Ausgewählte Reden und Aufsätze [Reprint 2012 ed.] 9783110830200, 9783110032208


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German Pages 220 [228] Year 1951

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Table of contents :
Vorwort
I ZUR EIGENEN LEBENSGESCHIGHTE
1 Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1890) nebst Erwiderung Theodor Mommsens
2 Meine Zeitgenossen aus dem achtzehnten Jahrhundert (1929)
II ZUR RELIGIONSWISSENSCHAFT UND KIRCHENGESCHICHTE
1 Sokrates und die alte Kirche (1900)
2 Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung (1883)
3 Was wir von der römischen Kirche lernen und nicht lernen sollen (1891)
4 Der Geist der morgenländischen Kirche im Unterschied von der abendländischen (1913)
5 Die Bedeutung der theologischen Fakultäten (1919)
6 Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen (1923)
III PREDIGTEN, FESTBETRACHTUNGEN, ETHISCHES
1 Christus als Erlöser (1899)
2 Einige Worte Jesu, die nicht in unseren Evangelien stehen (1904)
3 „Auf Dein Wort will ich das Netz auswerfen“ Predigt. (1919)
4 Weihnachten (1928)
5 Die Erhaltung der Kraft im höheren Leben (1924)
IV ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE UND KULTURPOLITIK
1 Stufen wissenschaftlicher Erkenntnis (1930)
2 Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten? (1920)
3 Ansprachen bei der Einweihung des Neubaues des Kaiser Wilhelm - Instituts für Arbeitsphysiologie (1929)
Beilage: Dietrich Bonhoeffer : Gedächtnisrede auf Adolf V. Harnack
Quellennachweis
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Ausgewählte Reden und Aufsätze [Reprint 2012 ed.]
 9783110830200, 9783110032208

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HARNACK I AUSGEWÄHLTE REDEN UND AUFSÄTZE

ADOLF

VON

HARNACK

AUSGEWÄHLTE REDEN UND AUFSÄTZE A N L Ä S S L I C H D E S 100. G E B U R T S T A G E S DES VERFASSERS NEU

HERAUSGEGEBEN

VON

D. D R . A G N E S V O N Z A H N - H A R N A C K f U N D DR. A X E L V O N H A R N A C K

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. / B E R L I N vormals G. J. Göschen?sehe Verlagshandlung · J, GuUentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trubner · Veit & Comp.

195 I

Archiv-Nr. 54 83 51 Satz: Walter de Gruyter 4 Co., Berlin W 3 5 Druck: „Buchkunst", Berlin W 35 Printed in Germany

VORWORT Am 7. Mai 1851 wurde Adolf v. Harnack, mein Vater, in Dorpat geboren. Ein Jahrhundert ist seitdem vergangen, einundzwanzig Jahre seit seinem Tode. Die Erinnerung an ihn zu pflegen und ihn der heutigen Generation vor die Augen zu stellen, ist der Zweck dieses Buches. Es enthält die wichtigsten und wertvollsten seiner Reden und Aufsätze, die zu Lebzeiten des Verfassers in sechs Bänden erschienen, und denen nach seinem Tode ein siebenter folgte. Alle sind fast völlig vergriffen. Es wurden die Arbeiten ausgewählt, die jetzt noch, ζ. T. zwei Menschenalter nach ihrer Veröffentlichung, Bedeutung haben und die Aufmerksamkeit weiterer Kreise verdienen. Meine Schwester, Frau D. Dr. Agnes v. Zahn-Harnack, und ich haben uns über die aufzunehmenden Stücke nach sorgfältigen Erwägungen verständigt. Das Erscheinen dieses Bandes, der ihr ein wichtiges Anliegen war, erlebte meine Schwester nicht mehr; sie wurde uns am 22. Mai 1950 entrissen. Ihr verdankt man die Biographie Adolf v. Harnacks, die in zweiter, bereicherter Auflage im gleichen Verlage wie diese Auswahl vor kurzem erschienen ist. Durch die Übernahme beider Werke hat sich die Verlagsbuchhandlung W. de Gruyter Dank verdient. Wer sich eingehender mit dem Lebenswerk Adolf v. Harnacks beschäftigen will, sei hingewiesen auf das Verzeichnis seiner Schriften, das Friedrich Smend veröffentlicht hat (Leipzig: Hinrichs 1927, Nachtrag 1931). Eine systematische Übersicht der in den „Reden und Aufsätzen" enthaltenen Stücke steht in: A. v. Harnack: „Aus der Werkstatt des Vollendeten '. Gießen 1930, S. 299. Der Schülerkreis Adolf v. Harnacks reichte von dem Marburger Systematiker und Begründer der „Christlichen Welt" Martin Rade, von dem Hallenser Kirchenhistoriker Friedrich Loofs bis zu Dietrich Bonhoeffer. Bei der Gedächtnisfeier, welche die Kaiser Wilhelm - Gesellschaft zur V

Förderung der Wissenschaften nach Adolf v. Harnacks Tode veranstaltete, sprach der damals vierundzwanzigjährige Lizentiat der Theologie als letzter Senior des Kirchenhistorischen Seminars. Seine Worte machten auf die den Goethesaal des Harnack-Hauses in Berlin-Dahlem füllende Trauerversammlung einen unvergeßlichen Eindruck. Dietrich Bonhoeffer, eine große Hoffnung der evangelischen Kirche und der protestantischen Theologie, ein unerschrockener Bekenner seiner christlichen Überzeugungen, wurde im Jahre 1945 gewaltsam zu Tode gebracht. In diesem Urenkel des ehrwürdigen Kirchenhistorikers Karl v. Hase erblicken wir ein Bindeglied zwischen Adolf v. Harnack und der heutigen Theologie. Mit dankbar empfundener Zustimmung seiner Geschwister beschließt seine Ansprache, die bisher nur in einem seltenen Privatdruck veröffentlicht war, dies Buch. Die beiden letzten Jahrzehnte haben Deutschland, ja die ganze Welt, politisch umgeformt. Die geistige Haltung, die staatlichen Einrichtungen, die wirtschaftlichen Verhältnisse — all das hebt sich heute in scharfem Kontrast ab von einer weit entfernt erscheinenden Vergangenheit, in welcher Adolf v. Harnack wirkte. Es ist ein Beweis für die Geistesmacht dieses evangelischen Theologen, dieses Geschichtsschreibers und wissenschaftlichen Organisators, daß man es wagen darf, ihn zu einer völlig veränderten, tief erregten Welt noch einmal sprechen zu lassen, ohne den Vorwurf befürchten zu müssen, einen Schatten heraufzubeschwören. A x e l von H a r n a c k Tübingen, 4. Februar 1951

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INHALTSVERZEICHNIS Seite

Vorwort I ZUR EIGENEN LEBENSGESCHICHTE 1 Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1890) nebst Erwiderung Theodor Mommsens 2 Meine Zeitgenossen aus dem achtzehnten Jahrhundert (1929)

V 1

δ 9

II ZUR RELIGIONSWISSENSCHAFT UND KIRCHENGESCHICHTE 23 1 Sokrates und die alte Kirche (1900) . . . . 25 2 Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung (1883) 42 3 Was wir von der römischen Kirche lernen und nicht lernen sollen (1891) 66 4 Der Geist der morgenländischen Kirche im Unterschied von der abendländischen (1913). 80 5 Die Bedeutung der theologischen Fakultäten (1919) 115 6 Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen (1923 ) 132 III PREDIGTEN, FESTBETRACHTUNGEN, ETHISCHES 1 Christus als Erlöser (1899) 2 Einige Worte Jesu, die nicht in unseren Evangelien stehen (1904) 3 ,,Auf Dein Wort will ich das Netz auswerfen" Predigt. (1919) 4 Weihnachten (1928) 5 Die Erhaltung der Kraft im höheren Leben (1924 )

135 137 149 157 166 172 VII

IV ZUR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE UND KULTURPOLITIK 1 Stufen wissenschaftlicher Erkenntnis (1930) 2 Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung- des Weltgeschehens zu bieten? (1920) 3 Ansprachen bei der Einweihung des Neubaues des Kaiser Wilhelm - Instituts für Arbeitsphysiologie (1929) Beilage: Quellennachweis

VIII

175 177 181

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Dietrich Bonhoeffer: Gedächtnisrede auf Adolf v. Harnack 210 212

I ZUR EIGENEN

LEBENSGESCHICHTE

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ANTRITTSREDE AKADEMIE

IN D E R

DER

PREUSSISCHEN

WISSENSCHAFTEN

(1890) Bevor ich dem Brauche der Akademie folge und Rechenschaft ablege über meine wissenschaftlichen Ziele, spreche ich nochmals meinen Dank aus für die durch die Wahl mir erwiesene Ehre. Die Geschichte des Christentums und der Kirchen habe ich in Ihrem Kreise zu vertreten, und es erfüllt mich mit hoher Freude, daß Sie, einer alten Tradition folgend, dieser Wissenschaft eine Stelle unter den Disziplinen gegeben haben, mit denen sich die Akademie beschäftigt. Man hat M o s h e i m mit Recht den Vater der kirchengeschichtlichen Wissenschaft genannt; aber dieser große Gelehrte verdankte das Beste, was er besaß, einem Größeren, L e i b niz. L e i b n i z ist in Wahrheit, wenn auch mittelbar, der Begründer der unparteiischen und kritischen Kirchengeschichtsschreibung, und unsere Akademie folgt auch hier den Anregungen dieses universalen Geistes, indem sie die Beförderung der kirchenhistorischen Forschungen in den Kreis ihrer Aufgaben wieder aufnimmt. Möge es mir vergönnt sein, den Verpflichtungen nachzukommen, welche die Würde des Gegenstandes und die Traditionen der Akademie mir auferlegen! — Durch eine Preisaufgabe über den Gnostiker Marcion, welche die Universität Dorpat vor zwanzig Jahren stellte, wurde ich zur Geschichte der alten Kirche geführt. Die Aufgabe gehörte zu jenen trefflichen Thematen, die zur genauesten philologischen und kritischen Arbeit zwingen und doch zugleich nötigen, den Blick auf den Zusammenhang der geschichtlichen Erscheinungen zu richten und bedeutende Gesichtspunkte zu gewinnen. Aus einer großen 1*

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Menge von Fragmenten ist das Bild einer der einflußreichsten Persönlichkeiten der Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts zu gestalten, und mit einem Schlage sieht sich der Forscher mitten in die zahlreichen und verwickelten Probleme versetzt, welche die Religionsgeschichte des ersten und zweiten Jahrhunderts bietet. Unter der ausgezeichneten Anleitung von E n g e l h a r d t s versuchte ich, mich in dieselben einzuarbeiten. Sie bilden noch heute den eigentlichen Gegenstand meiner Untersuchungen. Wenn es mir gelungen ist, Einiges zu ihrer Aufhellung beizutragen, so verdanke ich das dem glücklichen Umstände, daß mir niemals eine andere Aufgabe begehrenswerter oder interessanter erschienen ist. Die Probleme der Kirchengeschichte des Altertums lassen sich auf ein einziges zurückführen: wie hat sich aus der Predigt des Evangeliums der Katholizismus und die katholische Reichs- und Staatskirche entwickelt? Diese Frage scharf gestellt zu haben, ist das unvergängliche Verdienst F. Chr. Baurs. Aber B a u r hat sie nicht nur gestellt, sondern in umfassender Weise selbst zu lösen gesucht. Bei diesem Unternehmen folgte er dem Grundsatze, die Wandelungen, welche das Christentum im zweiten Jahrhundert in Lehre, Verfassung und Kultus erfahren hat, soweit irgend möglich, aus den inneren Spannungen abzuleiten, welche bereits im apostolischen Zeitalter vorhanden waren. Allein er selbst erkannte doch, daß diese Art der Ableitung ihre Grenzen hat, und daß man neben den inneren Spannungen auch die äußeren Zustände ins Auge fassen müsse, um die Entwicklung der christlichen Religion zum Katholizismus zu verstehen. In der Gegenwart ist unter den Forschern darüber kein Zweifel, daß keine der beiden Erklärungen vernachlässigt werden darf; aber über das Maß ihrer Anwendung herrscht noch kein Einvernehmen. Ich habe mich — anfangs im Anschluß an R i t s c h i s Forschungen — bemüht, zu zeigen, daß die innerchristlichen Bewegungen des apostolischen Zeitalters nach der Zerstörung Jerusalems wesentlich zur Ruhe gekommen sind, und daß daher die Entwicklungen, welche nun folgten, nicht aus ihnen abgeleitet werden können. Demgemäß suchte ich nachzuweisen, daß die ungeheuren Krisen, welche 4

die neue Religion im zweiten und dritten Jahrhundert erlebt hat, aus der Verflechtung mit der sie umgebenden griechisch-römischen Welt hervorgegangen sind, und daß die neue Ordnung der Kirche auf den Gebieten der Lehre, der Verfassung und des Kultus Kompromisse sind zwischen der evangelischen Verkündigung und der Denkweise und den Institutionen der Antike. Diese Auffassung ist keineswegs neu; nicht wenige Forscher, vor allem R. Rothe, haben sie bereits vorgetragen. Ich bin lediglich in die Reihe derer eingetreten, welche versuchen, sie pünktlich im Einzelnen durchzuführen. Mit dem allgemeinen Grundsatz ist wenig erreicht; es gilt vielmehr, alle Erscheinungen des kirchlichen Lebens im Altertum mit den entsprechenden des antiken Lebens zu vergleichen, um ihren Ursprüngen und ihrer Geschichte auf den Grund zu kommen. Der Religionshistoriker nimmt an diesen Untersuchungen einen noch höheren Anteil als der politische Historiker; denn seine oberste Aufgabe ist es, festzustellen, was in der Geschichte der Religion aus ihrem eigenen, ursprünglichen Geiste geflossen ist. Um dieser Aufgabe zu genügen, muß er versuchen, die Elemente kennen zu lernen und zu sondern, welche sich die Religion — in der Regel unter schweren Opfern — lediglich assimiliert hat. Sie hat auch bei diesen Assimilationen ihre Kraft bewiesen; aber man darf die so entstandenen Produkte doch nicht als ihren reinen Ausdruck betrachten. Die Forschungen in dieser Richtung sind noch in den Anfängen. Im vorigen und in unserem Jahrhundert ist viel Talent und viel Geist auf die Geschichte der Kirche im Altertum verwendet worden; aber verhältnismäßig wenig planvolle historisch-philologische Arbeit. Die Durchforschung der patristischen Literatur hat seit den Tagen der gelehrten Benediktiner und Jansenisten nur in bezug auf das zweite Jahrhundert und die lateinischen Schriftsteller erhebliche Fortschritte gemacht. Noch immer gleichen weite Strecken dieser Literatur nicht einem gepflegten Garten, sondern einem Urwalde, den man sich zu betreten scheut. Und doch sind die Schriften der Kirchenväter Quellen der Nationalliteraturen der Romanen, Germanen und Slaven und das Mittelglied zwischen der antiken und deT mittel5

alterlichen Literatur. Nicht viel günstiger steht es in bezug auf die Geschichte der kirchlichen Institutionen. Zwar ist die Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments mit vielem Fleiß untersucht worden, und an der Aufhellung der Geschichte der Dogmen hat man seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ununterbrochen gearbeitet. Allein eine Geschichte der kirchlichen Verfassung im Zusammenhang mit der allgemeinen Verfassungsgeschichte fehlt uns noch, und ebenso fehlt uns eine kritische und vergleichende Geschichte des kirchlichen Kultus, sowie eine Geschichte der sozialen Wirkungen des Christentums. Auf diesen Gebieten hat man eben erst damit begonnen, die ausgezeichneten Fortschritte, welche die Erforschung der römischen Kaiser- und Religionsgeschichte gemacht hat, für die Kirchengeschichte zu verwerten. Der Zaun, welcher früher das Feld der Kirchengeschichte von dem Felde der allgemeinen Geschichte getrennt hat, ist niedergerissen. Für die Bearbeitung beider Gebiete bedeutet der begonnene Austausch die höchste Förderung; er stellt auch neue Aufgaben. Wenn es aber den Kirchenhistorikern in der Gegenwart möglich ist, sich außerhalb ihrer eigenen Grenzen auf den Gebieten der römischen Kaisergeschichte und der antiken Philosophie zurechtzufinden, so verdanken sie das in erster Linie der Lebensarbeit zweier Männer, welche unsere Akademie zu den ihrigen zu zählen das Glück hat. Es ist mir ein Bedürfnis, an dem heutigen Tage meinen besonderen Dank Herrn M o m m s e n und Herrn Ζ eil er auszusprechen, und ich weiß, daß alle meine Fachgenossen in diesem Danke mit mir übereinstimmen. Mein Lehrauftrag an der Universität verpflichtet mich, über das gesamte Gebiet der Kirchengeschichte Vorlesungen zu halten. Es ist für den Einzelnen schlechterdings unmöglich, sich hier überall selbständige Kenntnisse zu erwerben oder auch nur dem Gang der Forschung pünktlich zu folgen. Zwar empfinde ich die Forderung, immer wieder den Blick auf das Ganze zu richten und die verschiedenen Entwicklungen in den verschiedenen Epochen zu verfolgen, als einen heilsamen Zwang; aber das Gefühl des Unvermögens gegenüber dem Umfang der Aufgabe ist oft 6

genug drückend. Deshalb schätze ich meine Aufnahme in die Akademie als ein Glück, weil sie es mir ermöglichen wird, eine Fülle von Belehrung über die der Kirchengeschichte verwandten Disziplinen — auch in bezug auf das Mittelalter und die Neuzeit — in willkommenster Weise einzusammeln. Theodor Mommsen, als Sekretär

der philosophisch-historischen erwiderte:

Klasse,

Ich darf heute der Freude Ausdruck geben, daß es uns gestattet ist, den Verfasser der Dogmengeschichte des Christentums den unsrigen zu nennen, den Mann, welcher die Entwicklung des orientalischen Wunderkeimes zur weltgeschichtlichen, die Geister durch zwanzig Jahrhunderte bald befangenden, bald befreienden Universalreligion uns erschlossen, uns von Christus und Paulus zu Origenes und Augustinus und Luther geführt hat, welcher uns gelehrt hat, die Macht und die Wirkung des Christentums nicht lediglich in seinem Sprossen zu erkennen, sondern ebenso sehr in seiner Verzweigung und Verästung. Freilich, die zufälligen Schranken, welche zwischen Theologie und Philosophie und Geschichte die Fakultätsorthodoxie zu gegenseitigem Schaden aufgerichtet hatte, schwinden hüben wie drüben mehr und mehr vor der mächtig vordrängenden rechten Wissenschaft; unsere Akademie aber darf mit Stolz darauf hinweisen, daß wir sie nie anerkannt haben, und daß in dem Kreise, den Leibniz gezogen hat, für die freie Forschung von jeher Raum gewesen ist. In wie hohem Grade gerade Ihre Studien, Herr Harnack, ergänzend und belebend in diejenige Geschichtsforschung eingreifen, welche uns die Gegenwart verständlich macht, wie die griechisch-römische Zivilisation eben durch ihre meistenteils gegensätzliche Verschmelzung mit dem im Orient wurzelnden Christenglauben zu einem notwendigen Bestandteil der heutigen geworden ist, das mit einem Wort zu bezeichnen muß heute genügen; Ihre und meine und vieler anderer, die da waren und sind und sein werden, Lebensarbeit ist es, diesem in seiner vollen Höhe unerreichbaren Ziel näher und näher zu kommen. Aber einen der vielen 7

Momente, um deren willen wir Sie mit besonderer Freude als unseren Genossen begrüßen, gestatten Sie mir heute noch besonders zum Ausdruck zu bringen. Ich meine Ihre Gabe, jüngere Genossen zu fruchtbarer Arbeitsgemeinschaft zu gewinnen und bei derjenigen Organisation, welche die heutige Wissenschaft vor allem bedarf, als Führer aufzutreten. Sie empfinden es, daß die Aufgabe des rechten Akademikers eine andere und eine höhere ist, als sich Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu nennen und statt des bescheidenen Oktavformats unserer Zeitschriften im vornehmen Quart gedruckt zu werden. Auch die Wissenschaft hat ihr soziales Problem; wie der Großstaat und die Großindustrie, so ist die Großwissenschaft, die nicht von Einem geleistet, aber von Einem geleitet wird, ein notwendiges Element unserer Kulturentwicklung, und deren rechte Träger sind die Akademien oder sollten es sein. Als einzelner Mann haben Sie in dieser Richtung getan, was wenige Ihnen nachtun werden. Jetzt sind Sie berufen, dies im größeren Verhältnisse weiterzuführen; und die wenigen Monate, seit sie uns angehören, haben uns gezeigt, daß Sie es können, und daß Sie es wollen. Freilich hängt dies nicht allein von Ihnen und auch nicht allein von uns ab. Die Großwissenschaft braucht Betriebskapital wie die Großindustrie, und wenn dies versagt, so ist die Akademie eben ornamental, und müssen wir es uns gefallen lassen, von dem Publikum als Dekoration angesehen und als überflüssig betrachtet zu werden. Wir müssen es hinnehmen, aber es wird uns dies nicht leicht. Wenn der Soldat nichts leistet, so fragt man nicht viel danach, ob das Pulver gefehlt hat, oder der Mann versagt hat; ihm bleibt im ersteren Fall neben dem schmerzlichen Gefühl des vergeblichen Beginnens noch der bittere Eindruck des unverdienten Tadels.

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2 MEINE AUS

DEM

ZEITGENOSSEN

ACHTZEHNTEN

JAHRHUNDERT

(1929) Ich bitte meine verehrten Leser und Leserinnen, diese Uberschrift nicht f ü r seltsam oder gar f ü r anspruchsvoll zu halten — ich will einfach von Männern und auch von einer Frau erzählen, die noch im 18. Jahrhundert geboren sind und f ü r mein Leben bedeutungsvoll waren; dafür weiß ich keine bessere Überschrift. I m Alter löst man sich leise von der Gegenwart; statt dessen werden die Erinnerungen an die Vergangenheit lebhafter und schließen sich mit dem Ausblick auf die Generation der Enkel eigentümlich zusammen. Mir wenigstens geht es so, daß mich die Enkel zu jener Zeit zurückrufen, „da ich noch selbst i m Werden w a r " , aus der ,,die lieben Schatten" auftauchen, die einst mit lebendiger Kraft mein Leben mitbestimmt haben. Geboren bin ich 1851 zu Dorpat, wo mein Vater Professor der Theologie w a r ; aber schon i m Jahre 1853 siedelte er in derselben Eigenschaft nach Erlangen über, u m dann im Jahre 1866 in seine alte Stellung nach Dorpat zurückzukehren und dauernd dort zu bleiben. Ich habe also meine Kindheits- und Knabenzeit in Süddeutschland, die letzten Gymnasialjahre aber und meine ganze Studentenzeit im nordischen deutschen Kolonialland, in den baltischen Provinzen, verlebt. Von meinen Groß eitern habe ich n u r meine Großmutter mütterlicherseits gekannt; die anderen waren lange vor meiner Geburt gestorben; aber außer meiner Großmutter väterlicherseits, die schon als junge Frau dahingegangen ist, haben jene andere Großmutter und die beiden Großväter den Geist meines väterlichen Hauses fortwirkend aufs tiefste 9

bestimmt. Mein Großvater Harnack, als Geselle aus Ostpreußen nach Petersburg ausgewandert, war dort als angesehener Schneidermeister tätig; entscheidend aber f ü r sein inneres Leben wurde es, daß er sich in Petersburg Johannes E. Goßner anschloß, der 1820 bis 1824 dort gewirkt hat. Goßner, damals noch katholischer Geistlicher, aber aus jenem f r o m m e n Sailerschen Kreise in Bayern stammend, der auch die evangelische Frömmigkeit befruchtet hat, war von Freunden Alexanders I. nach Petersburg f ü r eine überkonfessionelle Evangelisation berufen worden. Der gottinnige, schlichte Mann, der später bekanntlich zum Protestantismus übergetreten ist und in Berlin bedeutende Werke der I n n e r e n und Äußeren Mission begründet hat, entfaltete in den wenigen Jahren seiner Petersburger Zeit eine große Wirksamkeit und zog auch meinen Großvater und seine Familie in seinen Kreis. Mein Vater ist später strenger L u t h e r a n e r geworden, aber nicht n u r hat er bis zuletzt in Verehrung Goßner Dank gewußt,sondern auch sein inneres Leben und seine Kirchlichkeit blieben durch die lebendige Frömmigkeit dieses Mannes bestimmt. Mit ihm hat er von einer Vermengung der Religion mit Machtpolitik nie etwas wissen wollen. Dieses Erbe rein und in Ehren zu halten und über die konfessionellen Zäune hinwegzuschauen, war mir stets ein tiefes Anliegen. Mein Großvater mütterlicherseits, Gustav E w e r s , ist als Bauernjunge in Amelunxen bei Corvey in Westfalen aufgewachsen, setzte es durch ungewöhnliche Anlagen und eisernen Fleiß durch, in Göttingen zu studieren, ging als Hauslehrer nach Livland, warf sich mit aller Kraft auf das damals kaum noch berührte Studium der russischen Geschichte, begründete die russische Rechtsgeschichte, wurde Professor an der neuen deutschen Universität Dorpat und brachte sie, Jahr u m Jahr zum Rektor gewählt, erst zu wirklicher Aktivität und Blüte. An seinem f r ü h e n Grabe (1830) bezeugte die Universität: ,,Die Werke seines Geistes m u ß der Tod stehen lassen; sie lassen sich nicht einsargen, sondern bleiben unter uns und zeugen überall von des Verewigten Gegenwart. Es m ü ß t e die ganze Universität begraben werden, wenn sein Andenken erlöschen sollte; denn es ist nichts an ihr, was nicht während seines zwölf-

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jährigen Rektorats seine wohltätige Wirksamkeit erfahren hätte und dadurch zu höherer Vollkommenheit gehoben worden w ä r e . " Seine Freunde stritten sich darum, ob er bedeutender als Gelehrter oder als Organisator gewesen ist; aber darin waren sie alle einig, und so ist es mir überliefert, daß er mit zielstrebiger, unbeugsamer Kraft in Wort und Tat eine bestrickende Liebenswürdigkeit verbunden hat und auch den echten niederdeutschen Humor und Witz. D e n eigentlichen genius loci almae matris Dorpatensis, der ihr bis zu ihrer Erdrosselung geblieben ist, hat er ins Leben gerufen. Ewers heiratete die Tochter der Familie, in die er als Hauslehrer gekommen war, ein Fräulein von Maydell. Durch diese Heirat rückte er ein in die baltische, deutsche Oberschicht mit ihrem eigentümlichen herrschaftlichen Lebensstil. Da die Tochter den Lebensstil in ihrem Hause fortsetzt, den sie bei der Mutter gelernt hat, wurde er in mein väterliches Haus übertragen, und wir Kinder sind nach i h m erzogen worden. Dieser Stil ist unabhängig von günstigen ökonomischen Bedingungen und Reichtum. Schon meine Großmutter Ewers war mit einer beträchtlichen Kinderzahl in sehr knappen Verhältnissen zurückgeblieben, und i m Hause meiner Eltern m u ß t e alles auf Sparsamkeit gestellt werden; aber dennoch behauptete sich dieser Stil mit seinen hohen Vorzügen und schweren Schatten. Meine Großmutter beherrschte ihn wie eine angeborene Eigenschaft; ihn zu charakterisieren ist hier nicht der Ort; aber er gehört zu dem „ P a ß " , den die Geburt mir, dem ostpreußischen Bürgerssohn, dem westfälischen Bauernjungen und dem livländischen Herrensohn ausgestellt hat, und er blieb bestehen, als mein Vater nach Erlangen übersiedelte, in die kleine, hochangesehene, fränkische Universitätsstadt. Dorpat—Erlangen: soziologisch kann man sich k a u m größere Gegensätze vorstellen; zwar unbefangen bin ich in Erlangen zum Leben und Denken erwacht, aber nachträglich und allmählich habe ich eingesehen, daß mein Vater und wir Kinder dort doch n u r als halbe Fremde gelebt haben. Die Art unseres Hauses war zu verschieden; aber wie mir im ganzen der E r i n n e r u n g das Wohltuende und Freudige 11

stärker entgegentritt als das Befremdliche, habe ich dort auch die ersten großen Eindrücke von Personen erlebt, zu denen ich mit Ehrerbietung und E h r f u r c h t aufschaute. D a war der alte Professor K o p p e n ; er ging noch in seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen, war in den siebziger Jahren geboren, und wenn mein Vater erzählte, der alte Herr habe noch Friedrich den Großen erlebt, so war er uns so alt wie Methusalem. Auf Spaziergängen im Schloßgarten suchten wir i h m immer wieder zu begegnen, u m ihn aufs neue begrüßen zu d ü r f e n ; mit i h m zu sprechen, wagten wir nicht. Aber das brauchten wir f ü r unsere Wißbegierde auch nicht; denn neben ihm, und nicht viel jünger stand in Erlangen ein Mann, den nicht n u r wir Kinder, sondern alle Professorenkinder Erlangens nie anders n a n n t e n als „Papa R a u m e r " , den wir fragen durften, soviel wir wollten, und der nicht n u r ein Studentenvater gewesen ist, sondern auch mit Liebe und Güte alle Kinder umfaßte. Karl von R a u m er, in den Freiheitskriegen Adjutant Gneisenaus, Professor der Mineralogie, Verfasser der „Geschichte der Pädagogik", eines Werkes, welches zur deutschen Nationalliteratur gehört, Verfasser einer „Geographie von Palästina", Herausgeber und kongenialer Ausleger der „Konfessionen Augustins", Mittelpunkt des neuerwachten religiösen und nationalen Lebens der Universitätsstadt, Freund der Enterbten und Armen, war in der Mitte des vorigen Jahrhunderts „ d e r " Erlanger Professor. W e n n der kleine Mann, stets im langen, bis zu den Knöcheln reichenden Überzieher und mit dem wuchtigen Knotenstock, durch die Straßen ging, hörte nicht n u r das G r ü ß e n nicht auf, sondern bald begleiteten ihn eine kleine Schar von Buben, bald ein paar Kollegen u n d Bürger, und unermüdlich war er im Erzählen von Gneisenau und Blücher, von dem Kapellmeister Reichardt, seinem Schwiegervater, dem Freunde Goethes und dem Komponisten vielgesungener Volkslieder, von Goethe selbst, von Schlesien, Frankreich und Palästina. Was er aber auch erzählte —- immer verstand er es zu entflammen, zu begeistern und zu erheben. Am liebsten aber verweilte er bei Gneisenau und Goethe, und schon der Knabe merkte es, daß er sich mit ganzer

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Seele gegen diejenigen wandte, die in Goethe das „Weltkind" und „den großen Heiden" sehen wollten; für ihn stand Goethe in der Epoche seiner Vollendung dem Christentum ganz nahe, und so sollten ihn alle Deutschen verstehen und verehren. Nahe bei Raumer steht in meiner Erlanger Erinnerung der Rektor des Gymnasiums und Professor der alten Philologie Ludwig D ö d e r l e i n — nahe, aber doch getrennt; denn hier ließ die Würde und Höhe keine Vertraulichkeit aufkommen. Ich habe niemals in meinem Leben wieder solchen Respekt vor einem Manne empfunden als ihm gegenüber, und unwillkürlich, wenn sich meine Phantasie die großen Gesetzgeber in der Geschichte vorstellt, sehen sie alle Döderlein ähnlich. Meine Leser werden nun verstehen, welchen Eindruck folgendes Erlebnis mit diesem ausgezeichneten Pädagogen auf mich machen mußte: Es war, glaube ich, im Jahre 1862, an Schillers Geburtstage, als der Rektor plötzlich in unsere Klasse trat — es geschah das ganz selten — und die Klasse fragte, ob einer den „Taucher" aufsagen könne. Ich erhob den Finger, wurde aufs Katheder beordert und deklamierte; er selbst hatte unten auf einem Stuhl Platz genommen. Als ich fertig war, sagte er: „Komm herunter, setz dich hier auf meine Knie"; ich tat es. „Siehst du," fuhr er fort, „als ich so alt war wie du, habe ich so auf Schillers Knie gesessen, und er hat mir selbst den „Taucher" deklamiert; nun kannst du dich wieder auf deinen Platz setzen." Mir war's im Moment so, als hätte ich Schiller leibhaftig gespürt! Von meinen Erlanger Eindrücken aus der Generation der Großväter kann ich aber nicht scheiden, ohne zweier Männer zu gedenken, die ich zwar persönlich nicht gesehen habe, die aber nicht nur blitzartig wie Schiller mir persönlich nahe kamen, sondern die wie bewunderte Hausgenossen in unserem Leben standen: Ernst Moritz A r n d t und Friedrich R ü c k e r t . Jenen hatte mein Vater als Kandidat in Bonn kennen und verehren gelernt und übertrug diese Verehrung auf uns Kinder. Ein großes Bild von ihm hing in unseres Vaters Stube, und durch seine Erzählungen und die patriotischen Lieder Arndts, die wir auswendig lernten, wurde uns das Bild so vertraut, als lebte es. Wir empfanden 13

es daher als einen persönlichen Verlust, als uns unser Vater eines Tages zusammenrief und sagte: „Kinder, ein schweres Leid: Ernst Moritz Arndt ist gestorben." Nach unserer Vorstellung konnte der Mann, den uns unser Vater in ewiger Jugend vorgestellt hatte, überhaupt nicht sterben; die Trauerbotschaft schien uns daher zuerst uiifaßlich. Mit Rückert aber verband uns von frühester Jugend die Freude an seinen Gedichten, die uns mein Vater stufenweise vorlas von den einfachsten bis zu den „Makamen", „Nal und Damajanti" und ungezählten anderen. Mir waren die trockenen Gedichte fast ebenso lieb wie die schwungvollen, und ich empfand schon frühe die Richtigkeit des Wortes auf Rückert: „Pflanze eine dürre Regel in Rückerts Garten, .und sie wird grünen und blühen." Unser heißes Sehnen ging darauf, den verehrten Dichter persönlich kennenzulernen, der nicht sehr weit von Erlangen im Dörfchen Neusees bei Koburg wohnte. Da hieß es eines Tages: „Kinder, zu Pfingsten gehen wir nach Koburg und marschieren in der Gegend dort!" — „Werden wir Rückert sehen?" — „Schwerlich, wir haben kein Recht, den alten Mann durch einen Besuch zu stören." Wir kamen nach Koburg, und wir erlangten es auch bei unserem Vater, daß wir an einem Vormittag in Neusees auf der Lauer liegen durften, jedoch vergebens. Rückert verließ sein Haus nicht, und der Besuch blieb uns verboten. So habe ich ihn nicht leibhaftig gesehen; aber sein Bild schwebt mir so deutlich vor, als hätte ich ihn oftmals gesprochen. Wir kehrten im Jahre 1866 in die alte Heimat, Dorpat, zurück, deren Stempel uns bereits aufgeprägt war, und in der ich die entscheidenden Lebensjahre durchleben sollte. An Männern und Frauen ältester Generation war sie nicht reich; aber der originellste Mann der alten Zeit, der mir begegnet ist, und der bedeutendste Naturforscher, den ich kennenzulernen das Glück gehabt habe, waren Balten. Jener war der allen Kunstkennern wohlbekannte livländische Baron Karl von L i p h a r t , dieser der Estländer Karl Ernst von B a e r . Liphart, der bald in Dorpat, bald in Florenz lebte, das zuletzt sein ständiger Wohnsitz war, hatte uns in Erlangen als nächster Freund meines Vaters 14

und Patenonkel öfters besucht. Ob er noch im 18. Jahrhundert geboren ist oder etwas später, weiß ich nicht; doch er war der ausgeprägteste Grandseigneur der vorrevolutionären Zeit, darin aber Original, daß er die alten weltmännischen Formen mit schonungsloser Kritik und souveräner Grobheit verband, und niemand es ihm übel nahm. Sein unermeßliches Gebiet war die Hochrenaissance, die er als Entdecker und Interpret beherrschte, als deren Apostel er sich empfand und um deren Verständnis er sich die größten Verdienste erworben hat. An ihrer Herrlichkeit wollte er jedermann teilnehmen lassen, behandelte aber dabei die Unwissenheit der Menschen als selbstverschuldete Dummheit, einerlei, ob er eine Großfürstin oder seinen Diener Carlo vor sich hatte. Seinen Lehrtrieb dehnte er auch auf andere Gebiete aus, und da er den herrschenden Schulunterricht als Erziehung zum Stumpfsinn beurteilte, griff der alte Herr bei Besuchen durch Examinieren bald im Latein, bald in der Geographie oder in anderen Fächern ein, und nach meiner Erinnerung immer mit Erfolg. Noch steht mir eine Karte von Spanien vor Augen, die er mit wenigen Strichen vor uns entwarf, nachdem er uns „dumme Esel" genannt hatte, weil wir zwar aus der politischen Geographie Spaniens allerlei wußten, aber von der Bodengestaltung und dem Zusammenhang von ihr und der Besiedelung keine Ahnung hatten. Seinen Kopf hat Lenbach wohl ein dutzendmal gemalt; denn er war der sprechendste Ausdruck der Eigenart des seltenen Mannes, der hinter der stacheligen Außenseite das zarteste Herz und ein tiefes Gemüt verbarg. Auf einem Abendspaziergang mit mir auf der Höhe um Florenz im Jahre 1874 repetierte der Greis laut Stellen aus dem Faust und brach bei dem Monologe von dem eingeborenen Triebe nach der Höhe und der Heimat in Tränen aus. Karl Ernst von Baer, der große Biologe, der Begründer der Entwicklungslehre, hatte sich für seinen Lebensabend aus Petersburg nach Dorpat zurückgezogen und pflegte auch noch im höchsten Alter einen gehaltvollen geselligen Verkehr. In dieser Zeit — ich war damals Student — bewegte der Darwinismus die Köpfe und Gemüter aufs tiefste, und natürlich wollte jedermann wissen, wie Baer über die 15

einschneidenden Fragen urteilte. Er hatte lange vor Darwin zu den schwebenden Problemen Stellung genommen; siehe seine gesammelten „Reden, gehalten in wissenschaftlichen Versammlungen, und kleinere Aufsätze vermischten Inhalts" (Petersburg, 1864), die noch heute keineswegs veraltet sind, die nicht veralten können, und die ich hiermit meinen Lesern aufs beste empfehle. I n diesen Kundgebungen hat er die Deszendenztheorie zum Ausdruck gebracht, zugleich aber den Begriff der „Zielstrebigkeit" der Zelle eingeführt, kraft welcher die aufsteigende Entwicklung in ihr angelegt ist. Man m u ß t e deshalb erwarten, daß er die Darwinsche Erklärung der fortschreitenden Entwicklung der Organismen (durch die Zuchtwahl) ablehnen oder f ü r ungenügend halten würde. Und so geschah es auch, aber es geschah mit der größten Zurückhaltung. Der tiefe Forscher hielt mit seinen Ansichten nicht hinter dem Berge, aber zog keine Schlußstriche und Bilanzen, sondern begnügte sich damit, die „Beweise" Darwins in bezug auf die Zuchtwahl i m einzelnen zu kritisieren und das Unzureichende einer bloß mechanischen Betrachtung nachzuweisen, ohne eine vitalistische „Theorie" aufzustellen. Vor allem aber war er darauf bedacht, die Meinungen der jungen Dorpater Naturforscher und Philosophen zu hören, die sich u m ihn versammelten, und seine Gedanken mit ihnen auszutauschen. Ein paarmal ist es mir, dem Studenten, vergönnt gewesen, solchem Austausch beizuwohnen und einen unvergeßlichen Eindruck davon zu erhalten, wie ein echter Naturforscher seine Probleme anpackt und mit welcher Umsicht er sie behandelt. Aus diesen Baer-Abenden drangen Vorkommnisse und Episoden an die Öffentlichkeit und wurden überall in baltischen Landen aufs eifrigste besprochen. Nur zwei will ich erwähnen; sie zeigen zugleich, welch treffsichere Kürze dem großen Forscher zu Gebote stand. An einem Abend wurde über die Entwicklung des Kehlkopfs gesprochen und dabei u n t e r anderem die Frage behandelt, w a r u m die Affen nicht sprechen. Es erhob sich darüber eine kurze Debatte, an der sich Baer nicht beteiligte, sie dann aber, als m a n seine Meinung hören wollte, mit den Worten schloß: „ W a r u m die Affen nicht sprechen? Sie haben sich nichts zu sagen." Ein

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anderes Mal ödete ein anwesender Philosoph die Versammlung dadurch, daß er, wie schon f r ü h e r öfters, bei jedem Problem bemerkte: „Aristoteles hat schon gesagt," „Demokrat hat schon gesagt" usw. Das wurde dem alten Herrn lästig, und er bemerkte: „Herr Kollege, Sie haben uns n u n schon so oft gesagt, was die alten Griechen gemeint haben, wollen Sie uns nicht endlich auch Ihre Meinung sagen?" — „ G e r n , " erwiderte der Angeredete, „der Darwinismus braucht f ü r seine Konstruktionen die Zeit, und die Zeit existiert nicht." Darauf Baer: „Herr Kollege, mit solchen D u m m h e i t e n lassen wir uns nicht abspeisen." Grobheit lag i h m sonst ferne; u m so erfrischender wirkte sie diesmal. Heute leben n u r noch ganz wenige, die m i t diesen Überlieferungen die persönliche Erinnerung an den b e r ü h m t e n Landsmann verbinden; aber auf dem Domberge in Dorpat steht in Erz gegossen sein D e n k m a l ; hoffentlich wird es die estnische Republik in Ehren halten, und hoffentlich wird die biologische Wissenschaft allüberall neben Darwin des Balten Baer gedenken. W e n n ich aber der Greise i m Norden gedenke, die auf mich eingewirkt haben, so gesellt sich stets wie eine Erscheinung aus dem Grabe ein Mann neben sie, dessen Namen ich längst vergessen, und von dem ich überhaupt n u r e i n Wort gehört habe, das mich aber aufs tiefste erfaßte. Als ich zwölf Jahre alt war, machte meip. Vater mit uns von Erlangen aus eine Besuchsreise in die alte Heimat. Dort hörte er, daß in Peterhof noch ein alter Gymnasiallehrer lebe, den er besonders verehrt hatte. Er beschloß, ihn mit uns aufzusuchen. Wir traten in ein kleines, halbdunkles Zimmer, und dort lag auf dem Bett ein Greis mit langen, weißen Haaren, fast blind und schwer krank. Es dauerte ziemlich lange, bis er erfaßte, daß es mein Vater, sein alter Schüler, war, der mit seinen drei Söhnen vor i h m stand; dann aber richtete er sich auf, u m a r m t e ihn schweigend und fiel in die Kissen zurück. Noch einmal richtete er sich auf, wandte sich gegen uns und rief uns mit fester Stimme zu: „Meine lieben Söhne, merkt euch: Der Weltkreis ist voll Geist des H e r r n , und der die Rede kennet, ist allenthalben." D a n n sagte er nichts mehr. Mir aber drang dies Wort — es stammt aus der wenig 2

H a r n a c k , Auswahl

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gelesenen „Weisheit Salomonis" — wie ein starker Lichtstrahl in die Seele, und allen Anlaufen des Weltüberdrusses gegenüber hat es sich behauptet. So kann die E r f a h r u n g e i n e r Minute Lebenskräfte schaffen! — — Von Dorpat siedelte ich als Kandidat i m Jahre 1872 nach Leipzig ü b e r ; die Generation der Großväter, die mir etwas bedeutete, wurde immer spärlicher; aber doch habe ich noch das Glück gehabt, drei Personen kennen zu lernen, die sich den verehrten Alten zugesellten, und unter ihnen eine Frau, die mir eine großmütterliche Freundin wurde. Frau P l a t z m a n n - P r e u ß e r , die Witwe eines begüterten Kaufmanns und das H a u p t einer verzweigten Familie, in der sie schon Urenkel begrüßte, lebte f ü r sich in behaglicher W o h n u n g oder auf Reisen. Wie ich sie kennengelernt habe, weiß ich nicht m e h r ; aber vom ersten Tage an bildete sich durch ihre Güte ein Band zwischen uns, das i m m e r fester wurde. I n der alten Dame loderte ein Feuer, das der Schnee des Alters nicht zu löschen vermochte, und waltete ein edler Lebenshunger, der unstillbar war. Und was hatte sie alles erlebt I Aus dem Fenster des elterlichen Hauses in Leipzig hatte sie mit angesehen, wie Napoleon nach der verlorenen Schlacht bei Leipzig sich von seinen Generalen verabschiedete; als junge Frau hat sie mit ihrem Manne Griechenland bereist zu einer Zeit, in der das noch ein Wagnis war, und die Antike war ihr in aller Herrlichkeit aufgegangen; mit Goethe war sie in Marienbad und hatte die Episode mit Ulrike v. Levetzow und die Spaziergänge auf der Promenade miterlebt — „wir alle merkten etwas, aber Ulrike merkte gar nichts", berichtete sie. Goethe fand Gefallen auch an der beweglichen Leipzigerin und schrieb ihr die Worte ins Stammbuch: Löblich ist ein tolles Streben, Wenn es kurz ist und mit Sinn; Heiterkeit und Erdeleben Sei des flücht'gen Rauschs Gewinn.

Ich kann bezeugen, wie treffend diese schalkhafte M a h n u n g gewesen ist, aber auch, daß ihr der beste Erfolg nicht gefehlt hat. Diese n u n hochbetagte D a m e — sie war keine ,,Bet-

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t i n a " , noch welliger aber ein Blaustrumpf — wurde in Leipzig meine groß mütterlich sorgende Freundin, bei der ich nicht selten speiste, und die sich bald auch u m die häuslichen Dinge des Junggesellen kümmerte. D e n Hauptgegenstand unserer Gespräche bildete Goethe. Bei der höchsten Verehrung stand sie i h m mit n ü c h t e r n e m Realismus gegenüber — daher sind mir ihre Eindrücke so wertvoll geworden — ; aber neben Goethe war sie es selbst in ihrer Frische, Originalität und Güte, die mich fesselte; in ihr empfand ich den Ausklang der Kultur des 18. Jahrhunderts in einer Frau. Die Frauen der nächstfolgenden Generation hatten es nicht leicht, mit diesen Eindrücken zu rivalisieren! Die beiden Männer des 18. Jahrhunderts, die ich noch kennengelernt habe, waren zwei berühmte Theologen, deren Kollege ich sogar noch als junger Ordinarius geworden bin, K a r l H a s e in Jena und D ö l l i n g e r i n M ü n c h e n ; mit jenem bin ich mehrere Male in Rom und Jena zusammengetroffen ; dieser hatte die Güte, mich einmal nach Tegernsee, wo er in den Ferien weilte, einzuladen. Auch auf Karl Hase lag ein Strahl Goethescher Überlieferung; noch bei dessen Lebzeiten war er nach Jena berufen und ist von i h m empfangen worden. Unter den Theologen n a h m er eine einzigartige Stellung ein. Er hat das Verdienst, dem seichten Rationalismus ein Ende gemacht zu haben, ohne den reaktionären Strömungen zu verfallen oder sich der Hegeischen Philosophie anzuschließen. Er ist der Verfasser der einzigen protestantischen Kirchengeschichte, die auch der Laie mit G e n u ß und Gewinn lesen kann. Der Leser wird sich freilich die letzten Entscheidungen von anderswoher holen müssen, aber mit dankbarer Bewunderung erkennen, mit welchem Feinsinn und mit welcher Liebe dieser Kirchenhistoriker die einzelnen Erscheinungen der Geschichte dargestellt u n d gewürdigt hat. Besonders ist auch die katholische Kirche verständnisvoll von i h m durchleuchtet worden, und sein W e r k „Protestantische Polemik" verdient es, noch heute gelesen zu werden. Er war in der Stadt Rom heimisch wie kein zweiter evangelischer Theologe und hat mir scherzend einmal gesagt: „Ich kenne n u r zwei.Städte in der Welt, Rom und J e n a " ; 2'

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denn einen feinen Scherz hatte er stets auf den Lippen. Das e r f u h r ich gleich bei der ersten Bekanntschaft: Es war in Rom i m Jahre 1874, wo ich ihn traf. Wir waren vier neugebackene Leipziger Privatdozenten, und er lud uns sofort zu einer Tagesfahrt i m offenen Wagen nach Tivoli ein. Als Jüngster saß ich auf dem Bock u n d nach livländischer Gewohnheit n a h m ich d e m Kutscher die Zügel ab und kutschierte. I n der Campagna begegnete uns eine große Herde Ochsen, die uns den Weg streitig machte. Das langsame Fahren dauerte mir zu lange, und ich riskierte einen Durchbruch. Da fühlte ich auf meiner Schulter eine H a n d ; es war der alte Hase, der sich besorgt erhoben hatte: „Fahren Sie langsam, Herr Kollege; es werden sich I h n e n in I h r e m Leben noch manche Ochsen in den W e g stellen." Noch im höchsten Alter, wie die Vorrede zur letzten Ausgabe der Kirchengeschichte des fast Neunzigjährigen beweist, verließ ihn die Fähigkeit nicht, mit wenigen Worten viel und Treffendes zu sagen. Einen größeren Gegensatz u n t e r gleichalten Fachgenossen als den zwischen Hase und Döllinger kann man sich k a u m denken. Döllinger war die personifizierte Gelehrsamkeit und der personifizierte Verstand, aber — wie m a n trocken und glänzend zugleich schreiben kann, kann man von i h m lernen. Gelehrsamkeit und Verstand, ferner der große Respekt vor den geschichtlichen Tatsachen und vor der Überlieferung, dazu sein Deutschtum, haben Döllinger zuletzt von seiner Kirche getrennt; aber bei dem unvergeßlichen einzigen Zusammensein mit i h m habe ich erkannt, daß der Bruch nicht bis auf den Grund ging. „Hätte mich der Erzbischof Scherr nicht ausdrücklich gefragt, ob ich fortan die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes vertreten werde, so wäre ich noch heute in der Kirche." So sprach er zu mir. Sein dreibändiges Werk über die Luthersche Reformation, die bedeutendste katholische Streitschrift, die jemals gegen die Reformation erschienen ist, würde er i m Dogmatischen auch später noch wissenschaftlich so geschrieben haben; aber an zwei Hauptpunkten hat Döllinger nach 1870 seine früheren Urteile geändert: Jetzt schaute er aus nach einer Wiedervereinigung aller christlichen Konfessionen, die i h m nicht einfach eine Rückkehr

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aller nach Rom bedeutete, und jetzt hatte er ein neues Urteil über L u t h e r als Persönlichkeit gewonnen: „Es h a t " , schreibt Döllinger, „nie einen Deutschen gegeben, der sein Volk so intuitiv verstanden hätte und wiederum von der Nation so ganz erfaßt, ich möchte sagen, von ihr so aufgesogen worden wäre, wie dieser Augustinermönch zu Wittenberg. Sinn und Geist der Deutschen war in seiner Hand wie die Leier in der Hand eines Künstlers. Was die Gegner i h m zu erwidern oder an die Seite zu stellen hatten, das n a h m sich matt und kraft- und farblos aus unter seiner hinreißenden Beredsamkeit. Sie stammelten, er redete; n u r er war es, der, wie der deutschen Sprache, so dem deutschen Geist das unvergängliche Siegel seines Geistes aufgedrückt hat, und selbst diejenigen unter den Deutschen, die ihn von Grund der Seele verabscheuen als den gewaltigen Irrlehrer und Verführer der Nation, können nicht anders: sie müssen reden mit seinen Worten, denken mit seinen Gedanken." Mit diesem erhebenden Zeugnis Döllingers will ich diese Aufzeichnungen schließen. I n unserem Zeitalter der „Sachlichkeit" steht die „Geschichte" nicht hoch i m Kurs; aber der Sinn f ü r das Biographische und das Verlangen nach i h m hat nicht abgenommen, sondern hat sich • verstärkt. Hier zeigt sich eine Brücke, die zurück zur Geschichte f ü h r t , ohne deren Kenntnis es keine Bildung gibt, und im Vertrauen auf diese Entwicklung habe ich diese Erinnerungen geschrieben.

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II ZUR

RELIGIONSWISSENSCHAFT

U N D KIRCHEN GESCHICHTE

1 SOKRATES

UND DIE ALTE

KIRCHE

(1900)

Die akademische Sitte weist den Rektor an, das neue Studienjahr mit der Betrachtung eines wissenschaftlichen Problems von allgemeiner Bedeutung zu eröffnen. Indem ich dieser Sitte folge, lade ich Sie ein, sich mit mir in ein entferntes Zeitalter zu begeben. Fürchten Sie aber nicht, daß ich Sie aus dem hellen Tag, der uns strahlt, in ein unfreundliches Dunkel führe. Nur die Geschichte, die noch nicht vergangen ist, die ein Teil unserer Gegenwart ist und bleibt, hat Anspruch darauf, von allen gekannt zu werden, und für eine Episode aus dieser Geschichte erbitte ich mir Ihre Teilnahme. Wie sich die christliche Religion und die griechische Philosophie, oder daß ich besser sage: die griechische Kultur gefunden und mit welchen Augen sie sich betrachtet haben in dem Momente, als eine der anderen zuerst aufleuchtete, wie sie dann ihre Schätze verglichen haben und Einiges nun in doppeltem Lichte strahlte, Anderes aber erlosch — das ist ein Schauspiel, das zurückzurufen der Betrachtende nie müde werden kann. Aber nicht nur wie ein Schauspiel steht es vor seinen Augen. Die Werte, die ihn bewegen in Gefühl und Tat, in der tiefsten Empfindung und in der höchsten Anspannung des Eigenlebens, und wiederum in Familie und Beruf, in Kirche und Staat — alle die Werte, die den eigentlichen Sinn des Lebens ausmachen, sind geprägt worden in jenem widerspruchsvollen Bunde, der in dem zweiten und dritten Jahrhundert zwischen Griechentum und Christentum geschlossen worden ist. In der Tat eine concordia discors, denn von beiden Seiten empfand man Gemeinsames und bemerkte doch Trennendes. Das Gemeinsame waren Güter, aus dem Trennenden ent25

wickelten sich Aufgaben: so sind die Spannungen nicht minder wirksam und segensreich geworden als der doppelt versicherte Besitz. Dort wie hier aber war es je eine Persönlichkeit, in der alles Hohe zusammengefaßt, begründet und verwirklicht erschien. Für das Christentum ist das ohne weiteres klar: in der Person Christi wurde das neue Leben mit allen seinen Gütern angeschaut. Aber auch das Griechentum, sofern es sich als Erhebung über das sinnliche Leben, als ideale Weltanschauung und ernste Sittlichkeit darstellte, besaß einen führenden Heros. W a r er auch nicht so ausschließlich der Führer wie Jesus Christus, so war er doch die Größe, vor der bald jeder Grieche sich beugte und die er als den Begründer eines höheren Lebens verehrte — S o k r a t e s . Jesus Christus und Sokrates: die beiden Namen bezeichnen die höchsten Erinnerungen, welche die Menschheit besitzt. Zwar war es Sokrates nicht beschieden, wie Philo, Josephus und Virgil, eine Stelle unter den Kirchenvätern zu erhalten, aber etwas viel Größeres hat die Geschichte i h m gespendet. Sie hat seinen Namen, wenn auch in weitem Abstände, mit dem Jesu Christi verbunden. Vom zweiten Jahrhundert ab steht diese Verbindung vor den Augen der empfindenden und denkenden Menschheit als Konsonanz und als Dissonanz, vor allem als ein wundervolles Problem, an dem sich jedes Jahrhundert hat versuchen müssen. D e n n es gibt Probleme in der Geschichte, die niemals erledigt werden und die jede Generation neu anfassen m u ß . Zugleich aber läßt sich hier mit Händen greifen, daß es in der Geschichte der Gedanken die Personen sind, welche die Geschichte machen. Gewiß, sie kamen, weil die Zeit erfüllt war, aber die Weisheit, welche lehrt, daß sie kommen m u ß t e n , steht auf der Höhe der Einsicht, daß überhaupt alles so gekommen ist, wie es kommen mußte. Christus und Sokrates — u n t e r diesem Titel kann man ein großes Stück der Geistes- und Religionsgeschichte von zwei Jahrtausenden beschreiben. Wie ernsthaft hat sich noch das vorige Jahrhundert u m dies Problem bemüht — seine Dichter, seine Philosophen und seine Aufklärerl H a m a n n s T i e f s i n n , M e n d e l s s o h n s u n d E b e r h a r d s klare 26

Verständigkeit, M a t t h i a s C l a u d i u s ' bewegliche Mitempfindung, W i e l a n d s weltmännischer Blick, K l o p s t o c k s Begeisterung haben sich an dem Probleme versucht. Einst war Portias, der Gattin des Pilatus, Traum, in welchem ihr Sokrates erschien, allen gebildeten Deutschen bekannt, und der Dichter des Messias ist um dieser ergreifenden Episode willen aus höchste gepriesen worden. Aber auch noch in unserem Jahrhundert, in welchem Weltanschauung, Wissenschaft und Dichtung immer mehr auseinandergetreten sind und der Poet, ja selbst der Philosoph, selten mehr um die höchste Palme ringt, ist das Problem nicht ganz vergessen. Man braucht auch kein Prophet zu sein, um verkündigen zu dürfen, daß es uns in den nächsten Jahrzehnten wieder mit ganzer Macht beschäftigen wird. Aber nicht die lange Kette jener Bemühungen gedenke ich Ihnen vorzuführen, sondern, zum Anfang zurückkehrend, möchte ich Ihre Teilnahme für die Frage erwecken, wie von den Christen im vorkonstantinischen Zeitalter Sokrates empfunden und betrachtet worden ist. Darf ich Sie zunächst an einige Hauptzüge des großen Philosophen erinnern? Bei Griechen und Römern lebte er fort ausschließlich in dem Bilde, welches Plato von ihm gezeichnet hatte. Dieses Bild hatte nicht nur seine Verklärung und Weihe, sondern auch seinen wesentlichen Inhalt durch den Tod empfangen. Sieht man von diesem ab, so erscheint Sokrates als ein Sophist im höheren Sinn des Worts, der es verstand, seine Gegner mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Wie sie beseitigte er die objektive Spekulation; wie sie hatte er nur für das Individuum in seinem intellektuellen und moralischen Zustande Interesse; wie sie lehnte er es ab, aus der Sitte und Uberlieferung die Entscheidung über das Pflichtmäßige zu treffen; endlich wie bei ihnen führte auch bei Sokrates die vernünftige Überlegung noch nicht zu einem systematischen und gegeschlossenen Wissen, sondern das begriffliche Denken war ihm nur ein Prinzip von Fall zu Fall. Aber freilich, an einem entscheidenden Punkte unterschied er sich von den Sophisten: die vernünftige Überlegung führte ihn nicht auf den jedesmaligen eigenen Vorteil des Individuums, sondern 27

letztlich auf etwas Allgemeines, Bleibendes, eine Art von kategorischem Imperativ. I n diesem Sinn Schloß sich doch bei i h m das Denken zu einer Einheit, einer Art von Weltanschauung- zusammen, deren Ausgangspunkt das I n n e n leben war und die von einem idealen und ethischen Gedanken beherrscht wurde. Aber wie wenig war diese Lehre an und f ü r sich noch imstande, wie ein Evangelium zu wirken und epochemachend einzugreifen! Das wesentliche Element fügte Sokrates ihr erst durch seinen Tod hinzu. Der Kerker und der Schierlingsbecher sind die eigentlichen Mittel seiner Philosophie gewesen; denn durch sie hob er seine Lehre aus dem Gebiet der dialektischen Kunst und bloßer Worte auf die Höhe der Tat und verlieh dem ideellen Gedanken schlechthin Autorität und Objektivität. So ist es von Plato, so von Tausenden nach i h m empfunden worden. I n die griechische Welt, in diese heitere Welt der Sinnenfreudigkeit und des Genusses, hat Sokrates die Gewißheit und den Ernst eines höheren Lebens gebracht — der sterbende Sokrates, nicht der lehrende, oder der lehrende n u r insofern, als er in der Todesstunde lehrte. Die Anklage, u m deren willen er verurteilt worden war, erhielt hierdurch einen ganz neuen Sinn. Verurteilt worden war er, weil er neue Götter lehrte und weil er die Jugend zum Ungehorsam gegen die Eltern und Staatsgesetze verf ü h r t e : das behauptete die demokratische Reaktion, deren politisches Opfer er geworden war. Seine Schüler und Verehrer m u ß t e n umgekehrt überzeugt sein, daß eben das das Gerechte und Gute sei, u m dessen willen man ihn verurteilt hatte. Eine vollständige U m w e r t u n g der Werte war damit gegeben: u n b e k ü m m e r t u m den Staat, u m Sitte und Gewohnheit sich lediglich von persönlicher Überzeugung und freier SeJbstentscheidung leiten zu lassen, der sittlichen P r ü f u n g nach den höchsten Maß Stäben und der inneren Stimme allein zu folgen, das ist das Gute. Und noch etwas, — Leiden, Entbehrung, Verfolgung, der Tod sind keine Übel, sondern können in Quellen der Kraft verwandelt werden; das irdische Leben ist der Güter höchstes nicht, denn es hat ein höheres Leben in sich und über sich; endlich, selbst die Staatsgötter, die olympischen Götter alle, verblassen an Macht und Autorität vor dem

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Gott, der tief das Innerste erregt. Das sind die Empfindungen und Überzeugungen, die Sokrates durch seinen Tod in der Antike entbunden hat, und die die Grundpfeiler einer neuen Weltanschauung in Griechenland geworden sind. Es bedarf nicht vieler Worte, damit man erkenne, wie verwandt das alles die Christen berühren mußte. Je einfacher und reiner sie ihren eigenen Besitz empfanden, u m so deutlicher m u ß t e ihnen die Übereinstimmung sein. Aber andererseits — wie groß war doch wiederum der Unterschied! Dieser Sokrates verlegte alle höheren Güter in das Gebiet der Erkenntnis; sie, die Christen, aber waren angewiesen, alle menschliche Erkenntnis mißtrauisch zu betrachten. Er rief zum Wissen, sie aber zum Glauben. Er ließ die Götter gelten; sie aber betrachteten sie als Dämonen. Er zeigte den Weg zur Selbsterlösung; sie kannten einen Erlöser und hofften auf ihn. Wie können so viele Gegensätze bestehen bei soviel Gemeinschaft? Ein Jahrhundert lang hören wir in christlichen Kreisen nichts von Sokrates, nicht einmal den Namen. Paulus schweigt über ihn, obschon er von griechischer Philosophie nicht ganz unberührt geblieben ist. Auch i m Gefängnis erinnert er sich nicht an den verhafteten Philosophen. Nicht einmal die Legende hat es gewagt, dem Apostel ein Urteil über Sokrates in den Mund zu legen, obschon sie ihn mit Seneca zusammenbringt. „ W e n n unsere Bekenner etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nicht schaden" bezeugen die Christen; aber Sokrates erwähnen sie nicht. Erst u m die Mitte des zweiten Jahrhunderts wird sein Name in unseren Quellen zum erstenmal genannt, und von n u n an verschwindet er nicht mehr. Es sind die christlichen Apologeten gewesen, die ihn aufgenommen haben, jene Männer, die das Christentum auf den Boden der griechischen Philosophie, ja überhaupt des Griechentums, hinüber pflanzten. Und — daß ich es gleich sage — der erste, der dies mit ungemeiner Energie getan hat, ist zugleich derjenige, der Christus und Sokrates einander a m nächsten gerückt hat, der Apologet Justin. U m das Jahr 150 hat er eine umfangreiche Verteidigungsschrift f ü r das Christentum an die Kaiser Antoninus Pius und Marc Aurel, an den Senat und das ganze römische Volk gerichtet.

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I n dieser Schrift streift er nicht n u r Sokrates und seine Lehre, sondern die Beziehung auf sie bildet vom ersten bis zum letzten Blatt ein Hauptmittel der Verteidigung und des Beweises. Er weiß, daß seine kaiserlichen Adressaten Sokrates über alles schätzen; deshalb hat er seine Schrift durchflochten mit platonischen Zitaten und mit Anspielungen auf die letzten Reden des Philosophen. Aber er selbst ist als Christ ein Verehrer des Sokrates geblieben, und darum argumentiert er zuversichtlich und unbefangen von i h m aus f ü r die Christen und f ü r Christus. Wir Christen alle erleiden heute das, was Sokrates erlitten hat, weil wir wie er denken und handeln; wir sind mit i h m ungerecht verurteilt; wir sind mit i h m im Kerker; wir werden mit i h m getötet und — wir sind mit i h m unverwundbar; denn Anytus und Meletus können uns wohl töten, aber schaden können sie uns nicht. Das ist keine Rhetorik, das ist auch nicht zufällige Übereinstimmung, nein — Justin ist tief davon durchdrungen, daß sich in der Verurteilung der Christen die Verurteilung des Sokrates wirklich fortsetze. Diese Überzeugung m u ß er beweisen, und er beweist sie; denn so lauten seine Worte: „Als Sokrates die Menschen von den Dämonen abzuwenden versuchte, da haben es diese dahin gebracht, daß er als ein Gottesleugner und Frevler sterben m u ß t e ; denn sie ließen die Behauptung verbreiten, er f ü h r e neue Gottheiten ein. Dasselbe t u n sie heute uns gegenüber; denn nicht n u r bei den Griechen hat der Logos die falsche Religion durch Sokrates widerlegt, sondern auch bei den Barbaren ist dies geschehen. Dort aber ist er persönlich erschienen und hat als Jesus Christus die Dämonen ü b e r w u n d e n . " Und an einer anderen Stelle: „Alle die mit dem Logos gelebt haben, die waren Christen, wenn sie auch als Gottesleugner galten, wie unter den Griechen Sokrates." Und an einer dritten: „Unter allen Philosophen ist Sokrates der beste gewesen; denn er hat Homer und die Götter der Dichter verschmäht, dagegen die Menschen angewiesen, den imbekannten Gott mittelst des Logos zu suchen und zu erkennen; er selbst hat Christus zum Teil erkannt; denn Christus ist die persönliche Erscheinung des Logos, der jedem Menschen inne w o h n t . " Sokrates und Christus gehören also zusammen und werden 30

Von Justin der griechischen Religion entgegengesetzt. Sie gehören aber zusammen, weil ein und derselbe Logos in Beiden gewaltet hat. Enger kann man die Verbindung nicht fassen; aber Justin ist dabei nicht blind gegenüber dem Unterschied. Dieser Unterschied ist ihm ein gewaltiger; denn, so führt er aus: Sokrates war nur ein Werkzeug des Logos, in Christus aber ist dieser selbst erschienen; weiter, Sokrates hat die Wahrheit nicht vollständig und rein erkannt, denn er besaß nicht den ganzen Logos; endlich „dem Sokrates hat niemand solchen Glauben geschenkt, daß er für seine Lehre gestorben wäre, für Christus aber gehen nicht nur Philosophen, sondern auch Handwerker und ganz ungebildete Leute in den Tod." Diese letzte Wendung ist ganz besonders lehrreich: Justin vermeidet es, die so nahe liegende Parallele zwischen dem Tod des Sokrates und dem Tod Christi zu ziehen. Dagegen stellt er das Verhalten der Jünger Beider in einen Gegensatz und erschließt aus ihm die einzigartige Kraft der Predigt Jesu. In Hinsicht auf Reinheit, Universalität, Faßlichkeit und Überzeugungskraft also steht dem Justin das Christentum hoch über der sokratischen Lehre; aber kein Zweifel — Sokrates und seine Philosophie gehören auf die Seite der Wahrheit und nicht auf die Seite des Irrtums, darum zu Christus und nicht zum Heidentum. Ähnlich wie Justin haben auch die übrigen griechischen Apologeten geurteilt, die etwas später geschrieben haben. Sie streifen die Person des Sokrates zwar nur, und er steht ihnen nicht im Mittelpunkt des Interesses, aber sie verehren ihn. Tatian schildert das ganze Griechentum mitsamt seinen Philosophen in den düstersten Farben, aber Sokrates nimmt er aus: „Es gibt nur einen Sokrates". Athenagoras stellt wie Justin die Christen mit dem athenischen Philosophen zusammen: „ W i e dieser durch die öffentliche Meinung nichts von seiner Vortrefflichkeit einbüßen konnte, so vermag auch uns Christen die grundlose Verleumdung in Bezug auf die Reinheit unseres Lebens nicht zu schaden." Der Philosoph Apollonius erinnert seine Richter, die römischen Senatoren, an die berühmte Stelle aus Plato, wo dieser von dem wahrhaft Gerechten weissagt, er werde gegeißelt, gefoltert, geblendet

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und zuletzt aufgepfählt werden. D a n n f ä h r t er fort: „So wie die athenischen Ankläger über Sokrates ein ungerechtes Todesurteil abgegeben haben, so haben die Gottlosen auch über unseren Meister und Erlöser das Verdammungsurteil gefällt; denn die Gerechten sind den Gottlosen stets v e r h a ß t . " Nur einen alten griechischen Apologeten gibt es, der hier eine Ausnahme macht und Sokrates einfach in das blinde Heidentum einrechnet. Es ist gewiß nicht zufällig, daß dieser Eine zugleich ein Bischof gewesen ist — Theophilus von Antiochien. Er stößt sich daran, daß Sokrates, wie die Überlieferung sagt, bei dem H u n d e und der Platane zu schwören pflegte, und schloß daraus, daß er nichts von der Wahrheit erkannt habe, und daß daher auch sein Tod sinn- und zwecklos gewesen sei. Jene Schwüre des Sokrates m u ß t e n freilich seinen christlichen Verehrern sehr u n a n g e n e h m und bedenklich sein, aber sie w u ß t e n sich mit ihnen abzufinden. Lediglich u m die Athener und ihren Glauben zu verspotten, meinten sie, habe Sokrates solche Schwurformeln gebraucht. So gewiß waren sie, daß der Mann, der, wie die christlichen Bekenner, f ü r seine Lehre gestorben war, unmöglich i m Götzendienst stecken geblieben sei. Er war f ü r seine Lehre gestorben und die Christen starben f ü r ihre Lehre — diese Übereinstimmung hat selbst die gebildeten Gegner des Christentums stutzig gemacht, und noch andere Verwandtschaften fielen ihnen auf. Celsus, der älteste und tüchtigste literarische Bestreiter des Christentums, hat in der Einleitung zu seiner Schrift die gefährdete Lage der Christen mit der des Sokrates verglichen. Leider kennen wir an dieser Stelle den Wortlaut seiner Ausführungen nicht m e h r und wissen daher nicht, wie er sich aus dem f ü r seinen eigenen Standpunkt tödlichen Vergleich herausgezogen hat. Eben derselbe Celsus behauptet auch, daß die Christen das Gebot, nicht Böses mit Bösem zu vergelten, einer Anweisung des Sokrates entnommen hätten, und daß auch ihre Unterscheidung einer menschlichen und einer göttlichen Weisheit dieser Quelle entstamme. Der Heide Cäcilius rät den Christen, wenn sie denn durchaus philosophieren wollten, Sokrates nachzua h m e n und jene Zurückhaltung in Bezug auf die h i m m 32

lischen Dinge zu üben, der er sich befleißigt habe. Lucian, der Spötter, behauptet, die Christen hätten einen ihrer hervorragenden Lehrer „den neuen Sokrates" genannt. Galen gesteht einzelnen Christen zu, daß sie wie wahre Philosophen, also wie Sokrates, die sinnlichen Genüsse und den Tod verachten. Umgekehrt sucht Marc Aurel zu zeigen, daß die Übereinstimmung des Sokrates und der Christen in der Todesbereitschaft n u r eine scheinbare sei; denn jene sei selbstbewußt und voll keuschen Ernstes gewesen, diese aber unbesonnen und prahlsüchtig. Man erkennt deutlich —• auch f ü r die Gegner lag hier ein Problem. Nicht n u r die Christen n a h m e n Sokrates f ü r sich in Anspruch; auch ihre Feinde fanden hier Übereinstimmungen, die sie in Verwunderung setzten und f ü r die sie nach Erklärungen suchen m u ß t e n . Gegenseitig bezichtigte man sich des Plagiats: Sokrates hat die heilige Schrift geplündert; nein — Christus oder die Christen haben die griechische Philosophie bestohlen. So sehr empfand man das Gemeinsame, und so unfähig war man, es zu erklären! Aber — kann man einwenden — ist hier nicht alles herüber und hinüber n u r dialektisch-apologetische Kunst -gewesen? W a r es den christlichen Philosophen wirklich Ernst mit ihrer Verehrung des Sokrates? Bei Justin kann darüber kein Zweifel sein und ebensowenig bei der Gruppe von Theologen, die sich unmittelbar i h m anschließt, den alexandrinischen christlichen Gelehrten. Clemens, Origenes und ihre Schüler haben mit der gleichen Hochachtung von Sokrates gesprochen, wenn sie f ü r Christen und wenn sie f ü r das große Publikum geschrieben haben. Der Ausdruck „Hochachtung" ist noch viel zu schwach: Sokrates war ihnen ein Zeuge der Wahrheit, ja d e r Zeuge innerhalb der griechischen Geschichte. Noch m e h r : Clemens Alexandrinus hat die ganze Geschichte der griechischen Philosophie von Sokrates ab nicht im Kontraste zum Christentum betrachtet, sondern als Vorhalle desselben wie das alte Testament, und auch Origenes und seine Schüler beurteilten sie ähnlich. Wie war ihnen das möglich, da sie doch überzeugte kirchliche Christen waren und der Bedeutung der Person Christi nichts abzogen? Nun, möglich, ja selbstverständlich war es ihnen, weil sie in der christlichen Religion nicht eine 3

H a r n a c k , Auswahl

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Religion sahen, sei es auch die wahre, sondern weil sie sie als d i e Religion erkannten, auf welche die religiöse Anlage aller Menschen hinweise und die sich in der Menschheitsgeschichte vorbereitet habe. Diese Erkenntnis machte sie nicht tolerant, sondern wahrhaft liberal, d. h. sie wußten das Gute, wo immer es sich zeigte, zu finden und zu schätzen und brachten es mit der christlichen Predigt in Verbindung. Daß die Tugenden der Heiden nur glänzende Laster, ihre Erkenntnisse samt und sonders Irrtümer seien — von diesem trüben Gedanken waren sie noch weit entfernt. Freilich entfernten sie sich auch von jener Auffassung des Bösen und der Sünde, welche Paulus verkündigt hatte; aber man kann nicht sagen, daß sie die einzige ist, die sich mit dem Evangelium vereinigen läßt. Wie sehr Clemens und Origenes Sokrates geschätzt haben, erkennen wir am besten an der vollkommenen Unbefangenheit, mit der sie seine Aussprüche als anerkannte Wahrheiten zitieren; ja Clemens verbindet sie sogar mit Bibelsprüchen. Origenes tut das nicht mehr; die Bibel steht ihm zu hoch, aber Sokrates ist auch ihm über jeder Kritik erhaben. . ,,Er hat", sagt er, „ i m Gefängnis mit vollkommener Furchtlosigkeit und mit aller Seelenruhe so viele und so erhabene Gedanken ausgesprochen, daß ihm kaum die zu folgen vermochten, die vollständig gefaßt waren und von keiner drohenden Gefahr beängstigt wurden." Nur einmal erscheint seine unbedingte Verehrung erschüttert, wo er sich erinnern muß, daß Sokrates doch auch den Götzen geopfert hat. Aber mit Clemens ist er der Überzeugung, daß das Dämonium des Sokrates kein böser Geist gewesen ist, sondern ein Geist des Schutzes und der Wahrheit. Das ist die stärkste Probe ihres Glaubens an den Philosophen; denn es war für jeden Christen ein hartes Stück, dieses Dämonium anzuerkennen. Schon der bloße Name mußte abschrecken. Am lehrreichsten aber ist es, zu sehen, wie Origenes in seinem großen Werke gegen Celsus den Ubereinstimmungen zwischen Sokrates einerseits und Christus und den Christen andererseits nachgeht. Tausend Jahre später haben die Schüler des heiligen Franziskus „Conformitates" zwischen ihrem Meister und Jesus aufgesucht und zusammengestellt. Dasselbe hat bereits 34

Origenes getan; n u r einige seien a n g e f ü h r t : Jesus ist eines schmählichen Todes gestorben, Sokrates auch; Jesus hat gelehrt, den Tod nicht f ü r ein Unglück zu achten und i h m gegenüber furchtlos zu bleiben, Sokrates auch; Jesus hat die Sünder zu sich gerufen, Sokrates hat den Phädon aus einem schlechten Hause herausgenommen und ihn der Philosophie zugeführt; von Jesus werden höchst wunderbare und anscheinend unglaubwürdige Geschichten berichtet, von Sokrates auch; Jesu Sprüche und Gleichnisse bedürfen der allegorischen Erklärung, Sokrates' Mythenerzählungen ebenfalls; aus Jesu Verkündigung endlich haben sich verschiedene Sekten und Schulen entwickelt, nicht anders aus der Lehre des Sokrates. Diese Hochschätzung des athenischen Philosophen hat Origenes auf seine Schüler übertragen. I n der Lobrede, die Gregorius Thaumaturgus seinem Meister gehalten hat, weiß er i h m kein höheres Lob zu spenden als in den Worten: „Wie Sokrates hat mich Origenes gezügelt und geleitet." Ebenderselbe Gregorius bezeichnet das sokratische Wort „Erkenne dich selbst" als das Gebot der tiefsten Weisheit. Ein anderer christlicher Philosoph, Methodius, eignet sich die Auffassung vollkommen an, die Sokrates über den Tod ausgesprochen hat. I n die Weltchronik des Eusebius ist Sokrates als der „Philosophos kathartikos", der Philosoph „der Reinigung", aufgenommen, der durch „den Wahnsinn" der Athener den Tod erlitten hat. Damit erschien das christliche Urteil über Sokrates f ü r alle kommenden Zeiten in einem maßgebenden Werke festgelegt. Aber auch mitten i m bewegten Leben und in der Todesstunde haben christliche Märtyrer des 3. Jahrhunderts noch immer des Sokrates gedacht und sich auf ihn berufen, so Pionius und Phileas. „Ich opfere nicht; denn ich wache eifersüchtig über meine Seele. Nicht n u r wir Christen t u n so, sondern auch Heiden; n i m m Dir den Sokrates als Beispiel: da er zum Tode gef ü h r t wurde und seine Gattin und Kinder neben i h m standen, kehrte er nicht u m , sondern n a h m bereitwillig den Tod auf sich." Aus dem ganzen Gebiet des Griechentums ist mir in der Zeit vor Konstantin neben Theophilus von Antiochien, den ich bereits erwähnt habe, n u r noch ein Christ bekannt, der sich abschätzig über Sokrates geäußert 3*

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hat. Dieser Eine — es ist der Verfasser der clementinischen Homilien, und er beschuldigt Sokrates grober Unsittlichkeit — ist aber nur seiner Sprache nach ein Grieche; in Wahrheit ist er ein jüdisch-syrischer Christ. Der griechische Geist ließ sich seinen Sokrates nicht rauben, auch dann nicht, als er sich dem Evangelium unterworfen hatte. Aber wer kann behaupten, daß sich diese Verbindung der Lehre des Sokrates und Christi auf eine vollständige und tiefe Einsicht in die Eigentümlichkeit Beider gründete? Man darf wohl sagen: sie kam zu früh, und sie flöß mehr aus der sittlichen Stimmung, dem Willen und der Verehrung als aus gesicherter Erkenntnis. Tat man nicht Beiden Gewalt an, indem man sie einander so nahe rückte, und gab man nicht wesentliche Gedanken des Christentums preis, wenn man hier nur Übereinstimmungen sehen wollte? Die abendländischen Theologen sind es gewesen, die dies erkannt haben, die Lateiner, die durch kein ursprüngliches Band mit Sokrates und dem Griechentum verbunden waren. Sie haben den Unterschied und Gegensatz zum Ausdruck gebracht. Aber indem sie das taten, wurden sie in der Negative ungerecht; denn eine relative und wahrhaft geschichtliche Betrachtung gab es überhaupt noch nicht. Doch haben es nur zwei unter ihnen, Minucius Felix und Novatian, über sich gebracht, den großen Philosophen als verführten und verführenden Irrgeist, ja als „attischen Schalksnarren" einfach beiseite zu schieben. Die beiden einflußreichsten abendländischen Apologeten, Tertullian und Lactantius, haben ein widerspruchsvolles Bild des Sokrates entworfen, in welchem aber die ungünstigen Züge weit überwiegen. Tertullian räumt in seiner großen Verteidigungsschrift für das Christentum ein, daß Sokrates die falschen Götter verworfen habe und daß er deshalb verurteilt worden sei. Daher läßt er ihm den Titel des Weisesten der Griechen. ,,Er erkannte etwas von der Wahrheit", sagt er, „und ein gewisser Anhauch derselben hat ihn den Göttern Trotz bieten lassen." „In ihm ist die Wahrheit im voraus verdammt worden, und sein Tod ist das große Beispiel, daß sie zu allen Zeiten den Menschen verhaßt gewesen ist." Auch die Schwurformeln des Sokrates „beim Hunde und dem Holze" will Tertullian so deuten, daß die Götzen 36

dadurch verspottet werden sollten. I n allen diesen Urteilen, n u r nicht in dem letzten, stimmt Lactantius mit i h m überein; er rechnet es aber Sokrates außerdem noch zu hohem Lobe, daß er sich f ü r das Nicht-Wissen entschieden und die ganze Philosophie in Ethik verwandelt habe. Aber damit ist auch das Lob des Philosophen bei beiden Apologeten erschöpft, und tiefe Schatten verdunkeln es: dieser Sokrates ist doch ein falscher, ja letztlich ein unsittlicher Philosoph gewesen; den christlichen Häretikern, nicht der Kirche, hat er Stoff f ü r ihre Lehren gegeben; er hat die Wahrheit nicht besessen, sondern sie n u r gesucht, ja nicht einmal ernsthaft — mit dem Wunsche sie zu finden — gesucht; von einem bösen Dämon hat er sich leiten lassen; die Jugend hat er zu abscheulichen Lastern verführt, die Weibergemeinschaft hat er empfohlen; im Grunde war er irreligiös, denn er verkündete, daß das, was über uns ist, uns nichts angehe, und endlich — auch jenen Anhauch von Wahrheit, der ihn die falschen Götter verachten lehrte, hat er in der Todesstunde eingebüßt; denn er ließ dem Äskulap einen H a h n schlachten! In dem letzten Urteil haben Tertullian und Lactantius die heiligste Erinnerung der Antike, gleichsam ihr Evangelium, anzutasten gewagt — den sterbenden Sokrates. Die Seelenstärke, die er in der Todesstunde bewiesen, seine letzten Reden, das Zeugnis, das er in Wort und Tat f ü r den Adel und die Unsterblichkeit der Seele abgelegt, hatten ihn zum Heiligen des Altertums gemacht. Alles übrige von i h m und seiner Lehre war verblaßt und vergessen; niemand achtete darauf; u m so heller erstrahlte der Konfessor und der Märtyrer. Diesen wagte Tertullian anzugreifen und in den Staub zu ziehen, und weshalb? Weil er in der Todesstunde befohlen hatte, dem Äskulap einen H a h n zu schlachten I Alle griechischen Apologeten sind schweigend über diesen dunklen und peinlichen Punkt hinweggegangen; aber auch Tertullian selbst hat gefühlt, daß er die wundervolle Größe des sterbenden Sokrates nicht durch den einen Hinweis auf das Hahnenopfer niederreißen könne. Wollte er das Evangelium der Antike vernichten in der Überzeugung, daß nicht wahrhaft groß, nicht rein und heilig gewesen sein könne, wer der Offenbarung 37

entbehrte und den Dämonen noch geopfert hat, so m u ß t e er Zug u m Zug all das Herrliche vernichten, was Plato i m Phädon und sonst von dem sterbenden Sokrates berichtet hatte. Lange ist er selbst vor dieser furchtbaren Aufgabe zurückgeschreckt; erst in einem seiner letzten Werke hat er sie vollzogen. Die große Untersuchung über das Wesen und die Unsterblichkeit der Seele, die wissenschaftlich bedeutendste Arbeit, die wir aus seiner Feder besitzen, nötigte ihn, sich mit Sokrates auseinanderzusetzen. W e r über dieses T h e m a schrieb, m u ß t e zu Plato's Phädon Stellung nehmen, das war selbstverständlich; aber Tertullian m u ß t e das erst recht, da er i m Grunde dasselbe über die Unsterblichkeit der Seele zu sagen hatte, was der sterbende Sokrates gelehrt. Wie wird er ihn also ins Unrecht setzen können? Hören wir seine Ausführungen; mit Bedacht sind sie bereits im Prologe entwickelt, eröffnen also das W e r k : „ I m Kerker des Sokrates wurde über den Zustand der Seele verhandelt. W e n n auch auf den Ort nichts ankommt, so ist mir doch allem zuvor zweifelhaft, ob die Zeit f ü r den, der hier Belehrungen erteilt hat, eine gelegene war. D e n n was sollte wohl die Seele des Sokrates in jenem Augenblick noch mit Evidenz erkannt haben, da das heilige Schifflein schon vom Lande abgestoßen, der Schierlingsbecher bereits getrunken und die Seele, wenn es nach der Ordnung der Natur ging, durch die Nähe des Todes notwendig in eine gewisse Erregung versetzt war? Wie heiter und ruhig sie auch gewesen sein mag, wie wenig sie sich auch unter die weichen Gefühle der Natur beugen ließ, sie war doch in U n r u h e durch die Anstrengung, nicht unruhig zu werden, sie war in ihrer Standhaftigkeit erschüttert durch die k r a m p f h a f t e Niederzwingung der Schwäche. Weiter, wofür wird ein zu Unrecht Verurteilter sonst noch Sinn haben als Trostgründe aufzusuchen in Bezug auf die Unbill ? Zumal der Philosoph, dieses vom R u h m lebende Geschöpf! So gratulierte sich denn Sokrates selbst zu seinem Tode, weil es besser sei, ungerecht als gerecht verurteilt zu werden, und, u m seinen Anklägern ihren T r i u m p h zu rauben, demonstrierte er die Unsterblichkeit der Seele. Also stammte die ganze damalige Weisheit des Sokrates aus den Anstrengungen eines tendenziösen Gleichmutes, nicht aus der 38

Zuversicht der erlebten Wahrheit. D e n n wer kann die Wahrheit inne werden ohne Gott? wer Gott erkennen ohne Christus? wer Christum finden ohne den heiligen Geist? Näher liegt es gewiß, bei Sokrates einen ganz anderen Geist a n z u n e h m e n ; denn man sagt ja, daß ihn von Kindheit an ein Dämon begleitet habe. Indes, wenn selbst dieser Sokrates, den der pythische Dämon als den weisesten bezeichnet, die Unsterblichkeit der Seele bezeugt hat, u m wieviel m e h r Gewicht hat das Zeugnis der christlichen Weisheit, bei deren Anhauch die ganze Macht der Dämonen zurückweicht! Sie ist die Weisheit aus der Schule des Himmels; sie leugnet k ü h n die Götter dieser Welt; sie erweist sich nicht als zweideutig durch den Befehl, dem Äskulap einen H a h n zu opfern; sie f ü h r t keine neuen Dämonen ein; sie v e r f ü h r t die Jugend nicht, sondern lehrt sie alles, was keusch und züchtig ist. Weil sie so ist, d a r u m hat sie die ungerechte Verurteilung nicht bloß von seiten einer Stadt, sondern des ganzen Erdkreises f ü r die Wahrheit zu ertragen, f ü r die Wahrheit, die u m so verhaßter ist, je vollkommener sie erscheint. Sie schlürft auch nicht den Tod in heiterem Feierkleid aus einem Becher, sondern m u ß ihn nebst allen Erfindungen der Grausamkeit a m Kreuz und auf dem Scheiterhaufen durchkosten, und sie stellt in dem viel finstereren Kerker dieser Welt ihre Untersuchungen über die Seele mit ihren Phädonen nach den Anweisungen Gottes an. Der wahre Lehrmeister der Seele ist ihr Schöpfer. Von i h m allein sollst du lernen, und wenn nicht von ihm, dann von keinem anderen; denn wer kann enthüllen, was er bedeckt hat? Dort soll man fragen, wo man, auch ohne Antwort zu erhalten, a m sichersten geht. Es ist besser, etwas durch Gott nicht zu wissen, weil er es nicht geoffenbart hat, als durch einen Menschen zu wissen, weil er über wertlose M u t m a ß u n g e n doch nicht hinauskommt." „Wehe, wehe, d u hast sie zerstört, die schöne W e l t " — so m u ß man ausrufen. Und mit welchen Mitteln zerstört! Wie kreuzt sich in diesen Ausführungen die Überzeugung von der unerreichten Höhe des Evangeliums mit abscheulicher Sophistik! Hat Tertullian selbst an diese pfäffischen Ausführungen geglaubt, war es ihm Ernst mit dieser Kritik 39

des sterbenden Sokrates? Ja und neinl Ernst war es i h m mit seiner Theorie, mit dem Glauben, daß die Wahrheit ausschließlich in der biblischen Offenbarung -zu finden sei; aber er hat wider sein Wissen und sein Gewissen gezeugt, wenn er dieser Theorie zuliebe die Tatsachen beugte und den Sokrates in den Staub zog. L ä ß t sich doch unschwer bemerken, daß bei Tertullian hinter der ungerechten Verurteilung noch i m m e r ein scheue Anerkennung unüberwindlich ruht. Der Mann, der einst das herrliche Büchlein „ D e testimonio animae naturaliter Christianae" geschrieben hat, vermochte es doch nicht über sich zu bringen, dem Sokrates zum zweitenmal den Schierlingsbecher zu reichen. Ein Funke griechischer Auffassung lebte auch noch in ihm, jener Überzeugung von der Einheit der geistigen und der religiösen Funktion. Aber — w e n n bereits Sokrates f ü r die Wahrheit gestorben war, was blieb f ü r Jesus Christus übrig? Mit Recht empfand Tertullian, daß hier etwas viel Höheres in die Geschichte eingetreten sei, aber er vermochte dieser Empfindung n u r auf Kosten des Sokrates Ausdruck zu geben. Doch — den letzten Schritt hat erst Augustin getan, u n d zwar durch seine furchtbare Theorie, daß alle Tugenden der Heiden nur glänzende Laster gewesen seien.Erst diese Lehre tauchte alles in dunkle Nacht, was das Altertum Erhabenes und Großes hervorgebracht hat. Aber — wie so oft in der Geschichte — eben wenn eine einseitige Betrachtung bis zur letzten Spitze durchgeführt ist, stellt sich der Umschlag und der Fortschritt in der Methode der Erkenntnis ein. Man kann die augustinische Theorie auch als den Anfang der Einsicht fassen, daß Religion etwas Anderes ist als ein Wissen, daß griechische Philosophie und Christentum zwei spezifisch verschiedene Größen sind, daß daher jede f ü r sich zu betrachten und nach verschiedenen Maßstäben zu würdigen ist. Das ist der volle Gegensatz zu der Meinung der griechischen Apologeten, beide gehörten einfach zusammen und die eine ließe sich aus der anderen deuten und erklären. Wohl gibt es eine letzte Betrachtung, nach welcher diese Auffassung ein Recht hat, aber zunächst bildete sie ein starkes Hemmnis f ü r das Verständnis beider Größen. Der, welcher sie auseinander gerissen hat, hat

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damit, ohne es zu wissen und zu wollen, der Erkenntnis einen Dienst geleistet. Auf dem abendländischen Boden, nicht auf dem griechischen, ist, freilich erst nach Generationen, die zutreffendere Erkenntnis des Christentums und auch des Sokrates erwachsen, und heute wissen wir besser, als es irgend jemand im zweiten Jahrhundert gewußt hat, was sie trennt und was sie verbindet. Wir n e h m e n Christus nicht m e h r f ü r die Philosophie in Anspruch und Sokrates nicht mehr f ü r das Christentum; wir erkennen, daß an die Höhe des Evangeliums nichts heranreicht; aber doch bezeugen wir mit Justin, daß auch in Sokrates der Logos gewaltet hat. Ich bin a m Schlüsse, aber ein Doppeltes möchte ich Ihnen, meine Herren Kommilitonen, noch ans Herz legen: erstlich, was Sie auch studieren mögen, vernachlässigen Sie die Geschichte nicht, die große Geschichte und die Ihrer Wissenschaft. Glauben Sie nicht, daß Sie Erkenntnisse einsammeln können, ohne sich mit den Persönlichkeiten innerlich zu berühren, denen man sie verdankt, und ohne den Weg zu kennen, auf dem sie gefunden worden sind. Keine höhere wissenschaftliche Erkenntnis ist eine bloße Tatsache; eine jede ist einmal erlebt worden, und an dem Erlebnis haftet ihr Bildungswert. Wer sich damit begnügt, n u r die Resultate sich anzueignen, gleicht dem Gärtner, der seinen Garten mit abgeschnittenen Blumen bepflanzt. Sodann aber — erkennen Sie an der Geschichte des Sokrates, was den wahrhaft großen Mann macht und was von i h m bleibt. Nur der Teil seiner Philosophie ist geblieben, den er durch die Tat besiegelt hat, alles andere ist vergessen. Auch an Sie stellt die Wissenschaft, zu der Sie berufen sind, nicht n u r die Anforderung, zu forschen und zu lernen, sondern lebendige Zeugen des W a h r e n und Guten zu werden, Männer, die da bereit sind, u m dieser Güter willen jedes Opfer zu bringen. Der Dienst der Wahrheit ist Gottesdienst, und in diesem Sinne sollen Sie ihn treiben.

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2 MARTIN LUTHER I N S E I N E R B E D E U T U N G F Ü R D I E GESCHICHTE DER WISSENSCHAFT UND DER BILDUNG (1883)

Einmütig haben wir uns in diesen hohen Räumen versammelt, den vierhundertjährigen Geburtstag des deutschen Reformators, Dr. M a r t i n L u t h e r s , festlich zu begehen. In der Geschichte unseres Geschlechtes haben die Ereignisse — gemeinsames Aufstreben und gemeinsamer Niedergang — weit häufiger Epoche gemacht als die Personen; aber daß mit Luthers Wirken eine neue Stufe der Entwicklung begonnen hat, ist zweifellos. Wenig zahlreich sind die Geister, welche den Hohen und den Niederen, den Gebildeten und den Ungebildeten zugleich neuen Sinn und neues Leben erweckt haben; aber noch heute zehren wir Deutsche, so verschieden wir sind, allzumal von den Gütern, die uns Luther gebracht hat. Unsere Alma mater aber schaut in einem zweifachen Sinne, als deutsche und als hessische Universität, dankbar auf zu dem Manne, dessen Name heute auf aller Lippen ist. Als deutsche Universität: denn das herrliche Erbe einer reichen und edlen Bildung, welches zu schützen wir mitberufen sind, trägt unverwischbar den Stempel seines Geistes. Als hessische Universität: denn diese, von einem hochherzigen Fürsten gegründet, ist die erste protestantische Hochschule Deutschlands gewesen, die erste Hochschule, die gestiftet ist ohne päpstliche Privilegien in dem freien Geiste Luthers. Und wenn heute die Schranken längst gefallen sind,welche die deutschen Universitäten nach der Reformation getrennt hielten, wenn derselbe Geist mutiger Forschung auf allen 42

eine Stätte gefunden hat, so ist das auch eine Folge der Wirksamkeit des Mannes, der unsere Nation befreit hat, indem er ihre Entwicklung in neue Bahnen lenkte. Unsere Nation — denn für die gesamte Nation nehmen •vfrir ihn in Anspruch und die gesamte Nation für ihn. In jenen herrlichen Tagen, da er die Geister erweckte und ,,es eine Lust war zu leben", da war das ganze deutsche Volk, Adel, Bürger und Bauer, von ihm gewonnen. Aber auch heute noch ist Luthers Bedeutung nicht zu ermessen an dem Bestände und Umfang der Kirchen, die sich mit seinem Namen schmücken; nein — überall tritt sie uns entgegen, wo wir die Eigenart und Größe der idealen Güter schätzen wollen, die wir als Christen und als Deutsche besitzen. Wir reden mit seinen Worten, wir urteilen nach seinen Maßstäben und wir finden die Macht seines Geistes in unseren Vorzügen und in unseren Fehlern wieder. Aber weiter: fast jede Partei unter uns hat ihren Luther und meint den wahren zu haben. Die Verehrung für Luther vereinigt mehr als die Hälfte unserer Nation, und die Auffassung Luthers trennt sie. Von Luthers Namen läßl so leicht kein Deutscher. Ein unvergleichlicher Mann ist er allen, ob man ihm nun aufpaßt, um ihn anzugreifen, oder ob man ihn rühmt und hoch preist. Trotzdem — wer kennt ihn selbst und wen verlangt es, ihn wirklich zu kennen? Man will ihn verehren, wie man ihn sich wünscht, als den Träger der eigenen Ideale; aber im geheimen argwöhnt man, daß er doch ganz anders gewesen sei. Sein Charakter imponiert allen, seine Überzeugungen läßt man dahingestellt sein oder verarbeitet sie zu kursfähiger Münze. Ist er so groß, daß er uns unbequem ist ? oder sind wir innerlich doch so weit von ihm entfernt, daß ein Bedürfnis nach näherer Bekanntschaft nicht mehr aufkommt? Ist er zu schneidig für unsere Milde, zu bewegt für unsern Gleichmut, zu überzeugt für unsere Zurückhaltung, zu altertümlich für uns Moderne? Wie war er wirklich, der wundersame Mann, der gewaltig wie ein Heros und einfältig wie ein Kind gewesen ist ? ohne Klugheit ein Weiser, ohne Politik ein Staatsmann, ohne Kunst ein Künstler, inmitten der Welt ein weltfreier Mann, in kräftiger Sinnlichkeit und doch rein, rechthaberisch ungerecht und 43

doch stets von der Sache getragen, der Autoritäten spottend und an die Autorität gebunden, die Vernunft verlästernd und befreiend! Nur ein Meister vermag hier Antwort zu geben und gleichsam die ganze Summe der Existenz Luthers zu zieheA. I h r Redner m u ß sich die Aufgabe beschränken. Welche Bedeutung L u t h e r in der Geschichte unserer Bildung und Wissenschaft gehabt hat, und welcher Wert den reformatorischen Ideen hier zukommt, das möchte er I h n e n , so gut er es vermag, in Kürze vortragen. Aber gerade diese Aufgabe hat ihre besondere Schwierigkeit. L u t h e r hat nichts entdeckt, was der Entdeckung des Kreislaufs des Blutes oder des Gravitationsgesetzes oder eines neuen Weltsystems ähnlich wäre. Auch seine historische und philosophische Gelehrsamkeit erhob sich nicht über das Durchschnittliche. Ferner: wir besitzen kein literarisches Werk von ihm, von dem man sagen könnte: das ist's — das ist der ganze L u t h e r . Die göttliche Komödie ist uns Dante, der Faust ist uns in gewissem Sinne der ganze Goethe: nichts dergleichen besitzen wir von L u t h e r . Das Werk, welches noch a m meisten die ganze Tiefe und den Reichtum seines Geistes abstrahlt, ist eine Übersetzung: die Übersetzung der Bibel. Dennoch wäre es möglich, eine ansehnliche Summe von einzelnen wichtigen Erkenntnissen Luthers auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft zusammenzustellen, und verbrämt mit einer Reihe von Zitaten, in welchen L u t h e r der freien Forschung das Wort redet und einen gründlichen Unterricht verlangt, ließe sich vielleicht ein eindrucksvolles Bild erzielen. Aber ich m ü ß t e fürchten, daß der Reformator selbst es nicht als das seinige anerkennen würde. Ein solcher L u t h e r wäre ihm, u m mit i h m selber zu reden, n u r ein „gemalter". Nein — von welcher Seite man auch immer seine gewaltige Persönlichkeit in ihren Wirkungen ins Auge fassen will, man wird ihr niemals gerecht werden, wenn man nicht von L u t h e r , dem kirchlichen Reformator, ausgeht. D e n n er war i m vollsten Sinne eine monarchische Natur. Was er getan und geleistet hat, das ist bei i h m aus dem religiösen Leben herausgeboren. Das war das Geheimnis und die Stärke seines Lebens, daß

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er nahezu niemals aus dem Kreise herausgetreten ist, der i h m als kirchlichem Reformator vorgezeichnet war. Freunde und Gegner haben ihn zum Nationalhelden, zum Politiker, zum Theologen, zum Stifter einer neuen Kirche machen wollen. Er ist das alles nicht gewesen, und er hat allen diesen Versuchen Widerstand geleistet. Mit dem Instinkte des Genius fühlte er die Beschränkung, die ihm jede dieser Tätigkeiten in ihrer Besonderung aufgenötigt hätte. Er hatte Größeres zu tun. Die Frage nach dem Zweck und Ziel des menschlichen Lebens, nach dem Frieden und der Seligkeit der Gewissen — sie war das einzig Treibende in seinem Leben. Alles übrige, was er geleistet hat, es ist i h m zugefallen. Es war nicht direkt beabsichtigt; eben d a r u m verkündete er es, wenn er darauf geführt wurde, mit derselben Kraft,mit der er das Evangelium predigte. So blieb er der bahnbrechende Reformator, weil er sich seiner Grenzen, der Fortifikationslinie seines Daseins und seines Berufs, bewußt geblieben ist. D a m i t ist's schon gesagt, in welchem Sinne wir Luthers Bedeutung f ü r die Wissenschaft zu würdigen haben. Sie kann in der Hauptsache n u r eine indirekte gewesen sein. Aber dieses Indirekte ist nicht das Geringere, sondern das Größere. D e n n nicht der ist der Größere, der einzelnes Neue — sei es auch das Gewaltigste — entdeckt, sondern der ist es, welcher die Gesinnungen der Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit reinigt und die Hemmnisse wegr ä u m t , welche die Vergangenheit von Jahrhunderten als elementare Last auf die Bahnen der Z u k u n f t lagert. Werfen wir einen Blick auf die geistigen Zustände beim Ausgang des 15. Jahrhunderts. Vielleicht hat das Abendland niemals stärker unter der Last der Vergangenheit getragen als in der Epoche, welche dem Auftreten Luthers unmittelbar vorherging. Die Kirche war noch immer die alles beherrschende Grundlage der allgemeinen Ordnung. In i h r e m großen Gefüge allein waren die idealen Güter, die Gesetze, Erkenntnisse und Gewohnheiten der Menschen festgestellt. Die größte und humanste Idee, welche das Mittelalter hervorgebracht, die Idee des Papsttums, beherrschte noch immer die Gemüter. Sie war durch eigene Schuld 45

der Päpste kompromittiert und tief erschüttert worden; aber sie war eigentlich nirgendwo entwurzelt. An der Geschichtsbetrachtung der Zeit läßt sich das am besten studieren. Noch i m m e r galt die Erde als das Jammertal, dessen Regierung dem Papste und dem Kaiser anvertraut sei, bis die Stunde des Gerichtes schlüge. Die literarischen Widersacher der Päpste i m 14. Jahrhundert hatten versucht, den Bann dieser Auffassung zu sprengen. Aber was sie ihr entgegenzusetzen wußten, war teils von ihr selbst erborgt, teils vage und wirkungslos. I m 15. Jahrhundert, nachdem das Papsttum siegreich aus dem Kampfe mit den konziliaren Ideen hervorgegangen, beherrscht die päpstliche Legende, wie sie durch den siebenten Gregor begründet, durch den dritten Innocenz ausgebaut worden ist, wiederum die Publizistik. Wohl fühlte m a n ihren D r u c k ; die Politik der Fürsten hatte sich auch lange schon ihrem Banne e n t w u n d e n ; aber die Erkenntnis fand keinen Ausweg. Sie begann, u m die Geschichte zu verstehen, regelmäßig bei dem Sündenfall; sie war den kirchlichen Fabeln gegenüber fast völlig wehrlos und sie endete konsequent mit dem Rechte des Papstes über die Welt — andernfalls mit leeren Ausflüchten und luftigen Sophismen. Helle Köpfe deckten zwar dies und jenes Einzelne a u f ; aber das änderte nichts an dem Ganzen. Und n u n das dogmatische System. Seit m e h r als tausend Jahren hatte sich an demselben wenig geändert. Wie die Väter der alten Kirche, vor allem Augustin, das große Gefüge konzipiert und gezimmert hatten, so war es geblieben: das neue Testament mit dem Testament der Antike seltsam und, wie es schien, untrennbar verbunden. Wohl hatte auf diesem Grunde eine stete Bewegung i m Mittelalter stattgefunden. Die von den Päpsten geleitete Entwicklung der Kirche hatte sich den Bedürfnissen und Stimmungen der Menschen jahrhundertelang anzuschmiegen verstanden. Aber seit anderthalb Jahrhunderten schien das System seine Elastizität erschöpft zu h a b e n : es konnte sich weder erweiten noch entlasten. In dem Momente begannen auch der Zweifel und das Mißtrauen zu erstarken. Von sehr verschiedenen Seiten kamen die Einwürfe. Aber, genau betrachtet, bezogen sie sich immer n u r auf Einzelnes, und

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wo sie an den Fundamenten rüttelten, da stellten sie sofort nicht n u r die Kirche, sondern die Gesellschaft, das ganze sozial-politische System, in Frage. Wirkliche Revolutionen stiegen dräuend auf aus den verschiedenen Schichten der Gesellschaft. Aber das Programm derselben war in den positiven Zielen so unklar und undurchführbar, wie in den negativen radikal. Schwärmerische Frömmigkeit hatte es diktiert. Sie wollte auf den T r ü m m e r n der alten Ordnungen ein Paradies, ein Traumreich, gründen und rechnete auf himmlische Hilfe. Eine neu gestimmte Religiosität kündigte sich in wilden Bewegungen und in den stillen Kreisen u n t e r den Laien an. Sie fühlte sich von der alten Kirche abgestoßen und doch wiederum angezogen. Glaubenssehnsüchtiger als die Generation, welche seit der Rekonstruktion des Papsttums im 15. Jahrhundert in Deutschland aufwuchs, ist k a u m je eine andere gewesen. Die ruhelose Frömmigkeit, das unbefriedigte Suchen, die neuen Formen — Heilige, Wunder, Bruderschaften u n d genossenschaftliche Kulte, k ü h n e Kritik und rasches Erschlaffen — sie erinnern lebhaft an jene große Epoche des Altertums, als die Völker an den Küsten des Mittelmeeres unter der Regierung der Antonine und ihrer Nachfolger sich anschickten, die alten Götter mit dem Gott der Erlösung zu vertauschen. Hier wie dort höchste Steigerung und U m f o r m u n g des Überlieferten, aber noch kein Durchbruch und kein Umschlag. Die Wissenschaft. Sie stand augenscheinlich unter dem Prinzipate der Theologie, die Theologie aber auf der Autorität der Kirche. Die Menschheit war seit einem Jahrtausend in der Erkenntnis nicht vorwärts gekommen. Sie hatte sich geübt zu distinguieren und zu deduzieren. Sie lebte in künstlerischen Idealen und Illusionen. Aber kaum irgendwo hatte sie sich weiter bewegt. Was sie in den letzten Jahrhunderten gelernt hatte, das hatte sie alles eingebaut und eingesponnen in eine kunstvolle Mythologie von Begriffen. Keine Betrachtung ist kurzsichtiger und unrichtiger als die, f ü r diesen Zustand priesterliche Herrschsucht oder die besondere Borniertheit der Theologen verantwortlich zu machen. Man m u ß sich n u r erinnern, welche Aufgabe die untergehende Antike der Wissenschaft gesetzt hatte. Die Theologie sollte der Abschluß und die Krone des gesamten 47

Welterkennens sein; die Philosophie aber sollte einerseits die Einleitung zur Theologie bilden, andererseits ihr die Beweise liefern. Beide sollten über diese Welt des Sinnlichen hinausstreben, hinter ihrem Schein das wahre Sein aufsuchen. Erkenntnis und Andacht zugleich sollten diesem wahren Sein gelten, dem die Objekte der religiösen Dogmen einzugliedern seien. Daneben gab es nur eine formale Schulung. So war es im Ausgang des Altertums von den Neuplatonikern verstanden worden, und diese Erbschaft hat die mittelalterliche Wissenschaft angetreten. Die Theologie entbehrte auf diese Weise eines ihr eigentümlichen Gebietes. Sie sollte Fundament und Spitze des Ganzen sein. Aber diese Erhebung war faktisch eine schwere Beeinträchtigung, nicht nur für die Weltwissenschaft, sondern nicht weniger für die Theologie. Jener Prinzipat beschwerte sie mit einem immensen Stoff, verwickelte sie in alle denkbaren Fragen und täuschte sie über ihre wirklichen Aufgaben. Und in Wahrheit war der Prinzipat der Theologie doch nur scheinbar. Sie selbst wurde, wie alles andere im Mittelalter, regiert durch die weltbeherrschende Kirche und die weltflüchtige Metaphysik. Jede Welterkenntnis, die sich hier nicht einfügen ließ, brachte Theologie und Philosophie zugleich zu Fall. Jeder Versuch mußte Verdacht erregen, in welchem man es wagte, die Welt als etwas Selbständiges zu nehmen. Man hatte kein gutes Gewissen mehr, sobald man das sinnlich Erkennbare der theologischen Beleuchtung entrückte. Ohne diese war ja die Welt des Teufels, waren alle ihre Stimmen Sirenenstimmen, war ihre Schönheit ein Fallstrick, war die Wissenschaft von ihr Schwarzkunst und Magie. Selbst noch ein P e t r a r c a hat sich schwere Vorwürfe gemacht und sich schleunigst in die Confessiones des hl. Augustinus vertieft, als er einmal entzückt der herrlichen Natur der Riviera ins Angesicht gesehen. Die Weltflüchtigkeit als die Grundstimmung des mittelalterlichen Menschen hemmte alle Wissenschaft. Wo keine Naturfreudigkeit ist, da ist auch keine Naturerkenntnis. So war ein Fortschritt nach keiner Seite möglich. Aber die Kritik des Verstandes wurde doch immer mächtiger. Im Unvermögen, die herrschenden Vorstellungen zu sprengen, geriet man auf die Theorie von der doppelten Wahrheit. 48

Sie ist das Schlußwort des Miltelalters. Man behauptete» eine andere Wahrheit gelte f ü r die Theologie, eine andere f ü r die Philosophie. Es war der Protest eines formal geschulten Denkens wider die Irrationalitäten des kirchlichen Dogmas. Aber man tastete dasselbe doch nicht a n ; man stellte es u m so entschlossener unter den Schutz der heiligen Autorität der Kirche. I n dieser unerträglichen Lösung des 14. Jahrhunderts zeigt sich der Bann der Überlieferung a m stärksten. Die Kritik arbeitete mit hundert Mächten im Bunde; in den Augen Unzähliger war die ganze Scholastik bereits diskreditiert: überall E m p f i n d u n g der Enge und des Drucks. Indessen schien das große Gebilde der Vergangenheit f ü r ewige Dauer bestimmt zu sein und allem Widerspruch zu trotzen. Aber schien es wirklich so? Haben wir nicht übersehen, daß bereits seit m e h r als einem Jahrhundert, vornehmlich in Italien, sich eine neue Bildung, die Bildung der Renaissance, entfaltet hatte? Noch jüngst hat ein geistvoller Schriftsteller geurteilt: „Die italienische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Kultur verdankt." Gewiß — man wird zugestehen müssen, daß ohne die Renaissance das Mittelalter schwerlich gesprengt worden wäre. Unser moderner Staat, die Entwicklung von freien und eigenartigen Individuen, die Entzifferung der Vergangenheit, die Entdeckung der Welt und des Menschen, die Ausgleichung der Stände, die Ausbildung einer höheren Form der Geselligkeit, die äußere und innere Verfeinerung des Lebens, vor allem aber die Fähigkeit, das Konkrete überhaupt wieder sehen und in künstlerischer Form zur Darstellung bringen zu können, das alles verdanken wir hauptsächlich der Renaissance. Aber war das alles und war dies alles sichergestellt? Schon die Geschichte der Renaissance vermag uns eines Besseren zu belehren. Bereits vor der brutalen Hispanisierung Italiens und vor der Epoche der Kontrareformation war die Renaissance i m Niedergang. Woher dieser Niedergang ? Nun — die Wiedererweckung der Antike, der Rückgang auf das Altertum ist der Kernpunkt im geistigen Leben der Renaissance. Hier lag ihre Schönheit und Stärke, hier lag aber auch ihre Schwäche und Schranke. Die Antike f ü h r t e die Huma4

Η a r n a c k , Auswahl

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nisten aus der Welt des Mittelalters heraus; aber festen Halt und neue Ordnungen vermochte sie ihnen nicht zu geben. Sie befreite das Leben und Denken von der kirchlichen Bevormundung; aber Freiheit von der philosophischen und theologischen hat sie nur in einigen Geistern erzeugt, die weder die achtungswertesten noch die einflußreichsten waren. Die geistige Luft, in der die Humanisten atmeten, der Boden, auf den sie den neuen Betrieb der Wissenschaft stellten, war der Piatonismus mit seiner Mystik, seiner Naturspekulation und Theologie. Die neue Bildung hat im einzelnen tausend Bande gesprengt und dauernde Grundlagen gelegt; aber als Weltanschauung hat sie ihren Jüngern keine andere Wahl gelassen als die zwischen Frivolität und Mystik. Die Philosophie, für welche man sich in den Gärten der Mediceer begeisterte, war die platonische. Die Formeln der alten Wissenschaft waren in ihrer Hohlheit erkannt: das entzückte Auge sah gleichsam zum ersten Male die Welt und blickte den Dingen freudig und kühn entgegen. Aber sobald man die Summe zog, blieben die Erkenntnisse von demselben lichten Nebel umflossen, in welchem das lebensmüde Altertum dieselben geschaut hatte. Die Renaissance hat weder den Weg zu einer neuen kräftigen Sittlichkeit gefunden, noch die Grenzlinien entdeckt, welche Glauben und Wissen, Geist und Natur, Schönheit und Wahrheit scheiden. Ihr Lebensideal war ein künstlerisches; eben darum blieb sie unsicher, wo sie sich über das Einzelne zu erheben strebte. Aber eben darum ist die Kirche des Mittelalters imstande gewesen, sie zu ertragen. Die Kirche überwindet jede Bedrohung, die aus der Indifferenz oder Frivolität, aus dem Ästhetischen oder Mystischen entspringt. So streng abstoßend sich die alte Bildung der Kirche und die neue der Renaissance entgegenstanden — ein geheimer Zug der Wahlverwandtschaft war in einer Hinsicht doch vorhanden, eine Wahlverwandtschaft auf wirklicher Verwandtschaft beruhend; denn das Gebäude der Kirche war selbst mit den Mitteln der Antike gebaut worden, und die geheimsten und zartesten Regungen dort verleugneten ihren Ursprung nicht. Die Renaissance und der Humanismus sind des Mittelalters nicht mächtig geworden, weil sie es lediglich mit dem Altertum bekämpf-. 50

ten. Mochte auch eine ferne Zukunft den Überwundenen gehören: zunächst blieb die Kirche mit den kümmerlichen und verzerrten Resten des Altertums Siegerin. Ja sie wurde der Zufluchtsort für viele, als die neue Zeit ein unerbittliches Dilemma aufnötigte und die Barbarei neben die Freiheit zu stellen schien. Da wurde in der Zelle eines deutschen Klosters ein Seelenkampf siegreich ausgekämpft, dessen Folgen unermeßliche werden sollten. Innere Unruhe, die Sorge um sein Heil, trieben M a r t i n L u t h e r in das Kloster. Fromm werden und genug tun wollte er, damit er einen gnädigen Gott kriege. „Ist je ein Mönch gen Himmel kommen durch Möncherei" durfte er später sagen, ,,so wollte ich auch hineingekommen sein." Aber indem er alle die Mittel benutzte, welche die mittelalterliche Kirche ihm bot, wuchsen seine Anfechtungen und Qualen. Er hatte das Bewußtsein, mit allen Mächten der Finsternis zu ringen. Wenn ihn nachmals auf der Höhe seines Wirkens Kleinmut überfiel, so bedurfte es nur der Erinnerung an jene klösterlichen Schrecknisse, um ihn wieder zu festigen. In dem Systeme von Sakramenten und Verpflichtungen, dem er sich unterwarf, fand er die Gewißheit des Friedens nicht, die er suchte. Er wollte sein Leben für Zeit und Ewigkeit auf einen Fels gründen; aber alle Stützen, die man ihm anpries, zerbrachen unter seinen Händen und der Boden wankte unter seinen Füßen. Nun — er glaubte mit sich und seiner Sünde allein zu kämpfen; aber in Wahrheit rang er zugleich mit der Macht einer tausendjährigen Uberlieferung, mit ihren Idealen des Heiligen, mit ihrer Schätzung der Güter, mit ihren Qualen und Tröstungen. „Er trug den Kampf in breiter Brust verhüllt, Der jetzt der Erde halben Kreis erfüllt; Sein Geist war zweier Zeiten Schlachtgebiet, Mich wundert's nicht, daß er Dämonen sieht."

In solcher Not ging es ihm am Neuen Testamente auf, was das Wesen und die Kraft der christlichen Religion sei. Aus einem weitschichtigen Systeme von Büßungen und Tröstungen, von strengen Satzungen und unsicheren Gnaden führte er sie heraus zu energischer Konzentrierung. Der 4*

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lebendige Gott — nicht die philosophische oder mystische Abstraktion —, der offenbare, der gewisse, der jedem Christen erreichbare, gnädige Gott. Unwandelbares Vertrauen des Herzens auf ihn, der sich in Christus zu unserem Vater gegeben hat, persönliche Glaubenszuversicht: das wurde ihm die ganze Summe der Religion. Über alles Sorgen und Grämen, über alle Künste der Askese, über alle Vorschriften der Theologie hinweg wagte er es, Gott selbst zu ergreifen, und in dieser Tat seines Glaubens gewann sein ganzes Wesen selbständige Festigkeit. „Mit unserer Macht ist nichts getan." Er kannte jetzt die Macht, die unserem Leben Halt und Frieden verleiht, und wußte sich für immer geborgen. Glauben — das hieß ihm nun nicht mehr das gehorsame Fürwahrhalten kirchlicher Dogmen, kein Meinen und kein Tun, sondern die persönliche und stetige Hingabe des Herzens an Gott, welche den ganzen Menschen umschafft. Das war sein Bekenntnis vom Glauben: ein lebendig, geschäftig, tätig Ding sei derselbe, eine gewisse Zuversicht, die da fröhlich und lustig macht gegen Gott und alle Kreaturen, und die da immer bereit ist, Jedermann zu dienen und allerlei zu leiden. Unser Leben ist trotz aller Übel, trotz aller Sünde geborgen in Gott, wenn wir ihm nur herzlich vertrauen wollen: das wurde der Grundgedanke seines Lebens. In diesem hat er den anderen mit gleicher Gewißheit erkannt und erlebt, den Gedanken von der Freiheit eines Christenmenschen. Diese Freiheit war ihm nicht eine leere Emanzipation oder der Freibrief für jegliche Subjektivität, sondern Freiheit war ihm die Herrschaft über die Welt in der Gewißheit, daß, wenn Gott für uns ist, niemand wider uns sein kann; frei von allen menschlichen Gesetzen war ihm die Seele, die in der Liebe Gottes ihr höchstes Gesetz und das Motiv ihres Lebens erkannt hatte. Wohl hat er von den alten Mystikern gelernt; aber er hat gefunden, was sie suchten. Sie blieben stecken in erhabenen Gefühlen und brachten es nicht zur dauernden Empfindung des Friedens. Er drang durch zu einer aktiven Frömmigkeit und zu seliger Gewißheit. Er hat das Recht des Individuums zunächst für sich selber erkämpft; die Freiheit des Gewissens hat er erlebt. Aber das freie Gewissen war ihm 52

das innerlich gebundene, und das Recht des Individuums verstand er als die heilige Pflicht, es mutig auf Gott zu wagen und dem Nächsten selbständig und selbstlos in Liebe zu dienen. So wurde er der Anfechtungen ledig. Aber was er gefunden, das stellte sich ihm nicht als neue Lehre dar; im Gegenteil: er glaubte jetzt nur die alte Wahrheit erkannt zu haben, die eine üble Praxis und eine falsche Gelehrsamkeit verdeckt gehalten hatten. Seine Pietät gegen die alte Kirche behauptete sich zunächst unerschüttert: so blieb er denn auch weiterhin noch ein Mönch, und nur an der steigenden Freudigkeit, mit welcher er den neuen Lehrberuf in Wittenberg versah und sich in mancherlei Geschäften seines Ordens bewegte, zeigte es sich, daß er ein Anderer geworden. Wahrlich! dieser Reformator ist das Gegenbild zu allen leichtfertigen und vermessenen Reformern. Durch schwere Erfahrungen ist er erst in der Position fest geworden und hat an einen Angriff auf das Bestehende durchaus nicht gedacht. Aber eben die Position macht den wahren Reformator. Er bedarf einer persönlichen Idee, die zunächst ihn selbst völlig erfaßt und bemeistert. Aber er bedarf noch mehr. Er bedarf vor allem der unmittelbaren Einsicht in das, was den Bau der Gesellschaft zusammenhält. Er muß die neue Stütze immer schon in Bereitschaft haben, wenn er die morsche, alte wegnimmt. Sonst ist der erste Angriff entweder der Beginn eines allgemeinen Zusammenbruches, oder der kühne Neuerer wird selbst beiseite geschleudert. Nun — das ist das Großartige an Luther, in welcher Umsicht und Stetigkeit er vorgeschritten ist aus der Peripherie bis ins Zentrum. In einer bewunderungswürdigen Folgerichtigkeit entwickelte sich sein Angriff auf das herrschende System in den sechs Jahren von 1517—23. Das war keine kluge Berechnung; es war die segensreiche Folge der Pietät, mit welcher er selbst an dem Überlieferten hing. Ihm waren die alten Hüllen teuer; er hat sie sich selbst Stück für Stück vom Leibe reißen müssen, er hat mit schweren, inneren Kämpfen, mit seinem Herzblute, jeden Protest und Angriff bezahlt. Man hat ihm nicht mit Unrecht Unsicherheiten und Schwankungen in seinem Auftreten bis 1521 vorgeworfen, namentlich in seinem Ver53

hältnis zum Papst. Aber man hat dabei nicht bedacht, wie ehrenvoll f ü r ihn dieses Schwanken gewesen ist, und wie der Erfolg der Reformation davon abhing, daß er sich nicht überstürzte. Erst als er die ganze Verwirrung der Gewissen empfunden hatte, erst als er die babylonische Gefangenschaft erkannt hatte, in welche das Evangelium und das deutsche Volk durch das Papsttum geführt worden war, erst dann brach in i h m mit dem heiligen Zorn der Furor teutonicus los und entlud sich in furchtbaren Schlägen. Wie bescheiden, aus dem nächsten Kreise seines Berufes heraus, hatte er angefangen. Die A u f n a h m e des Thesenstreites mit T e t z e l war seine Pflicht als Wittenberger Seelsorger und Professor gewesen. Zur Buße hat er sein Volk da gerufen und die Kraft des Evangeliums der Kraft der Ablässe entgegengestellt. D a n n aber hatten ihn, wie er selbst angibt, die Gegner b e r ü h m t gemacht und zugleich immer weiter getrieben. Sie schlugen in die Kohlen: diese sprangen u m h e r und zündeten. Sie suchten zu löschen, und sie zeigten L u t h e r damit den U m f a n g des Brandes. Er hat sich nicht zum Reformator aufgeworfen — wer darf das? —, sondern dieser Beruf ist i h m aufgezwungen worden. Aber an jenem weltgeschichtlichen Tage zu Worms, da er vor Kaiser und Reich gestanden, da hat er das Szepter des Reformators erhalten und genommen. Jenes b e r ü h m t e „Ich kann nicht anders" war das innerste Geständnis seiner Seele. Das Gewaltige und Gute t u t n u r , wer nicht anders kann. D e n Schrecknissen, die jeder Umsturz zur Folge hat, vermag n u r der ins Auge zu sehen, dem wider das Gewissen zu handeln der höchste Schrecken ist. Die ernsten Folgen des Protestes zeigten sich nicht gleich anfangs. Ein Geistesfrühling zog über die deutschen Lande. Was sich nach Freiheit und Aufklärung sehnte, das begrüßte begeistert den Reformator. Zu Nürnberg protestierten die Stände des deutschen Volkes einmütig wider das alte System. Die verschiedenen unkräftigen Versuche zur Reform der Kirche, der Gesellschaft, der Wissenschaft, sie schössen gleichsam zusammen und schienen n u n einen Krystallisationspunkt gefunden zu haben. Aber bald wurden auch alle selbstsüchtigen Begehrungen und Wünsche der

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Menschen entbunden. Jeder Stand — Fürsten, Magistrate, Adel, Bürger und Bauer — hoffte bei der ungeheuren Bewegung zu gewinnen. Das „Evangelium" drohte das Schlagwort zu werden f ü r alle denkbaren Freiheiten, von der Freiheit eines Christenmenschen bis herab zur wilden Freibeuterei. Ernste Männer, die zuerst gewonnen gewesen, wandten jetzt der neuen Sache empört wieder den Rücken. D e n n mit der Entwurzelung der alten Vorstellung von der Kirche war alles ins Schwanken geraten. Hat Kopernikus das alte ptolemäische Weltsystem gestürzt: der Umsturz des Kirchensystems war zunächst von ungleich bedeutenderen Folgen. Er griff in alle Verhältnisse der Gesellschaft, des Staates, der praktischen Weltanschauung, des Kultus und der Sitte ein. Die Kirche nicht m e h r unfehlbar, ein Gebäude, an dem auch I r r t u m und Sünde gezimmert — welche Autorität sollte noch gelten, wenn die Säule der Wahrheit zusammenbrach? Alle Ordnungen des Glaubens und Lebens gerieten in Verwirrung. Die Fundamente der Gesellschaft schienen zu wanken. Aber L u t h e r kannte einen festen Boden, auf den er sich und sein Volk stellen wollte, das Wort Gottes, und er wußte von einer Kraft, mächtiger i m Bauen als im Niederreißen, der lebendige Glaube. „Staunenswert", hat ein großer Historiker gesagt, „ist der Ernst, die Tiefe, die Wahrhaftigkeit des Geistes, der in sich gerungen, bis er jene Erkenntnis fand und begriff und sich mit ihr erfüllte; staunenswürdiger, daß er angesichts der ungeheuren Bewegung, die sich auf ihn berief, auch nicht einen Augenblick irre geworden ist." L u t h e r ist kein eitler Volksmann geworden, als die Wogen einer allgemeinen Begeisterung ihn erhoben, und er hat nicht verzagt, als er sein Schiff durch wilde Wellen steuern m u ß t e . Er f ü h r t e nicht seine Sache; das Seelenheil der ganzen Nation t r u g er auf dem Gewissen. Die Verantwortung — wer von uns kann sie nachempfinden? — erhob ihn über alle Bedenken; sie stählte seinen Mut und sie legte i h m die neue Sprache des Zorns und der Liebe, trotziger Männlichkeit und kraftvoller Simplizität auf die Lippen. An seiner Person lag i h m nichts. Wohl wußte er sich als ein auserwähltes Rüstzeug: „Martinus L u t h e r im Himmel, auf Erden und in der Hölle 55

wohlbekannt" — aber von jedem selbstischen Interesse war er frei. „Gott kann zehn Doktor Martinus' schaffen, wo der einige alte ersöffe": in diesem Vertrauen auf seine Sache war er täglich bereit zu sterben. Diese Sache war i h m ganz und gar das Wort Gottes, das Evangelium. Mochten Andere hunderte von Nebenabsichten haben, reine und unreine, er kannte n u r diesen einzigen Leitstern. Keine Menschensatzungen sollten mehT gelten, sondern n u r das Wort Gottes. Gewiß, es war die segensreichste Entlastung, es war ein ungeheurer Fortschritt. Er bedeutete nicht n u r den Bruch mit der Kirche des Mittelalters, sondern in Wahrheit auch die Auseinandersetzung mit der Kirche des Altertums, mit dem Katholizismus, der sich in die T r ü m m e r der Antike eingebaut hatte. Wie die Humanisten den Rückgang auf das klassische Altertum lehrten, auf die Quellen aller Bildung, so verkündete L u t h e r den Rückgang auf das Evangelium, auf die Quelle der Religion. Was christlich ist, das sollte n u n nicht m e h r zweifelhaft sein. Keine priesterliche Geheimwissenschafl, kein wüstes Gemenge von Satzungen unter dem Schutze des Heiligen — nein jeder Laie, jeder schlichte Christ sollte in den Stand gesetzt sein, zu prüfen und zu erkennen, was christlicher Glaube ist. Das Wort Gottes nach dem reinen Verstände. I n dieser These war die unbefangene Ermittelung des wirklichen Wortsinnes der heil. Schrift gefordert. Jede willkürliche Auslegung nach Maßgabe von Autoritäten war abgeschnitten. L u t h e r hat, soweit er zu sehen vermochte, mit dieser Forderung Ernst gemacht. Er konnte freilich nicht ahnen, wie weit sie f ü h r e n würde. Aber seine methodischen Grundsätze vom „Dollmetschen", sein Respekt vor den Sprachen haben die Schriftwissenschaft begründet. Doch das ist n u r die eine Seite der Sache. Sie barg in sich ein schweres Problem; denn — was ist die Bibel ? ist sie nicht selbst ein Stück der kirchlichen Überlieferung? deckt sie sich so einfach mit dem Evangelium Christi? war es überhaupt möglich, dies komplizierte Buch, so wie es ist, zur unmittelbaren Richtschnur des Glaubens und Lebens zu erheben ? Was ließ sich nicht aus der Bibel erweisen ? berief 56

sich nicht auch die herrschende Kirche f ü r Glauben und Leben auf die Bibel? Gewißl Aber hier traten f ü r L u t h e r zwei maßgebende Gedanken ein. Er hat sie nicht in systematischer Klarheit durchgedacht, aber in lebendiger Überzeugung gehandhabt. Er hat den einen in entscheidenden Momenten seines Lebens aus den Augen verloren, aber er hat sich doch immer wieder auf ihn besonnen. Der eine war die Erkenntnis, daß der christliche Glaube ausschließlich an Gott u n d an die PeTson Christi gebunden sei, und daß daher nicht der Buchstabe der Schrift verpflichte, sondern allein das Evangelium, welches sie enthält. Der andere war die Gewißheit, daß alle selbsterwählten Formen der Frömmigkeit vom Übel seien, daß die Bewähr u n g der Religion daher in den großen Ordnungen des menschlichen Lebens, in Ehe, Familie, Staat und Beruf, erfolgen müsse. Eben weil er davon durchdrungen war, daß kein Mensch u m Gottes willen etwas t u n könne und dürfe, eben weil er das ganze Verhältnis des Menschen zu Gott nicht auf ein T u n und nicht auf ein Wissen, sondern lediglich auf die gläubige Gesinnung gründete, so erkannte er keine Übungen als wertvolle mehr an, die angeblich in besonderem Sinne „Gottesdienst" sein sollten. Es gibt n u r einen direkten Gottesdienst: das ist die kräftige Zuversicht auf Gott; sonst gilt die ansnahmslose Regel, daß man Gott in der Nächstenliebe zu dienen habe. Weder mystische Kontemplation noch asketische Lebensführung liegen in dem Evangelium beschlossen. Es ist ausdrücklich zu konstatieren, daß diese beiden Grundgedanken sich f ü r L u t h e r aus dem Religionsbegriff ergaben, wie er ihn erfaßt hatte. Die Freiheit vom Gesetz des Buchstabens und das Recht der natürlichen Lebensordnungen — sie waren f ü r ihn keine selbständigen Ideale. Aber sie fielen i h m zu, indem er das Evangelium durchdachte, verkündete und anwandte. Die Wirkungen waren unermeßliche; denn es war n u n mit einem Schlage die Religion aus der Verkuppelung mit allem ihr Fremden befreit und zugleich das selbständige Recht der natürlichen Lebensgebiete — d a r u m auch der Wissenschaft von ihnen — anerkannt. 57

Die Religionslehre soll nun nichts anderes mehr sein als die Darlegung des Evangeliums, wie es die christliehe Gemeinde erzeugt hat und zusammenhält. Ihre Gewißheit soll nicht mehr beruhen auf einer äußeren Autorität, aber auch nicht auf philosophischen Erwägungen. Die Philosophie ist nicht mehr die gefürchtete Dienerin der Theologie, sondern ihre Bemühungen sind unabhängig von jeder theologischen Bevormundung. Über dem großen Gebilde, welches wir Mittelalter nennen, über diesem Chaos unselbständiger und in sich verschlungener Gestaltungen, schwebte der Geist des Glaubens, der seine eigene Natur und darum seine Schranken erkannt hatte. Unter seinem Wehen rang sich alles, was ein Recht auf freie Geltung hatte, zu selbständiger Entfaltung empor. Vor Luther hat kein Anderer so klar und entschieden die großen Gebiete des Lebens getrennt. Wunderbarl dieser Mann wollte die Welt nichts Anderes lehren als was das Wesen der Religion sei; aber indem er ein Gebiet in seiner Eigentümlichkeit erkannte, kamen alle anderen zu ihrem Rechte. Der Staat — nicht mehr ein fatales Gebilde aus Zwang und Not, bestimmt sich an die Kirche anzulehnen, sondern die souveräne Ordnung des öffentlichen gemeinschaftlichen Lebens; das Recht — nicht mehr ein undefinierbares Mittelding zwischen der Macht des Stärkeren und der Tugend des Christen, sondern die selbständige, von der Obrigkeit gehütete Norm des Verkehrs; die Ehe — nicht mehr eine Art von kirchlicher Konzession an die Schwachen, sondern die gottgewollte, aber von jeder kirchlichen Bevormundung freie Verbindung der Geschlechter, die Schule der höchsten Sittlichkeit; die Armenpflege und Liebestätigkeit — nicht mehr ein tendenziöses Getriebe zur Versicherung der eigenen Seligkeit, sondern der freie Dienst am Nächsten, der in der wirklichen Hilfeleistung seinen letzten Zweck und seinen einzigen Lohn sieht. Aber über das Alles: der bürgerliche Beruf, die schlichte Tätigkeit in Haus und Hof, in Geschäft und Amt — nicht mehr die mißtrauisch beurteilte, weil vom Himmel abziehende Beschäftigung, sondern der rechte geistliche Stand, die Sphäre, in welcher sich die Gesinnung und der Charakter zu bewähren hat. 58

Nun — alle diese Überzeugungen sind heute Gemeingut bei uns geworden; aber nur zu häufig wird es vergessen, durch wen sie zu kräftigem Leben geweckt worden sind. Wir behaupten sie heute unabhängig von jedem religiösen Glauben, und es scheint vielleicht den Meisten unter uns, daß sie dieselben völlig entbehren könnten. Ja in Hinblick auf die irrationalen Formen des Kirchenglaubens, welche Luther nicht aufgegeben hat, stellt sich wohl, bald mehr bald minder deutlich formuliert, das Urteil bei Vielen ein, die Reformation an und für sich sei eine Reaktion gewesen, die mehr geschadet als genützt habe; der Fortschritt sei neben ihr und unabhängig von ihr durch eine Reihe günstiger Konjunkturen entstanden. Ein Moderner hat das jüngst also ausgedrückt: „Eine Vergleichung zwischen dem alten und dem neuen Kirchenglauben zeigt keinen Kulturgewinn. In der römischen Kirche war der Begriff der Wahrheit verloren gegangen und im Protestantismus nicht wieder entdeckt worden. Die Grundlage der alten Kirche blieb in ihrem Kerne unberührt. Das luftige Gebäude des Aberglaubens ward nicht zerstört, vielmehr durch den Bibelglauben noch mehr befestigt. Die Vernunft hat an dem Werke der Reformation ebensowenig Anteil als die Freiheit." Dies Urteil ist von jenem Standpunkt aus irrig; denn daß durch die Reformation das Gebiet des Aberglaubens mindestens eingeschränkt worden ist, ist unfraglich. Doch dies nur nebenbei. Vor allem sind hier die eigentümlichen Bedingungen verkannt, an welcher jeder entscheidende Fortschritt der Menschheit gebunden ist. Zerstörung des Aberglaubens für sich allein — so notwendig dieselbe ist — vermag weder in die Tiefe noch in die Breite zu wirken. Es bedarf eines durchschlagenden neuen Ideals praktischer Lebensgestaltung, welches an das Vorhandene anknüpft, um es umzubilden, es bedarf einer Erhöhung der sittlichen Kraft und des Gefühls der Verantwortlichkeit, um die Erschütterungen, die jeder Fortschritt mit sich bringt, zu überwinden; und es bedarf endlich einer Persönlichkeit, die in der Sache aufgeht und sie auf diese Weise in die Welt wirksam einführt. Man kann unbedenklich zugeben, daß Luther in mehr als einer Hinsicht eine mittelalterliche Er59

scheinung gewesen ist, man muß sogar behaupten, daß sein Auftreten das Absterben gewisser mittelalterlicher Ideen verzögert hat — aber was will das sagen? Wenn alles verderblich ist, was unsern Geist befreit, ohne uns t^e Herrschaft über uns selbst zu geben, so ist nichts segensreicher und fördersamer — auch für die Befreiung des Geistes — als die Kräftigung seiner sittlichen Natur und die Versicherung seines Adels. Das aber hat die Reformation geleistet. Sie hat vor allem die Geister erst fähig gemacht, die Erkenntnisse, welche die Zukunft bringen sollte, zu ertragen, ohne die Herrschaft über sich selbst zu verlieren; denn sie hat ihnen eine unerschütterliche Stellung über der Welt angewiesen. Nun nehme man auch alles zusammen, was man zum Nachteile der Reformation anführen muß, die harten Ungerechtigkeiten, die neuen Irrtümer, die teilweisen Rückschritte, die unsäglichen Erbärmlichkeiten in der Durchführung — das alles verschwindet gegenüber dem, was wir ihr schuldig sind, und zwar wir alle, nicht nur die evangelischen Deutschen. Darf ich es mit den Worten Goethes sagen: „Wir wissen gar nicht, was wir Luthern und der Reformation im allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsenden Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen." Gewiß, hier liegt es, und hier liegt zugleich die epochemachende Bedeutung Luthers für die Wissenschaft. Luther hat nicht nur angefangen, die Erkenntnis der Wahrheit vom Machtspruch der Überlieferung zu befreien und damit eine reine Betrachtung der Geschichte zu ermöglichen, sondern er hat die Freiheit und Verantwortlichkeit des Arbeitenden verkündet. Er hat die Arbeitsgebiete getrennt und sie eben dadurch einzeln in ein helles Licht treten lassen. Er hat ferner das selbständige Recht jeder Berufsarbeit, und so auch der wissenschaftlichen, geltend gemacht. Aber über das alles: er hat dem wissenschaftlichen Arbeiter eine Gewißheit seines Gott geschenkten, persönlichen Wertes 60

und damit einen unverwüstlichen Idealismus eingehaucht, der ihn wappnet gegen die Erschütterungen des Selbstbewußtseins, die eine Folge aller empirischen Erkenntnis und aller Mystik sind. Demgegenüber kann man wohl dreist behaupten, daß dies alles auch ohne L u t h e r von unserem Geschlecht, oder gar von uns selbst, errungen worden wäre; aber eine solche Behauptung wäre zum mindesten eine völlig undiskutierbare These, eine geschichtliche Kannegießerei. Nur das Gewordene, nicht „was geworden wäre", vermögen wir zu erkennen. Geworden aber ist infolge der Reformation, nicht infolge der Renaissance oder der wiedertäuferischen Mystik, jene unbefangene, nüchterne und gottvertrauende Gesinnung und Stimmung, die uns den klaren Blick f ü r die Dinge dieser Welt erst ermöglicht und uns erlaubt hat, dieselben mutig und freudig zu erfassen. L u t h e r hat die Wissenschaft befreit, indem er den Christen wieder gezeigt hat, der an dem Evangelium erwachsene Glaube trage seine Zuversicht in sich selber; er bedürfe weder noch dulde er äußere Autoritäten und philosophische Umdeutungen. Die Renaissance hatte — zum Teil wider ihren Willen — f ü r das alte System gearbeitet. Was man „Luthers L e h r e " nennt, sieht i h m äußerlich recht ähnlich. Achtet man aber auf die Absichten und schließlich auch auf den Erfolg — die Absichten kommen in Betracht, und ungebrochene Erfolge gibt es in der Geschichte nicht — s o ist das Walten eines neuen Geistes unverkennbar. Aber die Enge und U n v e r n u n f t des theologischen Systems, welches die lutherische Orthodoxie aufgerichtet h a t ! Nun zunächst bei L u t h e r selbst herrscht die Kraft und Form einer unmittelbaren Überzeugung. Das Systematische tritt zurück, und wo er systematisiert, ist's nicht zum Vorteil seiner Sache. Erst hinter den hellen und lebendigen Überzeugungen r u h t bei i h m wie bei allen energischen, großtätigen und fortschreitenden Naturen ein geheimnisvoller Glaube, der den kleingesinnten und auf sich selbst beschränkten Menschen ein Ärgernis, den rückschreitenden und schwachen eine Gefahr und denverständigen ein Rätsel ist. Sie selbst haben freilich allzumal keine Rätsel, noch weniger sind sie solche.

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Das Glaubenssystem, welches sich auf Luthers Predigt auferbaute, mußte unter den Zeitumständen schnell gezimmert werden. Noch war der Horizont der Menschen ein eng begrenzter, ihre Vorstellungen vielfach mittelalterliche. Man hatte ein Volk in Kirche, Schule und Haus zu erziehen. Man hatte ein neues Kirchenwesen zu gründen. Man hatte die Stürmer und Dränger abzuwehren. Welche Aufgaben I Daß die neue Idee, welche in die Erscheinung trat, wirklich im Laufe von kaum zwei Menschenaltern einen Leib erhielt, daß überhaupt Formen auf allen Gebieten des Lebens gefunden wurden, daß in diesen Formen wirklich auch die Sache, der evangelische Glaube, zum Ausdruck gekommen ist — wahrlich nur im Verdruß über die seltsame Zumutung, das altprotestantische Glaubenssystem für das reine Evangelium zu nehmen, kann man dieses System selbst anklagen und für unwert halten. Auf seinem Boden hat doch im 17. Jahrhundert nicht nur ein P a u l G e r h a r d t mit seiner lebendigen Frömmigkeit, sondern auch ein K e p p l e r gestanden. Sie fühlten sich durch dasselbe nicht beengt, sondern erweitet und bestimmt. Was wir heute als Last empfinden, das war es damals noch nicht. Aber die heftigen theologischen Streitigkeiten und die traurigen Spaltungen, welche sich so schnell bei den Protestanten einstellten! Auch sie lassen ein günstigeres Urteil zu. Sie waren eine Folge des Zusammenbruchs der äußeren Autoritäten; sie waren aber zugleich eine Folge der neuen protestantischen Gewissenhaftigkeit in Glaubenssachen. Man muß sie zusammenhalten mit der Bereitschaft der Gegner, um Dogmen zu markten und zu handeln. Luther und seine Schüler zeigten keine Toleranz. „Unsere Liebe ist bereit, für jedermann in den Tod zu gehen; aber unser Glaube ist uns unantastbar wie unser Augapfel." Nun in der Tat, es gibt nichts Intoleranteres als die Wahrheit; sie kennt keine Konzessionen. So lag auch damals der Fehler nicht in dem Mangel der Toleranz, sondern in der Beschränktheit der Erkenntnis. Daher, als Luther zu Marburg Zwingli die Bruderhand verweigerte, da handelte er in Kraft der höchsten Gewissenhaftigkeit. Wir können seine Auffassung als eine irrtümliche beklagen, aber wir müssen die Festigkeit seines Charakters bewundern. 62

Seitdem sind Spaltungen auf Spaltungen erfolgt. Aber trotz allen Jammers, den sie angerichtet, trotz aller Verkümmerungen, die sie verursacht, trotz aller Übel, die sie über unser Vaterland gebracht haben — die Protestanten tauschen nicht mit der scheinbaren Einheit und Geschlossenheit der Gegner; denn sie achten die Voraussetzung dieser Einheit nicht für ein Gut, sondern für ein Übel. Wohl wissen wir, was die Reformation uns Deutschen gekostet hat und noch immer kostet. Sie hat unsere politische Einigung um Jahrhunderte verzögert; sie hat uns den dreißigjährigen Krieg gebracht; sie hat es uns erschwert, der Kirche des Mittelalters, ja auch der alten Kirche, gerecht zu werden — man bricht nicht mit der Geschichte ohne sie zu verdunkeln — ; sie hat uns in eine konfessionelle Spaltung geführt, die noch eben für unsere Weiterentwicklung verhängnisvoll ist. Aber sie hat zugleich alles das begründet, was wir heute als unsere Eigenart und Größe schätzen dürfen. Wir sind nicht dazu verurteilt, die Reformation lediglich so zu rühmen und zu verteidigen, daß wir an ihre Anfänge erinnern. Durch Martin Luther ist die Bildung des 18. und 19. Jahrhunderts vorbereitet worden. Neue Faktoren sind eingetreten ; aber der Grund ist im 16. Jahrhundert gelegt worden. Und die Segnungen der Reformation haben sich über alle Deutschen erstreckt, auch über die römischen; ja der Katholizismus selbst hat sich bei uns ihren Einwirkungen nicht entziehen können. Er hat nicht nur ehrwürdigere Priester und einen reineren Kultus, sondern geradezu eine andere Gestalt, eine andere Tiefe und einen höheren Ernst erhalten als in den romanischen Ländern. Man kann es jenseits der Alpen von kompetenter Seite nicht selten hören: „die Deutschen sind alle Häretiker". Was anders soll damit gesagt sein, als daß sich bei uns in Sachen der Religion das Bewußtsein einer persönlichen Verantwortlichkeit ausgebildet hat, wie es die romanischen Völker in diesem Grade nicht zu kennen scheinen? Aber wir wollen uns nicht selbst bespiegeln. Auch bei uns, im Lande der Reformation, sind Passivität und Stumpfheit die eigentlichen Feinde. Wir haben die theologischen Formeln der Vergangenheit beiseite legen müssen; aber was haben so viele unter uns — die Frage ist heute wohl er63

laubt — an ihre Stelle gesetzt? Eine durchweg relative Weltanschauung und eine historische Stimmung. Reichen sie wirklich aus, damit wir das Höchste leisten? Ist der Standpunkt wohlwollender Indifferenz, auf welchem der religiöse Glaube harmlos wird, der erhabenste, der uns alles Große und Edle verbürgt und n u r die alten Schatten verscheucht ? Anders hat sich darüber jüngst ein nicht befangener Schriftsteller, R e n a n , in öffentlicher Rede geä u ß e r t : „Es ist", sagt er, „vielfach den heute widerlegten Glaubensformeln zu verdanken, wenn noch ein Rest von Tugend in uns übrig ist. Wir leben von einem Schatten, von dem D u f t einer leeren Flasche; nach uns wird m a n leben vom Schatten des Schattens, und oft bin ich bange, daß m a n doch zu wenig daran haben werde." Ein mutiges, aber ein trauriges Bekenntnis! Sind auch wir schon so weit? Ist mit der Widerlegung der theologischen Glaubensformeln der Vergangenheit das Evangelium selbst widerlegt und abdekretiert ? Haben wir es nicht mehr nötig ? oder brauchen wir es nicht m e h r wie je in Hinblick auf unsere fortschreitende Naturerkenntnis, in Hinblick auf die geistige Beschränkung, welche uns unsere Arbeitsteilung auferlegt, in Hinblick auf unsere verödete Geselligkeit und auf die stets zunehmende und leider notwendige Mechanisierung unseres öffentlichen Lebens? Wir brauchen es u n d dankbar wollen wir es halten. Zu überwundenen Stufen geistiger Entwicklung können wir allerdings nicht m e h r zurückkehren. Aber L u t h e r hat uns kein Religionssystem fertig gezimmert — Systeme entstehen und vergehen —, sondern er hat uns auf einem festen Boden eine bleibende Aufgabe vorgezeichnet: wir sollen uns auf dem Grunde des Evangeliums stets aufs neue reformieren und wider Gesinnungslosigkeit und Machtsprüche mutig allzeit protestieren. Auf dem Grunde des Evangeliums, denn — ,,mag die geistige Kultur n u r i m m e r fortschreiten und der menschliche Geist sich erweitern wie er will, über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien ^schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen." Wohl müssen wir die alten Bäume niederschlagen, wenn sie überstämmig und morsch geworden sind; aber wir rotten nicht den alten

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Wald aus, sondern wir suchen ihn eben dadurch frisch und kräftig zu erhalten. Die Zukunft unserer Nation und schließlich auch aller unserer Arbeit hängt davon ab, daß wir die Antriebe zur Indifferenz und Stumpfheit, aber auch zu Rückschritt und Obskurantismus überwinden und uns zu einem freien Christentum der Gesinnung und der Tat emporringen. Den Weg zu diesem Ziele aber hat uns nach einer langen Nacht der Mann gewiesen, von dem wir das Wort wagen dürfen: Er war die Reformation. Was in ihr Großes, Gewaltiges, für alle Zeiten Dauerndes und Vorbildliches enthalten war, das ist einzig gegeben und verkörpert gewesen in seiner Person, in der Person des Wittenberger Professors Dr. M a r t i n L u t h e r .

5 H a r n a c k , Auswahl

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δ WAS W I R VON D E R RÖMISCHEN KIRCHE LERNEN UND NICHT LERNEN SOLLEN (1891) Was wir von der römischen Kirche lernen und nicht lernen sollen: vielleicht wird die erste Hälfte der Frage nicht wenige befremden. Sie werden sagen: Von der römischen Kirche haben wir nichts zu lernen. Allein bei näherem Nachdenken wird wohl jeder gestehen müssen, daß es mit der bloßen Abwehr nicht getan ist. Sollen wir doch auch vom Feinde lernen, und die römische Kirche ist nicht in jeder Hinsicht unser Feind. Was ist die römische Kirche? Allem zuvor — sie ist nicht nur religiöse Gemeinschaft, sondern ein Staat, und zwar die Fortsetzung des alten römischen Weltreiches, ja dieses Recht selbst mit demselben politisch-juristisch-religiösen Geiste. Ich spreche hier nicht im Sinne einer Vergleichung, sondern ich bitte, mich ganz wörtlich zu verstehen. Das weströmische Reich lebt in der Form der römischen Kirche wirklich unter uns fort mit seinem Despotismus, mit seinen Heiligtümern — voran die ewige Roma selbst —, mit seinen Rechtsgrundlagen und seiner vorwiegend juristischen Auffassung der irdischen und himmlischen Dinge. Man mag auf die Verfassung, die Disziplin, den Kultus bis auf die Priestergewänder blicken: überall sieht man sich an das alte Reich erinnert, an die vierte Danielische Weltmonarchie, und sehr vieles im Wesen und Leben dieser Kirche wird einem überhaupt nur klar, wenn man bei der geschichtlichen Beurteilung nicht von Jesus und den Aposteln ausgeht, sondern von den Cäsaren, nicht von Galiläa, sondern von Rom, nicht von der Bibel, sondern von dem kaiserlichen Recht. Einst hat Alphanus von Salerno den großen Hildebrand also angeredet:

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Nimm des ersten Apostels Schwert, Petri glühendes Schwert zur Hand! Brich die Macht und den Ungestüm Der Barbaren: das alte Joch Laß sie tragen für immerdar! Sieh, wie groß die Gewalt des Banns: Was mit Strömen von Kriegerblut Einstmals Marius Heidenmut Und des Julius Kraft erreicht, Wirkst du jetzt durch ein leises Wort. R o m , von neuem durch dich erhöht, Bringt dir schuldigen Dank; es bot Nicht den Siegen des Scipio, Keiner Tat der Quiriten je Wohlverdienteren Kranz als dir.

Überzeugter und kraftvoller kann man den Gedanken, die römische Kirche sei das alte Rom, der Papst der Cäsar, die Germanen noch immer die zu unterjochenden Barbaren, nicht ausdrücken, als es dieser italienische Erzbischof getan hat! Nur die Sprache hat gewechselt, nicht der Geist. Die römische Kirche ist zweitens eine Schule und eine Versicherungsanstalt — eine Schule für die ewig Unmündigen, weil sie es bequem finden, in religiösen Dingen unmündig zu bleiben, eine Versicherungsanstalt für die, welche die Güter des Evangeliums wünschen, ohne ergriffen zu sein von der inneren Macht des Evangeliums. Keine Kirche vermag sich wider solche sicher zu stellen, aber nur die römische Kirche versichert sie. Die römische Kirche hat aber endlich auch das Evangelium noch immer in ihrer Mitte. Es hat in ihr zu allen Zeiten gute und große Christen gegeben, und ich zweifle nicht, daß es noch heute in ihr solche gibt. Sie wissen sich zugleich als treue Söhne ihrer Kirche, und wir haben kein Recht, das in Frage zu stellen oder sie der Selbsttäuschung anzuklagen. Ein jeder wird ungerecht gegen die römische Kirche, der diese Tatsache nicht würdigt. Das Geheimnis dieser Kirche ist, daß sie Weltstaat, Schule, sakramentale Versicherungsanstalt und Gemeinschaft des Glaubens zugleich ist. Wer bezweifelt, daß dies möglich ist, soll sich aus der Geschichte belehren, daß es wirklich ist. 5'

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Was können wir von dieser Kirche f ü r unsre eigene Kirche, f ü r den Protestantismus, lernen? N u n erstlich — Geduld. Was die vollkommene und einheitliche Ausgestaltung des Katholizismus betrifft, so hätte ein Kirchenhistoriker des fünfzehnten Jahrhunderts die Frage nach dem Wesen dieser Kirche n u r mit großer Schwierigkeit oder vielmehr gar nicht beantworten können, so verschiedene Strömungen, Lehren und Ziele waren damals in ihr vorhanden. W e n n er sich mit seiner Beurteilung nach Gerson oder nach Hus oder nach Thomas von Kempen oder nach Papst Pius II. oder nach Savonarola oder nach Picus von Mirandola gerichtet hätte, so hätte er jedesmal ein anderes Bild bekommen. So vielgestaltig wie die katholische Kirche im fünfzehnten Jahrhundert war, so vielgestaltig ist heute der Protestantismus, der erst dreiundeinhalb Jahrhunderte besteht. Wir können daraus lernen, daß Konfessionen sich sehr langsam entwickeln und erst allmählich ihr wahres Wesen zu eindeutigem, klarem Ausdruck bringen. Der römische Katholizismus hat mehr als 1500 Jahre gebraucht. An diesem Maßstabe gemessen, dürfen wir vielleicht sagen, daß der Protestantismus sich hoch in der Zeit der Kinderkrankheiten befindet, und müssen Mut in Geduld fassen. Zweitens können wir aus der Geschichte der katholischen Kirche lernen, daß selbst in dieser Kirche, die so ganz auf die Verfassung gestellt ist, niemals die Verfassungsreformen, sondern stets die lebendigen f r o m m e n Personen einen Aufschwung bewirkt und einen Fortschritt herbeigeführt haben. Die großen Mönche haben neue Stufen in der Entwicklung der Kirche herbeigeführt, nicht die großen Politiker, oder vielmehr die Politiker n u r , weil sie auf den Schultern der Mönche standen. Hier können wir lernen, daß es mit Verfassungsänderungen in der Kirche nicht getan ist, mag man n u n stärker binden oder entschlossener lösen. Es kommt überall n u r auf die Personen an, die sich von der Welt befreit und in Gott ihre Stärke gefunden haben. Ein Franziskus ist mächtiger gewesen als viele Kirchenfürsten. Der R u f : Mehr Freiheit f ü r die Kirche! ist letztlich ebenso gleichgültig wie der andre: Man m u ß der Kirche einen Z a u m anlegen. W e n n ein wirkliches Leben fehlt, wird die

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Freiheit nichts nützen, und wenn es vorhanden ist, wird der Zaum nicht schaden. Ein Drittes, was wir von der römischen Kirche lernen können, ist der Gedanke der Katholizität, der Zug nach einer allgemeinen und wirksamen Verbrüderung der Menschen durch das Evangelium, das Streben nach Verwirklichung des Gedankens Jesu Christi: Ein Hirt und eine Herde. Ich glaube es aussprechen zu dürfen — der ernste Katholik empfindet den Segen einer großen christlichen Gemeinschaft lebendiger, die Spaltung der Christenheit schmerzlicher, die Aufgabe, die allen Gläubigen gesetzt ist, gewissenhafter als wir. Bei uns ist das Bewußtsein u m diese Aufgabe, alle Menschen innerlich als Kinder Gottes und Brüder Jesu Christi zu verbinden, in der Regel n u r schwach entwickelt. Es gibt bei uns viele, die nicht n u r die T r e n n u n g zwischen Katholizismus und Protestantismus f ü r normal halten, sondern auch die Spaltung des letztern in unzählige Landeskirchen und Freikirchen, die sich sogar h ä u f i g die Bruderhand verweigern. Aber der große Gedanke der allgemeinen durch das Christentum herbeizuführenden Einheit der Völker wird durch andre Ideale nicht ersetzt. Wir freuen uns, wenn in dieser Welt der materiellen Interessen ein edler Patriotismus gepflegt wird. Aber wie armselig ist doch der Mensch, der i m Patriotismus sein höchstes Ideal erkennt oder i m Staate die Zusammenfassung aller Güter verehrt! Welch ein Rückfall, nachdem wir in dieser Welt Jesus Christus erlebt haben! Wir sollen daher mit aller Kraft die christliche Einheit der Menschheit erstreben, in unsern kleinen Kreisen aufgeschlossen und weitherzig sein, u m fähig zu werden, daran zu glauben, daß die brüderliche Einheit der Menschheit kein T r a u m der T r ä u m e r ist, sondern ein vom Evangelium unabtrennbares Ziel. Daß wir hier stumpfer geworden sind, ist eine Folge unsrer Trennung. Diese T r e n n u n g war notwendig; aber n u r ein ganz kurzsichtiger Protestant kann verkennen, daß sie nicht n u r unsern Gegnern Schaden gebracht hat, sondern auch uns. Ich fürchte nicht, daß das bisher Gesagte auf Widerspruch stößt, auch nicht, daß das, was wir von der römischen Kirche hier lernen können, verkannt wird. Aber ich habe 69

noch anderes zu erwähnen, was nicht von vornherein auf Zustimmung rechnen kann. Ich werde mich bemühen, es so zu sagen, daß ich jede Mißdeutung ausschließe. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das innere Leben der katholischen Kirche. Es ist das Moment der Anbetung, das ich erstlich ins Auge fassen möchte. Unser evangelisches Christentum ist doktrinär geworden, und unser öffentlicher Gottesdienst nicht minder. Dieser Doktrinarismus ist der Schatten unsrer berechtigten Eigenart und unsrer besten Güter, aber es ist doch ein Schatten. Die Religion ist ein Leben, und als ein Leben soll sie sich überall darstellen, wo sie sich einen Ausdruck gibt — sie ist ein Leben in Gott. Leben in Gott ist Anbetung. Wohl ist forcierte Anbetung etwas höchst Abschreckendes, aber ein Sprechen über die Religion, die Formel anstatt der Sache, die Hülse anstatt des Kerns, ist nicht minder schrecklich. Und nun vollends, wenn diese Formeln abgebraucht und schal geworden sind, wenn sie auch den Verstand nicht mehr interessieren, der das Herz so lange getäuscht hat! Oder wenn die Theologie mit ihren historischen und kritischen Problemen sich einmischt in die Frömmigkeit und diese allmählich durchsetzt und zum buntscheckigsten Gewände macht! Eine Studentengeschichte will wissen, ein berühmter Theologe habe einst gebetet: Großer Jahveh, den der unwissende Gesenius noch immer Jehova nennt I Es ist eine schlimme Geschichte, die sicherlich erfunden ist, aber sie ist nicht übel erfunden. Es gibt einen Doktrinarismus in der Religion, der alle Religion profaniert, und es gibt einen anderen Doktrinarismus, der sie allmählich lähmt. Ihm gegenüber gilt es, die Religion immer wieder auf sich selbst zurückzuführen und ihr auch in der öffentlichen Darstellung Gelegenheit zu geben, sie selbst zu sein. Wir können hier von der katholischen Kirche viel lernen. Sie fordert energischer und vielfältiger zur Anbetung auf als wir, innerhalb und außerhalb des Gottesdienstes. Ich vermag keine Ratschläge zu geben, wie wir es machen sollen; aber ich sehe deutlich, was uns fehlt. An der ältesten Kirche können wir uns ein Muster nehmen. Ihre Gemeindezusammenkünfte dienten der gemeinsamen Anbetung und der Nächstenliebe. Wir wollen nicht verlieren, was wir haben; aber wir müssen unser gottesdienst70

liches Gemeindeleben neu gestalten, um nicht zu verlieren, was wir haben. Zweitens, der Protestantismus richtete sich von Anfang an gegen die Messe und damit gegen das Schema vom Opfer überhaupt. Das war notwendig nach allen den schweren Mißbräuchen, die mit „Opfern" getrieben worden waren. Aber wir haben die Idee des Opfers, die doch eine neutestamentliche ist, im Grunde vollständig verworfen. Ich finde, daß weder in der Predigt noch im Unterricht noch in der praktischen Anwendung der Religion vom Opfer bei uns mehr die Rede ist, es sei denn in der Anwendung des Begriffs auf das Werk Christi. Das ist ein ungeheurer Umschwung in der Religionsgeschichte; denn noch hat es keine Religion gegeben, in der nicht die Opferidee das Leben der Religion beherrschte. Aber wir fordern im Protestantismus doch das Höchste, die Hingabe der ganzen Persönlichkeit. Gewiß — nur fürchte ich, daß bei uns das Bessere oft der Feind des Guten ist, und daß wir uns durch eine gewisse abstrakte Strenge, das Höchste zu fordern oder nichts, oftmals die Seelen entgehen lassen. Der Mensch lebt im Leben des Tages nicht deutlich in den großen Kontrasten, sondern in dem Widerspiel abgestufter Stimmungen und Motive. Hier kann kein andres Schema das des Opfers ersetzen. Man muß Opfer bringen, wenn man Ideale hat und geistige Güter erwerben oder festhalten will. Der Mensch hat nut soviele Ideale, als er Opfer bringt. Es wird bei uns zu wenig Entsagung verlangt, und zu selten hört man die eindringliche Mahnung an unser Geschlecht, daß es opferscheu ist und deshalb lau, mutlos und charakterlos. Das Wort „Opfer" hat fast einen so schlimmen Klang bei uns erhalten, wie das Wort „Tugend". In beiden Fällen haben große religionsgeschichtliche Umwälzungen die Quieszierung dieser Begriffe veranlaßt; aber um unser geistiges und inneres Leben gesund zu erhalten, welches mit den geringsten Mitteln gebaut ist, können wir diese Schemata nicht entbehren. Wir müssen den Mißbrauch vermeiden, und doch von Anfang an unsre Jugend wieder lehreji, daß alles religiöse und sittliche Leben auf Opfer gestellt ist, und daß nur der das Größere gewinnt, der freudig das Geringere dahingibt. 71

Drittens, die Reformation hat an die Stelle des Sakraments der Buße die aus dem Glauben entspringende bußfertige Gesinnung gesetzt. Es war ihre größte und einschneidendste Tat, daß sie Buße und Vergebung streng und sicher aufeinander bezogen und demgemäß die Beichte und die Satisfaktionen zurückgestellt hat. AbeT wir haben dabei doch eine Einbuße erlitten, indem die Beichte, weil dogmatisch gleichgültig, v e r k ü m m e r t ist und schließlich in der Praxis so gut wie ganz aufgehört hat. Wohl erziehen wir unsre Kinder so, daß sie ihre Fehler und Sünden mündlich bekennen sollen, und auch die Verbrecher in den Gefängnissen suchen wir zu einem Schuldbekenntnis zu bewegen. Aber über Kinder und Gefangne hinaus haben wir die Einsicht des Segens der confessio verloren. D a f ü r haben wir uns an allgemeine Schuldbekenntnisse in Bausch und Bogen gewöhnt. Sie fallen uns außerordentlich leicht, so leicht, daß es bereits zum guten Kirchenton gehört, wo n u r immer eine christliche Versammlung zur Besprechung einer wichtigen Tagesfrage abgehalten wird, ein allgemeines Schuldbekenntnis vorauszuschicken. Eine seltsame und traurige Verwechsl u n g ! Statt dem Einzelnen die Überlieferung und die Gelegenheit zu schaffen, sich zu bekennen u n d durch Aussprache innerlich zu befreien, tauscht man ein Formular ein. Jenes ist schwer, aber heilsam; dieses ist leicht, aber völlig gleichgültig, ja abstumpfend. Ich bin wohl gegen das Mißverständnis gedeckt, als wünschte ich eine obligatorische Ohrenbeichte. Sie ist das Schlimmste von dem Schlimmen, denn sie f ü h r t , wie die E r f a h r u n g gelehrt hat, zur Lüge. D a r u m ist jeder andre Zustand ihr vorzuziehen. Aber zwischen der obligatorischen Ohrenbeichte und dem Nichts, das wir an ihre Stelle gesetzt haben, gibt es noch viele Stufen. Ich möchte auch gar nicht in erster Linie die Pfarrer und öffentliche kirchliche Einrichtungen herangezogen wissen, sondern ich möchte, daß man es auch den Erwachsenen eindringlich einprägt, welch ein Mittel f ü r die Gesundheit der Seele und welch ein Mittel f ü r eine geistige Gemeinschaft sie damit preisgeben, daß ein jeder seine eigene Last trägt u n d darauf verzichtet, sich auszusprechen. Gewiß gibt es Menschen, so stark und so zart, daß sie mit sich und ihrem Gott allein fertig werden können und müs-

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sen; aber sie sind nicht in der Mehrzahl. Für die meisten gilt es, daß sie sich von sich selbst und von böser Schuld nur in dem Maße zu befreien vermögen, als sie offen gegen andre sind und ihre Seele von der Liebe eines Bruders führen lassen. Jede Aussprache stärkt bereits den Charakter, und zu wissen, daß eine andre Seele die eigne Last, die man bekannt hat, mit trägt, ist einer der stärksten Hebel zum Guten. Dürfen wir sagen, daß in unsrer evangelischen Kirche in dieser Richtung etwas Nennenswertes geschieht? Haben wir eine Überlieferung hierfür? Können wir hier nicht von der katholischen Kirche lernen, und ist es nicht sträfliche Torheit, der wurmstichigen Früchte wegen den ganzen Baum der Beichte auszurotten? Viertens, die Reformation hat das Mönchtum abgetan und jener vermessenen Frömmigkeit den Krieg erklärt, die da glaubte, fürs Leben über sich entscheiden zu können. Wer aus der Geschichte den Jammer des obligatorischen Zölibats und den Jammer des Mönchtums, der gebrochenen Seelen, der befleckten Gewissen und der gezwungenen „Religion" kennt, wird nicht aufhören, die befreiende Tat der Reformation zu preisen. Aber lag nicht eine Wahrheit in dem Mönchtum? Niemand wird diese Frage verneinen, der die Institution unsrer Diakonissen schätzt. Er wird auch nicht in Abrede stellen, wenn er das Leben kennt, daß ohne Regel keine Gemeinschaft von Arbeitern bestehen kann, und daß die, welche sich zum Dienst am Nächsten im besonderen Sinne verpflichten, den besonderen irdischen Gütern freiwillig entsagen und Gehorsam üben müssen. Aber was uns erst in diesem Jahrhundert, nicht ohne Widerspruch, in bezug auf die Diakonissen aufgegangen ist, ist uns in bezug auf Diakonen, oder wie man sie nennen mag, noch nicht oder nur in bescheidenster Weise klar geworden. Und doch ist es mir keinen Augenblick zweifelhaft, daß wir in den sozialen und kirchlichen Nöten der Gegenwart Gemeinschaften brauchen, erfüllt von dem Geiste, wie ihn die rechtschaffenen und lauteren Mönche besessen haben und noch besitzen. Wir brauchen Menschen im Dienste des Evangeliums, „die alles verlassen haben", u m denen zu dienen, die niemand bedient. Die Parallele mit den katholischen Mönchen schreckt mich nicht. Die evangeli73

sehen Mönche werden von Verdiensten nichts wissen und werden deshalb jeden Augenblick zurücktreten können, ohne Schmach und Schande. Man wendet ein, daß die Kraft des Mönchtums eben in der Unwiderruflichkeit des Gelübdes liegt, also in dem Zwang. Aber wäre das wahr, so wäre das Mönchtum von seiner Wurzel her profaniert, also unmöglich. Die evangelischen Kirchen werden entweder noch kümmerlicher werden, als sie schon sind, oder die Liebe wird sie erfinderisch machen, und sie werden das in sich erwecken, was heute noch keine Form hat, aber sich in dem dringenden Bedürfnis bereits ankündigt und in kleinen Anfängen lebt. So gut wir Missionare haben für die Heiden, die freiwillig vieles entbehren müssen, so gewiß können wir auch Gemeinschaften von Brüdern haben, die um des besonderen Berufs willen Entsagung üben, um frei zu sein für den Dienst derjenigen, die an den Landstraßen und Zäunen liegen. Aber noch in einer anderen Richtung können wir von den Klöstern lernen. Wir haben Zuchthäuser und Arbeitshäuser, aber wir haben keine Stätten, in welche sich die zurückziehen können, die im Sturme des Lebens Schiffbruch erlitten haben und sich in der großen Welt nicht mehr zu halten vermögen. Wie viele gibt es, die sich zurückziehen sollten, und die es auch wollen, wenn ihnen nur irgend ein Hafen winken würde, sei es zum Ausruhen, sei es vor allem zu neuer Tätigkeit! Wie viele könnten bewahrt werden, wenn sie Rückhalt fänden an einer geschlossenen Gemeinschaft, in der sie nach strenger Regel zu gemeinnützigem Wirken angeleitet würden und sich selber dienten, indem sie anderen dienstbar werden. Doch ich darf diesen Punkt nicht näher ausführen. Sie würden meine pia desideria vielleicht allzu kühn finden. Aber ich weiß, daß ich nicht der einzige bin, der sie hegt, daß sie vielmehr jeder teilen muß, der nicht den Protestantismus zur Konfession des latenten Christentums fortzuentwickeln den Mut hat, und ich weiß auch, daß die Geschichte deT christlichen Kirche, wie sie sich im Mönchtum darstellt, nicht nur die Geschichte eines großen Irrtunis ist. Noch manches andre wäre zu nennen, was wir von deT katholischen Kirche lernen können. Ich brauche nur zu 74

fragen, in welcher Kirche Deutschlands das sogenannte „Laienchristentum" eine größere Macht ist, ob in der Kirche des allgemeinen Priestertums oder in der römischen Kirche? Doch auf diesen Punkt einzugehen, würde zu weit führen; denn die „größere Macht", wie sie sich äußerlich darstellt, entscheidet noch nicht und ist nur unter Voraussetzungen wünschenswert, die im Katholizismus nicht erfüllt sind. Ich beschränke mich auf das bisher Angedeutete und wende mich zu der zweiten Frage: „Was wir von der römischen Kirche nicht lernen sollen?" Sie werden antworten, nicht ihre Dogmatik, nicht ihre Verfassung, nicht ihren Kultus. Aber damit ist so viel gesagt, daß ich fürchte, es ist sehr wenig Eindrucksvolles gesagt. Ich werde mich auf einige besonders wichtige Punkte beschränken. Erstlich: wir sollen unser Christentum und unsere Kirche nicht festnageln auf einer bestimmten Stufe der Erkenntnis und Kultur. Die römische Kirche vermag es, alle möglichen Erkenntnisse, Formen und Mittel unserer Zeit zu ihrem Nutzen zu verwerten; aber im Grunde steht sie beharrlich fest auf der Stufe des Mittelalters, des dreizehnten Jahrhunderts. Alles übrige, was sie herbeizieht, ist nur Dekoration. oder politisches Mittel zum Zweck. Die kirchliche Verfassungsform, die sie für die göttliche ausgibt, ist die Kirchenverfassung, wie sie Innocenz III. und IV. abschließend ausgebildet haben; die Dogmatik, die sie allein gelten läßt, ist die des heiligen Thomas und seiner laxeren Nachfolger; die Wissenschaft, die sie allein brauchen kann, ist die mittelalterliche. Wohl liebt sie es, sich durch einige halbgelehrte Leute mit ägyptischen und assyrischen Entdeckungen ausstatten und die Steine in der Weise moderner Archäologie für sich reden zu lassen, auch sich, wo es geht, mit neuester Naturforschung auszustaffieren! Sand in die Augen! An allen wirklichen Problemen muß sie vorübergehen, und das, was heute Geschichte, Kritik und philosophische Erkenntnis heißt,darf für sie nicht existieren. Diese Kirche ist noch immer das Mittelalter, ist um sechshundert Jahre zurück und lebt noch, weil die Modernen Fehler machen und nicht alle Bedürfnisse zu befriedigen verstehen. Auch alles das, was wir in den letzten zweihundert Jahren 75

über die Geschichte der Bibel und des Urchristentums gelernt haben, ist f ü r diese Kirche nicht vorhanden oder doch n u r als Spielzeug oder als Mittel, den Verstand zu üben und das, was der geschichtliche Sinn feststellt, durch die Kunst des Geschichtsadvokaten mit ihrer eisernen Geschichtsbetrachtung zu verklittern. Aber wie steht es bei uns? Sind wir nicht seit den Reaktionen am Anfange unseres Jahrhunderts, die uns so viel Gutes und so viel Schlimmes gebracht haben, in Gefahr, es der römischen Kirche nachzutun? Steht der Protestantismus im Bunde mit allen wirklichen Erkenntnissen der Zeit, wie einst die Apologeten des zweiten Jahrhunderts, oder schleicht er nicht vielmehr hinter der Zeit mißtrauisch u n d scheltend einher? Schmähen nicht viele seiner angesehensten Vertreter über die Wissenschaft, wie einst Epiphanius über Origenes? Brauchen sie sie nicht lediglich als Dekoration, allen wirklichen Problemen aus dem Wege gehend, Mücken seihend und Kamele verschluckend? Nehmen die evangelischen Kirchen wirklich das in ihren Dienst, was nächst dem Evangelium unsere besten Güter sind, die Ausbildung des geschichtlichen Sinnes, die wir erlebt haben, und die sichere Methode der Wissenschaft auf jedem Gebiet, die uns geschenkt ist? Richten die Kirchen ihren Unterricht ein nach den geschichtlichen und den allgemeinen Erkenntnissen, von denen sich heute n u r der Religionslehrer emanzipiert, und auch der n u r so lange, als er Religion lehrt? Ist's denn nicht schon so, daß Tausende unsere öffentliche Weise, Religion zu lehren, als eine Superstition empfinden und die Ernstesten sich abwenden, weil sie ihr intellektuelles Gewissen verletzt f ü h l e n ? Sollen auch die evangelischen Kirchen zu Petrefakten werden ? Man mißachtet die „natürlichen" Wahrheiten ebensowenig ungestraft wie die „natürlichen" Ordnungen. I n beiden Fällen ist ein Mönchtum schlimmster Art die Folge. Es lebt i m Raffinement des Kontrastes und verschüttet die gesunde Quelle heller und freudiger Frömmigkeit. Schon die Unterscheidung natürlicher und übernatürlicher Wahrheiten ist ein bedenklicher mittelalterlicher I r r t u m . Jede Erkenntnis der Wahrheit ist aus der Gewissenhaftigkeit und Selbstverleugnung geboren und dient dem Herrn der Wahrheit. Übernatürlich ist das

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Leben in Gott; die Wahrheiten sind „natürlich". Sie mißachten, heißt u n f r o m m und unwahrhaftig werden. Was aber ist der Protestantismus, wenn er unwahrhaftig wird, er, der überhaupt n u r e i n Charisma besitzt, den „ v e r n ü n f tigen Gottesdienst" auf Grund der gewissen Erkenntnis Gottes. W e n n der evangelische Christ nicht jeder Wahrheit frei, fröhlich und dankbar ins Auge schauen kann, wenn seine Lehre nicht so eingerichtet ist, daß er es darf, so ist er arm, bettelarm I Aber während sonst auf allen Gebieten der Erkenntnis die Frage: Was ist Wahrheit? heute die regierende ist und ein unsägliches Maß von ernster Arbeit an sie gesetzt wird, sieht man diese Frage innerhalb der evangelischen Kirchen langsam von der Tagesordnung verschwinden, weil sie i m Zeitalter der kirchlichen „Aktualität" nicht opportun ist. Man hält es f ü r richtiger, Landund Kirchenpfleger zu sein i m Sinne der Pilatusfrage: Was ist W a h r h e i t ? Die so tun, wissen oft nicht, was sie t u n , und haben den gewichtigen Schild f ü r sich, daß man Kirchen nicht beunruhigen dürfe. Aber u m Zehn "nicht zu beunruhigen, werden H u n d e r t e abgestoßen, und u m die „Schwachen", die sich doch die Starken dünken, zu schonen, treibt man die Starken in die Wüste oder zwingt schließlich einen kleinen Teil von ihnen zur Unterwerfung. I n der römischen Kirche ist das alles wohl verständlich. Sie hat angeblich ein eisernes Gesetz von Gott empfangen und setzt sich auf Grund desselben über Geschichte und Wissenschaft, Individualität und Gewissen hinweg. Aber wir haben nichts dergleichen empfangen und wollen auch nichts anderes, als die Verkündigung des Evangeliums Gottes in Christo. Wer zwingt und nötigt uns denn, uns an ein Gesetz zu verkaufen, statt es zu reformieren, wo es in unsern Tagen der Reform bedarf? Damit bin ich schon auf ein Zweites gekommen, was wir von der römischen Kirche nicht lernen sollen: uns zu begnügen mit der Unterwerfung unter das Kirchentum, mit dem bloßen Gehorsam, mit dem, was der Kunstausdruck fides implicita nennt. Einst gab es eine Zeit, wo man i m Protestantismus vor diesem Gift nicht zu warnen brauchte; aber es ist lange her. Wo in religiösen Dingen der absolute Gehorsam regiert, da gibt es kein individuelles 77

Gewissen mehr. Das haben uns alle jene Bischöfe gezeigt, die nach der Proklamation der Unfehlbarkeit sich für sie entschieden, obgleich sie ihr vorher heftig widersprochen hatten. Im Sinne der katholischen Religion brachten sie das größte Opfer, und ich würde mich nicht wundern, wenn man sie allesamt selig spräche. Im Sinne der Religion, die mit dem Gewissen steht und fällt, haben sie eine schwere Schuld auf sich geladen. Das ist ein drastisches Beispiel. Aber minder drastisch wiederholt sich dasselbe hundertmal für jede Seele, die sich ihren Weg blind durch Autoritäten vorschreiben läßt. Nicht die Abhängigkeit ist das schlimmste, sondern die Selbsttäuschung, in der man an die Stelle der Frömmigkeit, d. h. eines Lebens, die Beobachtung von Vorschriften setzt. Ob man nun in Weise Ludwigs XIV. und Voltaires diese Unterwerfung aus einer unbestimmten Angst übt, die sich mit Frivolität wohl verträgt, oder ob aus SoTge für das Gemeinwesen und den „gemeinen groben Mann" oder aus Unruhe und wirklicher Verzagtheit des Herzens, ist freilich eitie sehr großer Unterschied. Aber in dem negativen Ergebnis kommen alle diese Motive auf eins heraus — die Furcht bleibt übrig und die Friedelosigkeit. Diese „Kirchlichkeit" wollen wir der römischen Kirche überlassen, die sie nicht missen kann; denn wie klein wäre die Zahl ihrer Gläubigen, wenn man ihr alle die entzöge, die bloß mittun I Aber noch ein Drittes möchte ich hier anschließen, was wir von der römischen Kirche nicht lernen sollen: nur äußerlich angeeignete Ideale machen fanatisch, und eine Kirche, die auch Staat sein will, braucht den Egoismus und Fanatismus des Staates. Wir aber können diesen Fanatismus nicht brauchen; er ist ein fremdes Gewächs auf unserem Boden. Wenn es richtig ist, daß das evangelische Christentum die höchste Stufe in der kirchlichen Ausbildung des Christentums ist, so haben wir diesen unseren Standort dadurch zu bezeugen, daß wir die unteren Stufen in ihrer Bildung verstehen, verständig würdigen und in diesem Sinne tolerant sind. Toleranz ist freilich selbst schon ein schlimmes Wort. Wir haben mehr zu üben als Toleranz, nämlich Anerkennung. Auch ist es eine ganz üble Maxime, zu sagen, man müsse gegen alle tolerant

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sein, n u r nicht gegen die Intoleranten. Wodurch will man sie denn sonst gewinnen? Und auf das Gewinnen kommt es doch an, nicht auf das Niederschlagen. Mag uns die römische Kirche wie immer begegnen — so lange sie nicht eingreift in die Sphäre des Rechts, das wir zu schützen haben, soll sie unserer Achtung und ihre Glieder unserer Liebe sicher sein. Wir können doch unsere eigene Geschichte nicht verleugnen oder u m m a c h e n ! Die Geschichte der katholischen Kirche aber bis zum sechzehnten Jahrhundert ist unsere Geschichte, und es steht uns übel an, nützt auch nichts, die Zurückgebliebenen zu schelten. Wir treten aber auf eine niedere Stufe, nämlich auf die Stufe der römischen Kirche, wenn wir sie mit ihren Waffen bekämpfen wollten. Eben diese Waffen haben wir niedergelegt, als wir sie verließen, und trat das auch nicht am Anfang zutage, so m u ß es heute jedem offenbar sein. D e n n daß die Kirche der Reformation verbesserlich, perfektibel ist und seit L u t h e r sehr viel zugelernt hat, das m u ß auch das blödeste Auge erkennen, und daß wir imstande sind, zuzulernen, das ist unser Stolz und unsere Freude. Noch wäre vieles zu sagen über das, was wir von Rom nicht lernen sollen. Ich könnte zusammenfassend sagen, daß unsere Kirche kein Staat, keine Schule f ü r ewig Unmündige und keine sakramentale Versicherungsanstalt werden soll. Ich könnte den Finger auf den Unterschied von Klerus und Laien legen und fragen, ob uns die Gefahr so fern liegt, von den Geistlichen und Theologen ein anderes Christentum zu fordern als von den Laien. Aber ich will diesen P u n k t nicht anders berühren, als indem ich ihn positiv wende: möge sich aus allen Gärungen unserer Zeit eine evangelische Kirche herausgestalten mit einem festen, aber weiten Bekenntnisse; möge sie es besser lernen, das Evangelium unserem Geschlechte zu verkünden und mit jeder Wahrheit i m Bunde zu stehen, und möge sie sich dann entfalten zu einem Bruderbunde inmitten dieser gespaltenen Menschheit, zu einem Bunde, so umfassend, wie das menschliche Leben, und so tief, wie die menschliche Not.

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4 DER

GEIST

DER

KIRCHE VON

DER

IM

MORGENLÄNDISCHEN UNTERSCHIED

ABENDLÄNDISCHEN (1913)

Die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina in die Österreichisch-Ungarische Monarchie und die Erklärung dieses Staates und Italiens, Albanien müsse dem slawischgriechischen Einfluß entzogen, also autonom werden, sind nicht nur politische Tatsachen ersten Ranges, sondern sie haben darüber hinaus noch eine weitertragende und tiefere Bedeutung. Hinter und neben dem Kampf zwischen Islam und Christentum, Türken und Gräkoslawen spielt sich auf der Balkanhalbinsel seit zweitausend Jahren noch ein zweiter, man darf sagen viel bedeutenderer Kampf ab, der sowohl öffentlich als latent geführt wird und niemals ganz geruht hat — e s i s t d e r K a m p f z w i s c h e n d e m M o r g e n l a n d u n d d e m A b e n d l a n d u m den B e s i t z der Balkanhalbinsel1). Wo soll die Grenzlinie zwischen den beiden großen Kulturgebieten liegen, im Adriatischen Meer oder an einer Linie östlich von Novibazar und Saloniki oder vor den Toren Konstantinopels, ja über Konstantinopel hinaus in den Dardanellen oder gar an der Küste Kleinasiens? An allen diesen Linien hat sie schon einmal gelegen! Im 4. und 5. Jahrhundert reichte die Herrschaft der lateinischen Kirche und !) Weltgeschichtlich bedeutender ist dieser Kampf, weil die türkische Herrschaft nur einen verhältnismäßig· kleinen Teil der Bevölkerung der Balkanhalbinsel zum Islam bekehrt (nur in dem jetzt österreichischen Gebiet und in Albanien gelang die Bekehrung in größerem Umfang, wenn auch längst nicht vollständig) u n d d e n G e i s t und die V o l k s s i t t e der c h r i s t l i c h g e b l i e b e n e n B e wohner nicht v e r ä n d e r t hat.

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Sprache im. Norden bis gegen die Donaumündungen und im Süden bis Saloniki. Große Kämpfe sind dann bis ins 9. Jahrh u n d e r t über den Besitz Mazedoniens und Bulgariens zwischen Ost- und Westrom, d. h. zwischen dem Bischof von Rom und dem Bischof von Konstantinopel, geführt worden; aber Westrom verlor schließlich nicht n u r diese Länder, sondern verlor auch die Rumänen, obschon diese ihre abendländische Sprache, wenn auch stark entstellt, behielten und somit kulturell ein Mischgebilde darstellen 1 ). Nach der kurzen und unsoliden Schöpfung eines lateinischen Kaisertums in Ostrom und vollends nach den Siegen der Türken lag die Grenze zwischen dem Morgenland und Abendland wieder dort, wo sie vor unserer Zeitrechnung gelegen — im Adriatischen Meere. Wohl herrschte die Republik Venedig noch lange an vielen Küsten und auf Inseln des Ostens; aber die Kaufmannsrepublik verzichtete im Interesse ihres Handels außer in den Städten sehr bald auf die Rolle eines lateinischen Kulturträgers. Ein tiefer, unüberbrückbarer Gegensatz hält das griechischslawische Morgenland und das lateinische Abendland geistig auseinander. Er ist so groß, daß seit den Tagen der türkischen Eroberung Konstantinopels bis zur Gegenwart konstantinopolitanische Patriarchen und gräkoslawische Theologen und Patriarchen dankbar immer wieder erklärt haben, die Vorsehung habe ihren Ländern die türkische Herrschaft gesendet, u m sie vor der Herrschaft des fremden und zerfahrenen abendländischen Geistes zu bewahren. So groß die Abneigung gegen den Türken und die tatkräftige Sehnsucht nach Befreiung vom türkischen Joch war und ist — noch viel größer war und ist die Abneigung gegen den Geist des Abendlandes; denn der Türke brachte zwar die von i h m unterworfenen christlichen Nationen in eine traurige Verkümmerung, aber er griff in ihr inneres Leben und *) Die Rumänen hallen das orthodoxe Kirchenwesen behalten und sind, bis über die Mitte das vorigen Jahrhunderts unter griechischem Einfluß stehend, von den Fanarioten geleitet worden. In den letzten Jahrzehnten aber ist der abendländische Einfluß die stärkste Kraft dort geworden, und der Herrscher führt diese Nation der abendländischen Völkerfamilie zu. Aber der Beweis, daß sich orthodoxes Kirchenwesen und abendländischer Geist zu durchdringen vermögen, ist noch nicht geliefert. C H a r n a c k , Auswahl

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in ihre Heiligtümer in der Regel nicht ein. Er ließ ihnen ihre Eigenart: ausdrücklich wurden die Sultane als Erhalter der Orthodoxie gepriesen 1 ). Vom Abendland dagegen weiß man im Osten aus langer Erfahrung, daß es diese Eigenart zerstören werde, wo immer es die Herrschaft gewinnt. Worauf beruht aber der ungeheure und fortbestehende Gegensatz zwischen dem Geist des Morgenlandes und des Abendlandes? Diese Frage hat denkende Historiker viel beschäftigt und sehr verschiedene Antworten gefunden. Am beliebtesten, zumal heute wieder, ist die Antwort, daß der Gegensatz auf der R a s s e beruhe, und gern erinnert man sich der geistvollen Spekulationen F a l l m e r a y e r s 2 ) , der mit blendender Dialektik nachzuweisen suchte, daß das Griechentum als Rasse überall mehr oder weniger erloschen sei, daß slawisch-asiatische Völker im Orient seine Stelle eingenommen haben, ihr Geist das Morgenland bis zur Adria beherrsche und daß dieser slawisch-asiatische Geist im unversöhnlichen Gegensatz zum Geist des Abendlandes stehe. Diese Ansicht, daß man es im Orient mit dem Griechentum überhaupt nicht mehr zu tun habe, findet heute freilich kaum mehr Vertreter; aber nun versucht man auf andere Weise aus der Rasse die Verschiedenheit von Orient und Okzident zu begründen. Alle diese Versuche können auf kritische Köpfe keinen Eindruck machen; denn sie operieren mit dem dunkelsten Faktor, den es gibt, dem Rassenunterschied zwischen verwandten und gemischten Völkern, übersehen, daß es Zeiten gegeben hat, in denen diese Völker ihre Gemeinsamkeit stärker empfunden haben als ihre Verschiedenheit, und u n t e r s c h ä t z e n v o r a l l e m d i e s t ä r k s t e M a c h t , d i e es h i e r als v e r b i n d e n d e und als t r e n n e n d e g i b t , n ä m l i c h die G e s c h i c h t e , w e l c h e d i e V ö l k e r e r l e b t h a b e n . Das politische Geschick der Völker ist ihr Schicksal. Durch Blutsverwandtschaft aufs engste verbundene Stämme können durch ihr Geschick auf immer getrennt werden und einen ganz verschiedenen Volksgeist in sich ausbilden, und wiederum sich fernstehende Auch das wird dem Türkenjoch nachgerühmt, daß es die griechische Kirche vor den Sekten geschützt hat; man vergleiche das Gegenbeispiel, welches Rußland bietet. 2 ) Fragmente aus dem Orient, 1845.

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Stämme können durch gemeinsames Geschick zusammengeschweißt werden und zu e i n e m Volk zusammenwachsen. Unter dem politischen Geschick i s t d i e e r l e b t e G e s c h i c h t e im weitesten Sinn des Worts zu verstehen, d. h. sowohl die äußere Geschichte in Krieg und Frieden, in Sieg und Unterdrückung, als auch die innere Geschichte in Religion, in Staats- und Rechtsbildung, und nicht zuletzt in den großen und führenden Männern, die ein Volk erlebt hat und die seine innere Geschichte bestimmt haben. In diesen Erfahrungen und Erlebnissen bildet sich jener Geist eines Volkes, der ihm zur zweiten Natur wird, und zwingt selbst angeborene Art und Fähigkeit in eine neue Richtung. Daher darf man in bezug auf die zivilisierten Völker mit einer reichen Geschichte dann erst auf den dunklen Faktor der Rasse zurückgreifen, wenn der Rekurs auf ihre Geschichte versagt oder direkt auf die Rasse hinweist. Unter den Elementen aber, welche die innere Geschichte bestimmt haben, ist die Religion das vornehmste. Es ist dabei jahrhundertelang fast gleichgültig, wie viele Menschen in einem gegebenen Zeitalter der Religion innerlich und herzlich zugetan sind, ja man darf, ohne paradox zu werden, sagen, je mehr Indifferente, u m so stärker die Herrschaft einer alten Religion. Denn die Religion a l s h e r r s c h e n d e erträgt den ausfahrenden Subjektivismus der wirklich Frommen nur schwer, während sie die gleichmütige Geduld der Indifferenten als Stärkung empfindet. Sie h e r r s c h t ja in Wahrheit niemals durch die Kraft ihrer über das Ganze verbreiteten Frömmigkeit, sondern sie herrscht durch ihre Sitte, d. h. durch ihr Ritual, ihre Liturgie, ihre Feste und Ordnungen einerseits und durch eine Reihe von Sittengeboten andrerseits, die teils in das Rechtsleben übergegangen sind, teils neben demselben bestehen und in den weitesten Kreisen fast wie höhere Naturordnungen naiv empfunden werden 1 ). Daneben h e r r s c h t sie, indem sie die Gefühle feierlich weiht, die an den Höhe- und Tiefpunkten des Lebens in jedem entstehen — wobei die Art der Weihung den meisten ganz gleichgültig ist —, und indem sie im Tode das Leben Man denke an die Monogamie, an die Konservierung der physisch und ökonomisch Schwachen u. a.

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mit dem Tode zu versöhnen sucht, wobei wiederum den meisten der feierliche und in altüberlieferten Formen sich aussprechende Versuch gefühlsmäßig wohltuend, aber bereits auch genügend ist 1 ). Ob, damit die Religion in dieser Weise herrsche, i m m e r ein Kreis solcher vorhanden sein m u ß , die sie wahrhaft innerlich im Herzen tragen, ist eine Frage, die ich nicht unbedingt bejahen möchte; aber immer m u ß ein Kreis solcher da sein, die sie sozusagen professionsmäßig vertreten und daher auch an ihre Tiefen erinnern —• die Priester, die Geistlichen. Diese und die Indifferenten 2 ) halten die Religion bei der Herrschaft. Ist demgemäß zwischen der Religion, w e l c h e i n d e n H e r z e n e i n z e l n e r h e r r s c h t , und in derselben Religion als d e r h e r r s c h e n d e n ein ungeheurer Unterschied, unbeschadet der Zwischenstufen, die hier entstehen, und hat der Historiker zunächst die Aufgabe, die Religion als herrschende ins Auge zu fassen — sie bestimmt ja.das Volk —, so darf er doch die wirkliche Religion, die hinter dieser herrschenden steht, nicht unbeachtet lassen; denn nicht n u r bricht dieselbe stoßweise hervor und wird dann selbst zu einem mächtigen geschichtlichen Faktor, sondern aus ihr wird erst die Eigenart der herrschenden Religion verständlich, die an und f ü r sich denen, die sich n u r unter sie beugen, In den genannten vier Momenten liegt die ungeheure Macht der h e r r s c h e n d e n Religion i m öffentlichen Leben, der gegenüber die verstandesmäßige Kritik einzelner, sei es auch noch so vieler, wenig in Betracht kommt, zumal da sie sich nur selten wider die H e r r s c h a f t der Religion auflehnen. Dazu haben die großen Begriffe Gewissen, Liebe, Vergebung, Versöhnung, Erlösung, Frieden, Ewigkeit, Gott, sei es auch nur als Überschriften, eine magnetische Gewalt über die Gemüter und können durch keine Verstandeskritik zerbrochen werden. Die, welche es versuchen, gleichen einem Mückenschwarm, der gegen ein Glasfenster fliegt. Daher sind aber auch die „Ökonomen" dieses Kapitels, die Priester und Geistlichen, ein Stand von hoher Bedeutung i m öffentlichen Leben, mag ihnen auch täglich ihre Rückständigkeit und Überflüssigkeit bewiesen werden. Daher setzt endlich aber auch der Staat, der tiefer blickt als die Tageskritik, alles daran, um die h e r r s c h e n d e Religion seinen Zwecken dienstbar zu machen. 2

) Der autoritative Priester und die mediokre Frömmigkeit gehören enger zusammen als der Priester und der lebendige Glaube. La mediocrite fonda l'autorite.

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stets eine superstitio ist, d. h. alle Kennzeichen des Aberglaubens trägt. Daß n u n f ü r den Unterschied des Geistes des Morgenlandes und des Abendlandes die herrschende Religion, d. h. die Kirche dort und hier, von besonderer Bedeutung ist, wird von niemand in Zweifel gezogen, ja man darf wohl sagen, daß sie das wichtigste Element ist. Und zwar ist auf abendländischer Seite allein die römisch-katholische Kirche in Betracht zu ziehen. Den Protestantismus m u ß m a n bei der Untersuchung ganz beiseite lassen; denn er hat sich aus dem Schoß der abendländisch-katholischen Kirche spät entbunden und ist mit der morgenländischen Kirche n u r in wissenschaftliche, d. h. wesentlich gleichgültige Beziehungen getreten. Aus dem Unterschied der orthodoxen morgenländischen und der römischen Kirche m u ß sich also die Verschiedenheit des Geistes des Morgenlands und des Abendlands zu einem bedeutenden Teil erklären lassen 1 ). Sobald m a n das aber versucht, gewahrt man zunächst statt Verschiedenheiten n u r die größte Verwandtschaft zwischen beiden I Man kann es kurz sagen: nicht nuT die Grundauffassung von der Religion als Erlösungsreligion und nahezu alle Dogmen erscheinen als identisch, sondern auch alle übrigen Elemente, Funktionen und Institutionen der beiden Kirchen. Mag man n u n auf den Unterschied von Klerus und Laien, von Klerus, Laien und Mönchen, von Bischöfen und Priestern blicken, m a g m a n den vorausgesetzten und erstrebten Ertrag der Religion dort und hier samt dem sittlich-religiösen Lebensideal ins Auge fassen, mag man den Gottesdienst, die Messe, die Sakramente studieren, m a g man vergleichen, was dort und hier als heilige Geschichte gilt, oder sonst in einer beliebigen Richtung die Kirchen beobachten — mit Ausnahme des römischen Primats und der Stellung der Kirchen i m öffentlichen Leben tritt überall die innigste Blutsverwandtschaft der beiden Kirchen zutage, 1 ) Die ausführlichste und beste Darstellung der „Orthodoxen Anatolischen Kirche", die wir besitzen, findet sich im „Lehrbuch der vergleichenden Konfessionskunde" von K a t t e n b u s c h (Bd. I, 1892). Hierzu ist die kürzere, ebenfalls vortreffliche Darstellung von L o o f s , Symbolik (Bd. I, 1902) zu vergleichen. S. auch G a ß , Symbolik der griechischen Kirche (1872).

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ja es scheint, daß man nicht einmal von zwei Schwestern sprechen darf, vielmehr sieht man ein und dasselbe geistige Gebilde vor sich, wie es ja auch viele Jahrhunderte hindurch als ein e i n h e i t l i c h e s bestanden hat. Nimmt man nun noch hinzu, daß die römische Kirche jeden Griechen ohne weiteres aufnimmt, der den Papst anerkennt — was sie sonst noch verlangt, sind Formalitäten —, und daß die orthodoxe Kirche auch in der Regel keinem römischen Christen weitere Schwierigkeiten macht, der sich vom Papste lossagt, so scheint es unbegreiflich, wie in dem Unterschied des abendländischen und des morgenländischen Katholizismus der ungeheure Unterschied des abendländischen und des' morgenländischen Geistes wurzeln soll. Aber das Bild ändert sich, sobald man die beiden Kirchen sowohl an sich als auch in ihrem Verhältnis zu der sie umgebenden Welt g r ü n d l i c h studiert. Ich versuche es, im folgenden die Unterschiede zu skizzieren, die sich bei genauer Betrachtung an j e d e m Hauptpunkte ergeben, um dann die Frage zu beantworten, ob sich zur Erklärung dieser Unterschiede dort und hier ein einheitliches Prinzip finden läßt. 1. Die christliche Religion wird in beiden Kirchen ausschließlich als E r l ö s u n g s r e l i g i o n aufgefaßt. Für Erlösungsreligionen aber sind die drei Fragen entscheidend: Wovon wird erlöst, wozu und w o d u r c h ? Beide Kirchen beantworten diese Fragen identisch: erlöst wird von der Sünde und vom Tode; das Ziel der Erlösung ist ewiges, reines Leben in der A n s c h a u u n g G o t t e s , und das Mittel der Erlösung ist der Glaube an den Gottmenschen Jesus, der die Sünde getilgt und den Tod besiegt hat, sowie ein reines Leben nach seinen Vorschriften. Sieht man aber näher zu, so gewahrt man Unterschiede. In der morgenländischen Kirche tritt die Erlösung vom Tode und von der Vergänglichkeit neben der Erlösung von Sünde und Schuld stärker, weil selbständiger, hervor als in der abendländischen oder vielmehr: in der abendländischen Kirche ist das Bewußtsein: „Wo Vergebung der Sünde und Liebe ist, da ist auch im Diesseits schon Leben und Seligkeit", um einen bedeutenden Grad gegenständlicher als in der morgenländischen. Infolge hiervon ergibt sich auch ein Unterschied 86

in bezug auf das Ziel der Erlösung. Daß es l e t z t l i c h ganz und gar ein jenseitiges ist, ist auch die Überzeugung der abendländischen Kirche, und von dieser Überzeugung läßt sie sich durchweg leiten; aber wenn die Erlösung von der Sünde der Erlösung vom Tode übergeordnet ist, ja sich kausativ zu ihr verhält, so erscheint das Ziel and der Ertrag der Religion doch auch schon in der Sünd- und Schuldlosigkeit gegeben, positiv ausgedrückt: in dem vollkommenen Habitus des Guten, also in Glaube, Liebe und Hoffnung. Ein von diesen Kräften ganz erfüllter Mensch hat also schon, soweit es auf Erden möglich, die Erlösung und Seligkeit; daher ist dem Abendländer der fructus religionis nicht mehr eindeutig. Er besteht vielmehr sowohl in dem seligen, jenseitigen Leben, als auch schon jetzt in dem Habitus des Guten, auf Grund der Vergebung. Der Grieche empfindet nicht ganz so: er empfindet eindeutiger: ihm steht die Vergänglichkeit und der Tod so erschütternd und schrecklich vor der Seele, daß keine wahre Seligkeit bestehen kann, solange sie nicht weggeräumt sind. Als stärkste erlösende Kraft erscheint ihm daher nicht die Kraft, welche die Sünde, sondern die, welche die Vergänglichkeit und den Tod besiegt. Zwar darf man den Unterschied der beiden Kirchen hier nicht übertreiben: tausende von Bekenntnissen griechischer Christen bezeugen den Ernst und die Zartheit ihres Schuldbewußtseins und das tiefste Dankgefühl für die Erlösung von der Sünde. Dennoch bleibt es dabei, daß sie die noch bestehende Vergänglichkeit schmerzlicher empfinden als die Abendländer und daheT dem vollen Erlösungsgefühl keinen Raum lassen, so lange diese Zeitlichkeit sie noch umgibt. Noch deutlicher wird dies am dritten Punkt, dem „Wodurch". Zwar darüber, wie die Erlösung bereits in der Person Christi gegeben ist, besteht nicht der geringste Unterschied zwischen den Lehren der beiden Kirchen 1 ). Aber in dem W e r k e Christi steht *) Die christologischen und die mit der Christologie eng zusammenhängenden trinitarischen Dogmen der beiden Kirchen sind identisch bis auf die Lehre vom Ausgang des hl. Geistes. Die hier bestehende Differenz, die als eine rein schulmäßige sehr wohl zu ertragen gewesen wäre (wie manche andere theologische Lehren, die ungeklärt geblieben sind), ist absichtlich, man darf sogar sagen, tendenziös

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für den Orient die Menschwerdung mehr im Vordergrund, für den Okzident der Kreuzestod 1 ). Und wo es sich u m das s u b j e k t i v e Mittel der Aneignung handelt, tritt in dem identischen Gefüge von Glaube und Werken das Streben nach Mitteln, welche die Schuld tilgen, im Abendland primär hervor, im Morgenland dagegen das Streben nach Mitteln, welche einen Vorgeschmack der jenseitigen Seligkeit gewähren 2 ). Dies führt auf den Gottesdienst und die Sakraund mutwillig, von Photius zu einem axticulus stantis et cadentis ecclesiae erhoben worden und konnte nun nicht mehr der Schule überlassen werden. Gewiß spricht sich auch in ihr ein gewisser Unterschied des Orients und Okzidents im Gottesbegriff aus; aber dieser Unterschied gehört zu denen, die selbst in dem Mücken seihenden Zeitalter der Kirchenväter kein Schisma hervorzurufen brauchten. Haben doch im 4. Jahrhundert Alt- und Jung-Nizäner es schließlich nicht zum Bruch kommen lassen, und vereinigte doch das Chalcedonense, namentlich in der Auslegung, die das 5. Konzil ihm gegeben hat, viel größere Gegensätze als der ist, um den es sich bei der Lehre vom Ausgang des hl. Geistes handelt. Gewiß kann das K r e u z als Symbol und Amulett nicht höher geschätzt und mehr gefeiert werden als in der orientalischen Kirche; aber nicht nur hat die hernhardinische Kreuzesandacht, wie sie die ganze abendländische Kirche ergriffen hat, in der morgenländischen keine vollkommene Parallele, sondern auch in der Dogmatik überragt im Abendland die Gnosis des Kreuzestodes die Gnosis der Menschwerdung, während das morgenländische Dogma a u s s c h l i e ß l i c h Darlegung der Lehre von der Gottheit und vom mensch gewordenen Gott ist. 2 ) Sofern in beiden Kirchen der Heilsbesitz bereits ein gegenwärtiger ist, erlebt ihn der abendländische Christ mehr in der Vergebung und in dem Habitus von Glaube und Liebe (,,gratia infusa"), der morgenländische mehr in dem feiernden und betrachtenden Genuß himmlischer Güter, die schon im Diesseits gewährt werden und über die Erde erheben. Die Unterschiede, wie sie in bezug auf das Erlösungsbewußtsein angegeben sind, liegen zwar schon im Ansatz beider Kirchen begründet, haben, sich aber doch erst allmählich herausgestellt. Für den Gang der Entwicklung und die notwendigen Einschränkungen, sobald man die verschiedenen Epochen und einzelne Führer ins Auge faßt, s. H o l l , Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum, 1898. Daß die Rücksicht auf Sünde und Buße im Orient zu gewissen Zeiten und bei gewissen Führern nicht minder ernst und streng war als im Okzident, daß man aber dort anfangs minder gesetzlich und mehr psychologisch verfuhr, weil man auch den Gläubigen als W e r d e n d e n behandelte, zeigt er an mehreren Stellen.

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mente einerseits, auf das fromme Leben und die Askese andererseits. Zuvor ist aber noch ein wichtiger P u n k t zu erörtern: Man hat häufig darauf hingewiesen, daß in der griechischen Kirche die trinitarischen und christologischen Dogmen unter schweren Kämpfen festgestellt worden seien, während die abendländische Kirche daran n u r sekundär Anteil genommen habe, und man hat daraus gefolgert, daß der griechischen Kirche ein spekulativer Zug innewohne, der der abendländischen fehle, ja man hat darin den wesentlichen Unterschied zwischen beiden Kirchen erkennen zu müssen gemeint. Allein so einfach liegt die Sache nicht, wie schon die Tatsachen beweisen, daß im Abendland von Augustins Zeiten an sehr ernsthaft und eigentümlich über Trinität und Christologie nachgedacht worden ist, umgekehrt aber im Morgenland die kirchlich interessierten Laien und auch die Mehrzahl der Geistlichen die dogmatischen Kämpfe stets als Nyktomachien und als anstößig empfunden haben und diese Kämpfe und Dogmenproduktionen auch seit dem 7. Jahrhundert ein Ende fanden. Die Sache steht vielmehr so: da in beiden Kirchen die Gotteserkenntnis und -anschauu n g das letzte Ziel und die Theologie daher die Hauptfunktion und eine Hauptförderung der Frömmigkeit ist, so hat in beiden Kirchen die Erkenntnis Gottes und des Gottmenschen dieselbe zentrale Stellung. Daß die griechische Kirche sie f r ü h e r begonnen und jahrhundertelang energischer durchgeführt hat, erklärt sich aus ihrer höheren Bildung einerseits, anderseits allerdings aber auch dadurch, daß das Interesse der abendländischen Kirche sehr f r ü h und dauernd auch von den praktischen Fragen der Kirchen- und Seelenleitung in Anspruch genommen wurde. Man gewahrt hier wieder das zweite Motiv, das sich im Abendland mit selbständiger Kraft eindrängt, während es i m Morgenland schwächer bleibt. Nun aber ist noch folgendes zu erwägen: D a die Erkenntnis Gottes und des Gottesmenschen nach der Überzeugung der Kirchen das Wesen der geoffenbarten Vgl. die Haltung der sog. „Mittelparteien" in allen dogmatischen Kämpfen der griechischen Kirche und, die Laien anlangend, ζ. B. die Haltung des Kirchenhistorikers Sokrates.

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Religion selbst ausmacht, darf sie nicht durch menschliche Anstrengungen oder gar erst durch innertirchliche Kämpfe gewonnen werden, sondern m u ß von Anfang an offenbar und patent gewesen sein, d. h. alle ringende Spekulation und alle Kämpfe hier sind eigentlich ein ungeheures und unerträgliches Skandalon; denn sie lassen das als einen menschlichen und in der Geschichte entstandenen Erwerb erscheinen, was doch ein von Gott gegebenes Gut sein soll. Die Fiktion, den Erwerb von heute jedesmal f ü r einen uralten Besitz auszugeben, war in solcher Situation unvermeidlich. Ein paar Jahrhunderte hindurch hat die griechische Kirche diese peinliche Situation und die schwere Irritierung, welche die dogmatischen Kämpfe und die neuen Formeln ihr auferlegten, ertragen; dann hat sie Schluß gemacht 1 ) und n u n erst den Zustand erreicht, der ihr von Anfang an als der notwendige und ideale vorschwebte, nämlich nicht sowohl zu spekulieren als über eine fertige Spekulation zu m e d i t i e r e n und ihren Inhalt zu k o n t e m p l i e r e n ; denn sowohl das Ritual als auch die mystische Frömmigkeit bedarf ein f e r t i g e s Dogma. Wirklich spekulativ interessiert und auf neue Erkenntnisse bedacht ist die morgenländische Kirche niemals gewesen. Jede neue Formel, die man aufstellen mußte, war als solche eine schwere Verlegenheit und hatte zunächst schon als neue die Majorität in der Kirche gegen sich. Ein Unterschied von der abendländischen Kirche ist hier also ursprünglich gar nicht zu finden. Diese hätte sich gerade so benommen wie die morgenländische, wenn sie schon so gebildet gewesen wäre, und hat in einzelnen Fällen im 4. und 5. Jahrhundert auch dieselbe Haltung bewiesen. Der Unterschied beginnt erst von der Zeit an, wo die morgenländische Kirche Schluß gemacht hat. Fortab n i m m t sie eine Haltung zur „Tradition" ein, der die abendländische Kirche nicht vollkommen folgt, d. h. diese Kirche läßt der theologischen Spekulation und der fortschreitenden Entwicklung noch einen größeren Spielraum als jene (vgl. über „Tradition" unten). Sie erscheint also — entgegen der herrschenden oberflächlichen x

) Eigentlich schon im 6. Jahrhundert unter Führung Justinians; die monotheletischen Streitigkeiten sind künstlich von der Reichs politik hervorgerufen worden.

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Meinung —· „spekulativ" lebendiger dische Kirche.

als die morgenlän-

2. Das religiöse Leben spielt sich in beiden Kirchen primär an der Messe und den Sakramenten ab. Zunächst gewahrt m a n wieder keine Verschiedenheiten. Die Messe ist dort und hier ganz wesentlich identisch 1 ), und auch die Sakramente sind dieselben. Allein bei näherer Betrachtung walten hier sehr große Unterschiede ob. D e m Orientalen ist der Meßgottesdienst in seiner Totalität die Hauptsache. Das gottesdienstliche Gebäude, seine Ausschmückung, Heiligtümer und namentlich seine Bilder, das Ritual vom Anfang bis zum Ende, der Gesang, der Weihrauch und alle einzelnen Zeremonien und Stücke bis zu den Priestergewändern sind f ü r das Erlebnis eine geschlossene Einheit, in welcher der Opferdienst n u r den Höhepunkt bildet. Durch diesen Gottesdienst i m Kirchenraum f ü h l t sich der orientalische Christ in den Himmel erhoben und empfängt i m Gemüt und zugleich durch alle Sinne einen Vorgeschmack der himmlischen Welt und des jenseitigen Lebens. Voraussetzung f ü r den Eintritt dieser Erhebung ist der pünktlichste Vollzug des Rituals und die Unveränderlichkeit aller zu ihm gehörigen Stücke. Die Sakramente erscheinen diesem Gottesdienst zugeordnet, stehen u n t e r sich in einer n u r losen Verbindung und leisten das partikular oder individuell applikativ, was der Gottesdienst in Fülle bietet. Die Zubereitung f ü r das Jenseits bzw. die Erhebung zu demselben ist die Kraft ihres Inhalts. Anders ist es im Abendland. Innerhalb des Gottesdienstes ist die sündentilgende Opferung das allein entscheidende Moment, und aus den Sakramenten hebt sich das B u ß s a k r a m e n t so gewaltig heraus, daß es sich alles unterordnet, ja auch Zweck und Ziel der Messe sich unterwirft 2 ). Hierin ist wiederum ausgedrückt, daß der Kirche die Sündenvergebung bzw. die Herstellung eines sittlich reinen Lebens und die Erfüllung mit Glaube und Liebe die Hauptsache ist, die sich nahezu als selbständiger *) Demgemäß behalten auch die Orientalen ihren eigentümlichen Meßgottesdienst, wenn sie sich mit der römischen Kirche linieren. 2 ) Die Taufe hat in beiden Kirchen dieselbe Stellung: das Höchste wird von ihr ausgesagt. Aber da sie sich als Kindertaufe vollzieht, also an Bewußtlosen, muß doch alles am Subjekt von neuem beginnen.

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Endzweck darstellt und sogar über den Gedanken der Zubereitung auf das Jenseits übergreift. Daher tritt auch im Erlebnis des Gottesdienstes nicht sowohl die Erhebung in den H i m m e l in den Vordergrund, obwohl sie nicht fehlt 1 ), als vielmehr die Erlangung solcher geistiger Güter auf Erden, welche den Menschen von der Schuld befreien und i h m zur vollkommenen Gerechtigkeit verhelfen. Von hier aus erklärt es sich auch, daß die Unverbrüchlichkeit des Rituals nicht dieselbe Rolle spielen kann wie i m Orient; denn die Forderung seiner Starrheit entspringt i m Orient aus dem Gedanken der rein mysteriösen und transzendentalen Natur der Gabe, während diese i m Okzident zwar auch als streng übernatürliche gilt 2 ), aber sich geistig und individuell vermitteln m u ß und dadurch ein Moment der Freiheit erhält. Eben dieses Moment der Freiheit gilt es aber n u n zu ordnen, d. h. die Sakramente sind im Abendland unter dem p ä d a g o g i s c h e n Gesichtspunkt der Seelenf ü h r u n g in eine innere Einheit gesetzt. Zusammengefaßt: im Orient ist der Gottesdienst samt den Sakramenten Mysterienfeier und Anbetung, im Okzident ist er das auch, aber daneben tritt — und sogar übergreifend — die Rücksicht auf die sittliche Therapie der Seele hervor. Noch ist ein Blick auf die Bilder zu werfen. An der Nuance, welche zwischen der im allgemeinen identischen Bilderverehrung in beiden Kirchen besteht, kann m a n den Unterschied besonders deutlich studieren. I m Orient ist der *) Wie ja auch, umgekehrt in der orientalischen Kirche die Sündenvergebung in Demut gesucht und mit Freude empfangen wird. 2 ) Man könnte sogar bei flüchtiger Betrachtung meinen, der mysteriöse Charakter der Messe sei i m Abendland strenger ausgebildet als im Morgenland, weil sie dort in einer dem Laien unverständlichen Sprache, hier dagegen in den Landessprachen gefeiert wird, und dazu im Abendland Stillmessen üblich sind. Allein das ist ein Irrtum; denn erstlich ist auch in manchen orientalischen Kirchen die Sprache der Messe den Laien nicht verständlich, sodann ist das Latein des abendländischen Meßgottesdienstes und die Stillmesse nicht aus der Rücksicht auf das Mysterium, sondern aus hierarchischen und zentralistischen Gründen zu verstehen. Die zahlreichen Darbietungen religiöser Erbauung in den Landessprachen in der abendländischen Kirche (wie spärlich sind sie i m Orient!) lassen darüber keinen Zweifel, daß das Mysterium nicht das letzte Wort i m abendländischen Christentum sein soll.

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Bilderdienst nicht n u r noch weiter ausgedehnt als i m Okzident, durchzieht das ganze öffentliche und private f r o m m e Leben noch m e h r und hat auch in der Messe eine hohe Bedeutung, sondern es hat sich dort auch eine Bildertheologie und -philosophie entwickelt. Das heilige Bild ist seiner F o r m nach mit dem Prototyp identisch, welches es wiedergibt; n u r sein S t o f f ist irdisch. Es stellt also eine Vereinigung γοη Himmlischem und Irdischem dar und gilt in diesem Sinn geradezu als eine Auswirkung der Menschwerdung Gottes, wie die Sakramente Hinterlassenschaften des gottmenschlichen Lebens des Erlösers sind. Nichts kommt daher den eigentümlichen Wünschen der griechischen Frömmigkeit so sehr entgegen wie das Bild, in welchem sich das Himmlische stetig dem Auge in Verschmelzung mit dem Irdischen darstellt. D e m Abendland ist diese Theorie und die ihr entsprechende Praxis wesentlich fremd geblieben. Hier symbolisiert das Bild n u r die Nothelfer, an die man sich freilich ebenso wendet, wie im Morgenland; aber eine selbständige Bedeutung kommt dem Bilde i n d e r T h e o r i e nicht zu. 3. Für das Leben des Christen ergibt sich in beiden Kirchen die Grundforderung, daß es a l s V o r b e r e i t u n g a u f d a s J e n s e i t s gelebt werden soll. Diese Forderung f ü h r t direkt auf die A s k e s e i m S i n n e d e s M ö n c h t u m s . Aber in der Zeit, als beide Kirchen noch eine gemeinsame Geschichte gehabt haben, haben sie — teils weil das Mönchtum keine Überlieferung aus ältester Zeit besaß, teils weil sich die Kirche nicht m e h r in ein System von Einsiedeleien und Klöstern verwandeln ließ — beide geurteilt, daß sich das Mönchtum als ein besonderer Stand in der Kirche etablieren solle, daß es aber f ü r die anderen Christen genüge, die Vorbereitung auf das Jenseits innerhalb des bürgerlichen Lebens zu üben. D a ß diese Vorbereitung durch Glauben und durch Beobachtung der Sittengebote und Kirchengebote, die eine partielle Askese einschließen, zu geschehen habe, darin sind wiederum beide Kirchen einig. Aber auf diesem Grunde — wie groß sind die Verschiedenheiten, sowohl wenn man auf die Mönche als auch wenn man auf die Laien blickt! 93

Das orientalische Mönchtum bietet in tausendfacher einförmiger Wiederholung i m gemeinschaftlichen Leben und i m einsiedlerischen — wenige bedeutende Ausnahmen abgerechnet — immer dasselbe Bild*); dagegen i m Abendland -— welch ein Reichtum mannigfaltigster Formen von der Schöpfung des Benediktus bis zur Schöpfung des Ignatius 1 Das Ideal der orientalischen Askese ist der völlig bedürfnislose, weltentrückte, kontemplierende E i n s i e d l e r 2 ) , der selbst des Verkehrs mit gleichgestimmten Brüdern nicht notwendig bedarf. Das Ideal der abendländischen aber ist, wie der Gang der geschichtlichen Entwicklung lehrt, der J e s u i t , in welchem sich das alte Mönchtum sozusagen selbst aufgehoben hat. Analysiert man diese beiden Typen, so erkennt m a n : der morgenländische Mönch flieht den Mundus und das Saeculum, der abendländische flieht den Mundus und sucht das Saeculum im Dienste der Kirche umzubilden. Der morgenländische Mönch hat n u r das e i n e Ziel, seine Seele rein zu erhalten und sich durch Askese und Meditation auf das Jenseits vorzubereiten, j a s c h o n i n d i e s e m L e b e n b i s a n s e i n e P f o r t e n v o r z u d r i n g e n 3 ) . Auch der abendländische Mönch bejaht dieses Ideal, aber er verbindet es mit der anderen Aufgabe, d i e s e W e l t d e r K i r c h e , d. h. C h r i s t u s , z u u n t e r w e r f e n . Wieder gewahren wir, daß das Ideal des griechischen Mönchs eindeutig und jenseitig ist, das Ideal des abendländischen aber ein duales; denn mit selbständigem Anspruch tritt zu dem asketischen Jenseitigkeitsziel das diesseitige Ziel, welches die Herrschaft des Guten und Heiligen in der Welt verwirklichen will 4 ). 1 ) Auch hier muß von der Entwicklungsgeschichte abgesehen werden, die in manchen früheren Stadien anderes zeigt, s. H o l l , a. a. O. 2

) Den kontemplierenden Einsiedler läßt die abendländische Kirche überhaupt nur unter bestimmten Bedingungen gelten, und er ist fast vollkommen verschwunden. 3

) Hierzu führt der Natur der Sache nach nur die strengste Askese, die bis an die Entkörperung heranstreift. Eine gewisse liebende Sorge um die armen Brüder kommt auch bei orientalischen Mönchen hier und da vor, ist aber ganz sekundär. 4

) Von hier aus kann sogar die Askese nur wie ein Hilfsmittel erscheinen (s. den Jesuitenorden): „ W e r auf die Welt wirken will, darf sich mit ihr nicht einlassen." In dieser Erkenntnis wird hier auch die Askese herangezogen.

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Dieses Ziel entspricht genau der oben gemachten Beobachtung, nach welcher die Erlösung nicht erst in der Befreiung von der Vergänglichkeit zu unsterblichem Leben im Jenseits gegeben ist, sondern auch schon in dem Erfülltsein mit den Kräften des Glaubens und der Liebe i m Diesseits. Zwar hat auch das orientalische Mönchtum ein positives Verhältnis zur Kirche: die Bischöfe werden aus i h m genommen, und die Arbeit der Klöster steht mit dem Kultus und anderen Funktionen der Kirche in einer gewissen Beziehung; aber mit der H e r r s c h a f t der Kirche hat es schon deshalb nichts zu tun, weil diese Kirche, wie sich noch zeigen wird, eine Herrschaft, wie sie die abendländische Kirche ausübt, gar nicht beansprucht. Ganz analog dem mönchischen gestaltet sich dort und hier das Lebensideal f ü r den christlichen Laien. „Mensch, bedenke dein Ende", ist in beiden Kirchen die Grundform aller vorgeschriebenen Lebensführung, und die Einhaltung der Sittengebote und bestimmter K i r c h e n g e b o t e w i r d neben der Rechtgläubigkeit im Orient und Okzident dem Laien eingeschärft. Sieht man aber näher zu, so gewahrt man, daß sich zwar noch beide Kirchen die Einschärfung der D e m u t gleich angelegen sein lassen, daß sie aber dann doch auseinandergehen. In welcher Weise, das kann man noch besser als an der f ü r Laien geschriebenen Erbauungsliteratur an den religiösen Volkserzählungen studieren 2 ). Eine schwere Melancholie liegt über dem christlichen Volk des Orients, soweit es sich auf seine Religion besinnt und von ihr lebt. Es erwartet von dieser Erde und Zeitlichkeit nichts und ist stets auf das Schlimmste gefaßt. Ergeben n i m m t es dasselbe hin. Vom Standpunkt der Religion aus erscheinen auch alle politischen und Rechtsformen als ungerecht und böse; schlimm ist schon der Mundus, noch schlimmer und unverbesserlicher das Saeculum. Die passiven Tugenden sind aufs stärkste entwickelt, und soweit Daß diese Kirchengebote nicht ganz identisch sind, ist nicht gleichgültig, vielmehr tritt auch hier der besondere Charakter beider Kirchen hervor; doch soll auf die Feinheiten nicht eingegangen werden. 2 ) Man schlage die „Dorfgeschichten" T o l s t o i s auf, aber auch unzählige russische Novellen und Romane bieten dieselben Belege.

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Selbstlosigkeit auf ihrem Grunde zu entstehen vermag, finden sich heroische und rührende Beispiele zahlreich. Ungefärbtes Mitleiden quillt überall auf zu den „Mitgenossen im Elend", wie schon im 2. Jahrhundert der Grieche Marcion seine Konfessionsgenossen nannte. I n dieses trübe, hoffnungslose Dunkel, das alle Sinne und Aktionen erstarren läßt, fällt zwar der Glaubens- und Hoffnungsstrahl der zukünftigen Welt; aber er erwärmt und erleuchtet n u r einen schmalen W e g ; rechts und links bleibt alles schwarz und grauenhaft wie zuvor. Nicht einmal dazu reicht auf Erden das Licht, u m sich in seinem Scheine untereinander zu verbinden und gemeinsam den Widerstand zu leisten, den der einzelne nicht zu leisten vermag. Nein — jeder steht im Dunkel f ü r sich und sieht seinen Nächsteil n u r als traurigen Schatten an sich vorüberziehen. Anders in der abendländischen Kirche: zwar alle diese Gefühle und Stimmungen sind auch dort bekannt, aber man soll in ihnen nicht stecken bleiben, man soll an sich selbst arbeiten und erhält die Verheißung des Fortschritts, und man soll dem Übel widerstehen und erhält die Verheißung des Sieges, wenn auch nicht eines vollkommenen. Auch soll man nicht daran verzweifeln, in dieses Saeculum die Gerechtigkeit und die Kräfte des Guten, welche die Kirche darbietet, einzuführen, vielmehr soll man ein Mitarbeiter und Mitstreiter Gottes und der Kirche werden in der freudigen Zuversicht, daß es gelingen kann, die Herrschaft Gottes in der Welt aufzurichten. Neben den passiven Tugenden gilt es also die aktiven zu pflegen, sich durch dieselben miteinander zu verbinden und n u n in Gemeinschaft unter der Fahne der Kirche der Welt zu Leibe zu gehen, u m sie zu unterwerfen. 4. Unter der Fahne der Kirche — was bedeutet die Kirche im Orient und i m Okzident und wie stellt sie sich zum Staat und zum Volkstum? Das ist das umfangreichste Kapitel, aus dem n u r die Hauptabschnitte hervorgehoben werden können. In beiden Kirchen gilt die Kirche als die Hüterin des christlichen Erbes (der Tradition), als die Lehrerin des wahren Glaubens, als die Verwalterin der göttlichen Gaben und als die Mutter der Gläubigen; aber auf diesem gemeinsamen Grunde sind die Unterschiede so

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groß, daß man sie auf Antithesen zu bringen vermag. Von e i n e m Differenzpunkte aus ist die Entwicklung dort und hier in entgegengesetzter Richtung gegangen: Morgenland:

Abendland :

(a) Die Kirche ist primär und ganz wesentlich Jenseitigkeitsanstalt; sie erfüllt die Gläubigen mit den Kräften der himmlischen Welt, die auf das Jenseits vorbereiten und einen Vorschmack desselben bieten; die sittlichen Impulse, die sie gibt, sind daheT primär weltflüchtiger Art (negative und passive Tugenden). (b) Die Kirche bedarf des Weltgeistlichen und des Mönchs; in der Schätzung aber ist dieser jenem faktisch übergeordnet, weil er dem Jenseits nähersteht; auch ist die Spannung zwischen beiden nicht gering. (c) Der Weltgeistliche ist primär priesteTlicher Liturg und n u r sekundär richterlicher Seelenleiter.

Die Kirche ist Jenseitigkeitsanstalt, aber sie ist zugleich das Reich Gottes auf Erden; daher kommt es neben den weltflüchtigen Tugenden auf die weltbeherrschenden an, und der Einzelne soll u n d m u ß von der Kirche eine positive sittliche Charakterbildung empfangen.

(d) D a die Kirche es allein mit der Seligkeit ihrer Glieder zu t u n hat, soll sie hienieden kein Staat sein; sie ist die himmlische Gottesstadt. (e) Die Organisation der Kirche bedarf daher auch keine weltliche Regierungs7

Harnack,

Auswahl

Die Kirche bedarf des Weltgeistlichen u n d des Mönchs; in der Schätzung aber ist jener diesem übergeordnet, weshalb auch fast alle Mönche zugleich Priester sind. Die Weltpriester u n d Mönche stehen sich sehr nahe. Der Weltgeistliche ist priesterlicher Liturg und richterlicher Seelenleiter; aber faktisch überragt seine Wirksamkeit als Seelenleiter jene andere Funktion. D a die Aufgabe der Kirche auch Verwirklichung der alles umspannenden Herrschaft Christi auf Erden einschließt, m u ß sie ein Staat sein. Die Organisation der Kirche bedarf daher einer wirklichen und stetigen Re-

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gewalt und keine höhere Instanz als die einer heiligen Ratsversammlung für Glaube und kirchliche Sitte, die mit unfehlbarer Sicherheit nach den Vorschriften des Altertums entscheidet. (f) Weil die Kirche kein Staat ist und im Grunde keine positiven irdischen Aufgaben hat, so kann und soll sie sich vertrauensvoll dem Staate in Unter- und Überordnung zugesellen unter der Voraussetzung, daß der Lenker des Staats orthodox ist. Das höchste Ideal auf Erden ist eine allgemeine orthodoxe Kirche im engen Bunde mit dem orthodoxen Weltkaiser; doch ist die Verwirklichung dieses Ideals nicht notwendig. Auch mehrere orthodoxe Staaten mit den zugehörigen orthodoxen Staatskirchen können nebeneinander bestehen 1 ). (g) Die Kirche bedarf unter der Voraussetzung, daß der Staat orthodox ist, keiner anderen Selbständigkeit, Freiheit und Herrschaft als derjenigen, die ihr Kultus und ihre Kirchensitte verlangen.

gierungsgewalt, die mit unfehlbarer Sicherheit ex sese entscheidet. Eine solche ist nur in einem absoluten Monarchen als Stellvertreter Christi auf Erden gegeben. Weil die Kirche das gottgewollte Reich auf Erden ist, so kann es nur e i n e einheitlich regierte und in sich nicht differenzierte Kirche geben, also nicht verschiedene Staatskirchen. Die Staaten selbst aber haben nur soweit ein sittliches Recht auf Existenz, als sie sich in allen Grundfragen der sittlichsozialen Lebensbewegung dem Kirchenreiche unterordnen. Die es nicht tun, können eben nur ad tempus ertragen werden. Die Idee des Weltkaisers aber ist des Antichristentums verdächtig.

Die Kirche bedarf der vollen Selbständigkeit gegenüber dem Staat, der absoluten Freiheit und Aktionsfreiheit gegenüber der Welt, sowie aller äußeren Mittel des Rechts und der Strafgewalt, die auch die Staaten für ihre Regierung bedürfen.

*) Es ist höchst bezeichnend, daß sich i m Morgenland jeder Nationalitätssplitter, der zur Nation wird, alsbald und wie selbstverständlich dem Patriarchat von Konstantinopel entzieht und seine eigene orthodoxe Nationalkirche bildet. Auf diese Weise ist jenes Patriarchat

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(h) Da die Kirche über Lehre, Kultus und Kirchensitte hinaus keinen Spielraum begehrt, so soll sie sich nicht nur dem orthodoxen Staat zugesellen, sondern sich auch an Volkstum und volkstümliche Sitte anschmiegen und sie, unter der Voraussetzung, selbst als das nationale Palladium zu gelten, pflegen und konservieren (patriotische Kirchlichkeit). Daher sollen auch die Priester verheiratet sein und im bürgerlichen Leben stehen.

(i) Da die Kirche alles, was nicht Lehre, Kultus und Kirchensitte ist, dem Staat und dem Volkstum überläßt, so kann und will sie selbst in absoluter Unveränderlichkeit verharren. Eben darin erblickt sie ihre göttliche Legitimität und Wahrheit und faßt deshalb sich und ihre Tradition als das von Gott selbst gewirkte „Altertum". Von hier aus beurteilt sie das Neue, von welchem sie

Da Volkstum, volkstümliche Sitte und Patriotismus zum Saeculum gehören, so bedürfen sie der kirchlichen Leitung und der Durchdringung mit kirchlichem Geiste, um überhaupt erträglich zu sein. Nationalkirchen sind ebenso schlimm wie Staatskirchen, wenn das Nationale innerhalb der Kirche mehr sein will als eine Etikette. Welcher Spielraum dem Nationalen sonst gewährt werden kann, bestimmt die Oberleitung nach universalkirchlichen politischen Erwägungen. Alle Priester müssen unverheiratet sein, um nicht in das national-bürgerliche Leben verflochten zu werden 1 ). Die Kirche ist durch ihren Glaubens- und Sittlichkeitsbesitz unveränderlich und genau dieselbe, die sie bei ihrer Stiftung war. Aber weder sind Kultus, Disziplin und Kirchensitte ebenso unveränderlich — namentlich die beiden letzteren können von der Kirchenregierung eingreifend umgestaltet werden —, noch schließt der unveränderliche Glaubensbesitz (Tradition) es aus,

bereits ganz zusammengeschrumpft —• unter Protesten, die gar nicht durchschlagend sein konnten, weil jene kirchenpolitisch Abtrünnigen den volks- und staatskirchlichen Geist der Kirche für sich haben. *) Auch in den mit ihr unierten orientalischen Kirchen arbeitet



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das ganze Abendland erfüllt sieht, schon deshalb, weil es n e u ist, als Würdelosigkeit, schlimme Zerfahrenheit und Häresie.

bisher nicht definierte Glaubenslehren n u n m e h r zu definieren und unbestimmtere Fassungen durch bestimmtere zu ersetzen. Das Traditionsprinzip in der Hand des Papstes wird faktisch zum Progressionsprinzip, wenn die Kirche, u m ihre Stellung in der Welt zu befestigen, Neuerungen nötig hat.

Überblickt man diese Tabelle und die drei Abschnitte, die ihr vorangehen, so kann m a n über Geist und Art der morgenländischen Kirche nicht i m Zweifel sein. Sie ist das fast vollkommene Beispiel einer zuversichtlichen Jenseitigkeitsreligion, die, indem sie das Höchste in Aussicht stellt — zukünftiges göttliches Leben —, die Erde n u r noch mit dem Fuße streift, die in bezug auf das irdische Leben zwar im Bunde steht mit der Moral und der höchsten sittlichen Anspannung, aber diese in der Richtung der Askese leitet, die neben der Zubereitung auf das Jenseits, welche in der Askese liegt, ihren Gläubigern in dem Kultus, in den Sakramenten und namentlich in den Bildern einen heiligen ästhetischen Genuß und den Vorgeschmack des göttlichen Lebens der Unsterblichkeit bereitet, und die endlich in den Engeln und Heiligen eine Kette von Heilanden und Helfern schauen läßt, die vom H i m m e l zur Erde f ü h r t und abwärts und aufwärts wirksam ist. Der Vorgeschmack und Genuß des himmlischen Lebens entsteht aber auch in der Kontemplation und Meditation der Gottheit, des Gottmenschen, des ganzen oberen Kosmos und des Kultus, also in der Mystik. Ein tiefer, zur Todessehnsucht gesteigerter Pessimismus in bezug auf die Erde und das Erdenleben und ein vollkommener religiöser Quietismus ist das Korrelat zu der sicheren H o f f n u n g auf das Jenseits und zu den ästhetischmystischen Genüssen, die mit allem Ernste als tiefe Trödie römische Kirche auf cjen Priesterzölibat hin, wenn sie ihn auch einstweilen nicht fordert.

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stungen empfunden werden. Da aber kein Gemeinwesen und namentlich kein Volk in Pessimismus und Quietismus verharren kann, so tritt im Orient neben die Kirche das volkstümlich-nationale Leben, zwar nicht mit voller Naturkraft — das läßt die religiös-kirchliche Stimmung nicht zu —, aber doch als der allein aktive Faktor. Die Kirche hat, aus der Not eine Tugend machend, ihm und dem Staate den weitesten Spielraum lassen müssen. So ist eine paradoxe Verbindung von Religion und Kirche einerseits und Volkstum und Staat andererseits entstanden, die die Kirche auf die tiefe Stufe einer zeremoniösen Kultusanstalt für alle diejenigen herabsetzt, die der Jenseits Verkündigung und der Askese nicht zugänglich sind. Und diese Verbindung hat ferner die Kirche in ein nationales Palladium verwandelt, um welches geschart, Volk und Staat ihre Eigenart und Unabhängigkeit sichern und verteidigen. Wer aber als ernster orientalischer Christ, gestützt auf die nicht vergessenen Worte Christi und die asketischen Anweisungen der Kirche, in dieser Geltung der Kirche als purer Kultusanstalt und als gefügiger Gehilfin des nationalen Staates eine entsetzliche Verkehrtheit empfindet, flüchtet sich entweder resigniert in das Kloster — obschon es auch da Mönche genug gibt, die das Staatskirchenideal aufrechterhalten — oder wird, noch konsequenter, zum entschlossenen Sektierer und zum „ausbrüchigen" frommen Anarchisten, der der Kirche, dem Staat und der Gesellschaft samt ihrer ganzen Kultur in Kraft der Sprüche Jesu den Krieg erklärt. Der religiöse, sanfte und doch alles zerstörende Anarchismus T o l s t o i s ist der Revers der Münze, die im Avers die dem Staate völlig eingeschmiegte orthodoxe Kirche zeigt 1 ). Die vollkommene Verquickung von Staat und Kirche, die im geheimen doch als die unvereinbaren Gegensätze von Diesseits Eine geheime Bewunderung und Verehrung T o l s t o i s herrscht bis tief in die Kreise der russischen Geistlichen, Mönche und Staatsbeamten hinein; denn indem er die Staatskirche, den Staat und die Kultur negierte, verfolgte er die stärkste, wenn auch niedergehaltene Stimmungslinie des morgenländischen Christentums. So wie diese Kirche ist, müßte sie ihn zugleich verdammen und apotheosieren. Sie hat auch etwas Ähnliches wirklich getan. — Daß auf dem Boden der eigentlich griechischen Kirchen keine Tolstois hervorgetreten sind, erklärt sich erstlich daraus, daß zahllose Tolstois s c h w e i g e n d

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und Jenseits, Aktivität und Quietismus e m p f u n d e n werden, hat die Folge, daß f ü r Tausende das System aus dem Gleichgewicht k o m m t : die einen sehen dann in der Kirche l e d i g l i c h das nationale Palladium, ohne sich u m ihren religiösen Geist noch im geringsten zu k ü m m e r n 1 ) , und die anderen sehen umgekehrt in Staat und Gesellschaft die babylonische Macht, welche der religiöse Geist negieren und zertrümmern m u ß . Wie hat diese so beschaffene Kirche entstehen können? Daß sie nicht einfach die Fortsetzung der Jüngergemeinde in Palästina ist, ist ohne weiteres klar und bedarf keines Wortes. Aber ebenso klar ist auch die positive Antwort: Diese Kirche ist die s t e h e n g e b l i e b e n e religiöse, p h i l o s o p h i s c h e u n d ä s t h e t i s c h e K u l t u r des M o r g e n l a n d s d e s 3. J a h r h u n d e r t s , mit der freilich zwei gewaltige Veränderungen vor sich gegangen sind, durch die sie erst stabiliert worden ist. Diese beiden Veränderungen sind darin gegeben, daß erstens durch den Eintritt des Christentums in dieses Gefüge alle nicht m e h r erträglichen grob polytheistischen Elemente ausgetilgt worden sind 2) und i h m durch die E i n f ü h r u n g der beiden Testamente ein Z e n t r u m von besonderer religiöser Kraft und Fülle gegeben worden ist 3 ), und zweitens, daß dieses Christentum e i n e Organisation der Gesellschaft von unvergleichl i c h e r S t ä r k e mitbrachte, welche allen Rivalen fehlte 4) und den genialen Konstantin veranlaßte, auf den schon vollzogenen Bund zwischen der griechischen religiösen Hochkultur ihr Leben führen, sodann daraus, daß diese Kirchen Jahrhunderte hindurch unter dem Türken standen, unter dessen Druck jeder Grieche zur Verteidigung seiner nationalen Staatskirche genötigt war (s. o.), also die „ausbrüchige" Frömmigkeit nicht aufkommen lassen durfte. Das gilt ζ. B. von zahlreichen gebildeten Russen und Armeniern, und bei anderen morgenländischen christlichen Völkern ist es nicht anders. Die schrecklichen Greueltaten patriotischer Banden auf der Balkanhalbinsel zeigen, daß, wo der Patriotismus entflammt ist, zwar nicht die Kirche, wohl aber die C h r i s t l i c h k e i t der Kirche vollkommen ausgeschaltet ist. *) In feiner und bedingter Form sind sie alle noch vorhanden. 3 ) Ein „Mythus", der alle übrigen Mythen verblassen ließ. 4 ) Wie hat sich Julian darum bemüht, eine solche Organisation für seine dem damaligen Christentum innerlich nahe verwandte Religion zu schaffen!

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und dem Christentum das staatliche Siegel zu drücken1). Kann man zweifeln, daß der Geist der morgenländischen Kirche den Geist der griechischen religiösen Hochkultur des 3. Jahrhunderts wiedergibt? Dort und hier Tod und Leben — „Sterbliche" und „Unsterbliche" — der Grundgegensatz ; dort und hier die Sehnsucht, ihn zu überwinden, hier aber mit der plerophorischen Zuversicht, daß er überwunden sei; dort und hier die Mysterien, die Kontemplation und die Askese als die Mittel der Aneignung des Heils; dort und hier der ästhetische Genuß des Heiligen schon im Diesseits; dort und hier der Mysterienkultus und die Bilder; dort und hier die tiefe pessimistische Stimmung gegenüber der Welt, der Quietismus, die Scheu vor dem Mundus und Saeculum und die Weltflucht I Was hinzugetreten ist, ist der neue „Mythus" 2 ), der durch seine Kraft und Fülle die alten überwunden hat 3 ), und ist die staatliche Gewalt, die sich durch die kirchliche verstärkt hat, um sie dann ihrerseits wiederum zu verstärken: Plotin, Christus4), Konstantin — das sind die Grundsäulen des großen Gefüges 6 ) I Sofern die religiöse, philosophische und ästhetische Kultur des Morgenlandes des 3. Jahrhunderts das Ergebnis der G e s a m t g e s c h i c h t e des Morgenlandes — in der letzten großen Hauptphase unter Führung der Griechen — ist, repräsentiert die morgenländische Kirche bis heute eben dieses Ergebnis. Und zwar repräsentiert sie es heute noch in der Zuständlichkeit des 3. Jahrhunderts. Die morgenl ä n d i s c h e Kirche ist in k u l t u r e 11er, philosophischer und r e l i g i ö s e r H i n s i c h t das v e r s t e i n e r t e 3. Jahr*) Dadurch ist es gekommen, daß diese Form der neuplatonischästhetisch-quietistischen Kultur zum staatlichen Palladium werden konnte, was keiner ihrer anderen Spielarten zuteil geworden ist und als eine der paradoxesten Tatsachen der Weltgeschichte erscheint. s ) Als Evangelium im Sinne der Sprüche Jesu und als Evangelium im Sinne der Verkündigung des Gottmenschen. Ich brauche hier das Wort „Mythus" in dem antiken Verständnis. 3) In christlicher Umformung kehrte freilich ein Teil von ihnen wieder zurück, mußte sich aber Hun in den Heiligengeschichten mit dem zweiten Platze begnügen. 4 ) Als Lehrer (durch seine Sprüche) und als dogmatischer Christus (der Gottmensch). s ) Man vergleiche hierzu die posthume Schrift von G. L o e s c h c k e , Zwei kirchengeschichtliche Entwürfe, 1913.

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h u n d e r t . Selbst alle psychologischen und Gemütsmomente, die im 5. Jahrhundert durch die äußere und innere Geschichte hervorgerufen waren — die Ermüdung, der Quietismus, der partielle Verfall, der Weltüberdruß, die Sehnsucht nach dem Jenseits und die Zuversicht, es gewonnen zu haben —, sind hier auf immer konserviert 1 ).. Sofern und soweit ein aktives Element hinzugekommen ist, hat es Konstantin hinzugefügt, u n d es i s t d a h e r a u c h s c h l i e ß lich rein staatlich geblieben. Damit ist auch gesagt, in welchem Sinne der Geist der morgenländischen Kirche als R a s s e n g e i s t in Anspruch zu n e h m e n ist. Gewiß läßt sich etwas von spezifisch griechischem Geist in i h m spüren, vor allem im Piatonismus der Kirche, sodann in ästhetischer Hinsicht (Eigenart des Bilderdienstes); aber der große Gegensatz: „Sterbliche — Unsterbliche" und seine Überwindung ist nicht spezifisch griechisch, sondern auch orientalisch; 2 ) der Piatonismus hat im Neuplatonismus überhaupt und im kirchlichen Neuplatonismus insbesondere ebenfalls sehr starke orientalische Einflüsse erlebt, und das Ästhetische anlangend, so hat das Griechentum in der Kirche seine ganze Plastik darangeben und außerdem die fast unvollziehbare Aufgabe auf sich n e h m e n müssen, statt einer Ästhetik des Sinnlichen und 1

) Die Jahrhunderte der dogmatischen Kämpfe haben der Kirche den unvergleichlichen Dienst getan, das Herzstück ihres Glaubens — das Stück, welches sie als erlebte und fortwirkende Tatsache dem neuplatonischen Lehrgebäude einfügte — zu präzisieren und zu sichern. Aber an der Stimmung und Art des Glaubens und der Weltanschauung des 5. Jahrhunderts hahen sie schlechterdings nichts geändert, und ein Origenes besaß jenes Herzstück auch schon so sicher wie die späteren Jahrhunderte, wenn er auch in den Formeln impräziser und in der Weltanschauung hellenischer und freier war. Über das 3. Jahrhundert darf man aber nicht hinaufgehen; denn das 2. Jahrhundert bietet noch ein wesentlich anderes Bild. Andererseits darf man unter das δ. Jahrhundert nicht heruntergehen; denn die folgenden Jahrhunderte haben überhaupt keinen selbständigen „Geist" und haben auch dem Geist des 3. Jahrhunderts nichts Geistiges, sondern nur alten und neuen Aberglauben hinzugefügt. a ) Die Versuche zur Überwindung des großen Gegensatzes durch Mystik sind überhaupt nicht genuin griechisch, sondern orientalisch; aber, die Versuche, auf dem Wege des denkenden Geistes die Überwindung herbeizuführen, sind allerdings griechisch.

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des Lebens eine Ästhetik des Übersinnlichen und des Todes auszubilden 1 ). Daß der Geist der morgenländischen Kirche spezifisch griechisch sei, darf man daher nicht behaupten. Er ist der Geist des i m 3. Jahrhundert perfekten Synkretismus, an welchem der ganze Orient seinen Anteil hat. Also ist d e r Geist d e r m o r g e n l ä n d i s c h e n K i r c h e k e i n R a s s e n g e i s t ; er ist auf Grund weit zurückliegender und sehr mannigfaltiger Anlagen verschiedener Völker, die allmählich eine gemeinsame Geschichte erlebten, der Exponent dessen, was die politischen und intellektuellen Erlebnisse in einer langen Geschichte aus diesen Völkern gemacht haben. Das Griechische hatte dabei in bezug auf den Geist und die Unifizierung die Führung, weil die Erlebnisse dieses Volkes tiefere waren als die deT anderen Völker und weil es durch Alexander den Großen die orientalischen Völker mit seiner Kultur überzog. Es behielt auch in der Gesamtkirche zunächst 2 ) die Herrschaft, w e i l d e r Staat griechisch war. Es erheben sich aber, bevor wir nochmals einen Blick auf das Abendland werfen, hier zwei Fragen: Wie war es möglich, daß sich die von Palästina ausgegangene Bewegung so rasch in die religiöse, philosophische und ästhetische Kultur der Zeit einfügte, also, wie es scheint, ihre Eigenart so schnell aufgab? Und wie hat sich das kirchliche Gebilde, das i m 3. Jahrhundert entstanden und von Konstantin staatlich approbiert worden ist, so unverändert n u n 1600 Jahre erhalten? Beide Probleme hängen aufs engste zusammen. Die erste Frage mag befremdlich erscheinen 3 ). Hat nicht die Kirche drei Jahrhunderte lang einen schweren Kampf x

) In dem Heiligentypus entkörperter Erhabenheit und in gewissen Anfängen der Seelenmalerei ist diese Aufgabe vollzogen — soweit sie damals vollziehbar war. Daß sie schließlich doch nicht unvollziehbar ist, hat die von C i m a b u e und G i o t t o anhebende Entwicklung gezeigt. 2 ) Nur zunächst — die Abbröckelung der einzelnen morgenländischen Völker begann sehr bald. 3 ) Die tiefste Antwort auf diese Frage liegt an einem Punkte, der hier nicht erörtert werden kann: Das Evangelium war keine „religio publica" und sollte in seinem Sinne auch keine solche werden. Das Evangelium bezieht sich auf das Individuum und seine Seele und auf die Brüder. Jünger Jesu konnte und sollte man sein innerhalb der jüdischen Volks- und Kultusgemeinschaft. Fiel diese weg, so

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mit dem Staat und der Gesellschaft geführt? Hat sie in diesem Kampf nicht ihre Eigenart verteidigt und zum Siege geführt ? Was will man also mehr von ihr verlangen ? Nun—• es wäre zu zeigen, daß sich die Kirche in dieser ganzen Zeit mindestens ebenso stark dem Staat und der Gesellschaft aufzudrängen und mit den Kräften dieser seiner Gegner sich selbst auszugestalten getrachtet, und daß sie bei diesen erfolgreichen Versuchen ihre von den Propheten und von Jesus herstammende Eigenart als private und brüderliche Religion zu einem großen Teile schon bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts eingebüßt hat. Doch würde hier der Nachweis zu weit führen 1 ). Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber folgendes: Die ganze morgenländische Kirche hat von Paulus und Johannes, die nur zum kleinsten Teil verstanden worden sind, bis zu den Tagen Konstantins nur zwei geistig wirklich hervorragende Männer besessen2) — C l e m e n s A l e x a n d r i n u s und Origenes. Da diese aber synkretistische Platoniker waren, die das Christentum in die Denkweise der Zeit hineinzogen, so d i e n t e i h r W e r k n u r zur V e r s t ä r k u n g des h e r r s c h e n d e n Zuges d e r blieb zunächst ganz unbestimmt, wie es nun mit der religio publica gehalten werden sollte. Viele Möglichkeiten taten sich auf. Entwickelte sich alsbald der C h r i s t u s k u l t u s zum Herzstück einer n e u e n religio publica, so f e h l t e d i e s e m M i t t e l p u n k t doch noch d i e g a n z e P e r i p h e r i e . Diese mußte aus den Impressionen der Umwelt geschaffen werden, soweit man nicht durch Vermittlung des heiligen Buches doch wieder auf das Judentum zurückgriff. Fragt man also, warum die christliche Religion so schnell ihre Eigenart aufgegeben hat, so muß die e r s t e Anwtwortlauten: e i n e E i g e n a r t a l s r e l i g i o p u b l i c a h a t die c h r i s t l i c h e R e l i g i o n n i e m a l s v e r l o r e n , w e i l s i e s i e n i e m a l s b e s e s s e n h a t . In der z w e i t e n Antwort müßte man sodann auf eine gewisse W a h l v e r w a n d t s c h a f t zwischen dem Evangelium (bzw. auch dem Spätjudentum) und einigen neuplatonisch-stoischen Hauptgedanken und Richtlinien hinweisen. Nun erst käme die Anwort, die im Text gegeben ist. *) Vgl. meine Abhandlung: „Über das Verhältnis von Staat und Kirche bis zur Gründung der Staatskirche" in der „Kultur der Gegenwart". Der außerordentlich kräftige Missionstrieb der Kirche, den sie vom Judentum geerbt hat, aber noch verstärkt, kommt hier besonders in Betracht. Mission im großen Stil aber kann man nicht treiben, ohne sich dem Missionsfelde in immer steigendem Maße anzupassen. 2 ) Sie hat Heroen der Geduld, der Aufopferung und des Todesmut» zahlreich besessen.

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Z e i t i n der K i r c h e . Die morgenländische Kirche hat keinen christlichen Denker erlebt, der die Gedanken des Apostels Paulus aufgenommen und fortgesetzt hätte 1 ), keinen, der gar die Verkündigung Jesu zum F u n d a m e n t einer wirklichen N e u b i l d u n g gemacht hätte, also überhaupt keinen, der mit kongenialer O r i g i n a l i t ä t die neue Predigt gestaltete. Daß hier nicht Unmögliches verlangt wird, zeigt ein Blick auf die Geschichte der abendländischen Kirche, die freilich eine selbständigere Entwicklung viel leichter hatte, weil die religiöse und philosophische Kultur, die ihr gegenüberstand, ungleich schwächer und oberflächlicher war als die griechisch-morgenländische. Es soll auch der hohe Wert des engen Bundes der neuen Religion mit dem Hellenismus — bis zur endgültigen Verschmelzung hin — gar nicht in Abrede gestellt und überhaupt nichts kritisiert werden, sondern nur um die Tatsache handelt es sich, daß sich die morgenländische Kirche n i c h t n u r m i t E l e m e n t e n des H e l l e n i s m u s erfüllt, sondern diesen H e l l e n i s m u s s e l b s t , w i e er a u f der S t u f e des S . J a h r h u n d e r t s sich entfaltet hatte, i n sich v e r e w i g t hat 2 ). Was aber von den drei ersten Jahrhunderten der morgenländischen Kirche gilt, gilt auch von den folgenden — die Mit dem meisten Recht läßt sich das noch von Marcion einerseits, von Irenäus anderseits sagen; aber der prinzipielle Dualismus jenes verdarb seine besten Einsichten, und dieser blieb in ganz ausgezeichneten Ansätzen stecken und war schließlich, als ein zwar hervorragender, aber f ü r die große Aufgabe doch zu enger Kopf, nicht fähig, die apologetische Theologie seiner Vorgänger, die die neue Religion grundlegend hellenisiert hatten, zu durchbrechen. 2 ) Wodurch sich die Kirche noch i m m e r von anderen Spielarten des Hellenismus e i g e n a r t i g unterschied und welche Elemente sie aus dem Judentum und der evangelischen Verkündigung als konstitutive noch beibehalten h a t , davon ist hier nicht zu handeln, da diese Elemente den G e i s t u n d die innere S t i m m u n g , die die Kirche mit dem Hellenismus des 3. Jahrhunderts teilte, nicht wesentlich modifizierten. Aber freilich dadurch modifizierten sie sie, daß sie auf Grund der beiden Testamente und sub specie Christi eine G e w i ß h e i t hinzufügten, die geradezu als die Eigenart der Kirche bezeichnet werden darf. W e n n man in der philosophischen Dogmatik der Kirche ihre Eigenart erblickt (Trinitätslehre und Christologie), so ist das zunächst ein I r r t u m . Aber f ü r das unphilosophische Motiv hinter diesen hellenischen Gedankenbildungen ( „ G o t t war in Christus") ist die Behauptung richtig.

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Kirche hat keine kraftvollen, originalen Denker erlebt oder vielmehr: ihre kraftvollen Männer, an denen es nicht gefehlt hat, waren keine dem Evangelium kongenialen Denker, und ihren Denkern mangelte, sei es jede Ursprünglichkeit, sei es die Kraft, sich durchzusetzen. Die Kappadozier, ihre besten Theologen, können doch höchstens als Denker zweiten Ranges bezeichnet werden; wirkliche Originalität fehlte ihnen vollkommen, und sie waren und blieben als Origenesschüler völlig eingetaucht in den Geist und die Stimmung des 3. Jahrhunderts. Die antiochenischen Theologen aber 1 ), welche kräftige Versuche gemacht haben, die Kirche aus diesem Geist und dieser Stimmung herauszuführen, waren doch nicht kräftig genug, um sich durchzusetzen, und blieben trotz aller Anläufe, die Methistorie an die Stelle der Metaphysik zu setzen, durch ihre Hochschätzung des Kosmologischen und Mönchischen selbst im alten Geiste stecken. Vor allem aber — die bereits im 4. Jahrhundert einsetzenden und beharrlichen Versuche des Staates, die Eigenart der Kirche, wo sie ihm unbequem war, zu beugen und zugleich den Rest ihrer Selbständigkeit auszutilgen, nötigten die Kirche zu den schwersten Kämpfen. Diese vermochte sie nur zu führen, indem sie ihre gegebene Eigenart jeder Kritik und jeder Änderung entzog 2 ). Der teils latente, teils offene, aber in Wahrheit ununterbrochene Krieg mit dem Staat von Athanasius bis zum Bilderstreit ließ innerkirchliche Reformationsmöglichkeiten gar nicht aufkommen. Nach dem Ausgang des Bilderstreits wurde schließlich die endgültige Regelung gefunden: die K i r c h e v e r l o r i h r e S e l b s t ä n d i g k e i t , a b e r b e h i e l t i h r e E i g e n a r t , mit der der Staat sich fortab nicht nur abfand, sondern nunmehr wirklich zu befreunden vermochte. Diese E i g e n a r t war noch i m m e r der G e i s t des 3. J a h r h u n d e r t s . Ihn haben Männer wie Athanasius, Cyrill, Dioskur, Maximus Confessor und Theodorus Studita durch die lange Reihe der Jahrhunderte hindurch konserviert und gerettet, gerettet vor einer cäsaropapistischen Religion, deren Sieg eine voll) An ihrer Spitze Paul von Samosata. ) Zu werden, was sie wurde, dazu nötigte die Kirche der Kampf mit dem Gnostizismus; zu bleiben, was sie war, dazu nötigte sie der Kampf mit dem Staat. 1

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kommene Profanisierung bedeutet hätte 1 ). Calvins und Cromwells hat die Kirche des Morgenlandes nicht erlebt — doch hat es an Männern, die ihnen nahe kamen, nicht gefehlt — und im Kampf u m ihre Eigenart nicht erleben können. Diese hat sie behauptet. Aber andererseits — auch die Absichten Konstantins waren erst im 9. Jahrhundert wirklich realisiert: der Staat umklammerte dauernd die Kirche, wenn er ihr auch ihre Eigenart lassen mußte. Der Beharrungszustand war erreicht, und beide Teile waren zufrieden, wenn auch (s. o.) eine starke gegensätzliche Unterströmung i m geheimen in der Kirche nachblieb. Das paradoxe sozial-politische, staatlich-kirchliche Gebilde, welches n u n perfekt war — der omnipotente Staat und die quietistische Kultuskirche in unauflöslicher Verbindung und doch im letzten Grunde kontradiktorische Gegensätze, an beide das Volkstum angeschmiegt —, hat sein Existenzrecht durch seine Dauer bewiesen und beweist es noch immer 2 ). Der Eintritt der Slawen in diese Kirche und ihr Aufstieg bis zu'einer Weltmacht hat schlechterdings nichts an der morgenländischen Kirche geändert. Mag sie slawischen Geist in sich aufgenommen haben oder nicht — eine Modifikation ihrer Eigenart hat sie dadurch an keinem Punkte erlebt, ja eine solche Modifikation in reformatorischem Sinne ist von den Slawen niemals auch n u r versucht J

) Man tadelt auch heute wieder die Herrschsucht eines Athanasius und die rücksichtslose Weltpolitik der alexandrinischen Patriarchen; aber diese Politik galt nicht nur der Schöpfung eines alexandrinischen Kirchenstaates, sie galt auch der Erhaltung der Eigenart und Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat. Der Kampf des Athanasius und seiner Freunde gegen Konstantius ist wie der Kampf der Bischöfe gegen die bilderstürmenden Kaiser zu beurteilen. a ) Wenn eine historische Entwicklung bis zur complexio oppositorum vorgeschritten ist, d. h. wenn sie die großen Gegensätze in ihrer Mitte zu umspannen vermag, ist sie stets am machtvollsten und dauerndsten. Daß sich die morgenländische Ordnung der Dinge nun schon mehr als tausend Jahre erhalten und von Konstantinopel nach Petersburg verpflanzt hat, verdankt sie der gewonnenen Fähigkeit, jene complexio zu vollziehen. Im Morgenland vollzieht sie sich so, daß die Rollen an den Staat und die Kirche, obschon sie zu einer Einheit verschmolzen sind, verteilt sind; im Abendland stellt die Kirche selbst die complexio oppositorum dar, und so ausgerüstet stellt sie sich dem Staat gegenüber.

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worden 1 ). Die niederdrückende, dumpfe Macht des kirchlichen Quietismus ließ auch hieT wohl mönchischen Heroismus aufkommen und stoßweise anarchischen mönchischen Radikalismus (s. o.), nicht aber Reformation. Aber starr und sicher hält sich doch dieses staatlich-kirchliche Gebilde samt dem ihm eigentümlichen Geiste in der Geschichte aufrecht 2 ); gegenüber der Empfindungsweise, der Kultur und den reformatorischen Freiheitskämpfen und -errungenschaften des Abendlandes; ja es lehnt sie als seine Feinde ab 3 ). Der Geist der abendländischen Kirche — schon am Ende des 1. Jahrhunderts spürt man ihn im Briefe des römischen Klemens, obschon dieser Brief noch in griechischem Gewände steckt. Man spürt ihn in Tertullian und Novatian, den adsertores evangelii, in Cyprian, dem gewaltigen Kirchenorganisator, in den Maßnahmen und praktischen Ordnungen der römischen Bischöfe, in den Gedanken und Anordnungen über Kircheneinheit und Kirchenzucht, in den Invektiven des Luzifer von Cagliari und des Hilarius von Poitiers gegen den Kaiser und den Staat, am selbstbewußtesten und kräftigsten in der Haltung des Ambrosius von Mailand. Wo dieser Geist gezwungen wird, in den Spuren des griechischen Geistes zu gehen, bleibt er in den vier ersten Jahrhunderten noch weit hinter diesem zurück; aber wo es sich um kraftvolles Erfassen der Wirklichkeit, um a k t i v e Wie anders die abendländischen Slawen; man erinnere sich der hussitischen Bewegung! Auch hier sieht man wieder, daß es die Rasse allein nicht macht und daß die erlebte Geschichte mächtiger ist. 2 ) Der russische Großstaat, der an die Stelle des byzantinischen getreten ist, ist ein Beweis, daß von Konstantin etwas Geschlossenes und Dauerhaftes begründet worden ist. 3 ) Die teilweise Rezeption der abendländischen Z i v i l i s a t i o n darf über diese Tatsache nicht täuschen. Auch die Japaner treten ja nicht dadurch schon in die abendländische Kulturgemeinschaft, daß sie sich unsere Zivilisation, die doch vor allem Technik ist, aneignen. Ob die abendländischen Dynastien in Rumänien, Griechenland und Bulgarien den Geist des Morgenlandes und seiner Kirche stärker beeinflussen werden als die abendländische Dynastie in Rußland dieses Reich, muß man abwarten. Möglich wäre es, da für kleinere Staaten die Macht der Überlieferung nicht so gewaltig ist wie für größere. Übrigens werden die zukünftigen Herrscher jener drei Reiche sämtlich orthodox sein, und daß ihnen dann die Orthodoxie, weil sie zugleich Patriotismus ist, in Fleisch und Blut übergehen wird, ist nach dem russischen Vorbild immerhin wahrscheinlich.

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Christlichkeit, um kirchliche Selbständigkeit und um den entscheidenden Einfluß des Christlichen auf das Leben handelt, da ist er dem griechischen Geist schon damals überlegen gewesen. Dann aber erschien der Abendländer, der den ganzen Geist des griechischen Christentums in sich aufgenommen und tiefer verarbeitet hat als irgendein griechischer Christ vor ihm, der aber nicht in ihm stecken blieb, sondern ihm durch Rückgang auf Paulus und durch die geniale Objektivierung seiner eigenen religiösen und kirchlichen Erfahrung neue Elemente zuführte, die ihn umbilden mußten. Wie jeder wahrhaft epochemachende Mann auf dem Gebiete des Geistes erscheint Augustin zunächst nicht als ein Auflösender, sondern als Vollender; denn das große t r i e b k r ä f t i g e Neue besteht niemals in runden neuen Sätzen, sondern in einer neuen R i c h t u n g und in der K r a f t , mit der diese Richtung aufgezwungen wird 1 ). Alles, was Augustin Neues gebracht hat, liegt als zukunftsreicher Keim in seinen Schriften verborgen und hat sich erst allmählich in der Geschichte entfaltet. Das Größte hier aber war die Richtung auf das I n d i v i d u u m und — ohne das jenseitige Ziel verblassen zu lassen —- die Richtung auf die Durchdringung d i e s e r Welt in der Gesamtheit ihres Gefüges mit den Kräften des Heiligen und Guten 2 ). Indem dies als Hauptaufgabe erkannt wurde, ließ sich die abendländische Kirche von keiner Macht dauernd die Aufgabe abtrotzen, die Erziehung der Völker und der einzelnen zu leiten, und wehrte sich daher energisch und siegreich dagegen, auf die Stufe einer bloßen Kultusanstalt herabgedrückt zu werden 3 ). Neben den Staat trat im Abendland die Kirche als selbständiger Faktor — mit Augustins großem Die weltgeschichtliche Stellung A u g u s t i n s ist mit der R o u s s e a u s vergleichbar. Beide vollenden den Geist der Periode, zu der sie gehören, und führen ihn zugleich auf eine ganz neue Stufe. Daß sie beide „ g e n i a l " im höchsten Sinne des Wortes gewesen sind und beide „Bekenntnisse" geschrieben haben, ist nicht zufällig. 2 ) Das System der abendländischen Kirche gleicht einer Ellipse; es hat zwei Mittelpunkte, das Jenseits und das Reich Christi auf Erden. Das System der morgenländischen Kirche hat nur jenen Mittelpunkt und gleicht daher einem Kreise, der aber im Staate eingebettet ist. 3 ) Das haben alle großen abendländischen Kaiser und Herrscher von Karl dem Großen an versucht. 1

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Werke „De civitate dei" und mit seinen übrigen Schriften in der Hand. Was aus diesen Schriften herausgelesen oder unter ihrer Anregung behauptet wurde, stand zu einem großen Teile gar nicht in i h n e n ; aber es wuchs doch aus ihnen heraus. Aus der Tingeheuren und lebendigen Spannung zwischen Kirche und Staat, die n u n entstand, entwickelte sich der eigentümlich abendländische Geist des Individualismus, der gewissenhaften Sorge f ü r das Diesseits, der aktiven Frömmigkeit, der Bezwingung der Welt durch immer höhere Gesittung — die civitas d e i ! Von der spezifischen Ausgestaltung dieses Geistes im Protestantismus soll hier geschwiegen werden, und schweigen darf der Historiker in diesem Zusammenhang auch von den schweren Gravamina in bezug auf die Art, wie Rom die moralischreligiöse Durchdringung der Welt und die kirchliche Aktivität verstanden hat und versteht. D e n n es bleibt doch dabei, daß es, gemessen an dem Geist der morgenländischen Kirche, einen abendländischen religiösen und sittlichen Geist als eigentümliche und geschlossene Größe und als Faktor des Fortschritts gibt, in welchem Millionen von Katholiken mit Protestanten zusammenstehen. Auf der Balkanhalbinsel wird zurzeit an einer neuen Grenzlinie gearbeitet. Sie wird die zukünftige Grenze zwischen Abendland und Morgenland sein. Alles Land, welches die orthodoxen Völker nach dem Sturz der Türkenherrschaft erhalten, wird endgültig dem Geiste des Morgenlandes Untertan sein und dem tieferen Einfluß des Abendlandes entrückt bleiben. Dagegen wird alles Land, welches unter den entscheidenden Einfluß von Österreich oder Italien bzw. der römischen Kirche kommt, allmählich vom Geist des Abendlandes erfüllt werden. Unvergessen aber wird es bleiben, daß nicht das lateinische Kreuz, sondern allein das griechisch-slawische die Türken von der Balkanhalbinsel vertrieben und ihre Herrschaft hier vernichtet hat. Das wird den Geist des Morgenlandes gegenüber dem abendländischen f ü r die Z u k u n f t außerordentlich stärken. 1

) Sofern an dieser Entwicklung auch Sprüche Jesu und Lehren des Paulus einen bedeutenden Anteil haben, darf man sagen, daß die Christlichkeit der Kirche im Laufe ihrer abendländischen Geschichte gewachsen ist. Auch G. L o e s c h c k e hat diese Ansicht vertreten.

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DIE

BEDEUTÜNG

DER

THEOLOGISCHEN

FAKULTÄTEN (1919)

In den Programmen für die Neubildungen, welche die neue Zeit verlangt, ist auch mehrfach die Forderung erhoben worden: Abschaffung der theologischen Fakultäten. Ich verstehe es daher, daß ein Kreis von Solchen, die daxin nicht einen Fortschritt, sondern einen verhängnisvollen Verlust erblicken, die Frage nach dem Wesen und der Bedeutung dieser Fakultäten öffentlich erörtert sehen wollen. Ich selbst halte eine solche Erklärung nicht für unbedingt notwendig; denn ich vertraue dem Schwergewicht der Sache, daß sie sich behaupten wird, und ich vertraue zugleich den heutigen Machthabern, daß sie sich von diesem Schwergewicht überzeugen werden. Indessen ist es doch nicht überflüssig, den inneren Wert eines Gutes festzustellen, das nicht mehr unbestritten ist. Freilich läßt sich sofort einwenden, es mögen zuerst die Gegner der theologischen Fakultäten mit ihren Gründen in gesammeltem Angriff hervortreten. Das ist bisher nicht geschehen; vielmehr scheinen sie die Forderung für eine selbstverständliche zu halten, sobald einmal die Notwendigkeit der Trennung von Kirche und Staat anerkannt sei. Allein so einfach liegen die Dinge doch nicht, auch wenn man sich auf diesen Boden stellt. Die Forderung der Abschaffung der theologischen Fakultäten haben die modernen Staats- und Gesellschafts-Konstrukteure unbesehen vom alten Liberalismus übernommen, ebenso wie die beiden Obersätze, aus denen sie angeblich folgt: „Religion ist Privatsache" und „Kirche und Staat 8 H a r n a c k , Auswahl

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müssen getrennt werden." Diese abstrakten Sätze sind von jener luftigen Unbestimmtheit, welche alle Forderungen des alten Liberalismus charakterisiert; die Folgerung aber „Abschaffung der theologischen Fakultäten" vermag sich nur vor einem ganz lockeren und schnellfertigen Denken als einfache Konsequenz aus jenen Sätzen zu behaupten. Was bedeutet „Religion" in dem Satze: „Religion ist Privatsache"? Daß das, was im Herzen und Gewissen vorgeht, Privatsache ist, bedarf keiner ausdrücklichen Erklärung. Aber Religion bildet stets Gemeinschaften. Sind diese Gemeinschaften auch lediglich Privatsache? Wenn diese Frage einfach bejaht wird, so wird der Staat auch bei uns überraschende Bewegungen erleben, wie er sie in anderen Ländern schon erlebt hat! Ferner „Religion ist Privatsache" — aber die Religiösen verlangen nicht nur einen Religionsunterricht, sondern verlangen auch, daß ihre Kinder keinen irreligiösen und keinen unreligiösen Unterricht erhalten. Soll sich also der Staat um den Unterricht solcher Kinder überhaupt nicht kümmern oder soll er umgekehrt diese Kinder in seine Schulen, die er nach seinem Belieben errichtet, zwingen? In beiden Fällen wird er in Kürze sehr unliebsame Erfahrungen machen, und es wird ihm'daher nichts übrig bleiben, als sich auf Verhandlungen einzulassen und die beiden Grundsätze: „Religion ist Privatsache" und „Kirche und Staat sind zu trennen", durch vermittelnde Bestimmungen einzuschränken. Aber selbst zugestanden, jene beiden Grundsätze ließen sich in strengster Form durchführen — warum soll die Abschaffung der theologischen Fakultäten ihre notwendige Folge sein? Oder steht es bereits fest, daß diese Fakultäten einer Aufgabe dienen, welche der Wissenschaft und dem Staate ganz gleichgültig ist? Wie, wenn es sich umgekehrt zeigen sollte, daß diese Aufgabe von den Fragen, ob Religion Privatsache sei, und ob Kirche und Staat getrennt werden müßten, völlig unabhängig ist, ja daß Wissenschaft -und Staat an ihr das höchste Interesse nehmen müssen? Daß es aber so ist, läßt sich nachweisen, und damit enthüllt sich die angebliche Konsequenz der liberalistischen Voraussetzungen als bloßes Vorurteil. 114

Wie hier, so ergeht es dem modernen, sozialen Denken mit allen Erbstücken, die dieses Denken unbesehen vom Liberalismus übernommen hat. Sie erweisen sich sämtlich so wie sie lauten, als unbrauchbar und müssen daher einer durchgreifenden Revision unterworfen werden, u m Geltung zu erlangen. Das soziale Denken bindet sich streng an das Wirkliche; dieses will es ausschließlich und unbeirrt erkennen; nach ihm will es den Staat und die Gesellschaft ordnen und Gerechtigkeit üben. In diesem Zug zum Wirklichen prägt sich die kraftvollste und die wertvollste Eigenart des Sozialismus aus. Daß er dabei zunächst auf den Materialismus verfiel, war bei der Verworrenheit und den Parteitendenzen des Idealismus, den er vor sich sah, zwar bedauerlich und verhängnisvoll, aber wohl verständlich, und ebenso verständlich war, daß er Quantitäten, Massen und Majoritäten einsetzte, u m sich Gehör zu verschaffen. Aber es ist sicher zu erwarten, wie zahlreiche Anzeichen künden, daß er i m Fortschritt seiner Entwicklung die Bedeutung dynamischer Kräfte und die Macht der Ideen erkennen wird. Der Idealismus des Wirklichen wird, wenn er ernst und tief ist, zur Wirklichkeit der Ideale gelangen. Ob die Wirklichkeit der Dinge die theologische Wissenschaft und die theologischen Fakultäten fordert und schützt, das allein darf hier entscheidend sein. Auch scheinbar einleuchtende Wünsche und Forderungen, mögen sie von links oder von rechts kommen, müssen unberücksichtigt bleiben, sobald die Frage einer ernsthaften Untersuchung unterzogen wird. Übrigens fehlen in der Tat auch Wünsche von rechts nicht, die auf Aufhebung der theologischen Fakultäten gerichtet sind. Es mögen etwa fünfzehn Jahre her sein, da hielt der berühmte Chirurg Kocher in Bern seine Rektoratsrede über die theologischen Fakultäten. Kocher gehörte einer streng pietistischen Gemeinschaft an, und das Ergebnis seiner Ausführungen lautete: „Fiat amputatio", die theologischen Fakultäten müssen aus dem Verbände der Universitäten ausscheiden, weil ihr hohes und zartes Objekt sich in den Rahmen dieser nicht fügt. Ebenso führt der rechte Flügel des Katholizismus einen stillen und zähen Kampf gegen die katholisch-theologischen Fakultäten an den Universitäten. Er wünscht, daß die 8*

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zukünftigen Priester ausschließlich an bischöflichen Seminaren ausgebildet werden, damit sie nicht die gefährliche Luft der Universitäten atmen müssen. Noch vor kaum zwanzig Jahren, als es sich u m die Errichtung einer katholisch-theologischen Fakultät in Straßburg handelte, traten diese Bestrebungen offen zutage, und sie hätten in Rom wahrscheinlich die Oberhand behalten, hätte sich nicht ein so erprobter Führer der katholischen Wissenschaft und Kirche, wie es v. Hertling war, ihnen entgegengestellt. Die „Modernen" also, die heute die Aufhebung der theologischen Fakultäten im Namen der Aufklärung und des religionslosen Staates fordern, haben evangelische Pietisten und ultramontane Politiker zu Bundesgenossen. Auch hier bestätigt sich wieder der Satz von den Extremen, die sich berühren: „Unabhängige" und, wie der Volksmund sagt, „Schwarze" reichen sich die Händel Daß diese nicht aus heißer Sorge für den Staat und das Gemeinwesen die Aufhebung verlangen, müßte doch jenen eine Warnung sein. 1. Bevor wir aus der Sache selbst die Bedeutung der theologischen Fakultäten und damit ihr Existenzrecht erweisen 1 ), wird ein Blick auf ihre Geschichte und ihre gegenwärtige Geltung nicht überflüssig sein. Zwar müssen ihn die für wertlos halten, die von der Neuheit der neuen Zeit so überzeugt sind, daß sie keine geschichtliche Erwägung mehr zulassen und die Geschichte am liebsten totschlügen; allein auch diese Enthusiasten pflegen ihren ikonoklastischen Eifer zu dämpfen, wenn sie zu wirklicher Verantwortung in bezug auf die Gestaltung der Zukunft berufen werden. Mit der Tradition brechen, heißt die Sache selbst verlieren: das erfahren auch sie. Einst waren die theologischen Fakultäten, als die Universitäten in Europa begründet wurden und noch Jahrhunderte hindurch, die Mittelpunkte der gelehrten Studien. Die Philosophie und die anderen wissenschaftlichen Disziplinen Nur von den evangelisch-theologischen Fakultäten ist im Folgenden die Rede; am Schluß sollen auch die katholisch-theologischen Fakultäten kurz berücksichtigt werden.

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waren nur „ancillae theologiae"; es gab nur eine kirchlich gebundene Wissenschaft. "Wer hat die Wissenschaft aus diesen Banden zu befreien begonnen? Ein Professor der Theologie an der Universität Wittenberg, Dr .Martin Luther, und die erste Universität, die ohne kirchlich-päpstliche Erlaubnis begründet worden ist, war die protestantische Universität Marburg. Diese Tatsachen sind unumstößlich, und Spekulationen wie die, daß auch. ohne Reformation, Renaissance und Humanismus das Werk der Befreiung der Wissenschaft von dem Prinzipat der Kirche vollbracht hätten, sind luftig und wertlos. Mag man über die Ursachen der Auflösung der mittelalterlichen Welt und über die Begründung des neuen Baues wie immer denken — im Anfang war die Tat, und daß diese Tat das Werk des Wittenberger Professors der Theologie war, das steht über jedem Zweifel. I m letzten Viertel des 18. Jahrhunderts entwickelte sich der deutsche Idealismus, der die Epoche des Rationalismus ablöste. In ihm kam die Eigenart des deutschen Geistes zu Blüte und Frucht. Wer war der führende Träger dieses Geistes? Nicht Lessing, der große Bahnbrecher, sondern ein evangelischer Theologe, Herder. Nur der Zufall hat es verhindert, daß er an einer theologischen Fakultät gelehrt hat — der Plan, ihn für Göttingen zu gewinnen, zerschlug sich —, aber er war zeitlebens, als Pfarrer und Generalsuperintendent, Dozent der evangelischen Theologie, praeceptor Germaniae evangelicus im höchsten Sinn, und als solcher das deutsche Gegenbild, Mitkämpfer und Rivale Rousseaus. Kaum dreißig Jahre nach ihm und sich mit ihm noch berührend, wirkte Schleiermacher in Halle und Berlin an der theologischen Fakultät. Schleiermachers Bedeutung erschöpft sich nicht in seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern", mit denen er die Religion aus den Banden einer stumpfen Moral herausführte, auch nicht in seiner Plato-Übersetzung, in der er den erhabensten Geist Griechenlands für Deutschland wieder erweckte — seine Bedeutung ist ebenso groß als geistiger Führer in den Freiheitskriegen und als Organisator der Theologie und der Geisteswissenschaften, der Uni117

versität und der Akademie. Bei meinen Studien über die Geschichte der Berliner Akademie habe ich von den sehr zahlreichen Denkschriften Kenntnis genommen, die im Laufe von fünfzehn Jahren in bezug auf die zu begründende neue Universität Berlin und die Reorganisation der Akademie verfaßt worden sind, und auch die Akten der Akademie durchgearbeitet, deren langjähriger Sekretär Schleiermacher gewesen ist. Das Ergebnis war, daß Schleiermacher an Größe und Bedeutung unmittelbar neben Wilhelm v. Humboldt zu stellen ist, ja daß er ihn, was organisatorischen Scharfblick und direkten Einfluß betrifft, noch überragt. Man darf ohne Übertreibung sagen, daß sowohl der innere Neubau der Geisteswissenschaften als auch der Neubau der deutschen Universitäten und der Akademie ganz wesentlich das Verdienst dieses Professors der Theologie gewesen ist. Und wiederum keine dreißig Jahre nach ihm war es ein anderer evangelischer Theologe in Tübingen, Ferdinand Christian Baur, der mit der höchsten Energie des Geistes die neue gewaltige Geistes- und Geschichtsbetrachtung Hegels auf die Geschichte der christlichen Religion anwandte. Hier ist zum ersten Mal eine Entwicklungsgeschichte von zwei Jahrtausenden gezeichnet, und sie verliert nichts an ihrer epochemachenden Bedeutung, wenn sie heute überholt erscheint. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts war Baur in Deutschland der einzige Historiker, den man neben Ranke stellen darf. Aber wie steht es mit Hegel selbst und mit Schelling? Auch sie waren von Haus aus evangelische Theologen, gebildet im theologischen Stift zu Tübingen, und sie haben ihre Herkunft aus der Theologie nie verleugnet. Beide haben sie vielmehr mit Bewußtsein festgehalten und in ihren Lebenswerken zum Ausdruck gebracht; denn beiden ist die Religionsgeschichte, vor allem die christliche, das Zentrum in der Entwicklungsgeschichte des Geistes. Das sind Erinnerungen aus der Geschichte der evangelischen Theologie, die bis an die Gegenwart heranreichen. Wie stellt sich aber die gegenwärtige Wissenschaft zur evangelischen Theologie und ihren Fakultäten? Ich greife eine Reihe verschiedenartiger Zeugnisse heraus. 118

Als jüngst die Universität Frankfurt begründet wurde, hielten die in der Stadt maßgebenden Persönlichkeiten die Errichtung einer evangelisch-theologischen Fakultät, sei es zeitweilig, sei es f ü r immer, f ü r unnötig, und das Unterrichtsministerium trat nicht fest f ü r sie ein. Demgegenüber haben die versammelten Rektoren der deutschen Universitäten erklärt, daß sie diese Haltung nicht einzunehmen vermögen, daß vielmehr die evangelisch-theologische Fakultät ein notwendiges Glied der Universität sei. Ferner, als in Folge der Revolution iri diesen Monaten laute Stimmen die Abschaffung der theologischen Fakultäten verlangten und Gefahr bestand (noch besteht?), daß die Hochmögenden ihnen folgten, erklärten sofort zahlreiche Universitäten, bzw. ihre juristischen, medizinischen und philosophischen Fakultäten, die evangelischen Fakultäten seien vom Standpunkt der Wissenschaft unentbehrlich und integrierende Glieder der Universitäten. I n diesem Sinne sprach sich auch die philosophische Fakultät der Universität Berlin, die nahezu sechzig Professoren umfaßt, einstimmig aus. Aus den einhelligen Gutachten sei eines hier mitgeteilt, das der drei Marburger Fakultäten, u m den Geist zu Wort kommen zu lassen, in dem sie gehalten sind. „Die juristische, medizinische und philosophische Fakultät erblicken in den theologischen Fakultäten vollwertige Glieder der Universitäten, die nicht n u r Beamte des Staates und der Kirche ausbilden, sondern gleich den anderen Fakultäten der reinen Wissenschaft durch Forschung und Unterricht dienen und zur Erhaltung der Universitas litter a r u m unentbehrlich sind. Sollen, wie allseitig gewünscht, die Universitäten in Z u k u n f t noch mehr als bisher Pflegestätten der Gesamtkultur des ganzen Volkes bilden, so darf die theologische Wissenschaft keine Beeinträchtigung erfahren, denn sie ist mit anderen Wissensgebieten, namentlich philosophischen, historischen, philologischen und juristischen Fächern eng verknüpft und hat in reger Wechselbeziehung mit ihnen zum A u f b a u der modernen deutschen Wissenschaft und Kultur wesentlich beigetragen. Nicht minder ist das Fortbestehen der theologischen Fakultäten an den Universitäten i m Interesse der gesamten Volksbildung notwendig. Nach wie vor werden die Geistlichen 119

einen großen Einfluß auf weite Volkskreise ausüben. Deshalb ist es dringend wünschenswert, daß die Ausbildung der angehenden Kirchendiener auf der Universität erfolgt, wo sie Vorlesungen aus allen Gebieten der Wissenschaft hören können und in ständiger Berührung mit den Vertretern anderer Berufskreise bleiben, nicht aber in PredigerSeminaren und Konvikten, wo die großen Schäden einer völlig einseitigen Bildung unvermeidlich sind. Wir bitten daher die Unterrichtsverwaltung, auch im Falle der Trennung von Kirche und Staat den theologischen Fakultäten zum Nutzen der Wissenschaft und zum Wohle des Volkes ihre alte Stellung im Rahmen der Universität ungeschmälert zu belassen." Der innere Austausch zwischen der theologischen Fakultät und den übrigen, in erster Linie der philosophischen, fehlt an keiner Universität, und wenn er einmal an einer Universität schwächer ist, so ist nicht die·Institution als solche daran schuld, sondern die zeitweilige Unbedeutendheit der Fakultätsmitglieder — auch in anderen Fakultäten kommt das vor I Umgekehrt hebt das besondere Ansehen eines Mitgliedes die ganze Fakultät und kann zeitweilig auch die theologische zur führenden an der Universität machen. Das war ζ. B. in Erlangen der Fall, als von Hof mann an der Spitze der theologischen Fakultät stand. Aber auch der äußere Austausch hat nicht gefehlt. Zahlreich sind die Theologen, die in die philosophische Fakultät übergegangen sind und nicht als Renegaten. An Schelling und Hegel wurde schon erinnert; ihnen reihen sich Zeller, Erdmann, Troeltsch, der Kunsthistoriker Justi u. a. an. Als in Berlin der Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte zu besetzen war, berief die philosophische Fakultät an erster Stelle den Kirchenhistoriker Hauck aus Leipzig; nicht wenige Orientalisten gingen aus der theologischen Fakultät in die philosophische über und umgekehrt. In diesem Zusammenhang mag auf eine verwandte Tatsache hingewiesen werden: der preußische Orden pour le merite für Künste und Wissenschaften schloß nach seinem ursprünglichen Statut die Theologen als solche aus — Friedrich Wilhelm IV. dachte von der Theologie wie der Chirurg Kocher und wollte sie mit den „profanen" Wissenschaften nicht vermengen —; er besitzt 120

für die Vertreter sämtlicher Geisteswissenschaften nur zehn Stellen, und dennoch waren diese stets, zeitweise sogar bis zur Hälfte, mit solchen besetzt, die ihre Vorbildung auf der Universität als evangelische Theologen erhalten hatten. Es scheint hiernach die eigentümliche Ausbildung, welche die evangelische Theologie gewährt, eine treffliche Voraussetzung für das universale Studium der Geisteswissenschaften überhaupt zu sein. Was endlich die Geltung und das Ansehen der deutschen Theologie im Auslande betrifft, so darf man ohne Übertreibung sagen, daß die internationale Bedeutung keiner anderen Fakultät so groß ist wie die der evangelischen Theologie. Schlechthin jedes hervorragende deutsche theologische Werk wird ins Englische, nicht selten auch ins Französische, Dänische, Schwedische usw. übersetzt und findet im Ausland so viele Leser wie bei uns. Die deutsche evangelische Theologie ist in bedeutend größerem Sinn und Umfang international als es die deutsche Philosophie und Geschichtsschreibung ist. Scherzend — aber es war im Ernst — sagte mir einmal ein Amerikaner, die deutschen wissenschaftlichen Exportartikel sind die Chemikalien und die Werke der protestantischen Theologie. Der Grund hierfür liegt darin, daß die großen Staaten Europas und Amerika solche theologischen Fakultäten, wie Deutschland sie hat, mit wenigen Ausnahmen nicht besitzen, und daß daher der deutsche Betrieb der theologischen Wissenschaft nach Umfang und im Sinne der freien Forschung dort fast nirgendwo erreicht wird. Würden die evangelisch-theologischen Fakultäten in Deutschland aufgehoben, so würde sich, des bin ich gewiß, in weitesten Kreisen des Auslandes ein grenzenloses Erstaunen erheben über solch ein herostratisches Unternehmen. 2.

Doch alle diese Hinweise haben mehr Überredendes als Überzeugendes, so lange nicht das Recht der theologischen Fakultäten aus der Sache heraus begründet ist. Was ist das Objekt und die Aufgabe ihrer Arbeit und sind diese groß und würdig genug, u m die Grundlage für eine .( Fakultät zu bilden? Die Antwort: Die christliche Religion ist 121

das Objekt, ist richtig, aber sie ist nicht konkret genug, läßt das Ziel der Aufgabe der Fakultät nicht deutlich erkennen und bedarf daher einer näheren Bestimmung. Die Aufgabe, die christliche Religion zu erforschen, legt sich in drei Hauptaufgaben auseinander: Objekt der evangelisch-theologischen Fakultäten ist erstlich die Bibel, sodann die katholische Kirche und drittens der evangelische Glaube und die evangelische Frömmigkeit in ihrer Verkettung mit der Geistesgeschichte der letzten vier Jahrhunderte. Die Fakultät erforscht aber diese umfangreichen Gebiete nicht nur, u m sie wissenschaftlich immer m e h r aufzuhellen, sondern auch u m aus ihrer Kenntnis die richtigen Normen f ü r die Seelenführung und die Kirchenleitung zu gewinnen; denn wie alle Wissenschaften, so hat auch die theologische einen doppelten Zweck — Vertiefung der Erkenntnis und Ausrüstung zum praktischen Handeln. Daß n u n die drei oben genannten eng miteinander verbundenen Objekte groß und bedeutend genug sind, u m die Grundlage einer Fakultät zu bilden, bedarf es dafür noch des Nachweises? Die Bibel allein, deren Teile sich über einen Zeitraum von tausend Jahren erstrecken (was bedeutet der Koran neben der Bibel?), ist durch die Art der Überlieferung — schon die Textkritik der Bibel ist das mannigfaltigste und schwerste Problem, das der rezensierenden Philologie gestellt ist —, durch die ganz verschiedene religiöse und kulturelle Höhenlage ihrer Teile, durch die Verbindung mit der babylonischen, ägyptischen, persischen, hellenistischen usw. Religions-, Geistes- und Staatsgeschichte und schließlich durch Jesus Christus und seine Apostel ein Objekt, das eine geschlossene Zahl von Arbeitern, also eine Fakultät, wohl beschäftigen kann, weil es trotz seiner ganz verschiedenen Teile doch eine tiefe Einheit bildet. Über die katholische Kirche ferner als Objekt der wissenschaftlichen Erkenntnis braucht kein Wort verloren zu werden; ist sie doch zur Zeit noch das einzige, einen großen Teil der Menschheit umspannende internationale Gemeinwesen unter uns, gleichbedeutend als Geistesmacht wie als politischer Organismus, hinaufreichend ohne Bruch oder Lücke bis in die Anfänge der römischen Kaiserzeit, in ihrem Stamme die Ringe der vergangenen Jahrhunderte noch 122

immer mit Leben erfüllend, antik, mittelalterlich und modern in Einem — das große Gefäß der Tradition und die Tradition selbst zugleich. Und endlich die Erforschung und Darstellung des protestantischen Glaubens, in seinem Ursprung und seiner Entwicklung untrennbar verknüpft mit dem Katholizismus, aber auch mit der ganzen Geistesgeschichte und Soziologie der letzten Jahrhunderte, ist nicht nur ein Teilproblem, sondern die Geistesgeschichte und Soziologie der Neuzeit verlangen, daß sie in ihrer Totalität auch sub specie religionis evangelicae betrachtet und erforscht werden. Daß diese drei Aufgaben aufs innigste miteinander in einer geschichtlichen Abfolge und daher Einheit verbunden sind, wird niemand bestreiten, auch nicht, daß sie ein großes und notwendiges Gebiet der Erkenntnis darstellen und daß das wissenschaftliche Bemühen um sie niemals aufhören wird, ob nun die theologischen Fakultäten am Leben bleiben oder nicht. Solange man den wissenschaftlichen Trieb nicht niederzuzwingen und die christlichen Gemeinschaften nicht zu unterdrücken vermag, so lange wird auch die theologische Wissenschaft bleiben, und nicht nur die Sache selbst, sondern auch der stolze Bau, den hier die Jahrhunderte genialer und fleißiger Arbeit bereits errichtet haben, wird fort und fort neue Arbeiter herbeiziehen. Doch ist durch diesen Nachweis die strikte Notwendigkeit besonderer theologischer Fakultäten noch nicht vollkommen gerechtfertigt; noch immer könnte Jemand einwenden, daß auch innerhalb der philosophischen Fakultät durch Errichtung von Lehrstühlen für die genannten Fächer dasselbe erreicht werden könne. Diesem Einwurf gegenüber muß ich zunächst mit einem Zugeständnis beginnen. Hätten wir heute tabula rasa in bezug auf die Organisation unserer Universitäten und gälte es, sie von Grund auf neu zu bauen, so würde ich überhaupt keine starren Fakultäten schaffen, sondern einen einzigen Lehrkörper, der verschiedene und elastische Kommissionen aus sich herausbilden würde für die verschiedenen Gruppen der theoretischen Wissenschaft, sowie für die Zwecke des Unterrichts, der Universitätsverwaltung und der Volksbildung. Gewiß würden bei 123

solcher Organisation sich auch eine theologische, juristische und medizinische Kommission bilden und sie würden wahrscheinlich häufiger zusammentreten als andere Kommission e n ; aber ebenso würde sich auch mindestens ein Dutzend ständiger wissenschaftlicher Kommissionen von Gelehrten ergeben, die heute verschiedenen Fakultäten angehören und daher amtlich jetzt nichts miteinander zu tun haben; auch würde ein und derselbe Gelehrte mehreren Kommissionen zugleich angehören. Mommsen hat einmal gesagt, daß die Wissenschaft unter keinen Fesseln schwerer leide als unter denen, in die sie sich selbst durch die Zerteilung der Fächer — ich füge hinzu: der Fakultäten — geschlagen hat. Die starren Linien, welche die Fächer umschreiben, wirken fast wie Mauern und hindern den stetigen lebendigen Austausch der Vertreter verwandter Fächer, der schlechthin notwendig ist, ja lassen diese also isolierten Fächer geradezu verkümmern. Ein paar Beispiele: mir sind Theologen bekannt, die ihre Stärke in fleißigster Erforschung des Neuen Testamentes hatten, aber es für unnötig hielten, jemals einen gleichzeitigen antiken Autor zu lesen, geschweige denn das Corpus Inscriptionum aufzuschlagen. Mir ist ein Professor der mittelalterlichen Geschichte begegnet, der schon jahrelang Ordinarius war, aber niemals den Thomas von Aquino oder sonst einen Scholastiker aufgeschlagen hatte und auch die ganze Geschichte des Mönchtums, soweit sie nicht rein politisch war, dauernd ignorierte. Ich kannte einen Kirchenrechtslehrer, der alle dogmatisch-theologischen Werke, anscheinend grundsätzlich, als überflüssig bei Seite ließ und sich um die innere Seite des Kirchenrechts überhaupt nicht kümmerte. Das alles würde sich durchgreifend ändern, wenn hier dauernde, elastische Kommissionen geschaffen würden und die Fakultäten als starre Körperschaften verschwänden. Aber sie sind noch da, und sie werden voraussichtlich nicht so bald zweckmäßigeren und mannigfaltigeren Organisationen Platz machen, obgleich die wissenschaftlichen Akademien schon mit solchen vorangegangen sind. So lange aber die übrigen Fakultäten bleiben, muß auch die theologische Fakultät bleiben — nicht nur, weil eine besondere und ständige Kommission für jene drei innerlich verbunde-

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nen Gebiete, die wir oben bezeichnet haben, im Interesse der Wissenschaft unentbehrlich ist, sondern auch weil die notwendige praktische Abzweckung auf die Seelenführung und Kirchenleitung in Frage gestellt wäre, wenn die theologischen Lehrstühle einfach in die formlose philosophische Fakultät versetzt würden. Die enge Zusammengehörigkeit von Bibelforschung, Katholizismusforschung und protestantischer Glaubens- und Geistesgeschichte würde sich höchst wahrscheinlich auflösen oder doch ganz locker werden, und die Ausarbeitung von Normen — alle Geisteswissenschaften sind im Unterschied von den Naturwissenschaften auch normativ — würde zugunsten rein theoretischer Betrachtungen verkümmern. Aber auch die theoretischen Studien auf dem theologischen Gebiet würden sich, das muß man befürchten, der politisch-geschichtlichen Betrachtung mit einer gewissen Einseitigkeit zuwenden und die religiöse Seite vernachlässigen. Endlich, die Forderung, welche sich dem Theologie-Studierenden von selbst aufnötigt, daß er nämlich gründliche philologische, geschichtliche und theologisch-philologische, ja auch juristische Studien treiben muß — eine Zusammenstellung, die in dieser Weise an der Universität sonst nicht vorkommt, und die sich als eine höchst zweckmäßige Schulung nach allgemeinem Urteil erwiesen hat —, würde schwinden und wahrscheinlich durch eine der großen Aufgabe nicht entsprechende Spezialisierung und Verengung ersetzt werden. Daher ist in bezug auf die evangelischtheologischen Fakultäten das Votum: „Fiat amputatio" zu verwerfen; wer für die Gesundheit und die Fortentwicklung der theologischen Wissenschaft eintritt, muß vielmehr ihre Erhaltung verlangen.

3.

Allein gibt es erhebliche Einwände, durch welche die hier nicht entwickelte Verteidigung doch hinfällig wird ? In der Tat werden wichtige Einwendungen erhoben; aber durchschlagend sind sie nicht, und soweit sie Berechtigtes enthalten, kann dieses anerkannt und verwirklicht werden, ohne die Aufhebung der Fakultäten zur Folge zu haben. Ein kurzer Überblick möge hier Platz finden: 125

Der erste Einwand lautet: Nicht als christlich-theologischen, sondern nur als allgemein-religionsgeschichtlichen kommt den Fakultäten ein Existenzrecht zu. Gut, so ergänze man die theologischen Fakultäten durch einige religionsgeschichtliche Lehrstühle, nur lasse man die zentrale Bedeutung der christlichen Religion dabei bestehen. Ob übrigens die Errichtung dieser Lehrstühle nicht doch zweckmäßiger in der philosophischen als in der theologischen Fakultät geschieht, darf gefragt werden 1 ). Gewiß sollen sich die Studierenden der Theologie auch Kenntnisse der nichtchristlichen Religionen erwerben — über das Maß hinaus, welches schon das Studium der Kirchengeschichte direkt und indirekt gewährt; aber sie werden besser tun, diese Kenntnisse in der philosophischen Fakultät zu suchen; denn dort werden sie darauf aufmerksam gemacht, daß man den Islam nicht ohne Arabisch, Brahmaismus und Buddhismus nicht ohne die ostasiatischen Sprachen und Kulturen, usw. wirklich kennen zu lernen vermag. Stehen dagegen die Lehr Stühle f ü r Religionsgeschichte, getrennt von den Lehrstühlen für Sprache und Literatur der betreffenden Völker, in den theologischen Fakultäten, so ist immer die Gefahr vorhanden, daß der Dilettantismus die Regel wird und selbst auf die Dozenten übergreift. Auf Grund eines zweiten Einwurfs soll die theologische Fakultät umgekehrt durch die Entfernung zweier Lehrstühle aufgelöst werden; er richtet sich gegen die Disziplinen der systematischen und praktischen Theologie; diese seien „unwissenschaftlich". Was die systematische Disziplin betrifft, so klingt mir noch das Verdikt in den Ohren, das ich einst als Student gehört habe: „Systematische Theologie ist systematischer Blödsinn." Ich könnte diesem rohen Urteil einfach das feine Wort Leibnizens entgegensetzen, das er in bezug auf die christliche Dogmatik gesprochen hat: Eine Straßenkarte von London ist nicht f ü r Jedermann nützlich, wohl aber für den von Wert, der in London lebt. In der T a t klärt dieses Wort einen Teil der Aufgaben der systematischen Theologie: als Dogmatik und l ) Vgl. meine Rektoratsrede: „ D i e Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte" (1901) in den „ R e d e n und Aufsätzen" Bd. 2, S. 159 ff.

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Ethik im engeren Sinn gehört sie eigentlich in die praktische Theologie, indem sie die Frage beantwortet: Wie soll heute evangelisches Christentum dargestellt und gelehrt werden? Aber darüber hinaus ist sie christliche Religionsphilosophie und als solche eine streng wissenschaftliche und schlechthin unentbehrliche Disziplin. Die „praktische" Theologie aber ist keine „Anweisung zum Predigen", wie trotz allem, was Schleiermacher über sie geschrieben hat, der Unverstand noch immer glaubt, sondern sie hat die Geschichte und Theorie der kirchlichen Funktionen, also des Kultus, der Seelsorge, des Unterrichts, der Verfassung usw. zu studieren und aus solchem Studium die Normen für das kirchliche Handeln abzuleiten. In diesem Sinne ist sie die Krone der theologischen Disziplinen, und sie auszuschalten bedeutet die Auflösung der Theologie. Wem aber an den Normen nichts gelegen ist, der mag sich hier mit den strengen geschichtlichen Untersuchungen, die in dieser Disziplin betrieben werden, begnügen. Ich fasse die weiteren Einwürfe sämtlich zusammen, welche in verschiedenen Formen und mit verschiedener Stärke erhoben werden: den Theologen fehle es notwendig an der wissenschaftlichen Objektivität, da sie einen kirchlichen Standpunkt einnehmen müßten, wie schon ihre Auswahl nach Konfessionen beweise; dieser kirchliche Standpunkt nötige sie zu einer „Gläubigkeit", die als schweres Vorurteil auf ihren wissenschaftlichen Arbeiten laste und Voraussetzungen enthalte, die von keiner Wissenschaft sonst mehr anerkannt würden; auch geschehe ihre Ernennung unter kirchlichen Einflüssen; aus diesen Gründen seien die theologischen Fakultäten ein Fremdkörper innerhalb der Universitäten. Ein Teil dieser Einwürfe war noch bis vor wenigen Jahrzehnten berechtigt, ja ein Rest von Berechtigung ist hier und dort noch geblieben, der entfernt werden muß: alle Fakultäten haben sich im Laufe des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts teils langsam, teils gewaltsam aus den Banden des Scholastizismus, der Autoritäten und der Unfreiheit zur Freiheit entwickeln müssen; bei den theologischen Fakultäten aber hat dieser Prozeß am längsten gedauert, und wo noch ein Rest ist von Unfreiheit, da 127

muß er abgetan werden. Jeder kirchliche Einfluß auf die Besetzung theologischer Lehr stuhle hat aufzuhören, und die Nachforschungen über den „theologischen Standpunkt" der zu Berufenden seitens des Staates sind einzustellen; ausschließlich die wissenschaftliche Tüchtigkeit hat zu entscheiden. Sofern es hier noch Rückständigkeiten gibt, ist leider nicht nur der alte Staat schuld, sondern auch einige Fakultäten selbst, die nur Dozenten bestimmter Richtungen wollen und andere ausschließen. Mißstände aber, die dadurch entstehen, daß Professoren in die theologischen Fakultäten kommen, die kein inneres Verhältnis zu der Sache haben, die sie dozieren, wiegen federleicht gegenüber der Verewigung des Mißtrauens, die theologischen Professoren seien äußerlich gebunden und unfrei. Was schadet es, daß der Student von einem radikalen theologischen Professor hört, was er in hundert Büchern lesen kann? Ist es ein hohler Radikalismus, den er da vernimmt, so wird dieser Professor sehr bald in seinem Auditorium vereinsamt sein; steht aber hinter diesem Radikalismus eine durchdachte Welt- und Geschichtsauffassung, so wird es den TheologieStudierenden nützlich sein, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Selbst dagegen wird nichts einzuwenden sein, daß auch ein hervorragender Lehrer der Theologie, der nicht evangelischer Konfession ist, in der theologischen Fakultät doziert, wie am Anfang des vorigen Jahrhunderts der Katholik Leander van Eß außerordentlicher Professor der Theologie in dem protestantischen Marburg war. Wie wertvoll wäre es den Theologie-Studierenden an der Universität, Kirchengeschichte und Konfessionskunde auch bei einem katholischen Theologen hören zu können, und warum sollten wir ihn nicht in unserer Fakultät begrüßen? D a f ü r wäre freilich stets Sorge zu tragen, daß alle Hauptfächer mindestens von einem Theologen evangelischen Bekenntnisses besetzt sind, jweil alle Objekte der Geisteswissenschaften den geschliffenen Gläsern gleichen, die im Avers und Revers, von Außen und von Innen, das Licht verschieden brechen, und weil Normen nur der aufzustellen vermag, der in der Sache lebt. Aber die letzten Bedenken sind hiermit noch immer nicht gehoben, denn niemals wird innerhalb der Religionswissen-

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schaft der Zustand aufhören, daß in ihr die Begriffe Gott, Offenbarung, Sünde, Versöhnung, ewiges Leben usw. hervortreten und ernst genommen werden, die den Meisten als von der Wissenschaft ausgemerzt erscheinen. Aber sie ausmerzen heißt mit der Irrationalität der Religion diese selbst vernichten. Man muß hier unterscheiden: Für die reine Wissenschaft sind das Forschungshypothesen, aber mit der reinen Wissenschaft bezwingt man nicht die Fülle des Wirklichen. Nur soll der Forscher genau wissen, wo die reine Erkenntnis aufhört und innere Erfahrung und Lebensweisheit beginnen; nur soll er niemals von Außen gebunden sein, von Autoritäten und Überlieferungen, sondern sein Glaube, welcher es auch sei, soll rein innerlich bestimmt sein. Unter dieser Bedingung kann und muß die Wissenschaft in allen Gesinnungsfächern Bindungen verschiedenster Art ertragen und wird nicht Schaden leiden. Denn jene innerlich gebundenen Männer, auch wenn Anderen manche dieser Bindungen unbegreiflich scheinen, fühlen sich selber frei, leben als die Freien, und forschen als die Freien; ja es gilt von ihnen, was Goethe in der „ E l e g i e " von sich sagt: „Sich freier fühlt in so geliebten Schranken". Waren nicht Plato, Paulus, Augustin, Luther, Newton, Carlyle „ G e b u n d e n e " ; von welchen Männern aber hat die Menschheit mehr gelernt? Von Geistern, die nur Rationales bringen, kann man nur die Ordnung und Beherrschung der materiellen Kräfte lernen; in dem Irrationalen aber, so paradox es sich auch darstellen mag, liegt das Leben, Geist und Person, und die Begriffe, die hier angewandt werden, muß man nicht auf ihre Rationalität prüfen, sondern darauf, ob sie förderlich und fruchtbar sind. Gewiß verbirgt sich hinter ihnen oft auch Rückständiges und Veraltetes; aber auch solche Gelehrte, die noch mit diesem belastet sind, haben uns oft Vieles und Gewichtiges zu sagen, wenn ihre Vorurteile nicht ins Spiel kommen. Ich wenigstens habe von ihnen auch in der Wissenschaft Bedeutendes gelernt und tue es noch fort und fort. Auch die Wissenschaft, wenigstens die Geisteswissenschaft, hat, wie Zeller gesagt hat, ihre Stufen, und sie würde verarmen, wollte man alles ausschließen, was in ihr noch gebunden ist. Das gilt von der Sozialwissenschaft und Philosophie ebenso wie von der 9

H a r n a c k , Auswahl

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christlichen Religionswissenschaft. Es gilt auch speziell: von der katholischen Theologie. Sie scheint uns gebunden und ist es auch; aber die katholischen Theologen, wenn sie echte sind, fühlen sich nicht gebunden, sondern bejahen innerlich diese Bindung, und in allen Jahrhunderten von Thomas von Aquino ab bis zu Möhler, Döllinger u. a. haben sich Gelehrte unter ihnen befunden, welche die Wissenschaft gefördert und das Geistesleben erhöht und befruchtet haben. 4 Damit sind wir zum JLetzten gelangt. Es ist oben ausgeführt worden, daß die Bibel, der Katholizismus und das protestantische Glaubens- und Geistesleben die Objekte der evangelischen Theologie sind. Aber diese Teilung muß man am Schluß wieder in Eins zusammenfassen und sagen: Die Theologie hat es mit der Religion zu tun, und in ihr vor allem mit dem größten geschichtlichen Erlebnis, welches die Menschheit erlebt hat, mit Jesus Christus und den Wirkungen, die von ihm ausgegangen sind. Die theologischen Fakultäten aber sind zu Hütern dieses Erbes bestimmt, und das ist ihre letzte und höchste Aufgabe. Und nicht nur hüten sollen sie es, sondern auch in Kraft setzen; denn auf den Gebieten der Religion, der Philosophie, der Soziologie und der Kunst ist der ein unnützer Knecht, der das, was er untersucht und bewahrt, nicht auch ausstrahlt. Indem den Fakultäten aber die Erziehung der künftigen Pfarrer und Religionslehrer anvertraut ist und sie darüber hinaus an der Gesinnungsbildung eines bedeutenden Teiles der Studierenden teilnehmen, liegt ihnen eine Aufgabe von höchster Verantwortung und von größtem Einfluß für die ganze Nation und den Staat ob. Deshalb, wenn der Staat die theologischen Fakultäten an den Universitäten aufhöbe, würden diese nicht nur verarmen und der deutsche Idealismus, der an der Reformation eine seiner stärksten Wurzeln hat, würde verkümmern, sondern der Staat würde auch nicht mehr imstande sein, ein fruchtbares Zusammenwirken der wissenschaftlichen und der religiösen Bildung, herbeizuführen. Wer kann das wünschen? Nur der, dem alle Religion ein überlebter Aberglaube ist; 130

Aber auch er würde bald erleben, daß das Schwert des Geistes, welches die Religion f ü h r t , nicht stumpf geworden ist, und er würde sich in Kürze vor eine Entwicklung des Religiösen und Kirchlichen gestellt sehen, die weder im Interesse des Volkes und Staates noch in dem der Kirche zu wünschen ist. Daher müssen die theologischen Fakultäten im Rahmen der Universitäten erhalten bleiben. — Die Stellung der evangelischen Kirchen zu den theologischen Fakultäten bedarf einer besonderen Untersuchung; hier sollte ausschließlich ihre Bedeutung und ihr Recht i m Zusammenhang mit der Wissenschaft und mit dem Staat dargelegt werden.



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6 F Ü N F Z E H N F R A G E N AN D I E V E R Ä C H T E R DER W I S S E N S C H A F T L I C H E N THEOLOGIE U N T E R DEN T H E O L O G E N (1923) 1. Ist die Religion der Bibel, bzw. sind die Offenbarungen in der Bibel etwas so E i n s t i m m i g e s , daß man in Hinsicht auf Glauben, Anbetung und Leben einfach von der „Bibel" sprechen darf? Wenn sie es aber nicht sind, darf man die Feststellung des Inhalts des Evangeliums allein der subjektiven „Erfahrung" bzw. dem „Erlebnis" des Einzelnen überlassen, oder sind hier nicht geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken nötig? 2. Ist die Religion der Bibel, bzw. sind die Offenbarungen in der Bibel etwas so E i n d e u t i g e s u n d K l a r e s , daß man kein geschichtliches Wissen und kein kritisches Nachdenken braucht, um ihren Sinn richtig zu verstehen? Sind sie umgekehrt etwas so U n f a ß l i c h e s u n d U n b e s c h r e i b l i c h e s , daß man lediglich abwarten muß, bis sie im Herzen aufstrahlen, weil keine menschliche Seelen- und Geistesfunktion an sie heranreicht? Oder sind nicht vielmehr beide Annahmen falsch, und braucht man nicht, um die Bibel zu verstehen, neben der inneren Aufgeschlossenheit geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken? 3. Ist das G o t t e s e r l e b n i s von der E r w e c k u n g des G l a u b e n s verschieden oder mit ihm identisch? Ist es von ihm verschieden, wie unterscheidet es sich von unkontrollierbarer Schwärmerei? Ist es mit ihm identisch — wie kann es anders entstehen als aus der Predigt des Evangeliums, wie kann es aber eine solche Predigt geben ohne geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken? 132

4. Ist das G o t t e s e r l e b n i s k o n t r ä r , bzw. d i s p a r a t zu a l l e m sonstigen Erleben, wie läßt sich die Notwendigkeit r a d i k a l e r W e l t f l u c h t vermeiden, oder wie läßt sich dem S o p h i s m u s entgehen, man müsse doch in der Welt bleiben, weil auch die Weltflucht auf dem eigenen Willensentschluß beruhe, also etwas Weltliches sei? 5. Sind Gott und Welt (Leben in Gott und weltliches Leben) schlechthin Gegensätze, wie läßt sich die enge Verbindung, ja Gleichsetzung der G o t t e s - u n d N ä c h s t e n l i e b e , welche den Kern des Evangeliums bildet, verstehen? Wie ist aber diese Gleichsetzung möglich ohne H ö c h s t schätzung der Moral? 6. Sind Gott und Welt (Leben in Gott und weltliches Leben) schlechthin Gegensätze, wie ist e i n e E r z i e h u n g z u G o t t h i n , d. h. zum G u t e n , möglich? Wie aber ist Erziehung möglich ohne geschichtliches Wissen und H ö c h s t schätzung der Moral? 7. W e n n Gott alles das schlechthin nicht ist, was aus d e r E n t w i c k l u n g der Kultur und ihrer E r k e n n t n i s u n d M o r a l von ihm ausgesagt wird, wie kann man diese Kultur und wie kann man auf die Dauer sich selbst vor dem A t h e i s m u s schützen? 8. W e n n der Pantheismus G o e t h e s oder der Gottesbegriff K a n t s oder Verwandtes lediglich Gegensätze zu den wahrhaften Aussagen über Gott sind, wie läßt es sich vermeiden, daß diese Aussagen d e r B a r b a r e i ausgeliefert werden? 9. W e n n es aber umgekehrt richtig ist, daß, wie in aller physischen und geistlichen Entwicklung, auch hier G e g e n s ä t z e z u g l e i c h S t u f e n und S t u f e n z u g l e i c h G e g e n s ä t z e sind, wie kann man diese grundlegende Erkenntnis erfassen und ausbauen ohne geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken? 10. W e n n die Erkenntnis „ G o t t i s t d i e L i e b e " die höchste und abschließende Erkenntnis Gottes ist und Liebe, Freude und Friede seine Sphäre sind, wie darf man immerfort zwischen T ü r und Angel hängen bleiben, Durchgangspunkte christlicher E r f a h r u n g verselbständigen und die Dauer ihrer Schrecknisse verewigen wollen? 133

11. W e n n die befreiende E r m a h n u n g noch gilt: „ W a s w a h r h a f t i g ist, was e h r b a r , was g e r e c h t , was wohl l a u t e t , ist e t w a eine T u g e n d , ist e t w a ein L o b , d e m d e n k e t n a c h " — wie darf man Scheidewände zwischen dem Gotteserlebnis und dem Guten, Wahren und Schönen aufrichten, statt durch geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken sie mit dem Gotteserlebnis zu verbinden? 12. W e n n alle S ü n d e nichts anderes ist als M a n g e l a n E h r f u r c h t u n d L i e b e , wie kann man diesem Mangel anders steuern als durch die Predigt von G o t t e s h e i l i g e r M a j e s t ä t u n d v o n G o t t e s L i e b e ? Wie darf man es wagen, alle möglichen Paradoxien und Velleitäten dazuzumischen ? 13. W e n n es gewiß ist, daß alles U n b e w u ß t e , E m p f i n d u n g s m ä ß i g e , N u m i n o s e , F a s z i n o s e usw. so lange u n t e r m e n s c h l i c h bleibt, als es nicht von der V e r n u n f t ergriffen, begriffen, gereinigt und in seiner berechtigten Eigenart geschützt wird, wie darf man diese Vernunft schelten, ja ausmerzen wollen? Und was hat man zu gewärtigen, wenn dieses herostratische Werk vollbracht ist? Erhebt sich nicht schon jetzt der gnostische Okkultismus auf den T r ü m m e r n ? 14. W e n n die P e r s o n J e s u C h r i s t i i m Mittelpunkt des Evangeliums steht, wie läßt sich die Grundlage f ü r zuverlässige und gemeinschaftliche Erkenntnis dieser Person anders gewinnen als durch k r i t i s c h - g e s c h i c h t l i c h e s S t u d i u m , damit m a n nicht einen e r t r ä u m t e n Christus f ü r den wirklichen eintausche? W e r anders aber vermag dieses Studium zu leisten als die wissenschaftliche Theologie? 15. Gibt es — Trägheit, Kurzsichtigkeit und zahlreiche Krankheiten zugestanden — noch eine andere Theologie als jene, die in fester Verbindung und Blutsverwandtschaft steht m i t d e r W i s s e n s c h a f t ü b e r h a u p t ? Und wenn es eine solche etwa gibt, welche Uberzeugungskraft und welcher Wert kommt ihr zu?

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III

PREDIGTEN. TUNGEN.

FESTBETRACHETHISCHES

1 CHRISTUS

ALS

ERLÖSER

(1899)

Die christliche Religion hat zwei Brennpunkte: Heiligkeit und Vergebung. Ihr einfachster Ausdruck ist das Bekenntnis zu dem allmächtigen, heiligen Gott als dem Vater; aber eben dieses Bekenntnis schließt die Verpflichtung und die Kraft zu einem heiligen Leben, weil die Gewißheit der Vergebung in sich. Das Christentum ist die Religion der Erlösung, denn es ist die Religion der Vergebung. Die Bitte: „Vergib uns unsre Schuld" entspricht der festen Überzeugung, daß Gott wirklich Sünden vergibt. Nicht Luther, als er in seinem kleinen Katechismus die Worte schrieb: ,,Wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit", war der Erste, der Vergebung und seliges Leben in Eins gesetzt hat — Jesus selbst ist es gewesen, der in seinem Gleichnis vom verlorenen Sohn, diesem Paradigma des Evangeliums, gezeigt hat, daß das Sohnesrecht mit der Vergebung zusammenfällt. Der verlorene Sohn erhält an allem Teil, was der Vater besitzt; in der Vergebung hat er die Erlösung und Seligkeit gefunden. Aber wenn wir auf die Christenheit der Gegenwart blicken, so scheint es, als habe der Glaube an Erlösung seine Gewißheit verloren, ja selbst die Sehnsucht und der Wunsch nach ihr ist wie erloschen. Tausende, die an dem Gottesglauben oder doch an der Ethik des Christentums festhalten, scheinen von Erlösung nichts wissen zu wollen. Für sie ist dieser Gedanke unkräftig oder sinnlos, nichts anderes als die historische Überlieferung einer vergangenen Frömmigkeit, im besten Falle die Ursache einer vorübergehenden Rührung. Vollends die Vorstellung von Erlösung mit der Person Jesu zu verbinden, erscheint ihnen als eine Un137

möglichkeit. Sie fühlen sich befriedigt durch ein Christentum ohne Christus und ohne Erlösung. Eben deshalb setzen sie auch den L e h r e n der Kirchen von Christus als dem Erlöser einen starken Widerspruch entgegen oder schieben sie stillschweigend beiseite. Die Gründe f ü r diese negative Stellung sind verschieden. Die Einen sagen, daß sie die Notwendigkeit einer Erlösung überhaupt nicht fühlen, und die Anderen erklären, daß sie ihre Möglichkeit nicht zugeben können. Wieder Andere sehen in dieser Lehre etwas Schwächliches und Weibisches, was sich mit einer ernsten, männlichen Ethik nicht verträgt. Es gibt aber auch solche, die die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Erlösung wohl empfinden, aber ihre Beziehung auf Jesus Christus f ü r eine Illusion erklären: Wie kann ein Mann, der vor 1800 Jahren gelebt hat, der Erlöser f ü r die Gegenwart sein? Fast alle aber sind m e h r oder weniger von dem affiziert, was sie die „moderne Weltanschauung" n e n n e n ; diese gestatte es nicht mehr, den Gedanken der Erlösung festzuhalten: Die Psychologie hat uns ein neues Bild vom Menschen gegeben; die Forschungen über den Ursprung der Moral haben unsere Ansichten über das Böse und die Sünde geändert; die historische Wissenschaft hat uns einen geschichtlichen Christus gegeben statt eines himmlischen; die kritische Philosophie hat mit scharfen Linien die Grenzen des Erkennbaren und des Wirklichen umzogen — wo bleibt da R a u m f ü r Erlösung und f ü r einen Erlöser? Aber ist wirklich die Sache selbst erschüttert worden? Die Formen, in denen f r ü h e r e Zeiten empfanden und sich über Erlösung und Erlöser aussprachen, sind f ü r solche, die scharf denken, gewiß zum Teil zerstört, aber wie steht es mit dem Kern? Liegt in i h m nicht ein Hauptstück des religiösen Glaubens, und kann dieser Glaube je seine Kraft verleugnen, sich jedem Angriff gegenüber zu behaupten? „Und wenn du mich bis zur Wurzel ausrottest, werde ich doch wieder blühen", lautet ein triumphierender alter Spruch: „Die Menschheit schreitet immer fort, und der Mensch bleibt i m m e r derselbe", hat G o e t h e einmal gesagt. Diese Erkenntnis von der Konstanz des Menschlichen —• sie hat gewiß auch etwas Niederschlagendes — ist auch 138

erhebend. Der Mensch bleibt nicht n u r derselbe in dem, was niedrig und gemein ist, sondern auch in jenem höheren Streben, das ihn über das irdische Leben hinausführt. Augustins W o r t : „ D u , Herr, hast uns zu dir hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es R u h e findet in dir", wird seinen Widerhall in den Herzen der Menschen finden, solange Menschen auf Erden leben, und ebenso wird die frohe Botschaft von der Erlösung und dem Erlöser nie verloren gehen. I m folgenden sollen einige Gesichtspunkte festgestellt werden, die den christlichen Glauben von Erlösung rechtfertigen. Es ist dabei nicht meine Aufgabe, einen bestimmten Standpunkt zu vertreten; ich werde vielmehr bestimmte Tatsachen ins Gedächtnis zurückrufen. 1. Die, welche behaupten, daß sie die Notwendigkeit einer Erlösung nicht empfinden, täuschen sich entweder selbst oder sie denken n u r an eine bestimmte Art der Erlösung. Ich meine hier nicht den gewöhnlichen Wunsch, die eigene Lage zu verbessern, gewissen Schranken zu entfliehen und sich von Lasten zu befreien, sondern vielmehr jenes tiefere Gefühl — die Sehnsucht, frei zu werden von dem gemeinen Lauf des Lebens und ein höheres und tieferes Dasein zu gewinnen. Wir brauchen n u r unsere Augen aufzutun, so gewahren wir Hunderte von Erlösern, die sich anbieten und der sehnsüchtigen Menschheit Erlösung versprechen. Es gibt auch teuflische Erlöser: der Rausch und die Ausschweifung. Aber auch Wissenschaft und Kunst versprechen ihren Jüngern Befreiung. Es gibt solche, die ihre Erlösung von Schriftstellern, Dichtern und Philosophen erwarten und die verkündigen, daß sie durch diese den Weg zur Freiheit gefunden haben. Die Welt ist voll von Propheten, Meistern und Erlösern, wenn auch n u r wenige heute so genannt werden. Das, was sie nicht verschwinden und sterben läßt, was sie i m m e r aufs neue erweckt, ist eine edle Sehnsucht. Überall lebt in der höher entwickelten Menschheit der Wunsch, sich über den Strom des gewöhnlichen T u n und Leidens zu erheben; m a n will in i h m nicht untergehen und verschwinden. Frei werden vom Dienst des vergänglichen Wesens — wer ist's, in welchem dieser Wunsch, sei es auch unkräftig und verschüttet, nicht lebt? 139

2. Aber dieses Sehnen nach Erlösung, wie es unter uns sich ausspricht, kann noch genauer bestimmt werden. Wohin n u r i m m e r die christliche Religion gekommen ist, wo auch n u r ein schwächlicher Strahl von ihr geleuchtet hat, da hat die Erkenntnis Wurzel gefaßt, daß Unschuld und Reinheit das höchste Gut, und daß Schuld der Übel größtes sei. Rein sein und inneren Frieden haben, das ist die Sehnsucht aller Sehnsucht. Sprecht n u r das rechte Wort zu den Menschen, sucht den W e g zu ihrer Seele, und ihr werdet finden, daß dies Sehnen in niemandem ausgestorben ist — jene Sehnsucht, der Schuld ledig zu sein und edle Gedanken und ein reines Herz zu haben. Es ist nicht wahr, daß die große Mehrzahl der Menschen so in das gewöhnliche, sinnliche und selbstsüchtige Treiben versunken ist, daß sie nicht n u r das Heilige und Reine selbst, sondern auch das Gefühl f ü r dasselbe und die Sehnsucht nach ihm, verloren haben. Es ist auch nicht wahr, daß irgendeine Wissenschaft und Welterkenntnis dies G e f ü h l ertöten könne. Gewiß, man m u ß zugeben, daß die moderne Entwicklung die Gefahr mit sich h e r a u f g e f ü h r t hat, das Innenleben zu u n terschätzen und durch den Nachweis des Ursprungs unserer sittlichen Empfindungen ihren Wert aufzulösen. Allein dieser Erfolg kann n u r ein vorübergehender sein. Es ist gleichgültig, wie wir unsere moralischen Fähigkeiten erworben haben — mögen wir einst was immer gewesen sein, mag uns Freiheit in jedem Sinne gefehlt haben — heute empfinden wir sie in bezug auf Gut und Röse und stellen, wie immer unsere Theorien lauten mögen, praktisch an uns selbst und an andere Ansprüche, welche die Freiheit und Verantwortlichkeit zur Voraussetzung haben. Und das, was sich auf dieser Höhe abspielt, das schätzen wir als das eigentliche Leben, dem das physische Leben sich unterordnen soll. Was bedeutet es, wenn wir dem Schmetterlinge zeigen, daß er einst eine Raupe gewesen ist und n u r kriechen konnte? Jetzt ist er ein Schmetterling und über die Bedingungen erhaben, die ihn einst beherrscht hatten. Die Menschheit hat in stufenweiser Entwicklung Metamorphosen von noch höherer Art erlebt. W a n n sie begonnen haben, kann niemand sagen; denn ihr Ursprung liegt jenseits der erkennbaren Geschichte, aber ihr Ergebnis liegt

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vor uns. Der Mensch ist ein gesetzgebendes und nachschaffendes Wesen geworden, und diesem Wesen entspricht die Freiheit, die Freiheit zum Guten. Eine der letzten Phasen in dieser Entwicklung können wir auch geschichtlich noch erkennen; es ist die Zeit der israelitischen Propheten und die Zeit des Sokrates und Plato. Diese Zeit erscheint innerhalb der Grenzen der griechisch-römischen Welt vollendet durch Christus und seine Jünger. Sie haben uns einen neuen Sinn und ein neues Leben gebracht, das wir nicht n u r als ein äußeres Sollen, sondern auch als die Entschleierung unserer wahren Natur und als ein erreichbares Ziel empfinden. Äußerlich betrachtet scheint sich freilich die Geschichte der Menschheit wenig verändert zu haben; sie ist noch i m m e r erfüllt von geheimem und offenem Krieg, von Blutvergießen und von dem Kampf u m den irdischen Besitz. Und doch ist etwas Neues hinzugetreten. Jedes geöffnete Auge gewahrt es, und der unbestochene Historiker m u ß es bestätigen. Das tiefste T h e m a des persönlichen Lebens und das eigentliche T h e m a der Weltgeschichte ist der Kampf des Glaubens mit dem Unglauben geworden, der Kampf u m Gott und die Erlösung. Der einzelne und die Menschheit, unterstützt von der Macht des Sittlichen und Heiligen, ringen, frei zu werden vom Dienst des vergänglichen Wesens und ein Reich der Liebe, das Reich Gottes, aufzurichten. Moderne Geschichtsschreiber wollen uns überzeugen, daß dieses eine Illusion sei, und daß das T h e m a der Weltgeschichte noch immer lediglich der Kampf u m die Futtermenge und den Futterplatz sei. Sie irren sich. W e n n es gefordert würde, würden sich heute Tausende und Tausende finden, die u m des sittlichen Ideals willen sich aller irdischen Güter, ja selbst ihres Lebens, entäußern würden. Es wird gefordert, und sie t u n es. Täglich werden solche Opfer im stillen gebracht in der Gewißheit, daß das Leben der Güter höchstes nicht ist. Diese Gewißheit braucht keine reflektierte zu sein; auch das Sittliche, das Leben mit Gott, kann mit der sanften Gewalt eines Naturgesetzes wirken. 3. Wenn dem so ist, so sind wir hier in der Sphäre, zu welcher die Erlösung gehört. I m höchsten Sinn kann Er141

lösung n u r die Macht sein, die uns hilft, ein reines und heiliges Leben, ein Leben mit Gott, zu f ü h r e n , und die uns mit der Überzeugung erfüllt, daß es sich hier nicht u m eine Illusion handelt, sondern daß wir das Leben gewinnen, wenn wir es verlieren. Aber daraus folgt auch, daß es f ü r uns keine Erlösung geben kann als etwas „Objektives", außerhalb unserer Persönlichkeit Fallendes. Die größten Ereignisse mögen sich auf Erden oder zwischen Himmel und Erde abgespielt haben — sie sind wertlos f ü r uns, wenn sie nicht unser Erlebnis sind. Unser Erlebnis können sie n u r werden i m Schauen oder i m Glauben. Aber noch etwas anderes folgt hier: wenn es gilt, frei zu werden von der Welt und Bürger in einem überweltlichen Reiche zu werden, d. h. ein neues Leben zu gewinnen, so ist offenbar, daß nichts Irdisches Erlösung zu bringen vermag, und daß n u r Gott selbst der Erlöser sein kann. So ist es auch i m m e r empfunden worden, wo nach wirklicher Erlösung ausgeschaut worden ist. Die Propheten und Psalmisten haben es nicht anders g e w u ß t ; sie suchten nach keinem menschlichen Erlöser, sie suchten Gott. „Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so schreiet meine Seele, Herr, zu dir." „ W e n n ich n u r dich habe, frage ich nichts nach H i m m e l und Erde; wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du, Herr, doch allezeit meines Herzens Trost und mein Teil." Bis auf unsere Tage hat noch niemand, der nach wirklicher Erlösung suchte, etwas anderes begehrt, als daß i h m Gott gegenwärtig sein möge. Sie baten ihn, daß er ihnen aufgehen möge, daß er zu ihnen käme, wie a r m und unwert sie sich auch fühlen mochten; sie baten ihn u m die Vergebung ihrer Schuld, u m ein reines Herz und u m einen gewissen Geist. 4. So scheint es also, als sei ein menschlicher Erlöser eine Unmöglichkeit. Es scheint nicht n u r so, es ist so. Nur Gott ist der Erlöser. Ein geheimnisvolles Band verknüpft jeden Menschen mit Gott, und n u r wenn er dieses persönliche Band empfindet •— „Rede Herr, dein Knecht höret" — kann er erlöst werden. Und doch n e n n t die Christenheit Jesus von Nazareth als ihren Erlöser? Wie ist dieser Widerspruch zu lösen?

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Es gibt Menschen, in denen die religiöse Anlage so stark ist, daß sie fähig sind, fast ohne Hilfe Anderer Gott zu finden und in Gott zu leben; aber die Religionsgeschichte zeigt uns, daß solche Menschen selten sind, und daß die große Mehrzahl unseres Geschlechts die Religion nicht so erlebt, wie jene sie erleben. Die Propheten sahen Gott, hörten ihn, fühlten seine Gegenwart, und in diesem Erlebnis fanden sie den deutlichsten Beweis f ü r seine Existenz und f ü r sein Wesen. Die Religionsgeschichte zeigt uns aber ferner, daß jene Männer den lebhaftesten Antrieb, ja das zwingende Gebot empfanden, das, was sie erfahren hatten, auszusprechen, ihren Mitbrüdern Gott zu verkündigen und die schwache Gotteserkenntnis in ihnen zu steigern. Ihre Predigt war nicht vergeblich. Es ist hier wie in bezug auf die Kunst. Wir alle haben eine gewisse künstlerische Anlage, aber n u r durch die Hilfe des Künstlers wird sie gestärkt,, sonst verk ü m m e r t sie. Aber auch ein Künstler bedarf oft des anderen und ein Prophet salbt den anderen. Dies ist eine geschichtliche Ordnung und geschichtliche Verkettung. Freiheit, Unabhängigkeit und ein höheres Leben sind selten lediglich natürliche Gaben; sie sind das Ergebnis von Abhängigkeit und Erziehung. Es war die bedeutendste Stufe in der Religionsgeschichte, als man Gott nicht m e h r in dem Strahle der Sonne, i m Sturm oder in paradoxen Erscheinungen des Weltlaufes suchte, sondern in den Worten heiliger Männer wie der Propheten. Erst jetzt wurde die Religion ein Bestandteil des inneren Lebens und mit der Moral verbunden. Die Menschheit büßte die E h r f u r c h t nicht ein, mit der sie die Gottheit in dem Walten der Schöpfung ahnte, aber sie sah zu dem Gott, der in den Propheten redete, mit noch größerer Ehrfurcht auf; denn in i h r e m Geist und Wort war er offenbar. Jetzt lernte sie, daß die wirkliche Offenbarung Gottes n u r im Menschen geschehen könne, denn Gott ist der Heilige; Heiligkeit aber kann sich nicht in der Natur offenbaren. Deshalb lauschte man den Propheten, und deshalb r ä u m t e man ihnen eine so einzigartige Stellung ein. Man fühlte, daß man ohne sie in der Unwissenheit und einer ewigen Knechtschaft verhaftet geblieben wäre. I n d e m man aber den Propheten glaubte und ihnen folgte, ging ein

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Teil von dem, was sie erfahren hatten, in die Seelen ihrer Hörer über. I n diesem Sinne waren schon sie Erlöser, weil Gott der Heilige und der Erlöser an ihnen kund geworden war. Es war ja nicht ihr eigenes Feuer, das in ihren Seelen brannte, sondern sie waren die Fackeln, die Gott entzündet hatte. Diese Fackeln setzten die glimmenden Dochte in Brand. 5. Jesus Christus war ein Prophet. Wer i h m nahe kommen will, m u ß mit dieser Betrachtung seiner Person und seines Werkes beginnen. Wer unfähig ist, die Propheten und ihre Aufgabe in der Geschichte zu verstehen, kann auch Jesus Christus nicht verstehen. Aber die Christenheit n e n n t ihn nicht n u r einen Propheten, sondern unterscheidet ihn auch von allen Propheten, indem sie ihn als den Erlöser bekennt, und indem sie im Hinblick auf ihn von keinem Erlöser weder v o r t i h m noch nach i h m m e h r wissen will. Wie ist dies Bekenntnis zu verstehen und zu rechtfertigen? Der einfachste Weg scheint der zu sein, sich auf das Zeugnis Jesu über sich selbst zu berufen. Ist es doch unzweifelhaft, daß er zwischen sich und allen Propheten unterschieden und f ü r sich eine einzigartige Stellung beansprucht hat. Allein diese Berufung würde eindruckslos bleiben müssen, wenn sie nicht durch den Nachweis unterstützt würde, daß er zu solchem Zeugnis berechtigt war. Blinde Unterwerfung hat keinen sittlichen Wert. Jesus Christus war ein Prophet, aber er war der letzte Prophet. Die nach i h m kamen, waren schwache oder falsche Propheten oder sie haben bekannt, daß sie aus seiner Fülle Gnade u m Gnade genommen haben. Eben deshalb sind wir nicht berechtigt, die großen Gottesmänner, die i h m gefolgt sind •—- Paulus, den vierten Evangelisten, Augustin, Franziskus, L u t h e r und die übrigen —• Propheten zu nennen. Jesus Christus war ein Prophet; aber während die anderen Propheten n u r kleine Kreise f ü r sich gewannen, wurde er der Prophet f ü r viele Völker und f ü r eine Epoche, die kein Ende gefunden hat. Jesus Christus war ein Prophet; aber während die anderen Propheten n u r eine unvollkommene Gotteserkenntnis besaßen und sich gegenseitig korrigierten, brachte er die 144

vollkommene Gotteserkenntnis, indem er Gott ausschließlich als den heiligen und allmächtigen Vater und d a r u m als die barmherzige Liebe verkündete. Jesus Christus war ein Prophet; aber während Erkenntnis und Tat bei den f r ü h e r e n Propheten oft im Zwiespalt waren oder sich doch nicht deckten, konnte auch das geschärfte Auge des Hasses keinen Zwiespalt entdecken zwischen dem, was er lehrte, und dem, was er tat. Seine Speise war, den Willen seines Vaters im Himmel zu t u n . Dies sind geschichtliche Tatsachen, und u m dieser Tatsachen willen ist es wahr und recht, Jesus nicht als einen Propheten wie andere zu beurteilen. Wir sind gezwungen, ihn aus ihrer Schar herauszuheben, ihn nicht n u r an ihre Spitze, sondern über sie zu stellen. Er nannte sich „den Sohn Gottes", und wir verstehen, daß er das Recht hatte, sich so zu nennen. Er lehrte seine Jünger den Vater erkennen, und er f ü h r t e sie zu ihm. Und noch heute f ü h r t sein Evangelium die Menschen aus Eigenlust und Weltlust, aus Gottesangst und Gottlosigkeit zu einem Leben mit Gott, dem Erlöser. Es ist, weil sie seine Stimme gehört haben, daß sie sprechen: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen." 6. Aber auch dies ist noch nicht alles. Gewiß, wer das erfahren hat, was eben kurz beschrieben ist, der ist ein Jünger Christi, und niemand darf i h m diesen Namen verweigern. Aber das Bekenntnis der ältesten Christenheit zu Christus u m f a ß t noch mehr. Erstlich wird Christus darin der Versöhner genannt, und es wird verkündigt, daß er f ü r unsere Sünde gestorben ist. Zweitens wird in i h m gelehrt, daß er der Lebendige geblieben ist, in den Gläubigen wohnt, sie erfüllt, leitet und regiert. Bei diesem letzteren Punkte will ich nicht verweilen: daß er, der der Prophet, Führer und H e r r ist, innerlich Besitz von den Seinen ergreift, das ist keine Paradoxie oder ein bloßer Gedanke, sondern eine Tatsache. Aber das, was hinter dieser Tatsache liegt, was in dem Bekenntnis ausgedrückt ist: „Christus lebet in m i r " , die Überzeugung von dem ewigen Leben Christi, von seiner Macht und Herrlichkeit, das ist ein Geheimnis des Glaubens, das aller Erklärung spottet.

10 Harnack, Auswahl

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Der erste Punkt aber fordert noch eine genauere Betrachtung. Christus starb für unsere Sünden? Christus hat uns mit Gott versöhnt? Wie, forderte Gott eine Versöhnung? Ist er nicht die Liebe? Will er, der die Sünden vergibt, eine Entschädigung? Fordert der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn eine Genugtuung, ehe er dem Sohn vergibt? Heißt es nicht vom Zöllner, der da betet: „Gott sei mir Sünder gnädig": „Dieser ging gerechtfertigt in sein Haus"? Gewiß, so ist es. Gott ist die Liebe. Er ist immer die Liebe gewesen und wird sie ewig bleiben. Worin anders besteht der Trost des Evangeliums, als daß es uns Gott als die ewige Liebe offenbart? Fern sei der Gedanke, daß Gott sich vom Zorn zur Liebe gekehrt habe oder, daß irgend etwas für ihn geopfert oder an ihn bezahlt werden mußte, damit er die Menschen liebe und ihnen vergebe. Und dennoch — mit dieser Erkenntnis ist die Sache nicht erschöpft. Es gibt ein unverbrüchliches Gesetz, das den Gott- und Friedelosen zwingt, Gott entweder zu negieren oder ihn als den zornigen Richter zu fürchten und zu fliehen. Das ist die eigentliche und härteste Strafe der Sünde, d. h. der Entfernung von Gott; denn es gibt keine andere Sünde. Diese Strafe entleert entweder das Herz von allem Hohen und Heiligen oder verwandelt den Gottesglauben in einen peinigenden Schrecken. Oft tut sie Beides, und die Seele schwankt zwischen dem Nichts und den unbestimmten Gefühlen einer schlechthin untilgbaren Schuld oder eines lähmenden Drucks. Dieser Zustand ist unnatürlich und falsch, aber andererseits doch nicht verkehrt und falsch, weil er die normale Folge der selbstgewollten, verkehrten Bestimmung ist. Wie kann er überwunden, wie kann der Mensch von ihm befreit werden? Nicht durch „Selbsterlösung", sondern immer nur durch eine Kraft, die von außen kommt, um das Verschüttete zu befreien und der nie ganz ausgerotteten höheren Triebkraft Leben zu bringen. Und nur Taten, nicht Worte, vermögen hier wirksam zu sein, oder vielmehr Worte, die zugleich Taten sind. Wenn der Heilige sich zu den Sündern herabläßt, wenn er mit ihnen lebt und wandelt, wenn er sie nicht für zu gering hält, sie seine Brüder zu nennen, wenn er nichts von ihnen verlangt, als daß sie seine Gegenwart unter ihnen sich 146

gefallen lassen, wenn er ihnen dient und für sie stirbt — dann glauben sie wieder an das Heilige, weil sie es tatsächlich erleben, und es schmilzt zugleich der Schrecken vor seiner richterlichen Strenge. Sie erfahren, daß das Heilige die Barmherzigkeit ist und daß es etwas Mächtigeres gibt als die Natur, ja etwas Mächtigeres als die Gerechtigkeit — d i e a l l m ä c h t i g e L i e b e . In diesen Zusammenhang muß man das Leben, das Wort und den Tod Jesu setzen. So h a t es g e w i r k t u n d so w i r k t es noch. Er schafft die Überzeugung, daß die vergebende Liebe eine Tatsache ist, die höchste Offenbarung alles höheren Lebens, und daß diese Liebe größer ist als die strafende Gerechtigkeit, also daß diese nun nicht mehr als das letzte Wort des höheren Lebens erscheint. Wer das glaubt, der ist versöhnt, ist versöhnt mit Gott; denn nicht Gott bedarf der Versöhnung, sondern der Mensch muß zu ihm zurückgeführt werden. Der Versöhnende aber ist Christus; denn er erlöst die Menschen von dem Gesetz der Sünde, dem sie verfallen waren, Gott entweder zu negieren oder als schrecklichen Richter sich zu denken. Wie erlöst er? Nur dadurch, daß sein Wort, sein Leben, sein Tod, d. h. er selbst, zum Erlebnis der Seele wird und sie in diesem Erlebnis von dem Zwang des Gesetzes der Sünde, von diesem unnatürlichsten Naturgesetz, befreit. Das ist die Grundform des christlichen Glaubens von der Versöhnung und dem Versöhner. Ich will nicht sagen, daß jeder Christ sich bewußt sein muß, so zu glauben, und noch weniger will ich behaupten, daß Gottes Wege hiermit erschöpft sind. Aber das ist offenbar und muß jedem Christen in seiner Bedeutung offenbar geworden sein, daß Christus nicht die Gerechten zu sich gerufen hat, sondern die Sünder und die, welche, nach der Gerechtigkeit hungernd, vor ihr zittern. Und auch das lehrt die Geschichte, daß die tiefsten und reifsten Christen Jesus nicht als den Propheten, sondern auch als den Erlöser und Versöhner erfaßt haben. Ja noch mehr — sie befriedigten sich nicht dabei, die Versöhnung nur in seinem Wort und Lebenswerk zu sehen: sie betrachteten auch sein Leiden und seinen Tod als stellvertretend. Wie konnten sie anders? Wenn sie, die Sünder, sich dem Gericht der Gerechtigkeit entnommen 10*

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wußten, ihn aber, den Heiligen, leiden und sterben sahen, wie sollten sie da nicht erkennen, daß er gelitten hat, was sie hätten leiden sollen? Vor dem Kreuz ist kein anderes G e f ü h l und keine andere Beurteilung möglich. Aber in diesem Gefühl und dieser Beurteilung ist auch das erschöpft, worauf es hier ankommt. Jede rechnende Spekulation m u ß auf diesem Gebiet ins Ungewisse und Bodenlose geraten; denn über die Linie des Gerechten hinaus vermögen wir nicht zu spekulieren. Auch entflieht die Ehrfurcht, wenn die allmächtige Liebe auf ihr Naturrecht und ihre Mittel geprüft werden soll. Sie ist i m m e r n u r als Tatsache uns offenbar und liegt an der Grenze des mit der Vernunft Erfaßbaren. Das Kreuz Christi ist wie alles Kreuz, das i m Dienst der Brüder steht, und wie die barmherzige Liebe selbst ein heiliges Geheimnis, den Klugen und Weisen verborgen, aber die Kraft Gottes und die Weisheit Gottes.

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EINIGE W O R T E J E S U , DIE NICHT IN UNSEREN E V A N G E L I E N STEHEN (1904) Neben der Überlieferung von Jesus-Worten in unseren Evangelien sind uns noch ein paar Dutzend Aussprüche Jesu teils in den übrigen Schriften des Neuen Testaments, teils in späteren Evangelien, teils bei den Kirchenvätern, teils auf ägyptischen Papyrusblättern (hier als kleine Spruchsammlungen) erhalten. Sie sind von ungleichem Werte, und die wenigsten können als echte Worte Jesu gelten; aber auch ein Teil der zweifelhaften Worte bietet ein hohes Interesse, weil sie schon sehr frühe Jesus zugeschrieben worden sind und entweder aus seinem Geiste stammen oder doch das Bild verdeutlichen, welches sich die alten Christen von ihm gemacht haben. Im Folgenden sind einige der bestbezeugten und wertvollsten Worte mitgeteilt und besprochen. 1. Geben ist seliger

als

Nehmen.

In der Apostelgeschichte (20, 35) heißt es: „(Erinnert euch) der Worte des Herrn Jesus; Er hat gesagt: ,Geben ist seliger als Nehmen'." Das Wort steht in der Rede, die Paulus gehalten hat, als er sich von seiner Ephesinischen Gemeinde verabschiedete. Die Zitationsformel schon ist lehrreich; denn sie setzt voraus, daß der Gemeinde Sprüche Jesu (in einer Sammlung?) bekannt und geläufig waren. Stark ist im griechischen Text das „Er" betont; es soll damit ausgedrückt werden, daß die Worte Jesu schlechthin autoritativ sind. Seligpreisungen sind bekanntlich eine Eigentümlichkeit der Reden Jesu; aber sonst werden Personen selig gepriesen; hier wird eine Handlung als „selig" bezeichnet (vgl. 149

Jakobusbrief 1,25: „Ein solcher wird selig sein in seiner Tat"). Sie ist damit mit dem Himmlischen und Göttlichen in Beziehung gesetzt, also in die höchste Sphäre erhoben. Weil das Geben aus der Liebe fließt und diese zu Gott gehört, darum wird es so hoch gewertet, und durch diese Wertung und als Seligpreisung (nicht Gebot) unterscheidet sich der Spruch Jesu von ähnlich lautenden Sprüchen der griechischen Philosophen. Der Zusammenhang, in welchem der Spruch in der Apostelgeschichte angeführt wird, ist auch noch wichtig. Es handelt sich dort nicht um Almosengeben, sondern um Hilfeleistung jeder Art in bezug auf die Schwachen, und zwar um eine Hilfeleistung, zu der man sich die Mittel durch harte Arbeit erst verschafft. Jede Tat opferfreudiger Liebe, und nur sie, ist Gabe und ist ein seliges Geben. 2. An eben diesem Tage sah Jesus arbeiten am Sabbath und sprach zu ,, Mensch, wenn du weißt, was du tust, du selig; wenn du es aber nicht weißt, du verflucht und ein Übertreter des setzes."

einen ihm: bist bist Ge-

Der Spruch steht nur in einer alten griechisch-lateinischen Bibelhandschrift im Text des Lukas unmittelbar nach der Geschichte von den Jüngern, die am Sabbath Ähren ausrauften und aßen (c. 6); er ist sonst von Niemandem bezeugt. Da das negative Glied am Schluß steht, ist es das betonte; also richtet sich das Wort an diejenigen, die sich leichtfertig über das Gesetz hinwegsetzen, ohne es innerlich durch eine tiefere Einsicht überwunden zu haben. Der ethische Tiefsinn des Spruchs muß jedem aufgehen: der gewöhnliche Mensch ist in Religion und Moral an äußere Gesetze gebunden — wehe ihm, wenn er sie übertritt! —, aber wer die höhere Erkenntnis erworben hat, für den gibt es kein Religionsgeseiz mehr, sondern er handelt aus der Freiheit heraus, die sich aus der Erkenntnis entwickelt, und empfindet sich in solchem Sein und Handeln als ein seliger Mensch. Wie wahr und wie tief! Kann der Spruch von Jesus stammen? Ich meine, durchaus. Auch seine Prägnanz und die absolute Form, in der er 150

gegeben ist, weisen auf I h n ; so hat weder Paulus gesprochen noch sonst ein Jünger Jesu. Ist er von Jesus, so ergänzt er unsere Kenntnis der Stellung Jesu zum Gesetz in bedeutungsvoller Weise; denn er hat in den Evangelien wohl Anknüpfungspunkte, aber bringt doch etwas Neues. 3. Wer den Geist seines Bruders betrübt, ist des schwersten Verbrechens schuldig. 4. Und niemals sollt ihr fröhlich sein, außer wenn ihr euren Bruder in Liebe seht. f . Hast du deinen Bruder gesehen, so hast du deinen Gott (oder ,,deinen Herrn") gesehen. Die beiden ersten Sprüche stammen aus dem verloren gegangenen Hebräerevangelium, der dritte ist uns von den Kirchenvätern überliefert; sie sagen zwar nicht ausdrücklich, daß er als ein Spruch Jesu zu ihnen gekommen sei, aber dies ist die nächstliegende Annahme. Alle drei Sprüche sind Zeugnisse dafür, wie hoch Jesus die Nächstenliebe geschätzt und wie enge er sie mit der Gottesliebe verbunden hat. Der erste Spruch ist Matth. 5,22 so verwandt, daß man keinen Grund hat, ihn in der hier vorliegenden neuen Fassung als Spruch Jesu zu beanstanden. Eine besondere Feinheit liegt noch in dem Worte „den Geist seines Bruders betrüben". Es scheint nämlich ,,den Geist (den heiligen Geist) betrüben" ein geläufiger Ausdruck für eine sehr schwere Sünde gewesen zu sein. Hieran soll wohl absichtlich erinnert werden, u m das Betrüben des Bruders damit auf eine Stufe zu stellen. Der zweite Spruch ist, wie das „Und" beweist, der Schluß eines Redestücks gewesen, das wir leider nicht wieder herzustellen vermögen. Der Spruch bildet eine schöne und eigentümliche Parallele zu Matth. 5,24. Hier heißt es, die Jünger sollen nicht vor Gott treten, ohne sich mit dem Bruder versöhnt zu haben; in unserem Spruch wird die Liebe, d. h. die Versöhnung, als die Bedingung jeder Freude gefordert. Daß Jesus seinen Jüngern nicht „das Freuen" verwehrt, sei auch angemerkt. Für Liebe steht im Griechischen „Agape", und da dieses Wort auch für das christliche Liebesmahl gebraucht wurde, so hat man gemeint, 151

unser Spruch sei zu übersetzen: „Niemals sollt ihr fröhlich sein, außer wenn ihr euren Bruder beim Liebesmahl seht." Allein, abgesehen davon, daß es ein schwerer Anachronismus ist, Jesus vom Liebesmahl sprechen zu lassen — nichts deutet darauf hin, daß das Wort „ L i e b e " hier nicht seinen eigentlichen und umfassenden Sinn hat. Der dritte Spruch ist wie eine kurze, gesteigerte Zusammenfassung vieler Sprüche im Neuen Testament. Man erinnert sich vor allem Ein Matth. 25, 40: „Was ihr getan habt einem der Geringsten u n t e r meinen Brüdern, das habt ihr mir g e t a n . " Die Einheit der Gottes- und Nächstenliebe kann nicht schärfer ausgesprochen werden als in unserem Spruch. 6. Werdet gute (erprobte) Geldwechsler, die die falsche Münze zurückweisen und nur die gute behalten. Unter allen Sprüchen, die nicht in unseren Evangelien stehen, wird keiner so oft von den Kirchenvätern zitiert wie dieser. An vielen Dutzenden von Stellen f ü h r e n sie ihn als ein Wort Jesu an und erklären ihn in verschiedener Weise. Welches der ursprüngliche Sinn des Spruches ist, ist schwer zu sagen — wahrscheinlich bedeutet e r : Weist die irdischen Güter als falsche Güter zurück und behaltet die ewigen Güter. 7. Bittet um das Große, und das Kleine wird euch noch dazu gegeben werden, und bittet um die himmlischen Güter, und die irdischen werden euch noch dazu gegeben werden. Diesen Spruch haben uns zwei alte alexandrinische Kirchenväter überliefert und der Kirchenhistoriker Eusebius. Er ist eine weitere Ausführung des Gedankens Matth. 6,33: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes u n d seiner Gerechtigkeit, so wird euch auch das sonst Nötige hinzugefügt werden". Auch an das „Schätzesammeln" auf Erden und i m H i m m e l (Matth. 6,19f.) denkt m a n ; aber was in diesem Spruch als Kontrast erscheint, erscheint hier als Stufe. Jesus hat Beides gesagt: man soll nicht nach

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irdischen Gütern begehrlich sein, vielmehr auf sie verzichten, und man soll gewiß sein, daß Gott auch die irdischen Güter geben wird, deren man zum Leben bedarf. Der Spruch hat vielleicht im Hebräerevangelium gestanden. 8. Wer nahe bei mir ist, ist nahe beim. Vater; wer fern von mir ist, ist ferne vom Reich. Dieses nicht stark bezeugte Wort kann sehr wohl von Jesus herrühren; allerdings lautet es in seiner überlieferten Fassung: „Wer nahe bei mir ist, ist nahe beim Feuer"; aber „Feuer" ist sehr wahrscheinlich ein alter Lesefehler für „Vater": denn „Feuer" und „Reich" bilden keinen Parallelismus; auch ist nicht deutlich, was „Feuer" hier bedeuten soll. Soll man an Luk. 12,49 denken („Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen") oder an Luk. 3,16 („Er wird euch mit Geist und Feuer taufen")? Was das Feuer an unserer Stelle bedeutet, müßte ausdrücklich gesagt sein. Ferner aber ist in der griechischen Schrift die Abkürzung für „Vater" dem Worte „Feuer" im Genitiv (dieser Kasus steht hier) so ähnlich, daß die Annahme einer Verwechslung sehr nahe liegt. Man muß sie hier annehmen. Der Spruch ist deshalb so bedeutend und wichtig, weil er Jesus und den Vater und wiederum Jesus und das Reich ganz nahe zusammenrückt, ohne doch johanneisch zu lauten; denn der Spruch bei Johannes: „Wer mich stehet, siehet den Vater" geht über die Aussage: „Wer nahe bei mir ist, ist nahe beim Vater" weit hinaus. 9. Nicht soll ruhen der Suchende, bis er findet, wenn er aber findet, wird er staunen, wenn er aber staunt, wird er herrschen, wenn er aber herrscht, wird er Ruhe finden. Dieser Spruch ist uns auf einem ägyptischen Papyrusblatt und bei einem sehr alten Kirchenvater erhalten, der bemerkt, daß er aus dem Hebräerevangelium stamme. Der Spruch ist nicht so schwierig, wie er auf den ersten Blick erscheint; er steht in nächster Verwandtschaft mit 153

den Gleichnissen vom Himmelreich bei Matthäus (c. 15). Zur ersten Zeile ist das Gleichnis vom Kaufmann zu vergleichen, der köstliche Perlen sucht, s. auch Matth. 6,35: „Suchet am ersten das Gottesreich" und Matth. 7,7: „Wer da sucht, der findet." In der zweiten Zeile ist nicht an das platonische „Staunen" zu denken, sondern es ist das Staunen über ein überschwängliches Glück, das in hohe Freude übergeht. Die nächste Parallele bietet Matth. 13,44: „Das Himmelreich ist gleich einem verborgenen Schatz im Acker, den ein Mensch fand und verbarg, und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat und kauft den Acker." Die dritte Zeile zeigt, daß das Reich das zu suchende und zu findende Gut ist, und zwar wird der, der gefunden hat und in Freude staunt, ein vollbürtiger Teilnehmer am Reich werden; denn das besagte das Wort: „Er wird herrschen". Daß die Seinen nicht nur ins Reich gelangen, sondern auch mit ihm herrschen werden, hat Jesus öfters verheißen (s. ζ. B. Matth. 19,28). Die -vierte Zeile bringt die sich steigernde Satzkette durch „Er wird Ruhe finden" nicht nur zu einem vollkommenen Abschluß, sondern sie nimmt auch das „Nicht soll ruhen" der ersten Zeile wieder auf und rundet so in kunstvoller Weise das Ganze ab. Die „Ruhe" ist die Seligkeit; vgl. den Spruch: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes". In einer Predigt aus der Mitte des 2. Jahrhunderts steht ein Satz, der dem Grundgedanken unseres Spruches sehr nahe kommt (II. Clem. 5,5): „Die Verheißung Christi ist groß und staunenswert und enthält die Ruhe des zukünftigen Reiches". 10. Ich habe mir die Guten erwählt; die Guten sind die, welche mir mein Vater im Himmel gegeben hat. Den Spruch hat der Kirchenhistoriker Eusebius einem alten judenchristlichen Evangelium entnommen. Er widerstreitet dem Spruche nicht, daß Jesus die Sünder zu sich ruft und nicht die Gerechten; denn es sind ja nicht die „moralisch" Guten, die hier gemeint sind, sondern sie werden näher bestimmt durch den Satz: „welche mir mein 154

Vater im Himmel gegeben hat", und auf ihm liegt der Schwerpunkt des Spruches. Er hat also etwas Paradoxes, aber eben diese Paradoxie ist echt evangelisch. Zum Gedanken, daß der Vater es ist, der Jesus die gegeben hat, die seine Gemeinde bilden, siehe das hohepriesterliche Gebet Jesu bei Joh. 17,2. 6. 9. 24. 11. Worin ich euch finde, darin werde ich (euch) auch richten. Dieser Spruch wird an mehr als zwanzig Stellen in schwankender griechischer Fassung, die auf ein aramäisches Original zurückweisen, zitiert und hat Anspruch darauf, als Wort Jesu zu gelten; denn der Apologet Justin in der Mitte des 2. Jahrhunderts bezeichnet ihn ausdrücklich als solches. Im Anschluß an Ezech. 33 mag ihn Jesus gesprochen haben. Über den Sinn des Wortes kann kein Zweifel sein; Hieronymus hat es richtig erklärt: „Gott schaut nicht auf das Vergangene, sondern auf das Gegenwärtige". Gemeint ist das in drohendem Sinn: Nichts wird euch frühere Bewährung helfen, wenn ihr nicht in der letzten Stunde besteht. Man kann an das Gleichnis von den törichten und klugen Jungfrauen denken. 12. Wο zwei sind, sind sie nicht ohne Gott, und wo Einer allein ist, siehe, da bin ich mit ihm. Richte den Stein auf, und du wirst mich finden; spalte das Holz, und ich bin da. Die erste Hälfte des Spruches erinnert an Matth. 18,20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen"; aber sein Sinn geht doch nach einer anderen Richtung: bei Matthäus wird dem Zusammensein der Jesusjünger, sei es auch in kleinster Gemeinschaft, die Gegenwart Jesu zugesagt; an unserer Stelle aber gilt der Spruch den Einzelnen·, „selbst der Einsame ist nicht ohne Gottes Gegenwart und Beistand". Nach Johannes (16,32) hat Jesus von sich selbst gesagt: „Ich bin nicht allein; denn der Vater ist mit mir". Das ist die beste Parallele zur ersten Hälfte unseres Spruches. Der Kirchenvater Ephraem hat den Matthäusspruch und die erste 155

Hälfte unseres Spruches in freier Fassung verbunden, wenn er schreibt: „ W o Einer ist, da bin auch ich, u n d wo Zwei sind, da werde auch ich sein, und wenn wir drei sind, da werden wir gleichsam eine Gemeinde bilden". Die zweite Hälfte des Spruches ist schwierig und hat zu sehr verschiedenen Auslegungen Anlaß gegeben. Sicher zurückzuweisen ist die Auslegung, die beim Stein an den Stein auf d e m Grabe Christi u n d beim Holz a n das Kreuzesholz denkt, oder die, welche auf die Imperative Gewicht legt, die angeblich besagen sollen, daß viel Anstrengung dazu gehört, u m die Erfüllung der Verheißung der ersten Hälfte des Spruches zu erleben. Aber auch die pantheistische Auslegung des Spruches — sie hat etwas Bestechendes •— erscheint mir unrichtig, die die Gegenwart Gottes i m Stein und i m Holz und damit in dem All sehen will. Z u m Beweis beruft man sich auf ein gnostisches Evangelium (Ev. der Eva), in welchem es heißt: „Ich bin du u n d du bist Ich, und wo d u bist, da bin Ich, u n d in Allem bin Ich ausgesät, und wo du sammeln willst, da sammelst du Mich; Mich aber sammelnd, sammelst d u dich selbst". W e n n dieser pantheistische Gedanke in unserem Spruch gemeint wäre, bliebe das gewählte Ausdrucksmittel ganz unverständlich. Dieses (an Pred. Salom. 10,9 angeschlossen) verlangt, daß bei der Auslegung nicht übersehen wird, daß es sich u m die einfachste harte Handarbeit hier handelt. D a n n besagt unser Spruch, daß Gott bei den Einzelnen ist, auch wenn sie ihre einfache Tagesarbeit verrichten — also nicht n u r bei ihren religiösen Übungen, wie Fasten, Gebet und Almosen. Eine gewisse Schwierigkeit macht bei dieser Auslegung allerdings der Ausdruck: „ D u wirst mich finden aber man braucht ihn nicht zu pressen; er braucht nichts anderes zu bedeuten als der gleich folgende parallele Ausdruck „Ich bin da". Ist diese Auslegung die richtige, so ist der Spruch von hoher Bedeutung: Gott ist bei euch und bei jedem Einzelnen alle Tage und bei jeder Hantierung. Die zwölf Sprüche, die hier kurz beleuchtet sind, sind von sehr verschiedenem Inhalt und ihre „Echtheit" ist, wie bemerkt, nicht sicher. Aber sie fügen sich sämtlich zu dem uns sicher bekannten Evangelium und sind in diesem Sinne echt.

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3 AUF DEIN

WORT

W I L L ICH DAS NETZ Predigt

im

AUSWERFEN

Akademischen Gottesdienst 2. Februar 1919

gehalten

am

Der Text, der unserer heutigen Betrachtung zu Grunde gelegt ist, findet sich aufgezeichnet i m Evangelium des Lukas i m f ü n f t e n Kapitel und lautet dort also: „Und Jesus sprach zu Simon Petrus: „Fahre auf die Höhe und werbet eure Netze aus, daß ihr einen "Zug tut." Und Simon antwortete: „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf Dein Wort will ich das Netz auswerfen." Und da sie das taten, beschlossen sie eine große Menge Fische." Amen. Diese evangelische Geschichte, christliche Gemeinde, die wir alle kennen, ergreift uns in diesen unseren Tagen mit doppelter Kraft. Jedem unter uns, der n u n wieder an sie erinnert wird, wird es sein, als hörte er sie zum ersten Mal, und als sei sie ein Gottesspruch, f ü r uns heute gesprochen und niemals f r ü h e r . Und in ihren so verschiedenen Teilen trifft sie uns gleichmäßig und tief — mit d e m Ausdruck ihrer dumpfen Aussichtslosigkeit und Verzweiflung: „ W i r haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen," aber auch mit ihrer starken Glaubenszuversicht: Dennoch, dennoch, ,,Auf Dein Wort will ich das Netz auswerfen", und endlich mit ihrem Schluß über Bitten und Verstehen: „Und da sie das taten, beschlossen sie eine große Menge Fische". So wollen wir denn in dieser Stunde dieser Geschichte nachdenken und sie zu Herzen nehmen. Das, was wir alle gemeinsam erlebt haben, wollen wir unter das Gericht 157

Gottes stellen, aber auch in das Licht seines Evangeliums. „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts g e f a n g e n . " Wie trifft uns dieses Wort, wenn wir auf die letzten 4 % Jahre zurückblicken! Wie haben wir gearbeitet, welche Anstrengungen haben wir gemacht, wie jedes Segel gestellt, wie f u h r e n wir aus mit der ganzen Mannschaft in das brausende Meer hinein, wie kräftig durchschnitt unser Kiel die Wellen; welch' reiche Beute schien schon so manchem gewiß zu sein, aber — der Morgen zog herauf und alle Aussicht zerrann. Ja, nicht n u r das: ein Sturm erfaßte das Schiff, die Segel zerflatterten und zerrissen, das Steuer versagte, das Schiff scheiterte und zerschellte! Nur T r ü m m e r ! Nichts, nichts gefangen und alles verloren! Das ist herzzerreißend. Aber, meine Freunde, wenn es n u r das wäre, was wir zu beklagen haben, es wäre nicht das Schlimmste. Einen Krieg verlieren, sei es auch den größten, das kann jedem Volk widerfahren, wenn es von der Übermacht erdrückt wird, und die H o f f n u n g des Wiedererstehens und Auflebens ist immer gegeben. Aber in welcher Not sind w i r ! Unsere Lebensnerven sind durchschnitten, und ohnmächtig liegen wir am Boden. Woher das? Wir müssen weiter zurückblicken, ein und zwei Jahrzehnte vor Beginn des Krieges. Auch da haben wir Tag und Nacht gearbeitet. Wir waren die arbeitsamste und fleißigste Nation in Europa. Aber was haben wir gefangen, was gewonnen? Gewiß —Wohlstand und materielle Macht wie nie zuvor; aber der Ausgang hat uns die Augen geöffnet: Es war ein unsolider Besitz! Unser Geist, ja unsere Seele war bei all dem Wohlstand i m Ersticken, und wir gingen innerlich dem Verfall entgegen. Wir sträuben uns gegen dieses Bekenntnis, und auch ernste Männer unter uns haben sich gegen diese furchtbare Wahrheit gesträubt und wollen sie auch jetzt noch nicht gelten lassen; aber es hilft nichts: wir müssen sie anerkennen. Der Ausgang des Krieges und das, was wir vor uns sehen, hat die Maske von unserem Zustand abgerissen, und Gott hat uns das Gericht geschickt, damit wir uns von der Selbsttäuschung befreien: Wir hatten nichts gefangen. Es war nichts mit unserem Wohlstand; es war nichts mit unserem Fortschritt, ja, ich sage es mit heißem Schmerz: Es war nicht gut bestellt

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mit unserem Patriotismus. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Wohl war uns das eine große Reich und Vaterland bereitet; aber wir waren und blieben im tiefsten gespalten, zwei Völker, zwei sich fremde Teile überall, wohin man auch blickte, und überall klaffende Risse und Spalten. Gewiß, Ansätze zum Guten auch überall: Vereine für alles Hohe und Wertvolle, Reden, Broschüren, Versuche usw. Aber was ist denn in der Brüderlichkeit, in dem Kampf gegen das sich öffentlich breit machende Schlechte, in der Bewahrung der Jugend, in der Bodenreform, im gegenseitigen Verständnis der Klassen, im Großen und Gemeinschaftlichen wirklich gefördert worden? Wo waren die, die wirklich nur dienen wollten und nicht zugleich auch herrschen? Immer reichte es nur bis zum Wollen und bis zum Anfang; aber das Vollbringen im Großen und fürs Ganze fehlte. Immer sahen wohl ernste und liebevolle Augen ein großes Feld vor sich zur Ernte; aber die Arbeiter blieben aus! Wir hatten in unserem öffentlichen, Leben Gott nicht in der Mitte; die Kuppel seines Reiches der Heiligkeit und Liebe wölbte sich nicht schirmend und schützend über uns. So ist es mit uns zum Äußersten gekommen, und wir müssen bekennen: „Herr, wärest D u hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben." Nein, sagt man, so war es nicht; vielmehr unsere Arbeit war gut und erfolgreich, wie im Kriege, so auch vor dem Kriege; wir hatten schon alles im Netze, aber da sei im letzten Augenblick plötzlich ein böser Dämon dazwischen gefahren und habe das Netz durchschnitten, oder ein giftiger Gasbrand habe plötzlich die Arbeiter betäubt und das Netz sei ihren Händen entglitten. Wenn wir so sprächen, legten wir falsches Zeugnis ab wider die Wirklichkeit und die Tiefe der Dinge. Ein falscher Irrgeist und Verderber steigt niemals plötzlich auf, und solch einen von außen kommenden Gasbrand gibt es im inneren Leben nicht. Vielmehr hat sich lange im Innern vorbereitet, was solch einen Zusammenbruch gebracht hat. Aber auch die Ausrede gilt nicht, das Ganze, das Volk, sei gesund gewesen, aber bestimmte Personen, diese oder jene, oder eine bestimmte Klasse, diese oder jene, trage die Schuld an dem Fall und Verderben, wie man das immer 159

wieder hören kann. Meine Freunde, wer so urteilt, der hat sich noch nicht klargemacht, wie ganz und gar alles in einem Volk zusammengehört und wie ein Blutstrom alles durchkreist. Die Krankheit, das Geschwür, tritt wohl an diesem oder jenem Glied abschreckend hervor, aber nicht dieses Glied ist schuldig, sondern das Ganze ist es, wenn die Krankheit so verderblich und todbringend wirkt. Darum nur keine Selbstgerechtigkeit I Wenn jetzt ringsum, dort und hier, jedem Gesetz gespottet wird, wenn alle Bande frommer Scheu sich lösen, wenn Anarchie. Verbrechen und Schande ihren uferlosen Strom wälzen, so spricht der Prophet, der einst zu David kam, zu dir und mir: ,,Der Mann bist d u " ; denn daß es wurde, wie es geworden ist, daran tragen auch wir unser Teil. Blicket daher nicht auf das, was draußen auf der Straße vorgeht, nur mit dem Blick befremdeter Empörung, sondern sagt euch: Wir sind schuld, daß es soweit gekommen ist. So spricht der Prediger in der Kirche, hält man entgegen: Wenn ein Unglück da ist, werden die allgemeinen Zustände mit den schwärzesten Farben geschildert; Jedermann soll würdelos an seine Brust schlagen und sich schuldig bekennen an dieser Verwahrlosung. Nun gut, es sei: Es ist nichts unter uns schlechter geworden im letzten Jahrzehnt; es sind vielmehr dieselben Kräfte ungeschwächt wirksam gewesen wie in früheren Zeiten. Dann haben wir nicht bemerkt, daß in eben dieser Epoche eine neue Zeit heraufgezogen ist, für die die alten Kräfte längst nicht mehr ausreichten; dann sind wir blind gewesen gegen das, was die Zeit von uns verlangte. Mag es eine Epoche gegeben haben, in welcher ein seelenloses, starres Pflichtbewußtsein, Festhalten an alten Ordnungen und Rechten, und Gehorsam und Takt die Gesellschaft zusammenhielten; aber es ist längst anders geworden! An Zahl verdoppelt, durch den Verkehr verzehnfacht, einander nahegerückt und zusammengeballt, an einer Maschine des öffentlichen Lebens arbeitend, jedes Tun und Lassen beobachtet, jeder Vorhang, der Klasse von Klasse trennte, zurückgeschoben — wahrlich, nur ein neuer Geist, der Geist des Opfermutes, der dienenden Liebe und einer neuen tieferen Ehrerbietung gegen jedermann vermochte uns da vor der heraufziehenden Revolu-

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tion und dem Chaos zu schützen. W e n n aber jeder Stand auf seinem formellen Recht bestand, m u ß t e das Ganze auseinanderfallen. Daher, wenn das Wort „Mensch" nicht eine tiefere Verantwortung gewann, wenn das Pflichtbewußtsein sich nicht zum selbstlosen Dienst erhöhte, wenn wahre H u m a n i t ä t nicht die Seele der Gesellschaft wurde, wenn eben diese Seele nicht zu einem höheren Schwung erweckt wurde, und wenn wir nicht Gottes heiliges Angesicht in dieser neuen Entwicklung schauten, dann mußte unsere Arbeit vergeblich bleiben, und es mußte kommen, wie es gekommen ist. Wir haben es nicht geschaut, und so ist es gekommen. D a r u m sei unser Bekenntnis, so schwer es uns über die Lippen kommen m a g : „Herr, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen," und unser ist die Schuld an diesem hoffnungslosen Zusammenbruch. Hoffnungsloser Zusammenbruch — „aber auf Dein Wort will ich das Netz auswerfen." Blicken wir auf den Jünger, der dieses Wort sprach. Auch i h m fehlte nach einer vergeblich durchwachten Nacht jede H o f f n u n g auf einen neuen Versuch; ja menschlich angesehen u n d in den Augen der anderen Fischer m u ß t e er als ein Narr erscheinen, der bei ungünstiger Zeit u n t e r n e h m e n will, was doch bei günstiger erfolglos war. Das k ü m m e r t e ihn aber nicht; denn sein Meister hat zu i h m gesprochen, und er folgt seines Meisters Wort. So dürfen wir ganz gewiß sein, daß auch zu uns Gott heute und in dieser Stunde spricht. Was spricht er zu uns, und hat dieses Wort wirklich die Kraft, daß wir i h m zuversichtlich folgen dürfen und müssen? Was spricht er zu uns? Einst fragte bangend ein Prophet: Was soll ich predigen? Und er erhielt zur Antwort: „Alles Fleisch ist Heu, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Heu verdorret; die Blume verwelket; denn des H e r r n Geist blaset darein. Ja, das Volk ist das H e u ! Das H e u verdorret, die Blume verwelket; aber das Wort unseres Gottes bleibet ewiglich." Wahrlich, das ist ein großes Wort voll Majestät und Ernst und Schauer, und wir beugen uns vor diesem Wort. Aber ist es auch trostreich? Man m u ß schon ein Prophet sein, der alles Irdische hinter sich hat, und dem die Erde und die Menschheit n u r Tropfen am Eimer Gottes sind, u m durch 11

H a r n a c k , Auswahl

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dies Wort getröstet zu werden. Wir dürfen als Christi Jünger vertrauen, daß es f ü r uns nicht sein letztes ist! Aber da kommt uns ein zweites Wort entgegen, das an Abraham: „Ziehe aus deinem Vaterland und aus deiner Freundschaft in ein Land, das ich dir zeigen will." Auch dieses Wort ergreift uns in der Zeit, in der wir heute stehen, mit banger Gewalt. Sollte das Gottes Wille sein, daß wir alles, was wir gebaut und was uns lieb ist, verlassen müssen, daß wir ins Unbekannte u n d Dunkle wandern müssen, nichts anderes wissend, als daß Er jenes Land kennt? Müssen wir uns auf solch einen Abbruch und solch eine Reise gefaßt machen? Nein, meine Freunde, auch dieses Wort ist ein alttestamentliches Wort, und kein Jünger Christi braucht zu glauben, i h m sei es auferlegt, daß er gehorsam ins Dunkle und in den Schrecken wandern müsse. Wohl kann es sein, daß wir — sei es bei uns i m Lande, sei es durch Auswanderung — verlassen müssen, was uns lieb und teuer ist, und daß etwas ganz Neues über uns k o m m t ; aber in ein dunkles Land ziehen wir nicht. Auch hier gilt, daß Gottes Hand uns daselbst f ü h r t und daß wir überall im Hause unseres Vaters bleiben. Meine Freunde, das Gotteswort, das uns gilt, ist sicher; es bedarf keines Suchens. Das Wort, das Gott heute zu uns spricht, lautet: So seid nun Gottes Mitarbeiter, und eben deshalb: „Fahret auf die Höhe, daß ihr einen Zug t u t . " Gottes Mitarbeiter: Ziel, Weg und Kraft liegen nicht im Dunkeln, sondern sie sind klar; denn zu uns spricht der Gott, von dem wir wissen: „ W e r will uns scheiden von der Liebe Gottes ? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert?" Oder, wie L u t h e r das so herrlich in seinem Reformationslied gesagt h a t : „Er sprach zu m i r : Halt dich an mich, Es soll dir jetzt gelingen; Ich geb mich selber ganz f ü r dich, Da will ich f ü r dich ringen; D e n n ich bin dein und du bist mein, Und wo ich bin, da sollst du sein, Uns soll der Feind nicht scheiden."

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Gottes Mitarbeiter, das ist es! Auf Gottes Wort sollen wir unser Netz aufs neue auswerfen; denn wir sollen wissen, daß wir Seine Mitarbeiter sind. Das ist die Zuversicht und das ist die Kraft. Seht, fast noch schlimmer als das wilde Gebaren, welches uns in diesen Tagen entsetzt hat, ist die allgemeine Schwäche, ist die Dumpfheit und hoffnungslose Tatenlosigkeit, die sich unsrer zu bemächtigen droht. Das darf nicht sein! Auf sein Wort wollen wir das Netz auswerfen! Was heißt für uns: das Netz auswerfen? Das heißt nicht nur, daß ein jeder treu und arbeitsam in seinem Beruf und Stand steht. Das mag in ruhigen Zeiten genügen. Nein,'Menschenfischer müssen wir werden; auf's Persönliche kommt es an. Glaubt nuT nicht, daß ihr die Alten bleiben und die alte Weise noch fortsetzen könnt. Der große Riß und die vielen Risse und Spalten, die Mensch von Mensch und Klasse von Klasse unter uns trennen, müssen beseitigt werden und verschwinden. Es gilt, unter den neuen Verhältnissen nicht die schwächlichen alten Waffen etwas zu schärfen, dies und jenes Gute zu reden und dies und jenes Gute zu tun, sondern eine Verbindung unter uns zu stiften, so umfassend wie das menschliche Leben und so lief wie die menschliche Not. Es gilt, neben den Sozialismus, der da ruht auf dem klugen Ausgleich widerstreitender Interessen, einen Sozialismus zu setzen, der da ruht auf der dienenden Liebe und dem hingebenden Opfer. Wohl spotten die Menschen, daß es so etwas nicht gebe; aber das ist eben der böse Feind, der so spricht, und das Umgekehrte ist richtig: Was wir geworden sind, sind wir aus dem Geist und der Liebe heraus geworden. Nur mit Gotteskräften, mit Idealen, wird die Menschheit gebaut, und man hat nur soviele Ideale, als man Opfer bringt. Ein neuer Geist ist nötig; ohne ihn kann nichts werden; ja es muß notwendig immer schlimmer werden. Gott hat uns diese Not geschickt, damit wir uns aufraffen und aus der Not einen Chor von Tugenden schaffen. Dieses Neue, das jetzt noch roh und geist- und gemütlos vor uns liegt und nach einer Seele verlangt, kann ein Segen werden, wenn wir es mit Geist und Liebe erfüllen; aber es muß 11·

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sich auflösen und uns zum Gericht werden, wenn wir es dem Spiel der materiellen Kräfte überlassen. Seht, wir haben vorhin gesagt, daß eine ganz neue Zeit f ü r unser Vaterland, ja f ü r die Menschheit heraufgezogen ist. Das ist, soweit wir zurückdenken können, in der Geschichte einmal schon geschehen, als die alte Welt, die Antike, zusammenbrach. Alles wäre aber damals untergegangen und die volle Barbarei an die Stelle getreten, wären nicht das Evangelium und die Kirche gewesen. Sie und sie allein haben gerettet und erhalten und übergef ü h r t , was zu retten war, und haben die neue Zeit gebaut. Ideale und Kräfte haben sie eingesetzt, und so wurde etwas, ja es wurde allmählich etwas Besseres. Die Antike ist einst gestürzt, und n u n stürzt, wie m a n mit Recht gesagt hat, die Moderne. W o h l a n ! Gottes Mitarbeiter wollen wir sein, d a m i t nicht das Chaos zurückkehre, sondern damit die wirklichen Kräfte und die unveräußerlichen Ordnungen des Alten erhalten bleiben und sich an dem Neuen aufs neue das Wort erfülle: „Es werde Licht, und es ward Licht." Also kein Kleinmut! Wie darf ein Mensch kleinmütig sein, der noch Aufgaben hat, und wie darf ein Mensch verzagt sein, der Gott zum Freund und Vater h a t ! Haben wir nicht die Verheißung: „Sie gehen durch die Wüste und machen daselbst Brunnen"? Steht nicht vor uns das Bild jener Hagar, die ihren verschmachtenden Sohn hinwarf und sprach: Ich kann nicht zusehen des Knaben Sterben, und siehe, da tat Gott ihre Augen auf und zeigte ihr einen Wasserbrunnen? Dieser Wasserbrunnen fließt noch; auf uns kommt es an, daß wir unsere Gefäße füllen und den Knaben tränken. Nicht Sorgen und Grämen, sondern Schaffen und Hoffen! Denkt nicht an euch, denkt an den Knaben! Es kann noch schlimmer werden mit dem Hunger, der Blöße, der Fährlichkeit und dem Schwert; aber wir wollen geloben, daß wir dabei an die Anderen denken, und nicht an uns. Auf Dein Wort will ich das Netz auswerfen — ' s o auswerfen, wie es der Fischer tut. W e n n er auf See und auf dem Boote ist, denkt er an nichts anderes als an sein Boot und an sein Netz und an seinen Fischzug. Laßt fahren hin das Allzu164

flüchtige! Auf das Werk allein, das uns befohlen ist, wollen wir blicken! Und da steht am Schluß noch ein Wort in unserem T e x t : „Und da sie das taten, beschlossen sie eine große Menge Fische." W e r unter uns möchte es wagen, dieses Wort in der heraufziehenden Z u k u n f t auf uns zu beziehen? Und gewiß, an Wohlstand oder gar an Überfluß wollen wir gar nicht denken. Aber doch — i m Bunde mit Gott Großes t u n und Großes von Gott erwarten, das ist Sache des Christen. Und es ist wahrlich schon etwas Großes, zu wissen, daß unsere Arbeit keine vergebliche sein wird, und daß unser Gewinn in unseren Brüdern, deren Herzen und Sinn wir gewinnen sollen, bestehen wird. Mehr wünschen, mehr verlangen wir nicht. Das Übrige sei Gott befohlen. Er wird's wohl machen, und Er bleibt bei uns. D a r u m sei unsere Losung: „Meister, wir sind Deine Mitarbeiter; auf Dein Wort wollen wir das Netz auswerfen." Amen.

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4 WEIHNACHTEN (1928) Preisen m u ß m a n es, daß jedes J a h r ein T a g wiederkehrt, an d e m Freude u n d Friede verkündet wird, an d e m die Herzen u n d H ä n d e sich a u f t u n , u m Liebe zu ü b e n , und der m i t seinem Glänze hineinstrahlt in das schwere D u n k e l unserer Tage. U n d m i t d e m heißen Wunsche erfüllt sich das Herz, es möge n i e m a n d ausgeschlossen bleiben, u n d keiner bei der Festfeier vergessen sein. Das Weihnachtsfest h a t seine Wurzeln an den Weihnachtsgeschichten ; daher soll m a n i h r e r in diesen Tagen gedenken. Diese Geschichten, wie sie seit bald zweitausend J a h r e n in allen Weltteilen erzählt, besungen u n d gemalt werden, verdanken wir ausschließlich zwei Evangelisten, d e m Juden Matthäus u n d d e m Griechen L u k a s ; denn die Erzählungen, welche spätere Zeiten h i n z u g e f ü g t haben, haben n u r eine geringe Verbreitung g e f u n d e n . Von den beiden Evangelisten aber g e b ü h r t d e m Lukas die Palme, so gewiß uns Matthäus in der Erzählung von den Weisen aus d e m Morgenland ein meisterhaftes W e r k geschenkt hat, aber an die wunderbare Erzählungskunst des Lukas reicht er nicht heran. Sinnvoll h a t i h n die jüngere Überlieferung „den M a l e r " g e n a n n t — Lukas ist nicht Maler, sondern nach d e m Zeugnis seines Freundes, des Apostels Paulus, Arzt gewesen, aber Auge u n d H a n d waren die eines großen Malers. Was er erzählt hat, waren nicht M y t h e n , w e n n solche auch vielleicht hineinspielen, sondern Legenden, nicht von i h m e r f u n d e n e , sondern i h m bereits überlieferte; aber wie er sie e m p f u n d e n u n d in großartigen u n d doch zarten Bildern wiedergegeben, untereinander v e r b u n d e n und abgetönt hat, das ist sein eigenstes Werk. Griechischer Kunstsinn hat sich hier mit der tiefsten jüdisch-christlichen Frömmigkeit ver166

mählt, griechische Weltoffenheit mit der Abgeschlossenheit enger israelitischer Kreise, die auf Trost und Erhebung warteten. Aus diesen Verbindungen sind die Bilder entstanden, deren Anziehungskraft nach Form und Inhalt jeden Wechsel der Weltgeschichte überdauert hat. Unter den zahlreichen Weihnachts- und Kindheitsgeschichten des Lukas ist das Hauptstück, die eigentliche Geburtsgeschichte, zugleich auch die künstlerisch vollkommenste Erzählung. Unwillkürlich fragt man sich, so oft man sie wieder liest, ob sich der Verfasser selbst all des Großartigen und Beziehungsvollen bewußt gewesen ist, was uns in seiner Schilderung ergreift und erhebt, oder ob i h m als unbewußtem Seher die Feder geführt worden ist; aber wer will das entscheiden? „Es ging ein Gebot vom Kaiser Augustus aus" — mit diesen Worten beginnt er, und mit einem Schlage sehen wir uns in den Mittelpunkt des Weltgeschehens versetzt und hören den gefeierten Namen des Zeitalters: Augustus, der Friedefürst. „Als Quirinius Landpfleger in Syrien w a r " — alsbald werden wir von Rom in den Orient geführt, in die große Provinz, in der der Austausch vieler Religionen und zweier Kulturen am lebendigsten war. „Joseph und Maria machten sich auf und gingen von Nazareth in Galiläa nach Bethlehem in Judäa, in die Stadt Davids" — zuerst das gering geschätzte, halbheidnische Galiläa, dann der enge Schauplatz eines Dorfes in Judäa, aber über diesem Schauplatz schwebt der Name des großen Königs David, der die Erinnerungen und alle Hoffnungen Israels einschloßt Augustus und David — kann man die Erwartungen der Leser noch höher spannen ? Kann man die weltgeschichtliche Bedeutung dessen, was n u n erzählt werden soll, stärker zum Ausdruck bringen? Aber was da folgt, ist zunächst die Erzählung einer ganz armseligen Geburtsgeschichte, einer Geburt nicht einmal in einem Wohnhaus, sondern in dem Stall einer Herberge — der Königssohn in einer Krippe liegend! Und des Armseligen noch nicht genug: Aufs Feld und ins Dunkle zu Hirten werden wir gewiesen,

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die nachts ihre Herden weideten. Tiefer kann der Abstieg nicht f ü h r e n : Von Augustus zu den H i r t e n ! Nun aber t u t sich der Himmel auf: die herrliche Botschaft wird zuerst den Ärmsten verkündet, aber sie gilt allem Volk: „Fürchtet euch nicht" — „Euch ist heute der Heiland geboren" — „Friede bei den Menschen des göttlichen Wohlgefallens." Das ist der hohe Dreiklang der evangelischen Botschaft, an ihrer Spitze das W o r t : „Fürchtet euch nicht." Der Kirchenvater Augustin hat einmal gesagt: W e n n man alles Übel aus der Welt beseitigte, aber die Furcht vor dem Übel bestehen ließe, würde sich am traurigen Zustande der Menschheit nichts ändern. Er hat recht: das, was uns knechtet, ist die Furcht, und wiederum das, was uns allein von der Furcht zu befreien vermag, ist das Vertrauen. Aber es m u ß ein absolutes Vertrauen sein, sonst kann es nicht helfen. Je stärker uns die Relativität und die Unverläßlichkeit aller irdischen Dinge auf die Seele fällt, desto deutlicher wird uns auch, daß wir entweder in den Pessimismus versinken oder an Gott zu glauben wagen müssen: „Ein feste Burg ist unser G o t t " ; denn freudig leben und zuversichtlich wirken vermag n u r ein Mensch, der zum großen Gang der Dinge und zum Sinn seines eigenen Lebens trotz alles Widerscheines Vertrauen hat. Das aber heißt an Gott glauben, und das bedeutet zugleich, befreit zu werden von aller Furcht. „Euch ist heute der Heiland geboren" — die Worte „Heiland", „Erlösung" scheinen heute vergessene Worte zu sein und wie ausgestrichen aus dem geläufigen Vokabular. In jener Zeit waren sie es nicht, vielmehr schaute alles nach Heilanden aus. Aber ich wage auch heute zu f r a g e n : Hat es jemals einen Menschen gegeben, der niemals nach Erlösung ausgeschaut hat, und hat es jemals einen höheren Menschen gegeben, der nicht, rückschauend auf sein Leben, bekennen mußte, daß er das, was er geworden ist, zu einem großen Teil „Heilanden" verdankt, das heißt Menschen, zu denen er ehrfurchtsvoll aufschaute, und die ihn befreit und zur Höhe gehoben haben? Nicht n u r ein Prophet erweckt den anderen, sondern auch i m regelmäßigen Gang der Entwicklungen entzündet sich reineres und höheres Leben n u r an einer mächtigeren Flamme, und letztlich ist dieses Feuer

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Gottesfeuer; denn daß von I h m , durch I h n und zu I h m alle Dinge sind, wird uns verkündet, und wir versuchen es, diesem hohen Gedanken nachzudenken. Daß aber jegliche Kraft, die uns von uns selbst befreit und über die Welt erhebt, von I h m stammt, das empfinden wir selbst. Ein Christ soll dem anderen ein Christus werden, hat schon die älteste Kirche verkündet; aber so hat sie gepredigt, weil sie in d e m in Bethlehem Geborenen den Weltheiland erkannte, den Erstgeborenen unter vielen Brüdern, die aus seiner Fülle schöpfen. Noch ist freilich die Aufgabe des Weltheilandes lange nicht erfüllt, und auch der U m f a n g der christlichen Kirchen ist kein Maßstab und keine Gewähr f ü r ihre E r f ü l l u n g ; aber daß der große Gang der Weltgeschichte die Predigt vom Weltheiland ins Unrecht gesetzt hat, oder daß die biblische Verkündigung einer tieferen Frömmigkeit und höheren Ethik Platz machen m u ß , kann kein Einsichtiger behaupten. Und das dritte Stück der Weihnachtsbotschaft — ,,der Friede"! Der Spruch, der der eigentliche Festspruch der Feier ist, ist wahrscheinlich so zu übersetzen: Preis in der Höhe sei Gott und auf Erden, Friede bei den Menschen seines Wohlgefallens; aber auf diesen Unterschied in der Übersetzung kommt wenig an. Der Hauptsinn bleibt derselbe: Gott die Ehre, den Menschen der Friede! Der Friede — f ü r den inneren und äußeren Menschen, f ü r Haus und Familie, f ü r Handel und Wandel, f ü r die Staaten und den ganzen Weltkreis, f ü r Leben und Sterben gibt es nichts Köstlicheres als den Frieden, und wenn wir auf die Stimmen der Völker, ihrer Lehrer, Propheten und Dichter lauschen, so ist es der Friede, den sie alle preisen und heiß begehren. Aber diesem heißen Begehren entspricht nicht, wenn wir näher zusehen, die klare Einsicht, •wie ein vollkommener Friede beschaffen sein m u ß , und noch weniger die Einsicht, wie man zu i h m gelangt. Wirre Stimmen hören wir vielmehr und halbwahre Urteile: „ D e r Krieg ist der Vater aller Dinge und jeglichen Fortschritts", „ W e n n du Frieden willst, so rüste den Krieg", „Dauernder Friede erschlafft die Menschen", „der frische,

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fröhliche Krieg" und ähnliches. Aber von solchen Unklarheiten ist die Menschheit nun endlich befreit worden, befreit durch das furchtbare Erlebnis des Weltkrieges, ja, diese Befreiung ist sein einziger positiver und segensreicher Erfolg — wenn die Menschheit bereit ist, ihn zu erkennen und anzunehmen. Der Weltkrieg hat uns gelehrt, was der Krieg ist und in noch fürchterlicherer Weise sein wird — vorher haben wir das nicht gewußt — aber eben dadurch hat er uns auch gelehrt, was der Friede ist: Krieg ist der Kampf aller gegen alle im buchstäblichsten Sinn, aller Männer, Frauen und Kinder; Krieg ist die Aufhebung aller sittlichen Grundsätze und die Preisgebung aller sittlichen Güter; Krieg ist der Feldzug der Verleumdung und Lüge über den ganzen Erdball; Krieg ist der Hunger, der Untergang der Kultur, das Chaos und die Ausrottung. Aber auch wie es zum Kriege kommt, hat uns der Weltkrieg gelehrt — kein vorangehendes Aufgebot des Hasses ist nötig, keine Verschwörung der Bosheit, keine räuberische Habsucht, sondern „nur" unbekümmerter Nationalismus, unbekümmerter Rassenstolz und gedankenloser Leichtsinn. Daraus ergibt sich aber auch mit gebieterischer Klarheit, was der Friede ist, und wie man zu ihm gelangt. Nicht ein labiler Gleichgewichtszustand ist der Friede — der kleinste Druck zerstört ihn — sondern ein durch das Aufgebot aller sittlichen Kräfte geschaffener und behüteter wirklicher Freundschaftsbund der Völker. Nur um diesen höchsten Preis ist er zu haben. Das Wort: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?" muß aus dem Verkehr der Völker ebenso verschwinden wie das andere: ,,Recht oder Unrecht — mein Land", und der Irrwahn muß weichen, das wohlverstandene eigene Interesse, nicht allzu schroff angewandt, reiche aus, um den Frieden zu erhalten. Volle Anerkennung der Eigenart und der Rechte der anderen, brüderliche Gesinnung und wirkliche Freundschaft sind nötig, ein Völkerbund, so umfassend wie das Leben selbst — nur diese starken Kräfte können das Wiedererstehen der Kriegsgefahr verhindern. Heute liegt es vor Augen: die höchsten sittlichen Güter und Gebote offenbaren sich als die elementaren, notwendigen Voraussetzungen des Friedens — die Gerechtigkeit, die Nächsten- und Fernstenliebe, das 170

Reich des Guten, verwirklicht in der Gemeinschaft der Völker! D a ß diese herrliche Erkenntnis uns, sei es auch aufgenötigt worden ist, und daß daher unserer Zeit die Aufgabe gestellt ist, sie zu verwirklichen, das soll uns mit hoher Freude erfüllen. D e m vorigen Jahrhundert waren unter anderem die Aufgabe der Abschaffung der Sklaverei und der Hebung des Arbeiterstandes zugewiesen — gewaltige Aufgaben; aber wie viel gewaltiger und höher ist die unsrige: die Botschaft des Friedens soll auf der Erde verwirklicht werden! Schon die Stellung der Aufgabe ist der Anfang des Friedens, und mit Freude bezeugen wir aus dem Erlebnis des letzten Jahres, daß bereits ein wirklicher Anfang gemacht ist. Dank sei unseren politischen Führern und den erleuchteten Staatsmännern in beiden Hemisphären! Wohl wissen wir, daß es n u r langsam vorwärtsgehen wird und ein schweres Ringen mit dem drapierten wirtschaftlichen und politischen Egoismus der Völker uns bevorsteht •—• auch die Aufgaben des vorigen Jahrhunderts sind noch lange nicht zu Ende geführt — aber der einzuschlagende richtige Weg ist erkannt. Freilich, die Erkenntnis allein t u t es nicht; Umkehr, stärkste sittliche Anspannung, Opfermut, eine neue Erziehung und ein neuer Geist sind nötig; aber noch niemals ist die bittere Notwendigkeit des Lebens dem sittlich Notwendigen so zu Hilfe gekommen wie heute nach dem großen Weltkrieg. Man fürchte aber nicht, durch den „Pazifismus" könne die nationale Eigenart und Kraft leiden; denn er bedarf der Anspannung ihrer besten heroischen Kräfte, m u ß also der Vollendung der nationalen Eigenart dienen. Mit Zuversicht wollen wir Weihnachten feiern und in das neue Jahr übergehen. „Friede auf E r d e n " — er m u ß uns werden! „Es m u ß uns doch gelingen!"

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5 DIE E R H A L T U N G D E R K R A F T IM HÖHEREN LEREN (1924)

Vier Leitsätze „Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer", hat ein großer Philosoph gesagt, aber vielleicht gelingt es, ohne zu predigen und ohne zu begründen, Hauptrichtlinien für das höhere Leben so zu zeichnen, daß sie jedem sittlichen Menschen einleuchten. Ich habe das jüngst in einem größeren Kreis versucht und keinen Widerspruch erfahren, und so will ich den Versuch hier vor den Lesern dieses Kalenders wiederholen in der Hoffnung, eine gemeinsame, aber verborgene Uberzeugung zum Ausdruck zu bringen und dadurch zur Stärkung unserer inneren Einheit etwas beizutragen: 1. Erhalte dich mit eifersüchtiger Selbstheit als eine Einheit; zerfalle nicht stückweise an deine Umgebung und an die Welt, sondern bleibe ein geschlossenes Ganzes in deiner Art. Werde, was du bist! Verschwende dich nicht! 2.

Handle und wirke, als wärest du selbst nicht da, sondern nur die Anderen, die in deinem Kreise sind oder zu ihm treten, wer es auch immer sei. Dich selbst besitzend, lebe für deinen Nächsten in Selbstlosigkeit. Verschwende dichl In dem Widerspiel dieser beiden Leitsätze atmet die Seele ein und aus. δ. Lausche auf jedes Wort und jedes Erlebnis, welches dich aus dem graugestrickten Netz des Tages herauszieht, und 172

überhöre keine Stimme, die dich erinnert, daß du zu Gott und zu einem ewigen Reiche gehörst. Sei im Großen wie im Kleinen stetig ein empfangender dankbarer Mensch! Sei demütig I 4. Stelle dich unter die sogenannten moralischen und gesellschaftlichen „Ordnungen", in die du hineingeboren bist, weil du nur unter ihrer Voraussetzung zu wirken vermagst. Der Beschränkung deiner Freiheit, die so entsteht, begegne mit Humor, der siegreichsten Waffe, welche die Freiheit besitzt. Arbeite aber an deinem Teile daran, daß jene „Ordnungen" langsam besser werden; durchbrich sie aber, wenn sie dich hindern, du selbst zu sein (Satz 1) oder dem Nächsten zu dienen (Satz 2), es komme, was da mag. Halte den Stolz fest, den du jedem Mißgeschick schuldig bist! An diesen vier Sätzen „hänget das ganze Gesetz und die Propheten"; laß dich auf keine andere Morallehre ein; denn sie knechtet!

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IV

ZUR

WISSENSCHAFTSGESCHICHTE UND

KULTURPOLITIK

1 STUFEN WISSENSCHAFTLICHER

ERKENNTNIS

(1930)

Wissenschaft ist die Erkenntnis des Wirklichen zu zweckvollem Handeln. Die Wissenschaft hat ihre Stufen. Die erste, unterste Stufe besteht im Feststellen, Analysieren und im Ordnen. Bedeutende Naturforscher haben versucht, die ,,reine" Wissenschaft allein auf diese zu beschränken; aber es will nicht gelingen. Die Organisation unseres Verstandes sowohl als die sich uns aufdrängende Wirklichkeit und der Zusammenhang der Erscheinungen nötigen uns, eine zweite Stufe zu betreten. Die zweite Stufe ist bezeichnet durch die Erkenntnis des ursächlichen Zusammenhanges der Dinge. Hier handelt es sich um Zählen, Wägen und Messen, um die Erkenntnisse der Kräfte der Welt, soweit sie sich als quantitative und mechanisch wirkende darstellen. Unser Verstand ist der geborene mathematische Physiker; wie dieser abstrahiert er, rechnet er, wägt er. Zahlreiche große und kleine Gelehrte behaupten nun, in dieser Erkenntnis des Mechanismus der Welt erschöpfe sich die Wissenschaft, aber sie begründe und umschließe zugleich auch eine vollkommene und vollkommen befriedigende Weltanschauung. So sprechen sie von der „Weltanschauung des Naturforschers", meinen aber zugleich, sie sei die einzig mögliche und haltbare. Doch diese Erkenntnisweise hat ihre Grenzen. Schon die uns umgebende unbelebte Natur drängt uns eine naturgeschichtliche Betrachtung auf, die wir nicht mit den Mitteln der dem Mechanismus entsprechenden abstrahierenden Methode zu bestreiten vermögen, und leitet uns zu einer sublimen Metaphysik. Aber das ist nicht die einzige Klippe. In der Welt, die uns umgibt, beobachten wir nicht 12

Η a m a c k , Auswahl

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nur Quantitäten bzw. mechanisch wirkende Kräfte, auch nicht nur eine bunte Fülle von rätselhaften Differenzierungen dieser Kräfte, sondern uns umgibt „ L e b e n " . Wir selbst empfinden und wissen uns als ein Teil dieses „Lebens", und wir beobachten es als eine Fülle zwar bedingter, aber doch selbständiger Zentren. Für dieses Lebendige ist charakteristisch, daß es sich in Formen darstellt, daß es aus harmonischen Teilen besteht, daß das Ganze stets vor den Teilen da ist, daß jedes eine Welt für sich ist, und alles doch harmonisch ineinander greift, daß jedes sich als Geschlossenes, Letztes gibt, also als Selbstzweck, und alles sich doch gegenseitig bedingt und dabei eine aufsteigende Kette bildet. Versteht man unter reiner Wissenschaft die der zweiten, mechanistischen Stufe eigentümlichen Denkoperationen, so muß man gestehen, daß dem Leben in seinem letzten Wesen „wissenschaftlich" überhaupt nicht beizukommen ist. Aber dem Nachdenken ist das Lebendige nicht verschlossen. Das Leben zu erforschen ist die dritte Stufe der Erkenntnis ; hierin war Goethe ein Meister. In der Gegenwart gebührt Uexküll vor allem das bedeutende Verdienst, der Lebensbewegung jeder lebendigen Art nachzugehen, ihre „ W e l t " als die diesem Leben eigene Umwelt und Merkwelt zu ermitteln, ferner zu erkennen, wie die große Welt auf jede Spezies wirkt und wie sich jede in der großen Welt zurechtfindet: Jede Gattung und jedes Individuum in dieser Gattung hat seine „Merkwelt", die ihm „die W e l t " ist. Von hier aus gesehen erscheint das Leben als ein unendlich Vieles von lebendigen Kreisen, deren jeder eine Welt für sich ist. Nicht e i n e Welt steht vor uns, sondern eine Fülle von solchen. Zu ihrer Erkenntnis ist ein Fixieren, Analysieren und Ordnen nötig, wie auf der ersten Stufe, aber in höherer Betätigung, und es treten hier neue Fragen auf, die Fragen nach dem Passenden und Geeigneten, nach der Idee und nach der Richtung und dem Zweck. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Die Wissenschaft, wie ich sie als die der zweiten Stufe kurz berührt habe, kann nur so getrieben werden, wie sie heute getrieben wird, darf sich daher jedes Dreinreden verbitten und muß als Mechanik vollkommen „rein" erhalten werden. Es soll 178

ihr auch kein Gramm von Sympathie und Bewunderung entzogen werden, jeder Fortschritt ist ihr vielmehr aufs innigste zu wünschen. Allein die Täuschung soll aufhören, als umfasse sie alles Wissenswürdige und vermöge eine vollkommene Welterklärung zu bieten. Es gibt neben ihr ein Wissen von konkret Wirklichem und vom Leben, das halb bewußt, halb unbewußt von jedermann, ja von jedem lebendigen Wesen geübt wird, weil man ohne solches Wissen überhaupt nicht leben kann. Dieses Wissen vom Leben ebenso bewußt zu treiben wie die Mechanik, es im ganzen und im einzelnen zu suchen, durch dieses Wissen die Totalität der Erscheinungen nicht nuT zur durchdachten Umwelt des Menschen zu machen, sondern auch ihre Architektonik, Richtung, Ideen und Zwecke zu verstehen, ist die Aufgabe der dritten Stufe wissenschaftlicher Erkenntnis. Die vierte Stufe der Erkenntnis — der dritten sehr nahe verwandt — ist auf die Erkenntnis des Menschen gerichtet. Hier tritt uns der bewußte Geist entgegen mit seinen Ideen, Normen und Werten. Auf dieser Stufe ist die Wissenschaft von der Geschichte gegeben, die mehr ist als Entwicklung der Technik, der Zusammenschlußformen der Menschen oder ihrer Sprache, sie beginnt erst dort, wo die verpflichtende Idee von Normen und Werten aufgeleuchtet ist. In der Geschichte wirken nicht bloß Naturgesetze, in ihr ist der ideebildende, Werte und Normen aufstellende, d. h. Gesetze der Freiheit gebende Geist lebendig. Diese letzte und höchste Stufe wissenschaftlicher Erkenntnis mündet in die Philosophie ein, die selbst jedoch keine „Wissenschaft" ist. Philosophie ist eine aristokratische Betätigung und übt eine Synthese, die nicht jedermanns Sache ist. Man möge aber nicht vergessen: Nicht in dem Scheine der Fackeln quantitativ nachzuprüfender Einzelerkenntnisse hat die Menschheit ihren Weg nach aufwärts gefunden, sondern unter der Führung von Männern, die eine Zentralsonne ahnten und den Mut hatten, von der Physik zur Metaphysik, von der Historie zur Methistorie, von der Ethik ZUT Metethik vorzudringen. Es ist nicht jedermanns Sache, Philosophie zu treiben, und man muß den Stand12'

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punkt dessen respektieren, der sie f ü r die eigene Arbeit ablehnt. Aber auch wenn m a n selbst außerstande ist, sich an der Arbeit der Philosophie zu beteiligen, drängt sich doch aus der Geschichte ihr unvergleichlicher Wert auf, und m a n verehrt ein U n t e r n e h m e n , dem man sich selbst nicht gewachsen fühlt.

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2 WAS HAT DIE AN

FESTER DES

HISTORIE

ERKENNTNIS

WELTGESCHEHENS

Ein Vortrag

auf der Aarauer

ZUR ZU

DEUTUNG BIETEN?

Studentenkonferenz

(1920) Allem zuvor danke ich Ihnen f ü r Ihre freundliche Einladung; es ist mir eine Freude, zu Ihnen sprechen zu dürfen. — W a r u m treibt man überhaupt „Geschichte"; warum dürfen wir „Geschichte" treiben? Ich denke, wir stehen in der Beantwortung dieser Frage auf einem gemeinsamen Boden. Treiben wir Geschichte, u m uns zu unterhalten? Ist sie ein „Divertissement"? So dachte man häufig noch i m 18. Jahrhundert. Allein dann greife man lieber zu Novellen, Romanen und D r a m e n ; sie sind meistens viel unterhaltender als die Geschichte. Shakespeares Königsdramen ζ. B. sind interessanter als die einfache Erzählung der englischen Königsgeschichte. Oder treiben wir Geschichte, lediglich u m dem nüchternen Erkenntnistrieb in uns zu folgen? Nun, es m a g einem einzelnen unter besonderen Umständen nachgesehen werden, daß er sein ganzes Leben der Befriedigung des Erkenntnistriebes opfert, und es soll andrerseits von jedem Denkenden verlangt werden, daß er ihn auch auf dem Gebiete der Geschichte lebendig erhält. Aber wenn Geschichtskenntnis eine Aufgabe ist und sein soll, die der ganzen Menschheit gestellt ist als ein wesentlicher Teil der Erkenntnis überhaupt, so muß sie Gegenwartscharakter haben und mit unserem Handeln in engster Beziehung stehen; denn nicht u m uns zu unterhalten oder u m zu kontemplieren sind wir auf der Welt, sondern um das Ganze zu fördern und unserem Nächsten zu dienen.

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Niemand, also auch der Historiker nicht, darf sich dieser Aufgabe entziehen. Die „Geschichte" aber muß dieser Aufgabe entgegenkommen; sonst müssen wir sie lassen und uns einer anderen Tätigkeit zuwenden. Wir treiben Geschichte, nicht nur um zu erkennen, nicht nur um zu wissen, was geschehen ist, sondern um uns von der Vergangenheit zu befreien, wo sie uns zur Last geworden ist, ferner um in der Gegenwart das Richtige tun zu können, und drittens um die Zukunft umsichtig und zweckmäßig vorzubereiten. Nur dann, wenn wir durch die „Geschichte" dazu in den Stand gesetzt werden, ist ihr Recht erwiesen, sich neben die anderen großen Aufgaben stellen zu dürfen, welche der Menschheit gesetzt sind. Ich nehme an, daß dies auch Ihre Meinung ist. — Das mir von Ihnen gestellte Thema lautet: „Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten?u Ich höre aus dieser Frage — ich weiß nicht, ob mit Recht — einen Unterton des Zweifels oder deT Sorge heraus und glaube sie daher in zwei Fragen zerlegen zu müssen: 1. Hat die Historie überhaupt feste Erkenntnisse zu bieten? 2. Welches ist die Erkenntnis, die die Historie zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten vermag, und welcher Wert kommt dieser Erkenntnis zu? I Hat die Historie überhaupt feste Erkenntnisse zu bieten? Es wird das von mehr als einer Seite bestritten. Der Logiker tritt auf und sagt uns, daß man in der Geschichte niemals das Experimentum crucis machen könne; man vermöge niemals einen Faktor auszuschalten, um festzustellen, wie das Geschichtsbild und der Geschichtsverlauf ohne ihn aussehen. Der Untersuchungsrichter tritt auf und belehrt uns, daß die Konstatierung eines einfachen Tatbestandes — oft schon am nächsten Tage — trotz vieler Zeugen nicht mehr möglich ist, weil Veranlassung und Ablauf, Motiv und Verschuldung alsbald von einem dichten Nebel umflossen sind und Aussage gegen Aussage steht. Zu ihnen gesellt sich endlich der Diplomat und versichert uns mit einem feinen Lächeln, daß die ganze sogenannte „Geschichte der 182

Neuzeit" — wieviel mehr die des Mittelalters und des Altertums! — eine fable convenue sei, eine Legende, die jede politische Partei sich zu ihren Zwecken gestalte; die .wichtigsten Akten fehlen oder seien dem Historiker verschlossen, aber wenn sie auch sämtlich vorhanden und zugänglich wären, so stünde auch in den Akten nur die halbe Wirklichkeit und dazu noch viel unabsichtliche und absichtliche Unwahrheit. Wer ζ. B. heute eine Geschichte Luthers oder der Reformation schreibe, der schreibe seine Geschichte Luthers oder der Reformation, und so sei es überall. Diese Einwürfe sind sämtlich unwiderleglich, ja man kann sie noch verstärken: Unzweifelhaft ist, daß alle Geschichte um so falscher wird, je genauer man sie mit allen Umständen und Motiven erzählt — Historia quo accuratius eo falsius narratur —, und völlig berechtigt ist Goethes scheltende Klage: „Glaubst du denn von Mund zu Ohr sei ein redlicher Gewinn?" Allein andererseits können wir dem Logiker, dem Untersuchungsrichter und dem Diplomaten entgegenhalten: ,,Die Geschichte, die ihr meint, ist gar nicht die Geschichte, um die es uns zu tun ist; wir sind keine Motiverforscher, keine Herzenskündiger und keine Hilfsschreiber des Weltgerichtes; wir wollen auch nicht Geschichten hören, sondern Geschichte erkennen". Geschichten sind ein Haufe glitzernder und schillernder Steine von ganz verschiedener Härte; Geschichte aber ist ein großer herrlicher Kristall. Hier an dieser Stelle möchte ich zur Klärung der Sache auch darauf sofort hinweisen, daß zwischen „Geschichte" und „Biographie" scharf zu unterscheiden ist. Das Ziel der Geschichtsforschung ist, das subjektive Element ganz auszuschalten und einen großen Bau von strengster Objektivität zu errichten; der Biograph dagegen muß seinen Helden nacherleben können, um ihn dann aufs neue erstehen zu lassen. Diese Aufgabe nimmt alle geistigen und seelischen Kräfte in Anspruch und ist zugleich eine künstlerische; denn nur so kann das Nachschaffen gelingen. Der subjektive Charakter ist hier also nicht nur nicht ausgeschaltet, sondern gefordert; denn eine Biographie kann niemals etwas anderes sein als ein Doppelbild; sie ist immer auch Selbstbiographie des Biographen. Nur 183

eine Mehrzahl von Biographien vermag sich daher in ihrer Gesamtheit der Objektivität zu nähern. Kehren wir zur Geschichte zurück. Gibt es in ihr etwas Festes und Sicheres? Wir bejahen diese Frage unbedingt. Es gibt eine Fülle wichtigster Tatsachen, deren Wirklichkeit schlechterdings nicht bestritten werden kann. Da sind erstens die großen Ereignisse der Weltchronik, die als solche und in ihrer Aufeinanderfolge keinem Zweifel unterliegen. Von den Perserkriegen an bis zum großen Weltkrieg, den wir soeben durcherlebt haben, stehen sie in den Hauptlinien ihres Spielraumes und in ihrer Reihenfolge fest, mögen Sie an die römische Weltmonarchie, an die Völkerwanderung, an das Reich Karls des Großen, an die Reformation, den dreißigjährigen Krieg oder an viele Dutzende von gleichwertigen geschichtlichen Weltereignissen denken. W a r u m diese Tatsachen feststehen — Jahre und Tage mögen in gewissen Grenzen schwankend bleiben —, braucht hier nicht erörtert zu werden; Sie alle wissen, daß sie fest stehen, und daß man kein Wort der Widerlegung verschwenden würde, wenn jemand behaupten wollte, es habe nie eine Völkerwanderung gegeben oder die Reformation sei i m 17. Jahrhundert entstanden oder Napoleon und sein Weltreich hätten überhaupt nicht existiert. Zweitens aber besitzen wir aus allen Epochen der letzten 2500 Jahre und noch weit über sie hinaus Denkmäler. Ich verstehe u n t e r Denkmäler alle noch vorhandenen Reste aus den vergangenen Epochen, mögen sie in Bauwerken, Statuen, Inschriften, Münzen, Urkunden, Handschriften usw. bestehen. Ihre Anzahl ist unermeßlich, und bei der großen Mehrzahl von ihnen ist jeder Gedanke einer Fälschung ausgeschlossen. Die ägyptischen Pyramiden kann man so wenig fälschen wie die Ruinen der großen Bauwerke von Assur und Babylon oder den Parthenonfries oder Dantes „Göttliche Komödie". Diese oder jene Statue, diese oder jene Münze oder Inschrift kann gefälscht sein; aber die griechische Plastik kann nicht das Werk einer mittelalterlichen Fälscherbande sein, und die vielen Hunderttausende babylonischer, persischer und römischer Inschriften müssen den Epochen angehören, aus denen sie zu stammen behaupten. Welch eine Fülle reichster Erkenntnisse aber

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strömt uns aus diesen Denkmälern! Was lehrt eine ägyptische Pyramide, ein griechischer Tempel mit seinen Bildwerken, ein gotischer Dom, was die Münzen und Urkunden aller Zeiten den denkenden Beschauerl Eine Kulturepoche nach der anderen steigt aus ihnen auf, festumrissen in ihren Gedanken, in ihren Kräften und Zielen! Religiöses, öffentliches, wissenschaftliches und häusliches Leben, große und kleine Aktionen aller Art sind wiedererweckt, und die Vergangenheit stellt sich, wie wenn sie unvergangen wäre, der Gegenwart zur Seite! Drittens endlich besitzen wir für zahlreiche hinter uns liegende Epochen bis hinauf zu dem alten babylonischen Gesetzbuch die Institutionen, die sie sich geschaffen haben. Unter Institutionen verstehe ich alles, was sich in Form von Gesetzgebungen, Rechtsbüchern, Verordnungen, Verträgen, Agenden, Liturgien, Schulordnungen, wirtschaftlichen Ordnungen usw. niedergeschlagen hat- Ich sehe in diesen Institutionen die eigentlichen Früchte der geschichtlichen Entwicklung, auf die sich daher das Studium der Geschichte in erster Linie, ja nahezu ausschließlich zu richten hat. Davon wird später noch zu reden sein; hier sei nur soviel bemerkt, daß, wenn es auch bei ihnen an Fälschungen nicht gefehlt hat und dieses oder jenes einzelne noch heute unsicher ist, die Echtheit dieser Institutionen im großen und ganzen doch so unbestritten ist — nicht zum geringsten Teil, weil wir die Denkmäler besitzen —, daß eine Verteidigung der Echtheit sich mit Recht erübrigt. Das mag sich alles so verhalten, wendet man ein, allein es ist damit nicht viel gewonnen; denn wirkliche Erkenntnisse gibt es nur da, wo Gesetze erkannt werden. Wie steht es mit ihnen in der Geschichte, vermag sie Gesetze aufzustellen ? Auf diese Frage muß man zunächst erwidern, daß schon die Anschauung von Tatsachen in ihrem Nebeneinander und Nacheinander ohne jedes „propter" im höchsten Maße lehrreich ist. Aus der Anschauung des Wirklichen und seines reichen Lebens strömt eine Fülle von Eindrücken, welche Seele und Geist erweitern und vertiefen. Durch das Bilderbuch bilden wir unsere Kinder, und im Bilderbuch der Geschichte setzt sich bei den Erwachsenen dieser An185

«chauungsunterri.cht fort bis zum Ende ihres Lebens. Durch nichts anderes läßt sich dieser Unterricht ersetzen. Weiter aber, das Wesen und die Bedeutung der „Gesetze" wird oft genug überschätzt. Es ist auch in den Naturwissenschaften häufig nicht so „objektiv" mit ihnen bestellt, wie manche Naturforscher heute noch träumen. Viele „Gesetze" entpuppen sich bei schärferer Kritik nur als vorläufige Abschlüsse, als mehr oder weniger fruchtbare Forschungshypothesen oder als bedingte, nicht aber als unbedingte Gesetze. Die neue Relativitätstheorie zieht selbst den Newton'sehen Gesetzen Schranken: sie gelten nur f ü r einen bestimmten R a u m , und dieser Theorie kommen die Nachweise Spenglers entgegen, die die Subjektivität, ja die beschränkende Willkür der verschiedenen Kulturepochen in bezug auf die Erfassung des Raumes, der Größe, der Zahl und der Zeit an das Licht gestellt haben. Ferner aber entschleiern sich nicht wenige nachgewiesene Kausalbeziehungen als Tautologien, als Varianten der Aufmerksamkeit oder des sprachlichen Ausdrucks, und wenn uns manche dieser billigen Gesetze auch besser aufklären als der tiefsinnige Satz: „Weil der Wind weht, zieht e s " , so können sie doch nicht als wirkliche Bereicherungen unserer Erkenntnis gelten. Die ,, Geschichte" vermag Gesetze im strengen Sinn des Wortes nicht aufzustellen; denn, wenn sie auch, wie wir später sehen werden, zeigen kann, daß unter gewissen Bedingungen notwendig der Verfall eintreten muß und unter anderen ein Aufstieg, so wird sich diese Erkenntnis auf den tautologischen Satz zurückführen lassen, daß Kraft sich immer nur als Kraft geltend machen kann und Schwäche immer nur als Schwäche. Die „Geschichte" vermag aber deshalb nicht Gesetze aufzustellen, weil ihre Objekte nur selten gezählt, gemessen und gewogen werden können, und weil die Faktoren, auf denen sie beruht, teils zu kompliziert, teils unberechenbar sind. Niemand hat das einleuchtender deutlich gemacht als Rümelin in einer seiner ausgezeichneten Reden. Die Faktoren der Geschichte verbieten es, weil sie zu kompliziert und unberechenbar sind, auf ihrem Gebiete Gesetze aufzustellen.

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D a begegnet uns zuerst der elementare Faktor; er begreift alles, was uns in verschiedener, aber unüberwindlicher Weise umgibt und anhaftet, der Boden, das Klima, die körperliche und seelische Grundbeschaffenheit, Anlage und Charakter, Hunger und Liebe, Futterplatz und Futtermenge. So mächtig ist dieser Faktor, der sich in dem „Wirtschaftlichen" zusammenfassen läßt, daß eine große Historikerschule den gesamten Gang der Geschichte einschließlich der Ideengeschichte allein von ihm aus verstehen und als Kampf u m das wirtschaftliche Dasein nachkonstruieren zu können glaubt. Aber ein zweiter Faktor tritt uns entgegen; ich möchte ihn den kulturellen nennen. In jedem Moment der Geschichte ist die Gegenwart und ist jeder einzelne bestimmt durch das bis zu diesem Zeitpunkt angesammelte Kapital von Überlieferungen, Institutionen, Autoritäten, Erkenntnissen, Meinungen und Gewohnheiten. Der einzelne mag sich zu ihnen wie immer stellen, er bleibt doch in ihrem Bann; sie wirken mit der sanften Gewalt einer zweiten Natur; sie bestimmen schlechthin alles, ja man kann versucht sein, wie auch viele Historiker wirklich getan haben, die ganze Geschichte mit Vernachlässigung ihres elementaren Unterbaus als Geschichte der sich entfaltenden Kultur zur Darstellung zu bringen, als politische Geschichte i m weitesten Sinn des Wortes. Neben diese beiden Faktoren aber tritt als dritter das Individuum, nicht nur die großen, in die Geschichte eingreifenden Männer, nicht nur der Genius, sondern jedes Individuum." Von diesem aber hat man richtig gesagt: „Individuum est ineffabile", d. h. es umschließt ein Element in sich, das unerschöpflich ist und jeder Erklärung spottet. Das gilt nicht nur von den menschlichen Individuen; es gilt auch von dem Individuum überhaupt und von jenen nur in besonderem Maße. Nach der eigentümlichen Anlage unseres Geistes, kraft der wir genötigt sind, durch Bildung immer umfassenderer Begriffe bis zur „ E i n s " vorzudringen — eine Anlage, die uns neben heller Aufklärung, die sie bietet, unzweifelhaft auch in schwere Illusionen stürzt — fällt es uns nicht schwer, alle Erscheinungen aufsteigend zu klassifizieren und nach immer stärkeren Streichungen 187

ihrer Attribute und Eigenschaften glücklich in einem AllEinen verschwinden zu lassen, das wir je nach Zeitverhältnissen und Geschmack mit verschiedenen Namen benennen. Nun, hinauf können wir in dieser Weise wohl steigen; aber für den Abstieg fehlt uns jeder Kompaß. Wie man vom All-Einen — nenne man es nun Materie, Kraft, Energie oder bezeichne man es mit einem idealen Namen — auch nur den ersten Schritt zu tun und die erste Explikation anzugeben vermag, um in langem Abstieg zu den wirklichen Dingen zu gelangen, das entzieht sich so vollkommen unserer Kenntnis, daß sogar jede Vermutung hier aufhört. Daß es Organismen gibt, Pflanzen gibt, Rosen gibt —• schon dieses alles können wir nur als Tatsachen erkennen und vermögen über das Warum nichts auszusagen. Daß aber diese Rose mit dem besonderen Komplex ihrer Eigenschaften vor uns steht und schlechterdings, wenn man sie prüft, nicht ihresgleichen hat, ist vollends ein Ineffabile. Ebenso ist es unaussagbar und unerklärbar, warum eben dieses bestimmte Individuum in diesem Momente erscheint! Das gilt von den unbedeutenden Individuen nicht weniger als von den bedeutenden; aber nur bei diesen fällt es uns auf. Wann erscheint der Genius? Wann erscheint der große Mann? Man sagt uns, auch er sei nur ein Exponent seiner Zeit und der Verhältnisse und komme stets, wenn er kommen muß. Aber so gewiß auch der große Mann ein Kind seiner Zeit ist, so gewiß ist er größer als sie und so gewiß ist sein Erscheinen unberechenbar. Die Behauptung, er käme, wenn er kommen muß, ist ein bloßes Gerede. Wie oft ist „die Zeit erfüllt", und man erwartet ihn vergebens! Wie oft und wie heiß wird er ersehnt und er kommt rdcht\ Welche ungeheuren Wirkungen aber in der Geschichte hat sein Erscheinen zur Folge, die alle im voraus unberechenbar sind! Wie unmöglich ist es daher, Gesetze des Verlaufs der Geschichte aufzustellen. Zu dem allem kommt noch ein Doppeltes. Erstens das, was wir mit den rätselhaften Worten „Schicksal" und „Zufall" bezeichnen, haftet nicht nur an dem Individuum, es haftet auch an Tausenden von Vorgängen und durchkreuzt alle Berechnungen. Fast alle Ardässe, die latente Kräfte zur 188

Wirksamkeit bringen, ungeahnte Kombinationen erzeugen und neue gewaltige Kausalreihen eröffnen, sind f ü r uns „zufällig". Der Wind oder ein spielendes Kind oder boshafte Absicht kann einen überhängenden Stein zum Fallen bringen, u n d dieses Fallen kann gleichgültig sein oder „zufällig" das größte Unglück anrichten. So ist es auch i m Kleinen wie i m Großen des Lebens I Mögen uns auch alle Ursachen eines Geschehens klar und deutlich sein — w a r u m und wie es beginnt, w a r u m sich heute die Linien kreuzen u n d gestern nicht, das bleibt uns in der Regel verborgen. Zweitens aber, auch in denjenigen Vorgängen, die scheinbar rein gesetzmäßige sind, wie alle die, welche von dem oben genannten elementaren Faktor abhängen, zeigt sich ein unberechenbares Element; denn das Naturhafte trifft den Menschen nicht, wie es Holz u n d Stein trifft, sondern als ein lebendiges und daher reagierendes Wesen, u n d diese Reaktionen sind bei den einzelnen ganz verschieden. Ein Erdbeben, eine Hungersnot, ein Krieg usw. hat gewiß in gewissen Grundzügen f ü r alle ein und dieselbe W i r k u n g ; aber daneben treten hier in den einzelnen Individuen ganz verschiedene Folgen a u f : der eine läßt sich entmutigen und verzweifelt, der andere aber schafft aus der Not einen Chor von T u g e n d e n ; der eine wird selbstisch und feige, der andere opferfreudig und mutig. So war es in den Tagen Fichtes und Schleiermachers, so in dem Weltkriege, den wir erlebt, und so ist es immer. „Die Menschen werden nicht durch die Dinge e r r e g t , " hat schon ein griechischer Philosoph gesagt, „sondern durch ihre Auffassungen von den D i n g e n . " Das heißt doch nichts anderes, als daß jeder große Vorgang zwei Reihen von Wirkungen hervorbringt, die elementaren und die, welche im Geist und in der Seele entstehen; die letzteren sind oft genug die wichtigeren, und sie sind unberechenbar. Aber wenn es nach dem hier Ausgeführten unmöglich ist, in der Geschichte Gesetze aufzustellen, so besitzen wir doch ein ausgezeichnetes, wenn auch nicht untrügliches Mittel, u m die Fülle ihrer Erscheinungen zu ordnen, transparent zu machen und zu verstehen — das ist die Analogie. Die Analogie ist eine bestimmte Art der Induktion. Man hat sie stets in der Geschichtsschreibung geübt und

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hochgeschätzt, aber es ist Spenglers Verdienst, in seinem gedankenreichen und tiefsinnigen Werk „ D e r Untergang des Abendlandes" ihre Bedeutung kräftig ans Licht gestellt zu haben. Er hat als Erster in der Historie das hohe Lied von der Analogie gesungen, und zwar hat er zunächst gezeigt, welch eine frappierende Analogie zwischen allen geistigen und seelischen Erscheinungen einer gegebenen Epoche besteht, und sodann, wie analog in allen großen Perioden das D r a m a des Aufsteigens, der Blüte, des Verfalls und des Untergangs abläuft. Dort hat er uns belehrt, daß von der Raum-, Zeit- und Zahl-Anschauung an, aber auch vom Ornament und der Arabeske an, über die Mathematik, die Musik, die bildende Kunst, die Wissenschaft und die Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens hinweg bis zur Erfassung des Ganzen in Philosophie und Religion ein und derselbe formende, gesetzgebende und symbolisierende Geist oder Stil in jeder Epoche nachweisbar ist; hier hat er uns darauf aufmerksam gemacht, daß die Stadien des Ablaufs der geschichtlichen Prozesse in überraschendster Weise und bis ins einzelne in allen Hauptperioden dieselben sind, so daß man von „Gleichzeitigkeiten" der Abschnitte entfernter Epochen sprechen muß, da der Zeiger der Zeit in jeder Periode u m dasselbe Zifferblatt kreist. In der Tat — wie die Kinder nahezu alles, was sie vor der Schulzeit lernen, aus der Anschauung und aus Analogieschlüssen lernen, so ist es auch bei den Erwachsenen und den Männern der Wissenschaft nicht anders. Gewiß, es sind zunächst nur Vermutungen, die sich aus den Analogieschlüssen ergeben, und wie sehr man sich bei ihnen irren kann, zeigen die raschen Schlüsse der Kinder täglich und stündlich. Aber alles Lernen besteht zu einem großen Teil aus Korrekturen der Analogieschlüsse; die Vermutungen werden durch sie immer wahrscheinlicher, und sie steigern sich zuletzt zu Vermutungs-Evidenzen. Vermutungs-Evidenzen sind es, auf denen schließlich die ganze Sicherheit unserer Lebensführung und auch alles das in der Geschichtswissenschaft beruht, was man irrtümlich als Gesetze der Geschichte bezeichnet. Aber vermag der Historiker auf Grund seiner geschichtlichen Erkenntnis zu prophezeien, vermag er Prophet der

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Zukunft zu sein? Niemand hat das bestimmter und stärker bestritten als Jakob Burckhardt und jede Möglichkeit, die Zukunft vorauszusagen, abgelehnt, da es Gesetze in der Geschichte nicht gibt. Umgekehrt eröffnet Spengler sein Werk mit der Erklärung, die Historiker hätten bisher in blindem Unverständnis ihren Beruf verfehlt; er behauptet, die höchste, ja die eigentliche und einzige Aufgabe der Geschichtserkenntnis sei die Prophezeiung der Zukunft, und diese sei nicht nur annähernd möglich, sondern durchweg und ganz und gar. Diese überraschende These gewinnt Spengler eben aus seinen Nachweisungen über die Bedeutung der Analogie. Ich befinde mich diesen beiden gegensätzlichen Behauptungen gegenüber in der L a g e , ein Urteil abgeben zu müssen, bei dem mir sonst in der Regel schwül wird: die Wahrheit liegt in der Mitte; doch muß ich Burckhardt mehr recht geben. Spengler gewinnt seine frappierende Behauptung durch eine kolossale Überschätzung der Analogie, indem er allen Ernstes der Meinung ist, daß sie, wenn man nur die einzelnen Kulturkreise richtig abgrenze, einen Irrtum überhaupt nicht zulasse, und indem er für eine quantite negligeable hält, was er durch sie in der Geschichte nicht zu bezwingen vermag. Davon werde ich im zweiten Teile noch handeln; hier aber beschränke ich mich auf folgendes: der Historiker vermag seine Fackel und sein Senkblei nur a m Steuer, nicht aber an der Spitze seines Schiffes anzubringen. Die Fackel beleuchtet nur den schon durchmessenen Weg, und das Senkblei lehrt nur die Tiefen und Untiefen kennen, über die das Schiff bereits hinweg ist. Aber wie der Schiffer in der Regel sich nicht irrt, wenn er aus den letzten Beobachtungen i m Vergleich mit den früheren auf die Beschaffenheit des Weges schließt, der noch vor ihm liegt — freilich vermag eine Sandbank das Land als nahes vorzutäuschen —, so wird sich auch der Historiker bei seinen Schlüssen aus der Vergangenheit auf die Zukunft sehr oft nicht täuschen, und wie der Schiffer u m so zuverlässiger in seinen Vermutungen werden wird, je erfahrener er als Seemann ist, so wird auch der Historiker u m so sicherer in seiner Berechnung der Zukunft werden, je größer seine Geschichts- und Lebenserfahrung ist. 191

Fassen wir zusammen; auf die Frage: „Hat die Historie feste Erkenntnisse zu bieten?" antworten wir: Die Historie, bis in das graue Altertum zurückschreitend, bietet für die sich ablösenden Epochen eine Fülle gesicherter und bedeutender Tatsachen aus allen Zweigen des Lebens; sie vermag sie nicht nur als einzelne anschaulich und transparent zu machen, sondern auch vermittelst der Analogie zu einheitlichen Gruppen zu ordnen und ihre Abfolge durch Vermutungen und Vermutungs-Evidenzen zum Verständnis zu bringen. Aus diesen Vermutungen heraus vermag sie endlich auch in die Zukunft zu schauen; doch muß hier stets vorbehalten bleiben, wie bei der Vorhersagung des Wetters, daß sie sich irrt. Dort wie hier darf man aber u m des möglichen und oft genug eintretenden Irrtums willen die Prophezeiung nicht einstellen. II Welches ist die Erkenntnis, die die Historie zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten vermag und welcher Wert kommt dieser Erkenntnis zu? Damit sind wir zur Hauptfrage gelangt. Ich knüpfe hier an das an, was ich über die Institutionen bemerkt habe. Wir studieren Geschichte letztlich, u m die Institutionen kennen zu lernen. Ob es sich um Kriege, Diplomatie und Politik, ob um Kunst und Wissenschaft, ob um Kirche und Schule usw. handelt — immer muß sich unsere Geschichtsforschung darauf richten, die Ergebnisse der Entwicklungen kennen zu lernen; diese aber treten uns als Verträge, Verfassungen, Gesetzgebungen, Schullehren und -Verordnungen, Kirchenordnungen, Liturgien, Katechismen usw. entgegen. Wir gewahren aber ferner, daß schlechterdings nichts — auch der große Mann und der Genius nicht — dauernd auf die Gemeinschaft der Menschen Einfluß gewinnt, was sich nicht in Institutionen niedergeschlagen hat. Können wir eine bedeutende und erfolgreiche geschichtliche Entwicklung nicht so weit hinausführen, daß wir zu den Institutionen gelangen, die sie hervorgebracht hat, so ist diese Entwicklung entweder noch nicht abgeschlossen oder unsere Erkenntnis derselben ist noch unvollständig. So gewaltig die Wirksamkeit des einzelnen auch sein mag, und so uner192

meßlich der Einfluß von Person zu Person — auf die in gesellschaftlichen Gruppen sich darstellende Gesamtheit wirkt dauernd n u r die formgebende, zielsetzende und autoritative Institution, die geschriebene und neben ihr auch die ungeschriebene, deutlich sich aussprechende. Diese Institutionen aber drängen von selbst dazu, sie einerseits in der Aufeinanderfolge der gleichartigen, andererseits in dem Nebeneinander der gleichzeitigen zusammenzufassen und zu studieren; hieraus ergeben sich f ü r die Geschichte Längsschnitte und Querschnitte. Alsbald zeigt sich, einfach durch die bloße Zusammenordnung, Leben und Bewegung in diesen Schnitten. Die Längsschnitte lehren uns die Richtung der Bewegung sowie die Kraft oder Schwäche, die sich hier abwechselnd geltend gemacht h a b e n ; die Querschnitte lehren uns den Charakter u n d den Stil, dazu die größere oder geringere Einheit in einem gegebenen Moment. Kein anderer Historiker hat in den letzten Jahrzehnten mit solcher Virtuosität die Kunst dieser „Schnitte" geübt und sie so tiefsinnig gedeutet wie Spengler, aber auch kein anderer hat sich bei diesen Schnitten so stark vergriffen. Zwar in seinen Querschnitten und in ihrer D e u t u n g hat er Ausgezeichnetes geleistet und den Charakter und Stil einzelner Epochen in ihrer Einheitlichkeit meisterhaft zum Ausdruck gebracht, wenn es auch hier an Gewaltsamkeiten nicht fehlt und der Schnitt sich öfters von der geraden Linie allzuweit entfernt und eine Zickzacklinie darstellt. Aber seine Längsschnitte sind zu einem großen Teile willkürlich, ja unbegreiflich. Ein Beispiel: Spengler läßt mit dem Auftreten des Christentums eine neue Hauptperiode beginnen; diese soll sich aber vom 7. Jahrhundert an nicht m e h r im Christentum, sondern i m Islam fortsetzen. Dagegen soll u m das Jahr 1000 eine ganz neue Hauptperiode in Westeuropa anfangen — die Periode, in deren Verfall und Untergang wir jetzt stehen —, f ü r welche das alte Christentum n u r noch ein fortgeschleppter Ballast ist oder eine Hülle, unter deren Decke sich das Alte vollkommen transformiert hat. Daß mindestens f ü r die erste Hälfte dieser Zeit der Kirchenvater Augustin der große Lehrer gewesen und daß andererseits in der Mitte 13

H a r n a c k , Auswahl

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dieser Periode neue Kräfte sich geltend gemacht haben, sieht Spengler nicht. Dagegen sieht er im Islam die eigentliche Fortsetzung des Christentums, was nicht einmal für den Orient, obgleich er dort der Kulturträger wird, richtig ist; denn diese Kultur ist überhaupt keine selbständige, sondern die persisch-griechische. Den Gegenbeweis — Spengler hat einen Beweis hier zu geben nicht einmal versucht — kann man ruhig abwarten. Doch kehren wir zur Sache zurück. Die Längs- und Querschnitte bringen uns die Deutung der Geschichte auf der ersten Stufe. Die Längsschnitte, sagten wir, lehren uns die Richtung und die Kraft erkennen; damit aber ist Außerordentliches gewonnen; denn das ist die entscheidende Frage, in welcher Richtung man sich bewegte und welche Kraft man eingesetzt hat. Man hüte sich, vorschnell in der Geschichte nach „Richtig oder Unrichtig", „Wahr oder Falsch" zu fragen, sondern man suche vor allem nach der Richtung. Die platonische Philosophie ζ. B. oder die katholische Theologie mag in vielen oder in allen Punkten falsch sein, aber in ihrer Richtung, verglichen mit dem, was vor ihr war, besitzt sie einen unvergänglichen Wert. Blickt man überall bei geschichtlichen Entwicklungen, seien es nun politische, wissenschaftliche, künstlerische, religiöse usw., auf die Richtung, so wird nicht nur die tote Aufeinanderfolge der Erscheinungen lebendig, sondern auch deutbar und verständlich, zumal wenn man zugleich ins Auge faßt, mit welcher Kräftigkeit eine Erscheinung sich den Widerständen gegenüber geltend gemacht und wo und warum eine Richtung sich verändert hat. Es kann einfach die Zeit sein, die sie verändert, ja sie ist an und für sich der stärkste Faktor in allen Richtungsveränderungen; denn alles einzelne lebt nur in seinen Verhältnissen zu anderen, Verhältnisse aber sind dem stetigen Wechsel der Zeit unterworfen. Wie sich das Verhältnis des Kindes zum Vater immerfort ändert und zuletzt der alternde Sohn dem greisen Vater ganz nahe kommt, so ist es auch in dem Verhältnis der nebeneinander wirkenden Institutionen. Darf ich einen mathematischen Vergleich einschieben: Bezeichnen wir das ursprüngliche Verhältnis zweier Größen durch a : b und nennen den Faktor der Zeit n, so erhalten wir den neuen 194

Quotienten a - f n : b + n . Man sieht sofort, daß, auch wenn der erste Bruch ein sehr kleiner ist, der zweite der Eins nahe kommen kann, wenn η nur genügend groß ist. Eben dies aber beobachten wir in der Geschichte fort und fort: Die Institutionen verschieben sich in ihren Richtungsverhältnissen einfach deshalb, weil sie nicht gleich alt sind, und daraus entstehen ohne jedes Zutun Konflikte. Neben diesen Verschiebungen aber gewahren wir an vielen Stellen Richtungsänderungen, die durch Personen verursacht sind, die mit gewaltiger Kraft gewirkt haben. Oft war dabei ganz deutlich die neue Richtung in der Vergangenheit schon vorbereitet, aber es fehlte ihr lange Zeit hindurch an der Kraft, sich durchzusetzen. Die Geschichte zeigt uns also deutlich in ihren Längsschnitten, wieviel auf die Kraft ankommt; sie ist in ihrer Bedeutung der Richtung ebenbürtig, denn Richtungen bleiben stecken, wenn ihnen die Kraft nicht zu Hilfe kommt. Der epochemachende Mann ist immer, ja manchmal nur, der kräftige Mann. Die Querschnitte aber, indem sie uns auf Charakter und Stil einer Epoche aufmerksam machen, rufen die Eigenart der Epochen zurück und lassen das scheinbar Getrennte, Disparate und Zufällige als die Darstellung einer großen Einheit erscheinen. Griechische Staatsverfassung, griechische Mathematik, griechische Plastik, griechische Religion und Philosophie gehören zusammen, und ebenso gehören gotische Dome, mittelalterliche Scholastik, mittelalterliche Verfassung zusammen. Aus dem überschauten Reichtum des Vielen und Einzelnen heraus entwickelt sich der Sinn für die Erfassung des intensiven Reichtums des Charakters und Stilgedankens einer Epoche; er kann deutlich erfaßt und beschrieben werden. Welch eine Erkenntnis I Zugleich aber wird der Sinn erweckt, diese Einheit zu vermissen, wo sie noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist, und auf die Zersetzung und Verfall des Charakters und Stils zu achten. Somit bietet die Geschichtswissenschaft bereits auf der ersten Stufe ihrer kritisch-beschauenden Tätigkeit Großes zur Deutung des Weltgeschehens. Durch ihre Längs- und Querschnitte lehrt sie die Richtungen und Richtungsänderungen zu erkennen, Leben und Stillstand, Kraft und 13*

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Schwäche zu unterscheiden und den Charakter und Stil der Epochen zu würdigen. Gehen wir einen Schritt weiter: Alle Institutionen stammen aus Ideen; dieser Satz gilt auch dort, wo es sich u m rein wirtschaftliche Institutionen handelt. Es ist ganz undenkbar, daß jemals zwischen Himmel und Erde eine Institution getroffen worden ist, die nicht schon vorher als Idee da war. Also ist zwar alle Geschichte Institutionen-Geschichte; aber hinter dieser ragen die Ideen und die Ideen-Geschichte. D a h e r : So gewiß alles, was bloße Ideologie ist und es noch nicht zu Institutionen gebracht hat, noch nicht Geschichte ist, so gewiß ist alle Institutionen-Geschichte noch nicht durchschaut, wenn die treibenden Ideen nicht erkannt sind; die Ideen aber sind Geist. Damit sind wir auf den Geist geführt, und es ergibt sich nun, daß alle Geschichte Geistesgeschichte ist und ein inneres Geschehen zur Voraussetzung hat; der Geist aber ist Einer. Wie viel oder wie wenig wir von ihm besitzen mögen — es ist immer ein und derselbe Geist, der in allen Hervorbringungen der Geschichte und in uns waltet. Damit sind wir aber aus dem ungeheuren Leben der Geschichte auf uns selbst zurückgeführt, oder vielmehr, eine tiefe Einheit zwischen allem Geschehen und dem Wesen unseres eigenen höheren Lebens ist aufgedeckt. Man kann also den alten Satz: „ H o m o sum, nil h u m a n u m a me alienum p u t o " , auch so aussprechen: „ H o m o sum, nil historicum a me alienum puto", ja selbst dies ist noch zu wenig gesagt: Alles, was da in der Geschichte vorgegangen ist und vorgeht, das bist du selbst und es kommt nur darauf an, daß du es mit Bewußtsein ergreifst. D a r u m ist uns alles, was in der Geschichte geschieht, nicht nur viel verständlicher als die Natur und ihre Vorgänge, sondern es kann auch geradezu unser inneres Eigentum werden und vollkommen mit unserem höheren Eigenleben verschmelzen. Daher dürfen wir es auch mit unserem eigenen Erleben und unserer Lebenserfahrung durchleuchten, dessen gewiß, daß wir es aus diesem heraus in steigendem Maße verstehen werden, weil der Geist sich dem Geiste entschleiert. Das ist die Deutung der Geschichte auf der zweiten Stufe. 196

Gestatten Sie mir hier einen Exkurs. I m Lichte dessen, was wir soeben ausgeführt — wie unsäglich kümmerlich erscheint da die heute so oft ausgegebene Parole, man könne aus der Geschichte nichts lernen und müsse sich daher auf das eigene persönliche Erleben zurückziehen oder, wie die noch Leichtfertigeren sagen, man sei auf der Welt, u m sich „auszuleben". Nein, das Umgekehrte gilt: Man m u ß mit Faust sein Ich zum Ich der ganzen Welt erweitern. Dies geschieht, ich rede kühnlich, indem m a n in edlem Hunger das ganze Weltgeschehen u n d alle die großen und guten Persönlichkeiten der Geschichte in sich a u f n i m m t und zu Eingeweiden seines eigenen Wesens macht. „ W e r nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib' im Dunkeln unerfahren, mag vom Tag zum Tage leben." Nicht n u r der Mensch, der spekuliert, „ist wie ein Tier auf dürrer Heide, von einem bösen Geist i m Kreis h e r u m g e f ü h r t , und u m ihn her ist fette, grüne Weide", sondern noch m e h r der Mensch, der sich auf das eigene Erleben beschränken will. Bei diesem Karussellfahren u m das eigene Ich mag man sich ebenso eine genußreiche Reise vorspiegeln wie das Kind auf dem kreisenden Holzpferdchen; aber m a n sieht nichts Neues und kommt nicht vom Fleck. Dagegen sich durch die Geschichte innerlich zu erweitern, das gehört nicht n u r zur Bildung, sondern das ist Bildung, und harmonisch schließt sich diese Bildung an das Innenleben unseres Geistes an. Bettelarm und gebunden bleiben wir, w e n n wir uns auf uns selbst beschränk e n ; reich und freier werden wir, wenn wir in jede T ü r der Geschichte eintreten und uns in ihren weiten R ä u m e n heimisch machen. Die Erkenntnis aber, daß die Geschichte als InstitutionenGeschichte Ideen-Geschichte ist, klärt uns ferner über ein Problem auf, das häufig falsch gedeutet wird. Mit einem scheinbaren Recht stellt m a n oft „Institution" u n d „ L e b e n " scharf sich gegenüber und erklärt n u n , eben deshalb müsse man sich von der Geschichte befreien, weil sie durch ihre Institutionen die Selbständigkeit und Frische des Lebens lähme; die Institutionen seien deT eigentliche Feind der Ideen und des Lebens, u n d man werde ihrer n u r Herr, wenn man sie ignoriere oder bekämpfe. Richtig ist hier, daß

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Ideen und Institutionen in einem fortwährenden Kampfe stehen; allein sie stehen nicht deshalb in diesem Kampfe, weil sie etwas Gegensätzliches sind — die Idee etwas Lebendiges und die Institutionen etwas Totes —, sondern deshalb, weil keine Idee restlos in einer Institution aufgehen kann, und ferner, weil jede Institution die Eigentümlichkeit besitzt, sich auch dann noch zu behaupten, wenn sie ihr Existenzrecht schon eingebüßt hat. Es muß daher fortwährend ein Kampf herrschen zwischen den Ideen und einem Teil der Institutionen, und berechtigt ist somit die Abkehr von der Geschichte, wenn diese Abkehr dem Veralteten gilt; allein das ändert nichts an der Tatsache, daß die Institutionen an den Ideen ihren Ursprung haben und aus dem Geiste sind. Auch kann man Veraltetes nicht dadurch bekämpfen, daß man es ignoriert und der Geschichte den Rücken kehrt, sondern nur dadurch, daß man es aus der richtig verstandenen Geschichte heraus vernichtet. Uber den beiden Stufen der Deutung der Geschichte, die wir kennengelernt haben, erhebt sich noch eine dritte, auf der das Verständnis des Weltgeschehens erst seine Vollendung empfängt. Diese Stufe ist aber zur Zeit noch immer sehr umstritten: Es handelt sich darum, ob man der Geschichte selbst einen Wertmaßstab für ihre Hervorbringungen entnehmen kann, oder ob man als Historiker auf jede Wertschätzung verzichten muß, d. h. nur das Sein in bezug auf die Geschichte feststellen kann, aber nicht das Sollen. Eine große Schule behauptet es und sieht in den Wertschätzungen ein unreinliches Geschäft, da die Geschichtswissenschaft selbst nur Tatsächliches zu konstatieren imstande sei. Man könnte zunächst gegen diesen Standpunkt einwenden, daß, solange es Geschichtsschreiber gibt — und auch heute ist es nicht anders —, noch kein großes Geschichtswerk erschienen ist, in welchem sich der Verfasser jedes Werturteils enthalten hat. Dieses Argument ist aber nicht hinreichend beweiskräftig, da die Schwäche der Historiker daran schuld sein könnte. Nein, die Sache selbst, d. h. die Längs- und Querschnitte in der Geschichte, geben einen Wertmaßstab an die Hand, freilich nur unter einer Voraussetzung, nämlich der, daß das Leben etwas schlechthin 198

Wertvolles sei. Wer sich auf den Standpunkt stellt, daß alles, was entsteht, wert sei, daß es zu Grunde geht, mit dem läßt sich hier nicht rechten; aber dieses Wort stammt bekanntlich vom Teufel. Wer es aber zurückweist, der hat an der Erhaltung und Förderung des Lebens einen Maßstab, an dem er die Vorgänge der Geschichte zu messen und zu werten vermag. Selbstverständlich kann es sich dabei nicht u m das körperliche Leben des einzelnen handeln, sondern u m das höhere geistige Leben des Ganzen, zumal da letztlich von diesem auch das körperliche Leben des einzelnen abhängig ist; denn der Mensch ist ein „politisches Wesen". Legt man nun diesen Maßstab an, so ist offenbar, daß die Richtung auf die Erhaltung und Förderung des Lebens richtig ist und die entgegengesetzte falsch, ferner, daß, Kraft wertvoll ist und Schwäche verderblich, endlich, daß Einheit in Charakter und Stil ein Gut ist und Zerfahrenheit ein Übel. Hier haben wir den Maßstab für die wertende Deutung des Weltgeschehens, ohne bei der Religion Anleihen machen zu müssen. Weil unter gewissen Bedingungen alles zersplittert und wir selbst stückweise zerfallen, unter anderen aber das Leben erhalten wird, darum ist das eine schlecht und das andere gut. Um welche Bedingungen aber es sich hier handelt, das predigt die Geschichte unverkennbar deutlich: Lebenerhaltend ist allein die Richtung und Kraft, die den Menschen und die Menschheit „von der Gewalt befreit, die alle Wesen bindet", oder, wie es in der Bibel heißt: „vom Dienst des vergänglichen Wesens", also von der Knechtschaft des Naturhaften und des eigenen empirischen Ichs. Lebenzerstörend aber — nicht nur das Leben des Ganzen, sondern schließlich auch des einzelnen —ist die Richtung, welche das sinnliche Wohlergehen des einzelnen, damit aber auch den Kampf aller gegen alle, zum Mittelpunkt erhebt. Keinen Satz bestätigt die Geschichte in ihrem Verlaufe sicherer als das Wort Jesu, daß der, welcher nur sein Leben erhalten will, es verliert. Das Weltgeschehen zeigt, daß hinter der Richtung, welche kraftvoll über das Naturhafte und Egoistische aufstrebt, das Chaos liegt und der Tod. Zu dieser kraftvollen Richtung gehört aber auch, daß sie sich nach allen Seiten zur Einheit ausgestaltet. Sie darf 199

nicht nur eine schmale Linie bleiben, sondern sie muß, alles durchdringend und nach allen Seiten vordringend, Charakter und Stil werden und sich als Organismus auswirken. Das ist Kultur, die als solche gar nicht bestehen kann, wenn sie nicht das Naturhafte sich unterwerfend, fortwährend und alles erfassend tätig ist. Entflieht ihr das rastlose Streben, der nie ruhende Aufstieg und der Drang nach Einheit, so beginnt sie alsbald in bloßer Zivilisation zu erstarren, womit sofort der Zerfall absterbender Glieder einsetzt, bis die Barbarei eintritt, die u m so abschreckender ist, je zahlreicher die Larven und Grimassen sind, in die sie die hohen Güter besserer Tage verwandelt hat. Jede von dem Naturhaften aufsteigende Richtung, jede Kraft, jedes Ringen nach Einheit und Stil trägt seinen Lohn in sich selbst — die Erhaltung des Lebens. Und jede absteigende Richtung, jede Schwäche, jede Charakter- und Stillosigkeit trägt ihre Strafe in sich selbst — die Zersetzung, den Zerfall. Das hat zuerst Augustin aus der Weltgeschichte gelernt und diese Erkenntnis mit Menschen- und mit Engelzungen gepredigt — er, der erste wahrhaftige und große Deuter des Weltgeschehens. Er aber ist es auch gewesen, der, hellen Auges und mutig, in der christlichen Wissenschaft den Begriff des Lebens in den Mittelpunkt gerückt hat: alles Sein und Leben, wenn es nicht ein Schein-sein und Schein-leben ist, ist gut, er nennt es Gottes Werk. Man verdankt ihm noch mehr: Er hat mit überzeugender Klarheit erkannt, daß alles menschliche Streben und Tun ausschließlich und allein von der Liebe abhängt, entweder von der Liebe zu sich selber und dem Naturhaften oder von einer anderen, höhern Liebe. „Faciunt malos vel bonos mores mali vel boni amores." Er hat aber niemals gezweifelt, daß diese andere höhere Liebe die Gottesliebe sei, die der Schöpfer tief in die Menschenbrust eingesenkt habe: „Du hast uns zu dir hin geschaffen." So weit kann die Geschichtserkenntnis, wenn sie sich reinlich auf ihr Gebiet beschränkt, nicht gelangen; aber sie kommt schließlich doch dieser Erkenntnis sehr nahe; denn nach dem Ausgeführten konstatiert sie die paradoxe Tatsache, daß alles wertvolle Geschehen in der Geschichte von dem mächtigen 200

Drang zu einem höheren Aufstieg über das Naturhafte — bis zur freudigen Preisgabe des eigenen empirischen Lebens — und von der Wertschätzung eines rätselvollen „Ganzen" und „Einen" bestimmt ist, das mit leidenschaftlichem Wollen erfaßt wird. Es ist kein Zweifel — die Menschheit arbeitet in der Geschichte, „als ob Gott existiere", als ob sie, von einem höheren Ursprung herstammend, diesen in zielstrebendem Wirken wieder erreichen müßte, dabei alle ihre Glieder zu einer Einheit zusammenschließend. Die Religion ist es, die dieses Streben als Gottes- und Nächstenliebe deutet. An dem Empirischen gemessen ist dieses Streben vollkommen irrational, ein begeisterter hoher Drang zu etwas, was man nicht sieht und hört und sich als mächtiges und beglückendes Lebensgefühl geltend macht. Und zur Erkenntnis dieser großen Triebfeder der höheren Geschichtsbewegung tritt noch von einer anderen Seite eine ergänzende Beobachtung. Wir haben im Eingang des Vortrages bemerkt, daß man von der „Geschichte" die „Biographie" als eine besondere Aufgabe unterscheiden müsse. In bezug auf die Biographie aber ist zu sagen, daß das Wichtigste, was sie leistet, die Ehrfurcht vor großen und guten Personen ist, die sie in uns hervorruft. Indem sie uns Menschen kennen lehrt, die höher stehen als wir, deren Erkenntnis tiefer, deren Absichten reiner und deren Streben kraftvoller war, schließt sie uns durch ein geheimnisvolles Band mit ihnen zusammen, hebt uns zu ihnen empor und erfüllt uns zugleich ihnen gegenüber mit dem erhabenen Gefühl der Ehrfurcht. Wie aber der begeisterte Drang zum „Ganzen-Einen" irrational ist, weil höher als alle Vernunft, so ist auch diese Ehrfurcht irrational; aber nicht nUT hierin treffen sie sich, sondern auch in der Kraft, die beide besitzen, uns ganz zu erfüllen, zu reinigen und zu stärken. „Das Beste in der Geschichte," sagt Goethe, „ist der Enthusiasmus, den sie erregt." Dies Wort ist wahr, wenn unter Enthusiasmus das verstanden wird, was wir als leidenschaftlichen Drang zum Ganzen und als Ehrfurcht vor der persönlichen Erscheinung des Großen und Guten skizziert haben. Sieht man aber genauer zu, so sind es in der Geschichte nur wenige Hände, aus denen die ganze Menschheit als werdende Einheit unvergängliche 201

Gaben empfangen hat; aber jedem von uns ist auf seinem Lebenswege ein Höherer, Reinerer, Kräftigerer begegnet, an dem er sich aufgerichtet hat. Was die Geschichte zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten vermag, haben wir festzustellen versucht; es erübrigt sich, noch auf einige Fragen kurz einzugehen, die nahe mit dem Ausgeführten zusammenhängen: Gibt es einen Fortschritt in der Geschichte? Viele ernste Beobachter leugnen ihn, und Spengler glaubt sogar den Beweis gegen ihn erbracht zu haben; denn nach ihm sind die Kulturen in sich geschlossene große Kugeln oder Blasen, die langsam aufsteigen, ein M a x i m u m der Ausdehnung erreichen und dann langsam zusammenschrumpfen und vergehen. Jede ist eine Größe f ü r sich, ohne Zusammenhang mit der vorhergehenden und nachfolgenden; keiner kommt ein größerer Wahrheitsgehalt vor der anderen zu; denn die „ W a h r h e i t " ist überhaupt etwas Erträumtes, Unerreichbares, und keine besitzt ein Höheres über der anderen; denn die Menschheit bleibt immer dieselbe, und es gibt für sie kein Höheres oder Niederes. Allein, abgesehen von den Widersprüchen, in die sich Spengler verwickelt, und ohne auf die philosophische Grundfrage hier einzugehen, ist ein Doppeltes gegen ihn geltend zu machen. Erstlich ist es tatsächlich unrichtig, die Kulturen wie Perlen aufzufassen, die ohne Zusammenhang nebeneinander stehen, vielmehr quillt eine Kultur aus der anderen hervor und arbeitet mit einem großen Kapital, das sie aus der Kultur empfangen hat, die sie ablöst. Sie transformiert dieses Kapital in wundersamster Weise, aber sie wäre ohne dasselbe überhaupt nicht. Sodann läßt sich an einer Größe unzweifelhaft ein Fortschritt durch die Kulturen hindurch nachweisen, nämlich an der Wissenschaft als Naturerkenntnis und -beherrschung. Zwar will Spengler auch dies leugnen, aber umgeht im Grunde das Problem, statt deutlich Rede und Antwort zu stehen. Ist aber auf einer Linie der Fortschritt nicht zu verkennen, weil es unleugbar ist, daß von den Tagen der Ägypter und Babylonier her an dem großen Bau der Wissenschaft, der in allem Wechsel der Kulturen sich als einheitlicher darstellt, fortschreitend gearbeitet worden ist, so ist die entsetzliche Vorstellung abgetan, daß 202

in der Geschichte ein nichtswürdiger Kreislauf des Denkens und des Strebens den anderen ablöst, so daß alle Hoffnung sich auf die trostlose Aussicht reduziert, die heute zerplatzende Seifenblase werde nicht die letzte sein. Gibt es einen fortwährenden Fortschritt in der Geschichte? Gewiß nicht; wir beobachten vielmehr schwere Rückschritte, wenn sie auch manchmal nur scheinbare sind oder sich nachträglich als Anläufe zu einem weiteren Fortschritt offenbaren. Kann der Fortschritt ganz aufhören und die Menschheit wieder — über die Barbarei — auf die Naturstufe zurücksinken? Die Geschichte vermag diese Frage nicht zu beantworten. Ist die Weltgeschichte das Weltgericht? Im einzelnen und kleinen ist die Frage zu verneinen, im großen ist sie nach dem, was wir ausgeführt haben, zu bejahen; denn falsche Richtung, Schwäche und Zerfahrenheit führen sicher zum Verfall und Untergang, Aufwärtsstreben aber, Kraft und Einheit zur Sicherung des Lebens. Aber in bezug auf die Deutung und Wertung von Zeitereignissen muß sich der Historiker große Zurückhaltung auferlegen — nicht nur, weil „Gott nicht jeden Tag die Zeche macht," sondern auch vor allem deshalb, weil der Historiker selbst in der Regel von den Zeitereignissen zu sehr affiziert ist, um unparteiisch sein zu können, und weil wir oft genug nicht klar zu erkennen vermögen, ob eine Kraft, weil sie abstirbt, nicht schon zum Hemmnis geworden ist, und umgekehrt, ob ein aufstrebendes Neues bereits keine gefährliche Rebellion bedeutet, sondern als Befreiung und Erlösung zu begrüßen ist. Gereifte Lebenserfahrung vermag hier viel, ähnlich wie beim Prophezeien; aber vor Irrtümern ist sie auch nicht geschützt. — Die letzte Frage endlich: Wirkt die Beschäftigung mit der Geschichte nicht quietistisch, lahmt sie nicht das frische Handeln und Leben? Mit Nietzsche behaupten das heute viele und wenden sich von der Geschichte ab. Aber wer den hohen Orgelton des Weltgeschehens, wie er durch drei Jahrtausende rauscht, nicht vernehmen will, der muß am Glockenzug der Minute stehen, und das ist ein schlechter Tausch. Lähmend wirkt die 203

Geschichte nur dann, wenn man ihren tiefsten Inhalt nicht auf sich wirken läßt. Dieser ist, wie wir gesehen haben, in der aufwärtsstrebenden Richtung, in der Kraftentwicklung, in dem Streben nach Einheit und in ihren großen und guten Personen gegeben. Diese Mächte aber haben das eingeborene Vermögen, uns in sie hineinzuziehen und mit Leben zu erfüllen. Wahrlich: „Alles verstehen und alles verzeihen", ist nicht das letzte Wort der Geschichte, sondern ihr letztes Wort ist der begeisternde Antrieb, sich in die Reihe der Helden zu stellen und in ihrer Nachfolge und mit ihnen zu wirken. ,,Ich halte diesen Drang vergebens auf, der Tag und Nacht in meinem Busen wechselt." Wie also sollte die Geschichte lähmen? Nein, aus triebseligen und trübseligen Menschen will sie reine und hochgemutete schaffen, und noch mehr: im Blick auf die großen und guten Personen, die in die Geschichte eingegriffen haben, lernen wir, daß wir nicht völlig hilflos einem ehernen Geschick gegenüber stehen, sondern daß der wichtigste Teil unseres Schicksals in unsere eigene Hand gelegt ist. Bekennt euch also zum amor fati, d. h. nehmt das Geschick hochgemutet hin und schafft es um!

204

3 ANSPRACHEN BEI

DER

DES

EINWEIHUNG

KAISER

FÜR

DES

NEUBAUES

WILHELM-INSTITUTS

ARBEITSPHYSIOLOGIE

am 22. und 23. Oktober 1929 in Dortmund und Münster A n s p r a c h e in D o r t m u n d Meine Damen und Herren I In dieser ruhmvollen Stadt der Arbeit, in dieser schönen deutschen Stadt hat die Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften ein neues Institut eröffnen können. Es ist mir ein Bedürfnis, alle diejenigen zu begrüßen, und ihnen zu danken, die, sei es durch werktätige Teilnahme, sei es durch großes Interesse und geistige Förderung, an der Schaffung dieses Werkes geholfen haben. Es hat in kleinerer Form schon lange bestanden und die Proben geliefert, die notwendig waren; aber nun ist es wie ein Phönix nach dem Verluste des alten Leibes zu neuer, höherer Existenz auferstanden. Ich begrüße alle die, die an diesem Werke in irgendeiner Form teilgenommen haben und heute hier vertreten sind, vor allen Dingen den Herrn Reichsminister des Innern und seine Mitarbeiter. Ich begrüße die Herren Vertreter der Preußischen Ministerien, weil sie das Institut mit begründet haben. Ich begrüße aber vor allem auch diejenigen, die uns dieses schöne Gebäude geschaffen haben: den Herrn Oberbürgermeister und die Vertreter des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung dieser guten Stadt Dortmund. Ich begrüße die Vertreter der Universitätsbehörden, die von Münster zur Eröffnung des Institutes hierhergekommen sind, und den Herrn Landeshauptmann, der unser Werk fort und fort gefördert hat. Ich begrüße auch die Vertreter der Bauverwaltung und der Bauausführung, 205

und, meine Damen und Herren, was ich bis jetzt nicht genannt habe, das begrüße ich alles mit. So stark ist das Institut nach allen Seiten hin und in so vielen Körperschaften verankert, deren Vertreter zahlreich erschienen sind, daß es nicht möglich ist, sie alle zu nennen: seien Sie alle herzlichst begrüßt! Im Namen der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft spreche ich nun der Stadt Dortmund, insbesondere ihrem Herrn Oberbürgermeister und ihrer gesamten Vertretung, meinen allerherzlichsten Dank aus' für dieses große Geschenk, das sie uns gemacht hat. Lassen Sie mich nun, meine Damen und Herren, um die Bedeutung des Instituts ins rechte Licht zu stellen, in ganz kurzen Worten zwei Punkte nennen, auf die es ankommt. Die Wissenschaft hat es mit zwei großen Gesichtspunkten zu tun: erstens mit alledem, was objektiv außerhalb des Menschen liegt, damit er es erkenne, und damit er es bearbeiten und bewältigen kann, und zweitens mit dem Menschen selbst, seinen physischen und psychischen Anlagen. Dieses Institut, das wir heute seiner Zweckbestimmung übergeben, hat es nun zu tun mit dem Menschen in seiner Beziehung zur Arbeit und mit der Arbeit in Beziehung auf den Menschen. Wie Sie wissen, ist es die Aufgabe des Instituts, festzustellen, wie der Mensch durch seine Arbeit modifiziert wird: physiologisch, pathologisch, als einzelner in der Gesamtheit, und den Einfluß der Arbeit auf den Menschen. Das zu erforschen ist die Aufgabe des Instituts. Es ist uns damit eine unendliche Aufgabe gestellt. Kein einzelnes Institut kann sie bewältigen. Es gilt, die Natur und Physiologie der Arbeit im weitesten Umfang des Wortes zu studieren, ein ungeheures Gebiet mit zahlreichen Grenzgebieten, vor allem dem der Pathologie. Und die Frage erhebt sich: Was ist zu tun, nicht um Maximalleistungen, sondern Optimalleistungen bei geringster körperlicher Anstrengung zu erzeugen? Und lassen Sie mich noch etwas Allgemeines sagen: Festzustellen, was wirkl i c h ist, das ist auch hier die erste Aufgabe der Wissenschaft. Seien Sie versichert, solange ich und gewiß auch meine Nachfolger an der Spitze der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft stehen, soll immer das Entscheidende sein: festzustellen, 206

was ist w i r k l i c h , was ist t a t s ä c h l i c h , also zu trachten nach der Beseitigung des Irrtums und nach der Wahrheit. Auch hier gilt: „Alles übrige wird euch zufallen, wenn ihr die Hauptsache habt, den Wahrheitsbesitz." Das wollen wir in erster Linie erstreben, und das soll unverbrüchlich das Entscheidende sein, denn dann haben wir zugleich die sichere Aussicht, Herr der Dinge zu werden, auch auf den großen, der Arbeitsphysiologie benachbarten Gebieten, der Gewerbehygiene und der Pathologie der Arbeit. Diese Gebiete dürfen wir schon jetzt nicht aus den Augen lassen. Ich gedenke hierbei insbesondere-, des Herrn L e i p a r t , des Mannes, der uns immer wieder auf die Fragen der Arbeitshygiene im Zusammenhange mit unserem Institut aufmerksam gemacht hat. Ich kann nur wiederholen, daß wir diese Fragen nicht aus den Augen lassen werden. Wir gedenken heute herzlich dieses hochverdienten Mannes und wollen hoffen und wünschen, daß er sich vollkommen von seinem schweren Leiden erholen möge. Wir wollen die Arbeit studieren in bezug auf ihre Wirkung auf den Arbeiter, und wir wollen nichts anderes, als die Wirklichkeit der Dinge kennenlernen. In diesem Zeichen werden wir siegen, wie die Wissenschaft immer siegt, langsam und vorsichtig vorgehend, und nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tuend. Ich bin überzeugt, daß die Popularität dieses Instituts, das unter seinen beiden Direktoren schon so ausgezeichnet gearbeitet hat, mehr und mehr steigen, und daß es zu einem Edelstein werden wird im Kranze unserer Institute. A n s p r a c h e in M ü n s t e r An dem heutigen Tage der Einweihung unseres Arbeitsphysiologischen Instituts bei der Universität in Münster beginne ich mit einem Bekenntnis: N i e m a l s d a r f an dem C h a r a k t e r u n s e r e r d e u t s c h e n U n i v e r s i t ä t e n und H o c h s c h u l e n , daß sie d e m U n t e r r i c h t und der Forschung dienen sollen, etwas geändert werdenl In der Verbindung von Forschung und Unterricht ist die Eigenart der deutschen Hochschulen ausgeprägt; aber diese Eigenart, in der sich Forschung und Unterricht gegenseitig befruchten, würde vollständig aufgelöst werden, wenn diese 207

Verbindung aufgehoben würde. Man darf sich hier nicht einfach nach dem Vorbild der Universitäten in anderen Staaten richten, denn die verschiedenen Länder haben eigenartige Hochschulen, und in manchen wird das Hauptgewicht darauf gelegt, die Studierenden an die Ergebnisse der Wissenschaft heranzuführen. W i r aber wollen sie auf den Universitäten auch an die Wissenschaft selbst heranf ü h r e n und sie lehren, wie man zur Wirklichkeit und Wahrheit der Dinge gelangt, und wie man den Fortschritt der Wissenschaft befördern kann. F ü n f u n d f ü n f z i g Jahre hindurch bin ich an der Universität in diesem Sinne tätig. Wie kann man meinen, daß ich jemals etwas t u n würde, u m den Forschungscharakter der Hochschulen zu beeinträchtigen ! Aber wenn dem so ist, was bedarf es besonderer Forschungsinstitute neben den Universitäten und Technischen Hochschulen? Die Frage ist öfters an mich gerichtet worden und wird mir auch heute noch gestellt. Ich könnte sie einfach mit dem Hinweis darauf beantworten, daß W i l h e l m v o n H u m b o l d t , der Neuschöpfer der Preußischen Universitäten, es gewesen ist, der auch zuerst große wissenschaftliche Forschungsinstitute neben den Universitäten und Akademien verlangt hat. Aber ich will lieber aus der Sache heraus Antwort geben. Große wissenschaftliche Forschungsinstitute sind aus den triftigsten Grüden nötig: 1. Weil es bedeutende Gelehrte gibt, die Gott aus Gnaden zu ausgezeichneten Forschern, aber in seinem Zorn zu Lehrern gemacht h a t ; sie m u ß man vom Unterricht befreien und ganz an die Forschung binden. 2. Weil es gewisse Forschungsgebiete gibt — Zwischengebiete, werdende Forschungen, theoretischpraktische Forschungen usw. — die auf den Universitäten nicht vertreten sind und ihnen nicht leicht angegliedert werden können. 3. Weil es große Forschungsgebiete gibt, die so kostspielig sind, daß man sie kaum an e i n e r Hochschule betreiben kann, geschweige denn an mehreren. 4. Weil es Forschungsgebiete gibt, auf denen der Forscher ununterbrochen und ohne Nebenzwecke (wie der Unterrichtszweck) tätig sein m u ß . 5. Weil man — und das halte ich f ü r einen besonders wichtigen Grund — durch die einzelnen Forschungsgebiete die Interessierten in dem weiten 208

Kreise des Bürgertums gewinnen, ihre intellektuelle, werktätige und finanzielle Teilnahme an der Wissenschaft sich sichern und so die Wissenschaft in den verschiedenen Schichten des Volkes verankern kann. I n diesem Sinn hat die Kaiser Wilhelm-Gesellschaft ihre Institute — es sind jetzt 32 — gegründet; ihre Absichten hat sie verwirklichen können, soweit die Unendlichkeit der Aufgabe es zuläßt. Den Hochschulen u n d Akademien gegenüber, die die Gesamtwissenschaft repräsentieren, sind unsere Institute „Hilfsinstitute" und wollen nichts anderes sein; an und f ü r sich aber sind sie die einzigen Stätten, in denen die Regierungen, die Wissenschaft und das deutsche Volk ohne Ansehen der Parteien in Frieden zusammen wirken, u m dem Fortschritt, der Forschung und dem Vaterlande zu dienen. Und n u n noch ein persönliches W o r t : Gern würde ich jedes einzelne Stadium der Verwaltung und Entwicklung jedes einzelnen der 32 Institute persönlich begleiten, jede Kuratorialsitzung mitmachen, von jeder Einzelfrage Kenntnis n e h m e n ; aber Sie werden freundlichst zugestehen, daß mir das an sich und bei meinem vorgerückten Alter unmöglich ist. Seien Sie aber versichert, daß der Generaldirektor Glum und die anderen Geschäftsführer, welche die Gesellschaft entsendet, nicht n u r mein vollstes Vertrauen genießen, sondern daß auch stets alle Hauptfragen f ü r jedes Institut von uns eingehend besprochen werden, und wir e i n Herz 'und e i n e Seele sind. Also schenken auch Sie ihnen vollstes Vertrauen I Und n u n übernehme ich mit ehrerbietigem und herzlichem Dank gegenüber der Stadt das Gebäude, das Sie, H e r r Oberbürgermeister, i m Namen der Stadt uns zur Verfügung gestellt haben, und danke gleichzeitig ehrerbietig und herzlich Euer Magnifizenz und der Universität, die uns den Anschluß an sie vergönnt haben. Möge das Dortmund-Münstersche Arbeitsphysiologische Institut unter dem Schutze der beiden Städte und der Universität ersprießliche Arbeit leisten zum Wohle des Vaterlandes.

14

H a r n a c k . Auswahl

209

D I E T R I C H BONHOEFFER Gedächtnisrede auf Adolf v. Harnack (15. Juni 1930) Tausende von jungen Theologen blicken in dieser Stunde mit mir zurück auf ihren großen Lehrer. Heute kommt sein Vermächtnis an uns, und im starken Bewußtsein der Verantwortlichkeit treten wir stolz dies Vermächtnis an. Damit richten sich unsere Augen auf die Zukunft, auf das, was Adolf v. Harnack der jüngsten Theologengeneration bleibt. Fast zwei Menschenalter trennen uns von ihm, dessen eigentlichste Schüler selbst schon wieder unsere Lehrer geworden sind. Wir kennen ihn nur als den greisen Meister, auf dessen Urteil die gesamte kulturelle Welt aufmerksam hörte, der jeden, wem auch immer er begegnete, zur Ehrfurcht zwang vor einem Leben, das im Geist und im Kampf um die Wahrheit geführt wurde, der, wo auch immer er hinkam, eine Welt mit sich brachte, mit der in Berührung zu kommen für jeden einen unauslöschlich tiefen Eindruck bedeuten mußte. Wir jungen Theologen, denen es vergönnt war, von der Welt, die diese Persönlichkeit umschloß, etwas zu ahnen, wissen dies als etwas Großes zu würdigen, das uns vor all denen, für die diese Welt eine vergangene bleibt, auszeichnet. Er wurde unser Lehrer. Er kam uns nahe, wie ein echter Lehrer dem Schüler nahekommt. Er trat uns fragend an die Seite und in überlegenem Urteil gegenüber. Die Stunden der ernsten Arbeit an der alten Kirchengeschichte, zu denen er uns in den letzten Jahren in seinem Hause versammelte, ließen uns ihn erkennen in seinem unbeirrbaren Streben nach Wahrheit und Klarheit. Dem Geiste seines Seminars war die bloße Redensart fremd. Es mußte um jeden Preis klar zugehen. Das schloß nicht aus, daß Fragen innerlichster und persönlichster Art hier Raum fanden und in ihm einen immer bereiten Hörer und Beantworter erwarten durften, dem es um nichts als um die Wahrhaftigkeit der Antwort ging. Aber es wurde uns an ihm deutlich, daß Wahrheit nur aus Freiheit geboren wird. Wir sahen in ihm den Vorkämpfer des freien Ausdrucks einmal erkannter Wahrheit, der sein freies Urteil je und je neu bildete und es ungeachtet der ängstlichen Gebundenheit der vielen je wieder deutlich zum Ausdruck brachte. Das machte ihn zum Feind aller unechten Bildung in der Wissenschaft, aller festge210

legten Engherzigkeit. Es überhob ihn der Frage nach Gesinnungstüchtigkeit, wo er Taten und Menschen sah, und es machte ihn, wovon wir insbesondere reden können, zum Freund aller Jugend, die ihrer Meinung freien Ausdruck gab, wie er es von ihr wollte. Und sprach er sich einmal besorgt aus, oder warnte er i m Hinblick auf jüngste Entwicklungen in unserer Wissenschaft, so hatte das seinen Grund ausschließlich in seiner Befürchtung, es möchte die Meinung der anderen vielleicht gefährdet sein, Sachfremdes mit dem reinen Streben nach Wahrheit zu vermengen. Weil wir aber wußten, daß wir bei i h m in gütigen und besorgten Händen waren, darum sahen wir in i h m gleichsam eine Schutzwehr gegen alle Verflachung und Verödung, gegen alle Schematisierung geistigen Lebens. Aber Adolf v. Harnack — und das war uns das Größte — war Theologe, bewußter Theologe, und wir glaubten n u r von hier aus ihn ganz verstehen zu können. Und darum soll das auch in diesem Kreise noch einmal deutlich gesagt werden. Er war Theologe, das heißt zunächst nicht, daß er seine Dogmengeschichte schrieb. Theologie heißt Rede von Gott. U m nichts Geringeres geht es irgendwie in der Arbeit jedes Theologen. I n Harnack, dem Theologen, sahen wir die Einheit der Welt seines Geistes beschlossen; hier fanden Wahrheit und Freiheit ihre echte Bindung, ohne die sie zur Willkür würden. Es entsprach seiner Art, hier n u r wenig zu sagen, lieber viele Worte zu wenig, als in diesen Dingen ein Wort zuviel. Hier m u ß t e alles ganz wahrhaftig und ganz einfach zugehen. Aber das Wenige, was er sagte, im Seminar oder lieber noch draußen im Freien, im Grunewald, wo er Sommer f ü r Sommer älteste und jüngste Schüler u m sich versammelte, hat uns genügt. Er meinte, daß im heiligen Geiste des Christentums aller Zeitgeist seine Bestimmung fände, und daß die Botschaft von dem Vatergott und dem Menschenkind ewiges Recht und somit Recht auch auf uns habe. Hier liegt Adolf v. Harnacks Vermächtnis an uns: echte Freiheit des Forschens, des Schaffens und des Lebens und tiefstes Gehalten- und Gebundensein durch den ewigen Grund alles Denkens und Lebens überhaupt. Ich meine, daß es in seinem Sinne geschieht, wenn ich mit einem Worte schließe, das i h m selbst ein Lieblingswort war, und das er jetzt vor einem Jahre bei einem Sommerausflug seinem alten Seminar als letztes Wort mitgab: Non potest non laetari, qui sperat in D o m i n u m . 14*

211

QUELLENNACHWEIS Adolf v. Harnacks Reden und Aufsätze umfassen folgende Bände, die alle bei A. Töpelmann in Gießen erschienen. Reden und Aufsätze.

2 Bände. 2. Aufl. 1906.

[Hieraus entnommen die N u m m e r n : II, 1 , 2 , 5 . ] Neue Folge: 1 . 2 . A u s W i s s e n s c h a f t u n d L e b e n . 2 Bände 1911. [Hieraus entnommen die N u m m e r : III, 1.] 3. A u s d e r F r i e d e n s - u n d K r i e g s a r b e i t .

1916.

[Hieraus entnommen die N u m m e r : II, 4.] 4. E r f o r s c h t e s u n d E r l e b t e s .

1923.

[Hieraus entnommen die N u m m e r n : II, 5, I I I , 2. 3. IV, 2.] 5. A u s d e r W e r k s t a t t d e s V o l l e n d e t e n . 1950. [Hieraus entnommen die N u m m e r n : I, 1. 2. II, 6. III, 4. 5. IV, 1. 3.] Die Ansprache Dietrich Bonhoeffers wurde dem Privatdruck „Adolf v. Harnack zum Gedächtnis" entnommen, den die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Jahre 1930 nach Adolf v. Harnacks Tode veröffentlichte. Er enthält die bei der Trauerfeier gehaltenen Reden.

212

Ägnee Don Zabn=Harnacft

Äöolf oon Hamach Zweite,

verbesserte

Auflage

Oktav. Mit einer Abbildung. VIII, 453 Seiten. 1951. Ganzleinen D M 16,80

«Dieses bedeutende Buch einer bedeutenden Tochter über ihren bedeutenden Vater - zuerst vor 15 Jahren in der vom Geiste entferntesten deutschen Geschichtsepoche herausgebracht - begrüßt man bei seinem Wiedererscheinen mit Dank und Freude. Diese Biographie Adolf von Harnacks ist ein kostbares Geschenk für jeden, der sich dem geistigen Menschen und seiner Welt verbunden fühlt. Das Bild eines deutschen Gelehrten, der auf Grund seiner Lebensleistung höchste akademische und staatliche Ehren empfing, ersteht von neuem mit seinen inneren und äußeren Kämpfen und Erfolgen. Der viel umstrittene, zu neuen Betrachtungen und Einsichten weisende Theologe und Kirchenhistoriker, der gelehrte Generaldirektor der Preußischen Bibliothek, der kluge und warmherzige Leiter des Evangelisch-Sozialen Kongresses und der hochverdiente Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften jedenfalls ist eine Erscheinung jener Zeit gewesen, deren Spuren auch in unseren Tagen nicht vergangen sind. Aus dem ungemein farbigen Bild mit seinem Stück Zeitgeschichte heben sich zahlreiche Details heraus, die den Menschen und Gelehrten Adolf von Harnack, seine großen und kleinen Zeitgenossen, seine berühmten Freunde und seine hochgebildete Familie lebendig erstehen lassen. Besonders ernst und liebevoll schildert die Tochter den großen religiösen Kampf ihres Vaters, der sich um der Wahrheit willen aus überkommenen dogmatischen Vorstellungen lösen mußte und trotzdem ein gläubiger Christ und treuer Sohn der evangelischen Kirche blieb. Die Grabinschrift auf dem alten Matthäikirchhof in Berlin, das alte Kirchengebet: Veni creator spiritus - Komm, Schöpfer Geist - ist das große Leitwort gewesen, unter dem Adolf von Harnack sein Leben und Werk geführt hat. Das Buch von Agnes von Zahn-Harnack ist der Größe der Aufgabe, ein solches Leben und Werk der Nachwelt zu übermitteln, in jeder Hinsicht gewachsen."

dpa

W a l t e r Öe G r u « t e r & C o . / B e r l i n W 35

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Aus der Friedens- und Kriegsarbeit Groß-Oktav. VIII, 373 Seiten. 1916. DM 3,60, gebunden DM 4,60 '

Erforschtes und Erlebtes Groß-Oktav. VIII, 418 Seiten. 1923 DM 3,60, gebunden DM 4,60

Aus der Werkstatt des Vollendeten Als Ahschluß seiner Reden und Aufsätze herausgegeben von Axel von Harnack Groß-Oktav. Mit 2 Bildnissen, VIII, 293 Seiten. 1930 DM 3,60, gebunden DM 4,60

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