Crusius die Quellen der Wahrscheinlichkeit bestimmt, etwa durch Regeln für die Abwägung von Ursachen und Umständen, die dazu führen können, dass einer Sache ein Prädikat zukommt, und von Gegen-Ursachen und hindernden Umständen, finden einigen Widerhall in Garves Hallenser Magisterschrift.20 Diese erste von Garve selbständig verfasste Abhandlung21 gehört innerhalb seines Gesamtwerks zu der kleinen Gruppe der lateinischen Werke. Ihnen – oder zumindest den ersten beiden – lag jeweils eine deutsche Fassung zugrunde, die Garve dann ins Lateinische übersetzte. Während der Abfassung der zweiten lateinischen
|| 16 Siehe Georg Friedrich Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle a. d. S. 1745, S. 145f. (§ 175): »Ein wahrer Weltweiser kann und darf nicht, in allen Fällen, die höchste Gewisheit erreichen […] und wenn er der grössern Vollkommenheit nicht theilhaftig werden kan, so sucht er unter den kleinern die gröste. Folglich, wenn er eine Wahrheit nicht gewiß erkennen kan, so sucht er die gröste Wahrscheinlichkeit, die möglich ist. Er […] beschäftiget sich auch mit Wahrscheinlichkeiten, und philosophischen Meinungen, oder Hypothesen. Doch erwält er sie nur aus Noth, durch eine philosophische Verleugnung. Er ist sehr weit von der Schwachheit entfernt, sich mit lauter Wahrscheinlichkeiten und Muthmassungen zu quälen. […] Er nimmt nur Wahrscheinlichkeiten, Muthmassungen, Hypothesen an, wenn er nichts gewissers haben kan […].« 17 Siehe wiederum in Garves unten edierter Hallenser Magisterschrift (s. Anm. 5) § 4, S. 7. 18 Siehe ebd., § 1, S. 1. 19 Christian August Crusius: Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß. Leipzig 1747 (CPH 3), Kapitel 9: Von dem Wahrscheinlichen (§ 359–419, S. 639–750). 20 Siehe im vorliegenden Band Giuseppe Motta: Ausgang aus der Metaphysik. Die Wahrscheinlichkeitslehre von Christian Garve aus dem Jahr 1766, hier S. 16f. 21 Schon ein Jahr vor der Abhandlung zur Wahrscheinlichkeitslogik war Garves Übersetzung eines französischen pädagogischen Werks erschienen, das in der Form eines sich über einen Vorabend und vier Tage erstreckenden Dreiergesprächs gehalten ist. Sowohl der Autor – es ist der Jurist Guillaume Grivel – als auch der Übersetzer blieben ungenannt: Der Freund junger Leute, von M. G*****. Aus dem Französischen übersetzt. Leipzig 1765 (Original: L’Ami des jeunes gens. Par M. G*****. 2 Bde. Lille 1764). Den Hauptanteil am Gespräch hat der Erzähler, der vor den anderen beiden Teilnehmern seine pädagogischen Ideen entwickelt; er beginnt mit religionsphilosophischen Überlegungen (S. 12–27). – Garve als Übersetzer dieses Werks ist genannt bei Johann Georg Meusel: [Art.] Garve (Christian). In: ders.: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Bd. 4. Leipzig 1804, S. 21–27, hier S. 22.
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Schrift, der Magisterschrift für Leipzig, meldet Garve im Mai 1768 an seinen dortigen Förderer, Christian Fürchtegott Gellert: Demohnerachtet ist meine Disputation Deutsch fertig, – denn so habe ich sie, einer alten bösen Gewohnheit zu folgen, oder vielmehr der Schwierigkeit wegen auf Idee und Ausdruck zugleich zu denken, gemacht. Jetzo fange ich an zu übersetzen […].22
Lateinisch zu schreiben ist Garve nicht leicht gefallen. Im Jahr 1770 in Leipzig ist es wieder einmal nötig; an seine Mutter berichtet er, wie ungern er es tut: Was ist es doch für eine jämmerliche Sache, in einer Sprache schreiben zu müssen, die man nur halb kann. Denn außer Deutsch, verstehe ich keine Sprache, und wer weiß, sage ich nicht zu viel, wenn ich sage, daß ich diese kann. Aber wenigstens bin ich doch mehr in ihr zu Hause. Ich brauche nicht meine Gedanken in die Form der Sprache hinein zu passen, sondern kann der Sprache die Form meiner Gedanken geben. Mit einem Wort, wer lateinisch schreibt, und nicht so wie Ernesti, sein deutsch vergessen hat, der setzt immer mehr Wörter, als Ideen zusammen. Er ist glücklich, wenn er nur hin und wieder, so mit einem eig’nen Gedanken, den er gehabt hat, in die Wendungen der Sprache hineinkommen kann. Außerdem muß er vieles sagen, was seine eigene Absicht nicht war, und vieles weglassen, was er recht gerne sagen wollte. – Einen Vortheil habe ich. Ich kann mich etwas geschwinder vielleicht in die Denkungsart und das Genie eines fremden Geistes, einer fremden Nation einrichten, wenn ich nur eine Zeitlang wieder mit ihren Werken umgegangen bin.23
Für die Hallenser Magisterschrift war wohl Cicero derjenige ›fremde Geist‹, durch den Garve sich dem Lateinischen annäherte. Ciceros fragmentarisch erhaltene Akademische Bücher mitsamt dem Lucullus sind dort mehrfach als Quelle genannt.24 Auch seine anderen beiden lateinischen Schriften hat Garve also in jungen Jahren verfasst, gezwungen durch die Bedingungen, die für eine akademische Karriere erfüllt werden mussten – nunmehr in Leipzig: Über die Art und Weise, eine Philosophiegeschichte zu schreiben (1768) und Einige Vorschriften und ein Beispiel dafür, wie man die alten Philosophen lesen soll (1770).25 Diese Abhandlungen betreffen nicht die || 22 Christian Garve: Brief an Christian Fürchtegott Gellert, aus Breslau, 4. Mai 1768. In: C. F. Gellerts Briefwechsel. Hg. von John F. Reynolds unter Mitarbeit von Angelika Fischer. Bd. 5 (1767–1769). Berlin, Boston 2013, S. 112–114, hier S. 114 (Brief 1153, Z. 52–55). – Nach derzeitigem Kenntnisstand sind Garves originale deutsche Fassungen seiner lateinischen Schriften nicht erhalten. 23 Christian Garve: Briefe an seine Mutter. Hg. von Karl Adolf Menzel. Breslau 1830 (GGW 16, 2, Text 2), S. 95f. (Brief 31 vom August 1770, aus Leipzig). – Mit ›Ernesti‹ ist der Leipziger Theologe Johann August Ernesti (1707–1781) gemeint, Garves ungeliebter Förderer und älterer Kollege an der Leipziger Universität; siehe ebenda, S. 76–79 (Brief 22 vom 30. Mai 1770, ebenfalls aus Leipzig), hier S. 77. 24 Siehe unten die Edition von Garves Schrift (s. Anm. 5), § 16–18 (S. 24–30). 25 De ratione scribendi historiam Philosophiae / Libellus quem ampliss. Philos. ordinis concessu ad impetranda iura et privilegia magistri Lipsiensis d. XVIII. Iun. a C. n. MDCCLXVIII defendit Christianus Garve Vratislav. a. m horis antemeridianis sine socio pomeridianis assumto ad respondendum Io. Christiano Lederero Kalkreuthensi Misnico. Leipzig 1768 (Leipziger Magister-
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Wahrscheinlichkeitslogik, knüpfen aber sehr wohl an einige Themen und Begriffe an, die in der Hallenser Magisterschrift zur Sprache gekommen waren, insbesondere an Garves dortige Überlegungen zur sinnlichen Wahrnehmung und zu ihrem Stellenwert innerhalb der Erkenntnisvermögen. In der Leipziger Magisterschrift geht Garve der Frage nach, wie man sinnvollerweise philosophiegeschichtliche Abhandlungen anlege – was in diesem Genre bislang vorliegt, ist, so befindet er, sowohl der philosophischen Sache als auch dem zeitgenössischen Publikum unangemessen. Um zu zeigen, wie ein oberflächliches Referat, bei dem die Bedingungen des Sprachgebrauchs eines Philosophen nicht durchschaut werden, die Sache verfälschen kann, setzt er sich beispielhaft mit dem zeitgenössischen Philosophiehistoriker Jakob Brucker auseinander: Dieser habe die stoische Theorie der sinnlichen Erkenntnis entstellt – und verkenne die Philosophie überhaupt, indem er sie, Autor für Autor, in lauter kleinen Behauptungssätzen darbieten zu können meine.26 Die Leipziger Antrittsvorlesung schließlich ist, nachdem der frisch gekürte Professor wiederum das Bedürfnis nach einer ›anderen‹ Philosophiegeschichtsschreibung, vor allem auch nach einer sprachlich zeitgemäßen Wiedergabe der antiken philosophischen Werke, artikuliert hat, in ihren übrigen zwei Dritteln dem fraglichen Erkenntniswert der Sinnlichkeit gewidmet. Indem Garve zunächst den ersten Teil von Platons Dialog Theaitetos, bei dessen dialogisch verhandelten Thesen er schon 1766 angesetzt hatte, nachzeichnet, legt er es darauf an, die argumentativen Wege, auf denen Sokrates seinen Gesprächspartner führt, und die Vorteile und Schwierigkeiten der dabei erprobten Positionen einsichtig zu machen; auf dieser Grundlage spannt er den Bogen über weitere antike erkenntnistheoretische Lehrmeinungen bis hin zur Neuzeit und seiner eigenen Gegenwart, indem er Darlegungen von Helvétius, Locke, Berkeley und Thomas Reid in Frage stellt und dem Hörer rät, sich an Malebranche und Leibniz zu halten.27 Es fällt auf, dass in allen drei lateinischen Hochschulschriften Garves die antike Philosophie breiten Raum einnimmt – gerade auch schon in der Hallenser Abhandlung, die doch einem so ›modernen‹ Thema wie der Wahrscheinlichkeitslogik gilt. Vielleicht macht sich hier ein gewisser Einfluss des oben (Anm. 23) schon genann-
|| schrift); Legendorum philosophorum veterum praecepta nonnulla et exemplum. Ad audiendam orationem aditialem die V Sept. MDCCLXX in auditorio philosophico recitandam invitat Christianus Garve Philos. Professor. Leipzig 1770 (Leipziger Antrittsvorlesung für die außerordentliche Professur im Fach Philosophie). 26 Siehe Garve: De ratione scribendi historiam Philosophiae (s. Anm. 25), S. 9–16; vgl. Jakob Brucker: Historia critica philosophiae a mundi incunabulis ad nostram usque aetatem deducta. 2., vermehrte Auflage. Leipzig 1767. Bd. 1, S. 915f. 27 Siehe Garve: Legendorum philosophorum veterum praecepta (s. Anm. 25). Das im Titel angekündigte Beispiel (exemplum) für die rechte Lektüre (oder Vorlesung) ist eben Garves Referat zu Platons Theaitetos (S. 13–26). Zur Kritik an den neuzeitlichen Philosophen siehe vor allem S. 34– 38.
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ten Professors Johann August Ernesti geltend, der nicht nur als Theologe und Philosoph, sondern auch als Altphilologe tätig war. Garve wurde von Beginn seines Leipziger Studiums an durch Ernesti gefördert.28 Garves Tätigkeit als Leipziger Professor währte nicht lange. Schon im Herbst 1772 gab er aus gesundheitlichen Gründen seine universitäre Stellung auf und wirkte fortan als Privatgelehrter in seiner Heimatstadt Breslau.
2 Der Aufbau von Garves Hallenser Magisterschrift Der mit den Worten ›Über einiges, was […]‹ beginnende Titel kündigt keine Abhandlung über ein wohlabgegrenztes Thema an, sondern die rhapsodische Zusammenstellung von Teilabhandlungen, die zu einem bestimmten Teilgebiet der Logik gehören. Die Schrift ist in Paragraphen eingeteilt, denen keine Überschriften beigegeben sind. In den ersten Abschnitten und in einigen der weiteren Paragraphen gibt der Autor zwar Hinweise auf seine Gedankenführung, eine Übersicht über die Anlage der Schrift wird dem Leser aber nicht geboten. Zudem unterlässt es Garve bei Querverweisen innerhalb des Textes, die betreffenden Absätze oder Paragraphen eindeutig anzugeben (so dass etwa die Nummerierung der Paragraphen textintern kaum jemals eine Funktion hat). Einige dieser Merkmale teilt Garves Schrift mit einer früheren, die der Magister und spätere Hallenser Professor Georg Friedrich Meier 1739 vorgelegt hatte. Auch in deren Titel kommt der Ausdruck de nonnullis (›über einige‹) vor, und auch hier folgt Paragraph auf Paragraph, ohne dass Überschriften für Orientierung sorgten.29 Meier aber hat doch in einem Vorwort dargelegt, an welcher Reihe von (mathematischen) Grundbegriffen er seine Untersuchungen ausrichtet. Garve hingegen gibt seiner Schrift keine begrifflich prägnante Struktur vor. Somit bleibt es dem jeweiligen Leser mit seinen jeweiligen Vorbegriffen und Interessen überlassen, den Aufbau der Abhandlung zu rekonstruieren. Die Verfasser zweier Rezensionen, 1766 und 1769 erschienen, haben dies in einiger Kürze und mit Auslassungen getan (siehe unten Abschnitt 4 dieser Einführung). In diskursiver Form zeichnet im vorliegenden Band auch Giuseppe Motta »Form und Struktur der Abhandlung« nach.30 Hier sei dazu ein ausführlicher schematischer Vorschlag gemacht:
|| 28 Siehe Koch-Schwarzer: Populare Moralphilosophie (s. Anm. 9), S. 52f. 29 Georgius Fridericus Meier (Autor), Jacobus Henricus Sprengel (Verteidiger): Meditationes mathematicae de nonnullis abstractis mathematicis […]. Halle an der Saale 1739. 30 Motta: Ausgang aus der Metaphysik (s. Anm. 20), Abschnitt 1, oben S. 7‒13.
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1.
Einleitung (§ 1f.). 1.1 Die grundlegende Bedeutung der Wahrscheinlichkeit für das menschliche Handeln (§ 1). 1.2 Einteilung der Erkenntnis (§ 1). 1.2.1 Die Erkenntnis der Übereinstimmung von Ideen untereinander, nach dem Satz vom Widerspruch. Die damit verbundene demonstrative Gewissheit. 1.2.2 Die Erkenntnis der Existenz von Dingen oder Ereignissen und der aus solcher Existenz zu ziehenden Folgerungen. 1.2.2.1 Die Erkenntnis notwendiger Existenz, nach dem Satz vom Widerspruch. Die damit verbundene demonstrative Gewissheit. 1.2.2.2 Die Erkenntnis zufälliger (kontingenter) Existenz. Die damit verbundene Wahrscheinlichkeit. 1.3 Benennung der Unsicherheiten, mit denen die Erkenntnis der zufälligen Existenz von Dingen oder Ereignissen (siehe oben 1.2.2.2) behaftet ist (§ 1). 1.3.1 Die Erkenntnis des Einzelnen durch die Sinne: Unsicherheit beim Schluss von der Reizung des Sinnesorgans auf die Beschaffenheit von deren Ursache. 1.3.2 Die Erkenntnis des Allgemeinen aufgrund der Sinneswahrnehmung. 1.3.2.1 Die Unsicherheit beim Schluss von der Ähnlichkeit mehrerer Sinnesreizungen auf die Ähnlichkeit der sie auslösenden Dinge. 1.3.2.2 Die Unsicherheit beim Schluss von Gegenständen, die wir sinnlich erfahren haben, auf gleichartige Gegenstände, die wir nicht sinnlich erfahren haben. 1.3.2.3 Die Unsicherheit bei der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses, das andere über ihre Erfahrungen ablegen. 1.3.3 Die Erschließung des Zukünftigen. 1.3.3.1 Die Unsicherheit über das Vorhandensein der Ursachen, von denen her das Zukünftige zu erschließen wäre. 1.3.3.2 Die Unsicherheit über die wiederkehrenden Ereignisse (Fälle), von denen her das Zukünftige zu erschließen wäre. 1.4 Einteilung des Wahrscheinlichen in Gattungen (Gegenstandsbereiche) (§ 2). 1.4.1 Die Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit in der Sinneswahrnehmung (nach 1.3.1 und 1.3.2.1). 1.4.2 Die Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit der allgemeinen Ideen und Sätze, die durch unvollständige Induktion aus den Sinneswahrnehmungen erzielt werden (nach 1.3.2.2). 1.4.3 Die Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit dessen, was andere Leute wahrgenommen haben und uns mitteilen (nach 1.3.2.3). 1.4.4 Die Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit von Prognosen (nach 1.3.3).
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2.
1.4.4.1 (oder 1.4.4) Prognosen, die aufgrund der Ursachen bestimmter Dinge gestellt werden (nach 1.3.3.1). 1.4.4.2 (oder 1.4.5) Prognosen, die aufgrund der bisher aufgetretenen Fälle gestellt werden (nach 1.3.3.2). Allgemeine (prinzipielle) Darlegungen über das Wahrscheinliche (§ 3–15). 2.1 Der Zusammenhang des Wahrscheinlichen mit dem Möglichen und mit dessen Gattungen oder Kriterien (§ 3f.). 2.2 Die Gattungen oder Kriterien des Möglichen und des Wahrscheinlichen (§ 4). 2.2.1 Die Übereinstimmung einer Sache oder eines Ereignisses mit sich selbst. 2.2.2 Die Übereinstimmung einer Sache oder eines Ereignisses mit anderen Sachen oder Ereignissen. 2.2.2.1 Die Übereinstimmung mit Vorausgehendem (Ursachen). 2.2.2.2 Die Übereinstimmung mit Folgendem (Wirkungen). 2.2.3 Die Übereinstimmung einer Sache oder eines Ereignisses mit den Gesetzen der menschlichen Handlungen. 2.3 Die Möglichkeit einer vollkommenen Überzeugung durch den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit (moralische Gewissheit) (§ 4). 2.3.1 Moralische Gewissheit bei Dingen, über die ein Irrtum mehr oder weniger Gefahr für den Menschen und seine Ziele bedeutet. 2.3.2 Moralische Gewissheit bei allgemeineren, nicht direkt unsere Handlungen betreffenden Dingen. 2.3.3 Moralische Gewissheit bei der Sinneswahrnehmung. 2.4 Die einzelnen Gattungen oder Kriterien der Wahrscheinlichkeit und ihre Arten und Grade (§ 5–15).31 2.4.1 Die Übereinstimmung (der Nicht-Widerspruch) einer Sache oder eines Ereignisses mit sich selbst (wie oben 2.2.1) (§ 5). 2.4.1.1 Wir erfassen keine Widersprüchlichkeit. 2.4.1.2 Wir wissen, dass keine Widersprüchlichkeit vorliegt. 2.4.2 Der Zusammenhang einer Sache oder eines Ereignisses mit den Ursachen (wie oben 2.2.2.1) (§ 6–13). 2.4.2.1 Der Zusammenhang mit der Existenz der Ursachen (§ 8). 2.4.2.1.1 Die Widerspruchslosigkeit einer Sache oder eines Ereignisses im Verhältnis zur Existenz der anderen (vorausgehenden) Dinge.
|| 31 Wenn nicht anders vermerkt, sind die einzelnen Grade jeweils von unten nach oben, vom niedrigsten bis zum höchsten, geordnet.
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2.4.2.1.2 Aus einer Sache oder einem Ereignis ergibt sich Potenzial zur Erklärung der anderen (vorausgehenden) Dinge. 2.4.2.1.3 Ohne dass eine Sache oder ein Ereignis existiert, sind die anderen (vorausgehenden) Dinge unmöglich. 2.4.2.2 Der Zusammenhang mit der Tätigkeit der Ursachen (§ 9). 2.4.2.2.1 Ursachen, die ein Ding oder ein Ereignis verhindern können, sind vorhanden, aber wir wissen nicht, ob sie tätig sind. 2.4.2.2.2 Ursachen, die ein Ding oder ein Ereignis verhindern können, sind vorhanden, aber wir wissen, dass sie nicht tätig sind (von Garve mit den zuvor genannten Ursachen unter ein und derselben Nr. 1 behandelt). 2.4.2.2.3 Ursachen, die ein Ding oder ein Ereignis verhindern können, sind nicht vorhanden. 2.4.2.2.4 Ursachen, die ein Ding oder ein Ereignis bewirken können, sind vorhanden, aber wir wissen nicht, ob sie tätig sind. 2.4.2.2.4.1 Diese Ursachen sind lediglich als notwendigerweise vorausgehend oder als Begleiterscheinungen des Vorhandenseins der eigentlichen Ursachen erkannt. 2.4.2.2.4.2 Diese Ursachen sind in ihrer Ursächlichkeit (der Art, wie sie etwas hervorbringen) bekannt. 2.4.2.2.5 Ursachen sind vorhanden, die, wenn nicht behindert, ohne weitere Hilfe das fragliche Ding oder Ereignis vollständig hervorbringen können. 2.4.2.2.6 Ursachen sind vorhanden, die ihre Tätigkeit ausüben. 2.4.2.2.7 Ursachen sind vorhanden, die ihre Tätigkeit ausüben, und es sind keine Ursachen vorhanden, die das von den ersteren Bewirkte zerstören. 2.4.2.3 Der Zusammenhang einer freien Handlung und des daraus Folgenden mit den Ursachen (§ 10f.). 2.4.2.3.1 Der Zusammenhang des seelisch-vorbereitenden Teils einer Handlung (Entschluss und Vorsatz) mit den Ursachen (§ 10).32
|| 32 Hier sind die Wahrscheinlichkeitsgrade zunächst aufsteigend geordnet, bis hin zum Maximum (2.4.2.3.1.3). Es folgen eine mit Abschwächung verbundene Art (2.4.2.3.1.4) sowie zwei Arten, die in sich graduiert sind (2.4.2.3.1.5f.). – Unter Nr. 2.4.2.3.1.1–4 werden Grade, die in § 8f. aufgrund des
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2.4.2.3.1.1 Die äußeren Dinge, die jemanden zu einer Handlung antreiben können, sind vorhanden, aber wir wissen nicht, wie sich Geist und Gemüt eines bestimmten Menschen dazu verhalten (vgl. oben 2.4.2.1) (§ 10, Nr. 1). 2.4.2.3.1.2 Die äußeren Dinge sind vorhanden und ein bestimmtes seelisches Vermögen ist von Natur aus besonders stark tätig, um bestimmte Antriebe von außen anzunehmen und sich zu eigen zu machen (vgl. oben 2.4.2.2.6) (§ 10, Nr. 2). 2.4.2.3.1.3 Zusätzlich hat durch Gewohnheit oder aufgrund des natürlichen Überwiegens bestimmter Begierden eine bestimmte Gattung von Ideen einen bevorzugten Zugang zum Willen (vgl. oben 2.4.2.2.6) (§ 10, Nr. 3f.). 2.4.2.3.1.4 Zusätzlich gibt es keine entgegengesetzten Ursachen, die den Menschen antreiben könnten, oder er weiß nichts von ihnen, oder sie haben kein Gewicht für ihn, oder sie sind weniger gewichtig als die anderen (vgl. oben 2.4.2.2.1–3) (§ 10, Nr. 5). 2.4.2.3.1.5 Wenn wir weder wissen, ob die äußeren Antriebsgründe vorhanden sind, noch, wie das Gemüt desjenigen, dessen Handeln in Frage steht, beschaffen ist, wenn aber der Betreffende etwas tut, was nicht um seiner selbst, sondern um eines anderen Zieles willen getan wird, ist wahrscheinlich, dass er handeln wird, um jenes andere Ziel zu erreichen (§ 10, Nr. 6). 2.4.2.3.1.6 Wenn wir auch letzteres – dass jemand Dinge tut, die um eines anderen Zieles willen getan werden – nicht wissen, ist Wahrscheinlichkeit nur zu erreichen, indem wir davon, was die meisten in einer bestimm-
|| Verhältnisses einer Sache oder eines Ereignisses zu den Ursachen bestimmt wurden, speziell auf das menschliche Handeln übertragen.
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ten Lage tun, darauf schließen, was ein bestimmter Mensch in einer solchen Lage tun wird (§ 10, Nr. 7). 2.4.2.3.2 Der Zusammenhang des etwas ausführenden Teils einer Handlung mit den Ursachen (§ 11).33 2.4.2.3.2.1 Die Wahrscheinlichkeit, die auf den menschlichen Kräften und den Hilfsmitteln beruht. 2.4.2.3.2.2 Die Wahrscheinlichkeit, die auf den mit in die Handlung einfließenden Ursachen beruht (Glück, günstige Umstände). 2.4.2.4 Zwei Arten, die vorhandenen und tätigen Ursachen zu erkennen und daraus die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses zu erheben (§ 11f.).34 2.4.2.4.1 Erfahrung der Ursachen und Bestimmung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses durch eine spezielle geistige Fähigkeit (§ 11). 2.4.2.4.2 Erkenntnis der Ursachen durch Mutmaßung, Berechnung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses aufgrund der Häufigkeit von Fällen (§ 12). 2.4.2.5 Die Wahrscheinlichkeit, die darauf beruht, welche Ursachen für ein Ding oder ein Ereignis erforderlich sind (§ 13).35 2.4.2.5.1 Die Wahrscheinlichkeit aufgrund des Vorhandenseins all dieser Ursachen. 2.4.2.5.2 Die Wahrscheinlichkeit aufgrund der Häufigkeit ihres Zusammentreffens. 2.4.2.5.3 Die Wahrscheinlichkeit aufgrund der Schwierigkeit ihres Zusammenwirkens. 2.4.2.6 Die Wahrscheinlichkeit, die darauf beruht, in wie vielen Fällen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Fälle eine Sache oder ein Ereignis statthaben kann (§ 13, Abschnitt »3«). 2.4.3 Der Zusammenhang einer Sache oder eines Ereignisses mit den Wirkungen (wie oben 2.2.2.2) (§ 14). 2.4.3.1 Die Wahrscheinlichkeit hinsichtlich der Verhinderung oder Zerstörung von etwas, was als bestehend bekannt ist.
|| 33 Diese Arten der Wahrscheinlichkeit sind nicht graduell geordnet. 34 Diese Erkenntnisarten sind nicht graduell geordnet. 35 Diese Arten der Wahrscheinlichkeit sind nicht graduell geordnet.
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2.4.3.2
3.
Aus einer Sache oder einem Ereignis als Ursache oder Zweck ergibt sich Potenzial an Erklärung für etwas Bestehendes. 2.4.3.3 Eine Sache oder ein Ereignis kann als einziges die Ursache für Bestehendes oder Geschehenes sein. 2.4.4 Der Zusammenhang einer Sache oder eines Ereignisses mit Gesetzen oder Pflichten (wie oben 2.2.3) (§ 15). Spezielle Darlegungen über die einzelnen Gattungen des Wahrscheinlichen (§ 16–36). 3.1 Die Wahrscheinlichkeit in der Sinneswahrnehmung einzelner Dinge (§ 16– 24). 3.2 Die Wahrscheinlichkeit der allgemeinen Ideen und Sätze, die durch unvollständige Induktion aus den Sinneswahrnehmungen erzielt werden, und der aus solchen Sätzen gebildeten kategorischen und hypothetischen Schlüsse (§ 25–30). 3.3 Praeteritio: Die Wahrscheinlichkeit dessen, was andere Leute wahrgenommen haben und uns mitteilen, insbesondere des historisch Bezeugten. – Verweis darauf, dieses Thema sei durch andere Autoren zur Genüge behandelt worden (§ 31). 3.4 Die Wahrscheinlichkeit von Prognosen (§ 31–36). 3.4.1 Praeteritio: Die Wahrscheinlichkeit von Prognosen, die aufgrund des Vorhandenseins oder Nicht-Vorhandenseins von Ursachen bestimmter Dinge gestellt werden. – Verweis darauf, dieses Thema sei oben im allgemeinen Teil (gemeint ist wohl insbesondere § 10, Abschnitt 5–7) zur Genüge behandelt worden (§ 31). 3.4.2 Die Wahrscheinlichkeit von Prognosen, die mathematisch, aufgrund der Berechnung der Häufigkeit von Fällen, aufgestellt werden (§ 31– 36).
Sieht man einmal von den praeteritiones (den nur im Vorbeigehen erwähnten Themenbereichen) und von der wechselnden Ausführlichkeit ab, mit der die einzelnen Teilthemen abgehandelt werden, hat Garves selbständiges Erstlingswerk also durchaus eine Art thematisches Programm – und zwar eines, das die Wahrscheinlichkeitslogik ausfüllt. Ein Einteilungsprinzip, eine Begründung der Unterscheidungskriterien oder Überlegungen zum Zusammenhang der WahrscheinlichkeitsGattungen sucht man freilich vergeblich oder findet nur Andeutungen dazu. Doch lässt sich ein Modell benennen, das von Garve zwar nicht im Ganzen übernommen wurde, ihn zu seinem eigenen Programm aber angeregt haben dürfte.36 Johann || 36 Zum Reichtum der um 1765 vorliegenden Schemata für die Begriffseinteilung der Wahrscheinlichkeit siehe im vorliegenden Band Motta: Ausgang aus der Metaphysik (s. Anm. 20), Abschnitt 1f., oben S. 7‒19.
Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift | 69
Heinrich Lambert präsentiert im vierten und letzten, ›phänomenologischen‹ Teil seines 1764 publizierten Neuen Organon, dort im ›Hauptstück‹ (Kapitel) Von dem Wahrscheinlichen,37 eine lange Kette von Wahrscheinlichkeitstypen, von ihm ›Fälle‹ oder ›allgemeine Arten‹ genannt. Obwohl hier weder die Abgrenzungen noch die Verknüpfungen der Reihenglieder die gleichen sind wie wenig später bei Garve, ergeben sich mannigfaltige Entsprechungen. Garve unterscheidet in § 2 seiner Schrift, wie soeben gesehen, folgende Wahrscheinlichkeits-Gattungen: 1. 2.
3. 4.
die Wahrscheinlichkeit in der Sinneswahrnehmung die Wahrscheinlichkeit der allgemeinen Ideen und Sätze, die durch unvollständige Induktion aus den Sinneswahrnehmungen erzielt werden (in der Durchführung kommt noch die Wahrscheinlichkeit der aus solchen Sätzen gebildeten kategorischen und hypothetischen Schlüsse hinzu) die Wahrscheinlichkeit dessen, was andere Leute wahrgenommen haben und uns mitteilen die Wahrscheinlichkeit von Prognosen, und zwar a. (oder 4) von Prognosen, die aufgrund der Ursachen bestimmter Dinge gestellt werden, und b. (oder 5) von Prognosen, die aufgrund der bisher aufgetretenen (oder zu antizipierenden) Fälle gestellt werden38
Lambert behandelt ab § 151 seines Wahrscheinlichkeits-Kapitels die folgenden Arten von Wahrscheinlichkeit:
|| 37 Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein. 2 Bde. Leipzig 1764, hier Bd. 2 (LPS 2), S. 318–421 (: Phänomenologie oder Lehre von dem Schein. 5. Hauptstück: Von dem Wahrscheinlichen [§ 149–265]). Vgl. die kommentierte Neuausgabe in modernisierter Schreibweise: ders.: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein. 2 Bde. und Appendix. Hg. von Günter Schenk unter Mitarbeit von Peter Heyl. Berlin 1990, hier Bd. 2, S. 730–823. In dieser Ausgabe finden sich die Seitenzahlen des Originaldrucks mit angegeben. 38 Zwar stellt Garve in § 2 von De nonnullis […] (s. Anm. 5), S. 4 eine Liste von vier Gattungen auf, jedoch ist die vierte Gattung – die Wahrscheinlichkeit der Prognose (des Zukünftigen) – wiederum zweigeteilt, indem sie entweder auf der Prüfung beruht, welche Ursachen für Künftiges vorhanden oder nicht vorhanden sind, oder auf dem Kalkül der bisherigen Fälle. Wenn Garve dann in § 31 (S. 60) wieder auf die letzten drei Gattungen zu sprechen kommt – wobei er die dritte und die vierte Gattung nach nur kurzer Erwähnung links liegen lässt –, nennt er sie einfach nacheinander, ohne die letzten beiden unter einen gemeinsamen Gattungsbegriff zu stellen; zudem erwähnt er das Kennzeichen, das gemäß § 2 die vierte gegenüber der fünften Gattung auszeichnet, hier nicht mehr. Trotz dieser Unschärfe lässt sich aber der Sache nach das Programm von § 2 als durchgeführt ansehen.
70 | Mischa von Perger
1. 2.
3.
4.
5.
die Wahrscheinlichkeit bei Glücksspielen, Lotterien etc., die a priori (aus der Möglichkeit aller Fälle) berechnet wird (§ 151f.) die Wahrscheinlichkeit, die aus den vorliegenden (beobachteten) Resultaten des Zusammenwirkens von Gesetzen (statistisch, a posteriori) berechnet wird (§ 153–161) die Wahrscheinlichkeit einer Sache, die aus den physischen Folgen, Umständen, Anlässen, Ursachen, Beweggründen usw. hypothetisch erschlossen wird (§ 162–164) die Wahrscheinlichkeit eines Satzes, die aus seinen logischen Folgen hypothetisch erschlossen wird (§ 165–232), mit weiterer Einteilung nach verschiedenen Arten der Argumente die historische Gewissheit und die Glaubwürdigkeit von Zeugen (§ 233–248)
Die historische Wahrscheinlichkeit bildet bei beiden Autoren eine besondere Einheit (bei Garve Nr. 3, bei Lambert Nr. 5). Hierzu gehört bei Lambert auch die Zuverlässigkeit der Sinne, ein Thema, das er aus systematischen, für Garve in seinem begrenzteren Ausgriff nicht maßgeblichen Gründen zum größten Teil schon in einem früheren Kapitel behandelt hat (Phänomenologie, Zweites Hauptstück: Von dem sinnlichen Schein) und innerhalb der Reihe der Wahrscheinlichkeits-Arten deshalb nur noch kurz zur Sprache bringen muss;39 Garve hingegen lässt seine Reihe mit grundsätzlichen Überlegungen eben zur Wahrscheinlichkeit – und überhaupt zum Wirklichkeitsbezug – der Sinneserkenntnis beginnen. Die zweite Gattung, die Garve unterscheidet, lässt sich bei Lambert der vierten zuordnen: der aus logischen Folgen gezogenen Wahrscheinlichkeit eines Satzes, bei der es insbesondere die Probleme unvollständiger Induktion zu bedenken gilt (da jeder Satz eine schier unendliche Menge von möglichen Folgen hat, die nicht alle durchgegangen werden können). Garves vierte Gattung (oder Nr. 4.1) ist bei Lambert in Nr. 3 aufgehoben; hier geht es darum, aus angenommenen Umständen, insbesondere solchen, die verursachend für eine Sache sind oder mit ihren Ursachen zusammenhängen, auf diese Sache zu schließen.40 Der fünften Gattung des Wahrscheinlichen (oder Nr. 4.2) in Garves Liste entsprechen schließlich die ersten beiden Arten bei Lambert: Exemplarisch für die Wahrscheinlichkeit stehen zunächst die Glücksspiele. Bei ihnen zählt man die möglichen Fälle ab, und dadurch kann »die Wahrscheinlichkeit jeder Fälle a priori berechnet« werden.41 Als zweite Art führt Lambert diejenige ein, bei der die schon abgeschlossenen Fälle (oder die ›Produkte‹) von Spielen oder sonstigen gesetzmäßigen Geschehnissen abgezählt werden – eine Berechnung der Wahrscheinlichkeit || 39 Lambert: Neues Organon (s. Anm. 37), Bd. 2, : Phänomenologie, § 246f. (S. 405–407). 40 Ebd., § 162 (S. 328–330). 41 Ebd., S. 323 (§ 153).
Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift | 71
›a posteriori‹. Zwar nennt Garve in § 2 nur die letztere Methode, in der Durchführung des Programms aber behandelt er das Vorgehen a priori ebenso wie dasjenige a posteriori (§ 32–36). Garve übernimmt nicht etwa die Kriterien für die verschiedenen Wahrscheinlichkeits-Gattungen von Lambert und sortiert sie nach eigenem Gutdünken neu. Vielmehr entwickelt er eine eigene Reihe, die er aus erkenntnistheoretischen Gründen bei der Sinnlichkeit einsetzen lässt. So sind denn auch die oben skizzierten Entsprechungen zwischen Garves und Lamberts Reihe allesamt cum grano salis zu verstehen; sie lassen sich keineswegs ohne Schwierigkeiten konstatieren. Lambert stellt zum Teil andere Kriterien in den Vordergrund als Garve, nimmt andere Unterordnungen vor, arbeitet mit noch weiteren Unterscheidungen, die bei Garve fehlen.42 Es ist kaum denkbar, dass Garve 1766 seine Schrift zur Wahrscheinlichkeitslogik verfasste, ohne auf Lamberts zwei Jahre zuvor erschienene ausführliche Behandlung dieses Gebiets aufmerksam geworden – oder doch von seinen akademischen Lehrern darauf aufmerksam gemacht worden zu sein. In der genannten Begriffseinteilung ist aber bei aller sachlichen Nähe zu Lambert doch ein eigenwilliger Zugriff Garves, ein eigenständiges Bemühen um eine möglichst einfache Ordnung der Begriffe, nicht zu verkennen.
3 Quellennutzung und Selbständigkeit Für die im vorliegenden Band gedruckte Edition wurde versucht, möglichst viele der von Garve zitierten, angeführten oder auch verschwiegenen Quellen zu identifizieren. Wenn Garve einen Autor nennt und (explizit oder implizit) ein von diesem verfasstes Werk heranzieht, stellt sich jeweils die Frage, ob er das jeweilige Werk gelesen hat oder einer sekundären Quelle folgt. Bei denjenigen antiken Philosophen, die kein schriftliches Werk hinterlassen haben oder deren Werke verloren sind, ist ohnehin nach der jeweils einschlägigen sekundären Quelle zu fragen. Das noch lückenhafte Ergebnis dieser Quellenforschung sei in folgender Tabelle dargestellt. Von den verifizierten Quellen sind hier nur die Werktitel angeführt; die Angaben der jeweils einschlägigen Passagen finden sich unten in den betreffenden Erläuterungen (Endnoten) zur Übersetzung von Garves Schrift. Über alle von Garve genannten Personen und Werke – also auch diejenigen, die (noch) nicht als direkte Quellen identifiziert sind – informiert das entsprechende Register im Anhang des vorliegenden Bandes (S. 279).
|| 42 Zu den bei Lambert überschüssigen Unterscheidungen gehört insbesondere die vieler Argumentformen unter Nr. 4 (ebd., § 165–232, S. 332–395).
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durch eine oder ggf. Benennung mehrere Quellen der Quelle(n) zu belegender Text durch Garve (laufende Nr., Paragraph, Seite, Zeile)
Verifikation
die von Garve aus der Quelle (oder den Quellen) bezogene Information
1. § 12 (S. 21, Z. 18)
Bernoullius
Jakob I Bernoulli: Ars Conjectandi
Bernoulli hat mathematisch begründet, dass mit jeder Stein-Entnahme aus einer mit schwarzen und weißen Steinen gefüllten Urne die Wahrscheinlichkeit – bis hin zur Gewissheit – wächst, dass das Verhältnis der entnommenen schwarzen und weißen Steine zueinander das gleiche ist wie bei den Steinen insgesamt (vgl. unten Nr. 19).
2. § 13 (S. 22, Z. 18)
Hutchensonius
Francis Hutcheson: An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue
Hutcheson hat bewiesen, dass die Annahme, aus dem zufälligen Zusammentreffen von Atomen entstehe ein organischer Körper, nur geringe Wahrscheinlichkeit hat.
3. § 16 (S. 25, Z. 9)
Socrates
Cicero: Academici Sokrates sagte, seine ganze Weisheit libri; Platon: Die bestehe im Bewusstsein seiner UnwisVerteidigungsrede senheit. des Sokrates
4. § 16 (S. 25, Z. 13)
die von Plato hinterlassenen Dialoge
Platon: Sokratische Dialoge
5. § 16 (S. 25, Z. 17)
Cicero: Academi- Cicero: Academici ca libri
Cicero bezeugt, Sokrates habe die ersten Samen der Akademischen Lehre vom Unerfassbaren (›de incomprehensibilibus‹) ausgestreut.
6. § 16 (S. 25, Z. 19)
Plato: Theaetetus Platon: Theaitetos
Platon gibt eine Diskussion darüber wieder, was Wissen (scientia) sei; Theaitetos behauptet dort, Wissen liege in der Sinneswahrnehmung (›in sensu‹).
7. § 17 (S. 27, Z. 4)
Cicero: Lucullus
Cicero: Lucullus
Zitat: Arkesilas trete als Gegner Zenons auf, versuche dessen Definitionen ins Wanken und dadurch Dunkelheit in die klarsten Dinge zu bringen.
8. § 17 (S. 27, Z. 14)
Cicero: Academica
Cicero: Academici libri (das Werk, soweit erhalten, dient Garve als Grundlage für eine freie Rekonstruktion)
Die Lehren der Akademie lassen sich bis zu einem gewissen Maß aus den erhaltenen Fragmenten von Ciceros Schrift rekonstruieren.
Sokrates hat nach Platons Darstellung mehr die leeren Meinungen zerstört als feste Fundamente der Wahrheit gelegt.
Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift | 73
9. § 17 (S. 29, Z. 8)
Plutarchus: De Stoicorum ἐναντιώμασι
Plutarch: De Stoicorum repugnantiis
Die Begierden werden durch jene Lust bewegt, von der die Seele durch den Eindruck der sinnlichen Erscheinungen affiziert wird; dass wir etwas erstreben, hat den Grund, dass wir glauben, etwas Gutes und Angenehmes sei darin, und setzt nicht voraus, dass wir einem Eindruck als Wahrem zustimmen.
10. § 18
die Stoiker, Zeno, Chrysippus; Cicero
Cicero: Academici libri; ders.: Lucullus
Die Stoiker stellten bestimmte Definitionen sowie Dogmata auf, denen zufolge einige sinnliche Erscheinungen erfasst und als wahr angesehen werden. ‒ Garve übernimmt für zwei der altgriechischen Termini, die von den Stoikern verwendet wurden, die von Cicero eingeführten lateinischen Entsprechungen und verdeutlicht einen stoischen Lehrsatz durch ein Cicero-Zitat.
11. § 18 (S. 29, Z. 24‒27)
die Stoiker
Chrysipp: überlieferte Begriffsbestimmung (Stoicorum veterum fragmenta II, Nr. 54)
Phantasía ist eine in der Seele bewirkte Wandlung, der wir sowohl den Begriff dieser Affektion als auch die Vorstellung des Dinges, das die Seele affiziert hat, entnehmen können.
12. § 22 (S. 34, Z. 22)
Ennius
Ennius: frg. scen. (BühnenstückFragment) 34 Vahlen / F 13 Manuwald (überliefert in Cicero: Lucullus)
Abgewandeltes Zitat: »Das Herz stimmt nicht mit den Augen überein.«
13. § 25 (S. 44, Z. 9f.)
nicht genannt
Ovid: Metamorphosen
Garve verwendet in einem Beispiel zwei latinisierte griechische Hundenamen, die er offenbar aus Ovid kennt.
14. § 26 (S. 47, Z. 8)
»ein gewisser höchst beredter Philosoph«
Immanuel Kant: Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren
Ein gewisser Philosoph hat den Syllogismus und dessen erstes Prinzip (nämlich den Grundsatz für die affirmativen und denjenigen für die negativen Aussagen) erklärt.
15. § 27 (S. 51, Z. 4)
Cicero
Cicero: AtticusBriefe
Ciceros Erfahrung ließ ihn erkennen, dass Cäsars freundliches Verhalten gegenüber Pompeius in Wahrheit den nahen Bürgerkrieg ankündigte.
Lambert: Neues Organon
Ein von Garve referierter hypothetischer Wahrscheinlichkeits-Syllogimus dürfte aus Lamberts Werk übernommen sein.
16. nicht genannt § 30 (S. 54, Z. 18 – S. 55, Z. 10)
74 | Mischa von Perger
17. § 30 (S. 58, Z. 29; S. 59, Z. 14)
Newtonus
Isaac Newton: Philosophiae naturalis principia mathematica
Newtons Berechnungen der Gravitationsschwankungen wurden durch Huygens bestätigt.
18. § 30 (S. 59, Z. 31)
s’ Gravesandus: Notae literarum occultae explicandae
Willem Jacob ’s Gravesande: Introductio ad philosophiam
’S Gravesande bietet ein Beispiel dafür, dass die Wahrscheinlichkeitsgesetze eher zur Prüfung einer schon gefundenen als zur Auffindung einer neuen Hypothese taugen.
19. § 31 (S. 60, Z. 17)
»ein berühmter vielleicht Johann Philosoph, in Heinrich Lambert: dem die höchste Neues Organon Scharfsinnigkeit der Lehre mit der angenehmsten Eleganz der Ausdrucksweise verbunden ist«
Ein berühmter Philosoph hat die mathematischen, fast stets die Spiele betreffenden Wahrscheinlichkeitsrechnungen in allgemeine Gesetze der menschlichen Unternehmungen und Entschlüsse umgewandelt.
20. § 32 (S. 60, Z. 29)
Bernoullius
Jakobus I Bernoulli: Ars Conjectandi
Das Verhältnis, das sich bisher zwischen den Fällen, in denen eine bestimmte Sache eingetroffen ist, und denen, in denen sie nicht eingetroffen ist, ergeben hat, ist wahrscheinlich dasselbe, das allgemein zwischen den Fällen besteht, in denen jene Sache eintreffen kann, und denen, in denen sie nicht eintreffen kann; Bernoulli hat bewiesen, dass bei Zunahme der Fälle und Versuche diese Wahrscheinlichkeit bis über jede endliche Zahl hinaus wächst (vgl. oben Nr. 1).
21. § 32 (S. 61, Z. 23)
Bernoullius
Jakobus I Bernoul- Bernoulli nennt die Fälle, in denen eine li: Ars Conjectandi. bestimmte Sache eintritt, ›fruchtbare‹ (fertiles).
22. § 33 (S. 64, Z. 21)
Moivrius
Abraham de Moivre: The Doctrine of Chances
(Bernoulli und) de Moivre haben bestimmte Probleme der Wahrscheinlichkeitsrechnung aufgestellt, von denen Garve einige behandeln will.
23. § 35 (S. 69, Z. 5f.)
Bernoullius
Jakob I Bernoulli: Ars Conjectandi
Schon für Bernoulli galt – wie aus seinem Begriff der Chance (sors) hervorgeht –, dass bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse auch die Hoffnung auf Gewinn einbezogen werden muss.
Diese Übersicht über Garves derzeit bekannte Quellen zeigt, dass er für seine wahrscheinlichkeitslogischen Untersuchungen gleichermaßen antike wie zeitgenössi-
Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift | 75
sche Philosophen heranzieht, außerdem jüngere Literatur aus den Fächern Mathematik und Astronomie. Weitgehend noch unerschlossen sind die Quellen für Garves Doxographie in § 17–21, betreffend die Akademie, die Stoiker, Aristipp und Epikur. Für die beiden erstgenannten Schulen beruft sich der Autor auf die unvollständig erhaltenen Akademischen Bücher Ciceros samt dem Lucullus. Doch schöpft Garve zwar Informationen aus Cicero, die Ausführungen des Hallenser Magisterkandidaten sind jedoch insgesamt kaum an die des römischen Klassikers angelehnt.43 Gerade diese Passagen aus Garves Schrift wurden später zweimal als philosophiegeschichtliche Abhandlungen gedruckt, ohne dass die jeweiligen Herausgeber Bemerkungen zu Garves etwaigen nach-ciceronianischen Quellen gemacht hätten (siehe unten Abschnitt 4: Zur Rezeptionsgeschichte). Womöglich also hat Garve jene doxographischen Rekonstruktionen auf eigene Faust vorgenommen. Wie oben in Abschnitt 2 ersichtlich ist, unterscheidet Garve in § 2 eine Reihe von Gattungen des Wahrscheinlichen – letztendlich sind es fünf.44 Der erste große Textabschnitt gilt dann dem Wahrscheinlichen im Allgemeinen (§ 3–15), der zweite ist jenen einzelnen Gattungen gewidmet (§ 16–36). Die letzte von Garve bearbeitete Gattung ist die des mathematisch fassbaren Wahrscheinlichen: der Kalkül der möglichen und der zu erwartenden Fälle, der traditionsgemäß anhand von Beispielen aus dem Bereich der Glücksspiele – vor allem des Würfelspiels – untersucht wird. Magisterschriften und Dissertationen des 18. Jahrhunderts pflegen stark von den Interessen und dem Stil des jeweiligen Lehrers, der den Autor betreute, geprägt zu sein (falls es nicht überhaupt der Lehrer ist, der sie verfasst hat). Garve ist auf dem Titelblatt seiner Schrift als Autor ausgewiesen. Der Vorsitzende der Disputation, der Mathematikprofessor Segner, hatte 1757, wie oben schon erwähnt, einen kleinen Aufsatz über die Chancen beim Würfelspiel veröffentlicht. Die Überschrift lautet: »Von der Berechnung der Glückspiele«, und der Text beginnt folgendermaßen: Ich habe von dieser Materie nichts neues zu sagen. Da ich aber bey einer gewissen Gelegenheit mercken konte, daß diese Berechnungen noch lange so bekant nicht sind, als sie es zu seyn verdienen, so unterstehe ich mich zu hoffen, es werde weder unangenehm noch gantz ohne Nutzen seyn, wenn ich etwas weniges davon beybringe. Denn ob man dieselbe wol gemeiniglich nur auf die Spiele, und zum Anfang, auf das leichteste unter diesen, nehmlich das Würfelspiel, anzuwenden pflegt; so sind doch die meisten Begebenheiten des menschlichen Lebens nach eben den Gründen zu beurtheilen, und eben dergleichen Rechnungen geben uns in den wichtigsten Geschäften öfters das gehörige Licht. Es ist nicht möglich von dem Wahrscheinlichen und den verschiedenen Stufen desselben einiges Licht zu erlangen, ohne
|| 43 Hinweise zu den Zusammenhängen, in denen die Lehren der genannten antiken Philosophen im 18. Jahrhundert bis etwa 1765 diskutiert wurden, bietet in vorliegendem Band Motta: Ausgang aus der Metaphysik (s. Anm. 20), Abschnitt 4: Die Sinnlichkeit, oben S. 24‒27. 44 Siehe oben S. 63f., Abschnitt 1.4 der Gliederung, sowie die Liste der fünf Gattungen auf S. 69.
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sich in denenselben geübt zu haben; gründet sich aber nicht der allergröste Theil unsrer Handlungen auf Wahrscheinlichkeiten?45
Dieser Einleitungspassus, und insbesondere die ihn abschließende rhetorische Frage nach der Relevanz von Wahrscheinlichkeits-Berechnungen für die alltäglichen Handlungen, gibt gleichsam einen Hauptaspekt von Garves Hallenser Disputationsthema vor. Nachdem Segner die Chancen für bestimmte Würfe im Würfelspiel berechnet und entsprechende Tafeln vorgelegt hat, beschließt er den Aufsatz wie folgt: Auf eben die Art werden viele wichtige Aufgaben aufgelöset, welche im Leben täglich vorkommen. Ein vortreffliches Mittel, unsrer Furcht und Hoffnung die rechte Schrancken zu setzen, wenn sich die Leidenschaften nach Maaß, Zahl und Gewicht richteten!46
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung hat demnach günstigenfalls einen hohen sittlichen Wert, oder zumindest einen Wert für die Erkenntnis der Art und Weise, wie wir die alltäglichen sittlichen Entscheidungen treffen – so wird Garve näher ausführen.47 Garves Hallenser Magisterschrift weist somit auf das Denken seines akademischen Betreuers zurück – ebenso aber auch auf manche Teile von des Autors eigenem künftigen Werk voraus. In der Wahl des Themas ›Wahrscheinlichkeit‹, im Unterschied zu ›Wahrheit‹ als dem klassischen Zielbegriff der theoretischen Philosophie, macht sich Garves Interesse an der Erfahrung – am Empirismus – gel-
|| 45 Segner: Von der Berechnung der Glückspiele (s. Anm. 14), Sp. 161f. 46 Ebd., Sp. 188. – Mit dem Ausdruck Maß, Zahl und Gewicht zitiert Segner das biblische Buch der Weisheit, Vers 11, 21: »[…] omnia mensura et numero et pondere disposuisti« (»[…] alles hast du [= Gott] nach Maß und Zahl und Gewicht angeordnet«). – Dass Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit unser Handeln bestimmen oder bestimmen sollten, ist freilich mitnichten ein origineller Gedanke Segners, sondern wird von vielen zeitgenössischen Autoren vertreten; vgl. etwa Ludwig Martin Kahle: Elementa Logicae probabilium methodo mathematica in usum scientiarum et vitae adornata. Halle an der Saale 1735, wo die Nützlichkeit der Wahrscheinlichkeitslogik für die Lebensführung schon im Buchtitel behauptet wird, und siehe im vorliegenden Band den Hinweis auf Christian Wolff bei Motta: Ausgang aus der Metaphysik (s. Anm. 20), oben S. 8, Anm. 9; zum Thema auch ebd., S.19‒24. Die – wohl auch ein wenig ironisch zu verstehende – Pointe bei Segner ist jedoch der unmittelbare Brückenschlag zwischen Mathematik (Wahrscheinlichkeitsberechnung) und Sittenlehre. 47 Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), § 31, S. 60, Z. 12–16: »[…] können, wie es scheint, diejenigen allgemeinen Vorschriften, die in diesen Berechnungen der Spiele [d. h. in den mit Fallzahlen operierenden Berechnungen] verborgen liegen, nicht ohne Nutzen hervorgezogen und die wechselnden Wahrscheinlichkeiten, die in den einzelnen Spielen dafür bestehen, den Gewinn davonzutragen, in allgemeingültige Gesetze der menschlichen Unternehmungen und Entschlüsse verwandelt werden.« (»[…] ea praecepta generalia quae in his ludorum calculis latent, videntur non sine fructu aliquo posse erui, & quae sunt in singulis variae ad nanciscendum praemium probabilitates, in communes rerum consiliorumque humanorum leges conuerti.«)
Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift | 77
tend, wie Leonie Koch-Schwarzer in ihrer Garve-Monographie feststellt, darüber hinaus aber eben auch das Interesse an der Moralphilosophie.48 Im Übrigen stellt Koch-Schwarzer die kleine Abhandlung als ein nichtoriginelles Werk hin, das, wie damals üblich, »weniger zur Entwicklung und Darstellung eigener Thesen, als zur Wiederholung und Diskussion von Literaturexzerpten« diene.49 Doch müsste eine solche Behauptung belegt werden. Garve bezieht sich, wie die obige, sicher unvollständige Liste zeigt, in der Tat vielfach auf andere Autoren und Autoritäten, von der Antike bis in seine Gegenwart, teils mit, teils ohne Nennung ihrer Namen; und er hat sicher mit Exzerpten gearbeitet, etwa mit Auszügen aus Schriften Ciceros, Immanuel Kants und Johann Heinrich Lamberts. Doch dabei geht es keineswegs einfach um Wiederholung oder um Diskussion von bereits Bekanntem. Vielmehr interpretiert und kombiniert Garve die hier oder dort gefundenen Lehren und Ansichten anscheinend frei und benutzt sie gleichsam als Steine für einen eigenen Bau. Auch wären für jene Passagen, wo Garve nur selten auf andere Autoren verweist, insbesondere für die Einleitung (§ 1f.) und den ersten, das Wahrscheinliche im Allgemeinen betreffenden Hauptteil, direkte Quellen erst noch namhaft zu machen.50 Das gilt auch für den von Koch-Schwarzer sicher zu Recht vermuteten Einfluss, den Christian August Crusius’ Wahrscheinlichkeitstheorie auf Garve ausübte.51 Mancherlei methodische und terminologische Nähe zu Crusius’ Analyse der Quellen der Wahrscheinlichkeit fällt zwar bei Garve ins Auge, die direkte Übernahme einer Begriffsunterscheidung oder eines Theorems des älteren Philosophen durch den jungen ist aber vorerst noch nicht nachgewiesen. In den – freilich spärlichen – Rezeptionszeugnissen aus den ersten vierzig Jahren nach Erscheinen von Garves Schrift ist sie denn auch durchaus als eigenständiger Entwurf beurteilt oder wenigstens implizit behandelt worden.
|| 48 Koch-Schwarzer: Populare Moralphilosophie (s. Anm. 9), S. 53f.; vgl. im vorliegenden Band Motta: Ausgang aus der Metaphysik (s. Anm. 20), passim. Motta liest Garves Schrift als Manifest für ein moralphilosophisches und dabei nicht-metaphysisches, sondern durch das Vertrauen auf die Sinnlichkeit ausgezeichnetes Projekt. 49 Koch-Schwarzer: Populare Moralphilosophie (s. Anm. 9), S. 53, Anm. 69. 50 Siehe im vorliegenden Band die ersten drei Abschnitte des Aufsatzes von Motta: Ausgang aus der Metaphysik (s. Anm. 20), oben S. 7‒24. Motta gliedert Garves Thesen in den DiskussionsZusammenhang seiner Zeit ein, stellt zugleich aber auch ihre Originalität heraus. 51 Koch-Schwarzer: Populare Moralphilosophie (s. Anm. 9), S. 52, Anm. 63. Im vorliegenden Band benennt Motta: Ausgang aus der Metaphysik (s. Anm. 20), oben S. 10‒12 und S. 14‒18, den Beitrag, den Crusius zur einschlägigen Diskussionslage lieferte, so wie Garve sie 1766 vorfand. Siehe auch die Erläuterungen zum edierten Text: Nr. 11 (zu § 2, S. 4, Z. 14f.) und Nr. 18f. (zu § 4, S. 7, Z. 20‒31), unten S. 236 und S. 237f.
78 | Mischa von Perger
4 Zur Rezeptionsgeschichte Dem Druck und der Disputation von Garves Abhandlung Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört eilte von Leipzig her der Ruf voraus, sie sei vorzüglich.52 Innerhalb der ersten zweieinhalb Jahre nach dem Erscheinen ist sie dann zweimal rezensiert worden. Die erste, in einer Hallenser Zeitschrift gedruckte Rezension ist anonym und gibt einen insgesamt durchaus verständigen Überblick über Garves Abhandlung.53 Auch die zweite Rezension erschien ohne den Namen des Verfassers, doch musste bereits einem damaligen Leser, der sich in der neueren philosophischen Literatur auskannte, klar werden, dass dieser Verfasser kein geringerer als Johann Heinrich Lambert war.54 Lambert beginnt die Besprechung mit einem Lob für den Autor Garve und folgt dann dem Verlauf des Garve’schen Textes bis hin zur Frage nach der möglichen Allgemeingültigkeit von Sinnenerkenntnis, also bis einschließlich § 25. Die letzten beiden Abschnitte des besprochenen Werks, die der Wahrscheinlichkeits-Syllogistik und der prognostischen Wahrscheinlichkeitsrechnung gelten (§ 26–36), werden dann bloß noch kurz erwähnt – Lambert lässt sich nicht auf die Diskussion ein, inwieweit seine eigene Arbeit zu diesen Themenbereichen von dem jungen Kollegen sinnvoll aufgenommen oder weitergeführt worden ist.55 Mindestens ein Zeugnis gibt es dafür, dass die Zeitgenossen die enge Beziehung zwischen Garves Schrift zur Wahrscheinlichkeitslogik und Lamberts früheren diesbezüglichen Darlegungen bemerkten: Der Philosoph Karl Heinrich Frömmichen, der als Schulleiter in Hildesheim tätig war, veröffentlichte 1773 eine wahrscheinlichkeits-theoretische Schrift, deren einleitende Doxographie mit Lambert und Garve endet: || 52 »[D]ie ehrenhafteste Beurteilung durch hochbedeutende Männer hat Dein Büchlein schon vor der Drucklegung erfahren«, schreibt auf Latein Heinrich Gottfried Reichard im Namen einiger Leipziger Kommilitonen in einer Druckschrift, mit der sie Garve zum frisch erworbenen Magistertitel gratulieren. Siehe De caussis magnitudinis veterum et recentiorum in omni liberaliori doctrina, effectricibus. Commentatio, qua viro nobilissimo ac doctissimo Christiano Garvio, Vratislaviensi, summos in philosophia honores in Academia Halensi acceptos ex animo gratulantur: Iohannes Fridericus Ackermannus, LL. C. Reichenb. Lus. / Christianus Traugott Fickerus, SS. Th. Stud. Bockauiens. / Christianus Fridericus Feslerus, SS. Th. Stud. Cizens. / Carolus Fridericus Augustus Hallerus, SS. Th. Stud. Auma-Variscus. Interprete Henrico Godofredo Reichardo, A. M. SchleizaVarisco. Leipzig , S. 20: »[…] cum maximorum virorum iudicia honorificentissima, libellus tuus, iam ante, quam ederetur, expertus sit«. 53 Siehe den Neuabdruck im vorliegenden Band: Anonymus: Rezension zu Garves Hallenser Magisterschrift, unten S. 251‒253. 54 Siehe den Neuabdruck im vorliegenden Band: Johann Heinrich Lambert: Rezension zu Garves Hallenser Magisterschrift, unten S. 255‒260, hier Verf.: Vorbemerkung, S. 255f. 55 Zu Garves Lambert-Rezeption in Sachen Syllogistik siehe im vorliegenden Band Verf.: Christian Garves Wahrscheinlichkeits-Syllogistik, hier S. 48‒51.
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Diesen Begriff der Wahrscheinlichkeit [d. h. den einerseits durch die Abschätzung von Möglichkeiten und durch die Bestimmung der Ketten von Ursachen und Wirkungen im Naturlauf, andererseits durch das mathematische Verhältnis der Anzahl bestimmter Fälle zu derjenigen aller Fälle gefassten Begriff der Wahrscheinlichkeit] hat Herr Lambert mit mathematischer Schärfe bestimter und brauchbarer gemacht: wie er denn vielleicht zuerst die sicheren Grundsätze gezeiget hat, nach welchen die Vernunftschlüsse des Wahrscheinlichen in verschiedenen Arten derselben, gebildet werden. Und wer kennet ohnedem nicht die ungemeinen und reellen Verdienste eines Lambert um die Lehre von der Wahrscheinlichkeit? Auf eben diese Art suchte Garve, genäret mit der Philosophie der Alten von den besonderen Regeln der Mathematiker das Algemeine zu abstrahiren, und die Anwendung desselben theils auf die wichtigen psychologischen Streitigkeiten der Alten, theils auf die Angelegenheiten des menschlichen Lebens zu erleichteren.
Schon im ersten Kapitel zitiert Frömmichen außerdem die Anfangssätze (S. 1 – S. 2, Z. 12) von Garves Abhandlung, weil darin das Bedürfnis nach einer ›Logik des Wahrscheinlichen‹, wie sie mehrere Autoren gefordert hätten, gut zum Ausdruck komme. Und an einer dritten Stelle bezieht Frömmichen von Garve und einem älteren Autor eine Definition des Wahrscheinlichen, die am Ende einer bestimmten Entwicklungslinie stehe. Während die Wahrheit die Gewissheit der abstrakten Gegenstände sei, gelte demnach analog: »Die Wahrscheinlichkeit ist die Gewisheit, welche bei exsistenten Gegenständen Statt hat.«56
|| 56 Siehe Karl Heinrich Frömmichen: Ueber die Lehre des Wahrscheinlichen und den politischen Gebrauch derselben, wobei zugleich eine Theorie des Wahrscheinlichen angezeiget wird. Braunschweig, Hildesheim 1773, S. 31f. (Lambert und Garve), S. 4 (Zitat aus § 1 von Garves Schrift) und S. 23 (die Garve’sche Wahrscheinlichkeits-Definition). – Zur Person des Autors siehe Jürgen Meier: Der Aufklärer und Theatergründer Karl Heinrich Frömmichen. In: ders.: Theater stört. Betrachtungen zur bürgerlichen Stadtkultur und Theatergeschichte mit dem Fokus Hildesheim. Hildesheim 2014, S. 60–73. Zu Frömmichens Wahrscheinlichkeitstheorie siehe Giorgio Tonelli: Kant und die antiken Skeptiker. In: Martial Gueroult u. a.: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung. Hildesheim 1967, S. 93–123, hier S. 103–105 (Abschnitt 13f.). – Für die besagte Definition der Wahrscheinlichkeit stützt sich Frömmichen auf Garves Hallenser Abhandlung sowie auf die einschlägige Programmschrift von Abraham Gotthelf Kästner: Gradus et mensuram probabilitatis dari defendit praelectionesque suas indicat Abraham Gotthelf Kaestner Math. P. P. E. Fac. Phil. Ads. I. V. C., Leipzig 1749. Wenn allerdings Frömmichen suggeriert, Garve und Kästner seien sich in Hinsicht auf den Begriff der Wahrscheinlichkeit einig, so ist dem nur mit einigem Vorbehalt zuzustimmen. Denn zwar lässt sich die oben zitierte – wohlgemerkt: von Frömmichen selbst formulierte – Definition durchaus Garves Text entnehmen (siehe im vorliegenden Band die Edition dieses Textes [s. Anm. 5], § 1f. [S. 1–4]), nicht aber demjenigen Kästners. Letzterer verteidigt nämlich eine, wie er sagt, allgemein verbreitete (vulgaris) Definition in folgender Fassung: »Wahrscheinlich nenne ich unsere Erkenntnis, wenn nicht alles, was zur Gewissheit erforderlich ist, uns bekannt wird« (Kästner, a. a. O., S. 4, Abschnitt 3: »Probabilem cognitionem nostram dico, cum quae ad certitudinem requiruntur, omnia, nobis non innotescunt«). Anders als Garve, der die Wahrscheinlichkeit als eine graduierte Gewissheit auffasst, stellt Kästner Wahrscheinlichkeit und Gewissheit einander gegenüber. Offenbar aber kommt es Frömmichen nur darauf an, die Charakterisierung der Wahrschein-
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Ein anderes Zeugnis für die zeitgenössische Wertschätzung der Garve’schen wahrscheinlichkeitslogischen Schrift stammt vom Medizinprofessor Ernst Gottfried Baldinger, der seit 1785 in Marburg lehrte. 1797 erinnerte er sich wie folgt an die Lektüre: Aber es giebt so, außer der gemeinen Logica rationali, noch eine höhere Logik, die ›Logica probabilium‹ die eigentlich die medulla, die Quintessenz – der höhere Calcul der Logik ist. […] Naß aus der Presse erhielt ich zu seiner Zeit zugeschickt: Garve, diss. de nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium, Praeside de Segner. Halae 1766. d. 8 Sept. pro Gradu Doctoris Philosophiae. So was ist herzerhebend und herzerquickend. Wie freue ich mich des Andenkens jenes Sommers, da Garve, dieser lichtvolle Weltweise unsers Jahrhunderts, bey Uns in Göttingen lebte, und ich dessen persönliche Bekanntschaft und Freundschaft genoß.57
Nach Garves Tod kam sein selbständiges Erstlingswerk zu neuen Ehren. Ein Auszug aus § 16–19 wurde (neben anderen seiner Schriften) 1799 im letzten Band von Georg Gustav Fülleborns philosophiegeschichtlicher Zeitschrift nachgedruckt.58 Sieben Jahre später, 1806, erschien der gleiche Auszug, noch einmal leicht gekürzt und redigiert, in einer von Friedrich Hülsemann besorgten, kommentierten Ausgabe von Ciceros Akademischen Büchern.59 Beiden Herausgebern galt Garve offenbar als philosophiegeschichtliche Autorität; die aus seiner Hallenser Magisterschrift stammende Doxographie behandelten sie als gültigen Forschungsbeitrag, der es wert war, neuen Lesern präsentiert zu werden. Schließlich stellte – allerdings aufgrund der Kenntnis nicht von Garves Schrift selbst, sondern nur der oben erwähnten Rezension, die ihr Lambert hat angedeihen lassen – Emil Arnoldt 1888 die Überlegung an, ob Kant Garves Frühschrift gelesen haben und womöglich auch dadurch zur Anerkennung des Autors als eines ›echten
|| lichkeit als einer Erkenntnisweise für Existentes (im Gegensatz zu Ideell-Abstraktem) hervorzuheben. 57 Ernst Gottfried Baldinger: Und der Arzt sollte auch sogar Logik studiren?. In: Neues Magazin für Aerzte (Leipzig) 19 (1797), S. 266–275, hier S. 272f. – Baldingers bibliographische Angabe ist nicht ganz korrekt: Garve verfasste seine Schrift zum Erwerb nicht des Doktor-, sondern des Magistergrades. 58 Ueber die ἀκαταληψία in der alten Philosophie. Aus Garves Abhandlung de Nonnullis, quae pertinent ad Logicam Probabilium. Halae 1766. 4. S. 25 u. f. In: Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Hg. von Georg Gustav Fülleborn. Stück 11/12. Jena 1799, S. 197–208. 59 Siehe M. T. Ciceronis Academica seu Academicorum veterum disputationes de natura et imperio cognitionis humanae. Emendata ad optimorum et exemplarium, et criticorum fidem, nexusque orationis auctoritatem; ac rerum inprimis ratione habita, illustrata, studio Friderici Hülsemann Philos. Doct. Ioannei Luneb. Rect. Soc. Lat. Ien. Sod. Magdeburg 1806, S. 462–468.
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Philosophen‹ gebracht worden sein könnte, wie sie in der Vorrede zum ersten Band von Kants Metaphysik der Sitten formuliert ist.60 Ein Neudruck von Garves gesamter Abhandlung ist bislang nicht erfolgt, auch nicht innerhalb der von Kurt Wölfel seit 1985 herausgegebenen Gesammelten Werke Garves.61
5 Ausblick: Wahrscheinlichkeits-Überlegungen in Garves späterem Werk Wie oben in Abschnitt 1 schon angedeutet, müssen Garves lateinische universitäre Pflichtübungen aus den Jahren 1766–1770 in ihren Ansätzen und Thesen als aufschlussreich für sein gesamtes philosophisches Bemühen gelten. Was insbesondere die Hallenser Magisterschrift betrifft, so hat sich Garve zwar nicht deren einzelne Gedankengänge, wohl aber die darin geübte Wertschätzung der Wahrscheinlichkeit als des Kriteriums humaner Praxis stets bewahrt. So klingt etwa ein einschlägiger Satz aus dem erstmals 1790 publizierten Aufsatz Lob der Wissenschaften so, als mündete die Gegenüberstellung von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, wie der Magisterkandidat sie 1766 in den ersten beiden Paragraphen seiner Schrift vorgenommen hatte, nunmehr anlässlich eines Anwendungsfalls in ein wohlabgewogenes Urteil: Die bloße Wahrscheinlichkeit eines uralten und ängst bekannten Grundsatzes der natürlichen Religion und Moral, ist, wenn sie nach Abwägung aller Gründe und Gegengründe eingesehen wird, doch für den Menschen wichtiger, – und trägt zur eigentlichen Aufklärung seines Verstandes, zur Veredlung seines Charakters, und zur Anordnung und Beglückung seines ganzen Lebens mehr bey, als die strenge Gewißheit aller geometrischer Sätze, und als die noch so große Anzahl neuer Entdeckungen in der Naturlehre.62
Gelegentlich greift Garve argumentierend auf diese oder jene WahrscheinlichkeitsArt zurück – im gedruckten Brief an Nicolai (1786) sogar auf drei verschiedene: zum einen auf die Wahrscheinlichkeit oder (wie im vorliegenden Fall) Unwahrscheinlichkeit eines künftigen Ereignisses, die aufgrund der für dieses Ereignis erforderlichen Ursachenreihe eingeschätzt wird; zweitens vergleicht er die Wahrscheinlich-
|| 60 Emil Arnoldt: Zur Beurtheilung von Kant’s Kritik der reinen Vernunft und Kant’s Prologomena. II. Abhandlung: Garve’s erster Brief an Kant und Kant’s Antwort. In: Altpreußische Monatsschrift, neue Folge 25 (1888), Heft 3–4, S. 193–226, hier S. 209f. 61 Vgl. GGW; der Schlussband (Bd. 17) fehlt noch. 62 Christian Garve: Lob der Wissenschaften. In: ders.: Vermischte Aufsätze welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind. Neu herausgegeben und verbessert. Teil 1. Breslau 1796 (GGW 4, Text 1), S. 273–330, hier S. 299 (Abschnitt 4 [über die Philosophie]).
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keit von bestimmten Wirkungen in den beiden Fällen miteinander, dass einmal zwei wirkende Ursachen vorliegen, die auch einzeln jene Wirkungen nach sich ziehen, beim zweiten Mal nur eine von diesen Ursachen; drittens beruft er sich auf die ›innere‹, dem Zusammenhang der Dinge oder der Geschehnisse zu entnehmende Wahrscheinlichkeit einer Sache.63 Auffallend zahlreich treten solche Wiederaufnahmen des 1766 so intensiv untersuchten Begriffs bei Garve freilich nicht auf.64 Bisweilen sind sie aber von grundlegender Bedeutung, wie das folgende Beispiel zeigt: Ich habe die Überzeugung, ein sittliches Wesen zu sein. Dies setzt voraus, dass ich für meine Handlungen verantwortlich bin. Dies wiederum setzt voraus, dass ich frei bin. Deswegen halte ich mich – durch ›Vernunftglauben‹ – für frei.
|| 63 Christian Garve: Schreiben an Herrn Friedrich Nicolai von Christian Garve, über einige Äußerungen des erstern, in seiner Schrift, betitelt: Untersuchung der Beschuldigungen des P. G. gegen meine Reisebeschreibung. Breslau 1786 [GGW 6, Text 1], S. 10, Abschnitt 2: »Die Reyhe von Ursachen, aus welchen zusammengenommen, die Macht des Pabstes, der Geistlichkeit, und ihre Folgen, in vorigen Zeiten entstanden, kan nach der höchsten Wahrscheinlichkeit nie mehr wieder kommen: und ohne die Mitwirkung solcher äußeren Umstände können die Bemühungen einiger Menschen, auch der listigsten, die gleiche Wirkung nimmermehr hervorbringen.« – Ebd., S. 11, Abschnitt 5: »Der aufgehobne Jesuiter-Orden wird durch Intrigen und heimlichen Einfluß wahrscheinlich nicht mehr ausrichten, als der öffentlich autorisirte, durch Intrigen und Macht zugleich, durch offenbaren Einfluß mit dem heimlichen verbunden, ausgerichtet hat.« – Ebd., S. 21f.: »Zwar zur Beurtheilung der Wahrheit eines Facti, ist das vornemste und eigentliche Mittel, die Zeugen zu prüfen. Wenn aber diese nicht bekannt sind, wenn es unmöglich ist dem Wege nachzugehen, worauf der welcher eine Nachricht mittheilt, zu derselben gelangt ist: was bleibt übrig, wornach man über die Wahrheit dieser Factorum urtheilen kan, als ihre innere Wahrscheinlichkeit? […] Und wenn es nun vollends darauf ankömmt, über das Verfahren eines großen Theils der Menschen aus den Handlungen einiger weniger zu urtheilen […]: ist da etwas anders zu thun möglich, als entweder gar nicht, oder nach Wahrscheinlichkeiten, nach dem innern Zusammenhange der Dinge, nach den allgemeinen Gesetzen der Natur zu urtheilen, – mit andern Worten, zu räsonniren?« Das erste Zitat betrifft die Unwahrscheinlichkeit eines künftigen Ereignisses, die aufgrund der für dieses Ereignis erforderlichen Ursachenreihe eingeschätzt wird; vgl. dazu Garve: De nonnullis (s. Anm. 12), § 13, S. 21, Z. 26 – S. 22, Z. 19. Das zweite Zitat gilt der Überlegung, dass die Wahrscheinlichkeit bestimmter Wirkungen davon abhängt, wie viele Ursachen, von denen auch einzeln jene Wirkungen hervorgebracht werden, vorhanden sind; hierin liegt laut Garves Hallenser Magisterschrift keine eigene Art von Wahrscheinlichkeit, vgl. aber die ähnliche Überlegung ebd., § 12, S. 21, Z. 12f. Das dritte Zitat schließlich benennt den Zusammenhang der Dinge als Prüfstein für die Wahrscheinlichkeit; vgl. ebd., § 8, Abschnitt 1. 64 Auf zwei weitere einschlägige Stellen wird im vorliegenden Band in der Edition von De nonnullis […] (s. Anm. 5) hingewiesen: in den Erläuterungen zu § 4, S. 7, Z. 20‒28 (Endnote 18, S. 237) und zu § 11, S. 20, Z. 16‒26 (Endnote 27, S. 238f.) Die letzte Stelle stammt, so wie auch die hier im Folgenden angeführte, aus Garves spätem Werk Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre. Ein Anhang zu der Uebersicht der verschiednen Moralsysteme. Breslau 1798 (reprographischer Nachdruck Königstein/Ts. 1979; GGW 8, Text 2).
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Diese (hier frei nachgezogene) Argumentation präsentiert Garve 1798 in seinen Eigenen Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre. Er definiert in diesem Zusammenhang den ›Vernunftglauben‹ als »diejenige Art der Gewißheit, welche daraus entsteht, daß ich eine andere Sache für wahr halte, und diese nicht wahr seyn könnte, wenn nicht jene erste Sache auch wahr wäre«.65 Jener Vernunftglaube an die menschliche Freiheit scheint ihm zwar starken Einwänden ausgeliefert zu sein,66 jedoch einem Menschen möglich, der seiner sittlichen Natur durch »sein innigstes Bewußtseyn« gewiss sei.67 Ein solcher Mensch aber bedürfe mehr als dieses Glaubens: Damit dessen Überzeugungskraft auf die Dauer bewahrt werden könne, müssten »einige Erkenntniß, und einige aus ihr geschöpften Gründe hinzutreten«.68 Diese argumentativ fruchtbare Erkenntnis ist laut Garve eine, die zwar keine Gewissheit gibt, wohl aber den Vernunftglauben durch Wahrscheinlichkeit stützt: […] ich glaube nicht allein an sie [die Freiheit des Menschen], sondern einige schwache Spuren der Erfahrung machen sie mir auch wahrscheinlich, ob ich gleich die Schwierigkeiten nicht zu heben weiß, die eben diese meine Erfahrung jener Wahrscheinlichkeit entgegenstellt.69
Garves Versuch, die Sittenlehre nicht nur auf den ›Vernunftglauben‹, sondern auch auf (sinnliche) Erfahrung zu gründen, ist somit eng an den Begriff der Wahrscheinlichkeit geknüpft: Was vernünftig geglaubt wird, erhält durch die Erfahrung Wahrscheinlichkeit, wenn auch eine, die, ebenfalls durch Erfahrung, angefochten ist und somit keinen hohen, der Gewissheit nahen Grad erreicht. Die Zweigleisigkeit des späteren Werks – der ›Vernunftglauben‹ wird durch die Wahrscheinlichkeit sinnlicher Erkenntnis gestützt – entspricht Garves frühem Bemühen, der ›Logik des Wahren‹ eine ›Logik des Wahrscheinlichen‹ an die Seite zu stellen – eine Logik somit, die zeigt, woher dem Menschen in seiner Bestimmung zum Handeln Orientierung kommt.70 || 65 Garve: Eigene Betrachtungen (siehe die vorige Anm.), S. 30. 66 Der besagte Beweis sei nämlich gleich dreifach mangelhaft: Der erste Satz (›Ich bin ein sittliches Wesen‹) sei selbst noch nicht gewiss; wenn dieser erste Satz bewiesen werden könne, dann offenbar nur unter Voraussetzung der Wahrheit desjenigen Satzes, der aus ihm geschlossen werden soll (›Ich bin frei‹); und eben diese Voraussetzung (›Ich bin frei‹) sei Einwürfen und Schwierigkeiten unterworfen (ebd., S. 31f.). 67 Ebd., S. 33. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 29. 70 Siehe Garve: De nonnullis […] (s. Anm. 5), § 1, S. 1 – S. 2, Z. 12. ‒ Nachtrag nach Redaktionsschluss: Ein im Original verschollener Brief Segners an Garve, geschrieben am 2. August 1766 in Halle, konnte für die vorliegende Einführung nicht ausgewertet werden, da das Schreiben zwar gedruckt sein soll, der Druckort dem Verf. aber unbekannt ist. Siehe Anonymus: Christian Garve’s Handschriftlicher Nachlass. Hs. M 1252–1285 […]. Verzeichnisse u. Register. Universitätsbibliothek Breslau, Signatur Akc 1967/18, Abschnitt »Hs M 1293–1296«, Nr. 5.
Christian Garve
De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium / Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört Lateinisch – deutsch Übersetzt und erläutert von Mischa von Perger
Vorbemerkungen 1
Zu den Textvorlagen
Garves Hallenser Disputationsschrift liegt in zwei Teilauflagen vor. Die erste weist auf S. 38 in Zeile 7 die falsche Paragraphennummer ›XVI‹ auf; siehe das Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, Signatur: 4 Diss. 3206,1. Die Nummer ist dann vom Setzer zu ›XXIV‹ korrigiert worden; siehe das Exemplar Halle an der Saale, UB Halle-Wittenberg, Signatur: Halle Diss. 1766–67 (9). Weitere Unterschiede wurden im Zuge der Editionsarbeit nicht gefunden. Als primäre Textvorlage für die Neuausgabe diente das genannte Hallenser Exemplar. Einen Auszug aus Garves Schrift hat 1799 – im Jahr nach dem Tod des Autors – Georg Gustav Fülleborn im letzten Band seiner Zeitschrift Beyträge zur Geschichte der Philosophie abgedruckt.1 Gegenüber dem Originaldruck weist dieser Auszug etliche formale Änderungen auf, etwa durch das Weglassen der Paragraphenzählung, durch eine kleine Textkürzung, in der Schreibweise von Wörtern (bei ›i‹ und ›j‹, ›u‹ und ›v‹, ›&‹ und ›et‹ usw.), in der Interpunktion, in der veränderten Auswahl der hervorgehobenen Namen und in der Art dieser Hervorhebung (Kursivdruck bei Fülleborn gegenüber den Kapitälchen im Originaldruck). Nur sehr wenige Änderungen sind signifikant. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Garve diese Textfassung
|| 1 Ueber die ἀκαταληψία in der alten Philosophie. Aus Garves Abhandlung de Nonnullis, quae pertinent ad Logicam Probabilium. Halae 1766. 4. S. 25 u. f. In: Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Hg. von Georg Gustav Fülleborn. Stück 11/12. Jena 1799, S. 197–200. Der Auszug entspricht dem Abschnitt von S. 25, Z. 9 bis zu S. 31, Z. 24 im Originaldruck. – Fülleborn (1769–1803) unterrichtete (wie auf dem Titelblatt des Zeitschriftenbandes vermerkt ist) als Professor am Elisabethanum in Garves Heimatstadt Breslau, wo dieser Anfang Dezember 1798 auch gestorben war, und war persönlich mit ihm bekannt. https://doi.org/10.1515/9783110743654-005
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noch autorisiert hätte. Sie wurde aber für die Neuausgabe mit dem Originaldruck verglichen und gelegentlich zur Textkorrektur herangezogen.
2 Zur Textwiedergabe Nicht wiedergegeben sind aus dem Originaldruck −
− − − − − − −
der Kolumnentitel (durchweg DE QVIBVSDAM QVAE PERTINENT / AD LOGICAM PROBABILIVM, nur auf der letzten Seite heißt es ›DE QVIBVSDAM QVAE PERTINENT ETC.‹); die Kustoden (jeweils unten rechts auf der Seite); die Lagenzählung (jeweils unten mittig auf der Recto-Seite); die nur sehr selten durchgeführte Ligatur von ›ae‹ und ›oe‹; die lange Form des Buchstabens ›s‹; verschiedene Linien, die zur Seitengestaltung dienen; der allegorische Kupferstich, der dem Text auf der ersten Seite vorangestellt ist (ein Putto streut Blumen auf Bücher herab); das Ornament, das den Anfang des ersten Paragraphen markiert.
Dienen lateinische Kleinbuchstaben als mathematische Variablen, wurden sie im Originaldruck, sofern sie keine Exponenten darstellen, meist kursiv gesetzt (wohl damit die Variable ›a‹ von der Präposition ›a‹ deutlich zu unterscheiden sei), jedoch nicht immer. Diese Kursivierung ist im lateinischen Text der Neuausgabe durchgehend vorgenommen worden, ohne die Fälle der Abweichung im kritischen Apparat zu verzeichnen (in der Übersetzung unterblieb die Kursivierung). Bei Aufzählungen verwendet Garve meist arabische, manchmal aber auch römische Ziffern. Im Originaldruck tritt dabei öfter Verwirrung auf, begünstigt dadurch, dass für die römische und die arabische Eins das gleiche Zeichen benutzt wird. Wo die Lesung dieses Zeichens fraglich ist, wird im Apparat darauf hingewiesen. Der Beginn eines neuen Absatzes wird im Originaldruck stets durch Einzug der ersten Zeile markiert. Falls es sich nicht um den ersten Absatz eines Paragraphen handelt, kommt oft, aber nicht immer, ein vergrößerter Abstand zur letzten Zeile des vorangehenden Absatzes hinzu. Dafür, ob dieses letztere optische Mittel bei einem bestimmten Absatz eingesetzt wurde oder nicht, sind keine sachlichen Gründe erkennbar. (Man vergleiche etwa S. 50 unten, wo im Originaldruck der vorletzte Absatz durch Einzug und Abstand, der letzte nur durch Einzug markiert ist.) In der Neuausgabe erhält jeder neue Absatz einheitlich den Einzug, nicht aber den vergrößerten Abstand zur vorigen Zeile. Die Seitenzählung erfolgt im Originaldruck durch römische Ziffern in der Kopfzeile. Hier in der Neuausgabe steht die originale Seitenzahl – aber als arabische Ziffer – jeweils links neben der ersten Zeile der lateinischen Textseite, eingefasst von eckigen Klammern.
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3 Korrekturen Folgende Druckfehler wurden stillschweigend verbessert: − − − − − − − −
die Verwechslung von ›u‹ und ›n‹ (häufig); die Verwechslung von ›r‹ und ›t‹; weitere Verwechslungen einzelner Buchstaben miteinander, sofern eindeutig; der Ausfall einzelner Buchstaben; die falsche Verdoppelung von Buchstaben; die falsche Verdoppelung von Silben bei Worttrennung; Komma (häufig), Doppelpunkt oder Strichpunkt statt des Punktes am Satzende; der Ausfall des Punktes am Satzende.
Drei kleine notwendige Ergänzungen sind in den Text eingesetzt und durch spitze Klammern gekennzeichnet worden (siehe S. 44, Z. 3; S. 46, Z. 24; S. 49, Z. 11). Alle anderen Korrekturen finden sich im kritischen Apparat vermerkt, so auch die wenigen Athetesen (S. 22, Z. 20; S. 54, Z. 25; S. 59, Z. 28; S. 65, Z. 21). Fehler, die als Schreib-, Abschreib- oder Druckfehler gelten können, sind im Text korrigiert; auf sonstige sachliche Irrtümer wird in den Erläuterungen (Endnoten) zur Übersetzung verwiesen, im Text wurden sie belassen. Die Verwendung von ›u‹ und ›v‹ bei den Kleinbuchstaben wollte Garve offenbar so geregelt wissen, dass am Wortanfang stets ›v‹, ansonsten stets ›u‹ zu schreiben wäre. Diese Regel ist im Druck von 1766 nicht konsequent befolgt worden, wurde hier in der Neuausgabe aber umgesetzt. Auch wurde die im Originaldruck selten verwendete Schreibweise ›ceterum‹ stets zugunsten des sehr viel häufigeren ›caeterum‹ geändert, ebenso etwa ›enuntiare‹ zugunsten von ›enunciare‹ und ›assumptus‹ zugunsten von ›assumtus‹. Wo hingegen keine klare Präferenz auszumachen ist, wie etwa bei ›exspectatio‹ und ›expectatio‹, wurde die Schreibweise nicht vereinheitlicht.
4 Zum kritischen Apparat Bei der Zeilenzählung ist die Kopfzeile des Originaldrucks, in der jeweils die Seitenzahl und der Kolumnentitel stehen, nicht mitgezählt. Die meisten im Apparat verzeichneten Eingriffe in den Text stammen vom Herausgeber und sind nicht weiter gekennzeichnet. Gelegentlich aber sind solche Korrekturen aus dem von Fülleborn publizierten Textauszug übernommen (siehe oben Abschnitt 1). In diesen Fällen ist dem Notat des originalen Textes jeweils der Vermerk ›corr. Fülleborn‹ (›von Fülleborn korrigiert‹) angehängt.
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5 Zur Übersetzung Garve dürfte seine Hallenser Magisterschrift zuerst auf Deutsch verfasst und dann ins Lateinische übersetzt haben.2 Bei der hier vorgelegten Rückübersetzung ist nicht der Versuch gemacht worden, sich Garves deutschem Schreibstil anzunähern. Manche Paragraphen der Schrift haben in der deutschen Fassung durch Absätze oder Gedankenstriche eine stärkere Gliederung erhalten als im Original; der Leser kann dies leicht durch einen Blick auf die jeweilige lateinische Seite revidieren. Einige von Garve verwendete Termini sind in der Übersetzung möglichst stets mit dem gleichen deutschen Äquivalent wiedergegeben worden. Hilfreich dabei war der von Georg Friedrich Meier in Halle publizierte Auszug aus seiner Logik.3 Als Hallenser Student musste Garve mit dem dortigen Philosophieprofessor Meier Bekanntschaft machen. Meier gibt in seinem auf Deutsch verfassten Text beständig die lateinische Terminologie mit an. Diese Entsprechungen passen mitunter gut auch für die Verdeutschung von Garves Abhandlung. Allerdings galt jene Meier’sche Schrift dem Schüler doch nicht, oder nicht in jeder Hinsicht, als verbindlich, wie etliche terminologische Abweichungen zeigen. – Die folgende Liste enthält einige in der Übersetzung stets oder weitgehend durchgehaltene Entsprechungen; diejenigen, die auf Meier zurückgehen, sind durch ein ›M‹ gekennzeichnet. cogitatio cognitio, cognoscere conceptus defectus demonstratio idea intelligentia, intelligere nota notio probabile, probabilitas probatio, probare vitium
Gedanke (M) Erkenntnis (M), erkennen Begriff (M) Mangel (M) zureichender Beweis (M) Idee Einsicht, einsehen Merkmal (M) Idee wahrscheinlich (M), Wahrscheinlichkeit Beweis (M), beweisen Fehler (M)
|| 2 Siehe im vorliegenden Band Verf.: Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift, hier S. 59f. 3 George (sonst auch Georg) Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle an der Saale ²1760.
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Ein Sonderfall ist: certitudo, certus
Gewissheit (= Sicherheit in subjektiver Hinsicht, certitudo subiective spectata, M), gewiss
Die subjektive Hinsicht wird, wenn sie auch vorliegt, in manchen gebräuchlichen Ausdrücken doch nicht kenntlich gemacht, und oft ist nicht klar ersichtlich, ob sie vorliegt. Ohne strenge Scheidung werden deshalb für certitudo und certus in der Übersetzung auch die Ausdrücke › Sicherheit‹ bzw. › sicher‹ verwendet. Für die Disziplin namens Logica wurde die heute gängige Entsprechung ›Logik‹ gewählt; zu Garves Zeit sagte man im Deutschen dazu ›Vernunftlehre‹. Notorisch schwierig zu übersetzen sind die verschiedenen Termini für seelischgeistige Vermögen und Tätigkeiten. Vor allem ist wohl das Schwanken bei der ersten der vier folgenden Entsprechungen anfechtbar: animus anima mens ingenium
Geist (oder: Seele) Seele Geist (oder: Verstand) geistige Begabung
In seiner Leipziger Magisterschrift aus dem Jahr 1768, die er, wie die frühere in Halle, auf Latein vorlegen musste, hat Garve das griechische Wort psyché (› Seele‹ ) durch animus wiedergegeben.4 1798 sind auf Deutsch zwei Auszüge aus dieser Leipziger Abhandlung gedruckt worden. Die Übersetzung stammt vom oben schon genannten Georg Gustav Fülleborn.5 Dieser setzt für animus durchweg Seele ein, und zwar treffend. Allerdings hatte er auch keine Stelle zu übersetzen, an der anima vorkäme und sich die Frage stellte, ob die beiden lateinischen Wörter gleich oder verschieden wiederzugeben wären. In der Halleschen Schrift funktioniert zumeist anscheinend die Entsprechung animus – Geist. Doch auch hier steht in einem Referat aus dem Altgriechischen (aus Platons Dialog Theaitetos) das Wort animus eindeutig für psyché, so dass auf das deutsche Seele zurückgegriffen werden muss.6
|| 4 Christian Garve: De ratione scribendi historiam Philosophiae / Libellus quem ampliss. Philos. ordinis concessu ad impetranda iura et privilegia magistri Lipsiensis d. XVIII. Iun. a C. n. MDCCLXVIII defendit Christianus Garve Vratislav. a. m horis antemeridianis sine socio pomeridianis assumto ad respondendum Io. Christiano Lederero Kalkreuthensi Misnico. Leipzig 1768, S. 11, Z. 13f. 5 Garve über die Geschichte der Philosophie. Eine Stelle aus dessen lateinischer Abhandlung De ratione scribendi hist. phil., 1768 übersetzt vom Herausgeber. In: Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Hg. von Georg Gustav Fülleborn. Stück 9. Jena, Leipzig 1798, S. 148–163 (übersetzt ist hier Garve: De ratione scribendi historiam Philosophiae [s. Anm. 4], S. 21, Z. 15–S. 27, Z. 13 und, in der Anmerkung vom Herausgeber [S. 160–163], S. 3, Z. 4–S. 4, Z. 17). 6 Siehe unten im edierten Text § 16, S. 25, Z. 24–S. 26.
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Garve selbst benutzt andernorts beide Wörter als Synonyme.7 Aber wo dem Leser der vorliegenden Übersetzung angesichts des Wortes Geist dessen Bedeutung eine zu enge zu sein scheint, möge er sich erinnern, dass dies vermutlich die Schuld nicht Garves, sondern des Übersetzers ist; im lateinischen Text dürfte dann an der entsprechenden Stelle das Wort animus zu finden sein.
6 Zu den Erläuterungen Erläuterungen verschiedenster Art sowohl zu Garves Text als auch zur Übersetzung sind in Form von Endnoten zur Übersetzung gegeben (unten S. 235‒248). Am Anfang jeder Erläuterung ist die betreffende Stelle des lateinischen Textes durch Paragraphen-, Seiten- und Zeilenzahl (nach der Paginierung der Originalausgabe) kenntlich gemacht.
7 Siglen und Zeichen G G1 Fülleborn
Originalausgabe, Verlag Grunert, Halle an der Saale 1766 erste Teilauflage der Originalausgabe Ueber die ἀκαταληψία in der alten Philosophie. Aus Garves Abhandlung de Nonnullis, quae pertinent ad Logicam Probabilium. Halae 1766. 4. S. 25 u. f. In: Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Hg. von Georg Gustav Fülleborn. Stück 11/12. Jena 1799, S. 197–208 Ergänzung des Herausgebers oder Übersetzers
|| 7 Siehe Christian Garve (Übers.): Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie. Uebersetzt und mit einigen Anmerkungen versehen. Leipzig 1772 (GGW 11, Text 1), S. 327. Der einschlägige Passus gehört zu Garves Anmerkungen; diese sind auch abgedruckt in Christian Garve: Ausgewählte Werke. Bd. 1: Kleine Schriften. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2021 (WP 15.1), S. 185–229, siehe dort S. 198 (Z. 555 und Z. 557).
Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Diss. 3206,1, S. , urn:nbn:de:bvb:12-bsb10958335-5
92 | De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium
[]
DE NONNVLLIS, QVAE PERTINENT
AD LOGICAM PROBABILIVM, CONSENTIENTE
AMPLISSIMO PHILOSOPHORVM ORDINE PRAESIDE
D. IOANNE ANDREA DE SEGNER SERENISS. AC POTENTISS. REGI BORVSSOR. A CONSIL.
INTIM. MATHEMAT. ET PHILOS. NAT. IN ACADEM. FRIDERIC. PROFESS. PRIMARIO, ACADEM. SCIENT. IMPERIAL. PETROP. SOCIET. REG. LOND. ET ACAD. SCIENT. REGIAE BEROL. SODALI PRO IMPETRANDIS HONORIBVS PHILOSOPHICIS DIE VIII. SEPT. AO. MDCCLXVI. H. L. Q. C.
PVBLICE DISPVTABIT AVCTOR
CHRISTIAN GARVE VRATISLAVIA-SILESIVS.
HALAE MAGDEBVRGICAE, TYPIS GRVNERTIANIS.
Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört | 93
Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen1 gehört, wird, mit Zustimmung der höchst angesehenen philosophischen Fakultät, unter dem Vorsitz des Herrn Johann Andreas von Segner2 (der dem Geheimen Rat beim durchlauchtigsten und hochmächtigen König der Preußen angehört, erster Professor der Mathematik und der Naturlehre an der Fridericianischen Akademie ist und von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, der Königlichen Gesellschaft in London und der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin als Mitglied geführt wird) zur Erlangung der philosophischen Ehren3 am 8. September 1766 zur gewohnten Stunde und am gewohnten Ort öffentlich der Autor disputieren: Christian Garve aus Breslau in Schlesien. Halle im Magdeburgischen, Verlag Grunert.
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DE QVIBVSDAM, QVAE PERTINENT
AD LOGICAM PROBABILIVM. §. I. Si dignitas cognitionis esset ex vtilitate sola metienda, eiusque quae caeteris vsu & necessitate praestat, etiam studium anteferendum: dubitari non potest, quin probabilium maiorem quam perceptorum rationem habere oporteret. Ad agendum enim cum simus a natura constituti: ea quam nobis concessit intelligentia rerum, in caeteris mutila & infirma, in hoc vno valet, vt nos possit ad res
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Über einiges,4 was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört. § 1. Wenn die Würde einer Erkenntnis allein aus ihrer Nützlichkeit zu ermessen und diejenige Erkenntnis, die an Nutzen und Notwendigkeit die anderen übertrifft, auch vor den anderen zu betreiben wäre, müsste man zweifellos auf das Wahrscheinliche mehr als auf das Erfasste5 bedacht sein. Da wir nämlich von der Natur zum Handeln eingerichtet worden sind, hat die von ihr uns zugestandene Einsicht in die Dinge, die ansonsten verstümmelt und kraftlos ist, in diesem einen Punkt ihre Stärke: Sie kann uns in den Stand versetzen, Handlungen
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gerendas instituere. Quamobrem quae pars cognitionis negotia & munera humana proxime attingit, actionibusque viam quasi praemonstrat, & consilia dirigit, ea est tanquam finis, ad quem caeterae omnes scientiae partes debent concurrere. Enim vero cum & caussae ad agendum impellentes petendae sint ex iis, quae actionem consequuntur, & ratio agendi ipsa, praesidiaque alia possint esse nulla, nisi quae constans rerum vsus, & eius quod quaque re efficitur, obseruatio docet: vtrumque quia constat magno numero rerum, quae vel natura sua sunt incertae, vel a nobis tamen sensu tantum quodam possunt cognosci, efficit, vt paucae possint vnquam nobis obtingere res gerendae, in quibus demonstrationis rigorem sequi liceat. Potest fere omnis cognitionis humanae ambitus diuidi in duas partes, quarum altera complectitur ea, quibus de idearum conuenientia, non de rerum existentia agitur, in quibus, notione aliqua vniuersali assumta, caetera attributa omnia per vnum principium repugnantiae colliguntur, dum scilicet quae cum ista notione collata non repugnant, ea habentur in attributis. Atque in hoc genere ratio existentiae nulla habetur, nec curamus prorsus id, quod alias summum est, insitne alicui rei talis conceptus, qualem animo informauimus. Eminet in eo maxime Geometria, quae non de rebus extensis, sed de extensione ita agit, vt si quod extensum concipiatur animo, quale id per notionem extensi esse debeat, euoluenda ista ipsa notione, explicet. Quam quidem cognitionis partem, cum tota principio repugnantiae innitatur, facile intelligitur vnam esse, quae ex demonstratione ortam persuasionem admittat. Cui rei etiam argumento est eiusdem de qua modo diximus, Matheseos firma & summa certitudo, quae quidem ipsi ita est propria, vt fere cum nulla caeterarum scientiarum eam adhuc communicauerit. Altera pars immersa rebus & euentibus versatur in eo, vt vel esse quasdam res & existere probet, conceptusque eos de quibus prima pars egerat, naturae partibus contineri; vel etiam ex ante probata rerum quarundam existentia alia colligat. Rem autem contingentem nullam esse, cuius
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auszuführen. Weshalb derjenige Teil der Erkenntnis, der die menschlichen Beschäftigungen und Aufgaben am nächsten angeht und den Handlungen gleichsam den Weg vorausweist und die Entschlüsse lenkt, sozusagen das Ziel ist, zu dem alle übrigen Teile der Wissenschaft zusammenwirken müssen. Denn da zum einen die Gründe, die uns zum Handeln antreiben, aus demjenigen, was auf eine Handlung folgt, zu erheben sind; und da zum zweiten die Vorgehensweise selbst sowie die Hilfsmittel keine anderen sein können, als welche der beständige Gebrauch der Dinge und die Beobachtung dessen, was durch eine jede Sache bewirkt wird, lehrt; so bewirkt beides, da es auf einer großen Anzahl von Dingen beruht, die entweder von ihrer Natur her unsicher sind oder doch von uns nur mittels irgendeines Sinnes erkannt werden können, dass nur wenige zu unternehmende Dinge sich uns bieten können, bei denen es uns frei stünde, einem strengen zureichenden Beweis zu folgen. Fast der ganze Umfang menschlicher Erkenntnis kann in zwei Teile geteilt werden. Der eine davon umfasst dasjenige, bei dem es um die Übereinkunft der Ideen, nicht um die Existenz der Dinge geht, wobei, nachdem irgendeine allgemeine Idee6 angenommen worden ist, ihre weiteren Attribute alle mittels des einen Widerspruchsprinzips7 gesammelt werden, indem nämlich dasjenige, was, verglichen mit jener Idee, keinen Widerstreit ergibt, zu ihren Attributen gezählt wird. Und in dieser Gattung gibt es kein Prinzip der Existenz und kümmern wir uns weiter nicht um das, was anderswo das Höchste ist: ob irgendeiner Sache ein solcher Begriff innewohne, wie wir ihn unserem Geist eingeformt haben. Hierin zeichnet sich am meisten die Geometrie aus, die nicht von den ausgedehnten Dingen, sondern von der Ausdehnung handelt,8 und zwar so, dass, wenn im Geiste etwas Ausgedehntes gebildet wird, die Geometrie darlegt, wie beschaffen es durch die Idee des Ausgedehnten sein muss, indem sie eben jene Idee entwickelt. Da sich dieser Teil der Erkenntnis gänzlich auf das Widerspruchsprinzip stützt, ist leicht einzusehen, dass hier die aus einem zureichenden Beweis herrührende Überzeugung statthat. Ein weiteres Argument für diesen Sachverhalt ist die feste und höchste Gewissheit eben jener Mathesis,9 von der wir gerade gesprochen haben, eine Gewissheit, die ihr derart zu eigen ist, dass sie sie bisher kaum einer der anderen Wissenschaften mitgeteilt hat. – Der andere Teil taucht in die Dinge und Ereignisse ein und beschäftigt sich damit, entweder zu beweisen, dass bestimmte Dinge sind und existieren und jene Begriffe, von denen der erste Teil gehandelt hatte, in den Teilen der Natur enthalten sind, oder auch aus der zuvor bewiesenen Existenz bestimmter Dinge anderes zu entnehmen. Dass es aber keine zufällige Sache gibt, deren
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existentia possit rigide demonstrari, inde efficitur, quod quae demonstrantur, eorum debet cum rei notione talis conuenientia esse, vt illis sublatis rei ipsius notio tollatur. Quorum autem existentia tam arcte cum ipsa notione cohaeret, vt illa negata haec etiam neganda sit, ea sunt necessaria. Alia igitur via adduci nos ad cognoscendam rerum existentiam natura voluit, quae via primum profecta a sensu, paullatim serie effectorum atque caussarum progreditur ad ea, quae extra nos posita sensum mouerunt. Cum enim quae e sensu nascitur imago proprie nihil aliud sit, nisi mutationis cuiusdam in corpore & neruis euenientis perceptio: rei externae cognitio potest esse nulla nisi quae efficitur ratiocinando, dum mutationis istius caussam aliquam esse persuasi, nec internam eam esse arbitrantes, eam extra nos quaerimus. Deinde cum illa ipsa caussarum & effectorum ratio, etiamsi possit e principio repugnantiae colligi, apud plerosque tamen oriatur ex obseruata quadam in rerum consecutionibus constantia naturae, quae dum eodem semper ordine res alias aliis praeire voluit, in eam nos opinionem deducit, fieri non posse, vt prioribus non antegressis posteriores eueniant; (omisso scilicet nunc illo quodam interno huius rei sensu, qui & rationem & experientiam antegressus, nec infantes sinit de vlla re cogitare, quin de caussa eius quaerant); cum denique ex organi sensorii & neruorum mutatione, qualis fuerit illa res quae sensum affecerit, non possit demonstrando deriuari: cernitur, in nulla quae sentiendo oritur rerum notitia posse inesse certitudinem demonstrationis. Deinde cum ad vniuersalia comparandis pluribus sensis perueniamus, (auertendo scilicet animum ab iis, quae sunt in singulis diuersa), triplex in eo est persuasionis infirmitas. Prima est in ratiocinandi modo, quod quae sensa nos simili modo afficiunt, ea etiam inter se similitudine esse coniuncta colligimus; altera in eo, quod res quas nunquam sentiendo cognouimus, eodem modo sensum affecturas esse putamus, quo reliquae cognitae ad idem illarum genus pertinentes; tertia est, quod cum aetatis & loci in quo viuimus,
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Existenz streng zureichend bewiesen werden könnte, rührt daher, dass all das, was zureichend bewiesen werden kann, mit der Idee der Sache eine solche Übereinkunft haben muss, dass, wenn man es hinwegnimmt, die Idee der Sache selbst aufgehoben wird. Dasjenige aber, dessen Existenz so eng mit der Idee selbst zusammenhängt, dass, wenn man jene verneint, man auch diese verneinen muss, all das ist notwendig. Auf einem anderen Weg also hat uns die Natur zum Erkennen der Existenz der Dinge hinführen wollen. Dieser Weg setzt zuerst beim Wahrnehmungssinn ein und schreitet allmählich durch die Reihe der Wirkungen und Ursachen zu demjenigen voran, was außerhalb von uns gelegen ist und den Sinn bewegt hat. Weil nämlich das Bild, das aus der Sinnesempfindung entsteht, eigentlich nichts anderes ist als das Erfassen einer gewissen im Körper und in den Nerven stattfindenden Veränderung, kann die Erkenntnis eines äußeren Dinges nur eine solche sein, die durch vernünftiges Folgern bewirkt wird, indem wir, überzeugt davon, es gebe irgendeine Ursache jener Veränderung, zu dem Urteil kommen, diese Ursache sei keine innere, und sie außerhalb von uns suchen. Weil sodann eben jener vernünftige Begriff von Ursachen und Wirkungen, auch wenn er aus dem Prinzip des Widerspruchs erhoben werden kann,10 bei den meisten Menschen doch aus einer gewissen in den Abfolgen der Dinge beobachteten Beständigkeit der Natur entsteht – der Natur, die, indem sie gewollt hat, dass in immer derselben Ordnung die einen Dinge den anderen vorausgehen, uns zu der Meinung führt, es könne nicht geschehen, dass die späteren Dinge sich ereignen, wenn ihnen die früheren nicht vorangehen (ich übergehe jetzt nämlich jenen bekannten inneren auf diesen Umstand gerichteten Sinn, der sowohl dem vernünftigen Begriff als auch der Erfahrung vorausgeht und es nicht zulässt, dass die Kinder über irgendeine Sache nachdenken, ohne dass sie nach deren Ursache fragen); weil schließlich aus der Veränderung des Sinnesorgans und der Nerven nicht durch zureichenden Beweis abgeleitet werden kann, wie beschaffen jene Sache gewesen ist, die den Sinn affiziert hat; so erkennt man, dass keine Kenntnis der Dinge, die durch Sinneswahrnehmung entsteht, die Gewissheit des zureichenden Beweises haben kann. Weil wir sodann durch den Vergleich von mehrerem sinnlich Wahrgenommenen zum Allgemeinen gelangen (indem wir nämlich den Geist von demjenigen abwenden, was in den einzelnen Dingen verschieden ist), tritt darin eine dreifache Schwäche der Überzeugung auf. Die erste liegt in der Weise des Schlussfolgerns, dass wir demjenigen, was als sinnlich Empfundenes uns auf ähnliche Weise affiziert, entnehmen, es sei auch unter sich durch Ähnlichkeit verbunden; die zweite darin, dass wir von Dingen, die wir niemals durch Sinneswahrnehmung erkannt haben, glauben, dass sie auf dieselbe Weise den Sinn affizieren werden wie die übrigen, erkannten Dinge, die zur selben Gattung gehören wie sie; die dritte ist, dass wir, eingeschlossen in den allzu engen Raum von Zeit und Ort, worin wir leben,
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nimis arcto spatio conclusi perpauca tantum oculis nostris ipsi vsurpare possimus, nisi caetera omnia velimus ignorare, ad aliorum visa saepius debemus confugere: qua in re ad ea quae sunt in alienis sensis incerta, accedit etiam altera dubitatio, an res tales narrent, quales senserunt. Postremo ad recte agendum etiam prospicienda sunt futura, animoque iam nunc praecipi debet sensus, quo res actionem consecutae animum quondam afficient. Sed neque illa possunt intelligi, nisi vel ex caussis quae iam adsunt, vel ex euentuum quorundam in orbem redeuntium obseruatis legibus. Ex his omnibus itaque conficitur, vniuersam istam scientiae humanae partem ad summum absolutae certitudinis gradum nunquam posse peruenire.
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§. II. Quicquid itaque ita certum est, vt tamen relinquatur posse etiam non esse: id omne complectimur probabilium nomine. Quorum ad distributionem inducimur iis quae iam dicta sunt. Disputatur enim, quae sit certitudo, aut in sensibus; aut in vniuersalibus quae ex pluribus sensis illa quidem, sed non completa inductione effecimus; aut in aliorum sensis ad nos tantum narrando perlatis; aut in rerum futurarum vel ex caussis, vel e numero casuum in quibus adhuc euenerunt, praesagio.
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§. III. Antequam ad singula descendamus genera probabilium, sunt quaedam principia vniuersalia quasi fundamenta futurae disputationis ponenda: quae vt complectantur id quod est vniuersis commune, nasci debent ex ipsa probabilitatis notione. Cum in rebus omnibus (id quod iam antea monuimus) necessarium sit illud, vt esse possint, (quippe quo demto perit plane omnis rei notio & euanescit) non etiam necessarium hoc, vt sint: sequitur, quae versantur in possibilitate rerum explicanda, eas sci-
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uns nur sehr wenige Dinge mit unseren Augen selbst aneignen können und deshalb, wenn wir über alles andere nicht in Unkenntnis bleiben wollen, immer wieder Zuflucht bei dem suchen müssen, was andere gesehen haben; wobei zu der Unsicherheit, die in dem liegt, was Fremde sinnlich wahrgenommen haben, noch die weitere Zweifelhaftigkeit hinzukommt, ob sie die Dinge so berichten, wie sie sie wahrgenommen haben. Schließlich muss man, um richtig handeln zu können, auch das Zukünftige voraussehen, und der Sinn muss den Geist schon jetzt lehren, wie die Dinge, die auf eine Handlung folgen werden, dereinst den Geist affizieren werden. Aber auch das kann nur entweder aus Ursachen, die schon gegenwärtig sind, oder aus der Beobachtung von Gesetzen gewisser im Kreise wiederkehrender Ereignisse erkannt werden. Somit ist aus all diesem zu erschließen, dass jener Teil des menschlichen Wissens insgesamt niemals zum höchsten Grad absoluter Gewissheit gelangen kann. § 2. Was deshalb nur immer auf solche Weise gewiss ist, dass dennoch auch möglich bleibt, es sei nicht, das alles umfassen wir mit dem Namen Wahrscheinliches.11 Zur Aufgliederung des Wahrscheinlichen insgesamt werden wir durch das, was schon gesagt wurde, angeleitet. Erwogen wird nämlich, was für eine Gewissheit bestehe, entweder in den Sinnen, oder in dem Allgemeinen, das wir aus mehrerem sinnlich Wahrgenommenen durch jene, allerdings unvollständige, Induktion hervorgebracht haben, oder in dem von anderen Leuten sinnlich Wahrgenommenen, das uns nur durch Erzählung überbracht wurde, oder in der Voraussage künftiger Dinge, entweder aufgrund ihrer Ursachen oder aufgrund der Anzahl der Fälle, in denen sie bisher aufgetreten sind. § 3. Bevor wir zu den einzelnen Gattungen des Wahrscheinlichen hinabsteigen,12 sind einige allgemeine Prinzipien aufzustellen, gleichsam als die Fundamente der folgenden Erörterung. Damit diese Prinzipien umfassen, was all dem Wahrscheinlichen gemeinsam ist, müssen sie aus eben der Idee der Wahrscheinlichkeit hervorgehen. Da es bei allen Dingen (wie wir zuvor schon angemerkt haben) notwendig ist, dass sie sein können (da ja, wenn man das hinwegnimmt, klarerweise die Idee einer jeden Sache zugrunde geht und verschwindet), aber nicht auch, dass sie sind, so folgt, dass diejenigen Wissenschaften, die sich damit beschäftigen, die Möglichkeit der Dinge darzulegen,
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entias solas esse, quae possint peruenire ad demonstrationis certitudinem. Quae enim demonstrantur, ea debent ita probari, vt intelligatur, si aliter res se habere existimentur quam sunt ex sententia proponentis, fore vt res inter se ipsae repugnent. Conceptus scilicet tum quidam ponitur pro fundamento. Is cum primum inuolutus sit instar seminis, mox accedente cultu diffundit se, elicitque ea quae inclusa in se tenebat. Quod fit, cum reliquae quae animo obuersantur ideae cum illo conceptu conferuntur, & quae eum non tollunt, ipsi attribuuntur; idque fit absoluta cum certitudine, quia nihil certius est illo, quod non repugnat, id non posse simul repugnare. In his itaque rebus omnia ea quae sunt possibilia, vera sunt. Sic cum animo concepimus notionem figurae tribus lateribus conclusae, simul ea omnia, sed sine conscientia, cogitamus, quae postea tanquam theoremata de triangulis demonstrantur. Est enim omnis demonstrationis vis in eo vt ostendatur, nisi quid tanquam attributum trianguli admittatur, nec consistere posse figuram tribus lineis constantem. Demonstratione itaque quacunque, non rerum noui conceptus oriuntur, sed qui iam fuerunt in mente, quorum tamen partes erant ignotae, resoluuntur. Sicut semen sparsum iam in se continet omnes aristarum diuitias: nec calore & humore adhibito aliud fit, nisi vt recludatur granum, & emittat ex se ea quae tanquam vagina condita occuluerat. — — Omnia alia sunt, vbi in iis rebus quae sunt, cognoscendis versamur. Nec enim modus veritatis erit tum possibilitas, sed exacta conceptus cum re extra nos posita conuenientia. Enim vero argumenta omnia quae habent vim aliquid nobis probandi, aliunde peti non possunt, nisi ex conuenientia rerum cum aliis, vel ideis vel rebus. At conuenientia rei cuiusque tum cernitur, cum intelligimus, rem illam non tollere aliam quandam vel rem vel notionem, quam veram esse iam exploratum est. Sequitur ergo, hanc rerum conuenientiam, si ea id ipsum est quod quaerimus, (quod erat prior illa pars de qua antea diximus) solam ad plenam persuasionem valere. Si
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allein es sind, die zur Gewissheit des zureichenden Beweises gelangen können. Was nämlich zureichend bewiesen wird, muss derart bewiesen werden, dass man einsieht, dass, wenn man glaubte, die Dinge verhielten sich anders, als sie nach dem Urteil des Vortragenden sind, dann die Dinge selbst einander widerstreiten würden. Es wird dann nämlich ein Begriff als Fundament gelegt. Dieser ist anfangs eingerollt wie ein Same; dann breitet er sich, wenn man ihm Pflege angedeihen lässt, aus und bringt das, was er in sich eingeschlossen hielt, zum Vorschein. Das geschieht, wenn die übrigen Ideen, die einem im Geiste begegnen, mit jenem Begriff verglichen und diejenigen, die ihn nicht aufheben, ihm zugeteilt werden. Und das geschieht mit absoluter Gewissheit, weil nichts sicherer ist, als dass solches, was nicht widerstreitet, nicht zugleich widerstreiten kann. Bei diesen Dingen ist deshalb alles, was möglich ist, wahr. So denken wir, wenn wir im Geiste die Idee einer von drei Seiten umschlossenen Figur gefasst haben, zugleich all das, aber ohne Bewusstsein, was nachher als Theoreme von den Dreiecken zureichend bewiesen wird. Die ganze Kraft des zureichenden Beweises liegt nämlich darin, dass man zeigt, dass, wenn man etwas nicht als Attribut des Dreiecks zulässt, es auch keine aus drei Linien bestehende Figur geben kann. Deshalb entstehen durch einen jeglichen zureichenden Beweis nicht neue Begriffe der Dinge, sondern es werden solche, die schon im Geiste vorhanden, deren Teile jedoch unbekannt waren, aufgeschlossen – so wie der verstreute Samen schon alle Reichtümer der Ähren in sich enthält und dadurch, dass wir ihm Wärme und Feuchtigkeit angedeihen lassen, nichts anderes geschieht, als dass das Korn aufgeschlossen wird und aus sich das hervorbringt, was es so wie eine Scheide geborgen und verhüllt hatte. – – Alles ist anders, sobald wir uns damit beschäftigen, die Dinge zu erkennen, die sind. Denn dann wird auch die Art und Weise der Wahrheit nicht die Möglichkeit sein, sondern die genaue Übereinkunft des Begriffs mit der außerhalb von uns gelegenen Sache. Denn alle Argumente, die die Kraft haben, uns etwas zu beweisen, können nicht anderswoher genommen werden als aus der Übereinkunft der Dinge mit anderem, entweder mit Ideen oder mit Dingen. Aber die Übereinkunft eines jeden Dinges wird dann erkannt, wenn wir einsehen, dass jene Sache nicht eine andere Sache oder Idee aufhebt, von der schon ausgemacht ist, dass sie wahr ist. Es folgt also, dass diese Übereinkunft der Dinge, wenn sie eben das ist, was wir suchen (das war jener erste Teil, von dem wir zuvor gesprochen haben),13 allein völlige Überzeugung zu geben vermag. Wenn
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vero illa conuenientia nihil aliud est nisi via, quae ad cognoscendam rerum existentiam ducat: tum semper mancum aliquid relinquitur & inchoatum, quia in illo transitu a cognita conuenientia rei cum aliis rebus, ad existentiam eius cognoscendam, est illa ipsa concludendi ratio (a posse ad esse) quam valere negamus, sine qua tamen haud scio an de vllius rei existentia possimus esse persuasi. Scilicet, cum cuius caussae adsunt & agunt id esse concludimus, nihil aliud fit, nisi vt quod conueniat cum vi quadam agendi alterius rei, id esse dicamus. Quod quid est, nisi quaedam a possibilitate ad existentiam conclusio? Excepta itaque & nostri ipsorum existentiae conscientia, & diuinae demonstratione, caeterarum rerum omnium existentia, si aliunde demonstranda esset quam ex illa naturali quasi vi, quae nos cogit ad ea credenda, quae sensibus percipimus: non alius argumenti nisi a maiori possibilitatis gradu locus foret. Quamobrem cum in vniuersa cognitione nil possit esse nisi iudicium de rerum conuenientia quae efficit tantum possibilitatem: intelligitur, puto, quale discrimen sit inter Logices principium certorum & probabilium. Alterum est hoc, quaecunque sibi non repugnant vera sunt; alterum, quaecunque cum pluribus rebus conueniunt, aut quorum existentia quam non existentia magis possibilis est, ea sunt. Vnus itaque est modus horum cognoscendorum, vt quibus & quot cum rebus conueniat rei alicuius existentia, deinde quibus & quot cum rebus conueniat illius non-existentia, inquiratur; eaque pars vincat a qua sit excessus argumentorum. Aut, quod idem est, ponderandae sunt possibilitates rei, & quod reperitur maxime esse possibile, id pro existenti habendum est.
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§. IV. Quot itaque sunt genera possibilium, tot item probabilium fore intelligitur. Iam tripliciter aliquid possibile concipitur, si vel secum ipso, vel cum aliis rebus siue antecedentibus, vt caussae, siue consequentibus, vt effecta, vel denique cum legibus actionum huma-
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aber jene Übereinkunft nichts anderes als der Weg ist, der zur Erkenntnis der Existenz der Dinge führen soll, dann bleibt immer etwas Unvollständiges und bloß Angefangenes zurück, weil bei jenem Übergang vom erkannten Übereinkommen der Sache mit anderen Dingen hin zu ihrer Existenz, die erkannt werden soll, eben jene Schlussweise benutzt wird (vom Können zum Sein), deren Gültigkeit wir verneinen, ohne die jedoch ich nicht weiß, ob wir von der Existenz irgendeines Dinges überzeugt sein können. Wenn wir nämlich schließen, dass das, dessen Ursachen vorhanden sind und auch wirken, sei, geschieht nichts anderes, als dass wir sagen, das, was mit der bestimmten Wirkkraft eines anderen Dinges übereinkommt, sei. Was ist das anderes als ein Schluss von der Möglichkeit auf die Existenz? Wenn deshalb, mit Ausnahme des Bewusstseins von unserer eigenen Existenz und des zureichenden Beweises der göttlichen, die Existenz aller anderen Dinge anderswoher zureichend bewiesen werden müsste als aus jener gleichsam natürlichen Kraft, die uns zwingt, das zu glauben, was wir mit den Sinnen wahrnehmen,14 gäbe es keinen anderen argumentativen Ort außer demjenigen vom höheren Grad der Möglichkeit. Und da es deshalb bei jedweder Erkenntnis kein Urteil geben kann außer demjenigen von der Übereinkunft der Dinge, die bloß Möglichkeit hervorbringt, ist somit, glaube ich, einsichtig, welcher Unterschied zwischen dem Prinzip der Logik des Sicheren und dem der Logik des Wahrscheinlichen besteht. Das eine lautet: Was auch immer einander nicht widerstreitet, ist wahr; das andere: Was auch immer mit mehr Dingen übereinkommt, oder wessen Existenz eher als die Nicht-Existenz möglich ist, das ist. Eine einzige Art und Weise gibt es deshalb, diese Dinge zu erkennen: zu fragen, mit welchen und wie vielen Dingen die Existenz einer Sache übereinkomme, dann, mit welchen und wie vielen Dingen die Nicht-Existenz dieser Sache übereinkomme; und dass diejenige Seite gewinnt, auf der die Argumente überwiegen. Oder, was auf dasselbe hinausläuft: Die Möglichkeiten der Sache sind abzuwägen, und von demjenigen, bei dem man zu dem Befund kommt, es sei am meisten möglich, von dem ist anzunehmen, es existiere. § 4. Es ist daher einsichtig, dass es, wie viele Gattungen des Möglichen, so viele auch des Wahrscheinlichen gibt. Nun fassen wir etwas in dreierlei Hinsicht als möglich auf: wenn es entweder mit sich selbst, oder mit anderen Dingen – sei es vorausgehenden, wie es die Ursachen, sei es folgenden, wie es die Wirkungen sind –, oder schließlich, wenn es mit den Gesetzen der menschlichen Handlungen
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narum comparetur. Omnis igitur res, de cuius existentia probanda cogitamus, debet primum sibimet ipsa non repugnare; deinde cum caussis & effectis conuenire; postremo legibus illis esse consentanea, quae si sunt ab auctore naturae profectae, fieri non potest, vt aliquid non existat, citra cuius praesidium leges illae obseruari non possint. Quicquid itaque, vt sit, & cum ipsa sui notione, & cum caussis effectisque, & cum legibus denique diuinis magis consentit, quam vt non sit, id esse creditur. Sunt igitur haec tria genera in species distribuenda, & qui ex quoque genere existant, varii persuasionis gradus definiendi. Sed ne aut ambiguitatis aliquid supersit, aut non perfecta satis haec nostra disputatio videatur, antequam de singulis agamus, praemittenda quaedam erunt de morali quam vocant certitudine. Sunt enim, qui probabile non idem quod nos, sed id esse dicant, quod non habet vim plenam ad persuadendum. Tunc, quia praeter id genus quod ex demonstratione certum est, & praeter mancam illam & imperfectam probabilitatem, quam (si placet) verisimilitudinem rectius dicas, est aliquod tertium genus, quod ad persuasionem aptum & sufficiens, demonstrationis tamen rigorem non capit: ei nouum aliquod nomen certitudinis moralis quam a probabilitate distinguunt, imposuerunt. Qui autem probabilis nomine ea omnia complectuntur quae nos, vt tam late pateat istud nomen, quam omne id, in quod demonstratio non cadit: ii probabilitatem non tam distinguere a certitudine morali & ei opponere, quam in formas quasdam diuidere debent; scilicet in eam, quae ad perfectam persuasionem, qualis requiritur ad consilia capienda, actionesque regendas sufficiat, eamque quae minus; quarum prior eadem erit quae modo dicta est, certitudo moralis, contenta, vt patet sub probabilitate tanquam sub genere. Nominis ratio ducta est ex eo, quod quanta rei probabilitas sufficiat ad securitatem agendi, id non solo probabilitatis in se spectatae gradu, sed etiam rei ipsius conditione & grauitate metiendum. Nunc de re ipsa breuiter.
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verglichen wird. Jede Sache also, deren Existenz zu beweisen wir beabsichtigen, darf erstens mit sich selbst nicht widerstreiten, muss zweitens mit ihren Ursachen und Wirkungen übereinkommen und muss schließlich mit jenen Gesetzen in Übereinstimmung sein, die, wenn sie denn vom Urheber der Natur ausgegangen sind, es nicht zulassen, dass etwas nicht existiere, ohne dessen Hilfe jene Gesetze nicht beobachtet werden können. Von was auch immer also, dass es sei, sowohl mit seiner eigenen Idee als auch mit seinen Ursachen und Wirkungen als auch schließlich mit den göttlichen Gesetzen mehr zusammenstimmt, als dass es nicht sei, von dem glaubt man, dass es sei. Es sind also diese drei Gattungen in Arten einzuteilen und die verschiedenen Grade der Überzeugung, die in einer jeden Gattung existieren, zu definieren. Damit aber weder etwas an Zweideutigkeit übrig sei noch auch diese unsere Disputation allzu unvollkommen erscheine, sollen, bevor wir ins Einzelne gehen,15 einige Bemerkungen über die sogenannte moralische Gewissheit vorausgeschickt werden. Manche Leute verstehen unter dem Wahrscheinlichen nicht dasselbe wie wir, sondern sagen, wahrscheinlich sei das, was nicht die volle Überzeugungskraft hat. Weil es dann außer derjenigen Gattung, die durch zureichenden Beweis gewiss ist, und jener verstümmelten und unvollkommenen Wahrscheinlichkeit, die man, wenn es beliebt, richtiger ›Ähnlichkeit mit dem Wahren‹ nennen sollte, noch eine dritte Gattung gibt, die zur Überzeugung geeignet und hinreichend ist, die Strenge des zureichenden Beweises aber nicht erreicht, haben sie ihr als neuen Namen den der moralischen Gewissheit gegeben, die sie von der Wahrscheinlichkeit unterscheiden.16 Wer aber den Namen des Wahrscheinlichen genauso umfassend gebraucht wie wir, so dass dieser Name offen ist für all das, wofür es keinen zureichenden Beweis gibt, der muss die Wahrscheinlichkeit nicht so sehr von der moralischen Gewissheit unterscheiden und ihr entgegensetzen, als sie vielmehr in bestimmte Formen einteilen, nämlich in diejenige, die zur vollen Überzeugung, wie sie zum Fassen von Entschlüssen und zur Lenkung von Handlungen benötigt wird, hinreicht, und diejenige, die das nicht tut.17 Die erstere dieser beiden wird dieselbe sein wie die soeben genannte, die moralische Gewissheit, und sie wird klarerweise enthalten sein unter der Wahrscheinlichkeit als unter ihrer Gattung.18 Der Grund für den Namen ist daher genommen, dass, wieviel an Wahrscheinlichkeit einer Sache zur Sicherheit des Handelns hinreicht, nicht nur durch den Grad der in sich betrachteten Wahrscheinlichkeit, sondern auch durch die Beschaffenheit und Gewichtigkeit der Sache selbst zu ermessen ist.19 Nun kurz zur Sache selbst.
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Primum, esse in omni re, quae pertinet ad actiones continetque in se rationes rerum gerendarum, eum probabilitatis gradum, in quo acquiescere animus sine suspicione erroris possit; sensuumque maxime vnde caetera cognitio omnis ducta est, eam esse rationem: id etsi singulorum casuum probabilitate metienda, siue a posteriori probari non posset: tamen iam ex auctore naturae nostrae & finibus intelligeretur. Si enim facti sumus ad consequendos certos aliquos agendo fines; si nulla potest esse actionis ad fines istos consequendos firma directio, nisi, ex qua illa pendet, eius cognitionis constat veritas; si denique cognitio ex qua rationes ad agendum impellentes hauriuntur, potest nunquam esse ex genere rerum demonstratarum: patet, primum debere etiam praeter demonstrationem esse aliquem probabilitatis gradum, qui rei veritatem aeque euincat; deinde eum in omnibus iis rebus posse teneri, sine quibus nec vita humana, nec virtus consisteret. Deinde, quia probabilitatis sunt gradus varii: de aestimando nunc eo gradu quaeri possit, quem cum attigerimus, peruentum sit ad certitudinem moralem. Quam partem ne omittamus prorsus, notanda sunt haec: 1) Gradus illius non est in se spectati definitio, sed adhibenda rei de cuius probabilitate agitur, conditio. Si quae res est, quae vera an falsa sit minus nostra interest, eius etiam minorem argumentorum fidem amplecti possumus & probare. Si rei pro vera habitae, vbi falsa sit, vel parum vel nullum est periculum, pro falsa habitae, si vera, summum: probabilitas ea quae requiritur ad efficiendam certitudinem moralem, non tanta est, quanta in re, cuius si veritas falso, maior, quam si falsitas creditur, est malorum expectatio. Si nulla est aliunde profecta antecedens quasi ad rem obligatio, probabilitatis gradus maior poscendus, quam vbi vinculum iam ante fuit quoddam & quasi necessitas ad credendum. Ea omnia (quorum casus multi & varii possunt excogitari) simul sumta cogi
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Erstens: Dass es bei jeder Sache, die zu den Handlungen gehört und in sich die Gründe zur Ausführung der Dinge enthält, denjenigen Grad an Wahrscheinlichkeit gibt, bei dem sich der Geist beruhigen kann, ohne den Verdacht auf Irrtum zu hegen, und dass insbesondere bei den Sinneswahrnehmungen, aus denen jegliche andere Erkenntnis hergeleitet ist, dieses Verhältnis besteht20 – das wäre, auch wenn es durch die Messung der Wahrscheinlichkeit der einzelnen Fälle, oder a posteriori,21 nicht bewiesen werden könnte, doch schon aufgrund des Urhebers unserer Natur und aufgrund ihrer Ziele einsichtig. Wenn wir nämlich gemacht sind, um im Handeln gewisse sichere Ziele zu erreichen; wenn es eine feste Ausrichtung der Handlung auf jene zu erreichenden Ziele hin nur unter der Bedingung geben kann, dass die Wahrheit der Erkenntnis, von der jene Ausrichtung abhängt, feststeht; wenn schließlich die Erkenntnis, aus der die zum Handeln antreibenden Gründe geschöpft werden, niemals aus der Gattung der zureichend bewiesenen Dinge herstammen kann; so ist erstens klar, dass es auch außer dem zureichenden Beweis irgendeinen Grad von Wahrscheinlichkeit geben muss, der gleichermaßen die Wahrheit der Sache einleuchtend macht, und zweitens, dass man ihn in all jenen Dingen erhalten kann, ohne die weder das menschliche Leben noch die Tugend Bestand hätte.22 Weil es sodann verschiedene Grade der Wahrscheinlichkeit gibt, könnte man jetzt nach der Abschätzung jenes Grades fragen, den wir erreichen müssen, um zur moralischen Gewissheit zu gelangen. Damit wir diesen Teil nicht völlig übergehen, ist Folgendes zu bemerken: 1) Von jenem Grad in sich betrachtet gibt es keine Definition, sondern man muss die Beschaffenheit der Sache, um deren Wahrscheinlichkeit es sich handelt, in Anschlag bringen. Ist es eine Sache, deren Wahrheit oder Falschheit uns weniger angeht, können wir auch eine geringere Glaubwürdigkeit ihrer Argumente annehmen und gutheißen. Wenn aus einer Sache, wird sie für wahr gehalten, wenig oder gar keine Gefahr rührt, falls sie falsch ist, jedoch, wird sie für falsch gehalten, höchste Gefahr, falls sie wahr ist, so ist die Wahrscheinlickeit, die benötigt wird, um moralische Gewissheit hervorzubringen, nicht so groß, wie bei einer Sache, bei der, wenn fälschlich geglaubt wird, sie sei wahr, die Erwartung übler Folgen größer ist, als wenn geglaubt wird, sie sei falsch. Wenn anderswoher kein Vordersatz zum Vorschein gekommen ist, der gleichsam als Verpflichtung zu der fraglichen Sache gelten könnte, ist ein höherer Grad an Wahrscheinlichkeit erforderlich als dort, wo schon zuvor eine gewisse Verbindlichkeit und gleichsam Notwendigkeit bestand, sie zu glauben. – All dies (wovon man sich viele verschiedene Fälle ausdenken kann) kann zusammengenommen
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possunt in legem quandam generaliorem, quae est huiusmodi: Certitudo moralis intelligitur ex probabilitate rei collata cum eius ad felicitatem & fines humanos ratione. 2) Quodsi est quaedam cognitio, quae non attingit proxime actiones, sed versatur in generalioribus quibusdam remotisque a rebus gerendis: tum certitudo ista moralis ex probabilitatis gradu solo aestimatur. Praeceptum breue & facile. Quicquid scilicet, subsidiis & artibus veri videndi adhibitis omnibus, quae cadunt in istam rem quae agitur, omnique facta circa eam inquisitione vt verum intelligitur: id verum esse moraliter certum est. Seu quod idem est: Vbicunque demonstrationi non est locus, ibi quod verum esse apparet, postquam & cautio erroris, & veritatis inuestigandae ars omnis adhibita est: in eo potest fidenter satis acquiesci. Quaenam autem sint eae artes, quae cautiones, dicendum tum erit, cum de singulis probabilitatis generibus disputabitur. Quae itaque regulae tunc proponentur, ex iis quod quisque verum reppererit, id certum habeto. 3) Sensibus, (vt de his seorsim dicamus) si probabilitatem tantum tribuemus: non id volumus, vt decipi nos a sensu & falli dicamus, sed vt demonstrari posse id, quod sensu cognoscitur negemus. Quin & ipsi probaturi sumus, vbi & instrumenti sensus conditio, & rei tum positus tum a sensu remotio, & interiectae rei habitus, & plurium denique sensuum consensio talis sit, qualis debeat: tum certitudinem inde ortam quanquam genere aliam, tamen vi & veritate eandem esse, quae demonstrationis. Accuratius autem tractare de euidentia morali; praeter eam nullam posse ab vllo requiri in rebus, in quibus falsum aliquod versatur, demonstrare; quanta sit in ea fides & ab errore securitas, ostendere; & qui in quaque re probabilitatis gradus ad eam efficiendam requiratur, definire: id vero omne, quia pariter vel magis etiam ex moralibus praeceptis, quam ex legibus logicis intelligitur, recte a nobis
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in ein allgemeineres Gesetz gefügt werden, das so lautet: Die moralische Gewissheit wird eingesehen aus der Wahrscheinlichkeit der Sache, verglichen mit ihrem Verhältnis zur Glückseligkeit und zu den Zielen der Menschen. 2) Wenn es aber um eine Erkenntnis geht, die nicht aus unmittelbarer Nähe die Handlungen betrifft, sondern sich bei allgemeineren und von den auszuführenden Dingen entfernten Fragen aufhält, dann wird jene moralische Gewissheit allein aus dem Grad der Wahrscheinlichkeit abgeschätzt. Die Vorschrift ist kurz und leicht, nämlich: Was auch immer unter Anwendung aller Hilfsmittel und Künste, des Wahren ansichtig zu werden, die für jene Sache, um die es sich handelt, einschlägig sind, und bei jedweder diese Sache betreffenden Nachforschung als wahr eingesehen wird, das ist mit moralischer Gewissheit wahr. Oder, was auf dasselbe hinausläuft: Wo auch immer der zureichende Beweis keinen Ort hat, dort kann man sich bei dem, was wahr zu sein scheint, nachdem jedwede Vorsichtsmaßnahme gegen den Irrtum getroffen und jedwede Kunst, die Wahrheit zu erforschen, angewandt worden ist, mit ausreichendem Vertrauen beruhigen. Welche Künste und welche Vorsichtsmaßnahmen das aber sind, wird dann anzugeben sein, wenn die einzelnen Gattungen der Wahrscheinlichkeit erörtert werden.23 Was deshalb ein jeder aufgrund der Regeln, die dann aufzustellen sein werden, als wahr befindet, das soll als sicher gelten. 3) Wenn wir den Sinneswahrnehmungen (um von diesen eigens zu sprechen) nur Wahrscheinlichkeit zuerkennen, so wollen wir damit nicht sagen, dass wir vom Sinn getäuscht und fehlgeleitet würden, sondern wollen verneinen, dass das, was durch den Sinn erkannt wird, zureichend bewiesen werden könne. Ja, wir selbst werden sogar beweisen, dass, wo zum einen die Beschaffenheit des Sinneninstruments, zweitens die Position der Sache sowohl als ihre Entfernung vom Wahrnehmungssinn, sodann das Verhalten der dazwischenliegenden Sache und schließlich die Zustimmung mehrerer Sinne so beschaffen ist, wie es sein soll, dann die daraus entstehende Gewissheit, obwohl einer anderen Gattung zugehörig, dennoch an Kraft und Wahrheit dieselbe ist wie die des zureichenden Beweises. Genauer aber die moralische Evidenz abzuhandeln; zureichend zu beweisen, dass außer ihr keine von irgendjemandem bei den Dingen, bei denen irgendeine Tat eine Rolle spielt, gefordert werden kann; zu zeigen, wie groß in ihr die Vertrauenswürdigkeit und Sicherheit vor dem Irrtum ist; und zu bestimmen, welcher Grad an Wahrscheinlichkeit bei jeder Sache erforderlich ist, um moralische Evidenz zu bewirken – all das kann wahrlich gleichermaßen oder sogar besser aus moralischen Vorschriften als aus logischen Gesetzen eingesehen werden; darum haben wir es,
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posse omitti putauimus. His itaque monitis cursum institutum sequamur. §. V. Primum genus, quod est maxime infirmum & debile, rem esse concludens ex eo, quod illa secum ipsa non pugnet, valet potissimum ad id, vt intelligatur, sitne amplius de existentia rei inquirendum. Est autem eius duplex species. Prima leuissima est, cum persuasio rem quandam secum ipsam non pugnare, oritur inde quod eam pugnam non possumus perspicere. Est itaque scientiae defectus, & ignoratio possibilitatis. Hoc quanquam non potest neque narrationis alicuius fidem nobis facere, nec in iis consiliis capiendis nos regere, quae male capi sine periculo non possunt: potest tamen nonnunquam hominem etiam considerate agentem ad periculum eorum faciendum impellere, quae si opinionem fefellerint, nisi frustra datae operae poenitentiam afferant. Sic Chemicum videmus miscere inter se & componere res, quarum commistio an possit id efficere, quod sibi animo concepit, ignorat; nec temeritatis reprehensionem incurret, quanquam tentando res impossibilis esse arguatur. Possumus itaque ea, quae inter se pugnare exploratum non habemus, tanquam futura aliquando sumere, si actio hac opinione suscepta, vbi successerit, plurimum vtilitatis, si non successerit, nihil aut parum detrimenti nobis allatura est. Altior aliquantum gradus probabilitatis est, quanquam nec ipse aut ad fidem narrationis rerum gestarum faciendam, aut ad consilium de gerendis capiendum sufficiens, vbi rem secum pugnare ideo negamus, quia quomodo notionis eius partes inter se conueniant, clare perspicimus, atque adeo non vt ante, rem secum pugnare nescimus, sed scimus non pugnare, eaque de caussa rationem & modum possumus explicare, quo cum essentia rei existentia consentiat. In actionibus iis quas vel legum necessitas, vel muneris tuendi ratio, vel humanitatis officia exigunt, possumus sane, immo & debemus
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wie wir glauben, mit Recht übergehen können. Nach diesen Bemerkungen wollen wir deshalb dem eingeschlagenen Weg folgen. § 5. Die erste Gattung ist die kraftloseste und schwächste: diejenige, die, dass eine Sache sei, daraus schließt, dass diese Sache sich selbst nicht widerstreitet, und die vor allem dazu tauglich ist, dass man einsieht, ob man weiterhin nach der Existenz der Sache forschen soll. Diese Gattung hat zwei Arten. Die erste ist ganz leichtgewichtig. Sie liegt vor, wenn die Überzeugung, eine bestimmte Sache widerstreite sich selbst nicht, daraus entsteht, dass wir einen solchen Widerstreit nicht erblicken können. Somit ist hier das Fehlen von Wissen und die Unkenntnis der Möglichkeit zu konstatieren. Obwohl uns das weder den Glauben an etwas, was man uns erzählt, verschaffen, noch uns zum Fassen solcher Entschlüsse, die ohne Gefahr nicht auf schlechte Weise gefasst werden können, verleiten kann, kann es doch manchmal einen Menschen – auch einen, der besonnen handelt – antreiben, solches zu erproben, was, falls es dann die Meinung fehlgeleitet hat, Reue nur über die vergeblich angewandte Mühe nach sich zieht. So sehen wir, wie der Chemiker Dinge miteinander mischt und zusammenstellt, von deren Mischung er nicht weiß, ob sie das bewirkt, was er sich im Geiste vorgestellt hat; und man wird ihn gleichwohl nicht der Unbedachtheit tadeln, sollte auch der Versuch darauf schließen lassen, dass die Sache unmöglich ist. Wir können deshalb das, von dem für uns nicht ausgemacht ist, ob es einander widerstreitet, manchmal als etwas, das künftig eintreten wird, annehmen, wenn die Handlung, die wir aufgrund dieser Meinung ausführen, uns in dem Fall, dass sie gelingt, sehr viel Nutzen, falls sie aber nicht gelingt, keinen oder nur geringen Schaden bringen wird. Ein etwas höherer Grad an Wahrscheinlichkeit – obwohl auch dieser weder dazu ausreicht, eine Erzählung von Geschehenem glaubhaft zu machen, noch dazu, den Entschluss zu fassen, etwas zu tun – besteht dann, wenn wir deshalb verneinen, dass eine Sache sich selbst widerstreitet, weil wir deutlich durchschauen, wie die Teile ihrer Idee miteinander übereinkommen, und wir somit nicht, wie zuvor, ohne ein Wissen sind, das besagte, dass die Sache sich selbst widerstreite, sondern wissen, dass sie sich nicht widerstreitet, und aus diesem Grund die Art und Weise darlegen können, wie mit dem Wesen der Sache ihre Existenz übereinstimmt. In denjenigen Handlungen, die entweder die Notwendigkeit der Gesetze oder die Erfordernisse der Amtsführung oder die Pflichten der Menschlichkeit verlangen, können wir getrost, ja müssen wir sogar
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ex cognita rei non-repugnantia eius suscipiendae consilium inire; nec qui humanus & liberalis est, opem amicis ferendam, consociandam operam, praestanda officia in id tempus differet, vbi profutura quae fecerit, certe sciet. Etiam prodesse potuisse satis putabit. In exploranda euentorum probabilitate initium facere ab hoc gradu solemus, de quo nunc dicimus; non vt in eo acquiescamus, sed vt vbi eum deesse deprehenderimus, compendifacere omnem inquirendi curam possimus.
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§. VI. Propius ad veritatem accedimus, vbi ad caussarum nexum ventum est. Rem scilicet, postquam in se repugnantiae nihil complecti scimus, iam cum iis comparamus, quae extra eam sitae sunt. Ex quo oritur tota illa caussarum effectorumque ratio, dum scilicet inter eas res, quae euentum circumstant, deprehendimus nonnullas tam arcta necessitudine cum ipso euentu coniunctas, vt nunquam illum nisi iis antegressis videamus. Eadem experientia deducit nos eo, vt duplex esse caussarum genus statuamus. Existentia enim rei efficitur alius rei aut sola existentia, aut vi & actione.
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§. VII. Sunt enim res quaedam, quae non possint euenire, nisi simul aliae eueniant, quasi totius illius euentus partes, sine quibus nec reliquae possunt consistere. Tum itaque, quemadmodum e conceptu aliquo sumto theoremata, ita ex rei existentia sumta aut cognita, alterius rei existentia per vnum principium repugnantiae colligitur, dum existentiam illam, nisi simul coniunctam cum alterius existentia secum pugnaturam intelligimus: sic cum vectis altera pars attollitur, altera deprimatur necesse est; & oneris alteri parti impositi alleuatio non est nisi consequens & quasi appendiculum motus, quo altera pars vi agitur deorsum. Multum ab his differt ea rerum cognatio, qua fit vt alterae, quanquam adesse & existere etiam
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aufgrund der Erkenntnis des Nicht-Widerstreits einer Sache den Entschluss fassen, sie auszuführen, und niemand, der menschlich und freisinnig ist, wird die Hilfeleistung für Freunde, die Teilnahme an einer Arbeit, den Erweis von Pflichten bis auf die Zeit aufschieben, da er sicher wissen wird, dass das, was er getan hat, nützlich sein wird. Er wird es für schon genügend halten, wenn es hätte nützlich sein können. Beim Erforschen der Wahrscheinlichkeit von Ereignissen pflegen wir mit dem Grad, von dem jetzt die Rede ist, anzufangen – nicht, um uns dabei zu beruhigen, sondern, damit wir, wenn wir bemerken, dass er fehlt, uns alle sorgfältige Untersuchung sparen können. § 6. Weiter nähern wir uns der Wahrheit an, wenn wir zur Kette der Ursachen kommen. Nachdem wir nämlich wissen, dass die Sache in sich keinerlei Widerstreit einbegreift, vergleichen wir sie nun mit dem, was außerhalb ihrer gelegen ist. Daraus entsteht jene ganze Berrechnung von Ursachen und Wirkungen, indem wir nämlich unter jenen Dingen, die ein Ereignis umgeben, einige entdecken, die in so enger Notwendigkeit mit eben jenem Ereignis verbunden sind, dass es uns niemals vor Augen kommt, wenn jene nicht vorangegangen sind. Dieselbe Erfahrung führt uns dahin, zu behaupten, dass es zwei Gattungen von Ursachen gibt. Denn die Existenz einer Sache wird entweder durch die bloße Existenz einer anderen Sache bewirkt, oder durch ihre Kraft und Tätigkeit. § 7. Es gibt nämlich einige Dinge, die nicht eintreten können, wenn nicht zugleich andere eintreten – gleichsam als Teile jenes ganzen Ereignisses, ohne die auch die übrigen nicht bestehen können. Deshalb entnimmt man dann, wie aus einem angenommenen Begriff die Theoreme, so aus der angenommenen oder erkannten Existenz der einen Sache vermittels des einzigen Prinzips des Widerspruchs die Existenz der anderen, wenn wir erkennen, dass jene Existenz, sollte sie nicht zugleich mit der Existenz der anderen Sache verbunden sein, sich selbst widerstreiten wird. So ist notwendig, dass, wenn der eine Teil des Hebels angehoben wird, der andere herabgedrückt wird; und es gibt keine Anhebung des dem einen Teil aufgeladenen Gewichts, es sei denn als Folge und gleichsam Anhängsel derjenigen Bewegung, durch die der andere Teil von einer Kraft nach unten getrieben wird. Sehr davon unterschieden ist jenes Verwandtschaftsverhältnis der Dinge, durch das es geschieht, dass die einen, obwohl sie auch vorhanden sein und existieren
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absentibus alteris possint, tamen in se habeant aliquid, quod vis appellatur, quae vbi se exserat, tum statim alteras illas consequi, constantissime comperimus. Atque in his, quae proprio iure caussarum nomen sibi vindicant, videmus effectarum rerum existentiam non sequi illico existentiam caussarum, sed tum demum oriri, cum prius in caussis ipsis quaedam contigerit mutatio interna, quam actionem appellamus. Cum itaque nunc versemur in conuenientia rei cum rebus extra illam positis inquirenda: ea quaestio in duas resoluitur, quarum altera est de conuenientia rei cum existentia rerum caeterarum, altera de conuenientia illius cum earundem vi & agendi facultate.
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§. VIII. Quod ad primam attinet, pluribus itidem gradibus ad certitudinem ascenditur. 1) Infimus est ille, vbi hoc tantum cernimus eam rem de qua an sit quaerimus, caeteris rebus non repugnare, nec ita esse comparatam, vt vbi ea contigisse ponatur, illae alterae necessario debeant abesse. Quodsi in tali euentu, quem nostra refert scire an contigerit, & in quo per officia non licet iudicium sustinere, ipso pro vero sumto, explicare & exponere hanc eius cum caeteris rebus gestis & euentis continuitatem possumus, ipso pro falso posito non possumus: is, etiamsi fortiora argumenta desunt, satis nobis sese debet probare. In testimoniis & narrationibus iudicandis, magis ex hoc genere falsi conuictio, quam veri probatio peti potest. Rem scilicet gestam non fuisse certum est, quae si gesta esset, euenire alia nunquam potuissent, quae euenisse multo grauioribus argumentis constat. Si vero rei alicuius existentia sumta efficit, vt alias res, quas euenisse exploratum est, quomodo euenire potuerint, melius explicare, atque hinc rationem reddere possimus modi, quo caeterae illae res exstiterint: tunc iam maiorem huius generis conuenientiam ha-
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können, wenn die anderen abwesend sind, doch in sich etwas haben, das ›Kraft‹ genannt wird, von der wir mit höchster Beständigkeit erfahren, dass, sobald sie sich entäußert, dann sofort jene anderen Dinge folgen. Und bei diesen, die aus eigenem Recht den Namen der Ursachen beanspruchen, sehen wir, dass die Existenz der bewirkten Dinge nicht sofort auf die Existenz der Ursachen folgt, sondern erst dann entsteht, wenn zuvor in den Ursachen selbst eine bestimmte innere Veränderung vorgeht, die wir ›Tätigkeit‹ nennen. Wenn wir uns deshalb nun dabei aufhalten, nach der Übereinkunft einer Sache mit Dingen, die außerhalb ihrer liegen, zu fragen, so löst sich die Frage in zwei auf, deren eine die Übereinkunft der Sache mit der Existenz der übrigen betrifft, die andere ihre Übereinkunft mit der Kraft und Handlungsfähigkeit derselben. § 8. Was die erste Frage angeht, gibt es wiederum mehrere Grade, die zur Gewissheit hinaufführen.24 1) Der unterste ist jener, wenn wir nur das erkennen, dass die Sache, von der wir fragen, ob sie sei, den übrigen Dingen nicht widerstreitet und nicht so beschaffen ist, dass, sobald gesetzt wird, sie sei vorhanden, jene anderen notwendigerweise abwesend sein müssen. Wenn also bei einem solchen Ereignis, bei dem es uns interessiert, ob es geschehen ist, und bei dem es die Pflichten nicht gestatten, sich des Urteils zu enthalten, wir, wenn wir es für wahr annehmen, diesen seinen Zusammenhang mit den übrigen geschehenen Taten und Ereignissen erklären und darlegen können, wenn wir aber setzen, es sei falsch, dies nicht können, so muss dieses Ereignis, auch wenn stärkere Argumente fehlen, uns als hinreichend bewiesen gelten. Bei der Beurteilung von Zeugnissen und Erzählungen kann aus dieser Gattung mehr die Überzeugung von der Falschheit als der Beweis der Wahrheit verlangt werden. Es ist nämlich sicher, dass eine Tat nicht geschehen ist, von der gilt, dass, wenn sie geschehen wäre, andere Dinge niemals hätten eintreten können, von denen durch viel gewichtigere Argumente feststeht, dass sie eingetreten sind. Wenn aber die Annahme der Existenz einer Sache bewirkt, dass wir von anderen Dingen, von denen die Nachforschung ergeben hat, dass sie eingetreten sind, besser erklären können, wie sie geschehen konnten, und wir von daher Rechenschaft geben können über die Art und Weise, wie jene anderen Dinge entstanden sind, dann werden wir schon eine größere dieser Gattung zugehörige Übereinkunft
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bebimus. Ex ea lege, vbi historicorum destituimur auctoritate, possumus rem etiam a suspectiori aut ignobili scriptore narratam pro vera habere, si ea ita congruit cum caeteris rebus gestis: quarum certissima fides est, vt si pro vera sumatur, hae melius inter se constent & arctiori nexu cohaereant. 2) Vbi denique res quaedam cum aliis, quas fuisse certo scimus, eo vsque conueniunt, vt hae plane fieri non potuissent, interque se pugnarent, nisi illae simul affuissent: tum efficitur id, quod modo diximus, existentiam rei cum alterius existentia ita esse coniunctam, vt sublata vna, etiam altera tollatur. Et hoc quasi confinium est certitudinis & probabilitatis. Si enim omnis dubitatio nobis eximi posset, an sint res eae, quae necessario quodam vinculo alias secum copulatas habent: de harum existentia eadem posset esse persuasio, quae est in rebus Mathematicis. Potest hoc illustrari exemplo virium corporearum, quae Mechanicae vocantur, in quibus motu aliquo orto, necessario alius sequitur, vt in Vecte.
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§. IX. Re comparata cum caussis proprie sic dictis, quae agendo debent eam quasi ex se gignere, oriuntur multiplices probabilitatis gradus. 1) Infimum esse, & ab improbabilitate re vna seiunctum puto illum, cum intelligimus adesse quasdam caussas impediendae rei, non intelligimus an caussae illae acturae sint, aut intelligimus plane acturas non esse. In hoc genere quanquam sit refellendi potius vis quam probandi: potest tamen esse vsus eius duplex. Alter in eo, ne in rebus memoriae traditis, eas quibus obsistere quaedam potuisse videmus, ideo statim falsitatis arguamus. Nam sicuti non ea omnia eueniunt, quorum sunt caussae, nisi eae etiam ad agendum processerint: ita quae videntur esse potuisse obstacula, quo minus res eueniret, si non etiam reipsa fuisse scimus, rei actae fidem non infringunt. Al-
14 persuasio,] persuasio; G 21 improbabilitate] improbilitate G 25 eo,] eo. G
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haben. Aufgrund dieses Gesetzes können wir, wo wir der Autorität der Historiker entbehren, auch eine Sache, die von einem eher verdächtigen oder einem unwürdigen Schriftsteller erzählt wird, für wahr ansehen, wenn sie so mit den übrigen Geschehnissen, die mit höchster Sicherheit vertrauenswürdig sind, zusammenstimmt, dass, wenn jene Sache als wahr angenommen wird, diese besser miteinander bestehen und in engerer Verbindung zusammenhängen. 2) Sobald schließlich bestimmte Dinge mit anderen, von denen wir sicher wissen, dass sie gewesen sind, so sehr übereinkommen, dass diese überhaupt nicht hätten geschehen können und einander widerstreiten würden, wenn nicht zugleich jene vorhanden gewesen wären, dann ergibt sich das, wovon wir eben gesprochen haben: dass die Existenz einer Sache mit der einer anderen so verbunden ist, dass, wenn man die eine wegnimmt, auch die andere aufgehoben wird. Und das ist gleichsam die Grenzlinie zwischen Gewissheit und Wahrscheinlichkeit. Wenn uns nämlich jeder Zweifel genommen werden könnte, ob diejenigen Dinge seien, an die mit einem notwendigen Band andere geknüpft sind, so könnte von der Existenz dieser letzteren Dinge dieselbe Überzeugung bestehen wie bei den Gegenständen der Mathematik. Das kann illustriert werden durch das Beispiel der den Körpern eigenen Kräfte, die ›mechanische‹ genannt werden: Bei ihnen folgt, wenn irgendeine Bewegung entsteht, notwendig eine andere, wie beim Hebel. § 9. Beim Vergleich einer Sache mit den Ursachen im eigentlichen Sinne, die jene Sache durch eine Tätigkeit gleichsam aus sich hervorbringen müssen, entstehen vielfältige Grade der Wahrscheinlichkeit. 1) Für den untersten und von der Unwahrscheinlichkeit durch einen einzigen Umstand getrennten Grad halte ich denjenigen, wenn wir einsehen, dass einige Ursachen für die Verhinderung der Sache vorhanden sind, wir aber nicht einsehen, ob diese Ursachen tätig sein werden, oder wir ganz klar einsehen, dass sie nicht tätig sein werden. Obwohl bei dieser Gattung eher die Kraft des Zurückweisens als die des Beweisens zu finden ist, kann sie doch einen zweifachen Nutzen haben. Der eine liegt darin, dass wir bei den Dingen, die dem Gedächtnis überliefert sind, nicht diejenigen, von denen wir sehen, dass mancherlei sie hätte verhindern können, deshalb sofort der Falschheit anklagen. Denn so wie nicht all das eintritt, von dem es Ursachen gibt, wenn diese nicht auch zur Tätigkeit schreiten, so entkräften diejenigen Dinge, die anscheinend Hindernisse dafür hätten sein können, dass die Sache einträte, dann, wenn wir nicht auch wissen, dass sie wirklich solche Hindernisse waren, die Glaubwürdigkeit einer ausgeführten Sache nicht. Der
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ter in eo, ne vbi rerum futurarum praeuisio nos debebat ad agendum impellere, aut muneris nostri partes deseramus, aut humanitatis officia negligamus, si quas res videmus esse, quae possint actionis fructum intercipere. 2) Proximus est, si caussas quae possint impedimentum rei oriundae afferre, nullas videmus. Quod si in re quadam est compertum, non quidem valet ad eam probandam, sed tantum vt intelligamus, caeterorum argumentorum vim nulla ratione aduersa debilitari, liberumque quasi inquirendis caeteris veritatis signis campum relinqui. 3) Iam propius accedit ad veritatem tertius gradus, si adesse caussas quasdam perspicimus, quae habeant in se vim alicuius rei efficiendae, quam vtrum exsertura, an aliis obstantibus caussis impeditam sit habitura, ignoramus. Ita, vt hoc vtar, quem benignum cognouimus & liberalem, ab eo vbi beneficium aliquod exspectamus, habemus quidem in qua spem collocemus, beneficii caussam liberalitatem. Sed quia nec a locupletissimo homine aequa pars liberalitatis potest in omnes conferri, & illum vel rei angustia, vel indigentium multitudo, vel male collocandi beneficii timor potest a benefaciendo retrahere, ideo debemus tamen non adeo confidenter sperare, ne frustrati id illiberalitati hominis tribuamus, quod erat nostrae nimiae fiduciae vitium. Haec caussarum intelligentia pro diuersa ratione qua eas cognouimus, varie valet ad res effectas probandas. a) Siue enim res quasdam caussas esse existimamus tantum eo, quod sunt saepius cum re illa quam ab iis effectam credimus, coniunctae, & quod videntur vel ipsae antecedere necessario rem debere, vel saltim quasi indicia esse caussarum praesentium: tum rem dicimur ex iis concludere quae circumstant, fitque id saepissime, vbi rerum caussis ignoratis, tamen eodem rerum nexu, eadem euentuum consecutione conspecta, in qua
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andere Nutzen besteht darin, dass wir dort, wo die Voraussicht künftiger Dinge uns zum Handeln antreiben müsste, es nicht an dem fehlen lassen, was unsere Aufgabe ist, oder die Pflichten der Menschlichkeit versäumen, wenn wir einige Dinge sehen, die die Frucht des Handelns hinwegnehmen können. 2) Der nächste Grad liegt vor, wenn wir keine Ursachen bestehen sehen, die ein Hindernis für das Entstehen einer Sache mit sich bringen könnten. Hat man das bei einer Sache erkannt, reicht das freilich nicht aus, um sie zu beweisen, sondern nur dafür, dass wir einsehen, dass die Kraft der übrigen Argumente durch keinen Gegengrund geschwächt wird und der Untersuchung der übrigen Anzeichen der Wahrheit gleichsam freies Feld überlassen ist. 3) Schon weiter kommt der dritte Grad an die Wahrheit heran: wenn wir einige Ursachen erblicken, die in sich die Kraft haben, eine Sache zu bewirken, wir von dieser Kraft aber nicht wissen, ob sie die Sache zum Vorschein bringen oder deswegen einbehalten wird, weil andere, entgegenstehende Ursachen diese Sache verhindern. – Nehmen wir zum Beispiel einen Menschen, den wir als gutmütig und freigiebig kennen! Wenn wir von ihm irgendeine Wohltat erwarten, so haben wir zwar für diese Wohltat eine Ursache, in die wir unsere Hoffnung setzen können, nämlich die Freigiebigkeit. Weil aber nicht einmal der Reichste allen Menschen den gleichen Teil an Freigiebigkeit gewähren kann, und weil unseren Bekannten entweder ein finanzieller Engpass oder die Vielzahl von Bedürftigen oder die Furcht, er werde seine Wohltat schlecht anbringen, von der Wohltätigkeit abhalten kann, deshalb dürfen wir dennoch nicht allzu vertrauensvoll hoffen, damit wir nicht enttäuscht dasjenige dem Mangel an Freigiebigkeit bei jenem Menschen zuschreiben, was der Fehler unserer allzu starken Zuversicht war. Diese Einsicht in die Ursachen taugt nach Maßgabe der unterschiedlichen Weise, in der wir sie erkennen, verschiedenermaßen dazu, bewirkte Dinge zu beweisen. a) Wenn wir nämlich von bestimmten Dingen nur deshalb glauben, sie seien Ursachen, weil sie öfter mit jener Sache, die, wie wir glauben, von ihnen bewirkt wird, verbunden sind, und weil sie entweder selbst notwendig der Sache voraufgehen zu müssen oder wenigstens gleichsam Anzeichen für die Anwesenheit der Ursachen zu sein scheinen, dann sagt man: Wir schließen auf die Sache aus ihren Umständen. Und das geschieht sehr häufig, wenn wir die Ursachen der Dinge nicht kennen, aber doch denselben Zusammenhang der Dinge, dieselbe Abfolge der Ereignisse erblicken, in der
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alias rem quandam contigisse vidimus, certe argumentamur, rem eandem esse euenturam, in hac scilicet rerum quasi congerie delitescere caussas putantes. b) Siue rem quandam rei alterius caussam esse ideo ponimus, quia clare cognouimus, & quae ex ista proxime, nulla re alia interueniente, efficiantur, & qua deinceps serie minimorum, vt ita dicam elementorum totius effectus, quorum aliud ex alio gignitur, res tandem illa de qua quaeritur, oriatur: tum firmitatis hoc habet plus & ad persuasionem efficientiae. Nam quo magis exploratum est hoc, rem eam quam adesse comperimus, esse alterius caussam, eo firmior est omnis de ortu rei ex caussarum praesentia argumentatio. 4) Si caussarum obseruatarum hanc vim esse nouimus, vt non impeditae, possint id quod an sit quaeritur, totum nullis aliis adiuuantibus efficere: tum magis probabile fit, rem esse aut futuram esse. Quo plura enim ad efficientiam caussarum quasi supplendam adiumenta debent se adiungere; quoque maior rei effectae pars pendet ex magno exilium rerum quasi fortuito concursu, in quas caussis illis primariis, quas nobis perspectum est adesse, nihil est potestatis: eo magis imminuitur ea probabilitas, quae ex his caussis proficiscitur. 5) Propius absumus a veritate, quando non adesse tantum, sed iam agere caussas cognoscimus. Tum enim nihil potest impedire quo minus res effecta eueniat, nisi aliae caussae prioribus oppositae ea destruunt & delent, quae ab illis sunt profecta. 6) Quodsi itaque & caussas, easque iam agentes, & omnium oppositarum caussarum absentiam, possemus vnquam certe agnoscere: tum iam peruentum esset eo quo tendimus, vt rem esse vel fore, iam non probabile, sed perceptum esset.
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wir anderwärts eine bestimmte Sache haben vorfallen sehen: Dann argumentieren wir mit Gewissheit, dieselbe Sache werde geschehen, indem wir nämlich glauben, dass sich die Ursachen gleichsam in dieser Anhäufung von Dingen verstecken. b) Wenn wir aus dem Grund die Behauptung aufstellen, eine bestimmte Sache sei die Ursache einer anderen, weil wir deutlich sowohl erkennen, was durch sie direkt, ohne dass eine andere Sache dazwischentritt, bewirkt wird, als auch, in welcher Reihe der sozusagen kleinsten Elemente der ganzen Wirkung, von denen eines aus dem anderen hervorgebracht wird, endlich jene Sache, um die es geht, entsteht, dann hat das mehr Festigkeit und Überzeugungskraft. Denn je mehr wir erforscht haben, dass diejenige Sache, von der uns bekannt ist, dass sie vorhanden ist, die Ursache der anderen ist, desto fester ist die ganze Argumentation von der Entstehung der Sache aus der Anwesenheit der Ursachen. 4) Wenn wir wissen, dass die beobachteten Ursachen die Kraft dazu haben, sofern sie nicht behindert werden, dasjenige, bei dem wir fragen, ob es sei, im Ganzen ohne weitere Unterstützung zu bewirken, dann wird es wahrscheinlicher, dass die Sache ist oder sein wird. Je mehr Hilfsmittel nämlich sich anschließen müssen, um die Wirkkraft der Ursachen gleichsam zu vervollständigen, und ein umso größerer Teil der bewirkten Sache gleichsam von einer zufälligen großen Zusammenkunft winziger Dinge abhängt, über die jene erstrangigen Ursachen, von denen wir erkannt haben, dass sie vorhanden sind, keine Macht haben, desto mehr wird die Wahrscheinlichkeit vermindert, die aus diesen Ursachen hervorgeht. 5) Näheren Abstand haben wir zur Wahrheit, wenn wir nicht nur erkennen, dass die Ursachen vorhanden sind, sondern auch, dass sie schon tätig sind. Dann nämlich kann nichts verhindern, dass die bewirkte Sache eintritt, außer wenn andere, den ersteren entgegengesetzte Ursachen das zerstören und vernichten, was aus jenen hervorgegangen ist. 6) Wenn wir deshalb aber sowohl die Ursachen, und diese schon als tätige, als auch die Abwesenheit aller entgegengesetzten Ursachen irgend einmal mit Gewissheit erkennen könnten, dann hätten wir erreicht, wonach wir streben: dass nicht mehr bloß wahrscheinlich wäre, dass die Sache ist oder sein wird, sondern dass es erfasst wäre.
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§. X.
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His principiis continetur omnis actionum liberarum, rerumque ab iis proficiscentium probabilitas. Cum enim actio libera nulla esse possit, nisi rei agendae antea capto consilio; consilium autem nullum possit capi, nisi rationes accedant, quae voluntatem in alterutram partem impellant; cumque hae rationes non sint nisi cogitationes, quae animo & rei alicuius imaginem, & eius cum natura nostra coniunctionem sistant; omnisque cogitationum ortus & vicissitudo pendeat, cum ex ea quam vel a natura acceptam tenemus, vel exercitatione & vsu nobis conciliauimus, generandorum quorundam conceptuum facilitate, tum ex obiectorum serie sensibus obuersantium: sequitur, posse in actionibus liberis hanc diuersorum probabilitatis graduum quasi scalam constitui: 1) Si res quaedam externae sensibus hominis obiectae, per se aptae sunt ad excitandum certum quoddam cogitationum genus cupiditatesque quasdam mouendas: actio illa quae pendet ex his caussis impellentibus, habet aliquid, sed perparum probabilitatis. Nam primo, nulla fere est res, quae non partim ad agendum, partim ad non agendum nos impellat, imaginem partim boni, partim mali ex se consequentis in animo imprimens. Deinde non ipsae rei vires & proprietates, sed harum quarundam imagines mouent voluntatem & momenta efficiunt consiliorum. Vbi itaque ingenium, indolem, naturam denique vniuersam & mentis & animi eius hominis cui res illae externae fuere oblatae, non cognoueris: nec poteris ex his intelligere quae sit acturus, non magis quam ex radiis solis, quibus corpora quaeque coloribus illustrentur. Vt enim in coloribus debet etiam natura corporum cognosci, alios radios absorbentium alios remittentium: sic in actionibus natura animi, quae quasdam imagines vel plane non admittit, vel admissas delet, omnique in voluntatem imperio exuit.
29 imagines] imaginis G
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§ 10. In diesen Prinzipien ist jede Wahrscheinlichkeit der freien Handlungen und der aus ihnen hervorgehenden Dinge enthalten. Weil es nämlich keine freie Handlung geben kann, wenn nicht zuvor der Entschluss gefasst worden ist, die Sache zu tun; kein Entschluss aber gefasst werden kann, wenn nicht Gründe hinzukommen, die den Willen in diese oder jene Richtung treiben; und weil diese Gründe nichts als Gedanken sind, die dem Geist sowohl das Bild irgendeiner Sache als auch ihre Verbindung mit unserer Natur vorstellen; und weil jede Entstehung und jeder Wechsel der Gedanken auf der einen Seite von der Gewandtheit, bestimmte Begriffe zu erzeugen, abhängt – welche Gewandtheit wir entweder von der Natur als Besitz empfangen haben oder uns durch Übung und Gebrauch angeeignet –, zum anderen auch abhängt von der Reihe der Gegenstände, die den Sinnen begegnen; so folgt, dass bei den freien Handlungen eine, um mich so auszudrücken, Treppe aus den verschiedenen Stufen der Wahrscheinlichkeit gebaut werden kann, nämlich diese: 1) Wenn bestimmte äußere, den Sinnen des Menschen unterworfene Dinge von sich aus geeignet sind, eine gewisse Gattung von Gedanken zu erregen und bestimmte Begierden zu wecken, so hat die Handlung, die von diesen antreibenden Ursachen abhängt, etwas, aber sehr wenig, Wahrscheinlichkeit. Denn erstens gibt es fast keine Sache, die uns nicht teils zum Handeln, teils zum Nicht-Handeln antreibt, indem sie das Bild teils von etwas Gutem, teils von etwas Schlechtem, das aus ihr folgt, in den Geist eindrückt. Sodann bewegen nicht die Kräfte und Eigenschaften der Sache selbst, sondern die Bilder einiger davon den Willen und erzeugen die Bewegkräfte der Entschlüsse. Wenn man deshalb die geistige Begabung, den Charakter, schließlich die ganze Natur von Verstand und Geist desjenigen Menschen, dem jene äußeren Dinge begegnet sind, nicht kennt, so wird man daraus nicht einsehen können, was er tun wird, so wenig wie aus den Sonnenstrahlen, welche Körper durch welche Farben erleuchtet werden. So wie man nämlich bei den Farben auch die Natur der Körper erkennen muss, da sie manche Strahlen absorbieren, manche reflektieren, so bei den Handlungen die Natur des Geistes, die einige Bilder entweder gar nicht zulässt oder sie zwar zunächst zulässt, sie dann aber zerstört und jeder Gewalt über den Willen beraubt.
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2) Si animi facultate aliqua inter caeteras insigniter eminente, actiones quae ab ista pendent sunt crebriores ideaeque his actionibus effectae & facillime oriuntur, & frequentius recoluntur, & efficacius imprimuntur: tum caussae impellentes his ideis comprehensae plus etiam quam caeterae virium habent ad regenda consilia. Quod vbi est, etiam actiones ex his consiliis profectae debent esse probabiliores. Facile autem patet, non singula hominis facta, sed vniuersam eius agendi rationem posse hac via explorari; nec quid in hoc vel illo casu, sed quid in plerisque acturus sit, definiri. Sic in quo phantasia & fingendi vis non temperata satis est rationis imperio, eum, quia imagines rerum plures, quam ideae ratione formatae animo eius obuersantur, credibile est magis propelli singularum rerum incursione quam duci legum vniuersalium aequabilitate. Qui autem valet ingenio, is aptus est ad res eas gerendas, quae sunt repentini & praesentis consilii, quia facta statim rei oblatae cum iis quae antea similes euenerant, comparatione, multa vtrisque intelligit esse communia, e quibus consilii & ineundi rationes & exsequendi artes possit haurire. Rursus in quo intelligentia nexus rerum, seu ratio caeteras facultates antecellit, is magis in agendo legum constantem ordinem quam rerum externarum repentinas impulsiones sequetur. Ita porro in caeteris. Quodsi volumus ad singulas actiones praesagiendas descendere, non sufficit animi indolem & virium eius proportionem cognitam habere, cum quia praeterea etiam rerum externarum impulsio apta debet accedere; tum quia potest singulari quodam rerum nexu & facultas debilior confirmari, & validior debilitari. 3) Si non solum animus natiua quadam facilitate pronus ad has vel illas imagines rerum recipiendas firmiterque retinendas, sed etiam vel eiusdem actionis saepius repetitae consuetudine, vel appetituum naturali propensione quoddam idearum genus habet celeriorem ad voluntatem mouendam transitum, ita vt videatur cum illa cognoscendi facultate arctius, quam cum caeteris connexa esse facultas
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2) Wenn durch eine Gewandtheit des Geistes, die unter den übrigen besonders hervorragt, die Handlungen, die von ihr abhängen, häufiger sind und die Ideen, die von diesen Handlungen bewirkt werden, sowohl sehr leicht entstehen als auch öfter erinnert und nachhaltiger eingeprägt werden, dann haben auch die antreibenden Ursachen, die von diesen Ideen umfasst werden, mehr Kräfte als die übrigen, um unsere Entschlüsse zu lenken. Wo das der Fall ist, müssen auch die Handlungen, die aus diesen Entschlüssen hervorgehen, wahrscheinlicher sein. Leicht aber wird klar, dass nicht die einzelnen Taten des Menschen, sondern seine ganze Art und Weise zu handeln auf diesem Weg erforscht, und nicht, was er in diesem oder jenem Fall, sondern, was er in den meisten Fällen tun wird, bestimmt werden kann. So ist bei demjenigen, in dem die Phantasie und Dichtkraft nicht genügend durch die Herrschaft der Vernunft gemäßigt ist, glaubhaft, dass er, weil mehr Bilder der Dinge als von der Vernunft geformte Ideen seinem Geist begegnen, sich mehr durch das Heranstürmen der einzelnen Dinge antreiben als durch das Gleichgewicht der allgemeinen Gesetze führen lässt. Wer aber eine starke geistige Begabung hat, ist geeignet, diejenigen Dinge auszuführen, die eines eiligen und gegenwärtigen Entschlusses bedürfen, denn er vergleicht sofort die ihm begegnende Sache mit denen, die zuvor ähnlich vorgefallen sind, und sieht ein, dass es bei beiden Teilen Gemeinsamkeiten gibt, aus denen er die Gründe für Entschluss und Beginn sowie die Künste der Ausführung schöpfen kann. Derjenige wiederum, in dem die Einsicht in den Zusammenhang der Dinge, oder die Vernunft,25 die anderen Vermögen übertrifft, der wird beim Handeln mehr der beständigen Ordnung der Gesetze als den plötzlichen Impulsen der äußeren Dinge folgen. Und so fort bei den übrigen. Wenn wir aber dazu hinabsteigen wollen, die einzelnen Handlungen vorauszusagen, dann genügt es nicht, den Charakter des Geistes und das Verhältnis seiner Kräfte erkannt zu haben, zum einen, weil außerdem auch ein geeigneter Antrieb der äußeren Dinge hinzukommen muss, und zum anderen, weil durch einen bestimmten einzelnen Zusammenhang der Dinge auch ein schwächeres Vermögen bestärkt und ein stärkeres geschwächt werden kann. 3) Wenn der Geist nicht nur durch eine angeborene Gewandtheit dazu geneigt , diese oder jene Bilder der Dinge aufzunehmen und fest zu bewahren, sondern auch entweder durch die Gewohnheit derselben öfter wiederholten Tätigkeit oder durch einen natürlichen Hang der Bestrebungskräfte eine bestimmte Gattung von Ideen schneller dazu übergeht, den Willen zu bewegen, so dass mit jenem Erkenntnisvermögen enger als mit den übrigen das Bestrebungsvermögen
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appetendi: tum quia simul atque imagines ex hoc genere animo obuersantur, consequitur statim mota cupiditas, iam est probabile, earum actionum quae ex hoc caussarum genere oriuntur, maiorem numerum fore. Quare etiam cum nihil magis augeat vim ideae ad mouendum appetitum, quam crebra eiusdem repetitio, cernitur, quam recte possit ex anteactae hominis vitae ratione spes futurae colligi. Nisi enim aliud nouum validiusque agendi principium aliquod in animo eius existat: omnia eius consilia trahantur necesse est ab iis animi sensis, quae saepius in superiori vita valuerunt. 4) Si ergo vtrumque coniungitur, vt & facultatem praecipuam habeat animus certarum rerum imagines & recipiendi, & ad commouendos appetitus adhibendi; & obiiciuntur eae res externae, quarum impulsione istae imagines effinguntur: tum inde oriri rei gerendae consilium tam probabile est, vt nihil in hoc genere probabilius esse possit. 5) Quodsi harum caussarum ad agendum impellentium vis reprimitur & debilitatur aliis caussis ad contrarium impellentibus: tum vnice ponderandis momentis potest cognosci, quam partem voluntas sequatur. Quo itaque minus vel rationum adhortantium vel stimulorum incitantium sunt ad actionem omittendam, aut quo minus illae habent potestatis ad flectendam voluntatem: eo magis probabile est actionem esse futuram. Qua in re summa certitudo locum haberet, si constaret rationes ad contrarium impellentes aut nullas esse, aut ab eo qui agit ignorari, aut omni momento ad eius inclinandam propensionem carere, aut denique praeponderari caussis contrariis. Quod tamen euenire nunquam poterit, primum quia in omnibus rebus quae habeant in se commistionem boni malique, nunquam possunt deesse rationes ad vtramque partem; deinde quia caetera argumenta tanto obseruationum numero constant, vt an omnia quae scienda erant absoluerimus, certi esse non possimus.
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verbunden zu sein scheint, dann ist, weil, sobald die Bilder aus dieser Gattung dem Geist begegnen, sofort das bewegte Begehren folgt, schon wahrscheinlich, dass die Anzahl jener Tätigkeiten, die aus dieser Gattung von Ursachen entstehen, größer sei. Daher wird auch, weil nichts die Kraft der Idee, die Bestrebungskraft zu bewegen, mehr vergrößert als die häufige Wiederholung desselben, erkannt, mit welchem Recht aus der Art und Weise, wie der Mensch zuvor sein Leben verbracht hat, entnommen wird, was für sein künftiges Leben zu erwarten ist. Wenn nämlich kein anderes, neues und stärkeres Handlungsprinzip in seinem Geist ersteht, werden all seine Entschlüsse notwendigerweise von jenen Wahrnehmungen des Geistes her bezogen werden, die immer wieder im früheren Leben die Überhand hatten. 4) Wenn also beides miteinander verbunden wird, so dass zum einen der Geist ein besonderes Vermögen hat, die Bilder gewisser Dinge sowohl aufzunehmen als auch zum Bewegen der Bestrebungskräfte anzuwenden, und dass ihm zum anderen diejenigen äußeren Dinge, durch deren Anstoß jene Bilder erstehen, zugetragen werden, dann ist es so wahrscheinlich, dass daher der Entschluss entsteht, die Sache auszuführen, dass es in dieser Gattung nichts Wahrscheinlicheres geben kann. 5) Wenn aber die Kraft dieser Ursachen, die zum Handeln antreiben, unterdrückt und geschwächt wird durch andere, zum Gegenteil antreibende Ursachen, dann kann nur durch Abwägung der Bewegungskräfte erkannt werden, welche Richtung der Wille einschlagen wird. Je weniger Gründe deshalb dazu ermahnen oder je weniger Antriebe dazu anstacheln, die Handlung zu unterlassen, oder je weniger Macht jene haben, den Willen zu beugen, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Handlung geschehen wird. In dieser Angelegenheit gäbe es höchste Gewissheit, wenn feststünde, dass es entweder keine zum Gegenteil antreibenden Gründe gibt, oder der Handelnde sie nicht kennt, oder sie jeder Bewegungskraft, seine Neigung zu beugen, entbehren, oder schließlich sie durch die entgegengesetzten Ursachen überwogen werden. Doch wird das niemals geschehen können, erstens, weil bei allen Dingen, die in sich eine Mischung des Guten und des Schlechten haben, niemals Gründe für jede der beiden Seiten fehlen können, und dann, weil die übrigen Argumente aus einer so großen Anzahl von Beobachtungen bestehen, dass wir nicht sicher sein können, ob wir alles, was wir wissen müssten, berücksichtigt haben.
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6) Ignorato autem cuiusdam & rerum statu, ex quibus rationes consiliorum hauriat, & animi indole: nihil aliud relinquitur ad actiones eius prospiciendas, nisi vt ea quae nunc maxime gerit, accurate animaduertamus. Si enim res quaedam sunt eius naturae, vt suscipiantur non propter se ipsae, verum quia sunt aliarum rerum gerendarum subsidia: certum est, si quis illas suscipit, eum has quoque suscepturum esse, quarum caussa illae susceptae fuerant. Hac igitur quasi vnitate assumta, probabilitates vt numeri eius fracti sua sponte succedent. Si quendam intelligentem videmus ea moliri, quae vel semper vel plerumque tantum ea de caussa aguntur, quod sunt aliarum quarundam subsidia; aut saltem si eorum moliminum optime ratio reddi potest ex iis, ad quae sumimus illa pertinere: tum illas actiones quae sunt priorum finis, (nisi sint quae obstiterint) valde probabile est esse futuras. Quod si fit, rem ex apparatu colligere dicimur. Est enim apparatus quaedam series actionum, quae sunt aliarum actionum subsidia. Quia sine impellentibus caussis nihil velle possumus, patet quo pauciores alii, praeter eum quem posuimus, possunt actionis alicuius fines excogitari, eo probabilius fore, eam esse ad illas actiones, quas futuras inde esse colligimus, praeparationem. Sic coacto exercitu, munitis oppidis, praesidiis auctis, commeatu & instrumentis bellicis magno sumtu apparatis, bellum imminere arbitramur. Nec vnquam videmus, tales motus euenire, quin finitimi excitentur, vt securitati suae prospiciant. 7) Omnibus autem his adminiculis destituti, debemus similitudinem tantum rerum, & temporum rationem sequi, & in quo rerum statu constitutos plerosque hoc vel illud fecisse experti sumus, eo in statu vbi etiam alios constitutos esse videmus, eadem ab iis expectare.
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§. XI. Quae adhuc dicta sunt, ea pertinent ad actiones humanas, quatenus eae capiendis consiliis, vique animi ad rem aliquam ad-
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6) Wenn man aber bei jemandem weder den Stand der Dinge, aus denen er die Gründe seiner Entschlüsse schöpft, noch die Naturanlage seines Geistes kennt, bleibt, um seine Handlungen vorauszusehen, nichts anderes übrig, als dass wir genau auf dasjenige achthaben, was er jetzt am meisten tut. Wenn nämlich bestimmte Dinge von solcher Natur sind, dass sie nicht wegen ihrer selbst aufgenommen werden, sondern weil es Hilfsmittel zur Ausführung anderer Dinge sind, so ist sicher, dass, wenn jemand jene aufnimmt, er auch diejenigen aufnehmen wird, um derentwillen er jene aufgenommen hatte. Wenn wir das also gleichsam als Einheit annehmen, werden die Wahrscheinlichkeiten wie ihre Bruchzahlen sich von selbst ergeben. Wenn wir einen einsichtigen Menschen solches ins Werk setzen sehen, was entweder immer oder doch meistens nur aus dem Grund getan wird, dass es Hilfsmittel bestimmter anderer sind; oder wenn wenigstens ein Grund für diese Werke am besten von dem her angegeben werden kann, zu was sie, wie wir annehmen, gehören; dann ist (wenn es nichts gibt, was dem entgegensteht) sehr wahrscheinlich, dass diejenigen Handlungen, die das Ziel der früheren sind, geschehen werden. Wenn das geschieht, sagt man: Wir entnehmen die Sache aus der Vorbereitung. Die Vorbereitung ist nämlich eine Reihe von Handlungen, die für andere Handlungen Hilfsmittel sind. Weil wir ohne antreibende Ursachen nichts wollen können, leuchtet ein, dass, je weniger andere Ziele einer Handlung außer dem, welches wir angenommen haben, man sich ausdenken kann, desto wahrscheinlicher es sein wird, dass sie die Vorbereitung für diejenigen Handlungen ist, die, wie wir daraus entnehmen, künftig geschehen werden. So urteilen wir, wenn ein Heer zusammengezogen worden ist, die Städte befestigt, die Bollwerke (oder: Schutztruppen) vermehrt sowie Proviant und Kriegsgerät mit großem Aufwand vorbereitet worden sind, dass ein Krieg droht. Und niemals sehen wir solche Bewegungen geschehen, ohne dass die Grenznachbarn dazu aufgeschreckt werden, für ihre Sicherheit zu sorgen. 7) Wenn wir aber all dieser Hilfsmittel entblößt sind, müssen wir uns darauf beschränken, uns an die Ähnlichkeit der Sachlage und die zeitliche Ordnung zu halten, das heißt: wenn wir erfahren haben, dass die meisten, die in einen bestimmten Stand der Dinge versetzt waren, dies oder jenes getan haben, dann, sobald wir sehen, dass auch andere in diesen Stand versetzt sind, dasselbe von ihnen erwarten. § 11. Was bisher gesagt worden ist, das gehört zu den menschlichen Handlungen, insofern diese darin bestehen, Entschlüsse zu fassen und die Geisteskraft auf irgendeine Sache zu
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iicienda continentur. Quatenus autem actionum nomine complectimur simul ea quae agendo efficiuntur: tum quia non sufficit conatus ille & contentio animi, in qua sola proprie est actio animi, sed debent etiam & vires rei praestandae pares, & actio libera esse ab impedimentis, efficitur, ad euentum quendam praeuidendum & 1) hominis vires atque ad res gerendas parata subsidia, & 2) caussas externas ad actionem concurrentes cognosci oportere. Vbi caetera paria sunt, ab eo res gerentur felicissime, primum qui maiorem & consilii constantiam & subsidiorum ac remediorum copiam, & animi dexteritatem & corporis habilitatem, & exercitationis vsum habebit; deinde cuius consilio eae caussae quae non sunt in ipsius potestate positae, sed in rerum circumiectarum (quas vulgo fortunae nomine comprehendimus) congerie dispersae, quasi consentiunt. Quia itaque in omni euentu est actio quaedam cum effectu coniuncta: cernitur, quam arduum sit, quantique laboris, vel vnum euentum certo prospicere. Illa igitur solertia ingenii quae homines efficit πραγματικοὺϛ, h. e. ad negotia obeunda aptos, quia maxime in eo cernitur, si quis res euentusque futuros animo praecipere, ingruentibusque malis iam antea possit resistere, haec, inquam, ingenii solertia pendet ex animi quadam facultate res & numero multas & genere varias quasi vno intuitu comprehendendi; caussarum inter se implicitarum totum nexum perspiciendi; quantum singula ad rem efficiendam conferant, sensu magis quodam quam ratiocinando, intelligendi; & sine clara conscientia rationum, quae possint rei futurae certam fidem facere, tamen cum summa persuasione id quod illis rationibus efficitur, apprehendendi. Ingenii hominis tantam rerum & multitudinem & varietatem complectentis, vestigia sequi, rationes eas quas ille inscius est secutus eruere ac proponere, & illam quasi lucem, quae eius animo subita & simplex affulsit, in eos ex quibus composita est, radios debiliores resoluere, id vero posset ad doctrinam probabilium plurimum conferre, Philosophique munus esset historiarum monumenta legentis.
21 comprehendendi;] comprehendi; G 22 perspiciendi;] perspiciendi, G
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richten. Insofern wir aber mit dem Namen der Handlungen zugleich das umfassen, was durch das Tun bewirkt wird, ergibt sich – weil jene Absicht und jene Anspannung des Geistes, worin allein eigentlich die Handlung des Geistes besteht,26 nicht ausreicht, sondern auch zum einen die Kräfte für die zu leistende Sache angemessen sein müssen, zum anderen die Handlung frei von Hindernissen –, dass man, um ein bestimmtes Ereignis vorauszusehen, sowohl 1) die Kräfte des Menschen und die zum Ausführen der Dinge besorgten Hilfsmittel, als auch 2) die äußeren Ursachen, die zur Handlung zusammenkommen, erkennen muss. Wo das Übrige gleich ist, werden die Dinge auf das Glücklichste von demjenigen ausgeführt, bei dem erstens die Beständigkeit des Entschlusses, die Menge an Hilfs- und Heilmitteln, die Gewandtheit des Geistes, die Geschicklichkeit des Körpers sowie die gewohnheitsmäßige Übung größer sind, sodann, zu dessen Entschluss jene Ursachen, die nicht in seine Macht gestellt, sondern in die Reihe der umgebenden Dinge (die wir gemeinhin mit dem Namen des Glücks umfassen) zerstreut sind, gleichsam ihre Zustimmung geben. Weil deshalb in jedem Ereignis eine bestimmte Handlung mit einer Wirkung verbunden ist, so erkennt man, wie schwer und mühevoll es ist, auch nur ein einziges Ereignis mit Gewissheit vorauszusehen. Jene der geistigen Begabung zukommende Geschicklichkeit also, welche die Menschen zu pragmatikoí macht, d. h. geeignet, ihre Geschäfte anzugehen – denn sie ist am ehesten darin zu erkennen, wenn jemand die künftigen Dinge und Ereignisse mit dem Geist im Voraus erfassen und den hereinbrechenden Übeln schon vorher Widerstand entgegensetzen kann –, diese Geschicklichkeit der geistigen Begabung, sage ich, hängt von einem bestimmten Vermögen des Geistes ab, an Anzahl viele und zugleich nach der Gattung unterschiedliche Dinge gleichsam in einem einzigen Anblick zu umfassen; den ganzen Zusammenhang der miteinander verwickelten Ursachen zu durchschauen; wieviel die einzelnen Faktoren beitragen, um die Sache hervorzubringen, mehr durch einen bestimmten Sinn als durch Vernunftschluss einzusehen; und ohne klares Bewusstsein von den Gründen, die einen sicheren Glauben betreffs der künftigen Sache bewirken können, dennoch mit höchster Überzeugung das, was durch jene Gründe bewirkt wird, aufzufassen.27 Den Spuren der geistigen Begabung, mit der ein Mensch eine so große Vielheit und Verschiedenheit von Dingen umfasst, zu folgen, jene Gründe, denen er unbewusst gefolgt ist, aufzudecken und vorzulegen, und jenes, um mich so auszudrücken, Licht, das plötzlich und einfach seinem Geist aufleuchtete, in die schwächeren Strahlen aufzulösen, aus denen es zusammengesetzt ist, das könnte wahrhaft sehr viel zur Lehre vom Wahrscheinlichen beitragen und wäre die Aufgabe eines Philosophen, der die geschichtlichen Denkmäler liest.
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§. XII. [21]
Est autem, vbi caussas illas non experiundo, sed coniiciendo cognoscamus, easque adesse suspicemur ex illo quem in naturae effectionibus obseruauimus ordine. Hoc probabilitatis genus, quia calculum & numeros admittit, habuitque multos qui in ipso ornando laborauerint egregios viros, maxime est illustratum. Est autem haec eius rei ratio. Quia omnium quae fiunt caussas quasdam esse existimamus: eorum euentorum quae aliis frequentius redeunt, caussae vel plures debent adesse, vel saepius eaedem in vnum conuenire. Vbi itaque certam rerum quarundam & constantem conuersionem videmus, euentis iisdem quasi in orbem redeuntibus: colligi debet, caussas esse plures, ex quarum singulis oriri possint. At quia quo plures sunt rei caussae, eo in posterum crebrius euentura est: ideo solemus ex numero casuum, in quibus res aliqua antea exstitit, rationem subducere probabilitatis eiusdem etiam in posterum euenturae. Quorum casuum numerus auctus, quia caussarum maiorem copiam arguit, debet etiam probabilitatem augere. Atque his argumentis nititur illud, quod Bernovllivs rationibus Mathematicis confirmat, calculorum nigrorum ad albos in vrna conditorum eandem fore rationem, quae deprehensa sit inter extractos, (vbi eorum, qui diuersis tentaminibus tum albi tum nigri extracti sunt, vel numerus vtrinque additur, vel medius quidam inuenitur) horumque numeri perpetuo incremento probabilitatem augeri, & tandem omnem assignabilem gradum superare. §. XIII. Potest nonnunquam fieri, vt etiam inde quod intelligimus, non quae caussae adsint vimque ad agendum paratam habeant, sed quae ad rem efficiendam requirantur, metiamur euentus probabilitatem. Itaque cum rem eiusmodi esse perspicimus, vt nisi e multarum caussarum communiter agentium concursu oriri non possit, quarum legitimus sit & consentaneus ad idem efficiendum agendi
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§ 12. Es kommt aber vor, dass wir jene Ursachen nicht durch Erfahrung, sondern durch Vermutung erkennen28 und den Verdacht, dass sie vorhanden seien, aus der Ordnung schöpfen, die wir in den Wirkungen der Natur beobachtet haben. Diese Gattung der Wahrscheinlichkeit ist, weil sie Rechnung und Zahlen zulässt und es viele herausragende Männer gegeben hat, die an ihrer Ausschmückung arbeiteten, am meisten ausgeleuchtet worden. Der Grund davon ist aber folgender. Weil wir denken, dass es von allem, was geschieht, bestimmte Ursachen gibt, müssen für diejenigen Ereignisse, die öfter als andere wiederkehren, entweder mehr Ursachen vorhanden sein oder dieselben Ursachen öfter zu einer Wirkung übereinkommen. Sobald wir deshalb einen sicheren und beständigen Umlauf bestimmter Dinge sehen, indem dieselben Ereignisse gleichsam im Kreis wiederkommen, muss man daraus entnehmen, dass es mehrere Ursachen gibt, von denen jede einzelne dazu geeignet ist, dass aus ihr jene Dinge entstehen. Weil aber, je mehr Ursachen es von einer Sache gibt, sie desto häufiger künftig geschehen wird, deshalb pflegen wir aus der Anzahl der Fälle, in denen eine Sache zuvor aufgetreten ist, das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit abzuleiten, dass dieselbe Sache sich auch künftig ereignen wird. Wenn die Anzahl dieser Fälle zunimmt, muss, weil das auf eine größere Menge von Ursachen schließen lässt, dadurch auch die Wahrscheinlichkeit zunehmen. Und auf diese Argumente stützt sich das, was Bernoulli durch mathematische Gründe bekräftigt: dass die schwarzen in einer Urne untergebrachten Steinchen zu den weißen dasselbe Verhältnis haben werden, wie es unter den herausgezogenen festgestellt worden ist (wenn die Anzahl sowohl der weißen als auch der schwarzen Steine, die bei den verschiedenen Versuchen herausgezogen wurden, auf beiden Seiten addiert oder eine bestimmte mittlere Anzahl gefunden wird), und dass durch das fortwährende Wachsen der Anzahl der herausgezogenen Steinchen die Wahrscheinlichkeit zunimmt und schließlich jeden Grad, der sich anzeigen ließe, übersteigt.29 § 13. Es kann manchmal geschehen, dass wir auch von daher, dass wir einsehen, nicht welche Ursachen vorhanden und mit ihrer Kraft bereit sind, tätig zu sein, sondern, welche benötigt werden, um die Sache zu bewirken, die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses messen. Wenn wir deshalb durchschauen, dass die Sache solcherart ist, dass sie nur durch die Zusammenkunft vieler gemeinsam tätiger Ursachen entstehen kann, deren Tätigkeitsweise gesetzmäßig und zusammenstimmend dazu ist, dasselbe zu bewirken,
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modus: tum eo minus est probabile, eam rem vnquam posse accidere, quo caussae illae vel rariores sunt, vel difficilius inter se conueniunt. Praeuisuro enim, rem eiusmodi fieri posse, debet cognitum esse, primum, vnamquamque earum caussarum adesse; deinde omnes eodem tempore in eundem locum confluere; tertio, singulas earum legitimo ordine actiones inter se conferre & miscere. Ex quo efficitur, quia in singulis horum argumentorum difficillime assequimur aliquem probabilitatis gradum, in vniuersis simul neminem posse ad probabilitatem euadere. Quo plures itaque caussae, quarum nulla ex alia pendet, sunt ad rem quandam efficiendam necessariae, & quo plus in effectu est, quod pendeat a certo quodam communibus legibus adstricto agendi ordine, earundemque semper actionum post paria interualla recursione: eo minus est probabile eam rem posse ab iis caussis sponte agentibus proficisci, nisi sit auctor quidam intelligens, qui eas in vnum locum cogat, & ex praescriptis legibus ad propositum assequendum adhibeat. Sic, quam parum vel vnius corporis organici ortus ex atomorum fortuito concursu sit probabilis, Hvtchensonivs ex his rationibus demonstrauit. Postremo, quia, vt supra diximus est aliquod argumentum probabilitatis in congruentia rei cum caeteris quae simul sunt aut fuerunt: sequitur, quo plures sint rerum existentium series, in quibus euentus aliquis possit reliquis non sublatis locum inuenire, eo magis augeri istam probabilitatem. Quodsi eas series in quibus res illa potest consistere, casus, vt vulgo fit, appellamus: euentus cuiusdam futuri probabilitas aestimabitur e numero casuum in quibus ille locum habere potest. Quare quo maior casuum numerus est, in quibus aliquid potest euenire, eo magis id euenturum esse credibile est. Et vbi nullus casus est, in quo res quaedam non possit contingere, quia eo ipso certissime futura est: debet rursus probabilitatis ad certitudinem ratio aestimari ex casuum in quibus aliquis euentus locum habeat, ad casus vniuersos ratione.
20 Postremo,] 3. Postremo, G
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dann ist umso weniger wahrscheinlich, diese Sache könne irgendwann eintreten, je seltener entweder jene Ursachen sind oder je schwieriger es ist, dass sie miteinander übereinkommen. Wer nämlich vorhersehen soll, eine derartige Sache könne geschehen, der muss erstens erkannt haben, dass eine jede von diesen Ursachen vorhanden ist, dann, dass alle zur selben Zeit am selben Ort zusammenfließen, und drittens, dass die einzelnen Ursachen in gesetzmäßiger Ordnung ihre Tätigkeiten untereinander austauschen und mischen. Daraus ergibt sich, dass, weil wir bei jedem einzelnen dieser Argumente sehr schwer einen Grad von Wahrscheinlichkeit erreichen, in allen zugleich niemand zur Wahrscheinlichkeit durchdringen kann. Je mehr Ursachen, deren keine von einer anderen abhängt, notwendig sind, um eine bestimmte Sache zu bewirken, und je mehr in der Wirkung etwas ist, das von einer sicheren, an gemeine Gesetze gebundenen Ordnung der Tätigkeit und davon, dass immer dieselben Tätigkeiten nach gleichen Pausen wiederkehren, abhängt, desto weniger wahrscheinlich ist es deshalb, dass diese Sache aus diesen Ursachen, wenn sie aus eigenem Antrieb tätig werden, hervorgehen kann, wenn es nicht einen bestimmten einsichtigen Urheber gibt, der sie an einen Ort zwingt und sie nach den vorgeschriebenen Gesetzen dazu anwendet, den Vorsatz durchzuführen. So hat, wie wenig wahrscheinlich es ist, dass auch nur ein einziger organischer Körper aus dem zufälligen Zusammentreffen der Atome entstehe, Hutcheson aus diesen Gründen hinreichend bewiesen.30 Endlich31 folgt, weil, wie oben gesagt worden ist,32 ein Argument für Wahrscheinlichkeit in der Übereinstimmung der Sache mit dem Übrigen liegt, was zugleich ist oder gewesen ist, dass, je mehr Reihen von existierenden Dingen es gibt, in denen ein Ereignis Platz finden kann, ohne dass die übrigen aufgehoben werden, desto mehr die besagte Wahrscheinlichkeit zunimmt. Wenn wir aber diese Reihen, in denen sich jene Sache einstellen kann, nach dem gemeinen Sprachgebrauch ›Fälle‹ nennen, so wird die Wahrscheinlichkeit eines jeden künftigen Ereignisses nach der Anzahl der Fälle abgeschätzt, in denen es Platz haben kann. Je größer deshalb die Anzahl der Fälle ist, in denen etwas sich ereignen kann, umso mehr ist glaubhaft, dass es sich ereignen werde. Und weil, wenn es keinen Fall gibt, in dem eine bestimmte Sache nicht eintreten kann, sie eben darum auf das Sicherste zu erwarten ist, so muss wiederum das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit aus dem Verhältnis abgeschätzt werden, in dem die Fälle, in denen irgendein Ereignis Platz hat, zu sämtlichen Fällen steht.
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§. XIV. Quam probabilitatem antea inuestigauimus, rebus ad antegressas caussas relatis, eam nunc rebus ad effecta relatis inuestigabimus. 1) Si quid, quod esse ponebatur, vi sua res alias, quae esse aliunde scimus, aut destructurum, aut impediturum est: id intelligitur esse omnino reiiciendum. Contra si quid est eiusmodi, vt nulli rei quam esse constat, impedimentum afferat, id magis est probabile. 2) Quodsi e re quadam cuius existentia sumitur potest ortus & nascendi modus aliarum rerum experientia compertarum explicari, seu quia ipsa tanquam caussa has effecit, seu quia finis fuit, qui nisi interuenientibus illis teneri non potuit: probabilius est illam rem esse quam non esse. Ita in iudicanda narrationum veritate debet hoc spectari, an euentus in se caussas quasdam contineat, ex quibus consequentium euentorum ratio reddi posset. Quodsi ita esse comperimus, caetera eius rei veritatis argumenta magis firmantur. 3) Si denique res quaedam, quas euenisse extra dubitationem est, sint eiusmodi, vt non potuerint nisi ex certis quibusdam caussis, iisque solis, oriri: tum quam certum est eas res euenisse, tam certum est & eas affuisse quae illarum efficiendarum caussae solae fuerunt. Potest autem hoc vsu venire dupliciter. Nam aut singula euentus momenta etiam separata inter se, aut modo vniuersa coniuncta & copulata non possunt aliunde quam ex istis ipsis caussis oriri. Quorum posterius fit, si positis singulis singulorum momentorum caussis diuersis, aliae impediunt, quod ab aliis effectum videmus.
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§. XV. Potest denique ipsa legum & officiorum ratio ad rem nobis aliquam probandam valere. Quemadmodum enim voluntas pendet ex
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§ 14. Zuvor haben wir die Wahrscheinlichkeit untersucht, indem wir die Dinge auf die ihnen vorausgehenden Ursachen bezogen haben; jetzt werden wir sie untersuchen, indem wir die Dinge auf ihre Wirkungen beziehen. 1) Wenn etwas unter der Annahme, es sei vorhanden, durch seine Kraft andere Dinge, von denen wir anderswoher wissen, dass sie vorhanden sind, entweder zerstören oder verhindern würde, so ist einsichtig, dass man es gänzlich zurückweisen muss. Wenn hingegen etwas von der Art ist, dass es zu keiner Sache, von der feststeht, dass sie vorhanden ist, ein Hindernis beibringt, so ist es eher wahrscheinlich. 2) Wenn aber aus einer bestimmten Sache, deren Existenz angenommen wird, die Entstehung und die Art und Weise des Zur-Welt-Kommens anderer Dinge, die wir durch Erfahrung kennen, erklärt werden kann, entweder weil sie selbst als Ursache jene Dinge bewirkt hat, oder weil sie das Ziel war, das ohne jene Dinge als Zwischenglieder nicht hätte erreicht werden können, so ist wahrscheinlicher, dass jene Sache vorhanden ist, als dass sie es nicht ist. So muss bei der Beurteilung der Wahrheit von Erzählungen darauf geachtet werden, ob ein Ereignis in sich bestimmte Ursachen enthält, aus denen man über die nachfolgenden Ereignisse Rechenschaft geben könnte. Wenn wir aber erfahren, dass es so ist, bekommen die übrigen Argumente für die Wahrheit jener Sache mehr Gewicht. 3) Wenn endlich bestimmte Dinge, bei denen kein Zweifel besteht, dass sie sich ereignet haben, von der Art sind, dass sie nur aus bestimmten Ursachen, und aus ihnen allein, entstehen konnten, dann ist so gewiss, wie es ist, dass jene Dinge sich ereignet haben, so gewiss auch, dass diejenigen vorhanden waren, die allein die Ursachen für jene zu bewirkenden Dinge waren. Das aber kommt auf zweierlei Weise vor. Entweder nämlich können die einzelnen Bewegungskräfte, auf die das Ereignis zurückgeht, auch voneinander getrennt, oder nur alle zusammen im Verbund nicht anderswoher als aus eben jenen Ursachen entstehen. Das letztere davon tritt auf, wenn wir die verschiedenen Ursachen der einzelnen Bewegungskräfte einzeln gesetzt sein lassen und dann die einen Ursachen dasjenige behindern, wovon wir sehen, dass die anderen es bewirken. § 15. Schließlich kann auch der bloße Umstand, dass es um Gesetze und Pflichten geht, uns dazu dienen, eine bestimmte Sache zu beweisen. So wie nämlich der Wille vom
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intelligendi facultate, neque quisquam potest ad vllam rem agendam impelli, nisi cogitatis antea rationibus boni malique: ita est etiam quaedam voluntatis in intellectum quasi retroactio, concipiendique ac iudicandi modus plurimum conformatur propensionibus illis animi & auersionibus quae maxime dominantur. Hinc videmus posse etiam earum legum, quae proprie sunt datae ad voluntatem dirigendam, appetitusque moderandos, imperium esse quoddam in iudicia & opiniones; vtque ii qui sunt magna aliqua cupiditate commoti, ea facillime credunt, quae spem afferant eius quod concupierunt, assequendi: ita nec alienum esse, recta & legibus consentanea studia, nobis de veritate aut probabilitate earum rerum persuadere, sine quibus leges illae obseruari non possent. Tenendum autem est, rei alicuius cum legum praeceptis conuenientiam satis non esse, vt rem esse sumi possit; sin ad alia probabilitatis argumenta accedat, ista vehementer corrobari. Potest scilicet officii nostri ratio exigere, vt, in quo alioquin iudicium sustinere oportuisset, in eo probabilitatis gradu acquiescamus. Itaque si id ipsum, esse aliquid officii nostri, tantum potest probabiliter demonstrari, nihilominus pro officio est habendum, propterea quod in omni re in qua sustinendi iudicii nobis non est facultas, id debemus eligere, quod si falsum esset detrimenti minimum, si verum, pro falso a nobis habitum cladem maximam posset afferre. Vtque vno verbo complectamur, omnis enunciatio, quae actionis cuiusdam ad leges praecipit relationem, eo ipso quod pertinet ad partes officiorum, habet plus probabilitatis.
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§. XVI. Parte generaliori absoluta, pergimus ad singula probabilium genera §o. secunda enumerata, inter quae primum locum obtinet probabilitas visorum. Fere cum ipso philosophiae nomine ortae sunt illae quaestiones, quae deinde per omnes eius aetates ac vicissitudines propagatae etiam nostra tempora attigerunt: vtrum aliquid
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Einsichtsvermögen abhängt und niemand dem Antrieb unterliegen kann, irgendeine Sache zu tun, wenn er nicht zuvor die Gründe für Gut und Schlecht bedacht hat, so gibt es auch eine bestimmte, um es so auszudrücken, Rückwirkung des Willens auf den Intellekt, und die Art und Weise des Erfassens und Urteilens wird sehr stark jenen Neigungen und Abneigungen des Geistes nachgeformt, die am meisten die Oberhand haben. Daher sehen wir, dass auch die Gesetze, die eigentlich dazu gegeben worden sind, den Willen zu lenken und die Bestrebungskräfte zu mäßigen, eine bestimmte Befehlsgewalt über die Urteile und Meinungen haben können; und dass, so wie diejenigen, die von irgendeiner großen Begierde bewegt werden, sehr leicht das glauben, was ihnen Hoffnung macht, das zu erreichen, was sie begehren, so es auch nicht befremdlich ist, dass die rechten und mit den Gesetzen übereinstimmenden Bestrebungen uns von der Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit derjenigen Dinge überzeugen, ohne die jene Gesetze nicht beobachtet werden könnten. Festzuhalten aber ist, dass die Übereinkunft einer Sache mit den Vorschriften der Gesetze nicht dazu hinreicht, annehmen zu können, dass die Sache vorhanden ist; dass diese Übereinkunft aber, wenn sie zu anderen die Wahrscheinlichkeit stützenden Argumenten hinzukommt, diese mächtig stärkt. Der Umstand nämlich, dass es um unsere Pflicht geht, kann verlangen, dass wir uns bei einem Grad von Wahrscheinlichkeit, bei dem wir uns anderwärts des Urteils enthalten müssten, beruhigen. Wenn deshalb eben das, dass etwas unsere Pflicht sei, nur mit Wahrscheinlichkeit bewiesen werden kann, müssen wir es nichtsdestoweniger als unsere Pflicht anerkennen, und zwar deshalb, weil wir bei jeder Sache, bei der uns die Möglichkeit, uns des Urteils zu enthalten, nicht offen steht, dasjenige wählen müssen, was, wäre es falsch, nur sehr geringen Schaden, wäre es aber wahr, dadurch, dass wir es für falsch hielten, uns eine sehr große Niederlage bereiten könnte. Um es mit einem Wort zu sagen: Jede Aussage, die den Bezug einer bestimmten Handlung auf die Gesetze vorschreibt, hat eben dadurch, dass sie zum Gebiet der Pflichten gehört, mehr Wahrscheinlichkeit. § 16. Nachdem wir den allgemeineren Teil abgeschlossen haben, kommen wir zu den einzelnen Gattungen des Wahrscheinlichen, die in § 2 aufgezählt wurden. Die erste Stelle unter ihnen hat die Wahrscheinlichkeit der sinnlichen Erscheinungen inne. Beinahe mit dem Namen der Philosophie selbst sind jene Fragen entstanden, die dann durch all ihre Epochen und Wechselfälle fortgezeugt wurden und auch bis in unsere Zeiten gelangt sind: Ob etwas
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sit in rebus humanis quod percipi possit, aut certe cognosci. Quoniam autem vniuersae humanae scientiae materiem & basin esse sensuum visa intelligerent: quaestio ista mox rediit ad hanc alteram, quanta sit in sensibus veritas, & an nos decipi a sensibus possimus. Quam quidem quaestionem inter omnes Philosophorum familias & studiosissime tractarunt, & nobilissimam doctrinarum suarum partem fecerunt Academici & Stoici. Conuenit, antequam ipsi eam quaestionem tractandam ingrediamur, celeberrimae illius de ἀκαταληψίᾳ controuersiae rationes exigere. Socrates, qui doctrinae initium a conuincendis erroribus facere solebat; qui vniuersam fere docendi methodum ad Sophistarum argutias & loquacitatem confutandam accommodabat; qui sapientiam suam aiebat omnem esse in ignorantiae conscientia sitam; qui denique, si ex dialogis a Platone relictis iudicium ferendum sit, magis opinionum vanitates demoliebatur & destruebat, quam veritatis firma fundamenta iaciebat: Socrates, inquam, sparsit sine dubio prima doctrinae Academicorum de incomprehensibilibus semina. Cuius rei Ciceronem in primo Academicorum libro testem habemus. Plato in eo dialogo, quem Theaetetum inscripsit, cum Socrati, quid scientia esset, inquirenti Theaetetvs eam in sensu positam esse dixisset, inducit Socratem proferentem, confirmantem deinde, & denique conuincentem Protagorae de ea re sententiam. Quae nos sentiremus, negabat Protagoras esse res nobis circumiectas, quibus sensuum instrumenta impellerentur, sed sensum esse aliquid, quod ex concursione & quasi concussu rerum extra nos positarum & instrumentorum sensus, eo ipso temporis momento quo vtraque concurrerent, oriretur. Hinc fieri, vt visa (h. e. imagines rerum per sensum in animo effictae) non solum rerum sensarum quae in illo concursu agerent, sed etiam nostri ipsorum qui eam actionem reciperemus, mutatione variarentur. Ideoque dor-
17 Ciceronem] Ciceronem G 20 Theaetetvs] Theaetetus G
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im Bereich des Menschen liege, das man erfassen oder gewiss erkennen könne. Da man aber einsah, dass für die gesamte menschliche Wissenschaft der Stoff und die Grundlage das ist, was durch die Sinne gesehen wird,33 lief jene Frage bald auf jene andere zurück: Wieviel Wahrheit in den Sinnen ist, und ob wir von den Sinnen getäuscht werden können. Diese Frage haben unter allen Familien der Philosophen am eifrigsten die Akademiker und die Stoiker behandelt und sie zum vornehmsten Teil ihrer Lehren gemacht. Bevor wir selbst damit beginnen, diese Frage zu behandeln, ist es angebracht, die Gründe jener hochberühmten Auseinandersetzung über die akatalepsía aufzustellen.34 Sokrates, der die Lehre mit der Widerlegung der Irrtümer anzufangen pflegte;35 der fast die ganze Methode darauf ausrichtete, die Spitzfindigkeiten und die Schwatzhaftigkeit der Sophisten abzuweisen; der sagte, seine eigene Weisheit liege im Bewusstsein seiner Unwissenheit;36 der schließlich, wenn wir nach den von Platon hinterlassenen Dialogen urteilen dürfen, mehr die Nichtigkeiten der Meinungen abbaute und zerstörte, als dass er starke Fundamente der Wahrheit legte37 – Sokrates also hat zweifellos die ersten Samen der Lehre der Akademiker vom Unbegreiflichen ausgestreut. Dafür haben wir Cicero im ersten Buch der Academica als Zeugen.38 In demjenigen Dialog, den er ›Theaitetos‹ betitelte, lässt Platon auf die Frage des Sokrates, was Wissen sei, den Theaitetos antworten, es liege im Wahrnehmungssinn; dann führt er Sokrates ins Treffen, wie er das Urteil des Protagoras über diese Sache zunächst vorträgt, dann bestärkt und schließlich widerlegt.39 Protagoras verneinte, dass das, was wir sinnlich wahrnehmen, die Dinge seien, die uns umgeben und auf die wir unsere Sinneswerkzeuge richten, sondern das Wahrgenommene sei etwas, was aus dem Zusammenkommen und gleichsam Zusammenstoß der außer uns liegenden Dinge und der Sinneswerkzeuge in eben dem Augenblick, in dem beides zusammenkomme, entstünde. Daher geschehe es, dass die Erscheinungen (d. h. die durch den Sinn in der Seele erstellten Bilder der Dinge) nicht nur durch die Wandlung der wahrgenommenen Dinge, die bei jenem Zusammenkommen wirkten, sondern auch durch die Wandlung unserer selbst, die wir diese Tätigkeit aufnähmen, verändert würde. Deshalb sei das, was den
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mientium & mente captorum & aegrotantium visa esse a visis caeterorum diuersa. Omnes sensus esse veros, quia semper exactissime respondeant illi effectui, qui ex rerum externarum impellentium & ex corporis impulsi conditione oriatur. Ita deliros non minus recte percipere sentiendo quam sanos, quia vtrorumque visa imagines sint mutationis in ipsis effectae a rebus externis pro corporis valetudine & pro animi ratione diuersae, erroremque omnem in eo esse, quod putemus res nos ipsas sentire posse, id quod longe secus sit. Quia itaque nullum veri falsique sit discrimen, ideo sapientiam a stultitia non in eo differre, quod alter vera sentiat, alter falsa; sed quod alterius sensa animum cum delectatione suauiter afficiant, alterius animo molesta sint & iniucunda; sapientiamque omnem positam esse in sententiarum non rectitudine, sed bonitate. Eum itaque esse sapientem qui, cum ex conditione corporis & animi pariter atque ex rebus externis visa pendere intelligat, se ita instituat, vt impressiones ex rerum sensibilium concursu & pulsu ortae voluptate ipsum delectent. Quae quidem argumenta etsi conuellit potius Socrates quam euellit: (nec mirum, quippe in quibus veri aliquid esse patebit ex iis, quae infra disputabimus) id tamen quod inde erat a Theaeteto conclusum, scientiam esse in sensu, refellit, docens, primum reliquas manere aliquas rerum notitias, etiam cessante rerum externarum in sensus incursione; deinde quanquam cuique organo sensorio sit sua propria a caeteris diuersa vis & natura, & alio modo afficiatur corpus in videndo, alio in audiendo &c.: tamen eas quae ex his sensibus in animo effingantur cogitationes, eiusdem omnes generis esse, nec eodem modo vnam ab altera, quo impressiones ex quibus natae sint, differre. Quibus ex rebus effici ait hoc, esse aliquam vim a sensibus diuersam, quae ab istis quasi nunciis allata colligat, ex iisque inter se comparatis notiones efficiat. Scientiam itaque esse in iis mentis operationibus, quae sunt a sensibus seiunctae, nec eorum auxilio indigent.
20 Theaeteto] Theaeteto G 23 a] e G : corr. Fülleborn 30 operationibus,] operationibus; G : corr. Fülleborn
25 quae] qua G : corr. Fülleborn
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Schlafenden und Geistesgestörten und Kranken erscheine, von dem, was den anderen erscheine, verschieden. Alle Sinneswahrnehmungen seien wahr, weil sie immer auf das Genaueste jener Wirkung entsprächen, die aus der Beschaffenheit der äußeren, den Anstoß ausübenden Dinge und aus derjenigen des angestoßenen Körpers entstehe. So nähmen die Verrückten nicht weniger richtig mit den Sinnen wahr als die Gesunden, weil das, was beide sehen, Bilder der verschiedenen Wandlung seien, die in ihnen durch die äußeren Dinge gemäß der Gesundheit des Körpers und der Verfassung der Seele bewirkt werde, und der Irrtum liege gänzlich darin, dass wir glaubten, die Dinge selbst sinnlich wahrnehmen zu können, was ganz und gar nicht so sei.40 Weil man deshalb Wahr und Falsch nicht unterscheiden könne, sei die Weisheit von der Dummheit nicht dadurch verschieden, dass der eine Wahres, der andere Falsches wahrnehme, sondern dass das von dem einen Wahrgenommene dem Geist auf angenehme Weise Freude bereite, das von dem anderen Wahrgenommene der Seele beschwerlich und unerfreulich sei; und die Weisheit liege ganz und gar nicht in der Richtigkeit der Urteile, sondern darin, dass sie gut seien. Deshalb sei derjenige weise, der, weil er einsehe, dass die sinnlichen Erscheinungen gleichermaßen von der Beschaffenheit von Körper und Seele wie von den äußeren Dingen abhingen, sich so einrichte, dass die Eindrücke, die aus dem Zusammenkommen und dem Schlag der wahrnehmbaren Dinge entstehen, ihn durch Lust erfreuten.41 Diese Argumente erschüttert Sokrates zwar eher als dass er sie entwurzelte (und das ist nicht verwunderlich, denn aus dem, was wir unten disputieren werden,42 wird sich klar ergeben, dass etwas Wahres daran ist), das aber, was Theaitetos daraus geschlossen hatte, nämlich dass das Wissen im Wahrnehmungssinn liege, widerlegt er, indem er lehrt, dass erstens einige Aufzeichnungen der Dinge zurückblieben, auch wenn das Einstürmen der äußeren Dinge auf die Sinne aufhöre; zweitens, dass, obwohl ein jedes Sinnesorgan seine eigene, von den übrigen verschiedene Kraft und Natur habe und der Körper auf eine Weise beim Sehen, auf eine andere beim Hören affiziert werde usw., dennoch die Gedanken, die aus diesen Sinnen in der Seele gebildet werden, alle von einer Gattung seien und nicht auf dieselbe Weise wie die Eindrücke, aus denen sie entstanden sind, der eine sich vom anderen unterscheide. Daraus gehe hervor, sagt er, dass es eine von den Sinnen verschiedene Kraft gebe, die das, was von jenen gleichsam als von Boten herangebracht werde, sammle und miteinander vergleiche und so die Ideen erzeuge. Das Wissen liege deshalb in diesen Tätigkeiten der Seele, die von den Sinnen getrennt sind und deren Hilfe nicht benötigen.43
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§. XVII. Platonis sententia ab eius successoribus eadem tradita est, vsque ad Arcesilam, quem Stoici proditorem philosophiae suae appellant, quemque apud Ciceronem Lvcvllvs ait obtrectantem Zenoni, dum huius definitiones labefactare velit, conatum esse clarissimis rebus tenebras inducere. Putant illum viri docti haud ita longe abfuisse a Scepticorum ratione. Difficillimum quidem certe est, Academiae mediae, quam Arcesilas condiderat, & nouae, cuius caput & princeps erat Carneades, quae propriae & non vtrique communes doctrinae fuerint exponere, nisi sumto hoc, remisisse aliquantulum ex illo Arcesilae rigore Carneadem, & probabilibus saltem locum reliquisse, quem ille abstulerat. Praeclare nobiscum actum esset, si integri ad nos peruenissent illi Ciceronis libri quos ab Academia inscripsit. Ex eorum reliquiis videor mihi Academicorum sententias has collegisse. Ἡ ἀκαταληψία est impossibilitas percipiendae, h. e. certe & euidenter cognoscendae visorum cum rebus ipsis conuenientiae. Negabant aliquid percipi posse, h. e. certo cognosci, essentne res externae tales, quales sensu cognosceremus. Atque vt aduersariorum occupent quasi argumenta & praecludant, negant, 1) se vt res incomprehensibiles esse credant, eodem quo Heraclitvs argumento adduci, qui in rebus ipsis nihil veri esse, nihil constans, nihil idem; sed omnia esse fluxa & motu perpetuo agitari statuisset: nam esse sane in rebus ipsis aliquam veritatem. 2) Quanquam visa nulla possint percipi, tamen aliqua visa vera esse, & res ipsas posse nonnunquam tales esse, quales se per sensum animo obtulissent. 3) De ista ipsa autem visorum veritate nos certos esse nunquam posse, propterea quod ab ea imagine, quae orta esset ex re quadam extra nos existente, non posset ipso interno sensu internosci
3 Arcesilam,] Arcesilam, G 14 Ciceronis] Ciceronis G
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§ 17. Die Lehre Platons ist von seinen Nachfolgern treu überliefert worden bis hin zu Arkesilas, den die Stoiker als Verräter an seiner Philosophie bezeichneten44 und von dem Lukullus bei Cicero sagt, dass er Zenon45 bekämpft und dessen Definitionen habe wanken machen wollen und so versucht habe, in die klarsten Dinge Dunkelheit zu bringen.46 Die Gelehrten glauben, er sei nicht allzu weit von der Doktrin der Skeptiker entfernt gewesen.47 Gewiss ist es sehr schwer, darzulegen, welche Lehren zum einen der Mittleren Akademie, die Arkesilas gegründet hatte, und zum anderen der Neuen, deren Haupt und Begründer Karneades war,48 jeweils eigentümlich und nicht der einen und der anderen gemein waren, wenn nicht unter der Annahme, dass Karneades ein wenig von jener Strenge des Arkesilas nachgelassen und dem Wahrscheinlichen zumindest einen Platz eingeräumt habe, während letzterer einen solchen Platz beseitigt hatte. Klarheit könnten wir uns verschaffen, wenn jene Bücher Ciceros, die er nach der Akademie benannte, vollständig auf uns gekommen wären. Aus ihren Fragmenten kann man, so scheint mir, die folgenden Lehrmeinungen der Akademiker entnehmen.49 50 Die akatalepsía ist die Unmöglichkeit, die Übereinkunft der sinnlichen Erscheinungen mit den Dingen selbst zu erfassen, d. h. mit Gewissheit und evident zu erkennen. Sie verneinten, etwas könne erfasst werden, d. h. es könne mit Gewissheit erkannt werden, ob die äußeren Dinge so beschaffen seien, wie wir sie mit dem Sinn erkennen. Und um gleichsam die Argumente der Gegner zu vereinnahmen und ihnen zuvorzukommen, verneinen sie 1), dass sie zu dem Glauben, die Dinge seien unerfassbar, durch dasselbe Argument gebracht würden wie Heraklit, der behauptet hatte, in den Dingen selbst sei nichts Wahres, nichts Beständiges, nichts Selbiges, sondern alles fließe und werde in beständiger Bewegung aufgerührt.51 Denn es sei sehr wohl in den Dingen selbst einige Wahrheit. 2) Obwohl keine sinnlichen Erscheinungen erfasst werden könnten, seien doch einige sinnliche Erscheinungen wahr, und die Dinge selbst könnten manchmal so beschaffen sein, wie sie durch den Wahrnehmungssinn dem Geist gegenüberträten. 3) Von eben dieser Wahrheit der sinnlichen Erscheinungen könnten wir aber keine Gewissheit haben, weil von demjenigen Bild, das von einer außerhalb unser bestehenden Sache entstanden wäre, der innere Sinn nicht dasjenige Bild unterscheiden könnte,
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ea imago, quae non esset ex re quadam tali extra nos existente profecta; nec eius sensus qui consentiat cum rei ipsius qualitate, proprium & peculiarem esse characterem, cuius beneficio visum, cui nulla res extra animum respondeat, agnoscere, atque adeo verum a falso discernere possimus. Ne itaque falsa colligerentur ex his principiis; neue ἀπραξίαν & ab omni actione suspensionem admittere viderentur, addebant alterum dogma de Probabilitate. Quanquam enim visum verum a falso negarent posse quodam diuerso sentiendi modo distingui, tamen & rerum circumstantium & aliorum visorum facta comparatione, posse aiebant probabile fieri, aliquod visum verum potius quam falsum esse. Atque haec probabilitatis momenta colligere ac ponderare, & actionem ad id in quo sit maxima vis probabilitatis, attemperare, id vero esse sapientis. Ea de caussa ἀκατάληπτον distinxerunt ab ἀδήλῳ, h. e. incomprehensibile ab incerto. Quorum alterum dicebant esse in omnibus visis, alterum in quibusdam. Quod quid aliud est, quam nullam esse imaginem sensu excitatam, cuius cum re vel conuenientiam vel discrepantiam ipse sentiendi modus declaret; multas autem esse, quarum veritas possit ex toto rerum statu, caeterisque partim antegressis, partim sequentibus visis ratiocinando colligi. Quin etiam probabiliora alia aliis esse dicebant, discernebantque inter φαντασίαν ἀπερίσπαστον, cuius nec ipsius ratio, nec cum caeteris visis coniunctio repugnet, & inter φαντασίαν ἐξωδευμένην, in qua non solum nulla sit visi neque secum neque cum caeteris repugnantia, sed in qua etiam rationem conuenientiae omnium visorum clare perspicere liceat. Atque ex his leges quaedam oriebantur, quas in ratiocinanda visorum probabilitate obseruandas ponebant, assignabantque quasi singulis grauitatis & ponderis rerum gradibus singulos probabilitatis gradus, in quibus posset sine temeritate acquiesci. Ex his omnibus natus est tertius locus de ἐποχῇ, seu de assensu in omni re sustinendo. Est autem hic consensus, quem Graeci appellant συγκατάθεσιν, rei perceptae agnitio. Vnde illum necessario tollebant,
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das nicht von einer solchen außerhalb unser bestehenden Sache hervorgegangen wäre; und derjenige Wahrnehmungssinn, der mit der Qualität der Sache selbst übereinstimmt, habe kein eigentümliches und besonderes Zeichen, mithilfe dessen wir die sinnliche Erscheinung, der keine Sache außerhalb des Geistes entspricht, erkennen und so Wahres von Falschem unterscheiden könnten. Damit deshalb nichts Falsches diesen Prinzipien entnommen würde, oder damit es nicht schiene, sie würden die apraxía und die Enthaltung von jeder Tätigkeit52 zugeben, fügten sie ein zweites Dogma hinzu:53 über die Wahrscheinlichkeit. Obwohl sie nämlich verneinten, dass man eine wahre sinnliche Erscheinung von einer falschen aufgrund einer verschiedenen Art des Wahrnehmens unterscheiden könne, behaupteten sie dennoch, dass durch Vergleich der Umstände und der sonstigen sinnlichen Erscheinungen wahrscheinlich werden könne, irgendeine sinnliche Erscheinung sei eher wahr als falsch. Und diese Momente der Wahrscheinlichkeit zusammenzubringen und zu gewichten, und die Tätigkeit demjenigen anzupassen, worin die höchste Kraft der Wahrscheinlichkeit liegt, das komme wahrhaft dem Weisen zu. Aus diesem Grund unterschieden sie das akatálepton vom ádelon, d. h. das Unerfassbare vom Ungewissen.54 Das eine davon, sagten sie, gebe es bei allen sinnlichen Erscheinungen, das andere bei einigen. Das heißt nichts anderes, als dass es kein vom Wahrnehmungssinn hervorgerufenes Bild gebe, dessen Übereinkunft mit oder Abweichung von der Sache durch die Wahrnehmungsweise selbst dargelegt würde, dass es aber viele solche Bilder gebe, deren Wahrheit aus dem ganzen Zustand der Dinge und den übrigen, teils vorausgegangenen, teils folgenden sinnlichen Erscheinungen durch Nachdenken entnommen werden könne. Ja sie sagten sogar, es gebe etwas, das wahrscheinlicher sei als anderes, und unterschieden zwischen der phantasía aperíspastos, bei deren eigenem Begriff es ebenso wenig einen Widerspruch gebe wie bei ihrer Verbindung mit den übrigen sinnlichen Erscheinungen, und der phantasía exodeuméne, in der es nicht nur keinen Widerstreit der sinnlichen Erscheinungen mit sich selbst oder mit den übrigen gebe, sondern in der sogar der Begriff der Übereinkunft aller sinnlichen Erscheinungen deutlich zu erblicken sei.55 Und daraus entstanden einige Gesetze, von denen sie festlegten, dass sie beim Berechnen der Wahrscheinlichkeit der sinnlichen Erscheinungen beobachtet werden müssten, und sie wiesen gleichsam den einzelnen Graden der Schwere und des Gewichts der Dinge einzelne Grade der Wahrscheinlichkeit zu, bei denen man sich, ohne leichtfertig zu sein, beruhigen könne. Aus all diesem ist das dritte Argumentationsschema56 hervorgegangen: von der epoché, oder von dem bei jeder Sache zu übenden Sich-der-ZustimmungEnthaltens. Diese Zustimmung aber, die von den Griechen ›synkatáthesis‹ genannt wird, ist die Anerkennung des erfassten Dinges. Diese ist daher notwendigerweise von denen aufgehoben worden,
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qui nihil percipi posse dicebant, quod inconsiderantiae ac temeritatis esset, ea tanquam certa apprehendere, quae tantummodo essent probabilia. — — Nisi quidam λογομαχίας amor inde ab vltimis Philosophiae temporibus viguisset: vix credibile est potuisse a Stoicis ex hoc de ἐποχῇ dogmate extorqueri omnium animi voluntatum & actionum cessationem. Nihil enim nisi quod a nobis perceptum sit, nos posse appetere, nunquam est ab ipsis demonstratum. Atque vt Plvtarchvs ait de Stoicorum ἐναντιώμασι, cupiditates mouentur non persuasionis firmitate, & sensorum veritate, sed voluptate illa qua est animus visorum impressione affectus; nec appetimus aliquid, quia id certe scimus tale esse quale animo concipimus, sed quia id putamus boni aliquid & iucundi habere. Non ita in finibus constituendis, capiendis consiliis exsequendisque Academicorum alia est ratio quam Stoicorum. Artes vtrique quaerent, praesidia parabunt, obstacula remouebunt. Sed Academici eadem omnia agentes, tamen rationes quae ipsos ad agendum impulerunt, non nisi probabiles sibi esse asseuerabunt, & in quibus rebus consilium non sustinuerunt, iudicium tamen sustinebunt.
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§. XVIII. Facilius nunc opposita Academicis Stoicorum ratio quae sit, intelligetur, quam a Zenone acceptam Chrysippvs contra impetum Academicorum maximopere communiuit, quanquam fuerunt, qui illum in argumentis aduersariorum colligendis quam conuincendis feliciorem fuisse dicerent. Visum siue φαντασία ex eorum sententia est quaedam animi mutatio seu πάθος, per quam & conceptum eius ipsius affectionis animi, & rei quae animum affecit, notitiam accipimus. Visa sunt καταληπτὰ ea, quae orta ex rei externae cuiusdam in organa sensus impulsione non solum conueniunt cum re ipsa eodem modo, quo cum re efficta effigies, aut imago cerae impressa cum exscalpta in sigillo, verum etiam habent in se aliquod discrimen internum, ita vt ipso sensu &
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die sagten, man könne nichts erfassen, weil es ja unbesonnen und leichtfertig sei, das als gewiss anzunehmen, was nur wahrscheinlich ist. – – Wenn nicht schon von den ersten Zeiten der Philosophie her eine gewisse Liebe zur logomachía57 im Schwange gewesen wäre, vermöchte man kaum zu glauben, dass von den Stoikern aus dieser Lehrmeinung von der epoché das Aufhören aller Willensakte und Tätigkeiten des Geistes herausgekitzelt werden konnte. Dass wir nämlich nichts erstreben könnten, was wir nicht erfasst hätten, ist niemals von ihnen bewiesen worden. Und wie Plutarch in der Schrift über die enantiómata der Stoiker sagt: Die Begierden werden nicht durch die Festigkeit der Überzeugung und die Wahrheit des Wahrgenommenen bewegt, sondern durch jene Lust, von der die Seele durch den Eindruck des Gesehenen affiziert wird; und wir erstreben etwas nicht, weil wir mit Sicherheit wissen, es sei so, wie wir es im Geist auffassen, sondern weil wir glauben, dass etwas Gutes und Angenehmes in ihm sei.58 Bei der Festsetzung der Ziele und beim Fassen und Ausführen der Entschlüsse ist das Vorgehen der Akademiker kein so sehr anderes als dasjenige der Stoiker. Beide Parteien werden nach Künsten Ausschau halten, sich Hilfsmittel verschaffen, Hindernisse aus dem Weg räumen. Aber die Akademiker werden, indem sie dasselbe tun, versichern, dass die Gründe, die sie zum Handeln antreiben, für sie nur wahrscheinlich sind, und werden bei den Dingen, bei denen sie sich nicht des Entschlusses enthalten haben, sich doch des Urteils enthalten. § 18. Leichter wird es nun sein, einzusehen, welches die den Akademikern entgegengesetzte Lehre der Stoiker ist. Chrysipp übernahm sie von Zenon und befestigte sie mit viel Mühe gegen den Angriff der Akademiker; gleichwohl gab es Leute, die sagten, er sei beim Sammeln der gegnerischen Argumente glücklicher gewesen als bei ihrer Widerlegung.59 Das Gesehene oder die phantasía ist nach ihrem Urteil eine bestimmte Wandlung oder ein páthos der Seele, worin wir sowohl den Begriff eben jener Affektion der Seele als auch die Anzeige des Dinges, das die Seele affiziert hat, beschlossen finden.60 Die sinnlichen Erscheinungen sind diejenigen kataleptá,61 die aus dem Anstoß, den ein äußeres Ding den Sinnesorganen gibt, entstehen, und die nicht nur mit der Sache selbst auf dieselbe Weise übereinkommen wie mit der Sache das nach ihr geschaffene Bildnis, oder das dem Wachs eingeprägte Bild mit dem Relief im Ring,62 sondern auch in sich einen inneren Unterschied haben, so dass durch den Sinn selbst und
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affectionis varietate possint a falsis distingui, seu vt quemadmodum Cicero ait, nullum tale sit visum a vero, vt eiusdem modi a falso possit esse. Ideae quae ex visis formatae animo, etiam cessante sensu retinentur ἔννοιαι, & formae & genera ex earum pluribus collecta, προλήψεις vocantur. Scientia est summa & certissima rerum ex argumentis cognitio, quae est immutabilis & aeterna. Haec de Stoicorum definitionibus. Transeamus ad eorum dogmata, quorum primum quasi principium, ad quod sustentandum caetera videntur paullatim ascita, est illud: nullum posse esse appetitum, qui non oriatur ex assensu. Ad quam doctrinam cum accederet illa altera, sapiente indignum esse assentiri iis quae non sint percepta, sequebatur, si nulla res possit percipi, nec assentiri vlli rei, nec appetere quidquam sapientem posse. Esse itaque omnino aiunt quaedam visa καταληπτὰ, siue comprehensibilia, quae quod veritatem suam sentiendi modo declarent, possint certo pro veris agnosci. Hinc etiam assensum sustinendum esse negant. Ex assensu, vbi sit visorum quaedam cum natura nostra conuenientia, oriri ὁρμὰς, siue propensiones animi & auersiones. Fastigium huius quasi aedificii esse illam, quae sit solius sapientis, scientiam, eamque solam ei qui ad ipsam peruenerit, ad bene beateque viuendum posse sufficere.
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§. XIX. Antequam discedamus a praeceptis & institutis veterum Philosophorum enarrandis, duorum adhuc virorum dignissima est doctrina quam commemoremus, qui a caeteris Philosophorum scholis non alia plerumque de caussa male sunt habiti, quam quia verum videbant, Aristippi scilicet, Cyrenaicorum principis, & qui eum in Physica & Dialectica secutus est, Epicvri.
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durch die Verschiedenartigkeit der Affektion sie von Falschem unterschieden werden können,63 oder so dass, wie Cicero sagt, keine sinnliche Erscheinung, die von etwas Wahrem ausgegangen ist, so beschaffen ist, dass sie auf dieselbe Weise von etwas Falschem her sein könnte.64 Die aus den sinnlichen Erscheinungen gebildeten Ideen, die im Geist, auch wenn der Sinneseindruck aufhört, zurückbleiben, werden ›énnoiai‹, und die Formen und Gattungen, die aus mehreren davon zusammengestellt werden, ›prolépseis‹ genannt. Wissen ist die höchste und sicherste Erkenntnis der Dinge aus Argumenten; sie ist unveränderlich und ewig. Soviel von den Definitionen der Stoiker. Gehen wir zu ihren Lehrmeinungen über! Sozusagen deren erstes Prinzip, zu dessen Stützung die anderen nach und nach hergeholt worden zu sein scheinen, ist folgendes: Es könne kein Bestreben geben, das nicht aus Zustimmung entstehe. Zu dieser Lehre trat jene zweite hinzu: Es sei des Weisen unwürdig, demjenigen zuzustimmen, was nicht erfasst sei. Und daraus folgte, dass, wenn keine Sache erfasst werden kann, der Weise weder irgendeiner Sache zustimmen noch irgendetwas erstreben könne. Deshalb seien, sagen sie, einige sinnliche Erscheinungen kataleptá, oder begreiflich; weil sie ihre Wahrheit durch die Weise des Wahrnehmens kundtäten, könnten sie mit Gewissheit als wahr anerkannt werden. Daher verneinen sie auch, dass man sich hier der Zustimmung enthalten müsse. Aus der Zustimmung entstünden, wenn es eine bestimmte Übereinkunft der sinnlichen Erscheinungen mit unserer Natur gebe, hormaí, oder Hin- und Abneigungen des Geistes. Gleichsam der First dieses Gebäudes sei jenes Wissen, das nur der Weise habe, und dieses allein könne demjenigen, der zu ihm gelangt ist, dazu genügen, gut und glücklich zu leben. § 19. Bevor wir aufhören, die Vorschriften und Einrichtungen der alten Philosophen darzulegen, gibt es da noch die Lehre zweier Männer, die höchst würdig ist, von uns erwähnt zu werden. Diese Männer sind von den übrigen Philosophenschulen meistens aus keinem anderen Grund für schlecht gehalten worden, als weil sie das Wahre sahen. Die Rede ist von Aristipp, dem Anführer der Kyrenaiker,65 und von Epikur,66 der ihm in der Naturphilosophie und der Dialektik gefolgt ist.
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Prior nos statuit sentiendo nihil aliud percipere nisi affectionem, quam res externa per sensuum instrumenta in animo effecisset. Itaque nihil hactenus certius esse cognitione ex sensibus orta, quia quo ipse modo affectus sit, & quae in ipsius animo contigisset mutatio nemo sui conscius posset ignorare. Quodsi de rerum quae animum isto modo affecissent, natura & conditione iudicium & sensibus esset ferendum, tum omnia fore incerta, nihil perceptum. Sic vtrum aliqua nunc in animo nostro facta sit impressio nec ne, eaque vtrum iucunda sit an molestia, id esse καταληπτόν; quidnam autem illud sit quod hunc voluptatis aut doloris sensum mouerit, quaeque rerum nos ita afficientium sit qualitas, id nos nisi coniectura assequi non posse. Eadem fere, quanquam a Veteribus paullo aliter nobis proposita, Epicvri sententia fuit. Narrant enim Epicvrvm negasse, sensum vnquam fallere posse, sed omnia visa vera esse. Quod alienissimum a ratione videri possit, nisi adiiceretur statim illud, esse ab Epicvro iudicium de rebus videndo audiendoue perceptis, ab ipso audiendi videndique sensu diligenter distinctum, veritatemque & certitudinem in sensu tantum positam. Nam etiam tum, cum videmus, quae aut non sunt, aut alio modo sunt quam quo videmus, tamen re vera inest in animo impressio & imago illarum rerum, eodemque modo ac si illae res essent, animus afficitur. Error autem est, quod solemus ex animi quacunque affectione statim concludere, eam rem quae nos alio tempore similiter affecit, etiam nunc adesse. §. XX. Atque haec Epicvri & Aristippi dogmata probantur etiam recentioribus philosophis, & a nobis tanquam principia sumentur, ex quibus de probabilitate sensuum disputabimus. Contigit nobis, qui in haec magnorum Philosophorum tempora incidimus, ea commoditas, vt nec exuuias corporum Epicvri & simulacra, totum mundum peragrantia & incurrentia in sensus, nec Peripateticorum emissos a sensibus ad res cognoscendas,
9 καταληπτόν;] κατάληπτον; G
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Der erstere behauptete, beim sinnlichen Wahrnehmen erfassten wir nichts als die Affektion, die die äußere Sache durch die Sinneswerkzeuge im Geist bewirkt hat. Deshalb könne es soweit nichts Gewisseres geben als die aus den Sinnen entstandene Erkenntnis, weil niemand, der sich seiner selbst bewusst ist, verkennen könne, auf welche Weise er affiziert worden und welche Veränderung in seinem Geist vorgegangen ist. Weil aber auch das Urteil über die Natur und den Zustand der Dinge, die den Geist auf diese Weise affiziert haben, den Sinnen übertragen werden müsse, werde dann alles ungewiss und nichts erfasst sein. So sei, ob in unserem Geist jetzt eine Affektion bewirkt worden sei oder nicht, und ob sie angenehm oder beschwerlich sei, kataleptón; was aber dasjenige sei, das diese Empfindung von Lust oder Schmerz in Bewegung gesetzt hat, und was die Qualität der uns so affizierenden Dinge sei, zu dem könnten wir nur durch Vermutung gelangen. Fast zu derselben Auffassung kam, obwohl sie uns von den Alten ein wenig anders vorgelegt worden ist, Epikur. Berichtet wird nämlich, Epikur habe verneint, dass der Sinn irgend fehlgehen könne, vielmehr seien alle sinnlichen Erscheinungen wahr. Das könnte ganz und gar vernunftwidrig scheinen, wenn nicht sofort hinzugefügt würde, dass Epikur das Urteil über die durch das Sehen oder Hören erfassten Dinge vom Gesichts- und Hörsinn sorgfältig unterschieden und die Wahrheit und Gewissheit nur in den Wahrnehmungssinn gesetzt habe. Denn auch dann, wenn wir Dinge sehen, die entweder nicht da sind oder auf eine andere Weise sind, als wie wir sie sehen, so ist doch in Wahrheit der Eindruck und das Bild jener Dinge im Geist, und auf dieselbe Weise, wie wenn jene Dinge da wären, wird der Geist affiziert. Der Irrtum aber besteht darin, dass wir aus irgendeiner Affektion des Geistes sofort schließen, diejenige Sache, die uns zu anderer Zeit auf ähnliche Weise affiziert hat, sei auch jetzt da.67 § 20. Und diese Lehrmeinungen Epikurs und Aristipps finden auch Beifall bei neueren Philosophen,68 und wir werden sie gleichsam als Prinzipien nehmen, von denen aus wir über die Wahrscheinlichkeit der Sinne disputieren werden. Es wird uns, die wir in diese Zeiten großer Philosophen hineingeraten sind, die Bequemlichkeit zuteil, dass wir es nicht nötig haben, die abgelegte Haut der Körper und ihre Bilder, die die ganze Welt durchstreifen und auf die Sinne eindringen – nach Epikur69 –, oder die von den Sinnen gleichsam zum Erkennen der Dinge ausgesandten Boten – nach den Peripatetikern70 –,
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quasi quosdam nuncios, nec Stoicorum spiritum ab ἡγεμονικῷ siue mente ad organa sensoria pertinentem, adoptare necesse habeamus. Satis exploratum enim est, in omni sensu fieri quandam sensus instrumentorum impulsionem a rebus corporeis, per eamque contrectationem effici quandam in iis mutationem, quae neruorum commeatu perferatur ad cerebrum, in quo tandem conuersione quadam vsque adhuc incomprehensa, ea affectio corporis, quae nihil erat nisi merus quidam motus, transeat in affectionem quandam animi, quae sit ipsa perceptio, seu repraesentatio rei sensum mouentis. Ex hac itaque rerum successione apparet, caussam quae nulla re interueniente progignit in animo eam perceptionem quam visum vocamus, esse cerebri aliquem motum; eius motus caussam esse nerui ad instrumentum sensus pertingentis concussionem; eius concussionis rursus caussam esse impulsionem organi sensorii: & hanc denique pendere a re externa in sensum agente. Quod itaque est in sensu certissimum, est imaginis in animo excitatae conscientia; minus certum, origo perceptionis ex cerebri quodam motu. Quanquam nec hoc videtur multum a certo abesse, tum quia imagines vel a phantasia in animum reuocatas, vel a nobis falso pro visis habitas, tamen coniunctas esse videmus cum quadam corporis affectione & earum partium motu, quae in sensu solent moueri; tum quia quotiescunque ipsi perceptionum quarundam claritatem & robur data opera augemus, (id quod fit attendendo) quo propius ad sensationum claritatem perceptiones istas euehemus, eo magis sanguinis, cerebri, omniumque corporis partium motum quendam sentimus. Potest itaque hoc pro explorato sumi, non posse vnquam vlli in animo perceptioni claritatem & robur esse visorum, quin simul sit cum ea aliquis cerebri & neruorum succi motus coniunctus. — — Magis impedita & difficilior est altera quaestio, quidnam sit illud, quo is motus excitetur. Quia enim experti scimus, primum eandem semper esse in animo perceptionem, cum idem est eiusdem modi & gradus in cerebro ac neruis motus; deinde posse eum motum etiam
1 ἡγεμονικῷ] ἡγέμονικῷ G
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oder die Geistseele, die sich vom hegemonikón oder Geist bis zu den Sinnesorganen erstreckt – nach den Stoikern71 –, zu akzeptieren. Es ist nämlich zur Genüge erforscht, dass es bei jedem Sinn einen bestimmten Anstoß gibt, der von den körperlichen Dingen auf die Sinneswerkzeuge ausgeht, und dass durch diese Berührung in den Sinneswerkzeugen eine bestimmte Veränderung bewirkt wird, die durch die Nerven zum Gehirn transportiert wird, wo schließlich durch eine bestimmte Umwandlung, die bislang unbegreiflich ist, diese Affektion des Körpers, die nichts war als eine bloße Bewegung, in eine bestimmte Affektion des Geistes übergeht, welche die Erfassung oder die Vergegenwärtigung des Dinges ist, das den Sinn bewegt.72 Aus dieser Abfolge der Dinge also ist klar, dass die Ursache, die, ohne Hinzutreten einer Sache, im Geist jene Vorstellung hervorbringt, die wir ›sinnliche Erscheinungen‹ nennen, irgendeine Bewegung des Gehirns ist; dass die Ursache dieser Bewegung die Erschütterung des bis zum Sinnesorgan reichenden Nervs ist; dass die Ursache dieser Erschütterung wiederum ein Anstoß des Sinnesorgans ist; und dass dieser endlich von dem äußerlichen Ding, das auf den Sinn wirkt, abhängt. Was also beim Wahrnehmungssinn das höchst Gewisse ist, ist das Bewusstsein des im Geist hervorgerufenen Bildes; weniger gewiss ist der Ursprung des Erfassens aus einer bestimmten Bewegung des Gehirns. Obwohl auch das nicht viel von der Gewissheit entfernt zu sein scheint, zum einen, weil wir sehen, dass die Bilder, die von der Phantasie in den Geist zurückgerufen oder von uns fälschlich für sinnliche Erscheinungen gehalten werden, doch mit einer bestimmten Affektion des Körpers und einer Bewegung derjenigen Teile, die bei der Sinneswahrnehmung bewegt zu werden pflegen, verbunden sind; zum anderen, weil, sooft wir selbst die Klarheit und Stärke bestimmter Vorstellungen zu vergrößern bemüht sind (was durch Aufmerksamkeit geschieht), wir, je näher wir jene Vorstellungen zur Klarheit der Empfindungen erheben, desto mehr eine bestimmte Bewegung des Blutes, des Gehirns und aller Körperteile fühlen. Deshalb darf es als erforscht gelten, dass es bei keinerlei im Geist auftretenden Vorstellung die Klarheit und Stärke von sinnlichen Erscheinungen geben kann, ohne dass zugleich irgendeine Bewegung des Gehirns und der Nervenflüssigkeit mit ihr verbunden wäre. – – Größere Hindernisse und Schwierigkeiten gibt es bei der anderen Frage, was das sei, wodurch jene Bewegung hervorgerufen wird. Weil wir nämlich durch Erfahrung wissen, dass erstens immer dieselbe Vorstellung im Geist ist, wenn im Gehirn und in den Nerven dieselbe Bewegung von derselben Art und demselben Grad stattfindet; dann, dass diese Bewegung auch
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caussa quadam interna, vt valetudine & infirmitate corporis, motu sanguinis perturbato, vehementiori animi commotione excitari: intelligitur, inquirenda esse signa, quibus factae in animo per cerebri motum impressiones a caussis internis, possint ab iis internosci quae a sensibus sunt profectae. — — Difficillimum explicatu postremum erat: quomodo ex contrectatione & pulsu instrumentorum sensus intelligat animus rerum externarum naturam & proprietates.
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§. XXI. I. Si itaque cum Epicvro sensus nos vnquam fallere negamus, ea est sententia nostra: si quam in neruis & cerebro mutationem apprehendimus, eam esse omnino. Ita miser ille, qui vinctus in carcere se regem esse, circumdatumque amicorum seruorumque turba putat, habet omnino eam in cerebro impressionem, quam rex celebritate illa praesenti esset habiturus. Quia itaque quod sentit animus, nihil proprie aliud est nisi illa ipsa cerebri mutatio, caeteraque omnia ratiocinando demum colliguntur: intelligitur, sensum quidem ipsum necessario certum, sed rei sensae cognitionem tantum probabilem esse. II. Potest tamen etiam in ista ratiocinatione versari animus sine magno errandi metu, nec potest saepe accidere, nec tum adeo diutius quam ad aliquod tempus, vt animus incertus fluctuet, vtrum impressionem a sensibus acceperit, an sibimet ipse obiecerit.
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§. XXII. Possunt autem leges, quas mens sequitur in distinguendis visis sensu oblatis, & a phantasia fictis, optime intelligi, si animaduertamus, quibus artibus mens species per somnium aut delirio oblatas a veris discernat; quia in his fere maximum errandi periculum est. 1) Primum itaque criterium, quo deprehenso mens perceptiones a sensibus ortas potest saepius agnoscere, est earum robur & insignis praeter caeteras claritas. Siquidem videmus etiam in somniis
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durch eine bestimmte innere Ursache hervorgerufen werden kann, wie etwa Gesundheit und Schwäche des Körpers, die gestörte Bewegung des Blutes, eine heftigere Erschütterung des Geistes; so ist einsichtig, dass man nach Zeichen suchen muss, mittels derer man die Eindrücke, die im Geist durch die Bewegung des Gehirns von inneren Ursachen erzeugt werden, von denjenigen unterscheiden könnte, die von den Sinnen ausgehen. – – Höchst schwierig zu erklären wäre schließlich, wie aus der Berührung und dem Anstoß der Sinneswerkzeuge der Geist die Natur und die Eigenschaften der äußeren Dinge erkennt. § 21. I. Wenn wir also mit Epikur verneinen, die Sinne würden uns irgend täuschen, lautet unsere Meinung wie folgt: Wenn wir in den Nerven und im Gehirn eine Veränderung bemerken, dann ist sie auf alle Weise da. So hat jener Elende, der gefesselt im Kerker liegt und glaubt, er sei ein König, umgeben von der Schar seiner Freunde und Diener, ganz und gar jenen Eindruck im Gehirn, den ein König hätte, wenn all diese Pracht gegenwärtig wäre. Weil deshalb, was der Geist empfindet, beinahe nichts anderes ist als jene Veränderung des Gehirns, und alles andere schließlich durch Nachdenken zusammengetragen wird, so ist einsichtig, dass zwar der Sinn selbst notwendigerweise gewiss, die Erkenntnis der sinnlich wahrgenommenen Sache aber nur wahrscheinlich ist. II. Dennoch kann der Geist sich auch in jenem Nachdenken ohne große Furcht vor Irrtum tummeln, und es kann nicht oft eintreten – und dann auch nicht länger als für eine kurze Zeit –, dass der Geist unsicher schwankt, ob er den Eindruck von den Sinnen empfangen oder sich ihn selbst aufgestellt hat. § 22. Es können aber die Gesetze, die der Geist befolgt, wenn er die sinnlichen Erscheinungen, die ihm durch den Sinn zugetragen, und diejenigen, die von der Phantasie erbildet werden, unterscheidet, am besten eingesehen werden, wenn wir darauf achten, mit welchen Künsten der Geist die Bilder, die ihm durch den Traum oder im Wahnsinn zugetragen werden, von den wahren unterscheidet. Hier besteht nämlich wohl die größte Gefahr zu irren. 1) Das erste Kriterium also, durch dessen Ergreifen der Geist des öfteren die von den Sinnen her entstandenen Vorstellungen erkennen kann, ist ihre Stärke und vor den anderen ausgezeichnete Klarheit. Wir sehen ja, dass auch in den Träumen
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esse nonnunquam aliquam licet surdam quasi & latentem falsitatis specierum oblatarum conscientiam, qua fit, vt vbi prima euigilantis animum per sensum immissa affecit perceptio, ea luce sua qua fulget, totum animum ita quasi collustret, vt priores illae imagines tanquam vmbrae euanescant, saepius etiam memoria earum deleatur. Eodem modo cernimus nonnunquam febri ardenti laborantes exprobrare quasi sibi insaniam, faterique circumstantibus amicis, errore quodam se decipi: nec nisi debilitas quaedam & languor ex corporis valetudine ortus impedit animum, quo minus possit eniti ad chaos illud & indigestam imaginum molem explicandam, distinguendumque quae visa sint sanguinis perturbato motu, quae sensibus excitata. 2) Accedit deinde etiam illud, maxime in delirio, quod quia sensuum instrumenta nihilominus patent incursionibus rerum corporearum, nec morbi vis potest earum impressiones animo prohibere, inde necesse est alias perceptiones nasci, quae parem ac species dementia ortae habeant claritatem. Vnde intelligitur, debere in animo deliri duas quasi series & successiones perceptionum, speciem visorum habentium, existere, quae cum inter se minime conueniant, animus necesse est inter vtramque seriem incertus fluctuet, nullo discrimine habens agnoscere, vtra sit vere sensorum. Quem quidem animi habitum optime puto illo Ennii versu descriptum:
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Cor non consentit cum oculis. Dormientis quidem quanquam sensus aliqui clausi intercipiant quasi rerum externarum ad animum aditum, tamen tactionis & auditus quia manet eadem quae fuit in vigilante a rebus externis impulsio, non possunt non & contrectatione & sono perceptiones in animo excitari, quae conturbent somnii veritatem. Suntque omnino tactio & auditus ea quae imaginibus per somnium se offerentibus originem dent, earumque successionem gubernent & regant, quae nisi crebra dis-
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manchmal ein, wenn auch gleichsam taubes und verstecktes, Bewusstsein von der Falschheit der zugetragenen Bilder vorhanden ist, wodurch es geschieht, dass, sobald die erste durch den Sinn in ihn ausgeschickte Vorstellung den Geist des Erwachenden affiziert, sie mit dem Licht, durch das sie leuchtet, den ganzen Geist gleichsam so sehr erhellt, dass jene früheren Bilder gleich Schatten verschwinden und öfter auch die Erinnerung an sie zerstört wird. Auf dieselbe Weise erkennen wir, dass manchmal die an hitzigem Fieber Erkrankten sich gleichsam selbst des Wahnsinns anklagen und den umstehenden Freunden bekennen, dass sie von einem Irrtum getäuscht werden; und nur eine bestimmte Schwäche und Auszehrung, die aus dem Gesundheitszustand des Körpers entsteht, hindert den Geist daran, dass er versuchen könnte, jene Unordnung und unverdaute Menge von Bildern zu erklären und zu unterscheiden, welche sinnlichen Erscheinungen durch die aufgewühlte Bewegung des Blutes und welche von den Sinnen hervorgerufen worden sind. 2) Hinzu kommt dann auch, vor allem im Wahnsinn, dass, weil die Sinneswerkzeuge nichtsdestoweniger dem Ansturm der körperlichen Dinge offen stehen und die Kraft der Krankheit nicht verhindern kann, dass diese Dinge im Geist ihre Eindrücke hinterlassen, es deshalb notwendig ist, dass andere Vorstellungen entstehen, denen die gleiche Klarheit eignet wie den durch die Geisteskrankheit entstandenen Bildern. So ist einsichtig, dass im Geist des Wahnsinnigen gleichsam zwei Reihen und Abfolgen von Vorstellungen, die als sinnliche Erscheinungen auftreten, existieren müssen, und weil sie miteinander auf keinste Weise übereinkommen, ist es notwendig, dass der Geist zwischen beiden Reihen in Unsicherheit schwankt, da er durch kein Unterscheidungsmerkmal erkennen kann, welche Reihe aus dem wahrhaft sinnlich Wahrgenommenen besteht. Diesen Geisteszustand hat, wie ich finde, am besten Ennius in einem Vers beschrieben: Das Herz stimmt nicht mit den Augen überein.73 Obwohl bei einem Schlafenden einige Sinne geschlossen sind und so gleichsam den Zugang der äußeren Dinge zum Geist blockieren, kann es dennoch, weil beim Tasten und beim Gehör der Anstoß von den äußeren Dingen derselbe bleibt wie beim Wachenden, nicht unterbleiben, dass durch die Berührung und den Klang im Geist Vorstellungen hervorgerufen werden, und diese bringen die Wahrheit des Traums in Verwirrung. Und es sind ganz und gar das Tasten und das Gehör, von denen die im Traum sich darbietenden Bilder ihren Ursprung nehmen und die deren Abfolge regieren und lenken, jene Abfolge, die zu einer größeren Ähnlichkeit mit der Wahrheit gelangte, wenn sie nicht dadurch
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sentientium ab antegressis imaginum immissione interpellaretur, ad maiorem similitudinem veritatis accederet. 3) Porro visorum falsitatem arguit insolitae cuiusdam in corpore factae immutationis conscientia postea insecuta. Tum enim corporis habitui, tanquam caussae probabili, ea tribuimus quae durante illo corporis statu in animo euenerunt. 4) Denique somnii aut delirii ludos fere semper agnoscere licet, si eos vel nostris cum sensis, quae illum statum antegressa & secuta sunt, vel cum alienis sensis comparemus. Quia enim constanti experientia docti scimus perpetuam quandam rerum sensarum esse continuationem, visorumque veritatem ea ipsorum successione probari, si progrediantur eodem ordine, quo res ipsae a caussis ad effecta necessario procedunt: ideo cum hanc rerum sensu perceptarum successionem & veluti progressionem comperimus esse interpellatam, (quod fit si res effectas sensimus, non antea sensis caussis efficientibus) tum intelligimus non posse ea quae sensa esse credebamus, a rebus externis orta esse. Nam facilius est cogitatu, potuisse esse quasdam caussas illorum internas, quam potuisse res externas illo modo atque ordine euenire. Latissime patet hoc κριτήριον, & fere in omnibus valet. Quin & si qua in somno est veritatis species & quasi simulatio, ea tota est ex similitudine cum eo ordine qui esse in rebus vere gestis solet. Atque hoc indicium ad agnoscendam sensi veritatem prope necessarium esse, argumento est id, quod etiam in vere visis, quamdiu eorum cum antegressis nexum non possumus comprehendere, suspensi haeremus & dubitamus. Sic de cuius nobis morte idoneis auctoribus constitit, is vbi ex improuiso nobis se obuiam tulerit, fieri non potest, quin primo decipi nos inani specie credamus. At, si ille e mortuis rediuiuus rem omnem quomodo gesta sit, exposuerit, si salutis suae rationem, rumoris de morte caussas, & vitae interea actae casus commemoret, si denique quae res eum tam subito nobis obtulerit, enarret: tum perspicua nexus
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unterbrochen würde, dass oft Bilder, die mit den vorangegangenen nicht übereinstimmen, hineingelangen. 3) Dafür, dass sinnliche Erscheinungen falsch sind, spricht des Weiteren das später darauf folgende Bewusstsein einer bestimmten ungewohnten im Körper bewirkten Veränderung. Dann nämlich teilen wir dem Zustand des Körpers als der wahrscheinlichen Ursache das zu, was sich, solange jener Zustand des Körpers dauerte, im Geist ereignete. 4) Schließlich lassen sich fast immer die Gaukelspiele des Traums oder des Wahnsinns erkennen, wenn wir sie entweder mit dem von uns sinnlich Wahrgenommenen, das jenem Zustand voraufging und gefolgt ist, oder mit dem von Anderen sinnlich Wahrgenommenen vergleichen. Weil wir nämlich, von beständiger Erfahrung belehrt, wissen, dass es eine bestimmte fortwährende Fortsetzung der sinnlich wahrgenommenen Dinge gibt und dass die Wahrheit der sinnlichen Erscheinungen durch eben ihre Abfolge bewiesen wird, wenn sie in derselben Ordnung fortschreiten, in der die Dinge selbst von den Ursachen zu den Wirkungen mit Notwendigkeit vorangehen, deshalb erkennen wir, wenn wir erfahren, dass diese Abfolge und gleichsam dieses Fortschreiten der durch die Sinne erfassten Dinge unterbrochen wird (was geschieht, wenn wir bewirkte Dinge sinnlich wahrnehmen, ohne zuvor die bewirkenden Ursachen sinnlich wahrgenommen zu haben), dass das, was wir gesehen zu haben glaubten, nicht von äußeren Dingen her entstanden sein kann. Denn leichter lässt sich denken, es könne bestimmte innere Ursachen von jenem gegeben haben, als dass äußere Dinge auf diese Weise und in dieser Ordnung hätten geschehen können. Weit und breit ist dieses Kriterium deutlich, und es gilt bei fast allem. Denn auch wenn es im Schlaf eine Art und gleichsam Nachahmung von Wahrheit gibt, so besteht sie gänzlich aufgrund der Ähnlichkeit mit jener Ordnung, die man gewöhnlich bei wirklich geschehenen Dingen antrifft. Und dass dieses Indiz dazu, die Wahrheit des sinnlich Wahrgenommenen zu erkennen, nahezu notwendig ist, dafür spricht, dass wir auch bei dem wirklich Gesehenen, solange wir seinen Zusammenhang mit dem Voraufgegangenen nicht begreifen können, hängen bleiben und zweifeln. So wird, wenn durch das Zeugnis geeigneter Gewährsmänner für uns feststeht, dass ein bestimmter Mann gestorben ist, und dieser uns unverhofft vor Augen tritt, es nicht ausbleiben, dass wir uns zunächst durch ein Trugbild getäuscht wähnen. Wenn aber dieser von den Toten Auferstandene erklärt, auf welche Weise alles geschehen sei, wenn er den Grund seines Wohlbefindens, die Ursachen für das Gerücht von seinem Tod und die Wechselfälle seines unterdessen geführten Lebens darlegt und uns endlich berichtet, was dazu führte, dass er uns so plötzlich entgegentrat, dann wird die helle
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rerum intelligentia visi certissimam fidem faciet. Si itaque posset fieri vt imaginum ab internis caussis excitatarum series eandem in progrediendo ordinis legem teneret, qua res illae si vere essent extra animum gestae, inter se essent successurae: tum prorsus, quamdiu animus in eo statu esset, discrimine veri falsique destitutus interesse rebus ipsis, videre atque audire illa omnia certissime crederet. Mutato autem illo habitu corporis & animi quia conquiescit caussarum internarum in animum effectio, tum & qualicunque ordinis turbata & sublata progressione, arguitur priorum imaginum vanitas. Neque enim in dubium potest venire, vtra visorum series verorum sit, & vter sit ille status, in quo res extra nos gestae imaginibus animo oblatis respondeant. Nam alteram seriem veram esse confirmabit & pristini ante morbum aut somnium status recordatio, quem cum eo in quo nunc sumus videbimus connecti & continuari posse, cum eo autem in quo per somnium aut morbum eramus, non posse; & magis legitima visorum praesentium inter se coniunctio, & vero etiam plurimorum aliorum hominum idem videntium consensio. Atque hae obseruationes eorum, quae in somnio & deliriis vsu veniunt, ad has nos regulas constituendas adducunt. 1) Si & id quod pro viso, seu pro imagine ex sensu orta habetur, habet summam inter omnes animi perceptiones claritatem & robur, 2) & nullae simul sunt in animo aliae pro visis habitae perceptiones quae istis repugnent, 3) & nec corporis nec animi est insolitus aut praeter naturam illis accidens habitus, 4) & res perceptae altera alteram eo ordine consequuntur, quo debent inter se res, vt nihil non praeeunte ratione contingat, succedere, 5) denique aliorum visa cum nostris consentiunt: tum id quod pro viso habetur, est reuera in animum per sensuum instrumenta inuectum.
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§. XXIII. Nondum vlterius progressi sumus, quam vt ostenderimus, quomodo ex perceptione quadam pro viso habita, motus quidam
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Einsicht in den Zusammenhang der Dinge den gewissesten Glauben an die sinnlichen Erscheinungen bewirken. Wenn es deshalb geschehen könnte, dass die Reihe der von inneren Ursachen hervorgerufenen Bilder beim Vorangehen dasselbe Gesetz der Ordnung einhielte, durch das jene Dinge, wenn sie wirklich außerhalb des Geistes vor sich gingen, aufeinander folgten, dann würde geradewegs der Geist, solange er in diesem Zustand wäre, des Kriteriums von Wahr und Falsch entblößt sein und glauben, sich inmitten der Dinge selbst zu befinden und all jenes mit höchster Gewissheit zu sehen und zu hören. Weil aber, nachdem sich jener Zustand von Körper und Geist geändert hat, das Wirken der inneren Ursachen auf den Geist zur Ruhe kommt, wird dann auch durch das gestörte und aufgehobene Voranschreiten der Ordnung, welcher Art es auch sei, die Leerheit der früheren Bilder dargetan. Denn es kann kein Zweifel aufkommen, welche Reihe die der wahren sinnlichen Erscheinungen und welches jener Zustand ist, in dem die außerhalb von uns geschehenden Dinge den Bildern, die dem Geist zugetragen werden, entsprechen. Denn dass die eine Reihe wahr ist, wird zum einen die Erinnerung an den ursprünglichen, vor der Krankheit oder dem Traum gewesenen Zustand bekräftigen, von dem wir sehen werden, dass er mit demjenigen, in dem wir jetzt sind, verbunden und in fortlaufenden Zusammenhang gebracht werden kann, mit demjenigen aber, in dem wir durch den Traum oder die Krankheit waren, nicht; sodann die mehr gesetzmäßige Verbindung der gegenwärtigen sinnlichen Erscheinungen untereinander; und vollends auch die Beistimmung der meisten anderen Menschen, die dasselbe sehen. Und diese Beobachtungen dessen, was sich gemeiniglich im Traum und im Wahnsinn zuträgt, veranlassen uns, die folgenden Regeln aufzustellen: 1) Wenn das, was man für eine sinnlichen Erscheinung oder für ein aus dem Wahrnehmungssinn entstandenes Bild hält, die höchste Klarheit und Stärke unter allen Vorstellungen des Geistes hat, 2) und es zugleich keine anderen Vorstellungen im Geist gibt, die wir für sinnliche Erscheinungen halten und die jenen74 widerstreiten, 3) und weder Körper noch Geist in einem Zustand sind, der ungewöhnlich ist oder der sie wider die Natur befällt, 4) und die vorgestellten Dinge einander in derjenigen Ordnung folgen, in der die Dinge nacheinander vorfallen, so dass nichts ohne vorangehenden Grund geschieht, 5) wenn schließlich die sinnlichen Erscheinungen anderer mit den meinigen übereinstimmen, dann ist das, was man für eine sinnliche Erscheinung hält, wirklich durch die Sinneswerkzeuge in den Geist gekommen. § 23. Noch sind wir nicht weiter vorangekommen, als dass wir gezeigt haben, wie aus einer Vorstellung, die wir für eine sinnliche Erscheinung halten, eine bestimmte Bewegung
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& affectio organorum sensus colligi possit, v. c. quomodo cum quid videre credimus, colligi possit, esse in retina oculi imaginem talem eius rei depictam. Sed hic subsistere atque acquiescere non possumus: debemus etiam ipsas res externas sensum mouentes cognoscere. Quod quia fit aliqua noua ratiocinatione, eo maiori cautione opus est. Ea ratiocinatio, vt eodem exemplo vtamur, quod modo attulimus, talis erit: Si in oculi retina talis effigies est depicta, tum extra nos situm est aliquod corpus, ex quo emissi radii hanc imaginem effinxerunt, quod habeat talem situm, colorem, figuram, distantiam. Facile intelligitur, rem omnem rursus ad haec duo redire: 1) Imago illa in oculo, est cum omnibus quae illam ab aliis imaginibus distinguunt, a rei externae in oculum immissis radiis, non ipsius oculi aliqua conditione, efficta. 2) Res ea quae illam imaginem in oculo effinxit, habeat necesse est huiusmodi figuram, partium situm, qualitatem, caeteraque omnia sine quibus nulla imago effingi potest, aut saltem haec effingi non potuisset. Ad primum quod attinet, retineamus morem nobis consuetum, exemplisque allatis fundamenta argumentorum iaciamus. Ictero laboranti, vt hoc vtar, res quaedam oculis obiecta flaua visa est. Febri correpto cibus quidam male sapit. Quid facient vterque, alter vt flauum colorem oculo, non rei, alter vt fastidium palato, non cibo attribuat? Argumentabuntur scilicet hoc modo, si res ipsa in sensum incurrens huius perceptionis est caussa, re mutata etiam perceptio ipsa mutabitur. Itaque alter oculos ad alias res conuertet, alter alios cibos gustabit. Quodsi & color iterum flauus, & cibus iterum amarus videbitur, idque variis repetitionibus experti fuerint, concludent, eius quod visis gustatisque pluribus rebus idem remansit in perceptione, debere caussam aliquam esse, quae eadem ipsa in his omnibus permansisset. Atque hanc nulla in re alia praeterquam in
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und Affektion der Sinnesorgane entnommen werden kann, z. B. wie, wenn wir etwas zu sehen meinen, daraus entnommen werden kann, auf der Netzhaut des Auges zeichne sich ein solches Bild jener Sache ab. Doch hier können wir nicht stehen bleiben und uns beruhigen. Wir müssen auch die äußeren Dinge selbst, die den Sinn in Bewegung setzen, erkennen. Weil das durch eine neue Überlegung geschieht, ist eine umso größere Vorsicht nötig. Diese Überlegung wird, um dasselbe Beispiel zu gebrauchen, das wir gerade anführten, eine solche sein: Wenn sich auf der Netzhaut des Auges ein solches Abbild abzeichnet, dann ist außerhalb von uns ein Körper gelegen, von dem Strahlen ausgegangen sind und dieses Bild erzeugt haben, und zwar einer, der eine solche Lage, Farbe, Gestalt und Entfernung hat. Leicht ist einsichtig, dass die ganze Sache auf diese beiden Punkte hinausläuft: 1) Jenes Bild im Auge ist mit allem, was es von anderen Bildern unterscheidet, durch Strahlen, die von einem äußeren Ding in das Auge gesendet wurden, und nicht von irgendeinem Zustand des Auges selbst, erzeugt worden. 2) Das Ding, das jenes Bild im Auge erzeugt hat, muss notwendig eine derartige Gestalt, Lage der Teile und Qualität haben sowie alles andere, ohne welches kein Bild erzeugt werden kann oder wenigstens dieses Bild nicht hätte erzeugt werden können. In Bezug auf den ersten Punkt wollen wir unser gewohntes Vorgehen beibehalten und Beispiele heranschaffen, um die Fundamente der Argumente zu legen. Z. B. sieht einer, der an Gelbsucht leidet, eine ihm vor die Augen kommende Sache als gelb. Einem an Fieber Erkrankten schmeckt eine bestimmte Speise schlecht. Was werden die beiden tun, der eine, um die gelbe Farbe dem Auge, nicht der Sache, der andere, um den Ekel dem Gaumen, nicht der Speise zuzuteilen? Sie werden doch auf diese Weise argumentieren: Wenn die Sache selbst, die auf den Wahrnehmungssinn einstürmt, die Ursache dieser Vorstellung ist, so wird, wenn sich die Sache ändert, auch die Vorstellung selbst sich ändern. Deshalb wird der eine die Augen auf andere Dinge richten, der zweite andere Speisen probieren. Wenn dann die Farbe wiederum gelb und die Speise wiederum bitter scheinen wird, und jene beiden das durch verschiedene Wiederholungen erfahren, werden sie schließen, dass es davon, was bei mehreren gesehenen und geschmeckten Dingen in der Vorstellung dasselbe geblieben ist, eine Ursache geben müsse, die in all diesem durchweg dieselbe geblieben ist. Und diese Ursache werden sie nirgends anders als in
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ipso sensus instrumento reperient. Perspicua itaque est & facilis regula iudicandi, vtrum ab instrumento quo sentimus, an a re ipsa quam sensimus, effecta perceptio sit. Quicquid enim inest in omnibus perceptionibus ab eodem sensu in animum inuectis quantacunque sit rerum sensarum varietas & diuersitas, id non a re ipsa, sed a sensus instrumento efficitur.
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§. XXIV. In altero autem necesse est duo sensuum genera statuamus: vnum in quo res, quae qualis sit debebat sentiendo cognosci, contrectat & pulsat, nulla alia interueniente, instrumentum sensus; alterum in quo res ipsa non est nisi media tantum impressionis istius caussa, interiecta scilicet alia re, quae impressionem ab eo quod αἰσθητόν est, acceptam continuat, & ad αἰσθητήριον propagat. Iam quia in primo genere conclusio & simplicior est & certior: patet, rerum intelligentiam hoc sensuum genere animo traditam esse tanquam regulam & amussim, ad quam caeterorum sensuum visa exigi ac corrigi debeant. Atque hoc ipsum experientia comprobatum habemus. Sensus enim de quo dicimus, tactio est: ad hanc autem refugimus denique, si caeterorum sensuum fide non satis probata, vtrum sit reuera hoc vel illud extra nos positum, & quale id sit, explorare volumus. Nam reliqui sensus non sunt proprie orti e rebus istis, quibus eos tribuimus; sed ex intermediis quibusdam aliis, quae a nobis perceptae non sunt. Vt visionem efficiunt lucis radii a corporeis rebus emissi; olfactum, effluuia minimarum partium pustulas neruorum nasi irritantium; auditum, vndulans motus aeris. In his quia difficile atque arduum est, ex mutatione instrumenti sensus veras corporum proprietates eruere, facile in errorem inducimur, vt ipsas perceptiones quae ex rebus sensis in animo sunt ortae, his tanquam proprietates tribuamus, & pro corporum qualitatibus ea habeamus quae non sunt nisi animi quaedam ideae. Solet id fieri, quotiescunque rei alicuius hunc vel illum co-
1 ipso] fehlt im laufenden Text, steht jedoch als Kustode auf der vorigen Seite G 7 § XXIV.] § XVI. G1 25 irritantium; auditum,] irritantium, auditum G
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dem Sinneswerkzeug selbst finden. Eine einleuchtende und leichte Regel gibt es also, um zu beurteilen, ob eine Vorstellung durch das Werkzeug, mit dem wir sinnlich wahrnehmen, oder von der Sache selbst, die wir sinnlich wahrgenommen haben, bewirkt worden sei. Was nämlich in allen Vorstellungen auftritt, die derselbe Sinn in den Geist schickt, wie groß auch immer die Vielfalt und Verschiedenheit der sinnlich wahrgenommen Dinge ist, das wird nicht von der Sache selbst, sondern vom Sinneswerkzeug bewirkt. § 24. Beim zweiten Punkt aber ist es nötig, zwei Gattungen von Sinnen aufzustellen: eine, in der die Sache, deren Beschaffenheit durch die Sinneswahrnehmung erkannt werden soll, das Sinneswerkzeug berührt und anstößt, ohne dass eine andere Sache dazwischentritt; die andere, in der die Sache selbst nur eine mittelbare Ursache jenes Eindrucks ist, nämlich durch das Dazwischentreten einer anderen Sache, die den Eindruck von dem, was aisthetón75 ist, annimmt, fortführt und zum aisthetérion76 hintreibt. Schon weil bei der ersten Gattung die Konklusion sowohl leichter als auch sicherer ist, ist klar, dass diejenige Einsicht in die Dinge, die durch diese Gattung der Sinne dem Geist übergeben wird, gleichsam die Regel und das Lineal ist, nach dem die Erscheinungen der übrigen Sinne sich richten und korrigiert werden müssen. Dafür haben wir auch einen Beweis in der Erfahrung. Der Sinn nämlich, von dem die Rede ist, ist der Tastsinn. Zu diesem aber nehmen wir schließlich Zuflucht, wenn wir, da die Glaubhaftigkeit der übrigen Sinne nicht genügend bewiesen ist, erforschen wollen, ob wirklich dieses oder jenes außerhalb von uns gelegen, und wie beschaffen es sei. Denn die Wahrnehmungen der übrigen Sinne sind nicht eigentlich aus denjenigen Dingen her entstanden, denen wir sie zuteilen, sondern aus bestimmten anderen vermittelnden, die wir nicht erfassen. Z. B. bewirken das Sehen die von den körperlichen Dingen ausgesandten Lichtstrahlen; den Geruch die Ausflüsse der winzigen Teile, die die Pusteln der Nasennerven reizen; das Hören die wellenförmige Bewegung der Luft. Weil es hierbei schwer und hart ist, aus der Veränderung des Sinneswerkzeugs die wahren Eigenschaften der Körper zu ergründen, werden wir leicht in den Irrtum geführt, dass wir jene Vorstellungen, die von den sinnlich wahrgenommenen Dingen her im Geist entstehen, den Dingen als Eigenschaften zuteilen und das, was doch nur bestimmte Ideen des Geistes sind, für Qualitäten der Körper halten. Das geschieht üblicherweise, so oft wir sagen, diese oder jene sei die
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lorem, aut sonum, aut saporem, aut odorem esse dicimus. Quae loquendi ratio si ad rei veritatem exigitur, aut falsa est, aut hoc tantum significat: Est quaedam res corporea extra nos posita, quae qualis sit ignoramus, sed a qua per immissos in oculum lucis radios eam in animo perceptionem excitatam sentimus, quam v. c. rubram appellare conuenit. Et sic porro in caeteris rebus. At nos in illis omnibus eodem plane modo versamur, quo in rerum naturalium caussis explicandis olim Scholastici; qui vt comminiscebantur suas istas qualitates occultas, sic nos, cuius rei effectae aliquam esse caussam scimus, si ei tribuimus ipsum rei effectae nomen, praeclare rem gessisse nobis videmur. Quanquam asperitas & laeuitas, quae tactione percipiuntur, non sint corporum propria, sed contrectationis eorum in corpore nostro effectus: tamen sensus tactionis vnus est, qui animo impertiat quasdam proprietatum corporis notiones. Quia enim semper comperimus sensum tactionis tum demum moueri, cum obstaculum aliquod nobis nos mouentibus resistere ac reniti animaduertimus, cuius spatium a nostro corpore occupari non potest: efficitur hinc extensionis & impenetrabilitatis corporum notio. Id enim quod nisi sede sua expulsum impedimento est, quo minus possit corpus nostrum aut eius aliqua pars locum aliquem occupare, ipsum necesse est occupet illud spatium & impleat, adeoque extensum sit. Deinde quia est eiusmodi, vt quamdiu spatium illud sua mole occupatum tenet, aliud corpus non sinat idem spatium occupare, id impenetrabilitatem vocamus. Postremo, quia rem eandem alio tempore possumus in eo in quo sumus loco, alio tempore non possumus nisi mutato in quo sumus loco, attingere & contrectare: inde & motionis & distantiae corporum notio existit. Quam cum ratiocinando consequamur, qui eam ad oculorum iudicium transtulerit, ei saepe idem eueniet, quod pueris, qui putant manum attollentes se caelum contrectaturos esse, quod res omnes in eo loco esse coniiciunt, ad quem possint corporis aliqua parte pertingere. Sed illuc redeamus. In iis igitur sensibus, quos res intermediis caussis
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Farbe, dieses oder jenes das Geräusch, dieser oder jener der Geschmack oder der Geruch irgendeines Dinges. Wenn wir diese Redeweise nach der Wahrheit der Sache beurteilen, ist sie entweder falsch oder bezeichnet nur dies: Es ist eine bestimmte körperliche Sache außerhalb von uns gelegen, von der wir nicht wissen, wie beschaffen sie ist, die aber, wie wir wahrnehmen, Lichtstrahlen in das Auge sendet und dadurch im Geist jene Vorstellung hervorruft, die wir z. B. ›rot‹ zu nennen pflegen; und so weiter bei den übrigen Dingen. Aber bei all diesen Dingen verhalten wir uns ganz genauso wie einst die Scholastiker bei der Erklärung der Ursachen der natürlichen Dinge. So wie diese ihre ›verborgenen Qualitäten‹ ersannen,77 so kommt es uns vor, dass wir, wenn wir wissen, welche Sache von irgendeiner Ursache bewirkt wird, und dieser Ursache dann jenen Namen der bewirkten Sache zuteilen, großartig etwas geleistet hätten. Obwohl Rauheit und Glätte, die durch das Tasten erfasst werden, nichts den Körpern Eigenes sind, sondern Wirkungen von deren Berührung in unserem Körper, so ist doch der Tastsinn einer, der dem Geist bestimmte Iden von den Eigenschaften der Körper mitteilt. Weil wir nämlich stets erfahren, dass der Tastsinn schließlich dann bewegt wird, wenn wir bemerken, dass irgendein Hindernis uns bei unserer Bewegung Widerstand leistet und sich uns widersetzt, dessen Raum von unserem Körper nicht eingenommen werden kann, entsteht daher die Idee der Ausdehnung und Undurchdringlichkeit der Körper. Das nämlich, was, wenn es nicht von seinem Sitz vertrieben wird, ein Hindernis dafür ist, dass unser Körper oder ein Teil von ihm einen Ort einnehmen kann, das nimmt notwendig jenen Raum ein und erfüllt ihn und ist so ausgedehnt. Sodann nennen wir, weil es derart ist, dass, solange es jenen Raum mit seiner Masse eingenommen hält, es keinem anderen Köper erlaubt, denselben Raum einzunehmen, diese Erscheinung ›Undurchdringlichkeit‹. Weil wir schließlich dieselbe Sache zu einer Zeit an demjenigen Ort, wo wir sind, zu einer anderen Zeit nur, wenn wir den Ort, wo wir sind, wechseln, erreichen und berühren können, daher entsteht die Idee von Bewegung und Abstand der Körper. Während wir diese Idee durchs Nachdenken zu eigen machen, wird demjenigen, der sie dem Urteil der Augen überstellt, oft dasselbe passieren wie den Kindern, die glauben, wenn sie die Hand emporstrecken, den Himmel zu berühren, weil sie vermuten, alle Dinge seien an einem Ort, zu dem sie sich mit irgendeinem Körperteil hinstrecken können. Aber um wieder auf unsere Sache zu kommen: Bei denjenigen Sinnen also, die von den Dingen durch vermittelnde Ursachen
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efficiunt, non est aeque facilis & propinquus transitus ab imagine rei ad internas eius caussas cognoscendas. Multum iam profecimus, quod scimus nihil nos de ipsorum corporum natura scire, nec esse ea corporibus propria quae oculorum vel aurium errore ducti ipsis tribuimus. Nam dimidium veritatis est erroris amissio. Vt itaque a visione, cuius doctrina etiam partes quasdam Matheseos constituit, initium faciamus, intelleximus tandem, radios lucis ex superficie cuiuscunque corporis in oculos incurrentes, in posteriori parte oculi siue retina imaginem quandam depingere, cuius forma & quasi descriptio pendet ex radiorum, antequam ad retinam oculi pertingunt, diuersa fractione, eorumque a recta via declinatione. Haec autem radiorum fractio caussam habet, primum corporis ex quo in oculum incidunt superficiem & figuram, deinde materiae inter oculum & rem visam interiectae rationem & naturam, postremo ipsius oculi fabricam, humorumque eius densitatem. Colores porro didicimus nil esse nisi singulas radii luminosi partes, quae continentur in eo radio, qui e sole emittitur non coloratus, illosque tum existere, cum radiorum singulorum a corpore quod eos accipiebat, partibus quibusdam absorptis, reliquae solae remissae in oculum incidunt. Item didicimus nos rei visae locum in ipsis oculis posituros esse, nisi tactionis sensus adhibitus nos erroris conuincisset: vnde quae orta est ratiocinatio, eam cum ipso videndi sensu a primis vitae annis tam arcte copulauimus, vt illius etiam partem esse existimemus. Scilicet quia rem visam vbi contrectauimus, inuenimus plerumque in eadem linea ista recta, quam radius in oculum incidens descripsit, collocatam esse, nouimusque lucis radios nonnisi rectis lineis se mouere: factum est, vt res visas omnes in recta linea continuata eius radii qui ad oculos pertinuit, collocatas esse statuamus. Qua quidem ex persuasione animis infixa, errores intelligimus illos oriri, quos Academici tantopere vrgebant, cum propter radii a recta linea declinationem, inflexi densitate aut raritate materiae inter rem & oculum interiectae, radii pars pertingens ad oculum si
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bewirkt werden, ist der Übergang vom Bild des Dinges zur Erkenntnis der inneren Ursachen des Bildes nicht so leicht und naheliegend. Viel sind wir schon vorangekommen, da wir wissen, dass wir nichts von der Natur der Köper selbst wissen und dass dasjenige nichts den Körpern Eigenes ist, was wir ihnen, verleitet durch den Irrtum der Augen oder Ohren, zuteilen. Denn die Hälfte der Wahrheit ist der Verlust des Irrtums. Um deshalb beim Sehen, die Lehre von welchem auch bestimmte Teile der Mathematik ausmacht, den Anfang zu machen, so haben wir schließlich eingesehen, dass die Lichtstrahlen, die von der Oberfläche eines jeden Körpers her in die Augen fallen, im hinteren Teil des Auges, oder in der Netzhaut, ein bestimmtes Bild sich abzeichnen lassen, dessen Gestalt und gleichsam Umriss von der verschiedenen Brechung, der die Strahlen unterliegen, bevor sie sich zur Netzhaut des Auges erstrecken, und ihrer Abweichung vom geraden Weg abhängt. Diese Brechung der Strahlen aber hat zur Ursache erstens die Oberfläche und Gestalt des Körpers, von dem aus sie ins Auge fallen, dann die Struktur und Natur des Stoffes, der zwischen dem Auge und der gesehenen Sache liegt, und schließlich die Bauweise des Auges selbst und die Dichte seiner Flüssigkeiten. Ferner haben wir gelernt, dass die Farben nichts als die einzelnen Teile eines lichthaften Strahles sind, die derjenige Strahl enthält, der ungefärbt von der Sonne ausgeschickt wird, und dass die Farben dann entstehen, wenn bestimmte Teile der einzelnen Strahlen vom Körper, der sie aufgenommen hat, eingesogen und nur die übrigen zurückgeworfen werden und ins Auge fallen. Ebenso haben wir gelernt, dass wir den Ort der gesehenen Sache in die Augen selbst setzen würden, wenn nicht die Anwendung des Tastsinns uns überzeugte, dass das ein Irrtum wäre. Die daraus entstandene Überlegung haben wir mit dem Gesichtssinn selbst seit den ersten Lebensjahren so eng verbunden, dass wir sogar glauben, sie sei ein Teil von ihm. Weil wir nämlich, wenn wir die gesehene Sache berühren, meistens finden, dass sie auf jener selben geraden Linie, die der ins Auge fallende Strahl beschrieben hat, ihren Ort hat, und weil wir wissen, dass die Lichtstrahlen sich nur in geraden Linien bewegen, daher kommt es, dass wir behaupten, alle gesehenen Dinge hätten ihren Ort auf der fortgesetzten geraden Linie jenes Strahls, der zu den Augen gelangt ist. Aus dieser in den Seelen befestigten Überzeugung entstehen, wie wir einsehen, jene von den Akademiker so gern ins Feld geführten Irrtümer, wenn der Strahl, der durch die Dichte oder Lockerheit des zwischen der Sache und dem Auge liegenden Stoffes gebeugt wird, von der geraden Linie abweicht und deshalb der sich bis zum Auge erstreckende Teil des Strahls, wenn man ihn
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continuatur, rem ipsam non attingit. At potest parua diligentia ille error ad veritatem redigi, si rem illam interiectam, eiusque ad attrahendum frangendumque luminis radium vim perspectam habemus. Quod quidem factum videmus ab Astronomis, qui ea ratione adhibita, ex altitudine stellarum apparente veram concludunt. Denique docti sumus, iudicium de rerum visarum tum distantia tum magnitudine, pariter non sensus esse, sed rationis, distantiamque ac magnitudinem esse inter se relata, ita vt nisi altera iam cognita, non possit altera inueniri. Siquidem, cum angulum illum sub quo rem obiectam videmus, habeamus vnum eundemque vtriusque definiendi fundamentum; res autem omnes quae sunt illius anguli cruribus comprehensae, eiusdem magnitudinis imaginem in oculo depingant: necesse est, vt si magnitudinem rei ex illa imagine velimus aestimare, eius distantia; sin hanc, illa nobis cognita sit. Nam potest angulus, sub quo rem conspicimus, vna cum re ipsa quam videmus, tanquam triangulum spectari, in quo rei obiectae magnitudo constituit latus angulo illi subtensum. Atqui notum omnibus est ex Elementis Geometriae, latus illud ex angulo solo inueniri non posse, data autem crurum angulum intercipientium magnitudine, h. e. distantia, magnitudinem rei; rursus ex angulo & latere opposito, siue magnitudine rei, crura, h. e. distantiam inueniri posse. Quia itaque de magnitudine rei ex recte aestimata distantia, de hac autem ex rerum interiectarum multitudine aliquo modo coniicere possumus: si est oculus in his iudiciis ad veritatis aliquem celerem sensum assuefaciendus: debemus distantiam distinguere & distribuere per res interiectas, (quemadmodum in delineationibus etiam pictores facere solent) & ex propinquiorum rerum distantiis mensuram capere distantiae vniuersae. Si in instituendis pueris eius rei ratio haberetur, exercitationumque talium taedium aliquo varietatis & delectationis genere minueretur: possent facile assuefieri, vt in distantia locorum & magnitudine corporum aestimanda & celeriter & recte iudicarent. Sed si res aut nullae interiectae, aut interiectae perceptibi-
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fortsetzt, die Sache selbst nicht berührt. Doch durch ein wenig Sorgfalt kann jener Irrtum auf die Wahrheit zurückgeführt werden, wenn wir jene dazwischenliegende Sache und ihre Kraft, den Lichtstrahl anzuziehen und zu brechen, durchschaut haben. Das haben, wie wir sehen, die Astronomen getan, die diesen Vernunftgrund anwenden und aus der erscheinenden Höhe der Sterne auf die wahre schließen. Endlich sind wir darüber belehrt worden, dass das Urteil über die Entfernung sowohl als über die Größe der gesehenen Dinge gleichfalls nicht dem Sinn, sondern der Vernunft zusteht, und dass Entfernung und Größe in Beziehung zueinander stehen, so dass die eine nicht gefunden werden kann, wenn die andere nicht schon bekannt ist. Weil nämlich jener Winkel, unter dem wir die uns vor Augen liegende Sache sehen, für uns ein und dieselbe Grundlage ist, um beides zu bestimmen, alle Dinge aber, die von den Schenkeln jenes Winkels umfasst werden, das Bild derselben Größe sich im Auge abzeichnen lassen, deshalb ist es notwendig, dass, wenn wir die Größe der Sache von jenem Bild her abschätzen wollen, seine Entfernung, wenn wir aber diese so abschätzen wollen, dann jene uns bekannt sei. Denn man kann den Winkel, unter dem wir eine Sache erblicken, zusammen mit der Sache selbst, die wir sehen, als ein Dreieck betrachten, in dem die Größe der uns vor Augen liegenden Sache die Seite darstellt, die sich unter jenem Winkel erstreckt. Aber allen ist aus den Elementen der Geometrie bekannt, dass jene Seite von dem Winkel allein her nicht gefunden werden kann, dass man aber, wenn die Größe der den Winkel abschneidenden Schenkel, d. h. die Entfernung, gegeben ist, die Größe des Dinges, und wiederum vom Winkel und der gegenüberliegenden Seite – oder der Größe des Dinges – her die Schenkel, d. h. die Entfernung finden kann. Weil wir also über die Größe des Dinges von der richtig eingeschätzten Entfernung her, über diese aber von der Menge der dazwischenliegenden Dinge her irgendwie Vermutungen anstellen können, so müssen wir, wenn das Auge daran gewöhnt werden soll, bei diesen Urteilen einen bestimmten schnellen Sinn zu entwickeln, die Entfernung durch die dazwischenliegenden Dinge unterscheiden und verteilen (wie es auch die Maler bei den Vorzeichnungen zu tun pflegen) und aus den Entfernungen der näher gelegenen Dinge das Maß der ganzen Entfernung entnehmen. Wenn bei der Unterrichtung der Kinder auf diese Sache geachtet und der Überdruss, der sich bei solchen Übungen einstellt, durch mancherlei Abwechslung und Vergnügen gemindert würde, könnten sie leicht daran gewöhnt werden, beim Einschätzen der Entfernung von Orten und der Größe von Körpern schnell und richtig zu urteilen.78 Wenn aber entweder keine Dinge dazwischenliegen oder zwar dazwischenliegen, aber nicht
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les non sunt, tum nec distantia nec magnitudo potest vllo modo aestimari. His legibus, quas Optici diligentius tradunt, possumus, vbi corporis situm & figuram reique mediae per quam radii transeunt, naturam cognouimus, qualis ab illo corpore imago in oculos incursura sit, definire. Et rursus ex imagine in oculo efficta reique intermediae natura inuenire licet eius corporis, vnde imago illa nata est, & situm & figuram. Quod autem ad colores attinet, quanquam norimus quae radii partes absorbeantur, quae reflectantur ab eo corpore, quod praebeat hunc vel illum colorem: tamen quae debeat esse illius corporis superficiei ratio & figura, & quae pororum raritas, vt ex radiis alii procolentur, alii reiiciantur, nescimus. Neque colores ad corporum naturam cognoscendam adhuc quicquam contulerunt. Ad auditum quod attinet, experientia non poterat non mature satis docere, sonus vbi sit, ibi esse motum quendam eius corporis a quo sonus est profectus. Vlterius deinde progressi etiam vibrationum & celeritatem & numerum requisitum ad sonum quendam grauem aut acutum efficiendum didicimus definire. Ex his omnibus collectis possunt denique leges quaedam vniuersales constitui. Vt recte versemur in colligendis rei proprietatibus ex mutatione in organo sensorio facta, debemus primum nosse, quibus legibus res interiecta, per quam corpus sensum impellit, hanc eius impulsionem ad nos transferat. Deinde debent a sensu distingui iudicia illa rationis, quae nos propter diuturnam consuetudinem solemus cum sensu quasi confundere, vt ad regulas exacta, quibus in casibus vera sint, in quibus minus, appareat. Porro debet pedetentim ab affectione sensus, (e. g. ab imagine in oculo depicta) progrediendo per conclusiones plures, ab effectis ad caussas, retroiri ad corporis qualitates. Et ne ea quae oriuntur ex loci vel situs vel rerum circumstantium singulari concursu, immisceantur iudicio de re ipsa ferendo, spectari haec debet in tot tamque multifariis aliarum
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erfassbar sind, dann kann weder die Entfernung noch die Größe irgendwie geschätzt werden. Durch diese Gesetze, die die Optiker genauer überliefern, ist es uns möglich, wenn wir Lage und Gestalt des Körpers und die Natur der mittleren Sache, durch die die Strahlen hindurchgehen, kennen, zu bestimmen, ein wie beschaffenes Bild von jenem Körper aus in die Augen fallen wird. Und umgekehrt können wir aus dem im Auge erzeugten Bild und der Natur der vermittelnden Sache sowohl die Lage als auch die Gestalt jenes Körpers, von dem her jenes Bild entstanden ist, finden. Was aber die Farben betrifft, so bleiben wir, auch wenn wir wissen, welche Teile des Strahls aufgesogen und welche zurückgeworfen werden von demjenigen Körper, der diese oder jene Farbe aufweist, dennoch unwissend darüber, wie die Struktur und die Gestalt der Oberfläche jenes Körpers beschaffen und wie dünn gestreut die Poren sein müssen, damit von den Strahlen die einen zugelassen, die anderen zurückgewiesen werden. Auch haben die Farben bisher nichts dazu beigetragen, die Natur der Körper zu erkennen. Was das Gehör angeht, so hat die Erfahrung überreichlich gelehrt, dass, wo ein Geräusch ist, dort eine bestimmte Bewegung desjenigen Körpers sei, von dem das Geräusch ausgegangen ist. Durch weiteren Fortschritt haben wir auch gelernt, die Schnelligkeit und die Anzahl der Schwingungen zu bestimmen, die dazu nötig sind, einen bestimmten tiefen oder hohen Ton zu erzeugen. Aus all diesem zusammengenommen lassen sich schließlich bestimmte allgemeine Gesetze aufstellen. Damit wir uns richtig verhalten, wenn wir die Eigenschaften eines Dinges aus der im Sinnesorgan bewirkten Veränderung entnehmen wollen, müssen wir zuerst wissen, nach welchen Gesetzen die dazwischenliegende Sache, durch die der Körper den Sinn anstößt, diesen seinen Anstoß zu uns hin überträgt. Dann müssen vom Sinn jene Urteile der Vernunft unterschieden werden, die wir durch lange Gewöhnung mit dem Sinn gleichsam zu verwechseln pflegen, damit deutlich wird, in welchen Fällen das, was für die Regeln erfordert wird, wahr ist und in welchen nicht. Des Weiteren muss man allmählich von der Affektion des Sinnes (z. B. vom Bild, das sich im Auge abzeichnet), indem man durch mehrere Konklusionen von den Wirkungen zu den Ursachen fortschreitet, und so auf die Qualitäten des Körpers zurückgehen. Und damit nicht das, was aus einem einzelnen Zusammenkommen von Ort oder Lage oder Umständen entsteht, in das über die Sache selbst zu fällende Urteil eingemischt werde, muss diese in so vielen und so unterschiedlichen
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rerum nexibus, in quot quidem eam transferre licet. Postremo plurium sensuum visa erunt comparanda, & per hypothesin quandam res ea, & eius talis conditio pro vera habenda, ex qua varii illi in singulis sensibus effectus omnes commodissime possunt explicari. Obseruatarum istarum legum habemus absolutissimum exemplum in Astronomia, cuius pars ea quae Sphaerica dicitur, delineat quam accuratissime vniuersam imaginem, quam res caelestes in oculo spectantis effingunt, quarum diuersitate inter se ad leges opticas comparata, & situm & magnitudinem & cursum illarum planissime demonstrat Astronomia Theorica.
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§. XXV. Sed satis de sensibus dictum est. Accedamus ad alteram partem probabilium, in qua ex comparatis inter se pluribus visis, per inductionem incompletam, propositiones, quae & ipsae probabiles sunt, deducuntur, & aliae continuo progressu annectuntur. Si animus in se ipse quasi descendit, aduertitque se ad ea quae intra se geruntur: earum idearum quas vniuersales appellamus, nullam fere sentiet ex comparatione vniuersarum alicuius generis rerum ortam esse. Nimis enim angustae conclusi vitae finibus, immensum illum rerum ambitum experientia complecti nullo modo possumus; multoque maior est rerum etiam ad vnum tantum genus pertinentium numerus, quam vt eas singulas sensibus subiectas possimus perscrutari & intelligere, vtrum in eo omnes conueniant, quod esse communem totius generis notam posueramus. Nihilominus tamen videmus & formari a nobis ideas vniuersales, & quanquam non absoluta inductione formentur, quin tamen vniuersales sint, non dubitari; contra in aliis eam vniuersalitatem probabilem tantum esse; in aliis denique plane reiici & repudiari. Persequamur itaque hos animae diuersos modos agendi, eosque, si fieri potest ad regulas quasdam redigamus. Nam Philosophi munus est, non constituere leges mentis, sed explicare; omnisque quem ex doctrina capimus fruc-
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Verbindungen mit anderen Dingen betrachtet werden, in wieviele sie sich übertragen lässt. Zuletzt hat man die Erscheinung mehrerer Sinne zu vergleichen und durch eine geeignete Hypothese diejenige Sache und ihren so beschaffenen Zustand für wahr zu halten, woraus all jene verschiedenen in den einzelnen Sinnen auftretenden Wirkungen auf das Bequemste erklärt werden können. Das vollkommenste Beispiel für die Beobachtung dieser Gesetze haben wir in der Astronomie, von der jener Teil, der ›die Sphärische‹ genannt wird, auf das Genaueste jenes ganze Bild umreißt, das die himmlischen Gegebenheiten im Auge des Betrachters sich abzeichnen lassen, während deren Verschiedenheit untereinander nach den optischen Gesetzen verglichen und ihre Lage, ihre Größe und ihr Lauf auf das Deutlichste bewiesen werden durch die Theoretische Astronomie. § 25. Doch von den Sinnen ist genug gesagt. Kommen wir zum zweiten Teil des Wahrscheinlichen! Hier werden aus mehreren sinnlichen Erscheinungen, die wir miteinander verglichen haben, durch unvollständige Induktion Aussagen, die auch selbst wahrscheinlich sind, abgeleitet und weitere durch beständiges Voranschreiten daran angeschlossen. Wenn der Geist gleichsam in sich selbst hinabsteigt und sich dem zuwendet, was in ihm bewerkstelligt wird, so wird er wohl von keiner jener Ideen, die wir ›allgemeine‹ nennen, bemerken, dass sie aus dem Vergleich sämtlicher Dinge irgendeiner Gattung entstanden sei. Denn da wir in den Grenzen eines allzu engen Lebens eingeschlossen sind, können wir jene unermessliche Weitläufigkeit der Dinge auf keine Weise durch Erfahrung umfassen; und um vieles größer ist die Anzahl derjenigen Dinge, die auch nur zu einer einzigen Gattung gehören, als dass wir jedes einzeln den Sinnen unterwerfen und durchforschen könnten und einsehen, ob sie alle in demjenigen übereinkommen, was wir als gemeinsames Merkmal der ganzen Gattung aufgestellt hatten. Nichtsdestoweniger sehen wir doch sowohl, dass von uns allgemeine Ideen geformt werden, als auch, dass, obgleich sie durch nichtvollständige Induktion geformt werden, nicht bezweifelt wird, dass sie allgemein sind; dass hingegen bei anderen diese Allgemeinheit nur wahrscheinlich ist; und dass sie schließlich bei wieder anderen schlechthin zurückgewiesen und abgelehnt wird. Folgen wir also diesen verschiedenen Handlungsweisen der Seele und führen wir sie, wenn möglich, auf bestimmte Regeln zurück! Denn das Geschäft des Philosophen ist es, die Gesetze des Geistes nicht aufzustellen, sondern darzulegen; und die ganze Frucht, die wir aus der Lehre ziehen,
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tus est, vt quomodo quidque in animo geratur, verbis enarrare possimus. Redeo itaque ad innocentem illam & beatam primae pueritiae ignorantiam. Vacuum adhuc & rei cuiuis obuiae quasi patentem infantis animum primae occupant perceptiones singularum rerum per sensus illatae, quas videmus etiam tunc solos esse eius conceptus, cum iam ore ipsius formato, vsurpat voces notionibus vniuersalibus signandis destinatas. Ita enim vsurpat, vt semper de re cogitet singulari. Vbi quis canem nominauerit, id nomen ad Lyciscam referet aut Melampum. At sensorum numero paullatim aucto, incipiet animaduertere, esse quasdam in rebus pluribus similitudines, earumque rerum in quibus illae sint, commune nomen esse. Postquam his primis experimentis erectus est animus & intentus, similitudines vsque adhuc repertas affert ad omnes res, quas accipit eodem nomine insignitas. Subtractisque paullatim iis notis, quas in caeteris non eodem modo inesse reperiit, absoluit iam & consummat quandam notionem, quae dum res nulla ei repugnans obseruatur, naturam vniuersalis induit. Naturae & sensui tum se adiungit institutio, quae animum rerum sensibus nunquam perceptarum cognitione impertiens, vel tollit & destruit istam notionem offerendo res eiusdem generis in quas ea non cadit, vel confirmat. Quorum prius si acciderit, angustioribus notionem illam terminis solemus finire, detrahendo aliquas ex similitudinibus istis constituentibus notionem, donec tandem ad eas deuenimus, quae sunt omnium rerum huius generis adhuc nobis cognitarum communes. Atque haec ratio latius patere videtur, adeo vt ipsa rerum natura singulis hominibus pro varia illius parte quam norunt, sit vehementer diuersa. Nec poterat quicquam aliud conuenientius esse finibus naturae, quippe quae non subsistere nos in rebus cognoscendis & aetatem conterere, sed omnino ad agendum praeparari & instrui voluit. Videmus itaque primum canonem: Quicquid rei alicui in omnibus casibus inesse, omnibusque rebus eiusdem generis quae nobis innotue-
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besteht darin, in Worten berichten zu können, wie was nur immer im Geist bewerkstelligt wird. Ich kehre deshalb zu jener unschuldigen und seligen Unwissenheit des Knabenalters zurück. Den noch leeren und gleichsam einer jedweden ihm begegnenden Sache offenstehenden Geist des Kindes besetzen die ersten durch die Sinne hineingetragenen Vorstellungen der einzelnen Dinge. Wir sehen, dass diese Vorstellungen auch dann die einzigen Begriffe des Kindes sind, wenn es, nachdem schon sein Mund ausgeformt ist, sich der Worte bemächtigt, die dazu bestimmt sind, allgemeine Ideen zu bezeichnen. Das Kind bemächtigt sich ihrer nämlich so, dass sein Gedanke immer bei der einzelnen Sache ist. Benutzt jemand etwa das Namenswort ›Hund‹, wird das Kind es auf Lycisca oder Melampus beziehen.79 Wenn sich aber allmählich die Anzahl des sinnlich Wahrgenommenen vermehrt hat, wird das Kind beginnen zu bemerken, dass in mehreren Dingen bestimmte Ähnlichkeiten auftreten und dass es für diejenigen Dinge, in denen sie auftreten, einen gemeinsamen Namen gibt. Nachdem durch diese ersten Erfahrungen der Geist aufgerichtet und gespannt worden ist, trägt er die bis dahin gefundenen Ähnlichkeiten an alle Dinge heran, die mit demselben Namen bezeichnet werden und die er so empfängt. Und wenn er allmählich diejenigen Merkmale, von denen er findet, dass sie den übrigen Dingen nicht gleicherweise zukommen, abgezogen hat, ist er schon dabei, einen bestimmten Begriff freizulegen und zu vollenden, der, solange keine ihm widerstreitende Sache beobachtet wird, die Natur eines Allgemeinbegriffs annimmt. An Natur und Wahrnehmungssinn schließt sich dann die Unterrichtung an, die den Geist mit der Kenntnis von Dingen, die er durch die Sinne niemals erfasst hat, ausrüstet und jenen Begriff entweder aufhebt und zerstört – indem sie von derselben Gattung solche Dinge aufbietet, auf die der Begriff nicht zutrifft – oder ihn bestärkt. Wenn das erstere geschieht, pflegen wir jenen Begriff durch knappere Grenzsteine einzuschränken, indem wir einige jener Ähnlichkeiten, die den Begriff ausmachen, abziehen, bis wir zu jenen gelangen, die allen uns bislang bekannten Dingen dieser Gattung gemeinsam sind. Und das ist anscheinend ein weiter umfassendes Prinzip – so sehr, dass gar die Natur der Dinge für die einzelnen Menschen je nach dem unterschiedlichen Teil, den sie von ihr kennen, heftig verschieden ist. Und nichts anderes hätte den Zielen der Natur besser entsprechen können, die ja nicht gewollt hat, dass wir dabei verharren und unsere Lebenszeit dafür aufreiben, die Dinge zu erkennen, sondern dass wir durchaus zu handeln vorbereitet und unterrichtet werden. Somit haben wir die erste Richtschnur vor Augen: Von was auch immer wir gesehen haben, dass es einer Sache in allen Fällen zukommt und allen derselben Gattung zugehörigen Dingen, die uns bekannt geworden
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runt, commune esse vidimus, id rei constantem, generis vniuersalem notam esse statuimus. Potest itaque iam facile, sicuti ex toto partes, ita ex certo probabile aestimari. Probabilis inductionis lex erit parum diuersa: Quod in plerisque hucusque casibus euenisse comperimus, id etiam in casu singulari nunc occurrente euenturum esse probabile est; & quod plerisque rebus eiusdem generis commune esse reperimus, id futurum esse etiam in re illius generis nondum cognita probabile est; eoque magis vtrumque probabile erit, quo minor erit & casuum & rerum numerus quae contra opinionem euenerunt. Quae itaque ratio est casuum ad exceptiones, eadem est probabilitatis, rei alicuius nondum expertae fore eandem proprietatem, ad probabilitatem contrarii. Augetur autem probationis illius vis, vbi non ad singulos casus ponendos, sed ad vniuersum iudicium de omnibus casibus futuris adhibetur. Vertitur enim tum lex illa in hanc: Quae hucusque fuit ratio casuum ad exceptiones, eandem etiam in posterum fore probabile est. Quodsi rationem istam possumus ad calculum redigere, oriuntur inde propositiones particulares definitae, quae vniuersalium possunt aliquando locum tueri, & in ratiocinationibus probabilibus, de quibus infra dicetur, adhibentur. 2) At quoniam hoc genus idearum siue enunciationum esse vniuersale sumitur magis quam probatur, & dubitatio non tam tollitur quam in aliud tempus differtur, donec scilicet vel sensuum nostrorum experientia, vel alienorum sensuum testimoniis exceptionum documenta accipimus: est adhuc aliud, quo in formandis ideis vniuersalibus mens vtitur, adminiculum, quo adhibito, & singularum casuum continuo redintegranda inquisitio compendifacitur, & animi dubitatione suspensi anxietas tollitur. Id autem in eo est, vt quod attributum rei esse inuenimus in casibus iis, qui hucusque nobis sunt oblati, conferamus vel cum rei essentia, vel cum caussis iis ex quibus illa oritur. Quodsi videmus illud vel cum essentia rei ita connexum esse, vt eo negato etiam haec tollatur aut mutetur;
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sind, gemeinsam ist, von dem setzen wir fest, dass es ein beständiges Merkmal der Sache und ein allgemeines der Gattung ist. Leicht kann deshalb jetzt, wie aus dem Ganzen die Teile, so aus dem, was gewiss ist, das Wahrscheinliche abgeschätzt werden.80 Das Gesetz für die Induktion des Wahrscheinlichen wird davon kaum verschieden sein: Von was wir erfahren haben, dass es bisher in den meisten Fällen eingetreten ist, von dem ist es wahrscheinlich, dass es auch in dem jetzt anstehenden Einzelfall eintreten wird; und von was wir erfahren haben, dass es den meisten Dingen derselben Gattung gemein ist, von dem ist wahrscheinlich, dass es auch der noch nicht erkannten Sache derselben Gattung zukommen wird; und umso wahrscheinlicher wird beides sein, als die Anzahl sowohl der Fälle als auch der Dinge geringer sein wird, die entgegen der Meinung ausgefallen sind. Welches deshalb das Verhältnis der Fälle zu den Ausnahmen ist, dasselbe besteht zwischen der Wahrscheinlichkeit, dass einem Ding, von dem noch keine Erfahrung vorliegt, dieselbe Eigenschaft zukommen werde, zur Wahrscheinlichkeit des Gegenteils. Die Kraft dieses Beweises wird aber größer, sobald er nicht angewendet wird, um einzelne Fälle aufzustellen, sondern zum Zwecke des allgemeinen Urteils über alle künftigen Fälle. Dann nämlich wandelt sich jenes Gesetz zu folgendem: Es ist wahrscheinlich, dass, welches bisher das Verhältnis der Fälle zu den Ausnahmen war, dasselbe es auch in Zukunft sein wird. Wenn wir also jenes Verhältnis berechnen können, entstehen daraus wohlbestimmte Einzelaussagen, die manchmal den Platz von allgemeinen behaupten können und in Wahrscheinlichkeits-Argumenten, von denen weiter unten die Rede sein soll,81 angewendet werden. 2) Dass diese Gattung von Ideen oder Aussagen allgemein sei, wird aber mehr angenommen als bewiesen, und der Zweifel daran wird nicht so sehr aufgehoben als auf eine andere Zeit vertagt, nämlich bis wir entweder durch die Erfahrung unserer Sinne oder durch die Zeugnisse der Sinne anderer die Bezeugungen der Ausnahmen empfangen. Darum gibt es noch eine andere Stütze, deren sich der Geist beim Formen von allgemeinen Ideen bedient. Durch die Anwendung dieser Stütze erspart man sich zum einen die beständig zu wiederholende Befragung der einzelnen Fälle und hebt zum anderen die Ängstlichkeit des durch den Zweifel angespannten Geistes auf. Dieses Mittel aber besteht darin, dass wir das, von dem wir in denjenigen Fällen, die uns bisher begegnet sind, gefunden haben, dass es ein Attribut der Sache ist, entweder mit dem Wesen der Sache oder mit denjenigen Ursachen, aus denen jene Sache hervorgeht, vergleichen. Wenn wir also entweder sehen, dass jenes mit dem Wesen der Sache so verbunden ist, dass durch seine Negation auch diese aufgehoben oder verändert wird,
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vel ab iisdem caussis quae rem efficiunt, quasi aliud agentibus simul promanare: tum intelligitur omnibus rebus quae vel eiusdem sunt essentiae, vel ex iisdem caussis oriuntur, attributum illud conuenire, nec opus est vlteriori casuum obseruatione. Barbarus animaduertens, deficere lunam nonnisi tum, cum orbis eius ad plenitudinem proxime accessit, si eius rei nullam vnquam exceptionem cognouerit, certe sibi persuadebit, si qua in posterum futura sit lunae defectio, eam in plenilunio fore. At casuum numero nunquam absoluto, nunquam inductio est perfecta, & quod vniuersale esse posuit, id tantum sub relatione tale est. Quodsi plenilunii caussam esse sciret stationem solis & lunae vtrinque terrae oppositam, & hoc eodem terrae interpositu fieri, vt si luna est in linea nodorum orbis sui, ea deficiat: certe sciret, nulla obseruatione amplius facta, lunam nisi plenam deficere non posse. — — Probabilitatis modus est certa veritas. Ergo quiquid aut ex essentia rei alicuius consequi, aut effici eius caussis comperimus, id probabile est etiam in omnibus rebus iis, quae aut essentiam similem habent, aut ex caussis consentaneis oriuntur. Videturque haec regula fere semper coniungenda esse cum superiori illa, quae erat de probabilitate casuum futurorum orta ex maiori casuum numero: & ex vtraque coniuncta maior existit probabilitatis gradus compositus. Quicquid in plurimis eiusdem generis rebus, aut in pluribus casibus eiusdem rei esse comperimus, id etiam in hac re praesenti eius generis, in hoc praesenti casu eius rei probabile est futurum, si eius vel essentia vel caussae ad eorum casuum in quibus illud attributum repertum est, propius quam ad eorum accedant in quibus illud defuit. Sic esse suos Marti satellites probabile videri potest, non solum quia maior planetarum pars illis instructa est, sed etiam quia quae huius rei caussa in Ioue ac Saturno inuenitur, eadem in Marte quoque conuenit, scilicet remotio a sole.
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oder, dass jenes aus denselben Ursachen, welche die Sache bewirken, zugleich hervorfließt, gleichsam als ob sie ein zweites Geschäft betrieben, dann wird erkannt, dass allen Dingen, die entweder dasselbe Wesen haben oder aus denselben Ursachen hervorgehen, jenes Attribut zukommt, und eine weitere Beobachtung der Fälle ist nicht nötig. Wenn der Barbar bemerkt, dass der Mond sich nur dann verfinstert, wenn seine Scheibe völlig rund geworden ist, und wenn derselbe Barbar hiervon niemals irgendeine Ausnahme kennen lernt, so wird er mit Sicherheit die Überzeugung gewinnen, dass, wenn künftig eine Mondfinsternis eintritt, es bei Vollmond sein werde. Aber weil die Anzahl der Fälle niemals abgeschlossen ist, ist die Induktion niemals vollständig, und von was er gesetzt hat, dass es allgemein sei, das ist so beschaffen nur unter einer Beziehung. Wüsste er aber, dass die Ursache des Vollmonds die entgegengesetzte Lage der Sonne und des Mondes zu Seiten der Erde ist, und dass eben diese Zwischenposition der Erde bewirkt, dass, wenn der Mond sich auf der Knotenlinie der Fläche seiner Umlaufbahn befindet,82 er sich verfinstert, dann wüsste jener Barbar mit Sicherheit, ohne weiter Beobachtungen anstellen zu müssen, dass der Mond sich nur verfinstern kann, wenn er voll ist. – – Das Maß der Wahrscheinlichkeit ist die mit Gewissheit erfasste Wahrheit. Von was auch immer wir also erfahren, dass es entweder aus dem Wesen irgendeiner Sache folgt oder von ihren Ursachen bewirkt wird, das ist wahrscheinlich auch in all jenen Dingen, die entweder ein ähnliches Wesen haben oder aus übereinstimmenden Ursachen entstehen. Und diese Regel scheint fast immer verbunden werden zu können mit jener obigen, welche die aus der größeren Anzahl von Fällen erwachsende Wahrscheinlichkeit künftiger Fälle betraf; und aus der Verbindung von beiden entsteht ein höherer zusammengesetzter Grad der Wahrscheinlichkeit. Von was auch immer wir erfahren, dass es in den meisten Sachen derselben Gattung oder in der Mehrzahl der Fälle derselben Sache ist, von dem ist wahrscheinlich, dass es auch in dieser gegenwärtigen Sache derselben Gattung, in diesem gegenwärtigen Fall dieser Sache sein wird, wenn entweder ihr Wesen oder ihre Ursachen sich derjenigen Fälle, in denen jenes Attribut angetroffen wurde, mehr annähern als derer, in denen jenes ausblieb. So kann, dass der Mars seine Satelliten hat, als wahrscheinlich angesehen werden nicht nur, weil der größere Teil der Planeten so eingerichtet ist, sondern auch, weil die Ursache dieses Umstands, die sich beim Jupiter und beim Saturn findet, gleichermaßen auch beim Mars zugegen ist, nämlich die Entfernung von der Sonne.83
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§. XXVI. Posteaquam animus incumbens ad singularum rerum imagines hauriendas, sensim ex iis ad idearum vniuersalium fastigium ascendit, incipit iam versari in pluribus istis ideis inter se comparandis & coniungendis. Qua in re cum itidem sit aliquod probabilitatis genus, dicendum erit de modo in probabilibus ratiocinandi. Qui qualis esse debeat apparebit collatis Logicae certorum regulis. Est autem syllogismus, quod nuper etiam quidam Philosophus elegantissimus demonstrauit, nihil aliud nisi iudicium altero interueniente iudicio latum, (siue mediatum dicas) h. e. collatio attributi cum subiecto, interueniente alia quadam idea tertia, cuius rationem ad subiectum aeque atque ad ipsum attributum perspectam habeas. Primum itaque a Philosopho illo positum est principium hoc: Quae est notae nota, ea est nota rei: & quae est nota conceptus alicuius, qui non est nota rei, ea nec huius rei nota esse potest. Quae igitur nota est quasi intermedia coniungens rem cum illo nouo conceptu, eam intelligitur praemissarum debere alterius esse subiectum, alterius attributum; eam in qua subiectum est, debere vniuersalem esse, eam in qua attributum est, aientem; denique plures tribus conceptibus in syllogismo esse non posse. Ex quo summa regularum ad primam syllogismorum figuram pertinentium existit. In rebus probabilibus haec ἀξιώματα paullulum immutanda erunt hoc modo: I) Quod conuenit parti rerum conceptu aliquo comprehensarum, id etiam huic vel illi rei eodem conceptu comprehensae conuenire probabile est: eiusque probabilitatis est ad veritatem eadem ratio, quae istius partis ad totum. II) Quod subiecto cuidam tribuitur, id tribuendum iis quoque esse, quae sunt conceptu alio quodam isti subiecto simili comprehensa, probabile est: eiusque probabilitatis ad veritatem eo propior est accessus, quo propius accedit ista similitudo ad identitatem.
7–8 syllogismus,] Syllogismus G 11 subiectum] Subiectum G 23 I)] so oder 1) G subiecto] Subiecto G | tribuitur,] tribuitur; G 28 subiecto] Subiecto G
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§ 26. Nachdem der Geist, dem es angelegen war, Bilder von den einzelnen Dingen zu schöpfen, allmählich von diesen Bildern aus zur Höhe der allgemeinen Ideen aufgestiegen ist, beginnt er bald, sich damit zu beschäftigen, mehrere dieser Ideen miteinander zu vergleichen und zu verbinden. Da hier ebenfalls eine Gattung der Wahrscheinlichkeit liegt, muss von der Art und Weise die Rede sein, im Bereich des Wahrscheinlichen zu argumentieren.84 Wie diese beschaffen sein muss, wird sich zeigen, wenn wir die Regeln der Logik des Sicheren heranziehen. Ein Syllogismus aber ist, wie neulich auch ein gewisser höchst beredter Philosoph zureichend bewiesen hat,85 nichts anderes als ein Urteil, das von einem anderen hinzutretenden Urteil getragen (oder, wie man auch sagen kann, vermittelt) ist, d. h. der Vergleich eines Attributs mit dem Subjekt vermittels einer hinzukommenden anderen, dritten Idee, deren Beziehung zum Subjekt man genauso eingesehen hat wie die zu jenem Attribut. Das erste von jenem Philosophen aufgestellte Prinzip ist deshalb folgendes: Was ein Merkmal des Merkmals ist, das ist ein Merkmal der Sache, und was das Merkmal irgendeines Begriffs ist, der kein Merkmal der Sache ist, das kann auch kein Merkmal der Sache sein. Was also das gleichsam mittlere Merkmal ist, das die Sache mit jenem neuen Begriff verbindet, von dem sehen wir ein, dass es von der einen Prämisse das Subjekt, von der anderen das Attribut sein muss; dass jene, in der es das Subjekt ist, allgemein, jene, in der es das Attribut ist, affirmativ aussagend sein muss; endlich, dass es mehr als drei Begriffe in einem Syllogismus nicht geben kann. Hieraus besteht die Summe der Regeln, die zur ersten Figur der Syllogismen gehören.86 Bei den wahrscheinlichen Dingen wird man diese Axiome ein wenig verändern müssen, und zwar so: I) Was einem Teil der Dinge, die von einem Begriff umfasst werden, zukommt, von dem ist wahrscheinlich, dass es auch dieser oder jener Sache, die von demselben Begriff umfasst wird, zukomme; und das Verhältnis dieser Wahrscheinlichkeit zur Wahrheit ist dasselbe wie das jenes Teils zum Ganzen. II) Was einem bestimmten Subjekt zugeteilt wird, von dem ist wahrscheinlich, dass es auch denjenigen Dingen zuzuteilen sei, die von einem bestimmten anderen, jenem Subjekt ähnlichen Begriff umfasst werden; und diese Wahrscheinlichkeit kommt der Wahrheit umso näher, je näher jene Ähnlichkeit an die Identität herankommt.
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His iactis fundamentis, varia syllogismorum genera probabilium superstrui poterunt, intelligeturque, quae in Logica certorum reprehenduntur vt vitia, ea in Logica probabilium tanquam regulas adoptari. I) Ergo in primae figurae syllogismis enunciatione vtraque praemissa particulari, conclusio efficitur probabilis, (p. princ. I.) cuius ad veritatem accurata ratio non potest exigi, nisi quantum propositioni (Maiori) desit ad vniuersalitatem, ante perspexeris. Sic e. g. vbi certo scio tribus quadrantibus rerum subiecto comprehensarum conuenire attributum aliquod, ibi si alia quaedam res eo subiecto comprehensa est, eam in his tribus quadrantibus fore, quibus conuenit attributum, probabilitas est aequalis triplo quadrantis ( 43 ), eam in quarto quadrante fore cui non conuenit, simplo quadrantis ( 41 ). Quodsi partem eam subiecti quae habet illud attributum, calculis & numero definire non possum, sufficit ad probabilitatem, vt maiorem eam esse sciam. Potest autem hoc tum in aliis, tum maxime in rebus gestis, nonnisi clare tantum & quasi sensu quodam cognosci; debetque ingenium quod a natura ad ratiocinandas probabilitates quasi fictum est, hac inprimis dote praeditum esse, vt vna breui cogitatione magnam singulorum casuum multitudinem amplecti, eamque facili negotio & quasi aliud agens ad calculum redigere, atque ad omnium casuum numerum referre possit. Hac quoque probabilitatis regula confirmatur officium humanitatis, vt quos audiamus de sua miseria conquerentes, eos non captandae aliorum beneuolentiae caussa miseriam simulare, sed ea certe affligi credamus, propterea quod maior pars eorum qui ad misericordiam aliorum confugiunt, nisi necessitate adacta, id facere non solet. Sunt autem in hoc syllogismo duae res obseruandae: 1) Si assumtio non vnam rem aliquam, sed plures refert ad genus, cuius parti conuenire attributum quoddam propositio enuntiauit: tum eo magis augetur probabilitas, quo magis numerus re-
5 I)] so oder 1) G | syllogismis] Syllogismis G 29 1)] so oder I) G
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Nachdem diese Fundamente gelegt worden sind, wird man darauf die verschiedenen Gattungen der wahrscheinlichen Syllogismen errichten können und einsehen, dass man solches, was man in der Logik des Sicheren als Fehler tadelt, in der Logik des Wahrscheinlichen als Regeln annimmt. I) Also wird in den Syllogismen der ersten Figur,87 wenn beide Prämissen in je einer partikulären Aussage bestehen,88 eine wahrscheinliche Konklusion bewirkt (durch Prinzip I), deren genaues Verhältnis zur Wahrheit man nur fordern kann, wenn man zuvor erkannt hat, wieviel dem Obersatz (der größeren Prämisse)89 zur Allgemeinheit fehlt. So ist z. B., wenn ich sicher weiß, dass drei Vierteln der vom Subjekt umfassten Dinge ein bestimmtes Attribut zukommt, dann, wenn eine bestimmte andere Sache von diesem Subjekt umfasst wird, die Wahrscheinlichkeit, dass diese Sache zu jenen drei Vierteln gehören wird, denen das Attribut zukommt, gleich dem Dreifachen des Viertels (¾), und dass sie zum vierten Viertel gehören wird, dem das Attribut nicht zukommt, gleich dem Einfachen des Viertels (¼). Wenn ich aber denjenigen Teil des Subjekts, der jenes Attribut hat, durch Rechnung und Zahl nicht bestimmen kann, genügt es zur Wahrscheinlichkeit, dass ich weiß, dass er der größere ist. Das aber kann man auch anderswo, vor allem aber bei den geschichtlichen Taten nicht anders als mit bloßer Klarheit90 und gleichsam durch einen bestimmten Sinn erkennen, und es muss die geistige Veranlagung, die von der Natur zum Erschließen von Wahrscheinlichkeiten gleichsam gebildet worden ist, vor allem mit der Begabung versehen sein, dass sie in einem kurzen Gedanken eine große Vielheit einzelner Fälle umfassen und mit leichter Mühe, gleichsam nebenbei, aufrechnen und auf die Anzahl aller Fälle beziehen kann. – Durch diese Wahrscheinlichkeitsregel wird auch die Pflicht der Menschlichkeit bestärkt, dass wir von denen, die wir über ihre Armut klagen hören, nicht glauben, sie schützten die Armut nur vor, um das Wohlwollen anderer auf sich zu ziehen, sondern, dass sie mit Sicherheit von der Armut befallen sind, deshalb, weil der größere Teil derer, die bei der Barmherzigkeit anderer Zuflucht suchen, das nur von der Notwendigkeit getrieben zu tun pflegt. Bei diesem Syllogismus ist aber zweierlei zu beobachten: 1) Wenn die Annahme nicht nur irgendeine Sache, sondern mehrere auf die Gattung bezieht, von deren einem Teil der Obersatz behauptete, diesem Teil komme ein bestimmtes Attribut zu, dann wird die Wahrscheinlichkeit um soviel stärker vermehrt, um wieviel die Anzahl der
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rum assumtarum accedit ad plenitudinem eius partis, cui illud attributum deesse scimus. Quodsi eam superauit, ita vt plures assumantur, quam quae careant illo attributo: tum iam quibusdam ex assumtis, non probabile, sed certum est, idem tribuendum esse. Atque ita sensim probabilitas crescit, donec assumtorum numero aequante totum subiecti propositionis ambitum, ad summam certitudinem peruenit. Si tres quadrantes calculorum in vrna conditorum sunt nigro colore tincti, eo probabilius est nigrum extractum iri, quo propius abest extractorum numerus a quadrante, quo superato etiam necesse est, vt inter extractos aliqui sint nigri. Pertinet ad idem genus syllogismus ille, vbi quae subiecti partis aliquod attributum habentis est ratio ad partem illo carentem, eam in subiecti speciebus ex alio diuidendi principio ortis singulis fore concluditur, ita vt si generis tertia pars attributum admiserit, etiam singularum illarum specierum ternis partibus sit idem tribuendum. Syllogismi huius haec formula esto: 1 A 4
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est B.
C
est forma s. species τοῦ A.
1 Ergo C 4
est B.
Vt, si infantum qui vbique nascuntur, dimidia pars intra primum aetatis annum iam ex vita discedit, habent sane parentes caussam timendi, ne & suae sobolis dimidia pars alterum annum aetatis non attingat. Esse autem eo maiorem erroris in hac conclusione formidinem intelligitur, quo arctioribus species istae finibus sunt conclusae. Sic dimidiam partem infantum nondum bimulorum totius alicuius vrbis verisimilius est morituram esse, quam vnius familiae.
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§. XXVII. II) Syllogismus cuius complexio probabilis tantum sit, quatuor etiam terminos admittere potest, (p. princ. II.) sed hac tamen lege, vt qui conceptus subeunt in locum vnius termini medii, ii habeant
11 syllogismus] Syllogismus G | subiecti] Subiecti G 13 subiecti] Subiecti G 18 s.] s G 28 II)] II. G
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angenommenen Dinge an die Gesamtheit jenes Teils heranreicht, von dem wir wissen, dass ihm jenes Attribut nicht zukommt. Wenn aber diese Anzahl jene Gesamtheit übertrifft, so dass mehr Dinge angenommen werden als die, die jenes Attribut vermissen lassen, dann ist für einige von den angenommenen Dingen schon nicht mehr wahrscheinlich, sondern gewiss, dass ihnen jenes Attribut zuzuteilen ist. Und so wächst nach und nach die Wahrscheinlichkeit, bis sie, wenn die Anzahl der angenommenen Dinge dem ganzen Umfang des Subjekts des Obersatzes gleichkommt, zur höchsten Gewissheit gelangt. – Wenn drei Viertel der in einem Gefäß untergebrachten Steinchen schwarz gefärbt sind, ist es umso wahrscheinlicher, ein schwarzes werde gezogen, je weniger die Anzahl der gezogenen vom Viertel entfernt ist; wenn dieses übertroffen wurde, ist es sogar notwendig, dass unter den gezogenen einige schwarze sind. Zur selben Gattung gehört jener Syllogismus, wo geschlossen wird, dass das Verhältnis eines Teils des Subjekts, der ein bestimmtes Attribut hat, zu dem Teil, dem das Attribut fehlt, gleichermaßen in den einzelnen, durch ein anderes Teilungsprinzip entstandenen Arten des Subjekts sein werde, so dass, wenn der dritte Teil der Gattung ein Attribut zugelassen hat, auch jeweils dem dritten Teil jener Arten dasselbe Attribut zuzuteilen sei. Die Formel dieses Syllogismus sei folgende: 1 4
A ist B.
C Also:
ist eine Form oder Art von91 A. 1 4
C ist B.
Z. B. haben, wenn von den Kindern, die allerorten geboren werden, die Hälfte schon in ihrem ersten Jahr aus dem Leben scheidet, Eltern durchaus Grund zu fürchten, dass auch die Hälfte ihrer Nachkommen das zweite Lebensjahr nicht erreichen wird. Man sieht aber ein, dass bei dieser Konklusion das Schreckbild, einen Irrtum zu begehen, umso größer ist, in je engeren Grenzen jene Arten eingeschlossen sind. So ist, dass die Hälfte der noch nicht im zweiten Jahr stehenden Kinder einer ganzen Stadt sterben wird, wahrscheinlicher, als die einer einzigen Familie. § 27. II) Ein Syllogismus, dessen Konklusion nur wahrscheinlich ist, kann auch vier Termini zulassen (durch Prinzip II), jedoch unter dem Gesetz, dass diejenigen Begriffe, die an die Stelle des einen mittleren Terminus treten,
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quoddam inter se commune. Est autem genus eorum duplex. Alterum est, si notas aliquas easdem habent, ignoraturque an etiam caeterae sint illis communes: vt, Omne A est B. C est D, quod habet aliquas notas easdem quas A, sed an & caeteras omnes easdem habeat, nondum perspectum est. Ergo, quo minor est numerus earum notarum quas nondum explorauimus, eo probabilius est, C fore B.
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Alterum est, si intellecta & explorata diuersitate illorum conceptuum, tamen cernimus eam caussam quae efficit vt τῷ A tribuendum sit B, non esse in notis soli A propriis, sed in iis quas habeat cum D communes: vt,
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Omne A est B. C est D, quod cum A conuenit in notis a. b. c, quae rationem continent, quare B τῷ A possit tribui. Ergo probabile est, C esse B.
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In casu posteriori non tam probabilis quam certa est conclusio, si illud antea certum est, praedicatum B a notis a. b. c solis pendere. Quia autem saepius potest accidere, vt illae notae a. b. c, si sunt in subiecto A cum aliis, quam in subiecto C coniunctae aliud efficiant, haec concludendi ratio raro adscendit ad certitudinem. Prioris argumentationis exemplum foret, si quis cuius morbi nondum omnia symptomata nosset, ea autem quae nosset, nosset esse communia cum illo genere morbi, de cuius euentu ei iam constaret, eius morbi & eandem rationem & eundem exitum futurum esse colligeret. Posterioris, si ex morbi alicuius exitu praesagiret eundem euentum alius & diuersi morbi, sed conuenientis cum illo morbo in iis ex quibus exitus pendet probabiliter. Saepius autem in eodem syllogismo vtrumque vitium & praemissarum mere particularium, & quatuor terminorum, eo quo ex-
9 eo probabilius est, C fore B.] mit Ausnahme des ersten Buchstabens kursiv gesetzt G 19 c] c. G
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13 D] B G
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etwas untereinander gemein haben. Davon aber gibt es zwei Gattungen. Die eine liegt vor, wenn die beiden Begriffe einige identische Merkmale haben und man nicht weiß, ob ihnen auch die übrigen gemein sind, z. B.: Jedes A ist B. C ist D, wobei D einige Merkmale hat, die mit solchen von A identisch sind, jedoch noch nicht erkannt worden ist, ob auch alle übrigen Merkmale von D mit denen von A identisch sind. Also: Je geringer die Anzahl jener Merkmale ist, die wir noch nicht erforscht haben, desto wahrscheinlicher ist, dass C B sein wird. Die zweite Gattung liegt vor, wenn die Verschiedenheit jener Begriffe eingesehen und erforscht ist, wir aber doch erkennen, dass die Ursache, die bewirkt, dass dem A das B zuzuteilen ist, nicht in Merkmalen liegt, die nur A eigen sind, sondern in solchen, die es mit D gemein hat, z. B.: Jedes A ist B. C ist D, das mit A in den Merkmalen a, b, c übereinkommt, die den Grund enthalten, warum B dem A zugeteilt werden kann. Also ist wahrscheinlich, dass C B ist. Im letzteren Fall ist die Konklusion nicht nur wahrscheinlich, sondern sogar gewiss, wenn zuvor gewiss ist, dass das Prädikat B ausschließlich von den Merkmalen a, b, c abhängt. Weil es aber öfter vorkommen kann, dass die Merkmale a, b, c, wenn sie in Subjekt A mit anderen verbunden sind als in Subjekt C, etwas anderes bewirken, deshalb schwingt sich diese Schlussweise selten zur Gewissheit auf. Ein Beispiel für die erstere Argumentation wäre es, wenn jemand von einer Krankheit noch nicht alle Symptome kennen würde, von denen aber, die er kennen würde, wüsste, dass sie gemein mit jener Krankheitsgattung sind, über deren Ausgang er bereits Bescheid weiß, und dann schlösse, dass diese vorliegende Krankheit denselben Grund und denselben Ausgang haben werde. Ein Beispiel für die letztere Argumentation: Wenn er aus dem Ausgang irgendeiner Krankheit denselben Ausgang einer anderen, verschiedenen Krankheit vorauswüsste, die aber mit jener Krankheit in den Momenten übereinkommt, von denen wahrscheinlich der Ausgang abhängt. Öfter aber kommen in ein und demselben Syllogismus beide Fehler, sowohl die reine Partikularität der Prämissen als auch die Vierzahl der Termini, auf die Art und Weise, wie wir es
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plicauimus modo conueniunt. Sic imperator cum plurimos eorum, qui in tali rerum quodam statu praelium inierunt, victoriam videt reportasse, putat etiam se qui sit in simili rerum statu positus, si praelietur, victoriam posse sperare. Eodemque modo Cicero, quod ex rerum gestarum memoria cognouerat, multos imperii magis cupiditate quam amicitiae sensu ductos fecisse vt colerent eos, quorum opibus & gratia suam potentiam auctum iri sperarent: Pompeii affinitatem a Caesare expetitam & amicitiam cultam, quae caeteris videbatur quasi pignus esse publicae securitatis, ipse tanquam bellorum ciuilium semina horrebat.
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§. XXVIII. Inferioris longe gradus probabilitas est in eo syllogismo, qui si est primae figurae, habet vtramque enunciationem praemissam negantem, sin est secundae, vtramque aientem. 1) Si est primae figurae, argumentandi ratio ex duabus negantibus est haec: Si de duobus subiectis vnum aliquod attributum commune pariter negatur, tum illorum subiectorum alterum alteri posse tribui, eo probabilius est quo minorem praeter subiectum propositionis esse rerum numerum scimus, de quo illud attributum negandum sit. Formula est haec: Nullum B Nullum C Ergo probabile est, C
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est A. est B. fore A.
Facile intelligitur, hanc syllogismi formam parum abesse a legitima, cuius est certa complexio: Quicquid non est B, Nullum C Ergo C
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est A. est B. est A.
7 Pompeii] Pompeii G 8 Caesare] Caesare G
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erklärt haben, zusammen. So glaubt ein Befehlshaber, wenn er sieht, dass die meisten derer, die in einer so-und-so beschaffenen Lage der Dinge den Kampf begonnen haben, den Sieg davontrugen, dass auch er selbst, da er sich in einer ähnlichen Lage der Dinge befindet, den Sieg erhoffen dürfe, wenn er in den Kampf ziehe. Auf dieselbe Weise erging es Cicero: Durch die Erinnerung an Geschehenes wusste er, dass viele Männer mehr von der Gier nach Befehlsgewalt als von dem Sinn für Freundschaft dazu bewogen worden waren, diejenigen zuvorkommend zu behandeln, durch deren Vermögen und Dank sie ihre Macht zu vermehren hofften; darüber, dass Cäsar die Nähe zu Pompeius suchte und mit ihm Freundschaft pflegte, was den anderen gleichsam ein Pfand für die öffentliche Sicherheit zu sein schien, war Cicero deshalb entsetzt, denn er sah darin die Samen der Bürgerkriege.92 § 28. Von bei weitem geringerem Grad ist die Wahrscheinlichkeit in demjenigen Syllogismus, von dem, wenn er zur ersten Figur gehört, beide Prämissen negativ sind, wenn aber zur zweiten Figur,93 beide affirmativ. 1) Wenn er zur ersten Figur gehört, ist aus zwei negativen Prämissen wie folgt zu argumentieren: Wenn zwei Subjekten ein ihnen gemeines Attribut gleichermaßen abgesprochen wird, dann ist, dass von diesen Subjekten das eine dem anderen zugeteilt werden kann, umso wahrscheinlicher, je geringer nach unserer Kenntnis die Anzahl der Dinge außer dem Subjekt des Obersatzes ist, denen jenes Attribut abzusprechen ist.94 Die Formel ist folgende: Kein B Kein C Also ist wahrscheinlich: C
ist A. ist B. wird A sein.95
Mit Leichtigkeit ist einzusehen, dass diese Form des Syllogismus wenig von einer rechtmäßigen abweicht, deren Konklusion gewiss ist: Was nicht B ist, ist A. Kein C ist B. Also: C ist A.96
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Prioris itaque syllogismi probabilitas eo magis augetur, quo propius ad posteriorem accedit, hoc est, quo minus est probabile, praeter B etiam alia fore, de quibus A sit negandum. Consentit cum hac probabilitatis regula lex illa humanitatis, quae quorum nulla cognouimus in nos iniuste iniurioseque facta, eos honestos & probos viros existimari iubet. Nam si praeceptum hoc redigatur ad syllogismi iustam formam, haec erit:
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Qui fecit aliquid iniuste & contumeliose: is non est vir bonus. Ille quidam nihil iniuste fecit: ergo est vir bonus. Videtis eius syllogismi ad concludendum vim & complexionis probabilitatem longe maiorem fore, si de iustitiae officiis, quam si de virtute, si de non laedendis aliis, quam si de adiuuandis & colendis sermo sit, propterea quod quae inter plenam turpitudinem & vniuersae virtutis studium sunt quasi intermedia, quae omnia de viro bono aeque negari debent, ea multo sunt plura, quam quae inter illam turpitudinem & iustitiam sunt. Tum enim syllogismi propositio maior:
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Qui admittit in se quae iniusta sunt: non est vir iustus. in hanc alteram potest conuerti: Quisquis non admittit in se turpia: est vir iustus. 2) Sin est secundae figurae syllogismus, argumentandi ratio ex duabus aientibus est haec: si duobus subiectis communis aliquis conceptus tribuendus est, tum eorum subiectorum vtrumque alteri tribuendum esse probabile est. Si conceptus ille est cum subiecto maioris reciprocus, tunc conclusio certa. Si est autem eius genus, tunc quo latius hoc patet, & quo plura praeter subiectum complectitur, eo minor probabilitas conclusionis. Donec ea plane euanescat, vbi conceptus est ex generalioribus entis praedicatis. Respondet itaque huic syllogismo alius quidam itidem secundae figurae syllogismus ex Logica certorum, cum propositionis subiectum & attributum sunt eiusdem ambitus. Nam tum conuersione facta syllogismus exit primae figurae. Si enim in syllogismo:
16 maior:] maior. G
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Die Wahrscheinlichkeit des ersteren Syllogismus wird deshalb umso mehr erhöht, je mehr er an den letzteren herankommt, d. h., je weniger es wahrscheinlich ist, dass es außer B noch anderes gibt, dem das A abzusprechen ist. Mit dieser Wahrscheinlichkeitsregel stimmt jenes Gesetz der Menschlichkeit überein, das befiehlt, diejenigen, von denen wir keine Taten kennen, die sie unrechter- oder unbilligerweise gegen uns begangen haben, als ehrenhafte und rechtschaffene Männer anzusehen.97 Denn wenn diese Vorschrift auf die rechte syllogistische Form zurückgeführt wird, so wird es die folgende sein: Wer etwas Unrechtes und Schimpfliches getan hat, ist kein guter Mann. Jener bestimmte hat nichts Unrechtes getan. Also: Er ist ein guter Mann. Wie ihr seht, werden die Schlusskraft und die Wahrscheinlichkeit der Konklusion dieses Syllogismus bei weitem größer sein, wenn von den Pflichten der Gerechtigkeit, als wenn von der Tugend; größer, wenn davon, die anderen nicht zu verletzen, als wenn davon, ihnen zu helfen und sie zuvorkommend zu behandeln, die Rede ist, und zwar deshalb, weil das, was an gleichsam Mittlerem zwischen völliger Schändlichkeit und dem Eifer für die ganze Tugend liegt, welches alles gleichermaßen einem guten Mann abgesprochen werden muss, um vieles mehr ist, als was zwischen jener Schändlichkeit und der Gerechtigkeit liegt.98 Dann kann nämlich der Obersatz des Syllogismus: Wer in sich zulässt, was ungerecht ist, ist kein gerechter Mensch. in diesen anderen umgewandelt werden: Wer in sich nichts Schändliches zulässt, ist ein gerechter Mensch. 2) Wenn der Syllogismus aber zur zweiten Figur gehört, ist die Art und Weise, aus zwei affirmativen Prämissen zu argumentieren, folgende: Wenn zwei Subjekten ein ihnen gemeiner Begriff zuzuteilen ist, dann ist wahrscheinlich jedes dieser beiden Subjekte dem anderen zuzuteilen. Wenn jener Begriff mit dem Subjekt des Obersatzes reziprok ist, dann ist die Konklusion sicher. Wenn er aber die Gattung des Subjekts ist, dann ist, je weiter der Umfang dieser Gattung ist und je mehr sie außer dem Subjekt umfasst, die Wahrscheinlichkeit der Konklusion desto geringer. Bis sie endlich ganz schwindet, wenn der Begriff zu den allgemeineren Prädikaten des Seienden gehört. Deshalb entspricht diesem Syllogismus ein anderer, wiederum aus der zweiten Figur, aus der Logik des Sicheren, wenn Subjekt und Attribut des Obersatzes denselben Umfang haben. Denn dann kommt nach vollzogener Umwandlung ein Syllogismus der ersten Figur heraus. Wenn nämlich im Syllogismus:
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A est B. C est B. sine vniuersalitatis iactura propositio potest inuerti: cernitur conclusionem hanc, C est A, tam certam fore, quam quod est certissimum. Quo minor igitur est ambitus τοῦ B, & quo is pauciores conceptus praeter illud A comprehendit, eo probabilius est A & C inter se conuenire. Vt, si eius cuius mihi nomen tacetur, & animi indolem, & ingenii vires, & vitae aliquos casus narrari audiam, tum si quem nouero, in quem huiusmodi & animus & ingenium & res gestae cadant, eum existimabo esse istum ipsum de quo sermo sit: idque mihi eo magis persuadebo, quo paucioribus vulgata & communia ista sunt, quae & de natura hominis & de factis narrantur. Eadem ratione adductus, librum in quo alicuius scriptoris & sententias & dicendi genus & cogitationum conformandarum rationem inueneris, tribuere illi non dubitabis, quanquam is nomen suum professus non sit.
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§. XXIX. Omissis caeteris regularum Logicarum immutationibus, caeterisque syllogismorum generibus, quae vel ex superioribus facile intelliguntur, vel parum vtilitatis videntur afferre posse, paullulum immoremur in ratiocinatione hypothetica. Eius notissima est lex: Si conditio quae antecedit, vera est: etiam vera sunt quae consequuntur. In hac igitur nostra disciplina valebit etiam ordo inuersus: Si vera sunt quae consequuntur, etiam conditio antecedens est vera. Nituntur huius legis inuersae probabilitate celebres illae hypotheses, quibus fere magnam & Physicorum partem & doctrinae de anima debemus. Syllogismum itaque conditionalem eum constituimus, in quo id quod sumitur tanquam ratio, quare verum sit quod ei annexum est, eo quod verum est id, quod inde consequebatur, efficitur.
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A ist B. C ist B. ohne Aufgabe der Allgemeinheit der Obersatz umgekehrt werden kann, erkennt man, dass folgende Konklusion: C ist A. so sicher sein wird wie das, was am sichersten ist. Je geringer also der Umfang von B ist und je weniger Begriffe er außer jenem A umfasst, desto wahrscheinlicher ist, dass A und C miteinander übereinkommen. Z. B., wenn ich höre, dass über jemanden, dessen Name mir verschwiegen wird, erzählt wird, von welchem Charakter sein Gemüt ist, welche Geisteskräfte er hat und was einige Wechselfälle seines Lebens waren, dann werde ich, falls ich jemanden kenne, dem ein solches Gemüt, eine solche geistige Begabung und solche Taten zukommen, glauben, er sei eben jener, von dem die Rede ist, und werde umso mehr davon überzeugt sein, bei je weniger Leuten das, was sowohl vom Wesen dieses Menschen als auch von seinen Taten erzählt wird, verbreitet und ihnen gemein ist. Durch denselben Grund veranlasst, wird man bei einem Buch, in dem man sowohl die Meinungen als auch die Ausdrucksweise und die Art der Gedankenformung eines bestimmten Schriftstellers findet, nicht zögern, es ihm zuzuschreiben, auch wenn er seinen Namen nicht genannt hat. § 29. Die übrigen Veränderungen der logischen Regeln und die übrigen Gattungen der Syllogismen lassen sich aus dem oben Gesagten leicht einsehen oder scheinen nur wenig Nutzen bringen zu können; wir wollen sie übergehen und uns nur ein wenig bei der hypothetischen Argumentation aufhalten. Deren bekanntestes Gesetz lautet: Wenn die vorausgehende Bedingung wahr ist, ist auch wahr, was daraus folgt. In dieser unserer Disziplin also wird auch die umgekehrte Ordnung gültig sein: Wenn wahr ist, was daraus folgt, ist auch die vorausgehende Bedingung wahr. Auf die Wahrscheinlichkeit dieses umgekehrten Gesetzes stützen sich jene berühmten Hypothesen, denen wir sozusagen einen großen Teil sowohl der Physik als auch der Seelenlehre verdanken. Deshalb stellen wir als konditionalen Syllogismus den auf, in dem das, was als der Grund angenommen wird, warum das, was sich an ihn anschließt, wahr ist, dadurch bewirkt wird, dass das wahr ist, was sich als seine Folge ergab.
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Si A est B, tunc intelligitur quî C possit D esse. Atqui C est D. Ergo A est B. Est autem hoc facillimum perspectu, conclusionis huius vim sitam esse in eo, quod praeter illam rationem A est B, omnis alia quae possit efficere, vt D τῷ C tribuendum sit, necessario vel neganda penitus, vel parum credibilis esse videretur. Fit autem tum ista ratiocinatio, si enunciatione quadam, de cuius veritate nondum constat assumta, quae inde per repugnantiae principium logice consequuntur, ex ipsa deducuntur, in eorumque veritatem deinceps inquiritur. Seu, si rei cuiusdam vi sumta, quae ab ea effici experientia constat, ea esse in effectu ab illa profecto comperimus ex eoque vim illam inesse illi caussae colligimus. A veritate nimirum conclusionum ad principiorum veritatem, siue ab existentia effectus ad existentiam caussae procedit argumentatio. Prior ratio quia multo explicatu facilior est, eam relicta posteriore, solam nobis exponendam sumamus.
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§. XXX. Si subiecto cuidam conuenire aliquem conceptum ex ipsius subiecti antea perspecta natura demonstrari non potest, tunc solemus isti hunc conceptum quasi commodando tribuere; deinde huius conceptus notas plures cum isto subiecto conferre, & si istas conuenire subiecto videmus tum etiam conceptum ipsum iam certe tribuere. Sic Quaeratur an Atqui scimus Ergo ponendum erit & Atqui Ergo
A sit B. B esse C. D. E. A esse C. D. E. A compertum est esse C. D. E. A est B.
Syllogismi istius conclusio certa futura est, si vel vna quaedam nota vel omnes coniunctae conceptus B, ita ei sunt propriae, vt praeter
18 subiecto] Subiecto G 19 subiecti] Subiecti G 21 subiecto] Subiecto G 22 subiecto] Subiecto G 25 E.] E &c. G 26 C.] C, G 29 est,] est; G 30 omnes] omnis G
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Wenn A B ist, dann wird eingesehen, wie C D sein kann. Aber C ist D. Also: A ist B. Sehr leicht ist aber zu erkennen, dass die Kraft dieser Konklusion darin liegt, dass außer dem Grund A ist B jeder andere, der bewirken kann, dass D dem C zuzuteilen ist, entweder notwendigerweise gänzlich zu negieren wäre oder wenig glaubhaft zu sein schiene. Diese Überlegung aber findet statt, wenn eine Aussage angenommen wird, über deren Wahrheit noch nichts ausgemacht ist, dann das, was daraus durch das Widerspruchsprinzip logisch folgt, aus ihr abgeleitet wird und schließlich nach dessen Wahrheit gefragt wird; oder, wenn die Kraft einer Sache angenommen wird und uns dann bekannt wird, dass dasjenige, von dem durch Erfahrung feststeht, dass es von ihr bewirkt werden kann, tatsächlich von ihr bewirkt wird, und wir daraus entnehmen, dass jene Kraft jener Ursache innewohnt. Ohne weiteres von der Wahrheit der Konklusionen zur Wahrheit der Prinzipien, oder von der Existenz der Wirkung zur Existenz der Ursache geht die Argumentation vorwärts. Da die erstere Weise um vieles leichter zu erklären ist, nehmen wir uns nur ihre Auslegung vor und lassen die letztere beiseite. § 30. Wenn, dass einem Subjekt ein Begriff zukomme, nicht aus der zuvor erkannten Natur des Subjekts selbst zureichend bewiesen werden kann, dann pflegen wir ihm diesen Begriff gleichsam leihweise zuzuteilen, daraufhin mehrere Merkmale dieses Begriffs mit jenem Subjekt zu vergleichen und, wenn wir sehen, dass sie dem Subjekt zukommen, dann ihm auch den Begriff selbst mit Gewissheit zuzuteilen. Z. B.: Es werde gefragt, ob gilt: Wir wissen aber: Also wird zu setzen sein, dass auch gilt: Aber es ist bekannt, dass gilt: Also:
A ist B. B ist C, D, E.99 A ist C, D, E. A ist C, D, E. A ist B.
Die Konklusion dieses Syllogismus wird dann sicher sein, wenn entweder ein bestimmtes Merkmal des Begriffs B oder alle zusammen ihm so zu eigen sind, dass sie außer
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eum nulli alii sint tribuendae. Tum enim assumtione conuersa, syllogismus talis esset: A Atqui C. D. E Ergo A
est C. D. E. est B. est B.
Itaque Philosophi opera & studium in eo versabitur, vt vel eligendo notas proprias τοῦ B, & cum alio nullo communes, vel augendo eas & multiplicando, exhauriat, quoad potest, eius conceptus ambitum vniuersum. Inde iam singula poterunt syllogismorum praecepta deriuari. 1) Conceptus illius, qui est in hypothesi subiecto tributus, notae quam plurimae atque ad caeteros conceptus relationes debent iam antea esse perspectae, immo, quantum potest, eius tota natura & ratio penitus oportet sit explorata. Quo enim penitius illa cognoscuntur, eo non solum plures possunt ex hypothesi cogi conclusiones quippe quarum numerus aequabit numerum notarum quae sunt cum A collatae; sed etiam tollitur, aut certe imminuitur illa dubitatio, inter notas τοῦ B ignotas, posse vnam aut alteram esse, quae τῷ A repugnet, omnemque hypothesin tollat. Keplervs cum orbitas planetarum, quas Circulos esse Veteres putabant, in Ellipses mutaret, debebat Ellipseos vniuersam naturam & proprietates ante iam exploratas habere, vt planetam in quoduis huius curuae punctum deinceps collocando, indeque quae in oculos deberet incurrere speciem cum obseruationibus conferendo, hypothesin ipsam confirmaret. 2) Tum si ea res quam per hypothesin alicui subiecto tribuimus, satis perspecta nobis est, debemus eius notis illi subiecto applicandis ex enunciatione assumta, cogere tot conclusiones, quot possumus. Nam quo plures coegerimus, eo probabilius fiet, aut illius B τῷ A attributi ambitum illis notis omnibus impleri, aut earum vnam & alteram fore notas illi conceptui proprias & quasi pe-
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ihm keinem anderen zuzuweisen sind. Dann nämlich wäre nach Umkehrung des Untersatzes der Syllogismus so beschaffen: A Aber C, D, E Also: A
ist C, D, E. ist B. ist B.
Deshalb werden sich Mühe und Eifer des Philosophen darauf richten, entweder solche Merkmale, die dem B zu eigen und ihm mit keinem anderen gemein sind, auszuwählen oder die Merkmale zu vermehren und zu vervielfältigen, um, soweit möglich, den Umfang dieses Begriffs gänzlich auszuschöpfen. Hieraus lassen sich bereits einzelne Vorschriften für die Syllogismen ableiten. 1) Von den Merkmalen jenes Begriffs, der in der Hypothese dem Subjekt zugeteilt wurde, und von seinen Beziehungen zu den übrigen Begriffen müssen möglichst viele schon zuvor erkannt sein, ja es ist nötig, dass soweit wie möglich seine ganze Natur und Struktur durchweg erkundet sei. Je weitläufiger das nämlich erkannt wird, desto mehr Konklusionen können nicht nur aus der Hypothese erzwungen werden, da ja deren Anzahl der Anzahl der Merkmale, die mit A verglichen worden sind, gleichkommen wird, sondern es wird auch jener Zweifel aufgehoben oder wenigstens verringert, dass unter den unbekannten Merkmalen von B das eine oder andere sein könne, das dem A widerstreitet und die ganze Hypothese aufhebt. – Als Kepler die Umlaufbahnen der Planeten, von welchen Bahnen die Alten glaubten, es seien Kreise, in Ellipsen verwandelte, musste er die ganze Natur der Ellipse und ihre Eigenschaften schon zuvor erkundet haben, um jene Hypothese dadurch, dass er dann den jeweiligen Planeten auf jedweden Punkt dieser Kurve setzte und den Anblick, der von dorther in die Augen fallen musste, mit den Beobachtungen verglich, bekräftigen zu können.100 2) Wenn wir die Sache, die wir durch die Hypothese einem Subjekt zuteilen, genügend erkannt haben, dann müssen wir, indem wir ihre Merkmale dem Subjekt anheften, aus der angenommenen Aussage so viele Konklusionen erzwingen, wie wir können. Denn je mehr wir erzwingen, desto wahrscheinlicher wird es geschehen, dass entweder der Umfang jenes dem A zugeteilten B durch all jene Merkmale ausgefüllt wird, oder dass das eine und das andere von ihnen jenem Begriff eigentümliche und gleichsam besondere Merkmale sein werden.
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culiares. Quodsi ex antegressis iam vel experimentis vel obseruationibus patet, illas enunciationes quas in hypothesi conclusiones fecimus, & quarum tantum ratio explicanda erat, veras esse: tum attributa illa C. D. E quae τῷ A conueniunt, appellantur Phaenomena, eorumque cum hypothesi consensu dicitur niti huius veritas, propterea quod notae attributi B, quod subiecto conuenire sumitur, debent cum attributis τοῦ A experientia cognitis conuenire, atque adeo vtrumque inter se, & subiectum & attributum copulare. Qua de caussa tot cogi posse debent ex hypothesi conclusiones, quot sunt phaenomena. At noua est & quasi extrinsecus accedens illius confirmatio, si & aliae conclusiones inde cogantur, quae plura & adhuc ignota rei attributa declarent, quae vbi accuratior rerum obseruatio accesserit, vera esse comperiuntur. Copernicvs, cum post longam huius doctrinae iam a Pythagora & Philolao cognitae intermissionem, solis statariam fidem terraeque motum restitueret, nil nisi diurnas solis astrorumque conuersiones eas, quae diei & noctis vicissitudines efficiunt, & annuam solis per Zodiacum circumactionem, planetarum denique a sole recessiones & ad eundem accessus cognouerat. Rude eius itaque systema tunc a plerisque reiectum repertis deinde Tuborum Astronomicorum ope, & Veneris & Mercurii phasibus & formis, tum planetarum & inferiorum & superiorum certis temporibus imminutione & augmento tum eorundem nunc tarditate motus nunc concitatione ita confirmatum est, vt superstitionis adeo religionem vicerit. Atqui ex hypothesi ista adhuc aliud consequebatur, si terra circa axem circumrotetur, partibus eius imprimi quendam rectis lineis a suo centro recedendi nisum; & quia partes eae quae sunt circa aequatorem multo maiores orbes conficiant iis quae Polis sunt propiores, etiam illarum a centro suo recedendi nisum fore maiorem ac fortiorem; ideoque cum sit nisus ille oppositus grauitati, quae corpus ad terrae centrum impellat, hanc corporum grauitatem debere minorem esse in partibus circa aequatorem, in partibus circa polos maiorem. Atque haec omnia sequentium temporum diligentia confirmauit.
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Denn weil aus den vorangegangenen Experimenten oder Beobachtungen schon klar ist, dass jene Aussagen, die wir in der Hypothese zu Konklusionen gemacht haben und deren Grund nur noch darzulegen war, wahr sind, dann werden jene Attribute C, D, E, die dem A zukommen, ›Phänomene‹ genannt und man sagt, dass auf ihrer Übereinstimmung mit der Hypothese deren Wahrheit beruht, und zwar deshalb, weil die Merkmale des Attributs B, von dem angenommen wird, dass es dem Subjekt zukommt, mit den aus der Erfahrung bekannten Attributen von A übereinkommen müssen und somit beides untereinander, das Subjekt und das Attribut, verbinden müssen. Deshalb muss man so viele Konklusionen aus der Hypothese erzwingen können, wie es Phänomene gibt. Eine neue und gleichsam von außen hinzutretende Bekräftigung davon gibt es aber, wenn dorther auch andere Konklusionen erzwungen werden, die mehr und bisher unbekannte Attribute der Sache anzeigen, über welche Attribute wir, sobald die genauere Beobachtung der Dinge hinzutritt, erfahren, dass sie wahr sind. – Als Kopernikus nach der langen Unterbrechung dieser schon von Pythagoras und Philolaos101 erkannten Lehre das zuverlässige Feststehen der Sonne und die Bewegung der Erde wiederherstellte, hatte er nichts als jene täglichen Umdrehungen der Sonne und der Sterne, die den Wechsel von Tag und Nacht bewirken, den jährlichen Umlauf der Sonne durch den Tierkreis und schließlich die Bewegungen von der Sonne weg und zu ihr hin, die die Planeten ausführen, erkannt.102 Sein System, das deshalb damals von den meisten brüsk zurückgewiesen wurde, ist darauf mit Hilfe der astronomischen Fernrohre durch die Phasen und Gestalten von Venus und Merkur, dann durch die zu gewissen Zeiten eintretende Verkleinerung und Vergrößerung der unteren und oberen Planeten und durch die abwechselnde Verzögerung und Beschleunigung ihrer Bewegung so sehr bestärkt worden, dass es den Aberglauben besiegt hat. Und aus jener Hypothese ging als weitere Folgerung hervor, dass, wenn die Erde sich um ihre Achse dreht, ihren Teilen eine gewisse Neigung eingedrückt werde, in geraden Linien von ihrem Zentrum zurückzuweichen; und dass, weil diejenigen Teile, die um den Äquator liegen, um vieles größere Kreise ausführen als diejenigen, die den Polen näher sind, bei jenen auch die Neigung, von ihrem Zentrum zurückzuweichen, größer und stärker sein werde; und dass deshalb, weil jene Neigung entgegengesetzt zur Schwere ist, die den Körper zum Zentrum der Erde treibt, diese Schwere der Körper bei den um den Äquator liegenden Teilen kleiner, bei den um die Pole liegenden Teilen größer sein müsse. Und all das ist durch die Aufmerksamkeit der folgenden Zeiten bekräftigt worden.
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[57]
3) Quodsi nulla nota conceptus B per hypothesin τῷ A attributi, ipsi est propria: tum vna reliqua est probabilitatis confirmatio ducta ab eius simplicitate. Esto Phaenomenorum A ratio B, & rursus alia ratio α & β. Harum alterius hic erit syllogismus:
Ergo
A B A
est B. est C. D. E. est C. D. E.
alterius iste: A est α & β. α est C, β est D. E. Ergo A est C. D. E. Vtra hypothesis probabilior erit, ea quae phaeomenorum omnium rationem ex vno attributo reddit, an quae ex pluribus? Cum ex pluribus redditur, totidem existunt hypotheses. Nam A ponitur esse α, vt explicetur phaenomenon C: deinde ponitur esse β, vt explicentur phaenomena D & E. Atqui quo pauciora ex singulis quibusque hypothesibus explicari possunt, eo infirmior est ipsarum probabilitas; & quo ex pluribus eius generis composita est vniuersa, eo magis vt numerus attributorum, ita probabilitatis defectus augetur. Ergo si attributa τοῦ B sunt eius generis, vt singula quidem etiam aliis rebus conuenire possint, (aliud τῷ α, alia τῷ β &c.) sed vt omnia simul sumta nulli rei praeterquam τῷ B conueniant; eius hypotheseos quae phaenomenorum omnium rationum ex B reddit, multo est maior ac firmior probabilitas, quam eius quae rationem illam reddit ex α & β. Atque hoc illud est, quo Copernicana motuum caelestium explicandorum ratio prae Tychonica longissime praestat. Nam Copernicvs vniuersorum Phaenomenorum rationem reddit ex vna hypothesi terrae circa axem & solem actae, adhibens doctrinam vniuersalem de phaenomenis opticis, quae ex natura motus orbicularis plurium corporum, dispari spatio a centro distantium & inaequali celeritate incitatorum, necessario debent oriri. Tycho autem vicissitudines diei noctisque, & vtriusque longitudinis variationem de-
11 quae] qua G 18 probabilitatis] probilitatis G 26 Copernicvs] Copernicus G 30 Tycho] Tycho G
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3) Wenn aber kein Merkmal des Begriffs B, der durch die Hypothese dem A zugeteilt wurde, dem Begriff B eigentümlich ist, bleibt als einzige Bekräftigung der Wahrscheinlichkeit diejenige, die von seiner Einfachheit her geführt wird. Es sei B ein Grund für die Phänomene von A, und wieder ein anderer Grund seien α und β. Der Syllogismus des einen Grundes wird der folgende sein: A ist B. B ist C, D, E. Also: A ist C, D, E. der des anderen jener: A ist α und β. α ist C, β ist D, E. Also: A ist C, D, E. Welche der beiden Hypothesen wird die wahrscheinlichere sein: diejenige, die den Grund aller Phänomene aus einem einzigen Attribut her angibt, oder die, die das aus mehreren her tut? Wenn der Grund aus mehreren her angegeben wird, dann gibt es ebenso viele Hypothesen. Denn man setzt, A sei α, um das Phänomen C zu erklären; dann setzt man, es sei β, um die Phänomene D und E zu erklären. Aber je weniger aus den je einzelnen Hypothesen erklärt werden kann, desto schwächer ist ihre Wahrscheinlichkeit; und aus je mehr derartigen Hypothesen die ganze zusammengesetzt ist, desto mehr wird, wie die Anzahl der Attribute, so auch der Mangel an Wahrscheinlichkeit vergrößert. Wenn also die Attribute von B von solcher Art sind, dass sie zwar einzeln auch anderen Dingen zukommen können (das eine dem α, die anderen dem β usw.), dass sie aber alle zugleich genommen keiner Sache außer dem B zukommen, dann ist die Wahrscheinlichkeit derjenigen Hypothese, welche den Grund aller Phänomene aus B her angibt, um vieles größer und stärker als die derjenigen, die jenen Grund aus α und β her angibt. – Und das ist der Umstand, durch den die kopernikanische Weise, die Himmelsbewegungen zu erklären, bei weitem den Vorzug vor der tychonischen hat.103 Denn Kopernikus gibt den Grund aller Phänomene aus der einen Hypothese her an, dass die Erde sich um ihre Achse und um die Sonne drehe, indem er die allgemeine Lehre von den optischen Phänomenen anwendet, die aus der Natur der Umlaufsbewegung mehrerer Körper, die verschiedenen Abstand vom Zentrum haben und mit ungleicher Schnelligkeit angetrieben werden, notwendig entstehen müssen. Tycho aber leitete den Wechsel von Tag und Nacht sowie die Veränderung von beider Länge
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ducit ex motu solis ab vno circulo tropico ad alterum per helices circumacti; planetas deinde iterum circa solem circumagi & cum eo simul circa terram quasi circumduci; stellas fixas denique intra 24 horarum spatium immensum illum orbem conficere iussit; cuius etiam cogitatione obstupescimus. Quot itaque sunt nouae hypotheses, toties etiam recurrunt illi defectus, qui ex imperfecta & inconsummata probabilitate oriuntur. Quae cum simul sumtae demum hypothesin integram efficiant: perspicitur, non posse non per istos defectus toties recurrentes, quot sumtae sunt hypotheses singulae, totam hypothesin minus probabilem fieri. 4) Postremo loco etiam illud hypothesin vehementer confirmat, si re alia cognita, cui nouimus tribuendum esse id, quod priori per hypothesin quasi commodauimus, eadem in vtraque phaenomena reperiuntur. E. g. cum sumo A esse B, vt inde possint explicari phaenomena C. D. E experientia cognita, si mihi alia res F nota est, cui conuenire attributum B non coniicio, sed scio, in qua reperiantur eadem illa phaenomena C. D. E: tum illa hypothesis, A esse B, plurimum inde confirmatur. Newtonvs dicens caelestium corporum motum orbicularem compositum esse, in caeteris quidem stellis errantibus ex motu ad solem, in luna autem ad terram tanquam centrum constanter directo, & ex motu qui ab hoc centro rectis lineis circulum tangentibus recedere tendat: lunae tribuit motum eundem quem in corporibus terrestribus deprehensum grauitatis nomine appellamus. Nam si luna centrum quo perpetuo feratur habebat terram: consequebatur, quia vis corporum centripeta ex ratione quadratorum distantiarum decrescit, in eadem ratione debere esse spatium quo luna certo tempore vna vi centripeta ad terram accedit, ad spatium intra idem tempus decursum a corpore grauitate pulso. Quod cum Newtonvs vellet experiri, diuisit motum lunarem in duos illos ex quibus compositus est. Deinde ex Geometriae doctrinis coegit, quantum certo
17 E:] E; G 25 terram:] terram; G
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aus der Bewegung ab, die die Sonne von einem Wendekreis zum anderen in Spiraldrehungen vollführe; die Planeten würden dann wieder um die Sonne getrieben und zugleich mit ihr gleichsam um die Erde geführt; den Fixsternen schließlich befahl er, innerhalb von 24 Stunden jenen unermesslich raumgreifenden Umlauf zu vollenden, was auch nur zu denken uns stutzig macht. Wie viele neue Hypothesen es also gibt, so oft kehren auch jene Mängel wieder, die aus unvollkommener und unabgeschlossener Wahrscheinlichkeit entstehen. Weil diese Hypothesen zusammengenommen schließlich die vollständige Hypothese ergeben, so ist einleuchtend, dass es unmöglich ist, dass durch jene Mängel, die so zahlreich wiederkehren, wie einzelne Hypothesen angenommen worden sind, die ganze Hypothese nicht weniger wahrscheinlich würde. 4) Zuletzt bedeutet es auch eine starke Bekräftigung der Hypothese, wenn eine andere Sache erkannt worden ist, von der wir wissen, dass ihr das, was wir der früheren durch eine Hypothese gleichsam geliehen haben, zuzuteilen ist, und wenn dann bei jedem dieser beiden Dinge dieselben Phänomene gefunden werden. Wenn ich z. B. annehme, A sei B, um daraus die durch Erfahrung erkannten Phänomene C, D, E erklären zu können, und wenn mir eine andere Sache F bekannt ist, von der ich nicht bloß vermute, sondern weiß, dass ihr das Attribut B zukommt, und bei der jene selben Phänomene C, D, E gefunden werden, dann wird dadurch jene Hypothese, A sei B, aufs höchste bekräftigt. Newton sagte, die Umlaufbewegung der Himmelskörper sei zusammengesetzt: aus derjenigen Bewegung, die bei den übrigen Planeten beständig zur Sonne, beim Mond aber zur Erde als dem Zentrum gerichtet sei, und aus derjenigen, die von diesem Zentrum in geraden Linien – als Tangenten eines Kreises – zurückzuweichen suche; dabei teilte er dem Mond dieselbe Bewegung zu, die wir in den irdischen Körpern finden und mit dem Namen ›Schwere‹ benennen.104 Denn wenn bekannt war, dass der Mond als Zentrum, von dem er beständig getragen wird, die Erde hat, so folgte, weil die zentripetale Kraft der Körper im quadratischen Verhältnis zu ihren Abständen abnimmt, dass im selben Verhältnis die Strecke, auf der der Mond in einer bestimmten Zeit durch die eine, nämlich die zentripetale Kraft sich der Erde annähert, zu derjenigen Strecke stehen müsse, die ein von der Schwere getriebener Körper innerhalb derselben Zeit zurücklegt. Als Newton das prüfen wollte, teilte er die Mondbewegung in jene beiden, aus denen sie zusammengesetzt ist. Dann brachte er aus den Lehren der Geometrie heraus, dass man, wieviel sich in einer bestimmten
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quodam tempore ad centrum appropinquet corpus in orbem motum, posse inueniri ex arcus intra illud tempus emensi quadrato per diametrum orbis diuiso. Et quia & orbis in quo luna mouetur circumferentia, & absolutae eius circumactionis tempus notum est, vnde quantum istius circuli arcum intra vnius minuti spatium decurrat, colligi facillime poterat: huius arcus (reperti 187961 pedum) quadratum (3532933751) per diametrum orbitae lunaris (2353893840) diuidendo, reperit quindecim pedes Parisiacos a luna intra minuti spatium sola vi centripeta decurri. Enimuero lunae a terra distantia cum sit sexaginta diametrorum terrae, eoque quae sunt in superficie globi terrestris, corporum a centro distantia ad distantiam lunae habeat rationem 1:60: sequitur ex lege superius dicta, grauitatis vim ad vim lunae centripetam esse oportere vt 3600:1. Hinc si, quod assumserat Newtonvs, luna vere per vim centripetam agitur, debent corpora grauitate pulsa, quae sunt in terrae superficie, intra minuti spatium decurrere 3600 x 15 pedes Parisiacos. Atque id comprobauit Hvgenii in experiundo diligentia. Nam cum ille obseruasset, primo quo delabi coepit corpus secundo agi per 15 pedes, & spatiorum grauitate decursorum diuersitatem esse e temporum quadratis aestimandam, debebat spatium intra secundum ad spatium intra 60 secunda siue vnum minutum, a corpore graui emensum esse in ratione 1:3600. Quare prius cum 15 pedum esset, alterum debebat esse 15 x 3600 pedum, quod mirifice cum hypothesi Newtoniana consentiebat. Postremo, leges has hypothesi magis inuentae iam examinandae, quam inueniendae inseruire, notandum est. Plerumque enim in inueniendo phaenomena non omnia, sed illustria tantum, & inter caetera maxime insignia, decerpta spectari, eorumque aliquo rei attributo conceptu explicandorum periculo facto, tum demum caeterorum ad firmandam hypothesin vel arguendam institui comparatio solet. Cuius rei perspicuum exemplum dedit s’ Gravesandvs in notis literarum occultis explicandis.
28 eorumque] ex eorumque G
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Zeit ein umlaufend bewegter Körper dem Zentrum nähert, aus dem Quadrat des innerhalb jener Zeit durchmessenen Bogens, geteilt durch den Durchmesser des Umlaufs, entnehmen kann. Und weil sowohl der Kreisumfang der Fläche, in der sich der Mond bewegt, als auch die Zeit seines abgeschlossenen Umlaufs bekannt ist, wodurch man sehr leicht entnehmen konnte, einen wie großen Bogen jenes Kreises der Mond innerhalb von einer Minute zurücklegt, teilte er zu diesem Bogen (der als 187961 Fuß lang befunden wurde) das Quadrat (3532933751) durch den Durchmesser der Umlaufbahn des Mondes (2353893840)105 und fand so, dass der Mond 15 Pariser Fuß innerhalb einer Minute allein durch die zentripetale Kraft zurücklege. Da aber die Entfernung des Mondes von der Erde 60-mal den Durchmesser der Erde beträgt und deshalb der Abstand, der die sich auf der Oberfläche der Erdkugel befindenden Körper vom Zentrum trennt, zum Abstand des Mondes das Verhältnis 1:60 hat, folgt aus dem oben genannten Gesetz, dass sich die Schwerkraft zur zentripetalen Kraft des Mondes wie 3600:1 verhalten muss. Wenn daher – was Newton angenommen hatte – der Mond wirklich von einer zentripetalen Kraft angetrieben wird, müssen die von der Schwere angetriebenen Körper, die sich auf der Erdoberfläche befinden, innerhalb einer Minute 3600 x 15 Pariser Fuß zurücklegen. Und das bestätigte Huygens106 durch ein sorgfältiges Experiment. Denn weil er beobachtet hatte, dass ein Körper in der ersten Sekunde, in der er zu fallen beginnt, durch eine Strecke von 15 Fuß getrieben wird, und dass die Verschiedenheit der durch die Schwere zurückgelegten Strecken aus den Quadraten der Zeiten zu ermessen sei, musste die Strecke, die innerhalb einer Sekunde, zu der Strecke, die innerhalb von 60 Sekunden oder einer Minute von einem schweren Körper durchmessen wird, im Verhältnis 1:3600 stehen. Da die erstere Strecke 15 Fuß betrug, musste deshalb die zweite 15 x 3600 Fuß betragen, was wunderbar mit der newtonischen Hypothese übereinstimmte.107 Als letztes ist zu vermerken, dass diese Gesetze mehr dazu dienen, eine schon gefundene Hypothese zu prüfen, als dazu, eine zu finden. Meistens nämlich pflegt man beim Finden nicht alle Phänomene, sondern nur die hellsten und unter den anderen am meisten auffallenden herauszugreifen und zu betrachten, dann zu versuchen, sie aus irgendeinem der Sache zugeteilten Begriff zu erklären, und schließlich den Vergleich der anderen zur Bestärkung oder Begründung der Hypothese anzustellen. Ein durchsichtiges Beispiel dafür hat s’ Gravesande in der Erläuterung der geheimen Buchstabenzeichen gegeben.108
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§. XXXI. Esset adhuc nobis ex consilii nostri ratione de rerum & praeteritarum testimoniis, & futurarum praesagio dicendum. Quorum tamen quia alterum iam Philosophorum Historicorumque communibus studiis illustratum, alterum etiam a nobis in parte generaliori tractatum est: reliquum tantum est id probabilitatis genus, quod ex casuum numero, per calculum & computationem efficitur. At & illo a summis Viris iam exculto, nobis nulla nisi vtendi per ipsorum laborem partis, & quae in singulis ludorum casibus inuenerunt ad communem vitae rationem transferendi cura relicta est. Scilicet, haec doctrina cum fere vniuersa ad ludos fortuitos, eorumque varias vices & alternationes ab ipsis adhibita sit: ea praecepta generalia quae in his ludorum calculis latent, videntur non sine fructu aliquo posse erui, & quae sunt in singulis variae ad nanciscendum praemium probabilitates, in communes rerum consiliorumque humanorum leges conuerti. Cuius rei etiam auctorem inuenio Philosophum quendam celeberrimum, cuius cum subtilitate summa doctrinae, gratissimus dicendi lepor coniunctus est.
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§. XXXII. Huius vniuersi calculi principium & fons est illud superius iam ex probabilitatis notione ductum ἀξίωμα: probabilitatis rei ad certitudinem rationem esse eandem quae sit casuum numeri, in quibus illa euenit, ad vniuersorum casuum numerum. Quodsi illa ipsa casuum inter se ratio aeque ignota est: tum debet illa altera lex accedere: Quae inter casus in quibus aliqua res euenit, & eos in quibus non euenit, hucusque obtinuit ratio, eandem probabile est esse in genere inter eos casus, in quibus potest illa res euenire, eisque in quibus non potest. Atque haec casuum experimentorumque numero aucto augetur probabilitas, vsque adeo vt Bernovllivs eam continuo illorum incremento etiam superare omnem numerum
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§ 31. Nun müssten wir aufgrund unserer Absichtserklärung109 von den Zeugnissen der vergangenen und der Voraussage der künftigen Dinge sprechen. Da aber hiervon das eine schon durch gemeinhin bekannte Studien der Philosophen und Historiker ins Licht gesetzt, das andere auch von uns im allgemeineren Teil behandelt worden ist,110 bleibt nur noch jene Gattung des Wahrscheinlichen übrig, die aus der Anzahl der Fälle durch Berechnung und Zusammenzählen hervorgeht. Aber da ausnehmend hochstehende Männer auch sie schon gepflegt haben,111 bleibt uns nur, uns darum zu kümmern, dass wir die Früchte ihrer Arbeit gebrauchen und das, was sie in den einzelnen Fällen der Spiele gefunden haben, auf die gemeine Lebensart übertragen. Während diese Lehre von ihnen nämlich fast zur Gänze auf die Zufallsspiele und deren verschiedene Ausgänge und Wechselfälle angewendet worden ist, können, wie es scheint, diejenigen allgemeinen Vorschriften, die in diesen Berechnungen der Spiele verborgen liegen, nicht ohne Nutzen hervorgezogen und die wechselnden Wahrscheinlichkeiten, die in den einzelnen Spielen dafür bestehen, den Gewinn davonzutragen, in allgemeingültige Gesetze der menschlichen Unternehmungen und Entschlüsse verwandelt werden. Einen Autor, der ebenfalls dieses Thema behandelt hat, finde ich in einem sehr berühmten Philosophen, in dem die höchste Scharfsinnigkeit der Lehre mit der angenehmsten Eleganz der Ausdrucksweise verbunden ist.112 § 32. Das Prinzip und die Quelle dieser ganzen Berechnung ist jenes axíoma, das weiter oben schon aus der Idee der Wahrscheinlichkeit abgeleitet worden ist:113 dass das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit einer Sache zu ihrer Gewissheit dasselbe ist wie das der Anzahl der Fälle, in denen jene Sache eintritt, zur Anzahl aller Fälle. Wenn aber eben dieses Verhältnis der Fälle untereinander gleichermaßen unbekannt ist, dann muss jenes zweite Gesetz hinzutreten: Es ist wahrscheinlich, dass dasselbe Verhältnis, das zwischen denjenigen Fällen, in denen eine Sache eingetreten ist, und denen, in denen sie nicht eingetreten ist, bisher gewaltet hat, im Allgemeinen zwischen denjenigen Fällen besteht, in denen jene Sache eintreten kann, und denen, in denen sie es nicht kann. Und diese Wahrscheinlichkeit wird vergrößert, wenn man die Anzahl der Fälle und Versuche vergrößert, so sehr, dass Bernoulli bewiesen hat, dass die Wahrscheinlichkeit durch die beständige Zunahme der Fälle und Versuche sogar jede endliche
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finitum posse demonstrauerit. Inde iam vlterius ad vniuersales caeteras leges huius probabilium generis progrediamur. 1) Si pro consilii nostri ratione euentus plures aequipollent, ita vt qui ex illis contingat, dummodo aliquis, nihil referat: tum finis consequendi probabilitas computatur colligendis singulorum probabilitatibus. Ita praemio mihi proposito ea lege, si vel senarium vel ternarium iecero vna tessera, tum quia vterque iactus idem valet ad obtinendum lucrum, vtriusque iactus probabilitas, quae est in vnam est colligenda, quae exibit
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1 , 6
1 . 3
2) Si euentorum probabilium duorum alterum nisi antegresso altero euenire non potest, quaesita posterioris probabilitas ex praecedentis probabilitate & sua est composita; inueniturque altera in alteram ducenda. Iacienti primum senarium, deinde quinarium, lucrum proponitur. Itaque quia ne periculum quidem secundi iactus, nisi senario prima vice cadente, facere posset, cernitur, vtriusque iactus
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1 1 probabilitate per expressa, quae quaeritur, eam fore . 6 36
3) Quodsi illorum euentuum alter ex altero ita pendet, vt si prior contigerit, posterior ne requiratur quidem, illo autem secus cadente, tum demum hic locum habeat: tunc si ad obtinendum finem alterutrius eueniendi est quaedam necessitas, quaeritur quam sit probabile eum obtentum iri. Primum, euentus prioris, per se patet, probabilitatem ex numero casuum in quibus appareat, (quos Bernovllivs fertiles vocat) esse computandam. Hic si auferatur ex numero casuum vniuerso, relinquitur casuum in quibus deerit, numerus, h. e. sterilium; hinc colligetur quam sit probabile eum euenturum non esse. Secundi autem euentus cum nisi prior defuerit, ne periculum quidem fieri possit, patet quantum probabile sit priorem non euenturum esse, tantum etiam esse probabile, posterioris experimentum capi posse. Deinde vbi ad tentamen ventum est, adhuc illud alterum commune fortunae discrimen subeundum, euentuique pro numero casuum sua propria probabilitas statuenda.
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Zahl übersteigen kann.114 Von hier aus wollen wir jetzt weiter zu den übrigen allgemeinen Gesetzen dieser Gattung des Wahrscheinlichen vorangehen. 1) Wenn zur Begründung unseres Entschlusses mehrere Ereignisse gleichwertig sind, so dass es nicht darauf ankommt, welches von ihnen eintrifft, solange nur überhaupt eines eintrifft, dann wird die Wahrscheinlichkeit, das Ziel zu erreichen, errechnet, indem man die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Ereignisse addiert. So muss, wenn ich unter der Bedingung gewinnen soll, dass ich mit einem Würfel entweder die Sechs oder die Drei werfe, dann, weil jeder von beiden Würfen gleichermaßen dazu taugt, den Gewinn zu erlangen, die Wahrscheinlichkeit jedes der beiden Würfe, die
1 1 beträgt, zu einer einzigen addiert werden, die betragen wird. 6 3
2) Wenn von zwei wahrscheinlichen Ereignissen das eine nicht eintreten kann, falls nicht das andere vorausgegangen ist, so ist die in Frage stehende Wahrscheinlichkeit des späteren Ereignisses aus der des früheren und seiner eigenen zusammengesetzt und wird gefunden, indem man die eine mit der anderen multipliziert. Wer zuerst eine Sechs, dann eine Fünf würfelt, soll gewinnen. Weil er deshalb nicht einmal den Versuch zum zweiten Wurf machen könnte, wenn nicht beim ersten Mal die Sechs erschiene, so erkennt man, dass, da die Wahrscheinlichkeit jedes der beiden Würfe durch
1 1 ausgedrückt wird, diejenige, nach der gefragt wurde, sein 6 36
wird. 3) Wenn aber von jenen Ereignissen das eine so vom anderen abhängt, dass, wenn das erste eintritt, das zweite nicht mehr benötigt wird, dass aber, wenn jenes ausbleibt, dann dieses statthat, so wird, wenn zur Erreichung des Ziels eine bestimmte Notwendigkeit besteht, dass eines von beiden eintreffe, gefragt, wie wahrscheinlich es sei, das Ziel zu erreichen. Erstens ist von selbst klar, dass die Wahrscheinlichkeit des früheren Ereignisses aus der Anzahl der Fälle, in denen es eintritt (die Bernoulli ›fruchtbar‹ nennt), errechnet werden muss. Wenn diese Anzahl aus der ganzen Anzahl der Fälle ausgeschieden wird, bleibt die Anzahl derjenigen Fälle übrig, in denen es ausbleiben wird, d. h. der unfruchtbaren Fälle.115 Hieraus kann man entnehmen, wie wahrscheinlich es ist, dass jenes Ereignis nicht eintreten wird. Weil aber zum zweiten Ereignis, wenn nicht das frühere ausgeblieben ist, nicht einmal der Versuch gemacht werden kann, so ist klar, dass, wie wahrscheinlich es ist, dass das frühere nicht eintreten wird, so wahrscheinlich es ebenfalls ist, dass der Versuch zum späteren Ereignis aufgenommen wird. Wenn man dann an den Versuch geht, so hat man sich noch jenem zweiten gewöhnlichen Entscheid des Glücks zu unterwerfen, und für das Ergebnis muss gemäß der Anzahl der Fälle seine eigene Wahrscheinlichkeit aufgestellt werden.
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Hinc itaque ad praecedens praeceptum pertinet hic noster casus, siquidem vt posterior euentus contingat, requiritur, vt prior defecerit. Vnde quia diximus, in eo casu vtraque probabilitate propria ducenda in se inuicem, inueniri posterioris sperandi rationem: debet in nostro casu numerus, qui quam probabile sit priorem deficere exprimit, duci toties, quoties probabilitas secundi declarat; quod inde efficitur, prioris probabilitati additum, exprimet, quam sit probabile alterutrum euenturum esse. Sit v. c. mihi prima vice senarius, aut si secus ceciderit, secunda vice denarius iaciendus duabus tesseris. Quia duarum tesserarum sunt sex & triginta iactus, quorum quinque senarium produnt, probabilitas iaciendi prima vice senarii erit
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5 . Pone senarium cadere, tunc nullus prorsus est iactus 36
secundus. Iactum ergo aliquem fore secundum aeque probabile est, ac primo iactu senarium casurum non esse: quod reperitur exprimi per
31 . Iam itaque accedenti mihi ad alterum iactum, quia 36
15
sunt tres iactus, in quibus denarius exit, iaciendi denarii probabilitas est
3 . Ergo quam sit probabile, vtrumque simul mihi concessum iri, 36
vt & ad secundum iactum perueniam, & eum habeam prosperum, 31 3 93 × = . Quod si prioris iactus pro36 36 1296 273 babilitati additur, qui inde colligitur numerus significabit pro1296
id exprimetur per
babilitatem lucri obtinendi. 4) Quodsi plurium euentorum alterum ex altero nullo modo pendet, tum quaerenti mihi, quam sit credibile, vel alterutrum fore, vel vtrumque, vel neutrum, diuersa aliquantulum ratio erit instituenda. Nam cum ordinem nihil referre diximus, patet, quot possint esse eorum euentorum combinationes, tot casus vniuersos fore. Hinc vtriusque euenti casus & fertiles & steriles per se inuicem multiplicati, efficient omnium casuum numerum, quorum in aliis combinati sunt vtriusque euentus casus fertiles, in aliis alterius fertiles cum sterilibus alterius, in aliis vtriusque steriles. Primi vtriusque eueniundae rei, secundi alterutrius, tertii neutrius probabilitatem comprehendunt. Vt itaque superiori exemplo vtamur,
12 Pone] pone G 19 93] 91 G 22 4)] 5) G
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Von hier an gehört deshalb dieser unser Fall zur vorangehenden Vorschrift, weil ja dazu, dass das spätere Ereignis eintrifft, erforderlich ist, dass das frühere ausgeblieben sei. Da wir also gesagt haben, in jenem Fall lasse sich, wieviel Grund man hat, auf das spätere Ereignis zu hoffen, dadurch herausfinden, dass man die beiden für sich genommenen Wahrscheinlichkeiten miteinander multipliziert, so muss in unserem Fall die Zahl, die ausdrückt, wie wahrscheinlich es ist, dass das frühere Ereignis ausbleibt, so oft malgenommen werden, wie es die Wahrscheinlichkeit des zweiten anzeigt. Wenn das Ergebnis daraus zu der früheren Wahrscheinlichkeit addiert wird, wird es ausdrücken, wie wahrscheinlich es ist, dass beides eintritt. Z. B. soll ich mit zwei Würfeln beim ersten Mal sechs Augen oder, wenn der Wurf anders ausfällt, beim zweiten Mal zehn Augen werfen. Weil es bei zwei Würfeln 36 Wurfmöglichkeiten gibt und fünf von ihnen sechs Augen ergeben, wird die Wahrscheinlichkeit, beim ersten Wurf sechs Augen zu erzielen,
5 sein. Nimm an, es fallen sechs 36
Augen! Dann gibt es keinen zweiten Wurf mehr. Dass es einen zweiten Wurf geben werde, ist also gleich wahrscheinlich wie, dass beim ersten Wurf die Anzahl der Augen nicht sechs sein wird; das wird durch
31 ausgedrückt. Wenn ich deshalb an 36
den zweiten Wurf gehe, ist, weil es drei Wurfmöglichkeiten gibt, bei denen zehn Augen herauskommen, die Wahrscheinlichkeit, eine Zehn zu werfen,
3 . Wie 36
wahrscheinlich es also ist, dass mir beides zugleich gelingt, nämlich dass ich zum zweiten Wurf komme und dass dieser glücklich ausfällt, das wird ausgedrückt 31 3 93 × = . Wenn das zur Wahrscheinlichkeit des früheren 36 36 1296 273 Wurfes addiert wird, ergibt sich die Zahl – sie wird die Wahrscheinlichkeit zu 1296
werden durch
gewinnen bezeichnen. 4) Wenn aber von mehreren Ereignissen116 das eine auf keine Weise vom anderen abhängt und ich dann frage, wie glaubhaft es sei, entweder dass eines von beiden, oder beides, oder keines eintreffe, so wird die aufzustellende Rechnung ein wenig anders ausfallen. Denn unter der Voraussetzung, dass es auf die Reihenfolge nicht ankommt, ist klar, dass, wie viele Kombinationen jener Ereignisse es geben kann, so viele Fälle es insgesamt geben wird. Daher werden die fruchtbaren und die unfruchtbaren Fälle jedes der beiden Ereignisse, wenn man sie miteinander multipliziert, die Anzahl aller Fälle ergeben. In einem Teil dieser Fälle sind die fruchtbaren Fälle jedes der beiden Ereignisse zusammengestellt, in einem anderen die fruchtbaren des einen mit den unfruchtbaren des anderen, in einem dritten die unfruchtbaren beider. Die ersten umfassen die Wahrscheinlichkeit, dass sich beide Dinge ergeben, die zweiten die, dass sich eines, die dritten, dass sich keines ergibt. Um deshalb das vorige Beispiel zu gebrauchen,
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[63]
sint illi iactus duo, senarius ac denarius; casus fertiles prioris 5, posterioris 3, steriles primi 31, secundi 33. Hinc vniuersorum in vtroque iactu combinando casuum numerus erit 5 x 3 + 5 x 33 + 3 x 31 + 31 x 33. Factum primum 15, quod e solis casibus fertilibus conflatum est, relatum ad numerum omnium casuum 1296, declarabit probabilitatem vtriusque numeri iaciundi; duo sequentia 5 x 33 + 3 x 31, composita ex casibus alterius iactus fertilibus, alterius sterilibus, probabilitatem alterutrius numeri iaciundi, = 258; postremum 31 x 33 solis constans vtriusque sterilibus, probabilitatem neutrius iaciendi exprimet = 1023. 5) Si autem eiusdem rei plus semel tentandae datur copia, tum cernitur casuum vtriusque generis tot quot ipsius rei fore repetitiones. Vnde quoties res ipsa aut euentus recurrit, toties casuum & fertilium & sterilium numerus in se ipse ducendus est, vt prodeat omnium casuum possibilium numerus. Eius quae partes sunt vel ex meris fertilibus, vel ex fertilibus in steriles ductis natae, continent omnes simul sumtae probabilitatem rei toties iterato tentamine euenturae; quae autem pars ex meris sterilibus est composita, ea exprimit probabilitatem rei non euenturae. Quae res qualis sit, facile intelligitur ex praecedenti disputatione. At cum radicis bipartitae potentiae, (quales sunt isti ex casuum fertilium, & sterilium summa in se ipsa ducta prodeuntes numeri) facta omnia, praeter summas vtriusque partis potentias, sint composita ex altera parte radicis in alteram ducta: sequitur, casus debere praeter sterilium summam potentiam omnes colligi, vt successus prosperi probabilitas emergat. Si casuum numerus in quibus vna vel pluribus tesseris punctorum certus numerus iacitur, sit a, in quibus non iacitur, b, & iactus concedantur duo: tum casuum numerus vniuersorum erit a2 + 2ab + b2; in quo omnes praeter b2 partes sunt multipla τοῦ a, seu fertilium casuum. Hinc subtracto b2, quod residuum est, exhibet probabilitatem quaesitam. Sint illa puncta sex, tessera vna: tum a erit 1, b, 5, a2 + 2ab = 11, b2 = 25, hinc sortes
2 33.] 38. G 5 casuum] casuum. G 9 258;] 275; G 10 1023.] 1085. G 11 5)] 6) G
5
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25
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Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört | 219
gehe es um jene beiden Wurfmöglichkeiten, die sechs und die zehn Augen! Die fruchtbaren Fälle des früheren Wurfs sind fünf, die des späteren drei, die unfruchtbaren des ersten 31, die des zweiten 33. Daher wird die Anzahl aller Fälle, in der die beiden Wurfmöglichkeiten miteinander verbunden werden, 5 x 3 + 5 x 33 + 3 x 31 + 31 x 33 sein. Das erste Produkt, 15, das nur aus den fruchtbaren Fällen zusammengesetzt ist, wird, wenn man es auf die Anzahl aller Fälle, 1296, bezieht, die Wahrscheinlichkeit dafür angeben, jede der beiden Zahlen zu werfen; die beiden folgenden Produkte, 5 x 33 und 3 x 31, die zusammengesetzt sind aus den Fällen, in denen der eine Wurf fruchtbar, der andere unfruchtbar ist, die Wahrscheinlichkeit, eine der beiden Zahlen zu werfen, = 258; das letzte Produkt, 31 x 33, das nur aus den unfruchtbaren Fällen beider Würfe besteht, drückt die Wahrscheinlichkeit aus, keine der beiden Zahlen zu werfen, = 1023. 5) Wenn aber die Möglichkeit besteht, dieselbe Sache mehr als einmal zu versuchen, dann erkennt man, dass es so viele Fälle einer jeden der beiden Gattungen geben wird wie Wiederholungen jener Sache. Wie oft daher diese Sache oder das Ereignis wiederkehrt, so oft muss die Anzahl sowohl der fruchtbaren als auch der unfruchtbaren Fälle mit sich selbst multipliziert werden, damit sich die Anzahl aller möglichen Fälle ergibt. Diejenigen Teile davon, die bloß aus fruchtbaren oder aus mit unfruchtbaren multiplizierten fruchtbaren Fällen entstanden sind, enthalten alle zusammengenommen die Wahrscheinlichkeit, dass die Sache, wenn der Versuch so oft wiederholt wurde, eintreten wird; die Gruppe aber, die bloß aus unfruchtbaren Fällen zusammengesetzt ist, drückt die Wahrscheinlichkeit aus, dass die Sache nicht eintreten wird. Wie diese Angelegenheit beschaffen ist, lässt sich leicht aus der vorangegangenen Disputation einsehen. Weil aber bei der Potenz einer zweigeteilten Wurzel117 (von dieser Art sind jene Zahlen, die daraus hervorgehen, dass man die Summe aus den fruchtbaren und unfruchtbaren Fällen mit sich selbst multipliziert) die Summanden außer der höchsten Potenz jedes der beiden Teile alle zusammengesetzt sind aus dem einen, mit dem anderen multiplizierten Teil der Wurzel, folgt, dass man außer der höchsten Potenz der unfruchtbaren Fälle alle Fälle zusammennehmen muss, damit die Wahrscheinlichkeit des günstigen Ausgangs sichtbar wird. — Es sei die Anzahl der Fälle, in denen mit einem oder mehreren Würfeln eine bestimmte Anzahl von Augen geworfen wird, a, und die Anzahl der Fälle, in denen diese Anzahl von Augen nicht geworfen wird, b; und es seien zwei Würfe gestattet! Dann wird die Anzahl aller Fälle a² + 2ab + b² sein. Darin sind außer b² alle Teile Vielfache von a, oder der fruchtbaren Fälle. Wenn man also b² abzieht, drückt, was übrig bleibt, die in Frage stehende Wahrscheinlichkeit aus. Sei jene Anzahl von Augen sechs, und werde mit nur einem Würfel gespielt! Dann wird a = 1 sein, b = 5, a² + 2ab = 11, b² = 25; somit stehen die Chancen
220 | De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium
[64]
suscipientis eos iactus ad sortes aduersarii vt 11:25. Si iactus tres, ratio haec erit, 91:125; si quatuor, haec, 671:625; quo vsque si est peruentum, suscipientis sortes sortibus aduersarii superiores fore cernitur. Potest hoc etiam facilius alia computandi methodo colligi. Si vt diximus, a sint fertiles b steriles casus, eorum summa ad compendium calculi dicatur c, erit si vnus iactus datur, probabilitas vincendi
a c
, perdendi
5
b2 b ; si duo, probabilitas perdendi 2 , c c
quae ab vnitate subtracta prodit probabilitatem vincendi, quae est 1–
b2 c2
=
c2 − b2 c2
=
a 2 + 2 ab + b 2 − b 2 c2
=
a 2 + 2 ab c2
.
Quia itaque numeri fracti quorum idem est denominator, eandem habent rationem, quae est inter numeratores, erit probabilitas vincendi ad probabilitatem perdendi vt a2 + 2ab : b2 eodem plane modo, quo supra. Et vniuersim, si numerus repetitionum erit n, probabilitas vincendi (a + b)n – bn, perdendi bn. Coniuncta cum hoc probabilitatis calculo est prudentiae illa lex, quae quia rei obtinendae iterato crebrius tentamine, probabilitas augetur, vult, rerum suscipiendarum plurium optione data, eam praeferri, quae male succedens spem tamen nouo conatu resarciendae iacturae reliquerit.
10
15
§. XXXIII. Has generaliores leges sequatur problematum quorundam a Bernovllio & Moivrio propositorum solutio. Debet autem hoc ante omnia teneri, calculum ludorum nisi ad id euentorum genus explicandum afferri non posse, quod continet contentionem quandam plurium inter se & certamen de eadem re assequenda, cuius exempla sunt pugnae dimicatio, honorum ambitio, caet. 1) Contendunt inter se duo de commodo aliquo assequendo, quorum alter iam plura altero obstacula remouit, iam plures rei totius gerendae partes perfecit: quaeritur, quae cuique sit spes obtinendi de quo certauerint. Praemonendum hoc esse videtur in
7 Semikolon nach dem zweiten Bruch] Komma G | duo,] duo; G 9 Pluszeichen im Zähler des letzten Bruchs] Minuszeichen G 12 probabilitatem] probilitatem G
20
25
Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört | 221
dessen, der den Wurf unternimmt, zu denen seines Gegners wie 11:25. Sind drei Würfe gestattet, wird das Verhältnis 91:125 sein, bei vier Würfen 671:625;118 wenn man dahin gekommen ist, so erkennt man, dass die Chancen dessen, der würfelt, höher sein werden als die seines Gegners. Sogar noch leichter kann man das aus einer anderen Rechenweise entnehmen. Es seien, wie wir gesagt haben, a die fruchtbaren, b die unfruchtbaren Fälle; ihre Summe werde, um die Rechnung abzukürzen, ›c‹ genannt! Wenn es einen Wurf gibt, wird die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen sein, zu verlieren b2 c2
a c
b ; wenn zwei Würfe, dann die Wahrscheinlichkeit zu verlieren c
, die, wenn man sie von der Einheit abzieht, die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen
ergibt, nämlich: 1 –
b2 c2
=
c2 − b2 c2
=
a 2 + 2 ab + b 2 − b2 c2
=
a 2 + 2 ab c2
. Weil deshalb die
Bruchzahlen, die denselben Nenner haben, im selben Verhältnis zueinander stehen wie die Zähler, wird die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen sich zur Wahrscheinlichkeit zu verlieren verhalten wie a² + 2ab : b², genau wie oben. Und allgemein wird, wenn die Anzahl der Wiederholungen n sein wird, die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen (a + b)n – bn, zu verlieren bn sein. Verbunden mit dieser Wahrscheinlichkeitsberechnung ist ein bekanntes Gesetz der Klugheit. Weil dadurch, dass man den Versuch öfter wiederholt, die Wahrscheinlichkeit, die Sache zu erlangen, erhöht wird, besagt dieses Gesetz, man solle, wenn man vor die Wahl zwischen mehreren zu unternehmenden Dingen gestellt wird, dasjenige bevorzugen, bei dem, wenn es schlecht ausgeht, doch die Hoffnung bleibt, durch einen neuen Versuch die Niederlage wiedergutzumachen. § 33. Auf diese allgemeineren Gesetze soll die Lösung bestimmter Probleme folgen, die Bernoulli und Moivre119 aufgestellt haben. Vor allem muss aber beachtet werden, dass die Berechnung der Spiele nur zur Erklärung derjenigen Gattung von Ereignissen beitragen kann, in der mehrere Leute miteinander wetteifern und um das Erreichen ein und derselben Sache streiten. Beispiele dafür sind der Kampf in der Schlacht, die Bewerbung um ehrenvolle Ämter usw. 1) Zwei Leute wetteifern miteinander um irgendeinen zu erreichenden Vorteil. Einer von ihnen hat bereits mehr Hindernisse beseitigt als der andere, bereits mehr Teile der ganzen auszuführenden Sache vollendet. Gefragt wird, welche Hoffnung für einen jeden besteht, zu erlangen, worum sie streiten. Es empfiehlt sich, vorauszuschicken, dass in
222 | De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium
[65]
omni actionum genere quantitatis mensuram esse obstaculorum remotorum numerum. Quorum quot sunt, tot sunt etiam actionis singulae partes. Siquidem cum nihil aliud agendo efficiatur, nisi vt ea tollantur, quae quo minus res a nobis efficienda eueniret impediebant, actioni semper par est obstaculum per ipsam sublatum. Redeamus itaque. Si certantium alteri A, pauciores adhuc res ad obtinendum de quo certat, gerendae, pauciora obstacula summouenda restant, quam alteri B: cernitur, primum quia in singulis actionibus vtrique certantium iidem sunt ad prosperum aduersumque euentum casus: horum posse nunc rationem omitti, vbi tantum de diuersitate vtriusque quaeritur, seu quantum vnius spes spem alterius superet; deinde a simplicissimis profecto progrediendum esse ad ea, quae sunt magis composita. Si certantium alteri A res adhuc restat vna gerenda, quae vbi successerit res tota peracta est, alteri B duae, tunc prior vbi prima vice successerit praemio potitur certissime, hinc probabilitas eius casus est vnitas, si non successerit tunc ipsi tot quot alteri restant discrimina, hinc probabilitas vtriusque eadem, ergo
5
10
15
1 . Quia itaque nunc primus A habet duos casus, alterum ad 2
obtinendum praemium integrum, alterum ad aequam cum concertante expectationem, tota primi sors erit
1 + 12 2
=
3 . Si A vnam, al4
ter tres adhuc res gerendas, habet, antequam de quo certant, eo potiatur: cernitur, si A vel semel successerit, rem iterum extra aleam fore, hinc probabilitatem eius vnitatem; si minus successerit, tunc re ad secundum B pertinente, illoque prospere agente, τῷ A vnam, B duas superfuturas res gerendas, hinc priorem illum casum rediturum. Quia itaque A habet vnum casum ad integrum praemium, alterum ad eam probabilitatem obtinendam, quae antea inuenta est, tota eius expectatio est
1 + 34 2
=
25
7 . Si primo A duo adhuc discri8
mina subeunda sunt, alteri B tria, tunc rursus si prospere res cadit τῷ A, res erit in eo loco, in quo fuit in casu secundo, si minus, ite-
21 tres] 2 tres G
20
30
Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört | 223
jeder Gattung der Handlungen das Maß der Quantität die Anzahl der beseitigten Hindernisse ist. Wie viele es davon gibt, so hoch ist auch die Anzahl der einzelnen Teile der Handlung. Weil nämlich durch das Handeln nichts anderes bewirkt wird, als dass dasjenige aufgehoben wird, was verhindert hätte, dass die von uns zu bewirkende Sache einträte, ist mit der Handlung das durch sie aufgehobene Hindernis stets gleich groß. – Also zurück zur Sache! Wenn für den einen der Wettstreiter, A, weniger Dinge noch zu tun sind, um zu erreichen, um was er streitet, und weniger Hindernisse wegzuräumen, als für den anderen, B, so erkennt man erstens: Weil es bei den einzelnen Handlungen für jeden der beiden Wettstreiter dieselben Fälle gibt, die einen günstigen oder ungünstigen Ausgang nehmen, kann deren Verhältnis hier übergangen werden, da ja nur nach der Verschiedenheit beider gefragt wird, oder um wieviel die Hoffnung, die für den einen besteht, die für den anderen übertrifft. Zweitens erkennt man, dass man jedenfalls von den einfachsten Dingen zu denen fortschreiten muss, die mehr zusammengesetzt sind. Wenn für den einen der Wettstreiter, A, nur noch eine einzige Sache zu tun übrig ist, so dass, wenn sie glückt, die ganze Sache durchgeführt sein wird, für den anderen, B, jedoch zwei, dann wird der erstere, wenn es ihm beim ersten Mal glückt, mit höchster Sicherheit den Gewinn erlangen, weshalb die Wahrscheinlichkeit dieses Falles die Einheit ist; wenn es ihm nicht beim ersten Mal glückt, dann sind für ihn noch so viele Proben wie für den anderen übrig, weshalb die Wahrscheinlichkeit für beide dieselbe ist, also
1 . Weil es deshalb nun für den ersten, A, zwei Fälle gibt, den einen, in dem er 2
den ganzen Gewinn erlangt, und den anderen, in dem er die gleiche Aussicht erlangt, wie sie für den Konkurrenten gilt, wird die ganze Chance des ersten
1 + 12 2
=
3 sein. Wenn aber A noch eine Sache, der andere jedoch deren drei tun muss, bevor 4
der jeweilige das erlangt, worum sie wettstreiten, so erkennt man, dass, wenn A auch nur einmal Erfolg hat, die Sache wiederum dem Würfel entzogen sein wird, und somit ihre Wahrscheinlichkeit die Einheit ist; dass aber, wenn er keinen Erfolg hat und nun der zweite, B, an der Reihe ist und die Sache glücklich ausführt, für A eines, für B zwei Dinge zu tun übrig sein werden, so dass jener frühere Fall wiederkehren wird. Weil es deshalb für A einen Fall gibt, in dem er den ganzen Gewinn erlangt, und einen zweiten, in dem er zu derjenigen Wahrscheinlichkeit kommt, die wir zuvor herausgefunden haben, ist seine ganze Erwartung
1 + 34 2
=
7 . Wenn der erste, A, 8
sich noch zwei Entscheidungen unterwerfen muss, der zweite, B, dreien, dann wird, falls die Sache für A glücklich ausgeht, die Sache wieder an jener Stelle sein, wo sie im zweiten Fall war; wenn nicht glücklich, dann sind wie-
224 | De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium 7
[66]
1
+ rum vtrique sortes aequiparantur, hinc expectatio τοῦ A est 8 2 2
7 4 11 = + = . Eodem modo, si primo A duae, alteri B ad16 16 16
huc quatuor deficiunt res quibus bene gestis demum peruenturi sunt ad id de quo certant, prioris ad vincendum probabilitas =
13 . Quia itaque 16
13 3 , maior quam , quae erat probabilitas casus primi, patet 16 4
non eandem semper rationem esse probabilitatis quanquam eadem sit ratio rerum gerendarum restantium. Quomodo autem versemur in hac probabilitate computanda, apparet. Scilicet, siue duo siue plures sint de aliqua re certantes, quorum alteri plura, alteri pauciora supersunt discrimina fortunae, probabilitas vniuscuiusque ad vincendum inuenitur, si quantum ipsi sit probabilitatis, vbi vel ipse, vel quisque ex caeteris primo tentamine successerit, computetur, haeque omnes probabilitates in vnam summam collectae diuidantur per numerum collusorum. 2) Si secundorum aduersorumque casuum in singulis tentaminibus ratio nota est: quaeritur, quot debeat ad rei consequendae & non consequendae probabilitatem aequandam tentamina fieri. Quia quot sint illa tentamina, est ignotum, ex more Algebrae numerus eorum dicatur x. Casuum secundorum numerus a, aduersorum b, vtrorumque summa c. Erit itaque probabilitas potiundi praemio post toties repetita tentamina quoties x indicat, =
c x − bx cx
, probabilitas spe excedendi, =
bx cx
5
10
15
20
. Quia autem ex proble-
matis conditione, tentamine x vicibus repetito debet vtriusque partis aequa esse probabilitas, erit cx – bx = bx. E. cx = 2bx. Quae aequatio si per logarithmos exprimatur, in hanc alteram commutabitur.
25
xlc = l2 + xlb. xlc – xlb = l2. x=
l2 . lc − lb
Iaciendi vna tessera senarii si quis in se fortunam susceperit, casus secundus vnus est, aduersi quinque. Hinc iactuum numerus, qui si aequa
19 Casuum] Causuum G Nenner G
28 Schlusspunkt nach dem Bruch] Schlusspunkt jeweils nach Zähler und
30
Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört | 225
der die Chancen für beide gleich; somit ist die Aussicht für A:
7 +1 8 2 2
=
7 4 + = 16 16
11 . Auf dieselbe Weise ist, wenn dem ersten, A, noch zwei, dem zweiten, B, vier 16
Dinge fehlen, im Falle von deren guter Ausführung sie schließlich zu dem gelangen werden, um das sie wettstreiten, die Wahrscheinlichkeit, dass der erstere gewinnt, = 13 13 3 . Weil sie also somit größer als , was die Wahrscheinlichkeit im 16 16 4
ersten Fall war, so ist klar, dass das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit nicht immer dasselbe ist, auch wenn das Verhältnis der Dinge, die noch zu tun sind, dasselbe ist. – Wie wir uns aber beim Berechnen dieser Wahrscheinlichkeit anstellen sollen, liegt auf der Hand. Wenn nämlich von zwei oder auch mehr Leuten, die um eine bestimmte Sache wettstreiten, für den einen mehr, den anderen weniger Entscheidungen des Glücks übrig sind, so wird die Wahrscheinlichkeit für einen jeden, dass er gewinnt, dadurch gefunden, dass man berechnet, wie groß für ihn die Wahrscheinlichkeit ist, wenn, sei es er selbst, sei es ein jeder der übrigen beim ersten Versuch Erfolg hat, man dann all diese Wahrscheinlichkeiten zusammenzählt und die Summe durch die Anzahl der Mitspieler teilt. 2) Wenn das Verhältnis der günstigen und der ungünstigen Fälle bei den einzelnen Versuchen bekannt ist, so wird gefragt, wie viele Versuche man machen muss, damit die Wahrscheinlichkeit, die Sache zu erreichen, und diejenige, sie nicht zu erreichen, gleich werden.120 Weil unbekannt ist, wie viele Versuche das sind, so nenne man ihre Anzahl, nach dem Vorgehen in der Algebra, ›x‹! Die Anzahl der günstigen Fälle sei a, die der ungünstigen b, die Summe aus beiderlei Fällen c! Es wird also die Wahrscheinlichkeit, nach so oft wiederholten Versuchen, wie x anzeigt, den Gewinn zu erlangen, = aufgeben zu müssen, =
bx cx
c x − bx cx
sein, die Wahrscheinlichkeit, die Hoffnung
. Weil aber aufgrund der Anlage des Problems, wenn der
Versuch x-mal wiederholt worden ist, die Wahrscheinlichkeit für jede Seite gleich sein soll, so wird cx – bx = bx sein. Also cx = 2bx. Wenn diese Gleichung durch Logarithmen ausgedrückt wird, nimmt sie folgende Gestalt an: x log c = log 2 + x log b. x log c – x log b = log 2. x=
log 2 − log b log c
.
Wenn jemand auf gut Glück versucht, mit einem Würfel eine Sechs zu werfen, ist der günstige Fall einer und an ungünstigen gibt es fünf. Wenn demnach so gespielt werden soll, dass die Chance für beide Seiten gleich groß
226 | De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium
[67]
sorte ludi debeat, mihi est concedendus =
l2 = l6 − l 5
0,30103 = 3,9, h. e. incidit inter ternarium & 0,77815 − 0,69897
quaternarium. Si duabus tesseris puncta iacienda 8, quia quinque iactus sunt qui ea dent puncta, qui alia, triginta vnus, cernitur demum post iactus
l2 0,30103 = = 4,6; h. e. plures l 36 − l 31 1,55630 − 1,49136
5
quam quatuor aequam lusori lucrandi perdendique sortem fore. Atque ex hoc problemate cum superiori collato, oritur aliud nouum. Nam quia in rebus, quarum successus a ratione, consilioque & dexteritate pendet agentis, casuum secundorum mensura potest ex illa ipsa dexteritate capi, hoc autem cognito etiam potest colligi, quoties iterato tentamine succedendi spes & exaequet & superet metum perdendae operae: videtur posse ex nota alicuius hominis ad rem quandam agendam aptitudine praefiniri, quot vicibus res ab ipso tentanda sit, vt successuram eam esse probabile fiat.
10
§. XXXIV.
15
Superius dictum a nobis est, si duorum euentorum vt alterum sit, necesse est alterum antea non fuerit, tum posterioris probabilitatem esse et ex sua propria, & ex prioris absentiae probabilitate compositam. Ex hac igitur lege facillime istud alterum problema a Moivrio est solutum. Si de eodem lucro s. commodo assequendo inter se plures contenderint, ea lege, vt tentandi vnus initium faciat, sequantur caeteri; si nulli quod opus est ceciderit, res rursus ad primum redeat; eodemque modo dum quis praemio potiatur, in orbem conuertatur: patet, quia si primo res successerit, secundus eam tentare non possit, si secundo, non tertius, &c.; posse ad hunc casum explicandum, legem illam adhiberi. Probabilitas primo iactu praemio potiundi tota pendet ex casuum numero, & si casus prosperi a, aduersi b appellentur, erit
a a+b
, (per princ. vniu. I.)
probabilitas autem primo conatu non succedendi, quod vbi sit, se-
2 0,77815 im Nenner des Bruchs] 0,778915 G | 3,9,] 3,9. G 5 4,6;] 4,9; G 19–20 Moivrio] Moivrio G 25 secundo,] secundus, G | &c.;] &c; G 28 Komma nach dem Bruch fehlt G
20
25
Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört | 227
ist, ist die Anzahl der Würfe, die mir zugestanden werden muss, = 0,30103 0,77815 − 0,69897
log 2 log 6 − log 5
=
= 3,9, d. h. sie liegt zwischen 3 und 4.121 Wenn man mit zwei
Würfeln acht Augen werfen soll, so erkennt man, weil es fünf Wurfmöglichkeiten gibt, die diese Augenzahl, und 31, die andere Augenzahlen ergeben, dass schließlich nach
log 2 log 36 − log 31
=
0,30103 = 4,6 Würfen, d. h. nach mehr als vier Würfen 1,55630 − 1,49136
der Spieler die gleiche Chance haben wird zu gewinnen und zu verlieren. Und nimmt man dieses Problem mit dem obigen zusammen, ergibt sich ein weiteres neues. Denn weil in den Dingen, deren Erfolg von der Vernunft, der Eingebung und der Gewandtheit des Handelnden abhängt, das Maß der günstigen Fälle aufgrund eben jener Gewandtheit erfasst werden kann; weil aber, wenn man das erkannt hat, man daraus auch entnehmen kann, bei wie oft wiederholtem Versuch die Hoffnung, Erfolg zu haben, der Furcht, die Mühe sei vergebens, gleichkommt oder sie sogar übersteigt; so scheint man, wenn bekannt ist, wie geeignet jemand zu einer bestimmten Sache ist, im Voraus bestimmen zu können, wie oft er die Sache versuchen muss, damit es wahrscheinlich werde, dass sie gelinge. § 34. Oben haben wir gesagt: Wenn es, damit von zwei Ereignissen das eine geschehe, notwendig ist, dass das andere zuvor nicht geschieht, dann ist die Wahrscheinlichkeit des späteren aus seiner eigenen und aus der Wahrscheinlichkeit des Ausbleibens des anderen zusammengesetzt.122 Aufgrund von diesem Gesetz also hat Moivre auf das Leichteste folgendes andere Problem gelöst: Wenn mehrere Leute darum wetteifern, ein und denselben Gewinn oder Vorteil zu erlangen, unter der Regel, dass einer die Reihe der Versuche anfängt und die übrigen folgen, und dass, wenn keinem das, was nötig wäre, glückt, die Reihe wieder an den ersten kommt, und dass auf dieselbe Weise die Runde gemacht wird, bis jemand den Preis erringt123 – so kann, wenn dem ersten die Sache gelingt, der zweite keinen Versuch dazu machen; wenn sie dem zweiten gelingt, der dritte keinen Versuch dazu machen, usw.; deshalb ist klar, dass man zur Erklärung dieses Falles jenes Gesetz anzuwenden hat. Die Wahrscheinlichkeit, mit dem ersten Wurf den Preis zu gewinnen, hängt ganz von der Zahl der Fälle ab, und wenn wir die günstigen Fälle ›a‹, die ungünstigen ›b‹ nennen, wird sie
a a+b
sein (durch das allgemeine Prinzip 1). Die Wahrscheinlichkeit aber, beim ersten Versuch keinen Erfolg zu haben, wonach, wenn es eintritt, der zweite
228 | De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium
[68]
cundus admittitur ad tentandum, erit 1-
a a+b
=
b a+b
. Secundi
iam accedentis ad rei periculum faciendum, spes obtinendi lucri itidem est a . Ergo & admissum se iri ad tentamen & tentantem praemio a+b
potiturum esse, id quam probabile sit, exprimit ba ( a + b) 2
b a+b
×
a a+b
=
. Eodem modo tertii sortes sunt compositae ex probabilitate
5
sinistri antecedentum successus, & prosperi sui. Si non plures tribus certant, nec tertio obtigit praemium: ad primum orbis redit. Hinc progressionis quartus terminus rursus continet sortes τοῦ A, pariterque intelligitur, eos terminos quorum alter duobus interiectis terminis alteri succedit, ad vnius sortes pertinere, ideoque colligendos esse. Si quatuor certant, tunc inter terminos progressionis ad eiusdem sortes pertinentes debent tres intercedere &c. Sit v. c. casuum prosperorum numerus 6, aduersorum 8: tunc sortes primi fore, id quam probabile sit, exprimit
8 14
6 14
×
6 14
=
48 196
; at eius tentamen irritum
. Hinc sortes secundi, quia & eius
ad tentandum accessuri probabilitas est 8 14
10
8 14
, & quod vult effecturi
. Eodem modo sortes tertii inueniuntur
504 2744
6 14
, erunt
15
. Quibus
numeris fractis ad eundem numerum redactis, reperientur certantium sortes esse in ratione numerorum, 1176, 672, 504. Quodsi iam ordo ex lege ludi praescripta primum tangeret, tunc qui sequeretur terminus esset primo 1176 addendus. Nec quod minus diligenter rem consideranti videri poterat, verendum est, ne progressio infinita sit, neue possint certae singulis sortes addici. Nam quia terminos videmus magnis discriminibus decrescere, intelligitur, fore, vt tandem ad numeros deueniatur tam paruos, vt quam exhibent probabilitatem, ea plane negligenda sit. Quod si accidit, tum eo ipso efficitur, vt probabile sit, ad eum vsque numerum, certantium aliquem iam potitum fore praemio de quo obtinendo certabatur. Atque huius calculi potest exemplum aliquod esse videri, si capitis damnatorum ei, qui tesseris certum quendam numerum iaceret, spes vitae proponeretur, iaciendi certus inter ipsos ordo constitueretur. §. XXXV.
25
30
Praeter autem eos euentus, qui vel lucri vel iacturae faciendae incertam sortem proponunt, sunt etiam alii, qui dent maiorum mi-
1 Gleichheitszeichen] Minuszeichen G 4 Multiplikationszeichen] Additionszeichen G praemium; G 14 fore,] fore; G 17 numerum] lies: nominatorem 18 504.] 505. G
20
7 praemium:]
Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört | 229
Streiter zugelassen wird, es zu versuchen, wird 1 –
a a+b
=
b a+b
sein. Wenn dann der
zweite antritt, die Sache zu versuchen, ist die Hoffnung, den Gewinn zu erlangen, wiederum
a a+b
. Wie wahrscheinlich es also ist, dass er sowohl zum Versuch zugelassen wird
als auch durch den Versuch den Preis gewinnt, drückt
b a+b
×
a a+b
=
ba ( a + b)2
aus. Auf
dieselbe Weise sind die Chancen des dritten zusammengesetzt aus der Wahrscheinlichkeit des Misserfolgs seiner Vorgänger und seines eigenen Erfolgs. Wenn nicht mehr als drei streiten und der dritte den Gewinn nicht erlangt, kommt die Runde wieder an den ersten. Daher enthält der vierte Term der Reihe wieder Chancen von A, und gleichermaßen ist einsichtig, dass die Terme, von denen der eine über zwei dazwischenliegende Terme auf den anderen folgt, zu den Chancen eines Einzigen gehören und deshalb zusammengenommen werden müssen. Wenn vier streiten, dann müssen in der Reihe zwischen die Terme, die zu den Chancen desselben Streiters gehören, drei andere treten, und so fort. Wenn z. B. die Anzahl der glücklichen Fälle 6 beträgt, die der ungünstigen 8, dann sind die Chancen des ersten ist, dass sein Versuch fehlschlägt, drückt
8 14
6 14
; wie wahrscheinlich es aber
aus. Die Chancen des zweiten, da auch
die Wahrscheinlichkeit, er werde zum Versuch kommen, erreichen, was er will,
6 14
, werden deshalb
findet man, dass die Chancen des dritten
504 2744
8 14
×
6 14
=
48 196
8 14
ist, und diejenige, zu
sein. Auf dieselbe Weise
sind. Wenn man diese Bruchzahlen auf
dieselbe Anzahl124 zurückführt, wird man finden, dass die Chancen der Wettstreitenden im Verhältnis der Zahlen 1176, 672 und 504 zueinander stehen. Wenn also nun die Reihe aufgrund der vorgeschriebenen Spielregel an den ersten käme, dann wäre der folgende Term dem ersten – also der Zahl 1176 – hinzuzufügen. Und es ist nicht – wie es jemandem scheinen könnte, der die Sache weniger genau betrachtet – zu befürchten, dass die Reihe unendlich sei und den einzelnen Spielern keine sicheren Chancen zugesprochen werden könnten. Denn weil wir sehen, dass die Terme mit großen Abständen zueinander abnehmen, ist einsichtig, dass man schließlich zu so kleinen Zahlen kommt, dass die Wahrscheinlichkeit, die sie ausdrücken, schlechthin zu vernachlässigen ist. Wenn das geschieht, wird dadurch bewirkt, dass es wahrscheinlich ist, dass bis zu dieser Zahl einer der Streiter schon den Gewinn erlangt haben wird, um den der Wettstreit stattfand. Und von solcher Berechnung kann man in Folgendem ein Beispiel sehen: Wenn man unter Leuten, die zum Tode verurteilt sind, demjenigen, der mit Würfeln eine bestimmte Zahl würfe, in Aussicht stellte, am Leben zu bleiben, dann würde sich unter ihnen eine feste Wurfordnung formieren.125 § 35. Aber außer denjenigen Ereignissen, die eine ungewisse Chance bieten, Gewinn oder Verlust zu machen, gibt es auch andere, welche die Möglichkeit größerer oder
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[69]
norumue commodorum optionem. Tum, quia probabilitatis iudicandae studium omne potissimum confertur in prudentiam consiliorum parandam, temeritatem cauendam: debet in probabilitate computanda etiam commodi sperandi ratio aliqua haberi. Quod si fit, probabilitas illa s. sortes paullo aliter erunt explicandae, vt Bernovllio etiam placuit. Quas enim ipse sortes appellat, non sunt nisi pretium aliquod certum fixumque, quod lucri illius maioris minorisque, sed vtriusque incerti, quasi medium teneat, vnde lucrorum illorum ante rei periculum factum vendendorum aequa aestimatio fieri possit. Scilicet si numerus casuum vt ante ad lucrandum A, sit a, ad lucrandum minus B, sit b: probabilitas prioris lucrandi erit vt ante
a a+b
, posterioris
5
10
b . Ducta itaque hac probabilitatis quana+b
titate, in quantitatem lucri in eo casu obtinendi, quod inde emerget, est pretium exspectationis cuiusque, prioris hinc integrae sortes,
bB aA , posterioris ; a+b a+b
aA + bB , in quibus lucri A maior quana+b
15
titas per casuum a minorem numerum, et lucri B minus pretium, per maiorem eius tenendi spem b exaequatur. Si negotiatori ad lucrandos mille Imperiales sunt quatuor casus; ad centum, sex: sortium eius valor est
4000 + 600 = 460. 10
Quodsi, vt in superioribus, ex altera tantum parte lucrum proponatur, ex altera nullum: intelligitur defuturum plane esse alterum ex his factis, quia tum B foret = 0, & hinc sortes integrae =
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aA . a+b
Calculi huius, quem proponimus, quanquam videatur in actionum humanarum rationibus vulgatissimis confirmandis magis, quam nouis inauditisque docendis vsus esse: tamen id vitium disciplina nostra habet cum vniuersa dialectica commune. Non itaque pudeat confiteri, nouissima regula nostra commendari aliquam rationem agendi, quam etiam sine calculo sequuntur lixae & colones. Est autem haec: Si duarum rerum suscipiendarum altera nobis tantum lucrandi
14 cuiusque,] cuiusque; G | Komma nach dem ersten Bruch fehlt G 15 hinc] fehlt G | bB im Zähler des Bruchs] Bb G 18–19 sex: sortium] sex. Sortium G 19 est] est. G 23 aA im Zähler des Bruchs] Aa G
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kleinerer Vorteile bieten. Dann muss, weil im Ganzen das Studium der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit vor allem darauf abzielt, den Entschlüssen Klugheit zu verleihen und Unbedachtheit zu vermeiden, bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeit auch irgendein Begriff des zu erhoffenden Vorteils einbezogen werden. Wenn das geschieht, wird jene Wahrscheinlichkeit, oder die Chancen, ein wenig anders zu erklären sein – ein Umstand, dem auch Bernoulli zugestimmt hat. Was er nämlich ›Chancen‹ nennt, das ist nichts anderes als ein sicher festgesetzter Preis, der gleichsam die Mitte jenes größeren und jenes kleineren, aber in beiden Fällen ungewissen Gewinns innehat und von dem her eine angemessene Schätzung für jene Gewinne möglich ist, wenn sie noch vor dem eingegangenen Risiko verkauft werden sollen.126 Wenn nämlich zum Gewinn von A wie zuvor die Anzahl der Fälle a ist, zum Gewinn des kleineren B aber b, dann wird die Wahrscheinlichkeit, ersteres zu gewinnen, wie zuvor
a a+b
sein, und diejenige, letzteres zu gewinnen,
b . Wenn man deshalb a+b
diese Quantität der Wahrscheinlichkeit mit derjenigen des Gewinns, der in diesem Fall erlangt werden soll, multipliziert, so ist das Ergebnis der Preis der Erwartung eines jeden: der des früheren digen Chancen
bB aA , der des späteren . Daher sind die vollstäna+b a+b
aA + bB , bei denen die größere Quantität des Gewinns A durch die a+b
kleinere Anzahl der Fälle a, und der geringere Preis des Gewinns B durch die größere Hoffnung b, seiner teilhaftig zu werden, ausgeglichen wird. Wenn es für einen Händler B vier Fälle gibt, tausend Imperialen, und sechs Fälle, hundert zu gewinnen, so ist der Wert seiner Chancen
4000 + 600 = 460. 10
Wenn aber, wie in den obigen Fällen, nur von der einen Seite her Gewinn winkt, von der anderen keiner, so ist einsichtig, dass von diesen Produkten das eine schlichtweg ausbleiben wird, weil dann B = 0 sein wird, und daher die gesamten Chancen =
aA sein werden. a+b
Obwohl es scheint, dass diese Berechnung, die wir vorlegen, mehr zur Bestärkung der weit verbreiteten Gründe menschlicher Handlungen nützlich ist als dazu, neue und unerhörte zu lehren, so hat doch unsere Disziplin diesen Fehler mit der ganzen Dialektik gemein. Es soll daher ohne Scham bekannt werden, dass unsere jüngste Regel einen Handlungsgrund empfiehlt, den auch ohne Berechnung die Marketender und Bauern befolgen. Es ist dieser: Wenn von zwei zu unternehmenden Dingen das eine uns nur die Möglichkeit bietet,
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perdendiue optionem relinquit, altera duorum commodorum alternas vices concedit: hanc prudentis est illi anteferre. §. XXXVI. Denique si triplex est casuum genus, quorum duo commodorum diuersae quantitatis spem faciunt, tertium in integrum nos quasi restituit, eandemque exspectationem, quae ante rem tentatam fuit, reddit: tum tertiae huius exspectationis nullum est pretium, nec eius in computandis sortibus vlla ratio habenda. Quod quidem ex calculo facillime apparet. Nam si a & b, vt ante, sunt casus obtinendorum A & B; c autem sunt casus, in quibus quasi recido in eam conditionem, qua ante fui quam casuum a vel b vllus mihi obuenisset: tum pretium exspectationis huius vocandum est x. Sortes ergo integrae ex superioribus erunt =
5
10
aA + bB + cx . Quia autem a+b+c
x aequalis est ei sorti, quae fuit ante rem tentatam: erit x=
aA + bB + cx . Ergo ax + bx = aA + bB, & tandem a+b+c
x=
15
aA + bB . a+b
Quia itaque x sortes exprimit, quas dum res adhuc integra fuit, habui; illas cernitur plane easdem esse, quae fuissent, si casus c plane abessent. Si itaque tria sunt casuum genera, primum ad vincendum, secundum ad perdendum, tertium ad eandem vincendi perdendique probabilitatem, quae his ipsis casibus erat effecta: tum hac vltima sortes nec augentur vllius nec minuuntur. Inconsideranter itaque est & inconsulte agentis, in rebus gerendis magnam aliquam spem ponere, in facultate & copia rei de integro instituendae. Quam quidem legem virtutis honestatisque studiosus, quanquam non computando cognouerit, tamen constantissime obseruabit. Nec vnum bene factum, cuius nunc sibi opportunitas data est, in spem futurae sibi iterum bene faciendi potestatis differet. Nec qui litteras amat, quod nunc sibi conceditur tempus, otio & deliciis impendet, sperans se tamen imperitiam suam nihilo auctam ad posteriorum temporum diligentiam esse reseruaturum. FINIS.
14 tentatam:] tentatam; G 21 effecta: tum hac] effectatum hae G 27 cuius] cuius, G
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Gewinn oder Verlust zu machen, das andere uns je nach Ausgang den einen oder den anderen von zwei Vorteilen gewährt, dann zieht der Kluge letzteres dem ersteren vor. § 36. Wenn es schließlich dreierlei Fälle gibt, von denen zwei Hoffnung auf Vorteile in unterschiedlicher Höhe machen, während der dritte uns gleichsam in den unberührten Zustand zurückversetzt und uns dieselbe Erwartung, die bestand, bevor wir die Sache versuchten, zurückgibt, dann gibt es keinen Preis bei dieser dritten Erwartung, und sie darf beim Berechnen der Chancen nicht berücksichtigt werden. Das wird aus der Berechnung sehr leicht deutlich. Wenn nämlich a und b, wie zuvor, die Fälle sind, in denen A und B erlangt werden, c aber die Fälle sind, in denen ich gleichsam auf jenen Zustand zurückgeworfen werde, in dem ich war, bevor irgendeiner der Fälle a oder b mir begegnete, dann soll der Preis dieser Erwartung ›x‹ genannt sein. Die gesamten Fälle aus den vorigen werden also =
aA + bB + cx sein. a+b+c
Weil aber x derjenigen Chance gleich ist, die bestand, bevor die Sache versucht wurde, wird x = x=
aA + bB + cx sein. Also ax + bx = aA + bB, und schließlich a+b+c
aA + bB a+b
Weil deshalb x die Chancen ausdrückt, die ich hatte, als die Sache noch unberührt war, so ist einsichtig, dass diese schlichtweg dieselben sind, die bestanden hätten, wenn die Fälle c schlichtweg ausgeblieben wären. Wenn es also dreierlei Fälle gibt, von denen der erste zum Gewinn, der zweite zum Verlust und der dritte zur selben Wahrscheinlichkeit von Gewinn und Verlust führt, die durch eben diese Fälle bewirkt worden war, dann werden durch diese letzte Wahrscheinlichkeit die Chancen keiner Seite vergrößert oder vermindert. Unüberlegt und schlecht beraten handelt also, wer bei auszuführenden Dingen große Hoffnung darauf setzt, er vermöge es und werde die Gelegenheit dazu haben, die Sache von vorn anzufangen. Dieses Gesetz wird, wer sich um Tugend und Ehrenhaftigkeit bemüht, auch wenn er es nicht durch Berechnung kennt, doch mit höchster Beständigkeit beobachten. Und er wird nicht eine gute Tat, für die ihm jetzt Gelegenheit gegeben ist, in der Hoffnung aufschieben, es werde in Zukunft wiederum in seiner Macht liegen, gut zu handeln. Und wer die Wissenschaften liebt, wird nicht die Zeit, die ihm jetzt verstattet ist, in Muße und Vergnügungen verbringen und darauf hoffen, er werde doch seine Unwissenheit, ohne dass sie im mindesten zunehme, bis auf spätere Zeiten, in denen er fleißig sein werde, bewahren. Ende.
Erläuterungen 1 (S. , Z. 3) Die Wiedergabe von lateinisch probabile durch wahrscheinlich ist gängig und passt hier nicht zuletzt auch deshalb, weil Garve die Begründung von Entschlüssen durch das, was wir Wahrscheinlichkeitsberechnung nennen, in seine Abhandlung einbezieht (siehe § 32–36). Der Begriff probabile besagt jedoch im Wortsinn nichts Scheinhaftes und kein Defizit gegenüber dem Wahren; probabile ist, was erwiesen werden und worauf man sich verlassen kann. Wie Garve sogleich in § 1 deutlich macht, ist ihm an einer Logik des pragmatisch Verlässlichen gelegen. 2 (S. , Z. 7) Johann Andreas von Segner (1704–1777), seit 1755 Professor der Mathematik und der Naturlehre (Physik) in Halle. Weitere Angaben finden sich im vorliegenden Band bei Verf.: Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift, hier S. 57f. 3 (S. , Z. 13) Gemeint ist der Magistertitel im Fach Philosophie. Vgl. den betreffenden Eintrag im handschriftlichen Repertorium der Dissertationen und Promotionen an der Hallenser Universität (Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Signatur UAHW, Rep. 3, Nr. 489; der Titel weist einige Fehlstellen auf, die hier ergänzt und durch spitze Klammern markiert sind: Volumen II. Continuatio Indicis Disputationum et Thematum quae a diversis Dominis Professoribus, Doctoribus et Magistris legentibus in hac al Fridericiana tam publice quam privatim latae et in lucem editae anno MDCCLXIIo), S. 24f., zweiter Eintrag; in den abgekürzt mit ›Grad.‹ und ›Spec.‹ (Gradus, Species) überschriebenen Spalten heißt es dort für Garve: »M. phil.« (Magister philosophiae). 4 (S. , Z. 1) Die Formulierung des Titels hier ist bedeutungsgleich, aber nicht ganz wortgleich mit derjenigen, die auf dem Titelblatt steht. Hier auf S. , und durch den ganzen Druck hindurch im Kolumnentitel, wird als zweites Wort ein Indefinitpronomen statt, wie auf dem Titelblatt, ein Adjektiv verwendet (»quibusdam« statt des dortigen »nonnullis«). 5 (§ 1, S. 1, Z. 8) Dem Wahrscheinlichen stellt Garve hier nicht das Wahre (verum), sondern das Erfasste (perceptum) gegenüber. Dadurch betont er, dass von den Gegenständen der Erkenntnis die Rede ist: Manches lässt sich durch Erkenntnis erfassen, aber dasjenige, dem der Erkennende nur Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben vermag, hat er nicht oder nicht vollständig erfasst. Siehe zu diesem Sprachgebrauch S. 25, Z. 1 (§ 16), wo Garve die Ausdrücke erfasst werden (percipi) und sicher erkannt werden (certe cognosci) einander gleichsetzt; vgl. auch S. 27, Z. 16–19 (§ 17). – Dass unter den Erkenntnissen die des Wahrscheinlichen in gewissem Sinne die notwendigste sei, mit dieser Einschätzung hatte auch Moses Mendelssohn (1729–1786) seine Abhandlung über die Wahrscheinlichkeit begonnen. Siehe die zweite, veränderte Auflage dieser zuerst 1756 anonym erschienenen Schrift: Ueber die Wahrscheinlichkeit. In: Moses Mendelssohn (anonym): Philosophische Schriften. Teil 2. Berlin 1761, S. 187–228, hier S. 189: »Unter den Erkenntnissen, zu welchen der menschliche Verstand aufgelegt ist; kann die Wahrscheinlichkeit vielleicht für die nothwendigste gehalten werden, weil sie unsrer eingeschränkten Einsicht angemessen ist, und in den meisten Fällen die Stelle der Gewißheit vertreten muß.« Ansonsten aber stehen Mendelssohns und Garves Abhandlung einander nicht besonders nahe. 6 (§ 1, S. 2, Z. 14) Anscheinend verwendet Garve die Termini idea und notio gleichbedeutend. Beide werden hier durch Idee übersetzt. 7 (§ 1, S. 2, Z. 15f.) Ein Prädikat kann einem Subjekt, in der gleichen Hinsicht und bei gleichen Bedingungen, nicht zugleich zukommen und nicht zukommen; eine Aussage kann, in der gleichen Hinsicht und bei gleichen Bedingungen, nicht zugleich wahr und falsch sein. Siehe Aristoteles: Metaphysik IV 3, 1005b 11–34. – Vgl. die Formulierung bei Garves Hallenser Lehrer George (sonst auch Georg) Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle an der Saale ²1760, S. 106, § 362: »Es ist unmöglich, daß etwas zu gleicher Zeit sey, und nicht sey. Oder, wenn von einem Dinge ein und eben dasselbe zu gleicher Zeit bejahet oder verneinet wird, so ist es Nichts.« 8 (§ 1, S. 2, Z. 21) Die Ausdehnung bestimmt als den Gegenstand der Geometrie etwa auch Georg Friedrich Meier. Siehe Meditationes mathematicae de nonnullis abstractis mathematicis, quas
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amplissimi Philosophorum ordinis consensu ad d. Octobris MDCCXXXVIIII. h. l. q. c. eruditorum diiudicationi submittunt M. Georgius Fridericus Meier et Iacobus Henricus Sprengel, Rezinensis Uccaro-Marchicus. Halle a. d. S. 1739, S. 4, § 12. – Autor der Schrift ist Meier; der auf dem Titelblatt an zweiter Stelle genannte Jakob Heinrich Sprengel übernahm in der Disputation die Verteidigung. 9 (§ 1, S. 2, Z. 26) Mathesis: altgriechisch Kenntnis, Wissenschaft; lateinisch Mathematik; in letzterem Sinn zu Garves Zeit an den Universitäten gebräuchlich. 10 (§ 1, S. 3, Z. 14f.) Das Prinzip des zureichenden Grundes hat Christian Wolff (1679–1754) aus dem Satz vom Widerspruch abgeleitet. Er formuliert jenes Prinzip so: »Da […] unmöglich ist, daß aus Nichts etwas werden kan […]; so muß auch alles, was ist, seinen zureichenden Grund haben, warum es ist, das ist, es muß allezeit etwas seyn, daraus man verstehen kan, warum es würcklich werden kan […].« Siehe Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Vermehrte Auflage. Halle an der Saale 1751 (WGW I 2), S. 16f. (§ 30); die besagte Ableitung erfolgt S. 17f. (§ 31). Dabei ist der Begriff zureichender Grund (ratio sufficiens) enger als der Begriff Ursache (causa), insofern die Wirkweise einer Ursache nicht einsichtig sein muss, nur ein einsichtiger Grund aber zureichend sein kann (vgl. ders.: Philosophia prima, sive Ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cognitionis humanae principia continentur. Neue, verbesserte Ausgabe. Leipzig 1736, S. 49–51, § 71). Garve spinnt jene prinzipientheoretische Ableitung offenbar fort (ohne dass für ihn die besagte begriffliche Differenzierung eine Rolle spielt): Wenn auch für die in den Nerven vorgehende Veränderung gilt, dass sie zufolge des Satzes vom Widerspruch eine Ursache haben muss, und wenn eine solche Ursache nicht in uns selbst liegt, so muss es eine äußere Ursache für jene Veränderung geben. 11 (§ 2, S. 4, Z. 14f.) Sieht man davon ab, dass Garve in diesem Zusammenhang von Gewissheit spricht, ist seine Definition des Wahrscheinlichen vergleichbar etwa mit derjenigen, die der Leipziger Theologieprofessor und Philosoph Christian August Crusius (1715–1775) als eine vorläufige festgehalten hatte: »[…] die Wahrscheinlichkeit heisset vermöge ihres ersten Begriffs diejenige Beschaffenheit eines Satzes, vermöge dessen [lies: deren] man ihn vor wahr zu halten, oder doch eher als das Gegentheil vor wahr zu halten geneigt ist, ungeachtet sich auch das Gegentheil desselben dencken lässet […]« (Christian August Crusius: Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß. Leipzig 1747 [CPH 3]. Kapitel 9: Von dem Wahrscheinlichen, § 366, S. 648). Zu einer ähnlichen Begriffsbestimmung bei Adolph Friedrich Hoffmann siehe im vorliegenden Band Giuseppe Motta: Ausgang aus der Metaphysik. Die Wahrscheinlichkeitslehre von Christian Garve aus dem Jahr 1766, hier S. 14f., Anm. 20. 12 (§ 3, S. 4, Z. 23) Mit den Gattungen (genera) des Wahrscheinlichen kann hier nur auf die Viereroder Fünferliste von § 2 verwiesen sein. Gemeint sind demnach die Gegenstandsbereiche, in denen Wahrscheinliches vorkommt. Der Durchgang durch diese Bereiche beginnt unten in § 16, und darauf (auf den Beginn des speziellen Teils der Abhandlung) weist der Autor hier voraus. Am Anfang von § 16 stellt er entsprechend fest, dass der allgemeine Teil nun beendet sei. – Unvorsichtigerweise benutzt Garve aber den gleichen Ausdruck, Gattungen des Wahrscheinlichen oder der Wahrscheinlichkeit, dann auch schon im allgemeinen Teil (§ 3–15; siehe vor allem unten den ersten Satz von § 4), und zwar in anderer Bedeutung (um anderes damit zu bezeichnen). Dort zielt der Begriff nicht auf die Gegenstandsbereiche, sondern auf die verschiedenen Kriterien von Wahrscheinlichkeit (etwa die Widerspruchsfreiheit eines Dinges oder Ereignisses, oder das Vorhandensein möglicher Ursachen desselben). Diese Kriterien werden, eines nach dem anderen, in § 5–15 abgehandelt. 13 (§ 3, S. 5, Z. 31f.) Siehe oben § 1. 14 (§ 3, S. 6, Z. 10–13) Dass wir die Existenz von etwas – außer unserer eigenen und der Existenz Gottes – nur über die sinnliche Wahrnehmung erkennen können, ist ein empiristischer Lehrsatz, wie ihn nicht zuletzt John Locke (1632–1704) vertreten hat. Siehe etwa John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Hg. von Peter H. Nidditch. Oxford 1979, S. 630 (Buch 4, Kapitel 11,
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§ 1): »The Knowledge of our own Being, we have by intuition. The Existence of a GOD, Reason clearly makes known to us […]. The Knowledge of the Existence of any other thing we can have only by Sensation […].« 15 (§ 4, S. 7, Z. 11f.) Das geschieht im folgenden § 5. 16 (§ 4, S. 7, Z. 15–20) Die Unterscheidung zwischen erstens der Gewissheit durch zureichenden Beweis, zweitens der moralischen Gewissheit und drittens dem Für-Wahr-Halten von etwas aufgrund von Wahrscheinlichkeit findet sich in dem Sinne, wie Garve sie referiert, etwa in der von Antoine Arnauld und Pierre Nicole anonym publizierten sogenannten Logik von Port-Royal (erste Auflage 1662). Siehe La Logique ou L’Art de penser, contenant, Outre les Regles communes, plusieurs observations nouvelles, propres à former le jugement. Sixiéme Edition reveuë et de nouveau augmentée. Amsterdam 1685, Teil 4, Kapitel 13, S. 451f., und Kapitel 15, S. 461f.; vgl. Antoine Arnauld und Pierre Nicole: Die Logik oder Die Kunst des Denkens. Übers. und eingel. von Christos Axelos. Darmstadt ²1994, S. 333f. und S. 341. 17 (§ 4, S. 7, Z. 20–26) Zu diesen Autoren gehört vor allem Jakob I Bernoulli (1655–1705). Siehe Jacobus Bernoulli: Ars Conjectandi, opus posthumum. Accedit Tractatus de seriebus infinitis, Et Epistola Gallicè scripta De ludo pilae reticularis. Basel 1713, hier Ars Conjectandi, Teil 4, Kapitel 1, S. 210–212. Siehe auch die moderne Ausgabe der Ars Conjectandi in: Bartel Leendert van der Wærden (Bearb.): Die Werke von Jakob Bernoulli. Hg. von der Naturforschenden Gesellschaft in Basel. Bd. 3, Basel 1975, S. 107–259, hier S. 240, sowie die deutsche Fassung: Wahrscheinlichkeitsrechnung (Ars conjectandi) von Jakob Bernoulli (1713.). Übers. und hg. von Robert Haussner. 4 Teile in zwei Bänden. Leipzig 1899, hier Bd. 2, S. 71–73. – Garve hat sicher auch den Hallenser Professor George Friedrich Meier im Sinn (s. unten Erläuterung 22). – Ein Plädoyer dafür, die lebenspraktisch so entscheidende Wahrscheinlichkeits-Erkenntnis als gewissheitsfähig anzuerkennen, findet sich 1764 in einem Hauptwerk des Theologen und Pädagogen Johann Bernhard Basedow (1724–1790): Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung dem denkenden Publico eröffnet. 2 Bde. Altona 1764, hier Bd. 2, § 64–68 (S. 93–105); siehe auch § 142 (S. 298–301). 18 (§ 4, S. 7, Z. 20–28) Ein ähnliches Begriffsschema hatte Crusius vorgelegt – siehe seinen Weg zur Gewißheit (s. Erläuterung 11), § 361 (S. 641f.). Garve nimmt aber eine charakteristische Änderung daran vor. Beide Autoren sind sich einig darin, dass, wie Crusius sich ausdrückt, die beiden Erkenntniswege der Demonstration und der Wahrscheinlichkeit jeweils zu einer spezifischen Gewissheit führten, und dass diejenige Gewissheit, die Wahrscheinlichem zukommen könne, ›moralisch‹ heiße. Aber Crusius unterscheidet dreierlei Erkenntnisse, die dem Weg der Wahrscheinlichkeit zugehörten: 1. die bloße Mutmaßung oder das verisimile (dem Wahren Ähnliche), 2. das Zuverlässige oder Glaubwürdige (probabile), das uns beim Handeln leitet, und 3. das schlechterdings Gewisse (moralische Gewissheit). Garve setzt die beiden letzteren Formen ineins: Für ihn ist, was uns im Handeln orientieren kann, die moralische Gewissheit, und er sieht gerade hierin den Sinn des Beiworts moralisch. – Garve kommt gut zwanzig Jahre nach seiner Hallenser Magisterdisputation auf den Begriff der ›moralischen Gewissheit‹ oder ›moralischen Sicherheit‹ zurück, um damit eine Grundlage des Rechts und ein wesentliches Ziel des Gesellschaftsvertrags zu kennzeichnen. Demnach muss ich, um mir ein praktisch geltendes Recht zuzuschreiben, der allgemeinen oder wenigstens mehrheitlichen Geltung bestimmter moralischer Bewegungsgründe sicher sein, und kann dies aufgrund jenes Vertrags. Siehe Christian Garve: Abhandlung über die Verbindung von Moral und Politik, oder einige Betrachtungen über die Frage, in wiefern es möglich sey, die Moral des Privatlebens bey der Regierung der Staaten zu beobachten. Breslau 1788 (GGW 6, Text 2), S. 24–27; vgl. den Abdruck in ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 1: Kleine Schriften. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2021 (WP 15.1), S. 3–71, hier S. 12f. 19 (§ 4, S. 7, Z. 28–31) Zum Anteil, den die Gewichtigkeit der fraglichen Sache an der Bemessung ihrer Wahrscheinlichkeit hat, siehe in diesem § 4 unten S. 8, Z. 20 – S. 9, Z. 3 und vgl. Crusius: Weg
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zur Gewißheit (s. Erläuterung 11), § 362 (S. 642f.) und § 412–418 (S. 734–748); aus § 362 zitiert Motta: Ausgang aus der Metaphysik (s. ebenfalls Erläuterung 11), oben S. 22. 20 (§ 4, S. 8, Z. 4f.) Als ›ratio‹ (übersetzt durch ›Verhältnis‹) bezeichnet Garve hier im zweiten abhängigen Aussagesatz (Dass-Satz) den oben im ersten derartigen Satz genannten hohen Grad an Wahrscheinlichkeit. 21 (§ 4, S. 8, Z. 5f.) Ein Beweis ›a posteriori‹ (›vom Späteren her‹) geht vom bereits eingetretenen Resultat eines Vorgangs aus, im Gegensatz zu einem Beweis ›a priori‹ (›vom Früheren her‹), der bei dem ansetzt, was einem Vorgang zugrundeliegt. 22 (§ 4, S. 8, Z. 12–15) Vgl. Meier: Auszug aus der Vernunftlehre (s. Erläuterung 7), § 175, S. 55: »Ein so grosser Grad der Wahrscheinlichkeit, welcher in unserm regelmäßigen Verhalten so gut ist, als eine ausführliche Gewißheit, wird die moralische Gewißheit genant (certitudo moralis).« 23 (§ 4, S. 9, Z. 13–15) Das geschieht im folgenden § 5. 24 (§ 8, S. 12, Z. 13f.) Garve benennt hier in § 8 drei solcher Grade, fasst aber die ersten beiden unter Nr. 1 zusammen. Die drei Grade sind: 1. Die Existenz des fraglichen Dinges steht nicht in Widerspruch zur schon bekannten Existenz der anderen Dinge; 2. die Existenz des fraglichen Dinges lässt uns die schon bekannte Existenz der anderen Dinge besser verstehen; 3. die Existenz des fraglichen Dinges ist notwendig für die schon bekannte Existenz der anderen Dinge. 25 (§ 10, S. 17, Z. 18f.) Diese Bestimmung des Vernunftbegriffs dürfte von Georg Friedrich Meier her geprägt sein. Vgl. Meier: Auszug aus der Vernunftlehre (s. Erläuterung 7), § 15, S. 11: »Der Zusammenhang der Sachen (nexus, consequentia) besteht darin, wenn das eine der Grund von dem andern ist, oder denselben in sich enthält.«, sowie § 17, S. 12: »Zu einer […] Erkentniß wird dreyerley erfodert: 1) eine Erkentniß einer Sache, 2) eine Erkentniß ihres Grundes, und 3) eine deutliche Erkentniß des Zusammenhangs der Sache mit ihrem Grunde.« 26 (§ 11, S. 20, Z. 2f.) Der doppelte Ausdruck Absicht (conatus) und Anspannung (contentio) des Geistes nimmt das auf, was im vorangehenden Satz als ›das Fassen von Entschlüssen‹ und ›das Richten der Geisteskraft auf irgendeine Sache‹ benannt worden war. 27 (§ 11, S. 20, Z. 16–26) Die in diesem langen Satz unternommene Beschreibung der besagten geistigen Begabung findet folgende Entsprechung in einem Spätwerk Garves: »Es kommt […] hierbey [bei einer gewissen Einsicht, die geeignet ist, Tapferkeit hervorzubringen] auf eine richtige Voraussehung der Zukunft, und auf die Berechnung einer doppelten Wahrscheinlichkeit an: einmal der Wahrscheinlichkeit, daß das künftige Uebel wirklich erfolgen, und größer seyn werde, als dasjenige, welchem man sich jetzo aussetzt; und zweytens, der Wahrscheinlichkeit, daß durch die gefahrvolle Unternehmung dem zu befürchtenden Unglücke wirklich werde vorgebeuget und der Wohlstand für die Zukunft gesichert werden. / Da sich nun diese Berechnungen nie völlig aufs Reine bringen lassen: so ist die Fähigkeit, dieselben doch mit Glück anzustellen, und aus nicht ganz deutlichen Gründen eine richtige Schlußfolge, in Absicht der Zukunft, zu ziehen, immer für eine besondere, von der allgemeinen Masse der Erkenntnißkräfte getrennte, Fähigkeit gehalten worden. Sie ist eine höhere Gattung des richtigen Blicks, oder der justesse d’esprit, welche selbst in dem Vermögen besteht, da, wo weitläuftige Ueberlegungen nicht Statt finden, doch die Wahrheit einzusehen, und welche allen, zu großen Geschäften von der Vorsehung berufnen, Männern unentbehrlich ist.« Christian Garve: Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre. Ein Anhang zu der Uebersicht der verschiednen Moralsysteme. Breslau 1798 (GGW 8, Text 2), S. 140f. (2. Abteilung, 1. Prinzip, Abschnitt 3: Tapferkeit). – In einer Anmerkung zu seiner gut 25 Jahre zuvor erschienenen Übersetzung der Institutes of Moral Philosophy von Adam Ferguson (1723–1816) hatte Garve beklagt, der schottische Autor habe jenes Vermögen zwar recht und schlecht begrifflich ausgewiesen (nämlich als sagacity, von Garve mit Erfindsamkeit übersetzt, die zweite von zwei Komponenten der foresight [Vorhersehung]), es aber an einer genaueren Beschreibung der entsprechenden geistigen Tätigkeit fehlen lassen. Siehe Christian Garve (Übers.): Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie. Uebersetzt und mit einigen Anmerkungen versehen. Leipzig 1772 (GGW 11, Text 1), S. 312
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(Anm. zu Teil 1, Kapitel 2, Abschnitt 9); vgl. den Neuabdruck der Anmerkungen in Christian Garve: Ausgewählte Werke. Bd. 1: Kleine Schriften. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2021 (WP 15.1), S. 185–229, dort S. 193. 28 (§ 12, S. 21, Z. 2f.) Durch das Verb coniicere (vermuten) spielt Garve auf das unvollendete, posthum 1713 erschienene Hauptwerk von Jakob I Bernoulli an: auf die Ars Conjectandi (Kunst des Vermutens), die zu einem Standardwerk der Wahrscheinlichkeitstheorie geworden ist (s. Erläuterung 17). Bernoulli verwendet im Titel seines Buches das Verb conjectare, sonst aber meist conjicere. An ihn ist sicher zuerst zu denken, wenn Garve im folgenden Satz von ›vielen herausragenden Männern‹ spricht, die bereits an der Wahrscheinlichkeitslehre gearbeitet hätten. Erstmals wird Garve hier in § 12 denn auch Bernoullis Namen nennen. 29 (§ 12, S. 21, Z. 17–24) Siehe Bernoulli: Ars Conjectandi (s. Erläuterung 17), Teil 4, Kapitel 4, S. 225f. (Erstausgabe) / S. 249 (Ausgabe 1975) / Bd. 2, S. 90–92 (deutsche Fassung). Garve vergisst anzugeben, dass bei diesem Versuch das jeweils gezogene Steinchen wieder in die Urne zurückgelegt werden muss, bevor ein neues gezogen wird. 30 (§ 13, S. 22, Z. 17–19) Francis Hutcheson (1694–1746): An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue; In Two Treatises. 3., verb. Aufl. London 1729, S. 52–57 (Treatise I, Sect. 5, Art. 5–10). 31 (§ 13, S. 22, Z. 20, »Postremo«) Im Originaldruck trägt dieser Absatz die Nr. 3. Die vorigen beiden Absätze sind aber nicht nummeriert; auch machen sie einen einzigen Gedankengang aus (zur Bestimmung der Anzahl von Ursachen und deren Wirkungsweisen, die für ein Ereignis nötig sind) und könnten deshalb schlecht mit den Nummern 1 und 2 versehen werden. Der dritte Absatz behandelt demgegenüber ein neues, zweites Thema (die Häufigkeit eines Ereignisses in der Gesamtzahl von Fällen). Somit dürfte die Ziffer 3 irrtümlich in den gedruckten Text geraten sein. 32 (§ 13, S. 22, Z. 20, »vt supra diximus«) Siehe oben § 7 gegen Ende (S. 12, Z. 7–10). 33 (§ 16, S. 24, Z. 29) Mit den sinnlichen Erscheinungen – wörtlich dem Gesehenen, Erscheinenden oder Erschienenen (visa) – sind nicht etwa die Gegenstände gemeint, auf die sich die Sinne richten, sondern die durch die Sinne (nicht nur durch den Gesichtssinn) bewirkten Repräsentationen der Gegenstände. Vgl. die Begriffserklärung, die Garve im weiteren Verlauf dieses Paragraphen gibt, indem er die Erkenntnistheorie des Protagoras referiert. Als erkenntnistheoretischen Begriff kennt Garve das lateinische visum aus Cicero; s. unten Erläuterung 60 zu § 18, S. 29, Z. 24–27. Siehe ferner Garves philologisch-historische Untersuchung des Begriffs, wie er laut den antiken Zeugnissen in der platonischen Akademie gebraucht wurde, in: Christian Garve: De ratione scribendi historiam Philosophiae / Libellus quem ampliss. Philos. ordinis concessu ad impetranda iura et privilegia magistri Lipsiensis d. XVIII. Iun. a C. n. MDCCLXVIII defendit Christianus Garve Vratislav. a. m horis antemeridianis sine socio pomeridianis assumto ad respondendum Io. Christiano Lederero Kalkreuthensi Misnico. Leipzig 1768, S. 9–14. 34 (§ 16, S. 25, Z. 8) Akatalepsía: altgriechisch die Unmöglichkeit, etwas zu erfassen. Siehe Garves Ausführungen unten in § 17. 35 (§ 16, S. 25, Z. 9f.) Der Athener Sokrates (um 470–399 v. Chr.) hinterließ keine Schriften. Seine Unterredungskunst und seine Lehren sind vor allem in Büchern Platons und Xenophons wiedergegeben. 36 (§ 16, S. 25, Z. 12f.) Vgl. Platon: Die Verteidigungsrede des Sokrates 21d–22a; Cicero: Academici libri I, Kapitel 4, § 16. 37 (§ 16, S. 25, Z. 13–15) Platon, 428/27–348/47 v. Chr. Vor allem in den frühen und mittleren Dialogen lässt der Athener seinen Landsmann und Lehrer Sokrates als Kritiker sowohl allgemeinbürgerlicher als auch philosophischer und sophistischer Überzeugungen oder Lehren auftreten. 38 (§ 16, S. 25, Z. 17f.) Marcus Tullius Cicero, 106–43 v. Chr. Garve bezieht sich hier auf Cicero: Academici libri I, Kapitel 4, § 15f.; Kapitel 8, § 30–32; Kapitel 12, § 44 (»rerum obscuritas«, »die Dunkelheit der Dinge«).
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39 (§ 16, S. 25, Z. 19–23) Siehe Platon: Theaitetos 151d–186e. In diesem Dialog geht es über weite Strecken darum, wie bestimmte Lehren des Sophisten Protagoras (um 485–um 415 v. Chr.) zu verstehen seien. Als titelgebenden Gesprächspartner setzt Platon einen seiner Schüler ein, den – hier noch jugendlichen – Mathematiker Theaitetos (um 415–369 v. Chr.). 40 (§ 16, S. 25, Z. 24 – S. 26, Z. 8) Vgl. ebd., 153d–160c. 41 (§ 16, S. 26, Z. 8–17) Vgl. ebd., 166d–167b. 42 (§ 16, S. 26, Z. 19) Siehe unten § 21–24. 43 (§ 16, S. 25, Z. 24–S. 26, Z. 31) Vgl. Platon: Theaitetos 163c–164b; 184b–186d. 44 (§ 17, S. 27, Z. 3f.) Arkesilas (oder Arkesilaos) von Pitane (um 315–241/40 v. Chr.) gilt als Begründer der Mittleren Akademie. Bevor er der platonischen Schule beitrat, war er Schüler des Aristotelikers Theophrast. In Ciceros Dialog Lucullus schildert die Titelfigur – der römische Feldherr, Senator und Gourmet Lucius Licinius Lucullus (117–56 v. Chr.) –, wie Arkesilas, ausgerüstet mit der Doktrin der radikalen Skeptiker, die nicht zuletzt durch Platon wohlgegründete Philosophie umgestürzt habe (Cicero: Lucullus, Kapitel 5, § 15). 45 (§ 17, S. 27, Z. 5) Zenon von Kition (333/32–262/61 v. Chr.) gilt als Begründer der Stoa. 46 (§ 17, S. 27, Z. 4–6) Nach Cicero: Lucullus, Kapitel 6, § 16. 47 (§ 17, S. 27, Z. 6f.) Vgl. etwa Sextus Empiricus: Pyrrhoneiai Hypotyposeis, Buch 1, Kapitel 33, § 232. 48 (§ 17, S. 27, Z. 9) Karneades von Kyrene (214/13–129/28 v. Chr.) hinterließ keine Schriften; seine Lehren sind nur aus den Referaten Späterer zu rekonstruieren. Siehe zu seiner Theorie der Wahrscheinlichkeit, die Garve hier im Rahmen der betreffenden akademischen Theorie heranzieht, Cicero: Lucullus, Kapitel 31f., § 99–102. 49 (§ 16, S. 27, Z. 13–15) Neben den Fragmenten der Academici libri ist auch Ciceros erhaltener älterer Dialog Lucullus einschlägig, den der Autor anscheinend in umgearbeiteter Form in das spätere Werk eingebaut hat (diese Umformung ist nicht erhalten). Garves folgende Darlegungen berühren sich zwar hier und da mit denen Ciceros, sind aber insgesamt frei davon formuliert. Auch nennt Garve mehr griechische Termini als Cicero. Er dürfte also noch eine andere Quelle benutzt haben. 50 (§ 17, S. 27, Z. 16) Die in der Übersetzung mit den ergänzten Ziffern I–III bezeichneten Abschnitte dieses Paragraphen sind im Druckbild der Originalausgabe nicht voneinander getrennt. Garve referiert die Lehre der Akademie unter drei Begriffen, von denen er der Deutlichkeit halber die letzten beiden ausdrücklich als den zweiten und den dritten zählt und, wenn auch nicht die beiden altgriechischen, so doch den lateinischen mit großem Anfangsbuchstaben schreibt: akatalepsía (S. 27, Z. 16–S. 28, Z. 5), Probabilitas (S. 28, Z. 5–29) und epoché (S. 28, Z. 29–S. 29, Z. 3). 51 (§ 17, S. 27, Z. 21–24) Aus dem Werk Heraklits von Ephesos (fl. um 480 v. Chr.) sind nur Fragmente erhalten; nicht als wörtliches Zitat, sondern als pointierte Paraphrase ist wohl der berühmte Satz: »Alles fließt«, aufzufassen, überliefert im 6. Jahrhundert beim Neuplatoniker und Aristoteles-Kommentator Simplicius. Siehe Ferdinand Lassalle: Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos. Nach einer neuen Sammlung seiner Bruchstücke und der Zeugnisse der Alten dargestellt. 2 Bde. Berlin 1858, Bd. 1. Historischer Theil. Fragmente und Zeugnisse. I. Ontologie. § 12. Der Fluß, S. 286–304, hier S. 291. 52 (§ 17, S. 28, Z. 6) Garve erläutert die Bedeutung des altgriechischen Wortes – ›Untätigkeit‹ – durch den additiv (mittels ›und‹) angeschlossenen Ausdruck. 53 (§ 17, S. 28, Z. 7) Cicero bezieht sich mit dem altgriechischen Ausdruck dógma auf den Lehrsatz von der Akatalepsie, den Garve zuvor behandelt hat (Cicero: Lucullus, Kapitel 9, § 29). 54 (§ 17, S. 28, Z. 13–15) Diese Unterscheidung ist referiert bei Cicero: Lucullus, Kapitel 10, § 32. 55 (§ 17, S. 28, Z. 20–26) Phantasía aperíspastos/exodeuméne: altgriechisch die ›nicht hin-undhergerissene‹ bzw. die ›geprüfte‹ Vorstellung. Die erstere nennt Cicero diejenige, die ›nicht behindert wird‹ (Lucullus, Kapitel 11, § 33). – Garves Darstellung ist verkürzt. Die dem Karneades zugeschriebene Unterteilung der Vorstellung ist eine dreifache: Zu unterscheiden seien erstens die bloß
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glaubhafte, zweitens die glaubhafte und nicht hin-und-hergerissene und drittens die glaubhafte, nicht hin-und-hergerissene und durchgeprüfte Vorstellung. Siehe das Werk Gegen die Mathematiker des Skeptikers Sextus Empiricus (auf Griechisch verfasst um 180–200 n. Chr.): Adversus mathematicos VII (= Adversus dogmaticos/logicos I), § 166–181. – Die Reihenfolge der beiden Kriterien ›nicht hin- und hergerissen‹ und ›durchgeprüft‹ ist freilich in den überlieferten Zeugnissen verschieden angegeben. Siehe dazu Hermann Mutschmann: Die Stufen der Wahrscheinlichkeit bei Karneades. In: Rheinisches Museum für Philologie (Neue Folge) 66 (1911), S. 190–198. 56 (§ 17, S. 28, Z. 30) Den Ausdruck Ort (locus) verwendet Garve hier in dialektischem Sinne, in der Bedeutung von ›Argumentationsschema‹ vgl. oben S. 6, Z. 14 (§ 3). Im Übrigen ist der Satz, mit dem Garve den Begriff epoché ins Spiel bringt, angelehnt an den entsprechenden Satz Ciceros (Lucullus, Kapitel 18, § 59). 57 (§ 17, S. 29, Z. 3) Logomachía: altgriechisch Kampf um Worte. 50 (§ 17, S. 29, Z. 8–12) Vgl. Plutarch (um 45–um 125): De Stoicorum repugnantiis (Über die Widersprüche der Stoiker) 1057 A–B. Garve dürfte auch die ausführlichere einschlägige Darlegung desselben Autors benutzt haben: Plutarch: Adversus Colotem 1122 A–D. 59 (§ 18, S. 29, Z. 22–24) Siehe Cicero: Lucullus, Kapitel 27, § 87. Cicero nennt keine konkreten Namen derer, die Chrysipp so eingeschätzt hätten, sondern spricht nur allgemein von Stoikern. 60 (§ 18, S. 29, Z. 24–27) Garve paraphrasiert hier eine überlieferte Begriffsbestimmung Chrysipps: φαντασία μὲν οὖν ἐστι πάθος ἐν τῇ ψυχῇ γιγνόμενον, ἐνδεικνύμενον ἐν αὑτῷ καὶ τὸ πεποιηκός. Siehe Ioannes ab (Hans von) Arnim (Hg.): Stoicorum veterum fragmenta (SVF) Bd. 2: Chrysippi fragmenta logica et physica. Stuttgart 1979 (reprographischer Nachdruck der Ausgabe von 1903), S. 21, Z. 23–25 (Nr. 54). Die von Garve erläuternd mit dem griechischen Begriff páthos gepaarte Bezeichnung der phantasía als Wandlung (mutatio) der Seele entspricht bei Chrysipp dem Ausdruck ἑτεροίωσις (siehe etwa SVF 2, S. 23, Z. 6 [Nr. 56]). Die lateinisch-altgriechischen Entsprechungen visum/phantasía und comprehendibile/kataleptón (s. die folgende Erläuterung) übernimmt Garve von Cicero (Academici libri I, Kapitel 11, § 40f.), wobei er statt comprehendibile das gebräuchlichere comprehensibile verwendet. 61 (§ 18, S. 29, Z. 27) Kataleptá: altgriechisch die erfassbaren Dinge (die Dinge, insofern sie erfassbar sind); weiter unten hier in § 18 übersetzt Garve das Wort mit ›die begreiflichen Dinge‹ (comprehensibilia, S. 30, Z. 15). 62 (§ 18, S. 29, Z. 30) Garve geht hier darüber hinweg, dass bei den Stoikern, nach den antiken Zeugnissen, die Tragweite jenes Vergleichs des Wahrnehmungsbildes mit einem Wachsabdruck durchaus umstritten war. Siehe von Arnim: SVF 2 (s. Erläuterung 60), Nr. 56 (S. 22f.), und die betreffende Darlegung Garves in seiner Leipziger Magisterschrift De ratione scribendi historiam Philosophiae (s. Erläuterung 33), S. 11f. 63 (§ 18, S. 29, Z. 30–S. 30, Z. 1) Die Lehre vom ›inneren Unterschied‹ (idíoma) derjenigen sinnlichen Erscheinungen, durch die etwas erfasst wird, referiert mehrfach Sextus Empiricus; vgl. vor allem v. Arnim (Hg.): SVF 2 (s. Erläuterung 60), S. 26, Z. 2–5 (Nr. 65). 64 (§ 18, S. 30, Z. 1–3) Vgl. Cicero: Lucullus, Kapitel 24, § 77. 65 (§ 19, S. 30, Z. 28) Aristipp von Kyrene, um 435–um 355 v. Chr. Von ihm sind keine Schriften erhalten. Zu den antiken Autoren, die über die Erkenntnistheorie der Kyrenaiker berichten, gehört auch Cicero mit seinem von Garve durchgearbeiteten Dialog Lucullus; siehe dort insbesondere Kapitel 24, § 76. Ansonsten siehe Gabriele Giannantoni (Hg.): Socraticorum reliquiae. 4 Bde. Rom 1983–1985, hier Bd. 1, Rom 1983, S. 272–279. 66 (§ 19, S. 30, Z. 29) Epikur, um 341–271/70 v. Chr. 67 (§ 19, S. 31, Z. 12–24) Einen Passus Epikurs über die Wahrheit der Wahrnehmung zitiert im 3. Jahrhundert Diogenes Laertios im zehnten Buch seines Werks Zusammenfassung der Lebensläufe und Meinungen von Philosophen; siehe dort § 31f. 68 (§ 20, S. 31, Z. 26f.) Garve denkt wohl vor allem an den französischen Philosophen Pierre
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Gassendi (1592–1655), der sich in mehreren Werken mit Epikur beschäftigte und die epikureischen Lehren aus den Quellen zu rekonstruieren und ernst zu nehmen bemühte. Siehe etwa Pierre Gassendi: Vie et mœrs d’Épicure. Lateinisch – französisch. 2 Bde. Hg. von Sylvie Taussig. Paris 2006; ders.: Diogenis Laertii liber decimus de vita, moribus, placitisque Epicuri, cum nova interpretatione, et notis (altgriechisch-lateinische Ausgabe mit Kommentar). In: Opera omnia. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1658 in 6 Bänden mit einer Einleitung von Tullio Gregory. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. Bd. 5, S. 1–166; ders.: Philosophiae Epicuri syntagma. Ebd., Bd. 3, S. 1–94. 69 (§ 20, S. 31, Z. 30–32) Die Lehre von den ›Bildchen‹ (eídola), die sich von den Körpern ablösen und unsere Sinneswahrnehmung bestimmen, ist in Epikurs Brief an Herodot dargelegt, den Diogenes Laertios überliefert. Siehe Diogenes Laertios: Zusammenfassung der Lebensläufe und Meinungen von Philosophen, Buch X, § 46–50. 70 (§ 20, S. 31, Z. 32) Als Peripatetiker werden die Schüler des Aristoteles bezeichnet, nach der Wandelhalle (altgriechisch perípatos), die als Ort der Schule diente. 71 (§ 20, S. 32, Z. 1f.) Hegemonikón: altgriechisch das zum Anführen Geeignete, Herrscherliche; bei den Stoikern: dasjenige Vermögen der Seele, das über die anderen die Befehlsgewalt hat – die Vernunft. Zu der hier von Garve angesprochenen Lehre siehe siehe v. Arnim (Hg.): SVF 2 (s. Erläuterung 60), S. 227, Nr. 836. 72 (§ 21, S. 32, Z. 8f.) Die beiden hier von Garve durch ein ›oder‹ verbundenen Begriffe, Vorstellung oder Erfassung (perceptio) und Vergegenwärtigung (repraesentatio), nennt Georg Friedrich Meier als lateinische Entsprechungen zum deutschen Wort Vorstellung. Siehe Meier: Auszug aus der Vernunftlehre (s. Erläuterung 7), S. 10, § 10. Im Folgenden ist perceptio in der Regel durch Vorstellung übersetzt. 73 (§ 22, S. 34, Z. 21–24) Quintus Ennius, 239–169 v. Chr. Aus seinem Werk sind nur Fragmente erhalten; Garve zitiert hier, nicht wörtlich, frg. scen. 34 Vahlen (überliefert bei Cicero: Lucullus, Kapitel 17, § 52). Siehe Gesine Manuwald (Hg.): Tragicorum Romanorum Fragmenta. Bd. 2. Ennius. Göttingen, Oakville (Connecticut) 2012, S. 56 (Fragment 13, Vers 1). 74 (§ 22, S. 36, Z. 23) Gemeint ist: jenen unter Nr. 1 (jedoch im Singular) genannten sinnlichen Erscheinungen. 75 (§ 24, S. 38, Z. 13) Aisthetón: altgriechisch wahrnehmbar. 76 (§ 24, S. 38, Z. 15) Aisthetérion: altgriechisch Wahrnehmungsorgan. 77 (§ 24, S. 39, Z. 7–9) Als verborgene Qualitäten galten in der Scholastik solche natürlichen Kräfte, die nicht wahrnehmbar und/oder nicht aus den Basisqualitäten der vier Elemente (warm, kalt, feucht, trocken) herzuleiten waren, z. B. die von den Gestirnen laut Astrologie auf das irdische Geschehen ausgeübte Wirkkraft, die Anziehungskraft des Magneten oder die Heilkraft bestimmter Essenzen. In der Neuzeit wurde dieses Vorgehen als Etikettenschwindel verworfen: Unverstandenes sei als ›verborgene Qualität‹ ins Lehrgebäude eingegliedert worden. Siehe Paul Richard Blum: [Art.] Qualitas occulta. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter † und Karlfried Gründer. Bd. 7. Darmstadt 1989, Sp. 1743–1748. 78 (§ 24, S. 41, Z. 28–32) Zu dieser die Pädagogik betreffenden Bemerkung ist Garve vielleicht dadurch angeregt worden, dass in einem pädagogischen Dialog, den er im Jahr vor seiner Hallenser Magisterdisputation aus dem Französischen übersetzt hatte, die Notwendigkeit eben jenes frühen Trainings der Einschätzung von Größe und Entfernung des Gesehenen dargelegt wird. Siehe Guillaume Grivel (anonym): Der Freund junger Leute von M. G*****. Aus dem Französischen übersetzt [von Christian Garve]. Leipzig 1765, S. 371–373 . Siehe dazu die Angaben im vorliegenden Band bei Verf.: Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift, hier S. 59, Anm. 21. 79 (§ 25, S. 44, Z. 9f.) Diese aus dem Griechischen stammenden Namen bedeuten ›kleine Wölfin‹ bzw. ›Schwarzfuß‹. Sie gehören zu den vielen Hundenamen, die Ovid in seiner Fassung der AktaionSage aufzählt (Ovid: Metamorphosen III, Vers 76/78 und 90). 80 (§ 25, S. 45, Z. 2f.) Vgl. Bernoulli: Ars Conjectandi (s. Erläuterung 17), Teil 4, Kapitel 1, S. 211
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(Erstausgabe) / S. 239 (Ausgabe 1975) / Bd. 2, S. 72 (deutsche Fassung): »Probabilitas […] est gradus certitudinis, & ab hac differt ut pars à toto« (»Die Wahrscheinlichkeit […] ist ein Grad der Gewissheit und unterscheidet sich von ihr wie ein Theil vom Ganzen«). 81 (§ 25, S. 45, Z. 19) Siehe unten § 26, Abschnitt I (S. 28, Z. 5–28). 82 (§ 25, S. 46, Z. 12) Das ist die gerade Linie, in der die Fläche der Umlaufbahn des Mondes die Fläche der Ekliptik (der Umlaufbahn der Erde) schneidet. Siehe Johann Andreas von Segner: Astronomische Vorlesungen. Eine deutliche Anweisung zur gründlichen Kenntniß des Himmels. 2 Bde. Halle an der Saale 1775/76, hier Bd. 1, § 545, S. 304f.; vgl. ders.: Einleitung in die NaturLehre. Göttingen 1746, S. 467 (§ 538). 83 (§ 25, S. 46, Z. 26–30) Garve will hier anscheinend zu verstehen geben, die Entfernung des jeweiligen Planeten von der Sonne sei so groß, dass kleinere Himmelskörper ggf. durch seine Anziehungskraft in seiner Nähe gehalten statt zur Sonne gezogen würden. 84 (§ 26, S. 47, Z. 2–6) Zum so eingeleiteten Abschnitt (§ 26–30) siehe im vorliegenden Band Verf.: Christian Garves Wahrscheinlichkeits-Syllogistik, oben S. 33–48. 85 (§ 26, S. 47, Z. 8f.) Gemeint ist Kant. Im Folgenden paraphrasiert Garve weite Teile des ersten Paragraphen und den Anfang des zweiten aus der Schrift Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, erwiesen von M. Immanuel Kant, Königsberg 1762. Jedoch bestimmt Kant dort die (kategorischen) Syllogismen zunächst im Allgemeinen, eingeschlossen solche, in denen die zweite Prämisse negativ ist; Garve verengt die Darlegung rasch auf die Syllogismen der ersten Figur, wo als zweite Prämisse nur eine affirmative Aussage fungieren kann. (Zum Begriff syllogistische Figur siehe die folgende Erläuterung.) 86 (§ 26, S. 47, Z. 19–21) Garve bezieht sich auf die Syllogistik, wie sie von Aristoteles (384–322 v. Chr.) begründet wurde. Jeder Syllogismus besteht aus drei Sätzen: Obersatz, Untersatz und Konklusion. In diesen drei Sätzen werden insgesamt drei Begriffe jeweils zweimal verwendet: derjenige, der in der Konklusion das Prädikat oder Attribut ist (A), derjenige, der dort das Subjekt ist (S), und der sogenannte Mittelbegriff, der nur im Ober- und im Untersatz vorkommt (M). Die drei Begriffe können in den drei Sätzen auf verschiedene Weisen – in verschiedenen Figuren – verteilt sein. Die erste Figur weist, wenn man in den Satzschemata zuerst jeweils den Subjekt-, dann den Prädikatausdruck nennt (nach der gängigsten Form etwa des deutschen Aussagesatzes), folgende Verteilung der Begriffe auf: M – A, S – M, S – A. Siehe auch die folgende Erläuterung. – Dass Garve die drei genannten Regeln hier der ersten Figur zuordnet, ist zwar nicht falsch, jedoch lässt sich bestreiten, dass darin die Summe der betreffenden Regeln bestünde. Die dritte Regel – dass es mehr als drei Begriffe in einem Syllogismus nicht geben kann – gilt nicht nur für die erste Figur, sondern ist ein Bauprinzip für die kategorischen Syllogismen aller Figuren; andererseits lässt sich eine ganze Reihe von Regeln aufstellen, die für alle syllogistischen Figuren gelten. So werden etwa in der sogenannten Logik von PortRoyal zunächst sechs allgemeine Regeln für die einfachen (kategorischen) Syllogismen der vier Figuren aufgeführt, dann für die erste Figur die beiden von Garve zuerst genannten Regeln. Siehe Arnauld und Nicole: La Logique (s. Erläuterung 16), Teil 3, Kapitel 3 und 5 (S. 238–245 und (S. 249–253); dies.: Die Logik (s. ebd.), S. 173–179 und S. 182f. 87 (§ 26, S. 48, Z. 5) In den Syllogismen der ersten Figur steht der Mittelbegriff in der ersten Prämisse an der Stelle des Subjekts, in der zweiten an der des Prädikats. So zum Beispiel der Mittelbegriff Sinnenwesen in folgendem Syllogismus: Alle Sinnenwesen sind sterblich; alle Menschen sind Sinnenwesen; also: Alle Menschen sind sterblich. Aristoteles unterscheidet dabei nicht, ob der Mittelbegriff in der ersten Prämisse an der Subjekts-, in der zweiten an der Prädikatsstelle steht oder umgekehrt; zusammen mit den anderen beiden Möglichkeiten (dass der Mittelbegriff in beiden Prämissen an der Subjekts- oder in beiden an der Prädikatsstelle steht) ergeben sich demnach drei Figuren. Später hat es sich aber eingebürgert, jenen Unterschied eigens darzustellen und vier syllogistische Figuren zu zählen. 88 (§ 26, S. 48, Z. 5f.) Das ist nicht korrekt und stimmt auch nicht mit den Beispielen überein, die
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Garve hier bringt. In der ersten Figur könnte bei zwei partikulären Prämissen die Konklusion unwahrscheinlich sein. Garve hat vielmehr Fälle vor Augen, in denen der Obersatz partikulär, der Untersatz aber allgemein oder, als Sonderfall des allgemeinen, singulär ist. Entscheidend ist, dass in der Wahrscheinlichkeits-Syllogistik bei einem Syllogismus der ersten Figur der Obersatz (die Prämisse, in der der Mittelbegriff das Subjekt ist) partikulär sein darf – im Unterschied zur Wahrheits-Syllogistik, wo dieser Fall verboten ist (nach der oben S. 47, Z. 17f. genannten Regel). – Der Mathematiker, Optiker und Philosoph Johann Heinrich Lambert (1728–1777) hat in seiner 1764, zwei Jahre vor Garves Hallenser Disputation, erschienenen Wahrscheinlichkeitslehre das von Garve im Folgenden herangezogene Beispiel (drei Vierteln dessen, was unter den Subjektbegriff ›A‹ fällt, kommt ein bestimmtes Merkmal zu, und ›B‹ fällt unter den Subjektbegriff ›A‹) ausführlich für beide Fälle – dass ›B‹ für ein einzelnes Individuum oder für eine bestimmte Menge von Individuen steht – dargelegt. Siehe Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein. Bd. 2 (LPS 2). Leipzig 1764, : Phänomenologie oder Lehre von dem Schein. Fünftes Hauptstück (Kapitel): Von dem Wahrscheinlichen, § 167f. (S. 334–336). Vgl. die kommentierte Neuausgabe in modernisierter Schreibweise: ders.: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein. 2 Bde. und Appendix. Hg. von Günter Schenk unter Mitarbeit von Peter Heyl. Berlin 1990, hier Bd. 2, S. 730–823. In dieser Ausgabe finden sich die Seitenzahlen des Originaldrucks mitangegeben. 89 (§ 26, S. 48, Z. 8) Zur Bezeichnung der drei Teilsätze eines Syllogismus bedient sich Garve meist der durch Cicero autorisierten Terminologie (vgl. etwa Cicero: De inventione I, Kapitel 37, § 67), verweist hier aber durch den Ausdruck Maior (›größere‹ Prämisse) auch auf die mittelalterliche Tradition. Es entsprechen einander: propositio (Satz, wörtlich ›Vor-Satz‹) und maior; assumtio (Annahme) und minor (›kleinere‹ Prämisse); complexio (Zusammenflechtung) und conclusio (Zusammenschluss). In der Übersetzung werden im Folgenden durchweg die Ausdrücke Obersatz, Untersatz und Konklusion verwendet. 90 (§ 26, S. 48, Z. 17) Der Ausdruck clare tantum (›mit bloßer Klarheit‹) ist elliptisch; der Leser muss hinzudenken: ›nicht auch mit Deutlichkeit‹. Von den beiden traditionellen Kriterien der Erkenntnis, ›klar‹ und ›deutlich‹ (clare et distincte), ist demnach hier nur ersteres gegeben; die Deutlichkeit (Wohlunterschiedenheit) fehlt, weil die Glieder oder Merkmale jener größeren Teilmenge der Dinge, denen ein bestimmtes Attribut zukommt, im Einzelnen nicht alle angegeben werden können. Somit handelt es sich um eine klare und verworrene, nicht aber um eine klare und deutliche Erkenntnis. – Verschiedene Philosophen bestimmen die Deutlichkeit als Grad oder Art von Klarheit unterschiedlich. Vgl. z. B. die Erörterungen, die Garves Hallenser Lehrer Georg Friedrich Meier hierzu vorgelegt hat: Meier: Auszug aus der Vernunftlehre (s. Erläuterung 7), vor allem § 14 (S. 11) und § 137 (S. 43). 91 (§ 26, S. 49, Z. 18) Das Lateinische kennt keine Artikel. Im Gelehrtenlatein greifen bei Bedarf manche Autoren auf den bestimmten Artikel des Altgriechischen zurück; so auch Garve in vorliegender Schrift. Bei logischen Variablen (wie in diesem Fall ›A‹) gibt es keine Flexionsendung, deshalb muss der altgriechische Artikel den Kasus (hier den Genitiv) bezeichnen. 92 (§ 27, S. 51, Z. 4–10) Siehe Cicero: Atticus-Briefe VIII 9 (Brief vom 25. Februar 49 v. Chr.). 93 (§ 28, S. 51, Z. 14) In der zweiten syllogistischen Figur steht der Mittelbegriff in beiden Prämissen an der Stelle des Prädikats. – Von den im Folgenden vorgestellten Syllogismen lässt sich schlecht behaupten, dass sie im Grunde ein einziger Syllogismus wären, der in der einen Gestalt zur ersten, in der anderen zur zweiten Figur gehöre. Womöglich hatte Garve zwar zunächst vor, von eben solchen zwei Syllogismen zu sprechen (siehe die folgende Erläuterung), versäumte es aber, nachdem er diesen Plan geändert hatte, den Text konsequent auf den neuen Plan umzustellen. 94 (§ 28, S. 51, Z. 15–20) Hier ist Garve ein Fehler unterlaufen. Die besagte Argumentationsweise gehört nicht zur ersten Figur, sondern zur zweiten und passt weder zum folgenden Schema noch zum
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daran anschließenden Beispiel. Das der Regel entsprechende Schema wäre folgendes (mit ›A‹ und ›C‹ als den beiden Subjekten und ›B‹ als gemeinsamem Attribut): Kein A ist B. Kein C ist B. Also gilt wahrscheinlich: C ist A (alle C sind A). Von diesem Schema ließe sich auch, nach Garves Einleitung zu diesem § 28, behaupten, es sei im Grunde dasselbe wie dasjenige, das im folgenden Abschnitt 2 behandelt wird (A ist B. – C ist B. – Also gilt wahrscheinlich: C ist A.); siehe die vorige Erläuterung. Vielleicht hatte Garve zunächst diese Syllogismusform behandeln wollen und sie dann zwar weggelassen, die dazu gehörige Regel aber an unpassender Stelle versehentlich doch in den Text gesetzt oder dort belassen. – Die Regel für den im Folgenden illustrierten Syllogismus müsste so lauten: Wenn einem Subjekt ein Attribut abgesprochen wird und einem zweiten Subjekt jenes erste Subjekt als Attribut abgesprochen wird, dann ist, dass dem zweiten Subjekt das erste Attribut zugeteilt werden kann, umso wahrscheinlicher, je geringer nach unserer Kenntnis die Anzahl der Dinge außer dem Subjekt des Obersatzes ist, denen jenes erste Attribut abzusprechen ist. 95 (§ 28, S. 51, Z. 23) Dass Garve die Konklusion im Singular formuliert, ist missverständlich. Korrekt wäre die wahrscheinliche Aussage so zu notieren: ›Alle C sind A.‹ Offenbar ist die Variable ›C‹ als kollektiver Begriff zu verstehen. 96 (§ 28, S. 51, Z. 28) Wie beim vorigen Syllogismus ist auch hier in der Konklusion anscheinend ›C‹ als kollektiver Begriff verwendet. 97 (§ 28, S. 52, Z. 4–6) Garve formuliert hier gleichsam eine alltäglich-pragmatische Fassung des juristischen Grundsatzes der Unschuldsvermutung. Dafür beruft er sich – mit einem seinerzeit gebräuchlichen Terminus antiken Ursprungs – auf eine lex humanitatis, ein ›Gesetz der Menschlichkeit‹. Siehe zu Garves zeitgenössischem Kontext Joachim Hruschka: Die Unschuldsvermutung in der Rechtsphilosophie der Aufklärung. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 112 (2000), S. 285–300. 98 (§ 28, S. 52, Z. 10–16) Unter dem Begriff Gerechtigkeit versteht Garve hier offenbar nicht die Kardinaltugend, sondern ein weitgehend negativ bestimmtes, von der Gesamtheit der einen umfassenden Tugend fast isoliertes Wohlverhalten. In späteren Schriften geht er gelegentlich auf unterschiedliche Gerechtigkeitsbegriffe ein. Vgl. etwa Christian Garve: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten. Anmerkungen zu dem Ersten Buche. Breslau 1783, S. 89: »Die neuere Philosophie, sondert die Pflichten der Gerechtigkeit, von den Pflichten der Wohlthätigkeit ab. Der Inbegriff von jenen, macht ihr Recht der Natur; die Sammlung von diesen, macht die eigentliche Moral aus. Die alte Philosophie vermischt beyde, und handelt von ihnen in derselben Wissenschaft.« 99 (§ 30, S. 54, Z. 25) Laut dem Originaldruck folgt hier noch das unbestimmte Aufzählungsglied ›usw.‹. Diese Hinzufügung macht den wahrscheinlichkeitslogischen Schluss nicht falsch. Jedoch wäre es überflüssig, in der zweiten Aussage dem ›B‹ mehr Attribute zuzuordnen, als dann in der dritten für ›A‹ verifiziert werden. Außerdem bezieht sich Garve in der Erläuterung dieses Schlusses auf die Möglichkeit, dass alle (bekannten) Merkmale von ›B‹ ein ihm eigentümliches Gesamtmerkmal ausmachten, zählt dann aber nur ›C‹, ›D‹ & ›E‹ auf. Somit ist das ›usw.‹ hier in der zweiten Aussage zu streichen. – Die hier referierte Schlussweise hat, mitsamt dem Hinweis auf die argumentative Kraft der für eine Sache eigentümlichen Merkmale, Lambert entwickelt; Garve dürfte sie von ihm übernommen haben. Lambert verwendet in der entsprechenden Passage bei den Merkmalen von ›B‹ durchgehend das Aufzählungsglied ›etc.‹; vielleicht hatte Garve es zunächst mitübernommen, dann als für seine Zwecke überflüssig erkannt, es aber nicht ganz konsequent gelöscht. Siehe Lambert: Neues Organon (s. Erläuterung 88), Bd. 2, : Phänomenologie, § 167f. (S. 334–338), und vgl. im vorliegenden Band Verf.: Christian Garves Wahrscheinlichkeits-Syllogistik, oben S. 49. 100 (§ 30, S. 55, Z. 19–24) Vgl. die letzten beiden Teile (V und VI) in: Joannes Keplerus (Johannes
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Kepler, 1571–1630): Astronomia Nova Ἀιτιολόγητος, seu Physica Coelestis, tradita commentariis de motibus stellae Martis, Ex observationibus G. V. Tychonis Brahe: Jussu et sumptibus Rudolphi II. Romanorum Imperatoris etc: Plurium annorum pertinaci studio elaborata Pragae […]. Heidelberg 1609. 101 (§ 30, S. 56, Z. 13f.) Nikolaus Kopernikus, 1473–1543; Pythagoras von Samos, um 570–nach 510 v. Chr.; Philolaos von Kroton, um 470–nach 399 v. Chr. Garves Darstellung entspricht der gängigen Lehrmeinung seiner Zeit, ist aber nicht korrekt. Zwar lehrte Philolaos eine Umlaufbewegung der Erde, nicht jedoch die zentrale Stellung der Sonne. Philolaos zufolge bewegt sich die Erde vielmehr zusammen mit den anderen Planeten, einschließlich der Sonne, um ein – für die Menschen unsichtbares – Zentralfeuer. Ob schon Pythagoras eine solche Lehre aufgestellt hatte, ist nicht gesichert. Siehe Carl A. Huffman: Philolaus of Croton, Pythagorean and Presocratic. A Commentary on the Fragments and Testimonia with Interpretive Essays. Cambridge 1993, S. 240–261. 102 (§ 30, S. 56, Z. 13–19) Vgl. Nicolaus Copernicus: De revolutionibus orbium coelestium. Nürnberg 1543. 103 (§ 30, S. 57, Z. 24f.) Tychonisch: vom Astronomen Tycho Brahe stammend (1546–1601). 104 (§ 30, S. 58, Z. 19–24) Isaac Newton (1643–1727): Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. London ³1726 (dies ist die Ausgabe letzter Hand; die erste Auflage erschien ebenda 1687). Das dritte und letzte Buch des Werks trägt den Titel De Mundi Systemate (›Vom Weltsystem‹). Garve bezieht sich hier auf die Sätze 2–4 (= Theoreme 2–4), S. 395–398. 105 (§ 30, S. 59, Z. 8) Diese Zahl kommt zustande, indem man den Erdumfang, wie ihn Jean Picard durch Gradmessung ermittelte (publiziert Paris 1671), mit 60 multipliziert (weil die Umlaufbahn des Mondes 60-mal den Erdumfang misst) und zu dem Produkt den Durchmesser errechnet. 106 (§ 30, S. 59, Z. 17) Christiaan Huygens, niederländischer Physiker, Mathematiker und Astronom, 1629–1695. 107 (§ 30, S. 59, Z. 17–24) Diese Argumentation, inklusive der Bestätigung der Hypothese mithilfe von Huygens’ Pendelmessungen, geht zurück auf Newton: Principia Mathematica (s. Erläuterung 104), Buch 3, Satz 4 (= Theorem 4), S. 396–398; vgl. auch die Reaktion darauf (in der Erstauflage der Principia, London 1687, findet sich der entsprechende Passus auf S. 406f.) bei Christiaan Huygens: Discours de la cause de la pesanteur (Erstausgabe Leiden 1690), in: ders.: Œuvres complètes. Hg. von der Société Hollandaise des Sciences. Bd. 21: Cosmologie. La Haye 1944, S. 443–499, hier S. 476 (Addition). 108 (§ 30, S. 59, Z. 31f.) Gemeint ist Willem Jacob ’s Gravesande (1688–1742): Introductio ad Philosophiam; Metaphysicam et Logicam continens. Leiden 21737, Buch 2, Teil 3, Kapitel 35: De Occultis Literarum Notis enodandis (S. 308–322). Garve schreibt den Namen des Autors, was die Stellung des Apostrophs betrifft, gemäß der deutschen Ausgabe, doch ähnelt die von ihm angegebene Kapitelüberschrift eher der originalen als der deutschen; vgl. G. I. s’ Gravesande: Einleitung in die Weltweisheit worinn die Grundlehre samt der Vernunftlehre vorgetragen wird. Aus der zweyten Leydenschen Auflage getreulich übersetzt. Halle an der Saale 1755, Teil 3, Kapitel 35, S. 274–286 (Die Kunst verborgene Buchstaben zu entdecken). – In diesem Kapitel führt ’s Gravesande vor, wie er durch Hypothesenbildung schrittweise eine Geheimschrift entschlüsselt, mittels welcher die Buchstaben eines normal lesbaren Textes systematisch durch andere ersetzt wurden. 109 (§ 31, S. 60, Z. 2) Siehe oben § 2. 110 (§ 31, S. 60, Z. 3–6) Über die Vertrauenswürdigkeit der historischen Zeugnisse räsonniert George Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle an der Saale 1752, S. 344–360, § 236–243. Meier stellt diese Überlegungen aber nicht unter dem Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit an (die Frage nach der »Gewißheit des Zeugnisses« übergeht er ausdrücklich, siehe S. 354, § 241, Anfang). Der Leipziger Professor Carl Günther Ludovici hatte hingegen 1761 eine Abhandlung über die Frage verfasst, wie die Grade der historischen Wahrscheinlichkeit zu bestimmen seien: Carolus Guntherus Ludovici: Regulae probabilitatis historicae gradus recte determinandi, Leipzig 1761. – Garves Verweis auf die
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von ihm angeblich schon geleistete Abhandlung der Prognose ist ungenau. Er hat oben in § 1f. zwei Arten von Prognose unterschieden. Die Prognose aufgrund von Wahrscheinlichkeitsberechnung wird erst unten, von § 32 an, ausführlicher erklärt. Bliebe die Prognose aufgrund der Präsenz von Ursachen. Diese ist oben in § 10, Abschnitt 5–7, besprochen worden, und darauf mag sich der Verweis beziehen; eine ausführliche Darlegung dieses Themas findet sich jedoch in der ganzen Schrift nicht. 111 (§ 31, S. 60, Z. 7f.) Gemeint sind vor allem wohl der berühmte Jakob I Bernoulli (s. Erläuterung 17) und Abraham de Moivre (s. unten Erläuterung 119). 112 (§ 31, S. 60, Z. 16–18) Garve meint vielleicht Lambert. Vgl. dessen Neues Organon (s. Erläuterung 88), Bd. 2, : Phänomenologie, § 149–159 (S. 318–327). 113 (§ 32, S. 60, Z. 20f.) Siehe oben § 13. – Axíoma: altgriechisch (vorausgesetztes) Urteil, Grundsatz, ›Axiom‹. 114 (§ 32, S. 60, Z. 29–S. 61, Z. 1) Siehe oben § 12 mit Erläuterung 29. 115 (§ 32, S. 61, Z. 21–25) Siehe Bernoulli: Ars Conjectandi (s. Erläuterung 17), Teil 4, Kapitel 5, propositio principalis, S. 236 (Erstausgabe) / S. 257 (Ausgabe 1975) / Bd. 2, S. 104 (deutsche Fassung). – Heute nennt man die besagten beiden Fälle meist ›Erfolg‹ und ›Misserfolg‹. 116 (§ 32, S. 62, Z. 22) Korrekt müsste es heißen: von zwei Ereignissen. 117 (§ 32, S. 63, Z. 20f.) Nach heutiger Ausdrucksweise: bei der Potenz eines Binoms. 118 (§ 33, S. 64, Z. 1f.) Garve rechnet hier für a = 1 und b = 5 die folgenden beiden binomischen Formeln durch: erstens (a + b)3 = a3 + 3a2b + 3ab2 + b3, zweitens (a + b)4 = a4 + 4a3b + 6a2b2 + 4ab3 + b4. 119 (§ 33, S. 64, Z. 21) Abraham de Moivre, französischer Mathematiker, 1667–1754. Zu seinem hier einschlägigen Werk siehe die folgende Erläuterung. 120 (§ 31, S. 66, Z. 15–17) Dieses Problem war in der Erstauflage von de Moivres Doctrine of Chances (London 1718) das fünfte, in der posthumen dritten Auflage ist es das dritte. Siehe Abraham de Moivre: The Doctrine of Chances, or: A Method of Calculating the Probabilities of Events in Play. The Third Edition, Fuller, Clearer, and more Correct than the Former. London 31756, S. 36f. (Problem III). Garve stellt die Lösung kürzer und einfacher dar als sein Gewährsmann. 121 (§ 33, S. 66, Z. 24–S. 67, Z. 3) Diese und die folgende Rechnung gelten für Zehnerlogarithmen (Logarithmen mit der Basis 10, log10), die auch Briggssche Logarithmen genannt werden (nach dem Mathematiker Henry Briggs, 1561–1630). Die betreffende Logarithmentafel konnte Garve bei Prof. Segner, dem Betreuer seiner Hallenser Magisterdisputation, finden. Siehe Johann Andreas von Segner: Anfangsgründe der Arithmetick Geometrie und der Geometrischen Berechnungen. Aus dem Lateinischen Seines Vaters übersetzt und nach dessen Anweisung verbessert durch Joh. Wilh. v. Segner K. P. C. Halle a. d. S. 1764, S. 151–192 (Tafel der Logarithmen Sinus und Tangenten), hier S. 153f. 122 (§ 34, S. 67, Z. 16–19) Siehe oben § 32, Gesetz 3 (S. 61, Z. 17–S. 62, Z. 21). 123 (§ 34, S. 67, Z. 19–24) Dieses Problem ist einem von de Moivre aufgestellten zwar ähnlich (Problem 11 in der Erstausgabe der Doctrine of Chances = Problem 10 in der dritten Auflage), jedoch nicht damit identisch. Siehe de Moivre: The Doctrine of Chances ³1756 (s. Erläuterung 120), S. 56–62 (Problem X). – Garves Syntax ist hier nicht ganz folgerichtig. Auf die Ankündigung des von de Moivre aufgestellten Problems folgt ein Satzgebilde, das im vorangestellten Wenn-Satz das besagte Problem beschreibt (Z. 20–24), im Hauptsatz aber wiederum, wie schon bei jener Ankündigung, das Problem zu einem Anwendungsfall des zu Beginn des Paragraphen genannten Gesetzes erklärt (Z. 24–26). 124 (§ 34, S. 68, Z. 17) Garve meint: auf den gleichen Nenner (hier: auf den Nenner 2744). 125 (§ 34, S. 68, Z. 27–29) Beispiele, in denen zum Tode Verurteilte mittels eines Glücksspiels ihren Kopf retten können, sind in Abhandlungen über Wahrscheinlichkeitsrechnung häufig. Berühmt ist dasjenige Jakob I Bernoullis: Ars Conjectandi (s. Erläuterung 17), Teil 1, Annotatio C zu Huygens’ Propositio IV, S. 12f. (Erstausgabe) / Bd. 1, S. 14 (deutsche Fassung). 126 (§ 34, S. 69, Z. 6–10) Diese Bedeutung von sors (und dem damit gleichbedeutenden Wort
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expectatio) übernimmt Bernoulli aus Christiaan Huygens’ De ratiociniis in ludo aleae (1657), dem Werk, dessen Kommentierung sich Bernoulli im ersten Teil seiner Ars Conjectandi widmet. Vgl. Huygens’ Proöm und Bernoullis Kommentar dazu, in: Bernoulli: Ars Conjectandi (s. Erläuterung 17), Teil 1, S. 3–5 (Erstausgabe) / S. 110f. (Ausgabe 1975) / Bd. 1, S. 3–6 (deutsche Fassung).
| 3 Rezensionen
Anonymus
Rezension zu Garves Hallenser Magisterschrift Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 4. Dezember 1766 Mit Anmerkungen versehen von Mischa von Perger
1 Vorbemerkung Zu Garves eigenständigem Erstlingswerk sind zwei Rezensionen bekannt. Die erste erschien in der Ausgabe der Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen vom 4. Dezember 1766,1 also knapp zwei Monate, nachdem Garve seinen Text im Magisterverfahren zur Disputation gestellt hatte. Der ungenannte Verfasser dürfte zur Leipziger oder zur Halleschen Universität (der ›Fridericianischen Akademie‹) oder zu deren Umkreisen gehört haben. Die Besprechung beginnt mit den nötigsten Angaben zu besagter Disputation und besteht ansonsten aus einer Zusammenfassung, ohne Kritik oder Wertung. In der Rezension sind die lateinischen Ausdrücke in Antiqua gesetzt und die am Anfang genannten Eigennamen durch größere Satztype hervorgehoben. Für beide Auszeichnungsweisen tritt im vorliegenden Neuabdruck Kursivschreibung ein. Nötige Textergänzungen stehen in spitzen Klammern.
2 Text Halle. Den 8ten Sept. dieses Jahres disputirte unter dem Vorsitze des Herrn Geh. Rath von Segner,2 Herr Christian Garve aus Breßlau in Schlesien zur Erhaltung der Magisterwürde: de nonnullis, quae pertinent ad Logicam Probabilium, von 9 Bogen. Der Herr Verf. fängt mit Anpreisung der wahrscheinlichen Erkenntniß an, und zeigt, wie
|| 1 Anonymus: Halle. In: Hallische Neue Gelehrte Zeitungen 1 (1766), Stück 98 (4. Dezember), S. 779– 782. 2 Johann Andreas von Segner (1704–1777), seit 1755 Professor der Mathematik und der Naturlehre (Physik) in Halle. Siehe im vorliegenden Band Mischa von Perger: Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift, hier S. 57f., Anm. 11f. https://doi.org/10.1515/9783110743654-007
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[richtig: daß] gering die Zahl der Dinge sey, von denen man sagen könne, daß sie gewiß erkannt würden. Er erklärt sich über das Wahrscheinliche §. 2. so, daß es das nach dem Maaße gewisse sey, bey dem es noch möglich ist, daß es auch nicht seyn könne. Er theilt sogleich die wahrscheinlichen Dinge in diejenigen ab, die vermittelst der Sinne, die durch mangelhafte Induction derer empfundenen Dinge,3 die bloß andere erfahren und uns berichten und die aus Vorhersagung künftiger Erfolge sowohl aus ihren Ursachen, als auch aus der Zahl einzelner Fälle entstehen. Darnach zertheilt sich die ganze Abhandlung in den generellen und speciellen Theil: jener geht vom 13ten [richtig: dritten] §. bis zum 15ten §; dieser vom 16ten [780] bis zum 36 §. Es wird §. 3. überhaupt erinnert, daß man bloß bey der Möglichkeit und denen darauf gerichteten Wissenschaften, eine demonstrativische Gewißheit haben könne; bey allen existirenden Dingen aber, wenn man nur das Bewußtseyn seiner eigenen Existenz und die Demonstration der Existenz Gottes ausnehme, gelte nur der Schluß von dem stärkern Grade der Möglichkeit. Da es nun in der Wahrscheinlichkeit auf die Möglichkeit ankommt, so muß man nach dieser zu 3 Classen übergehen, da sie entweder innerlich und nach ihren Bestandtheilen, oder in Vergleichung mit vorhergehenden Dingen und Ursachen oder nachfolgenden Stücken und Würkung; oder drittens mit den Vorschriften der menschlichen Handlungen zusammen gehalten werden §. 4. Nach dieser Eintheilung wird von dem schwächsten Grade der Wahrscheinlichkeit, der nur darauf beruhet, daß die angenommenen Dinge zusammen bestehen können im 5ten §: vom 6ten aber bis 14ten § wird von dem weit stärkern und fruchtbarsten Grade der Wahrscheinlichkeit, wenn man auf den Zusammenhang der Ursachen und Würkungen siehet, gehandelt. Im 16ten [richtig: 10ten] § insbesondere gibt der Verfasser die Stuffen an, wie man in denen freyen Handlungen das Wahrscheinliche achten könne, er führet sieben an, davon eine ist, wenn die sinnlichen Sachen an sich geschickt sind, gewisse Gedanken und Begierden zu erwecken, die andere aber, wenn ein gewisses Vermögen der Seele bey einem Menschen stärker und er öfterer nach diesem gewisse Handlungen vornimmt, wenn drittens eine gewisse Gewohnheit und natürliche Neigung zu einigen Handlungen stärkern Anlaß zu einer gewissen Handlung gibt; viertens wenn beyde Fälle mit einander verbunden sind, daß die Seele ein sonderbares Vermögen hat zu etwas und die äusseren Dinge auch so sind, daß sie dahin stimmen, so ist ein solcher Entschluß höchst wahrscheinlich; wenn aber fünftens Hindernisse dazwischen kommen, so muß man auswägen, auf welche Seite sich wohl der Wille neige; sechstens, wenn man iemandes Zustand und Umstände der Sache nicht kennet, so habe man sich allein an das [781] zu halten, was iemand itzt vornehmlich vornimmt, endlich siebentens, wenn aber an alle dem nichts vorhanden, so müsse man auf die
|| 3 Als Prädikat dieser beiden ersten Relativsätze ist sinngemäß – nach ›Sinne‹ und ›Dinge‹ – jeweils ›entstehen‹ zu ergänzen, das unten als Prädikat des vierten Relativsatzes (aber nicht des dritten) auftritt.
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Aehnlichkeit der Dinge, Zeiten, Zustand und Erfahrungen Acht haben. Im 15ten § wird von der Wahrscheinlichkeit gehandelt, die aus Betrachtung der Gesetze und Pflichten entspringt, indem das Gute und Böse, so man sich vorstellet, eine gewisse Beziehung auf Urtheile und Meinungen haben kann. Vom 16ten § hebt sich der speciellere Theil an, welcher nach der schon gemeldeten Ordnung mit denjenigen Wahrscheinlichkeiten den Anfang macht, die von Empfindungen entstehen. Hier läßt er sich ziemlich umständlich in die Geschichte der Streitigkeit ein, ob die Sinne trügen, führt die 2 Hauptpartheyen der Academiker und Stoiker, nach denen noch von ihnen übrigen Nachrichten an, als im 16ten und 17ten §§ der Academiker; im 18 § aber der Stoiker, schaltet dazu die Meinungen des Aristippi und Epicuri § 19 ein, denen die neuern beypflichten § 20. Insbesondere schließt er zum Beschluß des 22 §, daß es auf die4 5 Stücke ankomme, wenn man behaupten wolle, daß das, so man als empfunden ansiehet, würklich durch die Werkzeuge der Sinne unserer Seele vorgeleget worden; wenn dergleichen nehmlich unter aller Vorstellung die größte Klarheit habe, keine andere Vorstellung, die man als empfunden achtet, und denen man widersprochen, vorhanden sind, auch weder der Körper noch das Gemüth ungewöhnlich und unnatürlich geartet, die durch Empfindung vorgestellten Sachen auch so auf einander folgen, wie nichts ohne Grund entstanden und endlich anderer Empfindungen mit den unsrigen übereinstimmen. Der 25ste § nimmt die 2te Art des Wahrscheinlichen vor, wenn man aus Vergleichung mehrerer Empfindungen durch mangelhafte Induction gewisse Sätze abgeleitet vor wahr hält; welches bey den meisten allgemeinen Dingen geschiehet. Bey diesen Theilen hält sich der Herr Verfasser darum noch etwas, nehmlich § 26 bis 30 auf, um die Art im Wahrscheinlichen zu schliessen, mehr erklären zu können. Endlich § 31 folgt der letzte Theil des Wahrscheinlichen, [782] wenn aus einer gewissen Zahl Fälle ihre Zusammenrechnung ein gewisses herausgebracht wird und geht bis zum 36 §. Die Glücksspiele sind auf diesem Wege von einigen mit philosophischen Augen betrachtet worden, um den Gewinst bey mehrern möglichen Fällen davon zu tragen. Es kommt dabey auf die Zahl eines solchen Erfolgs gegen die ganze Zahl aller Fälle an, worin der berühmte Bernoulli5 als der würdigste Vorgänger angenommen und bestätiget wird.
|| 4 Zu verstehen ist: ›die folgenden‹. 5 Jakob I. Bernoulli (1654–1705) war der erste einer Reihe von bedeutenden Mathematikern, die aus seiner Familie stammten. Garve nennt ihn in seiner Magisterschrift zuerst in § 12; der Rezensent bezieht sich hier auf § 32 und § 35.
Johann Heinrich Lambert
Rezension zu Garves Hallenser Magisterschrift Allgemeine deutsche Bibliothek, erstes Vierteljahr 1769 Mit Anmerkungen versehen von Mischa von Perger
1 Vorbemerkung Die zweite Rezension wurde im ersten Viertel des Jahres 1769 in der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Rezensionszeitschrift Allgemeine deutsche Bibliothek publiziert.1 Der Verfasser drückt anfangs seine Achtung für Garves Leistung aus und spickt das anschließende Referat mit eigenen kritischen, meist jedoch letztlich beifälligen Bemerkungen. Allerdings zeichnet er Garves Schrift auf diese Weise nur bis einschließlich § 25 nach; für die letzten beiden Abschnitte (§ 26–36) hat er bloß eine kurze Benennung ihrer Themen übrig. Auch der Autor dieser zweiten Besprechung ist in der Zeitschriftenausgabe, in der sie zuerst erschien, nicht mit Namen genannt, doch kennt man ihn spätestens seit 1787, als der Text innerhalb der Logischen und philosophischen Abhandlungen des inzwischen gestorbenen Johann Heinrich Lambert nach dessen Handschrift neu gedruckt wurde.2 Allerdings hat Lambert immerhin eine indirekte Signatur in die Rezension eingebaut. Anlässlich der Frage, wie eine von den Sinnen ausgehende Erkenntnis allgemeingültig werden könne, meldet der Rezensent Zweifel an der Garve’schen Antwort an und macht folgenden anderen Vorschlag: »[…] so wird man […] weiter ausreichen, wenn man die Allgemeinheit physischer und so auch psychologischer Sätze daraus herleitet, daß die Welt im Beharrungsstande ist, und wenn sie
|| 1 Anonymus »E*«: XIX. De nonnullis quae pertinent ad logicam probabilium. Auctore Chr. Garve. Lipsiae 1766. in 4to. In: Allgemeine deutsche Bibliothek Bd. 9 (1769), Stück 1, S. 167–170. 2 Johann Heinrich Lambert: 3. De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium. Auctore Chr. Garve. 4to. 1766. In: ders.: Logische und philosophische Abhandlungen. Zum Druck befördert von Joh. Bernoulli. Hg. (redigiert) von Christoph Heinrich Müller. Bd. 2, Berlin – Leipzig 1787, S. 212–216. – Nachdruck: Johann Heinrich Lambert: Logische und philosophische Abhandlungen. Zum Druck befördert von Johann Bernoulli. Reprint der Ausgaben Berlin 1782 und 1787. Hg. und mit einer Einleitung versehen von Hans-Werner Arndt. Zwei Bände (LPS, Bde. 5‒6, hier Bd. 6). – Zur Druckvorlage vgl. die »Anmerkung«, die den zweiten Teil des Bandes (betitelt »Lamberts Recensionen logischer Schriften«) eröffnet; dort heißt es: »Man hat die Recensionen nicht aus dem Gedruckten, sondern nur aus Lamberts Manuscripten abdrucken lassen« (ebd., S. 204). https://doi.org/10.1515/9783110743654-008
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soll existiren und daher fortdauern können, seyn muß«. Einem damaligen Leser, der sich in der zeitgenössischen philosophischen Literatur auskannte, musste aufgrund dieser Bemerkung – der Heranziehung des ›Beharrungszustands‹ der Welt zur Argumentation für die Möglichkeit von sinnlicher Gewissheit – klar sein: Der Autor dieser Rezension ist Lambert. – Somit sind der Rezensent und ein Autor, der die Wahrscheinlichkeitstheorie des jungen Garve stark beeinflusst hat, identisch.3 Die Unterschiede der Neuausgabe von 1787 zum früheren Druck sind zahlreich, aber geringfügig. Nunmehr ist fast stets »Herr Garve« zu lesen, wo zuvor abgekürzt »Hr. G.« oder »Herr G.« stand. Die Groß- und Kleinschreibung sowie die Interpunktion ist im späteren Druck meist geschickter gehandhabt. Ein zwar kleiner, aber sinn-entstellender Fehler, der im Erstdruck steht, tritt hier nicht mehr auf (siehe den kritischen Apparat zu Zeile 45). Somit ist die 1787 veröffentlichte Fassung vorzuziehen. Dem untenstehenden Neuabdruck wurde trotzdem diejenige von 1769 zugrundegelegt, weil fast zwei Jahrzehnte lang nur sie den an Garves Werk interessierten Lesern zugänglich gewesen ist. Die störendsten Fehler des Erstdrucks wurden jedoch verbessert und, zusammen mit wenigen anderen Differenzen, in einem rudimentären kritischen Apparat verzeichnet; dabei steht ›A‹ für den ersten Druck (1769), ›B‹ für den zweiten (1787). In beiden genannten Ausgaben sind die lateinischen Ausdrücke in Antiqua gesetzt und die Eigennamen durch größere Satztype hervorgehoben. Auf die letztere Weise sind außerdem auch etliche deutsche Ausdrücke markiert. Für beide Auszeichnungsweisen tritt im vorliegenden Neuabdruck Kursivschreibung ein.
|| 3 Einige Bemerkungen dazu, wie sich Garves Ansatz zu demjenigen Lamberts verhält, finden sich im vorliegenden Band bei Mischa von Perger: Garves Wahrscheinlichkeits-Syllogistik, hier S. 48‒51.
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2. Text XIX. De nonnullis quae pertinent ad logicam probabilium. Auctore Chr. Garve. Lipsiae4 1766. in 4to.
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Dem Titel nach, scheint diese akademische Disputation kein Lehrgebäude vom Wahrscheinlichen zu versprechen. Sie enthält aber verschiedenes, so viel systematischer und brauchbarer ist, als gewisse Elementa logices probabilium, die zuweilen zum Vorschein gekommen.5 Hr. G. bindet sich an einen bestimmten Begrif vom Wahrscheinlichen, vermöge dessen er alles dahin rechnet, was dergestalt ist, daß die Möglichkeit des Nichtseyns dabey nicht ausgeschlossen ist.6 Er findet die absolute oder geometrische Demonstration schlechthin nur bey der Theorie der Möglichkeit der Begriffe und Dinge, und daher in so fern bey dem bloß idealen.7 Hingegen was die Existenz oder Wirklichkeit zufälliger Dinge betrift, da räumt er zwar eine Gewißheit ein, die aber der Art nach, von der geometrischen verschieden ist, dabey aber dennoch in ihrer Art eben so absolut seyn kann.8 Hr. G. weis zwar wohl, daß man sonst das Wesen des Wahrscheinlichen in der Unvollständigkeit der Beweise gesucht hat. Er will aber dieses lieber verosimile nennen, als probabile.9 Sollten wir demnach im Deutschen diese zwey Wörter verschieden übersetzen, so müßte ersteres durch wahrscheinlich, lezteres durch bewährbar (das sich bewähren läßt, bewährt finden läßt) angeben. Uebrigens hat probare noch die Bedeutung von gutheissen, billigen, 4 Diese Angabe ist falsch. Die Schrift erschien nicht in Leipzig, sondern in Halle an der Saale (›Halae Magdeburgicae‹, siehe in der Edition von Garves Magisterschrift das Titelblatt, oben S. 91f.). In der handschriftlichen Fassung der Rezension fehlt die Ortsangabe; vielleicht stammt sie also nicht von Lambert selbst, sondern vom Herausgeber. Der Irrtum kam wohl dadurch zustande, dass zu der Zeit, als die Rezension erschien, der Verfasser des rezensierten Werks längst von der Hallischen an die Leipziger Universität gewechselt war. 5 Lambert meint wohl, wie die Ähnlichkeit des Titels nahelegt, die einschlägige Frühschrift des späteren Juristen Ludwig Martin Kahle (1712–1775): Elementa Logicae probabilium methodo mathematica in usum scientiarum et vitae adornata. Halle an der Saale 1735. Einen systematischen Aufbau wird man diesem Werk freilich kaum absprechen können. Doch verankert Kahle seine Darlegung der ›Logik des Wahrscheinlichen‹ nicht in einer Erkenntnistheorie – insofern muss sie sich vorwerfen lassen, wenig ›systematisch und brauchbar‹ zu sein. 6 Vgl. Christian Garve: De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium […]. Halle an der Saale 1766, § 2 (S. 4). Diese Schrift wird hier nach der zweisprachigen Edition angeführt, die im vorliegenden Band enthalten ist (oben S. 92–233). Die dabei gebrauchte Seitenzählung entspricht dem Originaldruck und ist in der Edition mitangegeben; auch die Zeilenzählung gilt sowohl für das Original als auch für die Neuedition. 7 Vgl. ebd., § 3 (S. 4‒6). 8 Vgl. ebd., insbesondere § 4, S. 8, Z. 1–15. 9 Vgl. ebd., § 4, S. 7, Z. 15–20. 3 logicam A : Logicam B. | Lipsiae 1766. in 4to. A : 4to. 1766. B. 20 läßt) B : läßt) A. | gutheissen, B : Gutheißen, A.
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genehmhalten etc. und diese Bedeutung möchte sodann mit dem übereintreffen, was Hr. G. durch die moralische Gewißheit versteht, welche seiner Meynung nach bey gut befundenen Anschlägen vorkömmt.10 Es kömmt aber bey [168] allem diesem nicht auf die Worte sondern auf die Sache selbst an. Diese wird durch die Wörter nicht angegeben, da sonst noch viel mehrere in Betrachtung gezogen werden müßten. Wir können es demnach gelten lassen, daß Hr. G. sich überhaupt die Frage vorsezt, welche Gewißheit, und welche Grade der Gewißheit es bey Untersuchung wirklicher Dinge gebe? Seine Art, dabey zu verfahren, wollen wir so viel es sich thun läßt, hier in die Kürtze ziehen. Erstlich kömmt die Untersuchung der Möglichkeit vor. Diese stellt man sich entweder nur in so fern vor, als man sich keines Widerspruches bewußt ist, oder man geht weiter und kann sich auch die Art vorstellen, wie die Sache seyn kann. Ferner kömmt man dem Beweise der Wirklichkeit näher, wenn man Dinge findet, die der Sache gewöhnlich vorgehen oder zugleich mit sind, oder die wenigstens der Wirklichkeit der Sache nicht im Wege stehen. Findet man darunter solche, welche die Sache voraussetzen oder nach sich ziehen, so gelangt man zur Gewißheit.11 Auf eine ähnliche Art verfährt man in Absicht auf die wirkenden Ursachen. Man kann zuweilen solche finden, die die Sache hindern könnten. Weiß man aber nicht, ob sie wirken und in der That hindern werden, so hat man noch nicht viel ausgemacht. Indessen geht dieses noch nicht so weit, daß man sich sollte abschrecken lassen. Finden sich aber keine hindernde, sondern wirklich befördernde Ursachen, so ist die Frage, ob sie zureichen, und sodann ob sie wirken werden? Ist beydes, so gelangt man ebenfalls zur Gewißheit.12 Hr. G. wendet diese Lehren auf den Fall an, wo jemand, der eine Sache bewirken kann, durch äussere Anlässe auf den Gedanken und sodann auf den Entschluß geleitet wird.13 Ferner nimmt man zuweilen eine Abzählung alles dessen vor, was um eine Sache wirklich zu machen erfor[169]dert wird, und bestimmt daraus die Grade der Wahrscheinlichkeit, oder man zählt ab, in wie vielerley Verhältnissen und Reyhen von Begebenheiten eine Sache wirklich werden kann, und auch daraus lassen sich Grade von Wahrscheinlichkeit bestimmen.14 Sodann lassen sich auch die Wirkungen betrachten. Denn eine Sache ist nicht, wenn Umstände da sind, die sie würde verhindert haben. Hingegen kann sie wenigstens seyn, wenn keine solche Umstände da sind. Sie wird wahrscheinlicher, wenn die vorhandenen Umstände sich aus ihrem vorausgesezten Daseyn begreiffen und erklären lassen. Und ist sie die einige mögliche Ursach, oder ein Theil davon, so wird ihr Vorhandenseyn gewiß.15 Auch diese Betrachtungen
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Vgl. Garve: De nonnullis [...] (s. Anm. 6), § 4, S. 7, Z. 28–31. Vgl. ebd., § 8 (S. 12f.). Vgl. Garve: De nonnullis [...] (S. Anm. 6), § 9 (S. 13‒15). Vgl. ebd., § 10f. (S. 16‒20). Vgl. ebd., § 12f. (S. 21f.). Vgl. Garve: De nonnullis [...] (s. Anm. 6), § 14 (S. 23).
17 könnten. A : können. B. 30 würde B : würden A.
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wendet Herr G. widerum auf den menschlichen Verstand und Willen an.16 Hierauf betrachtet er die besondern Arten von Wahrscheinlichkeit und Gewißheit, und zwar erstlich die von den Sinnen, bey welcher Gelegenheit er die Meynungen besonders der alten Weltweisen umständlich durchgeht, selbst aber den Sinnen eine Gewißheit einräumt, dabey aber Regeln angiebt, wie das wirklich empfundene von Träumen, Einbildungen etc. zu unterscheiden ist.17 Wir halten uns aber hier dabey nicht auf. Hr. G. wendet sich sodann zu der Frage, wiefern die durch die Sinnen erlangte Erkenntniß allgemein werden oder seyn könne? Mit der bloßen Induktion reicht man nicht aus. Hr. G. glaubt aber, man komme weiter, wenn man das empfundene mit dem Wesen der Sache vergleicht, oder auch mit ihren Ursachen.18 Wir zweifeln aber, ob Hüme sich damit befriedigen würde.19 Doch Hüme sucht Spizfindigkeiten auf. Indessen kennen wir das Wesen und die Ursache empfundener Dinge ebenfals nur aus Empfindungen, und so wird man dennoch weiter ausreichen, wenn man die Allgemeinheit physischer und so auch psychologischer Sätze daraus herleitet, daß die Welt im Beharrungsstande [170] ist, und wenn sie soll existiren und daher fortdauern können, seyn muß.20 Ausserdem giebt es allerdings Fälle, wo die Induktion
16 Da Lambert soeben § 14 aus Garves Schrift referiert hat und im Folgesatz auf den mit § 16 beginnenden ›speziellen‹ Teil des Werks zu sprechen kommt, sollte sich diese Bemerkung auf § 15 beziehen. Das ist aber nicht der Fall. Garve wendet in § 15 nicht das bisher Gesagte auf den menschlichen Verstand und Willen an, sondern bespricht dort die letzte – je nach Zählung dritte oder vierte – der von ihm in einer gewissen Reihe unterschiedenen Gattungen des Wahrscheinlichen: die Übereinstimmung einer Sache oder eines Ereignisses mit den Gesetzen oder Pflichten der menschlichen Handlungen (siehe im vorliegenden Band von Perger: Einführung in Garves Hallenser Magisterschrift, hier S. 68). 17 Vgl. Garve: De nonnullis [...] (s. Anm. 6), § 16–24 (S. 24‒43); zu den Regeln der Unterscheidung zwischen wirklich Empfundenem und falschen Vorstellungen vgl. ebd., § 22 (S. 33‒36). 18 Vgl. ebd., § 25, insbesondere Abschnitt 2 (S. 55f.). Der von Lambert durch ›Wesen‹ wiedergegebene Ausdruck lautet bei Garve ›essentia‹ (§ 25, S. 55, Z. 29). 19 David Hume (1711–1776), schottischer Philosoph, als Empirist und Skeptiker berühmt. Die Schreibweise ›Hüme‹ war seinerzeit in deutschen Landen gebräuchlich. 20 Der ›Beharrungsstand‹ der Welt ist für Lambert die Voraussetzung für verschiedenste Argumentationen. Schon in seinem Neuen Organon spielt dieser Begriff eine Rolle. So wird dort etwa referiert, der physikalische ›Grundsatz von dem Beharrungsstande der Dinge und Gesetze der Natur‹ laute so: »Was beständig gewesen ist, fährt fort zu sein, und wie ferne.« Siehe Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein. Bd. 2. Leipzig 1764, S. 394 (Phänomenologie oder Lehre von dem Schein, 5. Hauptstück: Von dem Wahrscheinlichen, § 232). In der Anlage zur Architectonic bietet Lambert dann eine ausführliche Darlegung dieses Grundsatzes. Siehe ders.: Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß. Bd. 1. Riga 1771, § 285 (S. 274–277). Zu dem in der Rezension angesprochenen Verhältnis zwischen ›Beharrungsstand‹ und ›Existenz‹ vgl. folgende Bemerkung: »Da nun die Existenz nothwendig eine Dauer hat […], so läßt sich auch die Möglichkeit zu existiren nicht ohne die Möglichkeit zu dauern, folglich nicht ohne den Beharrungsstand gedenken« (ebd., S. 339, § 350). 3 Meynungen B : Meynung A.
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vollständig gemacht werden kann, und auch da, wo es nicht angeht, läßt sich Jac. Bernoullis Lehrsaz anbringen.21 Man läugne z. E. daß nicht alle Luft schwer seye, so darf man nur das Verhältniß der schweren zu der nicht schweren nach Belieben annehmen. Hat man nun 100, 1000 oder noch mehr mal Luft gewogen, wo man sich immer befunden, und es war dennoch immer schwere Luft, so wird schon dadurch die Masse der vorausgesezten nicht schweren Luft, so klein werden, daß sie für nichts zu achten ist. Und dieses will dann sagen, alle Luft ist schwer. Hr. G. wendet sich hierauf zur Untersuchung wahrscheinlicher Schlüsse und ihrer Berechnung,22 und führt endlich noch einige andere Berechnungen der Grade der Wahrscheinlichkeit an.23 E*.
21 Mit diesem Lehrsatz Jakob I Bernoullis ist wohl derjenige gemeint, den auch Garve in seiner Magisterschrift heranzieht (siehe Garve: De nonnullis [...] [s. Anm. 6], § 12 [S. 21] mit Erläuterung 29 [S. 239]). Bernoulli formuliert diesen Lehrsatz als die eine der beiden fraglichen Seiten eines Problems so: »[…] ob, wenn man die Anzahl der Beobachtungen so [d. h. in großer Anzahl] vermehrt, die Wahrscheinlichkeit, das wirkliche Verhältnis zwischen der Anzahl derjenigen Fälle, in denen ein Ereignis eintreffen kann, und der Anzahl derjenigen, in denen es nicht eintreffen kann, zu erreichen, derart kontinuierlich zunimmt, dass diese Wahrscheinlichkeit schließlich jedweden gegebenen Grad an Gewissheit übersteigt« (»[…] an aucto sic observationum numero ita continuò augeatur probabilitas assequendae genuinae rationis inter numeros casuum, quibus eventus aliquis contingere et quibus non contingere potest, ut probabilitas haec tandem datum quemvis certitudinis gradum superet« (Jacobus Bernoulli: Ars Conjectandi, opus posthumum. Accedit Tractatus de seriebus infinitis, Et Epistola Gallicè scripta De ludo pilae reticularis. Basel 1713, hier Ars Conjectandi, Teil 4, Kap. 1, S. 225; vgl. Bartel Leendert van der Wærden [Bearb.]: Die Werke von Jakob Bernoulli. Hg. von der Naturforschenden Gesellschaft in Basel. Bd. 3. Basel 1975, S. 107–259, hier S. 249). Im Folgekapitel (Kap. 5) beweist Bernoulli diesen Satz und löst damit das Problem. 22 Vgl. Garve: De nonnullis [...] (s. Anm. 6), § 26–30 (S. 47‒59). 23 Vgl. ebd., § 31–36 (S. 60‒70). Garve bespricht hier die Wahrscheinlichkeit von Prognosen, die aufgrund der Berechnung der Häufigkeit von Fällen aufgestellt werden.
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Zeittafel 7. Januar 1742
Christian Garve wird als Sohn des Waid- und Schönfärbers Nathanael Garve (1694–1747) und seiner Frau Anna Katharina, geb. Förster (1716–1792), in Breslau geboren
1747
nach dem Tod des Vaters führt Anna Katharina Garve die Färberei weiter; Garve besucht das örtliche Elisabeth-Gymnasium, der Unterricht wird ab 1748 durch den Hauslehrer Gottlieb Ringeltaube (1732–1824), den Garve zeitlebens verehren wird, in theologischer und philosophischer Hinsicht ergänzt
Mai 1762
kriegsbedingt kann Garve erst im Alter von 20 Jahren das Studium der Theologie in Frankfurt a. d. O. beginnen, wo schon Ringeltaube, der ihn begleitet, studierte; der Philosophieprofessor Alexander Gottlieb Baumgarten (1714‒1762), dessentwegen Garve vor allem diesem Studienort zugestimmt und bei dem er Vorlesungen über Logik und Naturrecht in Aussicht genommen hat, stirbt jedoch schon bald nach Anfang des Sommersemesters; im Herbst befindet Garve das hiesige Lehrangebot in den ›schönen Wissenschaften‹ sowie in Mathematik und Physik als dürftig
Mai 1763
Garve wechselt daher zum Sommersemester 1763, weiterhin in Begleitung Ringeltaubes, an die Universität Halle a. d. S.; dort hört er außer theologischen Vorlesungen auch solche im Fach Philosophie bei Georg Friedrich Meier (1718‒1777), einem Schüler Baumgartens, und in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern bei Johann Andreas von Segner (1704–1777)
Mai 1765
Garve immatrikuliert sich an der Leipziger Universität; von den dortigen Professoren bemüht sich um ihn von Anfang an besonders der klassische Philologe Johann August Ernesti (1707– 1781), was die ausführlichen Auseinandersetzungen mit antiker philosophischer Literatur begünstigt haben dürfte, die in Garves drei lateinischen akademischen Schriften (1766, 1768 und 1770) ins Auge fallen; im Sommer erscheint in Leipzig, ohne Nennung von Autor und Übersetzer, Der Freund junger Leute, Garves Übersetzung des im Vorjahr in Lille – ebenfalls anonym – publizierten pädagogischen Werks L’Ami des jeunes gens, verfasst vom Juristen Guillaume Grivel (1735–1810); Ringeltaube verlässt Garve und Leipzig, um eine Pfarrstelle im Schlesischen anzutreten
https://doi.org/10.1515/9783110743654-009
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September 1766
aus politisch-karrieretechnischem Grund erwirbt Garve den Magistertitel in Halle – die dortige Universität genießt unter den preußischen einen vorzüglichen Ruf; als Grundlage für die Disputation erscheint seine erste selbst verfasste Schrift: De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium (Über einiges, was zur Logik des Wahrscheinlichen gehört); auf dem Titelblatt ist Segner als Vorsitzender des Verfahrens genannt, das Thema steht aber dem Leipziger Philosophen und Theologieprofessor Christian August Crusius (1715–1775) näher; später kommt Garve in seinen Schriften zwar gelegentlich wieder auf die erkenntnistheoretische und die lebenspraktische Bedeutung des Wahrscheinlichen zu sprechen, lässt sich aber nicht mehr auf Untersuchungen zu diesem Begriff ein
Dezember 1766
im jungen Hallenser Akademiker-Organ Hallische Neue Gelehrte Zeitungen erscheint anonym eine Rezension zu Garves Magisterschrift; der Rezensent beschränkt sich aufs Referieren, ohne zu loben oder zu tadeln
Mai 1767
Garve kehrt für ein Jahr nach Breslau zurück, um dort seine Mutter zu unterstützen; er liest die im Vorjahr erschienene metaphysikkritische Schrift Immanuel Kants, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik
Juni 1768
Garve erlangt den Leipziger Magistertitel, wozu eine weitere lateinische Arbeit nötig ist; darin knüpft er, nachdem er die bislang vorliegenden philosophiegeschichtlichen Abhandlungen als geistlose Lebensbeschreibungen und Meinungsreferate abgetan hat, an die antiken Lehren über die sinnliche Erkenntnis an, die ihm in der Hallenser Schrift bei der Erörterung einer Form des Wahrscheinlichen gedient hatten, und setzt sich dabei auch mit dem Philosophiehistoriker Jakob Brucker (1696– 1770) auseinander
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im Rezensionsorgan Allgemeine deutsche Bibliothek bespricht – anonym, doch für das Fachpublikum unverkennbar – der in Berlin wirkende Mathematiker, Optiker und Erkenntnistheoretiker Johann Heinrich Lambert (1728–1777) die Hallenser Magisterschrift Garves; in Leipzig erscheint, ohne dass der Autor – es ist der Mathematiker Leonhard Euler (1707–1783) – oder der Übersetzer Garve genannt würde, die erste deutsche Fassung der im Vorjahr zu St. Petersburg im französischen Original (ebenfalls anonym) publizierten ersten beiden Bände der Lettres à une princesse d’Allemagne sur divers sujets de Physique
Zeittafel | 265
& de Philosophie (Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie); der zweite Band enthält Darlegungen zu etlichen erkenntnistheoretischen Fragen, die auch Garve selbst in seiner Hallenser Magisterschrift behandelt hatte 1769/70
Garve wird außerordentlicher Professor der Philosophie in Leipzig; in der lateinischen Antrittsvorlesung (1770) nimmt er wiederum die Fragen nach einer in der Sache engagierten und dem zeitgenössischen Publikum in seiner Sprech- und Denkweise verpflichteten Philosophiegeschichtsschreibung einerseits und nach dem Stellenwert der sinnlichen Erkenntnis andererseits auf, referiert zu letzterem Thema – wie schon 1766 in Halle, nun aber ausführlicher – den ersten Teil von Platons einschlägigem Dialog Theaitetos, fasst spätere antike Lehrmeinungen zu diesem Thema zusammen und knüpft daran (meist kritische) Bemerkungen zu den entsprechenden Positionen neuzeitlicher und zeitgenössischer Philosophen: Helvétius, Malebranche, Locke, Berkeley, Leibniz und Thomas Reid
Herbst 1772
Garve zieht zurück in seine Heimatstadt Breslau, wo er bis zu seinem Tod 1798 als Privatgelehrter arbeitet
1773
in Braunschweig und Hildesheim erscheint Ueber die Lehre des Wahrscheinlichen und den politischen Gebrauch derselben, eine Schrift des Hildesheimer Philosophen und Schulleiters Karl Heinrich Frömmichen (1736–1783); einen Überblick über die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie schließt der Autor mit dem Hinweis auf Lamberts einschlägige Lehre und auf Garve als denjenigen, der sie aufgenommen und auf die in der Antike verhandelten erkenntnistheoretischen Streitfragen ebenso wie auf die Lebenspraxis angewendet habe
1798
in Breslau erscheint Garves letztes eigenständiges Hauptwerk: Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre; nicht willens, mit Kant die Gewissheit von der menschlichen Freiheit allein aus dem ›Vernunftglauben‹ zu beziehen, pocht Garve darauf, die (sinnliche) Erfahrung könne und müsse diese Gewissheit durch einige Wahrscheinlichkeit stützen – und knüpft so noch einmal unter der Hand an das Thema seiner Hallenser Magisterschrift an
1. Dezember 1798
Garve stirbt in Breslau
266 | Zeittafel
1799
Georg Gustav Fülleborn (1769–1803), Philosoph und Professor am Elisabeth-Gymnasium in Garves Heimatstadt Breslau, druckt im letzten Band seiner Zeitschrift Beyträge zur Geschichte der Philosophie einige ältere Texte des jüngst gestorbenen Mitbürgers neu ab; darunter ist ein Auszug aus Garves Hallenser Magisterschrift
1806
der Philologe Friedrich Hülsemann (1771–1835) gibt in seinem Kommentar zu Ciceros Akademischen Büchern, der in Magdeburg erscheint, einige umfangreiche Auszüge aus Garves Schriften wieder; seine Vorlage sind die schon von Fülleborn wiederabgedruckten Textabschnitte, darunter auch jener aus De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium
Siglenverzeichnis AA
Kantʼs gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. (AA Band, Seitenzahl)
CPH
Christian August Crusius: Die philosophischen Hauptwerke. 4 Bde. Hg. von Sonia Carboncini und Reinhard Finster. Hildesheim 1964‒1987. (CPH Band, Seitenzahl)
FA
Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. 40 Bde. Hg. von Hendrik Birus u. a. Frankfurt a. M. 1989‒2013. (FA Band, Seitenzahl)
G
Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. 7 Bde. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1875‒1890 [ND Hildesheim 1961]. (G Band, Seitenzahl)
GGW
Christian Garve: Gesammelte Werke. 17 in 19 Bden. Hg. von Kurt Wölfel. Hildesheim, Zürich, New York 1985–2000. (GGW Band, Seitenzahl)
HT
David Hume: A Treatise of Human Nature. Ed. by David Fate Norton and Mary J. Norton. Oxford University Press 2000.
HW
Johann Gottfried Herder: Werke. 3 Bde. Hg. von Wolfgang Proß. Darmstadt 1984– 2002. (HW Band, Seitenzahl)
JBW
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel – Nachlaß – Dokumente. Hg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Stuttgart 1981ff. (JBW Band, Seitenzahl)
JWA
Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Hamburg, Stuttgart 1998ff. (JWA Band, Seitenzahl)
LPS
Johann Heinrich Lambert: Philosophische Schriften. 10 Bde. Begonnen von Hans Werner Arndt, fortgeführt von Lothar Kreimendahl. Hildesheim 1965–2008 sowie 2 Suppl.-Bde. Hildesheim 2020 [Johann Heinrich Lamberts Monatsbuch. Neu hg., eingel., komment. und mit Verzeichnissen zu Lamberts Schriften, Briefen und nachgelassenen Manuskripten versehen von Niels W. Bokhove und Armin Emmel]. (LPS, Band, Seitenzahl bzw. LPS Suppl., Band, Seitenzahl).
LW
Gotthold Ephraim Lessing: Werke in 8 Bänden. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. München 1970‒1979 [Darmstadt 1996]. (LW Band, Seitenzahl)
MGS
Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von Alexander Altmann, Michael Brocke, Eva J. Engel und Daniel Krochmalnik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972ff. (MGS Band, Seitenzahl)
SSW
Baruch de Spinoza: Sämtliche Werke Lateinisch-deutsch. Hg. von Wolfgang Bartuschat u. a. Hamburg 1982ff. (SSW Band, Seitenzahl)
https://doi.org/10.1515/9783110743654-010
268 | Siglenverzeichnis
TAW
Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Nachdruck der Originalausgaben. Hg. von Werner Schneiders und Frank Grunert. Hildesheim, Zürich, New York 1993ff. (TAW Band, Seitenzahl)
WGW
Christian Wolff: Gesammelt Werke. Nachdruck der Originalausgaben. Hg von Jean Ecole u. a. Hildesheim, Zürich, New York 1965ff. (WGW Abteilung, Band, Seitenzahl)
WOA
Christoph Martin Wieland: Werke. (Oßmannstedter Ausgabe.) Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Berlin, New York 2008ff. (WOA Band, Seitenzahl)
WP
Werkprofile. Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Frank Grunert, Stefan Klingner, Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, New York 2011ff. (WP Band, Seitenzahl)
Bibliographie Für eine allgemeine Garve-Bibliographie siehe Christian Garve: Ausgewählte Werke. Bd. 1: Kleine Schriften. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2021 (WP 15.1), Anhang, S. 387‒403.
1 Archivalien 1.1 Ungedrucktes Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Signatur UAHW, Rep. 3, Nr. 489: Volumen II. Continuatio Indicis Disputationum et Thematum quae a diversis Dominis Professoribus, Doctoribus et Magistris legentibus in hac al Fridericiana tam publice quam privatim latae et in lucem editae anno MDCCLXIIo. Ebd., Signatur UAHW, Rep. 46, Nr. 4 (1741–1767): Continuatio Albi Studiosorum sub ProRectoratu Viri Illustris et Excellentissimi Domini Christiani Wolffij Consiliarii Regii Intimi, et ViceCancellarii Fredericianae d XII. Julii MDCCXLI. Ebd., Signatur UAHW, Rep. 46, Nr. 74 (Reg. 1744–1825 Aa–G): Continuatio Albi Academici incoepta ProRectore Magnifico Viro Amplissimo et Excellentissimo Domino Domino Daniele Strahlero […] Anno MDCCXXXXIVo. Universitätsbibliothek Breslau, Signatur Akc 1967/18: Christian Garve’s Handschriftlicher Nachlass. Hs. M 1252–1285. 1286*. 1293–1296. 1297.1298.1299.1300. *1291.1292. Verzeichnisse und Register.
1.2 Gedrucktes Conspectus laborum quibus professores Academiae Fridericianae per semestre aestivum in studiosae iuventutis commodum vacare constituerunt […]. Halle a. d. S., 2. April 1763. Conspectus […] per semestre hibernum […]. Ebd., 29. Sept. 1763. Conspectus […] per semestre hibernum […]. Ebd., 28. Sept. 1765. Erler, Georg (Hg.): Die iüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809 als Personen- und Ortsregister bearbeitet und durch Nachträge aus den Promotionslisten ergänzt. Bd. 3. Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1709 bis zum Sommersemester 1809. Leipzig 1909 [ND Nendeln (Liechtenstein) 1976]. Friedländer, Ernst unter Mitwirkung von Georg Liebe u. Emil Theuner (Hg.): Aeltere UniversitätsMatrikeln. I. Universität Frankfurt a. O. Bd. 2 (1649–1811.). Leipzig 1888 [ND Osnabrück 1965].
2 Primärliteratur Anonymus: [Rezension] Halle [zu Christian Garve: De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium. Halle a. d. S. 1766]. In: Hallische Neue Gelehrte Zeitungen 1 (1766), Stück 98 (4. Dezember), S. 779–782.
https://doi.org/10.1515/9783110743654-011
270 | Bibliographie Aristoteles: Metaphysica. Hg. von Werner Jaeger. Oxford 111992. Aristoteles: Topica. In: Topica et Sophistici Elenchi. Hg. von William David Ross. Oxford 71986, S. 1– 189. Arnauld, Antoine, Pierre Nicole (anonym): La Logique ou L’Art de penser: Contenant, outre les Regles communes, plusieurs observations nouvelles propres à former le jugement [Logique de Port-Royal]. Paris 1662 [ND Hildesheim 1970]. Arnauld, Antoine, Pierre Nicole (anonym): La Logique ou L’Art de penser, contenant, Outre les Regles communes, plusieurs observations nouvelles, propres à former le jugement. Sixiéme Edition reveuë et de nouveau augmentée. Amsterdam 1685. Arnauld, Antoine, Pierre Nicole: Die Logik oder Die Kunst des Denkens. Übers. u. eingel. von Christos Axelos. Darmstadt ²1994. Arnim, Hans von (Hg.): Stoicorum veterum fragmenta. Bd. 2: Chrysippi fragmenta logica et physica. Stuttgart 1979 (ND der Ausgabe Leipzig 1903). Baldinger, Ernst Gottfried: Und der Arzt sollte auch sogar Logik studiren? In: Neues Magazin für Aerzte (Leipzig) 19 (1797), S. 266–275. Basedow, Johann Bernhard: Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung dem denkenden Publico eröffnet. 2 Bde. Altona 1764. Baumeister, Friedrich Christian: Institutiones philosophiae rationalis methodo Wolfii conscriptae. 11., vermehrte u. verbesserte Aufl. Wittenberg 1747. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Acroasis logica. In Christianum L. B. de Wolff dictabat Alexander Gottlieb Baumgarten profess. Philosoph. P. O. Halle a. d. S. 1761. Bernoulli, Jakob (I): Ars Conjectandi, opus posthumum. Accedit Tractatus de seriebus infinitis, Et Epistola Gallicè scripta De ludo pilae reticularis. Basel 1713. Bernoulli, Jakob (I): Wahrscheinlichkeitsrechnung (Ars conjectandi) von Jakob Bernoulli. (1713.). Übers. u. hg. von Robert Haussner. 4 Teile in 2 Bden. Leipzig 1899. Bernoulli, Jakob (I): Ars Conjectandi. In: Bartel Leendert van der Wærden (Bearb.): Die Werke von Jakob Bernoulli. Hg. von der Naturforschenden Gesellschaft in Basel. Bd. 3. Basel 1975, S. 107– 259. Brucker, Jakob: Historia critica philosophiae a mundi incunabulis ad nostram usque aetatem deducta. 2., vermehrte Aufl. Bd. 1. Leipzig 1767. Chladenius (Chladni), Johann Martin: Vernünftige Gedanken von dem Wahrscheinlichen und desselben gefährlichen Mißbrauche. Hg. u. übers. von Urban Gottlob Thorschmid. [Original: Idolum seculi: Probabilitas. Abhandlung, verteilt auf acht Programmschriften. Coburg 1747]. Stralsund, Greifswald, Leipzig 1748 [ND, hg. u. mit Anmerkungen versehen von Dirk Fleischer. Waltrop 1989]. Chrysipp: siehe Arnim, Hans von (Hg.). Cicero, Marcus Tullius: Academicorum reliquiae cum Lucullo. Hg. von Otto Plasberg. Leipzig 1922. Cicero, Marcus Tullius: Akademische Abhandlungen. Lucullus. Lateinisch – deutsch. Hg. u. übers. von Christoph Schäublin, eingel. von Andreas Graeser und Christoph Schäublin, mit Anmerkungen versehen von Andreas Bächli und Andreas Graeser. Hamburg 1995. Cicero, Marcus Tullius: Atticus-Briefe. Lateinisch – deutsch. Hg. u. übers. von Helmut Kasten. Düsseldorf, Zürich 51998. Cicero, Marcus Tullius: De inventione / Über die Auffindung des Stoffes. In: ders.: De inventione / Über die Auffindung des Stoffes. – De optimo genere oratorum / Über die beste Gattung von Rednern. Lateinisch – deutsch. Hg. u. übers. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf, Zürich 1998, S. 7–337. Copernicus, Nicolaus: De revolutionibus orbium coelestium. Nürnberg 1543.
Bibliographie | 271
Crusius, Christian August: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden. Leipzig 1745 (CPH 2). Crusius, Christian August: Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß. Leipzig 1747 (CPH 3). Diogenes Laertius: X. Buch Epikur. Altgriechisch – deutsch. Übers. von Otto Apelt, hg. von Klaus Reich und Hans Günter Zekl. Hamburg 1968. Ennius: siehe Manuwald, Gesine (Hg.). Euler, Leonhard (anonym): Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie. Aus dem Französischen übersetzt [von Christian Garve]. 2 Teile (von dreien). Leipzig 1769. Euler, Leonhard (anonym): Lettres à une princesse d’Allemagne sur divers sujets de Physique & de Philosophie. 2 Bde. (von dreien). St. Petersburg 1768. Ferguson, Adam: Grundsätze der Moralphilosophie. Uebersetzt und mit einigen Anmerkungen versehen [von Christian Garve]. Leipzig 1772 (GGW 11, Text 1). Frömmichen, Karl Heinrich: Ueber die Lehre des Wahrscheinlichen und den politischen Gebrauch derselben, wobei zugleich eine Theorie des Wahrscheinlichen angezeiget wird. Braunschweig, Hildesheim 1773. Fülleborn, Georg Gustav (Hg.): Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Stück 9. Jena, Leipzig 1798. – Stück 11/12. Jena 1799. Fülleborn, Georg Gustav (Übers.): Garve über die Geschichte der Philosophie. Siehe Garve, Christian (Autor) u. Georg Christoph Fülleborn (Übers.), 1798. Garve, Christian: De nonnullis, quae pertinent ad Logicam probabilium, consentiente amplissimo Philosophorum ordine praeside D. Ioanne Andrea de Segner sereniss. ac potentiss. Regi Borussor. a consil. intim. mathemat. et philos. nat. in Academ. Frideric. profess. primario, Academ. Scient. Imperial. Petrop. Societ. Reg. Lond. et Acad. Scient. Regiae Berol. sodali pro impetrandis honoribus philosophicis die VIII. Sept. ao. MDCCLXVI. m. l. q. c. publice disputabit auctor Christian Garve Vratislavia-Silesius [Hallenser Magisterschrift]. Halle a. d. S. 1766. Garve, Christian: De ratione scribendi historiam Philosophiae / Libellus quem ampliss. Philos. ordinis concessu ad impetranda iura et privilegia magistri Lipsiensis d. XVIII. Iun. a C. n. MDCCLXVIII defendit Christianus Garve Vratislav. a. m horis antemeridianis sine socio pomeridianis assumto ad respondendum Io. Christiano Lederero Kalkreuthensi Misnico [Leipziger Magisterschrift]. Leipzig 1768. Garve, Christian: Legendorum philosophorum veterum praecepta nonnulla et exemplum. Ad audiendam orationem aditialem die V Sept. MDCCLXX in auditorio philosophico recitandam invitat Christianus Garve Philos. Professor [Leipziger Antrittsvorlesung]. Leipzig 1770. Garve, Christian: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten. Anmerkungen zu dem Ersten Buche. Breslau 1783. Garve, Christian: Schreiben an Herrn Friedrich Nicolai von Christian Garve, über einige Aeußerungen des erstern, in seiner Schrift, betitelt: Untersuchung der Beschuldigungen des P. G. gegen meine Reisebeschreibung. Breslau 1786 (GGW 6, Text 1). Garve, Christian: Abhandlung über die Verbindung von Moral und Politik, oder einige Betrachtungen über die Frage, in wiefern es möglich sey, die Moral des Privatlebens bey der Regierung der Staaten zu beobachten. Breslau 1788 (GGW 6, Text 2; WP 15.1, S. 3–71). Garve, Christian: Ueber die Unentschlossenheit. In: ders.: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Teil 1. Breslau 1792 (GGW 1, Text 1), S. 453–536. Garve, Christian: Einige Züge aus dem Leben und Charakter des Herrn C. J. Paczensky v. Tenczin aus dem Hause Schleibitz. Breslau 1793 (GGW 6, Text 4).
272 | Bibliographie
Garve, Christian: Lob der Wissenschaften. In: ders.: Vermischte Aufsätze welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind. Neu herausgegeben und verbessert. Teil 1. Breslau 1796 (GGW 4, Text 1), S. 273–330. Garve, Christian: Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre. Ein Anhang zu der Uebersicht der verschiednen Moralsysteme. Breslau 1798 [ND Königstein/Ts. 1979] (GGW 8, Text 2). Garve, Christian: Ueber die ἀκαταληψία in der alten Philosophie. Aus Garves Abhandlung de Nonnullis, quae pertinent ad Logicam Probabilium. Halae 1766. 4. S. 25 u. f. In: Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Hg. von Georg Gustav Fülleborn. Stück 11/12. Jena 1799, S. 197– 208. Garve, Christian: Vertraute Briefe an eine Freundin. Leipzig 1801 (GGW 16, 2, Text 1). Garve, Christian: Briefe an seine Mutter. Hg. von Karl Adolf Menzel. Breslau 1830 (GGW 16, 2, Text 2). Garve, Christian (Autor), Georg Gustav Fülleborn (Übers.): Garve über die Geschichte der Philosophie. Eine Stelle aus dessen lateinischer Abhandlung De ratione scribendi hist. phil., 1768 übersetzt vom Herausgeber. In: Beyträge zur Geschichte der Philosophie. Hg. von Georg Gustav Fülleborn. Stück 9. Jena, Leipzig 1798, S. 148–163. Garve, Christian (Übers.): Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie. Siehe Ferguson, Adam. Garve, Christian (Übers.): Der Freund junger Leute. Siehe Grivel, Guillaume (anonym). Garve, Christian (Übers.): Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie. Siehe Euler, Leonhard (anonym). Gassendi, Pierre: Vie et mœrs d’Épicure. [Original: De vita et moribus Epicuri libri octo. Lyon 1647]. Lateinisch – französisch. 2 Bde. Übers., eingel. u. komment. von Sylvie Taussig. Paris 2006. Gassendi, Pierre: Diogenis Laertii liber decimus de vita, moribus, placitisque Epicuri, cum nova interpretatione, et notis [altgriechisch-lateinische Ausgabe mit Kommentar]. In: ders.: Opera omnia. 6 Bde. Lyon 1658 [ND, eingel. von Tullio Gregory, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964], hier Bd. 5, S. 1–166. Gassendi, Pierre: Philosophiae Epicuri syntagma. Ebd., Bd. 3, S. 1–94. Gassendi, Pierre: Syntagma philosophicum. Ebd., Bd. 1f. Gellert, Christian Fürchtegott: C. F. Gellerts Briefwechsel. Hg. von John F. Reynolds unter Mitarbeit von Angelika Fischer. Bd. 5 (1767–1769). Berlin, Boston 2013. Giannantoni, Gabriele (Hg.): Socraticorum reliquiae. 4 Bde. Roma 1983–1985. Gottsched, Johann Christoph (Übers.): siehe Helvétius, Claude-Adrien. ’s Gravesande, Willem Jacob: Introductio ad Philosophiam; Metaphysicam et Logicam continens. Leiden ²1737. ’s Gravesande, Willem Jacob: Einleitung in die Weltweisheit worinn die Grundlehre samt der Vernunftlehre vorgetragen wird. Aus der zweyten Leydenschen Auflage getreulich übersetzt. Halle a. d. S. 1755. Grivel, Guillaume (anonym): L’Ami des jeunes gens, Par M. G*****. 2 Bde. Lille 1764. Grivel, Guillaume (anonym): Der Freund junger Leute von M. G*****. Aus dem Französischen übersetzt [von Christian Garve]. Leipzig 1765. Hederich, Benjamin: Reales Schul-Lexicon […]. 3., verbesserte Aufl. Leipzig 1748. Helvétius, Claude-Adrien (anonym): De l’esprit. Paris 1758 [zwei unterschiedlich zensierte Fassungen in drei verschiedenen Drucken]. Helvétius, Claude-Adrien: Discurs über den Geist des Menschen. [Übersetzung der 2. Fassung von 1758]. Übers. und mit einem Vorwort versehen von Johann Christoph Gottsched. Leipzig, Liegnitz 1760.
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Personenregister In Garves Hallenser Magisterschrift genannte Personen und Werke Seiten- und Zeilenzahl sind nach dem Originaldruck angegeben, so wie sie auch aus der oben im vorliegenden Band enthaltenen Edition (S. 92–233) ersichtlich sind. Anonymus 1 (Immanuel Kant, Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren) 47,8 Anonymus 2 (vielleicht Johann Heinrich Lambert) 60,17 Arcesilas 27,3.8.11 Aristippus 30,28; 31,26 Bernoullius (Jakob I Bernoulli) 21,18; 60,29; 61,23; 64,21; 69,5 Brahe s. Tycho Caesar 51,8 Carneades 27,9.11 Chrysippus 29,21 Cicero 30,2; 51,4 Academici libri (Academica) 25,17; 27,14 Lucullus 27,4 Copernicus (Nikolaus Kopernikus) 56,13; 57,24.26 Ennius 34,22 Epicurus 30,29; 31,26.30; 33,9 Garve, Christian *1 s’ Gravesandus (Willem Jacob ’s Gravesande), Introductio ad philosophiam 59,31 Heraclitus 27,21 Hugenius (Christiaan Huygens) 59,17 Hutchensonius (Francis Hutcheson) 22,18 Kant, Immanuel s. Anonymus 1 Keplerus (Johannes Kepler) 55,19 Kopernikus s. Copernicus Lambert, Johann Heinrich (?) s. Anonymus 2 Lucullus (als literarische Figur) 27,4
Moivrius (Abraham de Moivre) 64,21; 67,19 Newtonus (Isaac Newton) 58,19.29; 59,14.24 Philolaus 56,14 Plato 25,13; 27,2 Theaetetus 25,19 Plutarchus, De Stoicorum repugnantiis 29,8 Pompeius 51,7 Protagoras 25,22.24 Pythagoras 56,14 Segner, Ioannes Andrea de *1 Socrates 25,9.15; als literarische Figur 25,21; 26,17 Tycho (Tycho Brahe) 57,25.30 Zeno (Zenon von Kition) 27,5; 29,21
280 | Personenregister
Anderwärts im vorliegenden Band genannte Personen (ohne Berücksichtigung der Querverweise Motta – von Perger) Ackermann, Johannes Friedrich 78 Alexander, Werner 12 Aristipp von Kyrene 24, 26, 75, 241, 253 Aristoteles 12, 24, 29f., 32, 38, 235, 242f. Arkesilaos (od. Arkesilas) von Pitane 24f., 72, 240 Arnaud, Antoine 20f., 29, 43, 45f., 237, 243 Arndt, Hans-Werner 255 Arnim, Hans von 241f. Arnoldt, Emil 80f. Arriaga, Roderigo de 23 Axelos, Christos 29, 237 Baldinger, Ernst Gottfried 80 Basedow, Johann Bernhard 237 Baumeister, Friedrich Christian 31 Baumgarten, Alexander Gottlieb 55f., 263 Bellis, Delphine 24f. Berkeley, George 61, 265 Bernoulli, Jakob I 72, 74, 237, 239, 242, 247f., 253, 260 Bernoulli, Johann 255 Blum, Paul Richard 242 Borinski, Ludwig 22 Briggs, Henry 247 Brucker, Jakob 61, 264 Cäsar, Gaius Julius 42 Cataldi Madonna, Luigi 21, 23 Charles, Sébastien 25 Chladenius, Johann Martin 8 Chrysipp 73, 241 Cicero, Marcus Tullius 6, 24, 42, 60, 72f., 75, 77, 80, 239–242, 244f., 266 Crusius, Christian August 8, 10–12, 14–18, 21–23, 59, 77, 236f., 264 Dal Pra, Mario 26 De Felice, Federica 14 Descartes, René 23f. Detel, Wolfgang 29 Diogenes Laertios 241f. Ennius, Quintus 73, 242 Epikur 24, 26f., 75, 241f., 253
Erler, Georg 56 Ernesti, Johann August 60, 62, 263 Euler, Leonhard 264 Ferguson, Adam 90, 238 Fesler, Christian Friedrich 78 Ficker, Christian Traugott 78 Fischer, Angelika 60 Flashar, Hellmut 26 Friedländer, Ernst 55 Frömmichen, Karl Heinrich 6, 78f., 265 Fülleborn, Georg Gustav 6, 80, 85, 87–89, 266 Fulda, Daniel 2 Garve, Anna Katharina 263 Garve, Christian passim Garve, Nathanael 263 Gassendi, Pierre 24–26, 241f. Gellert, Christian Fürchtegott 60 Gerson, Jean 23 Giannantoni, Gabriele 241 Görler, Woldemar 26 Gottsched, Johann Christoph 7 ’s Gravesande, Willem Jacob 58, 74, 246 Gregory, Tullio 242 Grivel, Guillaume 59, 242, 264 Gründer, Karlfried 46 Grunert, Frank 2 Gueroult, Martial 79 Hager, Willi H. 57 Haller, Karl Friedrich August 78 Haussner, Robert 237 Hederich, Benjamin 31 Helvétius, Claude Adrien 7f., 24f., 61, 265 Heraklit von Ephesos 240 Heyl, Peter 49, 69, 244 Hockerts, Hans Günter 57 Hoffmann, Adolph Friedrich 8, 10–12, 14f., 17, 236 Hruschka, Joachim 245 Hülsemann, Friedrich 6, 80, 266 Huffman, Carl A. 246 Hume, David 8, 259
Personenregister | 281
Hutcheson, Francis 72, 239 Huygens, Christiaan 48, 74, 246–248 Jacoby, Daniel 55 Junqueira Smith, Plínio 25 Kästner, Abraham Gotthelf 79 Kahle, Ludwig Martin 32, 76, 257 Kaiser, Wolfram 57 Kant, Immanuel 5f., 27f., 33f., 73, 77, 79f., 81, 243, 263–265 Karneades von Kyrene 24–26, 240f. Kepler, Johannes 48, 245f. Klemme, Heiner F. 57 Koch-Schwarzer, Leonie 57, 62, 77 Kopernikus, Nikolaus 48, 246 Kuehn, Manfred 57 La Caille, Nicolas-Louis de 57 Lambert, Johann Heinrich 6–8, 48–51, 68– 71, 73f., 77–80, 244f., 247, 255–257, 259, 264f. Lassalle, Ferdinand 240 Lederer, Christian 60, 89, 239 Leibniz, Gottfried Wilhelm 8, 23, 61, 265 Liebe, Georg 55 Locke, John 12f., 20f., 26, 61, 236, 265 Lucullus, Lucius Licinius 240 Ludovici, Carl Günther 246 Malebranche, Nicolas 61, 265 Manuwald, Gesine 242 Marti, Hanspeter 2 Meier, Georg (od. George) Friedrich 58f., 62, 88, 235–238, 242, 244, 246, 263 Meier, Jürgen 79 Mendelssohn, Moses 235 Menzel, Karl Adolf 60 Meusel, Johann Georg 59 Moivre, Abraham de 74, 247 Motta, Giuseppe 5, 9, 15, 22 Müller, August Friedrich 8, 10, 12, 14, 17 Müller, Christoph Heinrich 255 Mutschmann, Hermann 241 Newton, Isaac 48, 74, 246 Nicolai, Friedrich 81f., 255 Nicole, Pierre 20f., 29, 43, 45f., 237, 243
Ovid (Publius Ovidius Naso) 73, 242 Perler, Dominik 23 Philolaos von Kroton 246 Picard, Jean 246 Platon 25, 61, 72, 89, 239f., 265 Plutarch 73, 241 Poseck, Ernst 55 Protagoras 239f. Pythagoras von Samos 246 Reichard, Heinrich Gottfried 78 Reid, Thomas 61, 265 Reimarus, Hermann Samuel 8f., 22 Reynolds, John F. 60 Ringeltaube, Gottlieb 55–57, 263 Ritter, Joachim 46 Roth, Udo 1f., 90, 237, 239 Rüdiger, Andreas 8, 10, 12, 14f., 17f. Schenk, Günter 49, 69, 244 Schneiders, Werner 22 Segner, Johann Andreas von 5, 57f., 75f., 80, 235, 243, 247, 251, 263f. Segner, Johann Wilhelm von 247 Sextus Empiricus 240f. Simplicius 240 Smith, David W. 7 Sokrates 24f., 61, 72, 239 Spoerhase, Carlos 23 Sprengel, Jakob Heinrich 62, 236 Stiening, Gideon 1f., 90, 237, 239 Taussig, Sylvie 242 Thaler, Burchard 57 Theaitetos 240 Theophrast 240 Theuner, Emil 55 Thiel, Udo 2 Thiele, Andrea 2 Thom, Paul 46 Thomasius, Christian 12 Thorschmid, Urban Gottlob 8 Tonelli, Giorgio 79 Wærden, Bartel Leendert van der 237, 260 Walter, Wolfgang 22 Werle, Dirk 23 Wild, Markus 23
282 | Personenregister
Wölfel, Kurt 7, 81 Wolff, Christian 8, 23, 56, 76, 236 Wübben, Yvonne 57 Xenophon 239 Zenon von Kition 72f., 240
Sachregister In Garves Hallenser Magisterschrift verwendete altgriechische Begriffe Seiten- und Zeilenzahl sind jeweils nach dem Originaldruck angegeben, so wie sie auch aus der oben im vorliegenden Band enthaltenen Edition (S. 92–233) ersichtlich sind. Nach dem altgriechischen Ausdruck folgt in Klammern ggf. jeweils Garves lateinische Erläuterung. ἄδηλον (incertum) 28,14 αἰσθητόν 38,13 αἰσθητήριον 38,13 ἀκατάληπτον (incomprehensibile) 28,14 ἀκαταληψία (impossibilitas percipiendae, h. e. certe & euidenter cognoscendae visorum cum rebus ipsis conuenientiae) 27,16 ἀξίωμα 47,21; 60,21 ἀπραξία (ab omni actione suspensio) 28,6
πραγματικός (ad negotia obeunda aptus) 20,17
basis 25,2
hypothesis s. Sachregister 2
dogma s. Sachregister 2
φαντασία (visum) 29,24; vgl. Sachregister 2, phantasia (Einbildungskraft) φ. ἀπερίσπαστος ( cuius nec ipsius ratio, nec cum caeteris visis coniunctio repugnet) 28,21f. φ. ἐξωδευμένη ( in qua non solum nulla sit visi neque secum neque cum caeteris repugnantia, sed in qua etiam rationem conuenientiae omnium visorum clare perspicere liceat) 28,23
ellipsis s. Sachregister 2 ἐναντίωμα 29,8 ἔννοιαι (ideae quae ex visis formatae animo, etiam cessante sensu retinentur) 30,5 ἐποχή (assensus in omni re sustinendus) 28,30; 29,5 ἡγεμονικόν (mens) 32,1 καταληπτόν (comprehensibile) 29,27; 30,15; 31,9 κριτήριον 35,19; s. auch Sachregister 2, criterium Logica, -ces s. Sachregister 2 λογομαχία 29,3 Mathesis 2.26; 40,6 ὁρμή (propensio animi & auersio) 30,18 πάθος (animi mutatio) 29,25
προλήψεις (formae et genera ex idearum animo retentarum pluribus collecta) 30,6 συγκατάθεσις (rei perceptae agnitio) 28,32 systema 56,19 theorema 5,14; 11,23
chaos 34,9
284 | Sachregister
In Garves Hallenser Magisterschrift verwendete Begriffe (lateinisch) Die Seitenzahlen sind jeweils nach dem Originaldruck angegeben, so wie sie auch aus der oben im vorliegenden Band enthaltenen Edition (S. 92–233) ersichtlich sind. absorbere 16, 42 Academia (Platonica), Academicus 27, 29, 40 acquiescere 8f., 11, 24, 28, 37 actio, agere (handeln, tätig sein) 1f., 4, 6– 14, 16–20, 22, 24f., 28f., 65, 69 agendi principium 18 agendi ratio 2, 17, 69 agere / non agere 16 adminiculum 19, 45 aduersarius 27, 29, 64 aduersum 14, 65–68 aegrotare 26 aequabilitas 17 aequator 56 aestimatio, aestimare 8f., 22, 41f., 45, 59, 69 affectio, afficere 3f., 26, 29f., 31f., 34, 37, 42 agnitio 28 agnoscere 15, 28, 30, 33–35 Algebra 66 ambiguitas 7 ambitio 64 ambitus 2, 43, 49, 52f., 55 amicitia, amicus 11, 33f., 51 amussis 38 anima 40 (?), 43, 53 animus 2–5, 8, 10, 16–20, 24–36, 38f., 40 (?), 43–45, 47, 53 apparatus, apparare 19 appetitus, appetere 17f., 24, 29f. arguere 10, 13, 21, 35f., 59 argumentum, argumentari, argumentatio 2, 5f., 8, 12, 14f., 18, 21–24, 26f., 29f., 35, 37, 50–52, 54 arista 5 ars 9, 17, 29, 33 assensus, assentiri 28, 30 assignare s. signum assumtio, assumere 2, 19, 48f., 54f., 59
Astronomia, Astronomus 41, 43, 56 atomum 22 attemperare 28 attendere 32 attribuere, attributum 2, 5, 37, 45–49, 51f., 56–59 auctor *1, 22, 35, 60 auctor naturae 7f. auctoritas 13 auditus, audire 26, 31, 34, 36, 38, 42, 48, 53 auersio, auertere 3, 24, 30 auris 40 barbarus 46 basis 25 bellum, bellicum 19, 51 beneficium, benefacere 14, 28 benignum 14 bonum / malum 16, 18, 24 bonus / iustus 52 calculus 21, 45, 48f., 60, 64, 68–70 calor 5 canis 44 canon 44 capitis damnatus 68 carcer 33 casus 4, 8, 17, 21f., 35, 45f., 48, 50, 53, 60– 70 caussa 2–4, 6f., 10–23, 28, 30, 32f., 35–40, 42, 45f., 48–50, 54, 56 caussa interna 3, 33, 35f., 40 caussa probabilis 35 caussarum nexus 11, 20 cautio 9, 37 cera 29 cerebrum 32f. certamen, certare 64–66, 68 certitudo, certus 2–9, 11–13, 16, 18f., 22f., 31–33, 49f., 60, 68f.; s. auch Logica certorum
Sachregister | 285
certitudinis gradus 4 c. demonstrationis 3, 5 c. moralis, moraliter certum 7–9; s. auch euidentia moralis chaos 34 character 28 Chemicus 10 circumstare 11, 14, 28, 34, 42 claritas 32–34, 36 cogitatio, cogitare 3, 5, 7, 16, 24, 26, 35, 44, 48, 53, 58 cognatio rerum 11; s. auch nexus rerum colere s. cultus color, colorare 16, 37f., 40, 42, 49 combinatio, combinare 62f. commodum 64, 67, 69f.; s. auch lucrum comparatio, comparare 3, 7, 11–13, 17, 26, 28, 35, 43, 47, 59 compendifacere 11, 45 complexio 49, 51f. comprehendere, comprehensibile 17, 20, 25, 30, 35, 41, 47f., 53, 62 computatio, computare 60f., 64, 66, 69f. conatus 20, 27, 64, 67 conceptus, concipere 2, 5, 10f., 16, 24, 29, 44, 47, 49, 52–55, 57, 59 c. cum re extra nos posita conuenientia 5 conclusio, concludere 6, 10, 14, 31, 37f., 41f., 48–50, 52–56 concludendi ratio 6, 50 concursio, concursus, concurrere 2, 15, 20– 22, 25f., 42 concussio, concussus, concutere 25, 32 conditio, conditionale 7–9, 26, 31, 37, 43, 53, 66, 70 confidenter s. fides confirmatio s. firmitas conformare 24, 53 congeries 15, 20 congruentia, congruere 13, 22 coniectura, coniicere 21, 31, 39, 41, 58 coniunctio, coniungere 3, 11, 13f., 16, 18, 20, 23, 28, 32, 36, 46f., 50, 54, 60, 64 conscientia, conscium 5f., 20, 25, 31f., 34f. consecutio, consequi 3f., 14 consensio, consensus, consentire, consentaneum 7, 9f., 20f., 28, 34, 36, 46, 52, 56, 59
considerare, considerate, inconsiderantia, inconsideranter 10, 29, 68, 70 consilium 2, 7, 10f., 16–20, 29, 60f., 67, 69 constantia, constans, constanter 2f., 12, 17f., 20f., 35, 45, 58, 70 consuetudo, consuetum 17, 37, 42 contentio 20, 64 contingens, contingere 2, 12, 15, 22, 31, 36, 61f. continuatio, continuitas, continuare, continuum 12, 35f., 38, 40f., 43, 45, 60 contrectatio, contrectare 32–34, 38–40 conuenientia, conuenire 2f., 5–7, 10, 12f., 21f., 24f., 27–30, 34, 39, 43f., 46–48, 50f., 53f., 56–58 conuersio, conuertere 21, 32, 37, 52, 55f., 60, 67 conuictio, convincere 12, 25, 29, 40 cor 34 corpus, corporeum 3, 13, 16, 20, 22, 26, 31– 42, 56–59 credere, credibile 6–8, 14, 17, 22, 24, 27, 29, 35–37, 48, 54, 62; s. auch existimare, habere criterium 33; s. auch discrimen u. Sachregister 1, κριτήριον cultus, colere 5, 51f. cupiditas 16, 18, 24, 29 Cyrenaicus 30 debilitas, debilitare, debile 14, 17f., 20, 34 decipere 9, 25, 34f. deducere 3, 11, 43, 54 definitio, definire 7–9, 17, 27, 30, 41f., 45, 48 delectatio, delectare 26, 41 delere 15f., 34 delirium, delirum 26, 33–36 dementia 34 demonstratio, demonstrare 2f., 5–9, 22, 24, 29, 43, 47, 54, 61 destruere 15, 23, 25, 44 detrimentum 10, 24 dexteritas 20, 67 Dialectica 30, 69 dignitas cognitionis 1 discrimen 6, 26, 29, 34, 36, 61, 65f., 68; s. auch criterium u. Sachregister 1, κριτήριον
286 | Sachregister
disputatio, disputare *1, 4, 7, 9, 26, 31, 63 distantia, distare 37, 39, 41f., 57–59 diuersitas, diuersum 3, 14, 16, 21, 23, 26, 28, 38, 40, 43–45, 50, 59, 62, 65, 70 diuinum 6f. doctrina 20, 25, 27, 30, 40, 43, 53, 56–58, 60 dogma 28–31 dolor 31 dormire 25, 34 dubitatio, dubitare, dubium 1, 4, 13, 23, 25, 35f., 43, 45, 53, 55 effectio, effectus 15, 20–22, 26, 36, 39, 43 efficere, effectum 3, 6–8, 11f., 14f., 17, 23, 26, 35, 38f., 42, 54, 68, 70 efficientia 15 effigies, effingere 18, 25f., 29, 37, 42f.; s. auch fingere elementum 15, 41 Ellipsis 55 emetiri 59; s. auch metiri enarrare s. narratio enunciatio, enunciare 24, 45, 48, 51, 54–56 error, errare 8f., 25f., 31, 33f., 38, 40f., 49; s. auch stella errans esse / non esse 4, 7, 23, 31 esse / posse 6 essentia 10, 45f. euenire, euentum 4, 11–13, 15, 17, 21–23, 35, 45, 61–64, 67 euentus 2, 4, 11f., 14, 20–23, 50, 61–63, 65, 68 euidentia, euidenter 27 e. moralis 9; s. auch certitudo moralis exceptio, excipere 6, 45f. excitare 16, 19, 28, 32–34, 36, 39 excogitare 8, 19 exemplum 13, 37, 43, 50, 59, 62, 64, 68 exercitatio 16, 20, 41 exercitus 19 existentia, existere 2f., 6f., 10–13, 18, 22f., 27f., 34, 39f., 46f., 54, 57 ratio existentiae 2 nostri ipsorum existentiae conscientia 6 existimare 5, 14, 21, 40, 52f.; s. auch credere, habere expectatio, expectare 8, 14, 19, 65f., 69f.
experientia, experiri 3, 11, 19, 21, 23, 32, 35, 37f., 42f., 45, 54, 56, 58f. experimentum 44, 56, 60f. explicare 2, 4, 10, 12, 23, 33f., 39, 43, 50, 54, 56–59, 64, 67, 69 explorare 5, 10–12, 15, 17, 32, 38, 50, 55 exponere 12, 27, 35, 54 extensio, extendere 2, 39 externum 3, 16–18, 20, 26f., 29, 31–35, 37 exuuiae 31 facilitas 16f. factum (Tat) 17, 52, 70 facultas 17f., 20, 24, 70 fallere 9f., 31, 33 falsitas, falsum 8f., 12f., 24, 26, 28, 30, 32, 34–36, 39 fastigium 30, 47 febris 34, 37 felicitas 9 fertile / sterile 61–64 fides, fiducia, fidenter, confidenter 8–10, 13f., 20, 36, 38, 56 figura 5, 37, 40, 42 figura syllogismorum 47f., 51f. fingere 17, 33; s. auch effingere finis, finire, finitum 2, 8f., 19, 23, 29, 43f., 49, 61 firmitas, confirmatio, (con)firmare, firmum 2, 8, 15, 17, 21, 23, 25, 29, 36, 44, 48, 55–59, 69 fluctuare 33f. forma, formare 7, 17, 30, 40, 43–45, 49, 51f.; s. auch conformare, informare fortuna, fortuitum 15, 20, 22, 60f., 66 fructus 14, 60 frustrare 14 futurum, res futura 4, 10, 14, 19f., 22, 45f., 50, 60, 70 genus 2–4, 6–13, 16–18, 21, 24, 26, 30, 38, 41, 43–50, 52f., 57, 60f., 63–65, 70 Geometria 2, 41, 58 gignere, progignere 13, 15, 32 gradus 4, 6–14, 16, 21f., 24, 28, 32, 46, 51 granum 5 grauitas, graue 7, 12, 28, 42, 56, 58f. gustare 37
Sachregister | 287
habere (einschätzen), habere pro aliquo 8, 14, 24, 30, 32, 36; s. auch credere, existimare habilitas 20 habitus 9, 34–36 historiae 20 Historicus 13, 60 honestas, honestum 52, 70 humanitas lex humanitatis 52 officium humanitatis 10, 14, 48 humanum 2, 4, 6, 8f., 19, 25, 60, 69 humanum & liberale 11 humor 5, 40, hypothesis, hypotheticum 43, 53, 55–59 iactura 53, 64, 68 iactus, iacere 61–64, 67f. iacere fundamenta 25, 37 icterus 37 idea 5, 17f., 30, 38, 43, 45, 47 conuenientia idearum 2 ignorantia, ignoratio, ignorare, ignotus 4f., 10, 14, 18f., 25, 31, 39, 44, 50, 55f., 60, 66 illiberalitas 14 illustrare 16, 21, 60 imago 3, 16–18, 25–29, 31f., 34–37, 40–43, 47; s. auch visum immensum 43, 58; s. auch infinitum immutabile 30 immutatio s. mutatio impedimentum, impedire 13–15, 20, 23, 32, 34, 39, 65 impellere s. impulsio impenetrabilitas 39 imperator 51 Imperialis 69 imperitia 70 imperium 16f., 24, 51 impossibilitas, impossibile 10, 27 impressio, imprimere 16f., 26, 29, 31, 33f., 38, 56 improbabilitas 13 impulsio, impellere 8, 10, 14, 16–19, 24– 26, 29, 32, 34, 42, 56 incertum 2, 4, 28, 31, 33f., 68f. incomprehensibile, incomprehensum 25, 27f., 32
incursio, incurrere 10, 17, 26, 31, 34, 37, 40, 42, 55 indicium, indicare 14, 35, 66 indoles 16f., 19, 53 inductio 4, 43, 45f. infans 3, 44, 49; s. auch puer infinitum 68; s. auch immensum infirmitas, infirmum 1, 3, 10, 33, 57 informare 2 ingenium 16f., 20, 48, 53 iniucundum 26 iniustum, iniuste 52 inquisitio, inquirere 6, 9–12, 14, 25, 33, 45, 54 insania 34 insignire, insigne 17, 33, 44, 59; s. auch signum insolitum 35f. institutio, institutum, instituere 2, 10, 30, 41, 44, 59, 62, 70 instrumentum i. bellicum 19 i. sensus/sensuum od. quo sentimus 9, 25, 31–34, 36, 38; s. auch organum sensorium intelligentia 1, 14, 17, 36, 38 internum 3, 12, 27, 29, 33, 35f., 40 intuitus 20 inuestigare 9, 23 iucundum 29, 31 iudicium, iudicare 6, 12, 23–25, 29, 31, 38f., 41f., 45, 47, 69 iustitia 52 legitimum 21f., 36, 51 lepor 60 lex 4, 6f., 9f., 13, 17, 22–24, 28, 33, 36, 42f., 45, 49, 52f., 59–61, 64, 67f., 70 lex logica 9 lex mentis 43 liberum 14, 16, 20 liberalitas, liberale 11, 14 linea 40 linea nodorum 46 locus (dialektisch) 6, 28 logarithmus 66 Logica, logicum, logice 9, 53f., 54 L. certorum 6, 47f., 52f. L. probabilium *1, 1, 6, 48
288 | Sachregister
lucrum, lucrari 61f., 67–69; s. auch commodum ludus, (col)lusor, ludere 35, 60, 64, 66–68 lumen, lux 20, 34, 38–41 luna, lunaris 46, 58f. lusor s. ludus magnitudo 41–43 malum s. bonum Mars 46 Mathematica, mathematicus *1, 13, 21 Mathesis s. Sachregister 1 Mechanicum 13 mediatum 47 memoria 13, 34, 51 mens 5, 16, 26, 32f., 45 mente captus 26; s. auch delirium mensura 41, 65, 67 Mercurius 56 methodus 25, 64 metiri 1, 7f., 21; s. auch emetiri metus 33, 67 miseria, miser 33, 48 misericordia 48 modus 3, 6, 10, 12, 22–24, 28, 30, 35, 43 m. in probabilibus ratiocinandi 47 m. probabilitatis 46 m. veritatis 5 molestia, molestum 26, 31 momentum 16, 18, 23, 25, 28 moralis 9; s. auch certitudo moralis, euidentia moralis morbus 34, 36, 50 mors, moriri 35, 49 motus 11, 19, 32f., 36, 38, 42, 56–59 munus 2, 10, 14, 20, 43 mutatio, immutatio, mutare, immutare, commutare 3, 12, 25f., 29, 31–33, 36– 39, 42, 45, 47, 53, 55, 66 narratio, narrare, enarrare 4, 10, 12f., 23, 30f., 35, 44, 53 nasci 3f., 23, 34, 49 nasus 38 natura, naturalis 1–3, 6–8, 16f., 19, 21, 26, 30f., 33, 36, 39f., 42, 44, 48, 53–55, 57 naturae constantia 3 necessarium, necesse 3f., 11–14, 18, 22f., 28, 32–35, 38f., 41, 49, 54, 57, 67
necessitas, necessitudo 1, 8, 10f., 48, 61 negotium 2, 20, 48 negotiator 69 neruus 3, 32f., 38 nexus 11, 13, 20, 35 n. rerum 14, 17, 35, 43; s. auch cognatio rerum nodus s. linea nodorum nota 43–45, 47, 50, 54–57, 59, 67 notio 2–5, 7, 10, 26, 39, 44 notio probabilitatis 4, 60 notitia 3, 26, 29 nuncius 26, 32 obiectum, obiicere 16, 18, 33, 37 obseruatio, obseruare 2–4, 7, 15, 18, 21, 24, 28, 36, 43f., 46, 48, 55f., 59, 70 obstaculum 13, 29, 39, 64f. oculus 4, 34, 37, 39–43, 55 odor 39 officium 10–12, 14, 23f., 48, 52 olfactus 38 opinio 3, 10, 24f., 45 opticum, Opticus 42f., 57 orbis, orbiculare 4, 21, 46, 56–59, 67f. orbita 55, 59 ordo 3, 17, 21f., 35f., 53, 62, 68 organum sensorium od. sensus od. sensuum 3, 26, 29, 32, 37, 42; s. auch instrumentum sensus pars / totum 11, 45, 47, 49, 64 peculiare 28, 55 perceptio, percipere, perceptibilis 1, 3, 6, 15, 25–39 (def.: 27), 41, 44 perdere 64, 67, 70 periculum 8, 10, 33, 59, 61, 68f. perpetuum, perpetuo 21, 27, 35, 58 persuasio, persuadere 2f., 5–7, 10, 13, 15, 20, 24, 29, 40, 46, 53 phaenomenon 56–59 phantasia (Einbildungskraft) 17, 32f.; s. auch visum u. vgl. Sachregister 1, φαντασία (visum) Philosophia, Philosophus *1, 20, 24f., 27, 29–31, 43, 47, 55, 60 Physica, Physicus 30, 53 pictor 41 planeta 46, 55f., 58
Sachregister | 289
poenitentia 10 Poli 56 pondus, ponderare 6, 18, 28 possibilitas, possibile 4–6, 10, 63 potestas 15, 18, 20, 70 praeceptum 9, 24, 30, 52, 55, 60, 62 praecipere 4, 20, 24 praemium 60f., 65, 68 praeparatio, praeparare 19, 44 praesagium, praesagire 4, 17, 50, 60 praesidium 2, 7, 19, 29 praeuisio, praeuidere 14, 20, 22 pretium 69f. principium 4, 6, 16, 18, 28, 30f., 47, 49, 54, 60; s. auch repugnantiae principium probabilitas, probabile passim; s. auch caussa, Logica, modus, notio, ratio, vis, visum genera probabilitatis od. probabilium 4, 6, 9, 21, 24, 47, 60f. probatio, (com)probare 2, 5, 7f., 12–14, 23, 31, 35, 45 problema 64, 66f. probum 52 procolare 42 proditor 27 propellere 17 propensio 17f., 24, 30 proponens 5 proportio 17 propositio 43, 45, 48f., 51–53 propositum 22, 31 proprietas, proprium, proprie 2f., 12f., 16, 24, 26–28, 33, 38–40, 42, 45, 50, 54f., 57, 61f., 67 prosper 62f., 65, 67f. prospicere 4, 19f. prudentia, prudens 64, 69f. pueritia, puer 39, 41, 44; s. auch infans pugnare secum od. inter se s. repugnantia pulsus 26, 33 quaestio, quaerere 3, 5, 8, 12, 15, 24f., 29, 32, 54, 61f., 64–66 qualitas 28, 31, 37f., 42 qualitas occulta 39 radius 16, 20, 37–42
ratio 1–3, 6–10, 14, 16–29, 31, 35f., 39–42, 44, 50–62, 64–70; s. auch actio (agendi ratio) r. casuum ad exceptiones 45 r. probabilitatis 21 r. probabilitatis ad certitudinem 22, 60 r. probabilitatis ad veritatem / partis ad totum 47f. r. secundorum aduersorumque casuum 66 r. subiecti partis aliquod attributum habentis ad partem illo carentem 49 r. tertiae cuiusdam ideae ad subiectum et ad attributum 47 rationem reddere 12, 19, 23, 57 ratiocinatio, ratiocinare 3, 20, 28, 33, 37, 39f., 45, 47f., 53f. recentiores philosophi 31 recordatio 36 rediuiuus 35 refellere 13, 26 regula 9, 36, 38, 42f., 46–48, 52f., 69 religio 56 repetitio, repetere 17f., 37, 63f., 66 repraesentatio 32 repugnantia, repugnare, pugnare secum od. inter se, non-repugnantia 2, 5–7, 10– 13, 28, 36, 44, 55 repugnantiae principium 2f., 11, 54 res gerenda od. gesta 1f., 8–10, 12f., 17–20, 35f., 39, 48, 51, 53, 64–66, 70 retina oculi 37, 40 retroactio 24 robur 32f., 36 rumor 35 sanguis 32–34 sapientia, sapiens 25f., 28, 30 sapor, sapere 37, 39 scala 16 Scepticus 27 Scholasticus 39 scientia 2, 4, 10, 25f., 30 (def.) scriptor 13, 53 secundum (günstig) 66f. securitas 7, 9, 19, 51 semen 5, 25 sensatio 32 sensum s. sentire
290 | Sachregister
sensus 2–4, 6, 8f., 16, 20, 25–38, 41–45, 48, 51; s. auch instrumentum sensus, organum sensorium s. audiendi 31 s. internus 3, 27 s. tactionis 39f. s. videndi 31, 40 sententia 5, 25–27, 29, 31, 33, 53 sentire, sensum, sensibile 3f., 18, 25f., 28, 30–35, 38f., 43f. series 3, 15f., 19, 22, 34, 36 sigillum 29 signum, signare, assignare, assignabilis, significare 14, 21, 28, 33, 39, 44, 62; s. auch insignire similitudo 3, 19, 35, 44, 47 similitudo veritatis 35 simulacrum 31 simulatio, simulare 35, 48 situs 37, 42f. sol 16, 40, 46, 56–58 solertia 20 solutio, solvere 64, 67 somnium 33–36 somnii veritas 34 somnus 35 sonus 34, 39, 42 Sophista 25 sors 63–70 spatium 4, 39, 57–59 species 7, 10, 33–35, 46, 49, 55 spes, sperare 14, 18, 24, 51, 62, 64–70 spiritus 32 stella 41 stella errans / fixa 58 sterile s. fertile stimulus 18 Stoicus 25, 27, 29f., 33 stultitia 26 subiectum 47–52, 54–56 subsidium 9, 19f. successio, successor, succedere 10, 27, 32, 34–36, 65–67 successus 63, 67f. superficies 40, 42, 59 superstitio 56 suspensio, suspensum 28, 35, 45 suspicio, suspicari, suspectum 8, 13, 21 syllogismus 47–55 (def.: 47), 57
systema 56 tactio 34, 38–40; s. auch contrectatio temeritas 10, 28f., 69 temperare 17 tentamen, tentare 10, 21, 61, 63f., 66–68, 70 terra 46, 56–59 tessera 61–63, 66–68 testimonium 12, 45, 60 theorema 5, 11 totum s. pars transitus, transire 6, 17, 30, 32, 40, 42 triangulus 5, 41 Tubi Astronomicorum 56 turpitudo, turpe 52 vagina 5 valetudo 26, 33f. vanitas 25, 36 varietas, variatio, variare, varium, varie 7f., 14, 20, 25, 30, 37f., 41, 43f., 48, 57, 60 vectis 11, 13 Venus 56 verisimilitudo, verisimile 7, 49 veritas, verum 5f., 8f., 11–15, 23–31, 34–36, 39–41, 46–48, 53f., 56 modus veritatis 5 Veteres, veteres Philosophi 30f., 55 victoria, vincere, convincere 6, 51, 64, 66, 70 videre, visio 15, 30, 36–38, 40f., 45 videri, visum esse 28, 31f., 37, 44, 46, 51, 54, 64, 67f. vinculum, vincire 8, 13, 33 virtus 8, 52, 70 vis 6, 9, 11f., 14–18, 20, 23, 26, 34, 41, 52, 54, 58 v. agendi 6 v. centripeta 58f. v. demonstrationis 5 v. fingendi 17 v. ad persuadendum 7 v. probabilitatis 28 v. probandi 5, 13 visum 4, 24–36 (def.: 25, 29), 38, 43; s. auch Sachregister 1, φαντασία v. seu imago ex sensu orta 36
Sachregister | 291
coniunctio visorum od. cum visis 28, 36 visorum falsitas 35 visorum probabilitas 24 visorum veritas 27, 35 vita 8, 18, 35, 40, 43, 49, 53, 60, 68 vitium 14, 48, 50, 69 vniuersalitas, vniuersale 2–4, 17, 42–44 voluntas 16–18, 23f., 29 voluptas 26, 29, 31 vrna 21, 49 vsus 1f., 13, 16, 20, 23, 36, 69 vtilitas 1, 10, 53 Zodiacus 56
292 | Sachregister
Sachen und Begriffe (deutsch) Stellen der deutschen Übersetzung von Garves Hallenser Magisterschrift sind in Fettdruck angegeben. ádelon 149 Akatalepsie, akatalepsía, akatálepton 6, 25f., 80 143, 147, 149, 239f. Anziehungskraft 242 Apraxie, apraxía, Untätigkeit 25f., 149, 240 Astronomie 74, 75, 175, 179, 185, 203–211, 243, 246 Beharrungsstand (der Welt) 255, 259f. Beweis 103, 111, 238 Bewusstsein von unserer Existenz s. Selbstbewusstsein Chance 21, 74–76, 219, 221–233, 247 Einbildungskraft s. Phantasie Einteilung der Erkenntnis s. Erkenntnisform(en) Entschluss 24, 38, 65, 74, 76, 97, 107, 113, 115, 125–133, 151, 213, 215, 231, 235, 238, 252, 258 epoché 149, 151, 240 Erfahrung 76 Erkenntnisform(en), Einteilung der Erkenntnis 9, 12f., 63, 97, 237 Fall 213–233 ›fruchtbarer‹ F. 74, 215 Freigiebigkeit 121 Freiheit, frei 22, 65, 82f., 125, 265 fruchtbar s. Fall, ›fruchtbarer‹ Geist 73, 89f., 125–133, 141, 147, 151, 157– 165, 179, 181 Gerechtigkeit 22, 44, 197, 245 Gesetz 101, 107, 137–141, 171, 253 Gewissheit, gewiss 8, 11, 13, 16f., 25, 33, 38, 56, 58f., 63, 72, 79, 83, 89, 81, 83, 89, 97–103, 107–111, 117, 119, 123, 129, 133, 137, 147, 153–157, 165, 185, 191, 193, 201, 213, 235–238, 243, 246, 252, 256–260, 265
absolute G. 23, 56, 101, 103 historische G. 70; s. auch Wahrscheinlichkeit, historische mathematische G. 23, 59 moralische G. 22–24, 64, 107–111, 237f., 258 sinnliche G. 256 Gewohnheit 127 Glück 133, 215 Glückseligkeit 111 Glücksspiel 58, 70, 75f., 219–233, 247f., 253 Gott 13, 76, 105, 236f., 252 Gravitation, Schwerkraft 74, 211 Handlung s. Praxis Harmonie 17f. Hindernis s. Verhinderung Hypothese, hypothetisch 11, 15, 17, 46f., 49, 59, 70, 74, 179, 199, 203–211, 246; s. auch Syllogismus, hypothetischer Ich s. Selbstbewusstsein Idee 63, 97, 99, 179–183, 187, 235 Induktion 101, 179, 183, 185, 259f. Irrtum 64, 109, 111, 143, 145, 155, 159, 161, 169, 173, 175, 191; s. auch Unsicherheit, Unwissenheit, Vorurteil katalepton 151, 155 Kausalität 11f., 16f., 59, 63, 79, 82, 99, 101, 105, 107, 115–119, 123–127, 131–139, 185, 236, 252, 258f. Kind, Kinder 39f., 99, 171, 175, 181, 191 Klugheit, klug 21f., 221, 231, 233 kontingent s. Zufall Koordination 27 Kraft 115, 117, 121, 123, 127, 129, 133, 139, 145 Latein / Deutsch 60 logomachía 151 Lust 73, 155
Sachregister | 293
Mathematik, mathematisch 9, 12, 57f., 62, 68, 72, 74–76, 79, 93, 97, 103, 119, 135, 173, 235f., 247, 253, 263; s. auch Gewissheit, mathematische Menschlichkeit, menschlich 115 Gesetz der M. 197, 245 Pflicht der M. 113, 121, 189 Metaphysik, metaphysisch 5f., 12f., 28, 264; s. auch Möglichkeit, metaphysische modus ponens 46f., 50 modus tollens 47 Möglichkeit, möglich 7f., 11, 13–15, 31, 64, 70, 75, 79, 101–105, 113, 219, 252, 257f. logikalische M. 11, 14–16 metaphysische M. 14–16 Natur 97, 99 Naturwissenschaft 48f., 57, 263 Nichtsein 7, 257 Nicht-Wissen s. Unwissenheit Notwendigkeit, notwendig 8, 16, 31, 38, 63, 95, 99, 109, 113, 115, 119, 163, 191, 235, 238 Pflicht, Verpflichtung 37, 68, 109, 113–117, 121, 139, 141, 189, 197, 245, 253, 259 Phantasie, phantasía, Einbildungskraft 19, 27, 73, 127, 149, 151, 157, 159, 240f., 258 Philosoph 58f. Philosophiegeschichte 60f., 75, 264f. πιθανόν (pithanón, ›glaubhaft‹) 26 Praxis / Handlung 11f., 14f., 18–24, 28, 38, 42, 59, 64–67, 76, 79, 81–83, 95, 97, 101–113, 117–133, 141, 223, 231, 237f., 252, 259, 265 prólepsis 153 Qualitäten, verborgene 171, 242 Satz vom Widerspruch, Widerspruchsprinzip 9, 13, 15f., 63, 97, 99, 115, 201, 236 Schluss s. Syllogismus Schwerkraft s. Gravitation Seele s. Geist Selbstbewusstsein, Bewusstsein von unserer Existenz 13, 105, 236f., 252
Sinnlichkeit, sinnlich 9, 12, 24–28, 33, 61, 63, 70–73, 77, 83, 99, 101, 105, 109, 111, 141–181, 235f., 239, 241f., 252f., 255f., 259, 264f. Syllogismus, Syllogistik, Schluss 9, 12, 17, 20, 29–51, 63, 73, 78f., 99, 105, 133, 187–207, 238, 243–245, 252f., 260 hypothetischer S. (od. Schluss) 33, 46–51, 69f., 73 topischer S. 38 synkatáthesis 149 Todesurteil 229, 247 Traum 161–165, 259 Überzeugung 20, 24, 56, 59, 64, 82f., 97, 99, 103–113, 117, 119, 123, 133, 141, 151, 173, 185, 199 Unerfassbares 72, 147, 149 Untätigkeit s. Apraxie Unsicherheit 9, 12, 63, 97, 101, 113, 159, 161; s. auch Irrtum, Unwissenheit, Vorurteil Unwissenheit, Nicht-Wissen 8, 25, 72, 99, 101, 113, 121, 143, 173, 177, 181, 233, 239; s. auch Irrtum, Unsicherheit, Vorurteil Ursache / Wirkung s. Kausalität Verhinderung, Hindernis 119–123, 133, 139 vérité s. Wahrheit Verpflichtung s. Pflicht Vorsatz 65, 137 Vorurteil 9; s. auch Irrtum, Unsicherheit, Unwissenheit Wahnsinn 159–167 Wahrheit, wahr, vérité 7, 17, 25–27, 56, 58f., 72f., 76, 79, 81–83, 103, 107–111, 115, 117, 121, 123, 139–155, 161, 163, 171–175, 185–189, 201, 205, 238, 241 Wahrscheinlichkeit gemeine / gelehrte W. 10f. hermeneutische W. 10–12, 55 historische W. / W. aufgrund von Berichten anderer 9–12, 55, 63, 70, 101, 117, 246, 252
294 | Sachregister
mathematische W. / W. aufgrund der Zahl einzelner Fälle 9, 12, 72, 74, 76, 79, 101, 135, 137, 213–233, 237, 239, 247, 252f., 260 mittelbare / unmittelbare W. 11 moralische / politische W. 10–12 physikalische W. 10–14, 17 praktische W. 10 sinnliche W. 9, 12, 63, 101, 105, 141– 179, 252 subjektiv(isch)e / objektivische W. 11, 55f. W. aufgrund von Folgen 9, 11, 18, 49f., 101, 139 W. aufgrund von Gesetzen und Pflichten 139, 141, 253 W. aufgrund von Induktion 9, 11, 101, 179–211, 252f. W. aufgrund von NichtWidersprüchlichkeit (an sich) 15f., 107, 113 W. aufgrund von Übereinstimmung mit anderen Dingen 16f., 121, 137 W. aufgrund von vorhergehenden Ursachen 9, 12, 16f., 101, 115–137, 252, 258f. W. der Existenz (der Dinge) 97, 103, 105, 115, 236, 238, 257 W. der Prognose (des Zukünftigen) 63, 64, 69, 101, 213, 238, 247, 252, 260 W. von menschlichen Handlungen 18f., 125–133, 252 Gattungen der W. 9f., 24, 63–71, 75, 101, 105, 141–233, 236 Prinzipien der W. 11f., 13–19, 64, 101– 141 Systematik der W. 7–15, 19, 24, 28, 257 Weltweiser s. Philosoph Wesen 183, 185, 259 Widerspruch, widersprechend 15f., 34, 64, 105, 107, 113–119, 149, 201, 235f., 258; s. auch Satz vom Widerspruch Widerspruchsprinzip s. Satz vom Widerspruch Wille 125, 129, 139, 141 Wissen 11, 23, 56, 72, 101, 143, 145, 153, 173 Wissenschaft 23, 59, 97, 101, 143, 233, 245, 252, 263; s. auch Naturwissenschaft
Zeuge 82, 101, 117, 163, 213, 246 Zufall, zufällig, kontingent 9, 63, 72, 97, 123, 137, 257 Zusammenhang (der Dinge) 121