Aus der alten Geschichte: Darstellungen [Reprint 2019 ed.] 9783486751208, 9783486751192


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Table of contents :
Inhalt
Die Hellenen und das Volk Israel
Die Wirkung der Perserkriege
Athen zur Zeit des Perikles
Die Umgestaltung der Weltverhältnisse durch Alexander den Großen
Roms Bedeutung
Die Grundlagen des römischen Staatsgebäubes
Weltverkehr und Wirtschaft seit dem Zeitalter der panischen Kriege
Gajirs Julius Cäsar und sein Werk
Leben und Staatswesen der ersten Zeit des römischen Kaiserreiches
Der Eintritt des Christentums in die römische Welt
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Aus der alten Geschichte: Darstellungen [Reprint 2019 ed.]
 9783486751208, 9783486751192

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Der Dreiturmbücherei N r. 7

Herausgeber: Jakob Brummer, München

und Ludwig Hasenelever, Würzburg

Lesender Mann.

Von einem Marmorrelief (Paris, Münzkabinett).

Aus der alten Geschichte Darstellungen

gesammelt von

Max Mühl

München und Berlin 1925 Druck und Verlag von R. Oldenbourg

Vorwort Bei der Auswahl der geschichtlichen Darstellungen war es meine Abficht, dem Benützer des Büchleins durch Heraushebung der be­ deutungsvollsten Zeitabschnitte einen allgemeinen Überblick über die geschichtliche Entwicklung der beiden klassischen Völker des Altertums ju vermitteln. Dabei soll dem Leser immer wieder die welthistorische Bedeutung, die über die Jahrtausende fich erstreckende Fernwirkung der Antike stark und kraftvoll vor Augen treten. Neben neueren Autoren wollte ich auch die älteren zu Worte kommen lassen; sie zu höre« wird immerdar Freude und Gewinn bringen. Bon den einzelnen Abschnitten erläutert der erste in einer tiefgründigen Darlegung von Ernst Curtius die Wesensart des hellenischen Genius. Über die weltgeschichtliche Tragweite des Ringens zwischen Griechentum und Perfektum lassen wir uns von Eduard Meyer belehren. Das Aufblühen der hellenischen Kultur zur Zeit des Perikles schildert in feinsinnigen Bemerkungen der große Philolog Karl Otfried Müller. Aus dem klassischen Werke Droysens erfahren wir weiterhin, welch gewaltige politische und kulturelle Umgestaltung die damalige Welt durch den Eroberungszug Alexanders des Großen erfuhr. Eine Einführung in die römische Geschichte gibt sodann ein Kapitel aus den Vorlesungen G. B. Niebuhrs; er sagt uns hier auch, was Rom für die Welt bedeutet. Mit der ihm eigenen wunderbaren Gabe der Einfühlung in das Wesen fremder Völker erschließt der Dichterphilosoph I. G. Herder die Grundlagen des römischen Staatsgebäudes und veranschaulicht in lichtvoller Darstellung das Wesen des römischen Geistes. Der folgende Abschnitt, aus der Feder eines bedeutenden neueren For­ schers stammend, klärt über die Vorgänge der Agrarrevolution unter Tiberius Gracchus auf, der folgenschwersten innerpolitischen Er­ scheinung der römischen Geschichte. Daran reiht sich die ungemein reizvolle, meisterhafte Charakteristik des Imperators Cäsar von Theodor Mommsen. Die Größe Cäsars und seines Werkes, das den Übergang von der republikanischen zur monarchischen Staats­ form darstellt, ersteht hier in aller Lebendigkeit vor unserem gei-

siigen Auge. Ein Abschnitt aus der Weltgeschichte Schlossers, die für uns Deutsche immer ein klassisches Werk bleiben wird, unter­ richtet den Leser in anregender, packender Form über das politische und kulturelle Leben der ersten römischen Kaiserzeit. Das letzte Kapitel vorliegender Sammlung zeigt das Aufkommen des Christen­ tums, jener Erscheinung, die den Untergang der antiken Welt mit herbeiführen half und dem künftigen Weltgeschehen ein neues Ge­ präge verlieh. Möge dieses Bändchen in weitere und weiteste Kreise Ein­ gang finden und zu eingehenderem Studium der griechischen und römischen Geschichte anregen! Denn es ist nun einmal so, daß die Kenntnis gerade der alten Geschichte die notwendige und unum­ gängliche Voraussetzung bildet zu einem tieferen Verständnis aller folgenden Zeitepochen. Das Altertum hat die geschichtlichen Grund­ lagen zum heutigen Europa geschaffen, und die Antike ist es, in der unsere gesamte europäische Kultur ihren gemeinsamen Boden findet.

Würzburg. Dr. Max Mühl.

Inhalt Seite

....

9

Die Wirkung der Perserkriege, von Eduard Meyer.........................

20

Athen zur Zeit des Perikles, von Karl Otfried Müller.................

24

Die Umgestaltung der Weltverhältnisse durch Alexander den Großen, von Johann Gustav Droysen......................................................

32

Roms Bedeutung, von Barthold Georg Niebuhr.........................

46

Die Grundlagen des römischen Staatsgebäudes, von Johann Gott­ fried Herder....................................................................................

51

Weltverkehr und Wirtschaft seit dem Zeitalter der punischen Kriege. Die agrarische Reform des Tiberius Gracchus, von Karl Johannes Neumann.......................................................................

59

Gajus Julius Cäsar und sein Werk, von Theodor Mommsen . .

67

Leben und Staatswesen der ersten Zeit des römischen Kaiserreiches, von C. F. Schlosser.......................................................................

78

Der Eintritt des Christentums in die römische Welt, von Leopold von Ranke........................................................................................

91

Die Hellenen und das Volk Israel, von Ernst Curtius

Die Hellenen und das Volk Israel Ernst Curtius (Gesammelte Reden und Vorträge, Baad II.)

Das Leben ist ein Kampfplatz von Gegensätzen, und wie der einjelne Mensch in diesem Kampfe reift, indem er die Widersprüche, in deren Mitte er gestellt ist, auszugleichen und durch Überwindung derselben zu einer harmonischen Einheit der Persönlichkeit vorzu­ dringen sucht, so beruht auch der Fortschritt des Menschengeschlechts darauf, daß die Gegensätze, welche sich in der Dölkergeschichte aus­ gebildet haben, in eine höhere Einheit aufgehen. Diese Gegensätze sind verschiedener Art. In alten und neuen Zeiten hat sich ein Volk über das andere erhoben und seinen Nach­ barn gegenüber den Anspruch geltend gemacht, eine auserwählte Nation zu sein; aus religiöser Beschränktheit wagen noch heute die am wenigsten entwickelten Völker des Morgenlandes alle nicht zu ihnen Gehörigen als die Unreinen zu verachten. Berechtigt aber waren nur zwei Völker der Erde, sich der Menschheit gegenüber als etwas ganz Besonderes zu fühlen, das Volk, welches inmitten einer von Götzendienst erfüllten Welt die reine Anschauung Gottes hatte, und das Volk, welches eine so reiche und eigentümliche Bildung bei sich entwickelt hat, daß es alle anderen Völker als Nicht-Hellenen oder Barbaren ansehe» und geringschätzen durfte. Bei beiden Völkern war es ei» geistiger Besitz, der ihnen das stolze Selbstgefühl gab; beide waren kleine Völker, verschwindende Minoritäten unter der Masse der umwohnenden Nationen. Für beide war das spröde und vornehme Verhalten gegen das Ausland notwendig, weil sie in der Abwehr des Fremden und der Ver­ teidigung ihrer Eigenart ihrer selbst bewußt und stark geworden sind. Beide haben in ihrer Absonderung etwas zustande gebracht, das an innerer Bedeutung über ihre nationale Selbständigkeit weit hinausreicht; beide haben uns ein Erbe hinterlassen von solchem Wert, daß sich noch heute die Völker danach unterscheiden, wie weit es ihnen gelungen ist, dasselbe sich anzueignen, einen Schatz für die Menschheit, welcher verschüttet, vergessen, als abgetan

weggeworfen, aber immer wieder hervorgezogen ist und immer neue Lebens- und Segenskraft bewährt hat. So weit die Ähnlichkeit zwischen den beiden Völker» und ihren Errungenschaften; sonst find beide so verschiedenartig wie möglich. Bei dem einen war es eine Idee, welche das ganze Leben beherrschte, ein Mittelpunkt, um den fich alles sammelte, ein Gut, ein Kleinod, und alle Kräfte waren mit fanatischer Konzentration dem einen Zwecke gewidmet, die Flamme des reinen Gottes­ dienstes zu erhalten. Die Eigenart -es andern Volks bestand da­ gegen in der vollen Entfaltung aller menschlichen Anlagen und in der fröhliche» Mannigfaltigkeit geistiger Güter, welche fle vor der Einseitigkeit der anderen Nationen voraus hatten. Israels Geschichte beginnt von einem engen Kreise, von einem Nomadenstamm in abgelegenem Berglande, von der Familie eines Hirtenfürsten, dessen Haus fich allmählich zu einem Volke erweitert, das von der Hand seines Gottes geleitet, gesegnet, ge­ züchtigt und immer wieder auf seine besondere Mission hinge­ wiesen wird. Die Hellenen dagegen finden wir in einer zu regem Völkerverkehr vorzugsweise geeigneten Insel- und Küstenwelt von Anfang als ein weit verzweigtes Menschengeschlecht, stch selbst und seinem angebornen Bildungstriebe überlassen, und erst, nachdem fle aus freier Selbstbestimmung diesen Trieb entfaltet hatte», lernten fle allmählich, im Gegensatze zu de» Nicht-Hellenen, stch als ein Volk fühlen. Früher liebte man es freilich, die Hellenen wie das Volk Israel von Anfang an als ein isoliertes sich zu denken und ihre Kultur als eine ganz aus eigenem Samen erwachsene. Nun ist aber immer deutlicher geworden, daß Griechen seit ältester Zeit im Nil­ lande gewohnt haben und Phönizier mitte» in Hellas. Unter diesen Verhältnissen ist das arische Volkstum, das den Kern bildete, wesentlich verändert, nicht nur in seiner äußeren Kultur, sondern auch in fernem innern Leben, indem der Dienst der pantheistischen Naturgöttin Asiens unter vielerlei Namen das Land der Hellenen erfüllte. Nur die Sprache blieb rein, und in ihr liegt der Keim des Nationalgefühls, das sich den Menschen unverständlicher Zunge, den Welschredenden oder Barbaren, gegenüberstellte. In Sitte und Religion kommt aber erst mit dem Apollodienste ein hellenisches Bolksbewußtsein zustande. Auch Apollo» ist kein Eingeborener; man kann die Wege nach­ weisen, auf denen er von Osten herüberkam, die Landungsplätze, IO

wo seine ersten Altäre glühten. Auch er verband beide Gestade. Aber erst im diesseitigen Kontinent hat er seine wahre Gestalt gewonnen, und kraft der mit seinem Dienst verbundenen Ideen sind die Stämme der Hellenen wie ihre Götter zu einer Familie geordnet. Der wüsten Vielgötterei wird diejenige Einheit gegeben, welche jeder Religion unentbehrlich ist. Der Gott des Lichts fordert Selbsterkenntnis, der reine Gott nicht nur äußerliche Reinheit, son­ dern ein reines Herr, ohne welches jede Opfergabe wertlos ist; er ver­ langt Jucht und Ordnung des Gemeinwesens wie des Einzellebens. So entwickelt sich aus der Apolloreligion ein ethisches Ideal, der Ausdruck eines geläuterten Dolksbewußtseins. Sie wurde der befruchtende Quell, unter dessen Einfluß sich alles entwickelte, was wir an hellenischen Lugende« und Künsten hochhalten, und es bildete sich eine Gemeinschaft, welche nicht auf der Abstammung allein und der Sprache beruhte, ein engerer Kreis, von dem sich ganze Massen ursprünglich stammverwandter Völker in Mazedonien, in Epirus und im Acheloostale ablösten und zu Barbaren wurden, ein Kreis, dessen Zentrum aus dem breiten Hochlande in die süd­ lichen Halbinselläader verlegt wurde. An Stelle des Olympos, wo sich der hellenische Götterkreis gestaltet hatte, wurde der Parnaß der heilige Berg und Delphi der Herd, um welchen sich die edleren Stämme als eine ausgewählte Hausgenossenschaft sammelten. Wie die Propheten des alten Bundes berufen waren, den idealen Besitz des Volks in lebendigem Bewußtsein zu erhalten, so haben die Priester und Seher von Delphi in Religion, Kunst und Sitte das hellenische Wesen zum Ausdruck gebracht, und von hier ist der den homerischen Gedichten noch fremde Gegensatz zwischen Hellenen und Barbaren in das Dolksbewußtsein getreten. Die delphische Priesterschaft war aber weder geeignet noch ge­ sonnen, diese ideale Rationalität mit festen Schranken zu um­ geben; ihr waren die Huldigungen willkommen, welche das Aus­ land dem delphischen Gotte darbrachte. Daher ihre Sympathien für die goldreichen Könige von Phrygien und Lydien, und ihre flaue Stimmung, als die Achämeniden Hellas zu einem persischen Vasellenlande machen wollten. Der Gedanke, daß der geistige Besitz nur auf dem Grunde politischer Unabhängigkeit gehütet werden könne, ging vom Volke aus, und damit hörte Delphi auf, der Hüter der Nationalität, der Vertreter des Gegensatzes gegen die Barbaren zu sein; an

Stelle des Heiligtums traten die Bürgergemeinden, an Stelle der Priester und Propheten die Staatsmänner von Athen. Athen war trotz Delphi der Vorkämpfer geworden, und da man erst während des Kampfes dessen, wofür man kämpfte, recht bewußt wurde, so schloß sich nun um Athen wiederum ein engeres Griechenland zusammen; Böotien, Lokris fielen ab, der Peloponnes trat zurück und schließlich war, was im vollen Sinne Hellas ge­ nannt werden konnte, wesentlich auf die eine Stadt beschränkt. Der Gegensatz war schärfer als je zuvor; unversöhnlicher Haß zwischen Hellenen und Barbaren, Urfehde auf ewige Zeit, wie zwischen Iran und Turan, zwischen Israel und den umwohnenden Heiden, war der Wahlspruch der nationalen Partei, und zwar nicht aus schrankenloser Rauflust oder Eroberungssucht, sondern weil in dem Kampfe alle Tugenden der Hellenen zur vollen Ent­ wicklung kamen und eine ununterbrochene Anspannung not­ wendig schien, um das Volk gesund, opferfteudig, stark und einig zu erhalten. Und in der Tat, nach dem kurzen Sonnenblick der perikleischen Friedensjahre trat der blutige Parteihader mit allen seinen ent­ sittlichenden Wirkungen ein; die besten Bürger zogen sich von dem entarteten Gemeinwesen zurück, in dem sie nicht mehr den Ausdruck ihres Volkstums erkennen konnten, und das wahre Hellenentum erschien nun wieder wie ein idealer Besitz, der nicht mehr an Stadt und Volk gebunden war; Epaminondas suchte schon ein solches, von örtlicher Gebundenheit fteies, allgemeines Hellenen­ tum zu verwirklichen, und Jsokrates rechnete es den Hellenen zur Ehre, daß ihr Name nicht sowohl einen Volksstamm als Bildung und edle Sitte bezeichne. Zm Gefühle seiner Unselbständigkeit, an Hilfsmitteln erschöpft, suchte Hellas wieder Anschluß bei den Völkern des Nordens, die es früher auetzesondert hatte, so daß bei dem neuen Seebunde, den Athen aufrichtete, auch die „Barbaren, welche den Kontinent be­ wohnen" (so heißt es in der Bundesurkunde von 378 v. Chr.), zur Teilnahme aufgefordert wurden. Als aber unter den Fürsten des Nordens einer austrat, welcher zum Anschluß bereit war, aber nicht als dienstwilliger Bundesgenosse sondern als übermächtiger Kriegsherr, da gelang es Demosthenes noch einmal, de» alten Barbarenhaß zu entflamme», und sein Verdienst ist es, daß sich das Volk noch einmal ermannt und daß die Geschichte der unab­ hängigen Hellenen mit einem Heldenkampfe abschließt.

Während dieser Kämpfe war Aristoteles mit dem Königssohn in den schattigen Laubgängen von Mieza auf und nieder gewandelt und hatte ihn gelehrt, daß die Hellenen berufen seien, alle Völker der Erde ju beherrschen; er hatte die feurige Seele seines Schülers entjündet, mit frischer Kraft den alten Kampf wider die Barbaren aufjunehmen. Nachdem also die hellenische Bildung sich in immer engere Kreise jusammengezogen und zuletzt in Athen eine Blüte entfaltet hatte, die mit ihrem Duft die Menschheit erfüllte, war nun die Frucht gezeitigt, und Alexander zog wie ein neuer Triptolemos aus, um den Samen über die Länder des Morgens auszustreuen, dieselben Länder, von denen einst die ersten Keime der Bildung nach Europa verpflanzt waren. Das ist in kurzem Umriß die Geschichte einer Idee, welche das Volk der Hellenen beseelt hat. Er zeigt, wie der Gegensatz, der bei den Israeliten ein gegebener war, hier ein gewordener ist und sich mit der Kultur der Hellenen allmählich entwickelt hat. Die Idee dieses Gegensatzes erscheint zunächst als etwas Inhaltleeres, als eine bloße Verneinung, ein Protest gegen die Ebenbürtigkeit der Nicht-Hellenen — und doch liegt in ihr die Schwungkraft des Volkes, die Wurzel seiner Tugenden und der Keim seiner rastlosen Energie; denn sie trieb das Volk an, seine aristokratischen An­ sprüche zu begründen und zu zeigen, warum und worin es die andern Völker überträfe. Weil aber das, was die Hellenen an den Barbaren haßten und verachteten, nicht das den Medern und Persern Eigentümliche war, sondern die gemeine Natur, die im Menschen liegt, so ist der Gegensatz: hellenisch und barbarisch ein die Geschichte der Menschheit bewegender Gegensatz geblieben, und die Grundsätze des hellenischen Lebens sind gültige Normen jedes höheren Menschen- und Völkerlebens geworden. Und welches sind diese Grundsätze? Vor allem die Herrschaft des Geistigen im Gegensatz zu der Sinnlichkeit und Stumpfheit der Barbaren. Sie sind knechtisch gesinnt; sie werden durch Furcht vor Strafe oder durch Aussicht auf Gewinn und Genuß geleitet; sie können abgerichtet und geschult, aber nicht gebildet werden. Oie Hellenen sind zur Freiheit geboren, weil die Ehrliebe das leitende Motiv ist. Die Freiheitsliebe ist aber kein regelloser Trieb nach Ungebundenheit; sie gedeiht nur auf dem Boden der Selbsterkenntnis und Selbstbeschränkung der Gottheit wie den Menschen gegenüber. Alles Unheil stammt aus dem Über­ schreiten der gestellten Schranken, aus der Auflehnung gegen göttliche

und menschliche Ordnung, und das wahre Glück beruht nur auf der harmonischen Entfaltung der menschlichen Anlagen im Einklang mit den diesittliche Welt und das Gemeinwesen regelnden Gesetzen. Dean das ist die andere, die praktische Seite hellenischer Lebens­ anschauung, daß jede dem Menschen verliehene Kraft zugleich die Verpflichtung enthält, sie auf das gewissenhafteste auszubilden, den Trieb des Erkennens wie den Trieb des Bildens und Schaffens, d. h. den Drang, dem innerlichen Leben in dem sinnlich Wahrnehm­ baren einen Ausdruck zu geben, nicht nur im Wort, dem natür­ lichsten Organ, sondern auch in dem unserm Gemüte Fernsten, Fremdesten und am meisten Widerstrebenden. Es quälte sie die Masse des Unorganischen, welche sie umstarrte; sie wußten Stein und Erz ein höheres Sein zu geben und den Zwiespalt zwischen Natur und Geist durch ihre Kunst zu überwinden. Wäre das, was den Hellenen vom Barbaren unterschied, nur der Ausdruck einer noch so begabten Dolksindividualität, so könnte es von den nachgebornen Geschlechtern genossen, erforscht und nach­ geahmt werden, aber es könnte ihnen nicht in Fleisch und Blut übergehen. Nun ist aber das Hellenische seinem Wesen nach nichts anderes als die vernünftige und konsequente Ausgestaltung der menschlichen Anlage«, die entschlossene und unter günstigen Be­ dingungen wunderbar gelungene Verwirklichung dessen, was in der menschlichen Natur vorgezeichnet ist; deshalb kann ein jeder, ohne seine Nationalität zu verleugnen, in die Fußtapfen der Hellenen eintreten, und dann kann er nicht anders als auch seinerseits den Kampf aufnehmen, in welchem sie uns vorangegangen sind; er muß mit der von ihnen entlehnten Waffenrüstung gegen alles Einseitige, Willkürliche und Unvernünftige, gegen alles Maßlose und Widernatürliche, gegen alle Üppigkeit und Unfreiheit im Felde stehen. Er muß mit seiner Person dafür eintreten, daß die wahre Bildung ein Ganzes sei, das alle Seiten des menschlichen Wesens umfasse, daß das Schöne kein überflüssiger Zierrat sei und die Kunst keine Magd der Modelaune, sondern die Wethe des Lebens, das wir mit allen Kräften gut und schön zu gestalten suchen müssen. So beruht also Erhaltung und Fortschritt unserer Bildung darauf, daß wir den von den Hellenen ausgeprägten Gegensatz in uns und um uns überwinden. Unter der Masse der Völker, welche die Hellenen als Barbaren verachteten, waren aber auch solche, deren Gaben sie nicht kannten, Gaben, welche gerade das ersetzten, was den Hellenen fehlte.

Sie wußten wohl, daß ein Volk ohne Religion sittlich und staatlich zugrunde gehen müsse. Sie haben in ihrem Dolksbewußtsetn sich aus ältester Vorzeit die Idee eines Gottes bewahrt, der keine bloße Naturkraft ist, eines „Vaters der Götter und Menschen", welchem man nnr mit bildlosem Altardienste nahen dürfe; sie haben die ihnen zugetragenen Gottheiten alle verklärt und aus der Sphäre des Natürlichen in das Geistige gehoben, und ihre edelste» Ge­ stalten, Athena und Apollon, weisen beide durch engsten Anschluß auf den Urgott hin. Aber die reinere Gottesidee war wie eine erblaßte Erinnerung aus dem Daterhause, eine inhaltleere Vorstellung; die Frömmig­ keit war ei» Postulat der Ethik, aus der richtig verstandenen Menschen­ natur abgeleitet. Man fühlte, daß der Mensch zu Gott geschaffen sei, man suchte sich wie auf den Stnfen einer Pyramide zu ihm hinauf­ zubauen, aber die Spitze fehlte, und was an reinerer Gottes­ erkenntnis errungen war, blieb ein Besitz weniger Ausgewählter, ein künstlicher Hochbau, der dem Volke keinen Halt bot, und wenn die Steine aus den Fugen gingen, sanken die Menschen in den Schlamm der Gemeinheit, ohne daß eine Hand da war, sie zu retten. Dies wendet unsern Blick auf das andere der beiden Völker, das einzige neben den Hellenen berechtigte, sich mit stolzem Selbst­ gefühl der Menschenwelt gegenüberzustellen, das geschichtliche Gegenbild der Hellenen. Was diesen fehlt, ist hier der Kern des Volkstums, das allein Sichere und Unbedingte. Hier ist kein Umhertasten und Suchen nach dem unbekannten Gotte, sondern ein Erfassen der Menschen durch die Gottheit; hier sind keine nebel­ haften Ahnungen, sondern Tatsachen, kräftige Zeugnisse, und zwar nicht einzelne Lichtblitze, die wie Wetterleuchten die Nacht durchkreuzen, sondern ein in großem Zusammenhangs aus ein­ fachen Grundlagen immer voller und inhaltsreicher sich gestaltender Bund zwischen Gott und den Menschen mit persönlicher Gegen­ seitigkeit, in welchen das ganze Leben des Volks aufgeht. Wie man nun auch im einzelnen über den Inhalt der alttestamentlichen Geschichte urteilen mag (denn das Wunderbare kann von den verschiedenartigen Mensche» nicht in vollkommen übereinstimmender Weise aufgefaßt werden), so glaube ich doch zweierlei als feststehend bezeichne» zu dürfen. Was hier vorliegt, ist etwas so Eigenartiges, daß es sich aus dem Entwicklungs­ prozeß eines sich selbst überlassenen Volks nicht erklären läßt, und je weitere Umschau der Wissenschaft gestattet ist, um so mehr

Analogien finden wir zwar, aber nichts, was als eine genügende Vorstufe angesehen werden könnte. Zweitens: Was hier zu­ stande gekommen ist, erst als ausschließlicher Besitz eines Volks, dann, wie die Bildung von Hellas, bas enge Gefäß sprengend und, gereinigt und vervollkommt, wie ein Lebensstrom in alle Welt hinausflutend — das ist die Grundlage aller höheren Gottes­ erkenntnis, die noch heute auf Erden zu finden ist; das ist neben Wissenschaft und Kunst, in denen wir den Hellenen folgen, die zweite weltbewegende Macht, und die ganze Entwicklung mensch­ licher Bildung hängt davon ab, wie sich diese beiden Mächte zu ein­ ander verhalten. Das Urchristentum stellte sich der alten Welt spröde und feind­ lich gegenüber; man glaubte selbst, weil die Götter der Hellenen schön waren, sich Christus häßlich von Aussehen vorstellen zu müssen; das Altertum mußte zerstört werden und in Nacht versinken, da­ mit der neue Gottesdienst die Weltherrschaft erlange. Das klassische Altertum stieg aber aus dem Grabe hervor; es erleuchtete zum zweiten Male die verdüsterte Welt und entzündete solche Begeisterung, daß man von der Kirche abfiel, um dem Jupiter und Merkur zu opfern. Es erfolgte ein Rückschlag in der Zeit der Reformation, als das Heil der erlösungsbedürftigen Menschenseele wieder als die entscheidende Frage in die Mitte unsers Volkslebens gestellt wurde; die neu geborene Kirche verengte sich aber und erstarrte, so daß der freiheitsbedürftige Menschengeist erst wieder aufatmete, als in den Tagen Winckelmanns, Lessings und Herders durch den Geist der Humanität alles menschlich Schöne und Große von Neuem zur Geltung kam, wobei das Christliche nur als ein Kulturelement neben andern berücksichtigt und, wo es unbequem war, beseitigt wurde. Soll es denn ewig bei diesen Schwankungen bleiben? Ist hier ein Widerspruch vorhanden, an dessen Unlösbarkeit die friedlose Welt krankt, ist hier ein unversöhnliches Entweder — oder? Nein, glaube ich Gott sei Dank mit voller Überzeugung sagen zu dürfen, denn sonst müßte ich an dem Fortbestand und Fort­ gang unserer Bildung verzweifeln. Auch dieser Gegensatz muß nicht verschwiegen, verschleiert und feig umgangen, sondern fest in das Auge gefaßt und überwunden werden. Humanität ist nichts anderes als die gesunde Entfaltung aller menschlicher Anlagen, und die wichtigste, die humanste von allen, die Anlage zur Gotteserkenntnis sollte davon ausgeschlossen

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sein? Religion ist ja das dem Volksleben Unentbehrlichste und Unersetzlichste; wer dies aber nur für eine niedrige Kulturstufe anerkennen will, dem glaube ich an dieser Stelle am wenigsten eine ausführlichere Antwort schuldig zu sein, wo ganz andere Männer, wo zwei der größten Denker deutscher Nation, wo Fichte und Schleiermacher ihr Zeugnis dafür abgelegt haben, daß das religiöse Leben nicht nur die Grundlage des Volkswohls sei, sondern auch die Vollendung aller geistigen Bildung. Der Mensch, zwei Welten angehörig, ist dazu berufen, das Materielle, dem er äußerlich angehört, zu überwinden. Er über­ windet es als Künstler, indem er die Materie vergeistigt; er über­ windet es als Forscher, indem er in der Natur sowie in den Schick­ salen der Völker Ordnung und Gesetz erkennt, denn wo Ordnung ist, da ist Geist und göttliches Leben. Es gibt aber auch ein Organ für die unmittelbare Wahr­ nehmung des Göttlichen, das ebenso gepflegt und gebildet sein will, wie der Forschertrieb und das Auge des Künstlers; denn dem Menschenherzen ist das Bedürfnis eingepfianzt, seines Gottes gewiß zu sein, und es ist eine Kraft vorhanden, ihn persönlich zu ergreifen. Es ist die Kraft, durch welche die höchsten Leistungen, deren das menschliche Wesen fähig ist, zustande gekommen sind die voll­ ständigste Überwindung der materiellen Welt, die freudigste Hingabe von Gut und Blut, der höchste Triumph des freien Menschen­ geistes; es ist die Kraft, in welcher Gefühl, Erkenntnis und Tat am vollkommensten sich durchdringen, die Kraft des Glaubens. Wie arm wäre die Menschengeschichte, wenn ihr das Heldentum fehlte, das in dieser Kraft wurzelt! Jeder Forscher geht ihren Spuren emsig »ach, die Kunst kennt keine höhere Aufgabe, als ihr Wirken darzustellen; sie ist die Quelle der reinsten Poesie, und für unser Leben sollte sie etwas Gleichgültiges sein, in uns sollte sie fehlen könne», ohne daß ein Mangel an humaner Ausbildung fühlbar würde, eine Schwäche, ein wesentliches Unvermögen? Das kann ich nicht glauben, so gern man auch die Sache umkehrt, so häufig es auch vorkommen mag, daß, um in einem Gleichnisse zu reden, ein Adler, dem die Schwungfeder erlahmt ist, seine Ge­ nossen zu überreden sucht, daß es das allein Vernünftige sei. Schritt für Schritt auf festem Boden einherzugehen, anstatt mit keckem Selbstvertrauen in die Höhe zu fliegen. Die Wahrheit ist ihrer Natur nach einfach und bezeugt sich als solche dem auftichtig suchenden, nach innerer Einheit und VII/2

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Gewißheit verlangenden Menschengeiste. Wenn sie nur durch grübelnde Vernunft zu gewinnen wäre, wenn sie methodisch er­ forscht ihrem Wesen nach sich veränderte oder durch etwas anderes ersetzt werden müßte, so würde sich in betreff der höchste» Lebensfragen innerhalb der Volksgemeinschaft eine Kluft öffnen, welche die Einheit derselben aufhebt; damit würde aber auch die Ge­ sundheit des Volkes erschüttert und seine Kraft untergrabe». Den«, wie das Beispiel der Hellenen zeigt, so glänzend auch die einzelne» Leistungen sein mögen, der Verfall einer Nation ist unvermeid­ lich, wen« die Denkenden vom Ganzen sich ablösen, wenn die Lebenskräfte auseinander gehe«, welche in organischem Zusammen­ hang miteinander zu wirke», sich gegenseitig zu stärken und zu er­ gänzen bestimmt sind. Damit wird aber unsere gesamte Bildung gefährdet; denn wir können uns keine Wissenschaft und keine wahre Kunst denken, welche nicht von einem gesunden Volkstum« ge­ tragen würde. Wollen wir also mit dem Ernst machen, was, wie wir im Anfang sahen, den stetigen Fortschritt menschlicher Bildung be­ dingt, so müssen wir den Gegensatz, in welchem die beiden Völker des Altertums, die am tiefste» in unsere heutige Kultur eingreifen, zu einander stehen, in uns überwinde»; wir müssen die »ach allen Seite» methodisch ausschreitende, alle Gebiete der Natur und der Geschichte rastlos durchmessende Forschung der Hellenen mit der Sammlung und Vertiefung des Gemüts und der entschlossenen Hingabe desselben an eine zentrale Wahrheit zu verbinde« suchen, wodurch das andere der beiden Völker, das Volk der Religion, be­ rufen war, die ihm anvertraute Idee wie ein Heiligtum Lurch das wilde Gedränge der alte» Völkergeschichte still hindurchzutragen und dadurch den Grund zu schaffen, auf welchem die ganze moderne Kultur ruht. Je mehr es uns gelingt, diesen Gegensatz in eine höhere Ein­ heit aufzulösen, um so mehr werden auch zwischen den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft die das gegenseitige Verständnis störenden Gegensätze schwinden, um so voller und kräftiger kann sich der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Ständen und Berufs­ arten unserer bürgerlichen Gemeinschaft gestalten. Keine Kluft trennt die Gelehrten von den Ungelehrten und keine Katheder­ weisheit soll uns hindern, die Pulsschläge des «»mittelbaren Lebens so warm in uns zu empfinden, wie jeder echte Mann des Volks. Wie in der Religion, so ist es ja auch auf alle» Gebieten des häus18

lichen und öffentlichen Lebens das durch keine Verstandesoperation Vermittelte, das aus der Einheit unseres geistigen Wesens unbewußt Hervorkeimende, die Liebe zu unsern Angehörigen, die Liebe zu unsern Freunden, die Liebe zum Daterlande das unvergleichlich Beste von allem, was wir unser nennen.

Die Wirkung der Perserkriege Eduard Meyer (Geschichte des Altertums, Band III; Stuttgart 1901. I. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger)

Das Ungeheure war geschehen: an dem Widerstande eines Bruchteils der griechischen Nation war der Angriff des weltbeherr­ schenden Königs und seiner karthagischen Bundesgenossen zerschellt. Der Heldenmut der freien Bürgerschaften, die Einsicht ihrer Staats­ männer «nd Feldherrn hatten sich glänzend bewährt. Das stolze Gefühl, Taten vollbracht zu haben, wie sie seit den Zeiten der Heroen die Welt nicht gesehen hatte, beseelte alle Teilnehmer am Kampf und verklärte das Andenken derer, die, „als das Geschick von Hellas auf des Messers Schneide stand", durch einen Heldentod unvergänglichen Nachruhm erlangt hatten. In den kurzen Sprüchen auf den Gräber« der Gefallenen, die kaum je mehr enthalten als den schlichten Hin­ weis auf den ruhmvollen Kampf, hat die gehobene Stimmung -er Zeit einen ergreifenden Ausdruck gefunden. In kostbaren Weih­ geschenken aus dem Ertrag der Beute wurde de» Göttern der Dank des durch ihr sichtbares Eingreifen befreiten Volkes dargebracht, vor allem dem Zeus von Olympia und, trotz seiner problematischen Haltung, die man jetzt nach dem Ausgang umzudeuten versuchte, dem Apollo von Delphi. Dann ging man daran, die Wunden des Krieges zu heilen, die Beschäftigung des täglichen Lebens wieder aufzunehmen. Man mochte glauben, in die alten Verhältnisse zurückkehren zu können, gestärkt durch die Zuversicht, jetzt jedem Feinde gewachsen zu sein, und gehoben durch das Gefühl hellenischer Waffenbrüderschaft, die alle Rivalität siegreich überwunden hatte. Nicht wenige der Mitkämpfer mochten hoffen, daß die Zeit der helle­ nischen Kriege überhaupt vorbei und eine dauernde Vereinigung der Staaten, ein friedlicher Ausgleich des alten Haders erreichbar sei. Bestand doch der 480 gegründete Waffenbund weiter, war doch die Befreiung aller Hellenen mit dem Zuge nach Mykale zwar in Angriff genommen, aber noch keineswegs vollendet. An eine Wieder­ aufnahme der Fehde zwischen Athen und Ägina z. B. konnte jetzt, wo beide Staaten bei Salamis mit gleicher Tapferkeit gekämpft und

Weiber und Kinder der Athener auf der Insel Zuflucht gefunden hatten, kein Mensch denken. Der Zwist zwischen Sparta und Tegea schien in dem festen Zusammenhalt ihrer Truppen bei Platää be­ graben. Vor allem aber der Bund zwischen Sparta und Athen schien unerschütterlich begründet, seit beide gemeinsam den Krieg durchgeführt hatten, Athen durch Sparta befreit und Sparta durch Athens Hingebung an die Spitze von Hellas geführt war. Wie sollte man nicht auch die weiteren Aufgaben in derselben Gemeinschaft lösen? Die persisch gesinnten Staaten waren zur Ohnmacht ver­ urteilt; daß keiner von ihnen der Vernichtung anheimgefallen war, die man ihnen in der Erbitterung des Kampfes gelobt hatte, war jetzt, wo die Gefahr für alle Zukunft beseitigt schien, nur ein weiterer Gewinn für Hellas. Selbst die pyläische Amphiktionenversammlung war jetzt eifrig national gesinnt; sie schmückte die Gräber der Helden von Thermopylä mit Grabsteinen und Sprüchen und setzte einen Preis auf den Kopf des Maliers Ephialtes, der die Perser den Weg durchs Gebirge geführt haben sollte. Den Schmerz über das Schicksal seiner Heimat empfand Pindar tief genug; aber er konnte doch aufatmen, „da ein Gott die wie Tantalos' Stein über unseren Häuptern schwebende unbezwingbare Last für Hellas abgewandt hat" (Zsthm. 8,478 v, Chr.). Bald findet er die Stimmung wieder, wie ehemals Thebens Ruhm in der Sagenzeit zu künden und Spartas Zucht und Tapferkeit zu verherrlichen. Aber zugleich hat er in be­ geisterten Worten das Lob des „glänzenden, veilchenbekränzten, ruhmreichen Athens, der Stütze von Hellas, der göttlichen Stadt" gesungen und im Wetteifer mit Simonides von Keos, dem Sänger der nationalen Partei, den Tag von Artemision gefeiert, „wo die Söhne Athens den leuchtenden Grund der Freiheit legten". Die Wirklichkeit jedoch entsprach diesen Stimmungen nur zum Teil. Die Lage der Nation war von Grund aus umgewandelt. Aus kleinen Anlässen und untergeordneten Konflikten war der Krieg mit Persien zu einem Kampfe erwachsen, bei dem selbst die Frage der politischen Existenz der hellenischen Nation noch nicht das Wichtigste war. Um die ganze zukünftige Gestaltung der Weltgeschicke hatte es sich gehandelt: ob im Bereiche der Mittelmeervölker die orientalische Kultur und Sitte herrschen solle oder die griechische, darüber war, mochte auch keiner der Kämpfenden sich dessen bewußt sein, auf den Schlachtfeldern von Salamis, Himera und Platää die Entscheidung gefallen. Das ist das Wesen der großen weltgeschichtlichen Momente, daß ihre Tragweite weit hinausgreift über das, was die Gegenwart

bewegt, daß wie ihre Wirkungen den Verlauf von Jahrtausenden bestimmen, so auch ihre Bedeutung erst von der Nachwelt ga»j er­ messen werden kann. Zu welchen Folgen ein Sieg der Perser geführt hätte, liegt klar vor Augen. Die griechische Nationalität hätte sich wie so manche andere in dem Weltreich konservieren können. Auch die geistige Bewegung, die Kunst, die Wissenschaft und Philosophie mochten sich zunächst weiter entwickeln; sind doch Anaximander, HekataioS, Heraklit unter persischer Herrschaft aufgetreten. Handel und Wohl­ stand konnten nur gedeihen, wenn die Griechenwelt pazifiziert und die Verbindung mit dem astatischen Kontinent ungehindert war, ja sie mochte alsdann die phönikischen Rivalen, obwohl deren Art den Herrschern näher stand, noch weiter überflügeln. Den griechischen Ärzten am Hof, den griechischen Schiffskapitänen in der Flotte mochten griechische Söldner und Offiziere, Kaufleute und Hetären, Günstlinge und Minister folgen. Aber das, was das innerste Wesen der griechische» Kultur ausmacht, hätte die Fremdherrschaft ersticken und vernichten müssen: den freien Staat, der allein alle Kräfte des Menschen entfalten und aus ihrem Ringe» die höchste Blüte einer freien Kultur erzeugen kann. Nur auf einzelne Persönlichkeiten, wie die Tyrannen Ioniens ober die Pisistratiden, auf einzelne Geschlechter wie die Aleuaden oder die Oligarchen Thebens konnte die Fremdherr­ schaft sich stützen, niemals auf eine freie Verfassung, mochte fle nun Aristokratie oder Demokratie sei», selbst bann nicht, wenn die Eroberer nominell die alte Verfassung bestehe» ließen oder wie in Ionien unter Mardonios wiederherstellte». An Stelle der Staats­ idee hätte auch in Griechenland die Religio» und ihr Vertreter, die Priesterschaft, politisch wie geistig die Führung erhalten. Scho» stand das Gerüste aufrecht: die Orakel hatten durch die ganze griechische Welt und weit darüber hinaus den höchsten Einfluß erlangt, fle waren die Berater des Volks und der Staate» und strebten, ihre politischen Führer zu werden. Orakelsammlungen liefen im Lande um, die Wanderpropheten, Weissager und Zeichendeuter standen überall in hohem Ansehen; man grübelte über den Schicksals­ sprüchen und suchte aus ihnen eine flchere Weisung über sein Ver­ halten zn gewinnen. Mt all diesen Elementen standen die Perser in engster Fühlung. Dem Delischen Apollo brachte Datis ein prächtiges Weihrauchopfer; ein Apollobild, das phönikische Matrosen aus der Filiale seines Kultes an der böotischen Küste geraubt hatten, ließ er dem Heiligtum zurückgeben. Delphi wirkte eifrig für die per-

stsche Sache und mahnte überall vom Widerstand ab. Mardonios hat bet allen Orakeln in Böotien und Phokts Rat gesucht; er hat sich bestrebt, die bei den Griechen umlaufenden Weissagungen genau ju befolgen. Auch König Terxes hat den griechischen Göttern ge­ huldigt, so der Athena in Ilion und auf der verwüsteten Burg von Athen. Hätten die Perser gesiegt, so hätten sie auch in Griechenland versucht, mit Hilfe der geistlichen Autorität zu regieren, und ihr eine Organisation gegeben wie in Ägypten und bei den Juden. Dann aber ergab es sich von selbst, daß die vom Staat geschützte und zur Herr­ schaft berufene Priesterschaft die neue theologische Religion annahm, mochte sie sich bisher ihr gegenüber auch so ablehnend verhalten haben und sie ihr so unbequem sein wie der Priesterschaft von Jeru­ salem das Judentum: die beiden religiösen Strömungen, die poli­ tische und die geistige, mußten in ei» Bett zusammenfließen. Dabei mochte sich eine rationalistische Weltbetrachtung, ei» Versuch, aus eigener Kraft das Welträtsel zu lösen, in einzelnen Kreisen immer «och behaupten, wie im Judentum »eben der theologisch-gesetzlichen die individualistische Gegenströmung einhergeht. Das Endergebnis wäre schließlich doch gewesen, daß eine Kirche und ein durchgebildetes theologisches System dem griechischen Leben und Denken ihr Joch aufgelegt und jede freiere Regung in Fesseln geschlagen hätte, daß auch die neue griechische Kultur so gut wie die orientalische ein theologisch-religiöses Gepräge erhalten hätte. Fremdherrschaft, Kirche und Theologie im Bunde hätten mit dem Staat auch hier den Zutritt zu den höchsten Regionen menschlichen Lebens und mensch­ licher Tätigkeit für alle Zukunft versperrt.

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Athen zur Zeit des Perikles Karl Otfried Müller (Geschichte der griechischen Literatur, Band 2)

Die schon vor der marathonischen Schlacht neuerwachle An­ hänglichkeit der Ionier an ihre Mutterstadt Athen bewirkt bald eine engere Anschließung fast aller Griechen der asiatischen Küste an diesen Staat, und indem Sparta sich mit allen Griechen des Mutterlandes von der weiteren Führung des Krieges jurückiieht, bildet sich eine athenische Bundesgenossenschaft für die Vollendung des Nationalkrieges, welche sich durch allmähliche und doch ziemlich rasche Übergänge in eine Herrschaft der Athener über ihre Stammund Bundesgenossen, ja in ein großes, blühendes Insel- und Küstenreich um das ganze von den Athenern beherrschte ägäische Meer und einen Teil des Pontus Euxinus verwandelt, wodurch Athen eine breite Basis für das von seinen Staatsmännern immer höher geführte Gebäude politischer Größe und glänzender Herrlich­ keit gewann. Der Vollender dieses glänzenden Gebäudes war Perikles während seiner etwa von Ol. 79 (464.) bis zu seinem Tode (Ol. 87, 4, 429) dauernden Verwaltung. Perikles gab vor allem dem Verhältnisse Athens zu den Bundesgenossen den Charakter der Herrschaft, indem er den bisherigen Bundesschatz für einen athenischen Staatsschatz erklärte, und behauptete sie mit aller Ent­ schiedenheit, indem er jeden Versuch des Abfalls mit großer Strenge züchtigte. Athen wurde durch ihn eine herrschende Gemeinde, deren Hauptgeschäft die Regierung und das Richteramt in einem weit ausgedehnten durch Ackerbau, Gewerbe und Handel blühen­ den Reiche war. Gewiß war es nicht der bloße Besitz dieser Herr­ schaft und die Ausübung der damit verbundenen Geschäfte, worauf Perikles" Sinn stand und worin er das Ziel aller dieser Anstrengungen, das höchste Gut, das er seinen Athenern erwerben wollte, erblickte. Sein Leitstern war die in seinem Geiste ausgebildete Idee von einem schönen und edlen, des Menschen würdigen Dasein, von einem Leben, wert, gelebt zu werden, das er in Athen verwirklichen wollte. Die stille Macht des Geistes, großer und schöner Gedanken,

sollte den ganzen Körper des herrschenden Volkes durchdringen und durchdrang ihn auch wirklich, so lange seine Leitung dauerte, in höherem Grade, als in der Geschichte sonst irgendwann gefunden wird. Perikles selbst stand unter einem Volke freier Männer, denen ziemlich das Höchste von selbständiger Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten und freier Bewegung im öffentlichen und Privat­ leben zuteil geworden war, er stand unter diesem Volke von Freien wie ei» einzelner Mann, ohne ein bedeutendes öffentliches Amt, ohne Regierungsgewalt *), ohne so viel Macht, seinen Befehlen Gehorsam zu verschaffen, als ein römischer Ädilis hatte, und doch mit einer Herrschaft des Geistes über die Menge, wie sie selten ein geborner Herrscher ausgeübt hat. Die Athener sahe» in ihm, wenn er von der Rednertribüne zur Volksversammlung sprach, einen olympischen Zeus, der Blitz und Donner in seiner Gewalt habe, wie­ wohl es nicht die leidenschaftliche Bewegtheit seiner Rede, sondern die unwiderstehliche, den Gemütern sich tief einprägende Kraft der Gedanken war und die Erhabenheit der ganzen Erscheinung, die ihm den Beinamen des Olympios erwarb: daher ein Komiker von ihm und den neuern Redner» sagte, daß Perikles allein den Stachel der Rede in den Gemütern der Hörenden zurücklaffe?). Wozu aber Perikles das Volk eigentlich bewegen wollte, zu welchem Zwecke er diese gewaltigen Mittel der Macht und des Reichtums in Athen zusammenhäufte, wird am augenscheinlichsten durch die noch in ihren Trümmern vorhandenen Werke der Baukunst und Plastik, die unter Perikles Verwaltung entstanden sind, dargetan. Denn als zuerst von Themifiokles, Kimo» und Perikles selbst für die Sicherung des Staates durch die Befestigungen der Stadt, des Hafens und die langen Manern auf die genügendste Weise gesorgt war, vermochte Perikles das attische Volk einen so großen Teil seiner reichen Einnahme auf die Ausschmückung der Stadt durch Werke der Architektur und bildenden Kunst zu wenden, als niemals x) Allerdings war Perikles in der Zeit beim Ausbruch des peloponnefischen Krieges offenbar Schatzmeister der Verwaltung, aber damit war zwar die genaueste Einsicht in die Finanzen Athens, aber keine Regierungs­ gewalt verbunden. Es versteht sich übrigens, daß die Zeiten ausgenommen sind, wo Perikles Strateg war, namentlich im Anfänge des peloponnestschen Krieges, wo der Strateg allerdings eine sehr große Exekutiv-Gewalt hatte, weil Athen im Belagerungszustände wie ein befestigtes Lager behandelt wurde. 2) Cupolis in den Demen.

eine Republik oder ein Monarch auf solche Zwecke gewandt hat*). Dieser Aufwand, der in jeder andern Zeit als unverhältnismäßig betrachtet worden wäre, war damals völlig an seiner Zeit, wo die Kunst eben nach langem kraftvollen Ringen wie eine wundervolle Blüte aus der Knospe brach, wo die dem Pertkles nahe stehenden und innig vertrauten Geister, wie Phibias, zum Befitze jener geheimnisvollen Zaubermacht gelangt waren, die den erhabensten Geist aus Stein und Erz, Säule« und Gebälken, menschlichen Gliedern und Mienen reden läßt. Wir müssen um so mehr die geniale Kraft bewundern, mit der Perikles diese eben erst in reinem Glanze hervorbrechende« Strahlen der Kunst auffaßte und zur Verherrlichung Athens in einem Brennpunkt zu sammeln wußte, wenn wir überlegen, wie diese Zeit doch eigentlich niemals wieder­ gekehrt ist und für immer verloren gewesen wäre, wenn man sie damals vorbeigelassen hätte, wie Werke von dieser Hoheit und edlen Schönheit und Vollendung im großen und kleinen weder unter der Gönnerschaft der mazedonischen noch der römischen Monarchen entstanden find und — mit einem Wort — die Schöpfun­ gen der Perikleischen Zeit eigentlich die einzigen Werke von Menschen­ hand sind, t» denen der geläutertste, gebildetste Kunstsinn voll­ kommen Genüge findet. Aber auf keinen Fall kann es die Intention des Perikles und der ihm gleichgesinnte» Athener gewesen sein, daß bloß die Bildung und der Genuß des Geistes, welcher durch den Sinn des Auges einströmt, in Athen einheimisch werden sollte; offenbar ging ihr Streben darauf hinaus, jede» Reiz, den das Leben im Gedanken, in der Erkenntnis dem Mensche» gewährt, festzuhalte» und zu bannen. Man weiß, -aß Perikles zu Sophokles in einem nahen, vertraulichen Verhältnisse stand, und darf voraus­ setzen, daß Dichtungen wie die Antigone die höchste Freude seines x) Die jährlichen Einkünfte Athens «erden in Pertkles Zeit, da die Tribute der Bundesgenosse» 600 Talente betrugen, im ganze« auf 1000 Talente (etwas über 200,000 Pfund Sterling) angeschlagen. Geht man nun davon anS, baß die Propyläen (mit de« dazu gehörigen Banken) 2012 Talente kosteten, so wird man alle diese Banwerke, das Odeon, den Parthenon, die Propyläen, den elensintschen Weihetempel nnd andere gleichzeitige Tempel auf dem Lande, wie in Rhamnus nnd Snnio» mit allem Bilder- nnd Farbenschmnck, Götterbildern ans Gold nnd Elfenbein, wie die Pallas im Parthenon, Prachtteppiche «.dgl., gewiß nicht unter 8000Talenten schätzen können. Und doch fallen alle diese Werke in die letzte« 20 Jahre vor dem peloponneflschen Kriege.

Lebens waren, zumal da zwischen Perikles' politischen Grundsätzen und Sophokles' dichterischer Natur eine innere Verwandtschaft besieht. Noch enger aber war das Verhältnis, in welchem Perikles zu dem ersten Weltweisen stand, der die Lehre vom „ordnenden Geiste" in Griechenland verkündete, zum Anaxagoras. über­ haupt muß man sich Perikles' Haus, seit der Zeit besonders, da die schöne und geistvolle Milesierin Aspasia mit größerer Freiheit im Umgänge, als die attische Sitte eigentlichen Ehefrauen gestattete, ihm vorstand, als einen Vereinigungspunkt aller Menschen denken, die die höhere geistige Bestimmung Athens sich zum Bewußtsein gebracht hatten und darauf hinauszuarbeiten entschlossen waren. Was Thukydtdes (II, 41.) den Perikles in der berühmten Leichen­ rede sagen läßt, rührt gewiß, wenn auch nicht den Worten, doch dem Gedanken nach, wirklich von Perikles her: „Alles zusammenfassend behanpte ich, daß unsere ganze Stadt die Btld ungsschule von Hellas ist." Daß dieses glänzende Bild menschlicher Trefflichkeit ganz ohne den Schatten der Schuld, der sich allem Irdische» anhävgt, geblieben sei, daß der Höhesiand der attischen Bildung keine Spuren des Verfalls in sich trage, der in der Entwicklung menschlicher Dinge so schnell nach der schönsten Blüte einzutreten pflegt: «er möchte dies zu behaupte» wagen? Schon die äußere politische Stellung von Athen brachte den edleren Patriotismus und den Sinn für Recht und Pflicht, wie ihn die Athener im Perserkriege darlegen, bald in schlimme Konflikte mit den besondere« Interessen und Leidenschaften Athens. Athen war von Anfang an gegen das übrige Mutterland der Griechen in keinem fteundschafilichen Verhältnis; die einzigen Ionier, welche sich hier gleichsam auf der äußerste» Spitze von Hellas behauptet hatten, umgeben von Dorier« und Aeolern, fanden sie nirgends die Sympathie, welche die Genossen desselben Stamms bet den Grieche» verknüpfte; niemals haben die andern Staaten des alten Griechenlands die geistige Überlegenheit Athens auf solche Weise anerkannt, daß sie sich ihm in politischen Verbindungen unterzuordnen bereit gewesen wären; Athen hat daher auch nie eine Hegemonie über die von Alters her freien Staaten des alten Griechenlands ausgeübt, wie sie Sparta zu verschiedene» Zeiten eingeräumt wurde. Athen mußte gleich bet der Grundlegung seiner politischen Größe dahin streben, sich von der Beaufsichtigung der übrigen Griechen frei zu machen; und da Attika keine Insel «ar, was den Staatsmännern Athens das Erwünschteste gewesen wäre, wurde Athen mit seinem 27

Hafen wenigstens durch jene ungeheuren Befestigungen vom Lande isoliert und der Einwirkung der herrschenden Landmächte möglichst entzogen. Die Blicke dieser Staatsmänner waren ganz auf die See gerichtet, da sie in dem Stammcharakter der Ionier Attikas, der Lage dieser Halbinsel, den inneren Schätzen derselben, wie namentlich den Silberbergwerken, die Bestimmung Athens zur See­ herrschaft erkannt und der Perserkrieg selbst den mächtigsten Anstoß dazu gegeben hatte: durch seine bedeutende Marine war Athen von selbst an die Spitze der überseeischen Bundesgenossen gestellt, welche zu ihrer Befreiung und ihrem Schutze den Krieg gegen Persien noch fortsetzen wollten. Diese Bundesgenossen waren sämtlich vorher des Großkönigs Untertanen gewesen und zum Teil schon lange weit mehr an knechtischen Dienst als an freiwillige An­ strengung ihrer Kräfte gewöhnt; ihre Weigerungen und Versäum­ nisse waren es, die Athen zuerst veranlaßten, die Zügel straffer zu ziehen und allmählich immer mehr die Herrscher zu spielen. Die Athener waren gewiß nichts weniger als aus Lust und Laune grausam und blutgierig; aber eine rücksichtslose Härte, wenn es galt, Grundsätze aufrecht zu erhalten, ohne die sie nicht bestehen zu können meinten, war tief in ihrem Charakter gegründet, und die Umstände drängten sie nur zu häufig, sie gegen ihre Bundesgenossen anzuwenden. Es lag viel Stolz und ein egoistischer Patriotismus darin, daß so viele Städte ihre Reichtümer dazu verwenden sollten, Athen zu einem Sammelplatz aller Kunst und Bildung zu machen; indessen war die Forderung doch nicht die, daß Millionen sich einem trübseligen und unwürdigen Dienst des Bedürfnisses unterziehen sollten, damit wenige Tausende der höheren Freuden der Mensch­ heit teilhaft werden konnten; sondern der Gedanke von Staats­ männern, wie Perikles, ging unstreitig darauf hinaus, daß Athen der Stolz der ganzen Bundesgenossenschaft sein, die Bundes­ genossen das Schöne mit ihnen genießen und namentlich an den großen Festen, den Panathenäen und Dionysien, zu deren Ver­ herrlichung aller Reichtum und alle Kunst aufgeboten wurde, einen vollen Anteil nehmen sollten'). ') Mancherlei führt darauf, daß diese Feste recht für die Bundes­ genossen eingerichtet waren, und sie sich in großer Menge dazu einfanden. Auch wurde an den Panathenäen öffentlich für die Platäer (Herodot VI, in.) und an allen größere» öffentlichen Festen für die Chier gebetet (Theo­ pomp. bei den Schol. Arist. Vögel 850), die im peloponnesischen Kriege, nach dem Aufstande der Mitylenäer, ziemlich allein immer treu gebliebene Bundes-

Rasche Entschiedenheit im Handeln nnd hinreißende Kraft der Rede waren die Eigenschaften, welche die Athener am meisten vor allen ihren Landsleuten auszeichneten, die in ihrem politischen Leben und ihrer Literatur aufs deutlichste hervortraten. Beiden Eigenschaften liegt die Gefahr der Ausartung sehr nahe. Jene Tatkraft ging in eine unruhige Unternehmungslust über, die im peloponnesischen Kriege, als sie nicht mehr von der ruhigen und klaren Übersicht aller Verhältnisse geleitet wurde, wie sie Perikles besaß, hauptsächlich den Sturz der athenischen Macht be­ wirkte; und das Bewußtsein der Gewandtheit in der Rede, welche die Athener vor anderen Griechen voraus hatten, verführte zu einer Redelust, die alles zum Gegenstände der Besprechung machte, und gegen die Wortkargheit der älteren Griechen, die das Ergebnis langer Betrachtung in wenige Worte zusammenzudrävgen liebten, sehr auffallend abstach. Es ist bemerkenswert, daß sehr bald nach dem Perserkriege der große Kimon sich von seinen Landsleuten dadurch unterschied, daß er aller'attischen Redegewalt und Geschwätzigkeit ganz fremd geblieben war; ein Zeitgenosse von ihm, Stesimbrotos von Thasos, bemerkt, daß in seinem Benehmen das Edle und Offenherzige sehr hervorgetreten und sein Charakter mehr der eines peloponnesischen. Mannes als eines Atheners gewesen sei. (Plut. Kim. 4.) Doch war dies Geschick der Rede noch lange durch die tief eingewurzelten Grundsätze der nationalen Sittlichkeit und von den Vätern überlieferten Frömmigkeit gezügelt, und erst gegen den Anfang des peloponnesischen Krieges, als ein von außen, besonders aus den Kolonien im Osten und Westen stammendes Geschlecht von angeblichen Weisheitslehrern, die wir unter dem Namen der Sophisten kennen, in Athen Eingang und Anhang fand — lernten die Athener die gefährliche Kunst, die überlieferten Grundsätze der Sitte und Sittlichkeit einem zersetzenden und auf­ lösenden Raisonnement zu unterwerfen, das, wenn es auch zu­ letzt zu einer philosophischen Begründung der Sittlichkeit führte, doch zuerst unsittlichen Trieben und Neigungen großen Vorschub leistete und auf jeden Fall die Macht der festen Gewöhnung, des sichern Glaubens an gewisse den Gemütern eingepflanzte Grund­ sätze zerstörte. Diese Künste der Sophistik wurden den Athenern um so verderblicher, da schon vor dem peloponnesischen Kriege, unter Perikles Verwaltung, die edle Manneskraft des athenischen genossen waren. Auch brachte» die Kolonien Athens, d. h. wohl im ganzen die Städte der Bundesgenossenschaft, mit an den Panathenäen Opfer dar.

Geistes, die im Perserkriege und der nächsten Zeit so herrlich strahlte, zwar keineswegs vernichtet, aber doch innerlich schon gelähmt und gebrochen war, gebrochen durch die Einwirkungen desselben Glücks welches jene männliche Kraft den Athenern geschaffen hatte. Wenn auch das schneidende Urteil des Platon (Gorg. p. 515 e) über Perikles^ Einwirkung auf die Athener, Perikles habe die Athener faul und feige und geschwätzig und geldgierig gemacht — das dem großen Philosophen sein durchgehender Widerwille gegen die praktischen Staatsmänner der Zeit eingegeben — unmöglich als gerecht und billig gelten kann: so ist doch nicht zu läugnen, daß gerade die Prinzipien der Politik des Perikles in nahem Zusammenhänge mit der von Platon so grell ausgedrückten Entsittlichung stehen. Indem Perikles die Macht der Athener ganz auf die Herrschaft des Meeres baute, entwöhnte er sie von dem Landkriege und den dazu vorbereitenden kriegerische» Übungen, welche die Kraft der alten Marathonkämpfer gestählt hatten; auf den Schiffen waren die Ruderer die Hauptsache, welche, ausginommen in Zetten großer Not, nicht aus de» Bürgern, sondern aus gemietetem und zusammengepreßtem Volke genommen wurden, so baß der Korinthier bei Thukydides (II, 121. vgl. Plut. Perikl. y.), am Anfänge des peloponnesische» Krieges wohl nicht mit Unrecht behauptet: die Macht der Athener sei mehr eine für Geld erkaufte als eine ein­ heimische. Indem zweitens Perikles die Athener ganz zu einem Herrschervolke machte, dessen meiste Zeit den Geschäften der Re­ gierung und des Richtamts in ihrem großen weitläufigen Reiche gewidmet war, mußte er auch dafür sorgen, daß der gemeine Man» von Athen durch die Geschäfte seine« tägliche» Unterhalt gewinnen konnte, und es wurden Einrichtungen getroffen, daß ein bedeutender Teil der großen Einnahmen Athens in der Form von Richtersold, Ratsherrnsold, Volksversammlungssold und unter noch weniger gültigen Titeln, wie z. B. als Schauspielgeld (&ea>Qr*a), den ein­ zelnen Bürgern zufloß. Diese Bezahlungen des Volkes für seine Teilnahme an den öffentlichen Geschäften waren in Griechenland eine ganz neue Sache, und vielen wohlgesinnten Männer» erschien das bequeme Sitzen und Zuhören auf der Pnyx und in den Gerichts­ sälen als ein müßiggängerisches Leben im Vergleich mit der Arbeit des Ackermannes und Winzers auf freiem Felde im Schweiße seines Angesichts. Jedoch dauerte es geraume Zeit, ehe die schlechten Eigenschaften, welche aus diese» Verhältnissen sich entwickelten, bei den Athenern so überhand genommen hatten, daß sie die ent;

gegengesetzten edlen Bestrebungen und Gewöhnungen des atheni­ schen Charakters unterdrücken konnte«; lange standen auch unter den Bürgern Athens die fleißige« Landbauern, wackeren Krieger, sittlich ernsten Männer von altem Schrot und Kor» der geschwätzigen, genußsüchtigen, leidenschaftlich aufgeregten jüngeren Generation gegenüber, welche den ganze» Tag über flch auf dem Markte und in den Gerichtshöfen Herumtrieb; der Kampf dieser Parteien ist es besonders, um de« die alte attische Komödie fich dreht. Was aber für unser Thema das Wichtigste ist: die Künste, die bildende» und redenden, erscheine» in -er Zeit bis zum pelopovnestscheu Kriege von der Verderbnis der Sitte» »och ganz unberührt und scheinen wie in einem fleckenlosen Lichte zu strahlen. Was man öfter in der Geschichte des geistigen Lebens bemerkt hat, nicht die Zustände, in denen die Völker noch ohne Schwanken auf der Bahu der gute« Sitte einhergehe», wo die Grundpfeiler ehrenfester Gesinnung und unschuldigen Wandelns durch keine untergrabende Gewalten der Leidenschaften und des Raisonnements erschüttert sind, sind diejenigen, in denen die schönste» Früchte der Kunst reife«; es ist, als wenn das Große und Edle im Menschen des Anreizes bedürfte, den es durch die nahe liegende Gefahr der Entartung und Verführung erhält, um in den Werken der Kunst sich zu zeigen und das im Lebe» verschwundene Glück hier noch eine Zeitlang festzuhalten. Gewiß ist, daß die Werke dieser Periode, an welche die Namen Aischylos, Sophokles, Phidias hinlänglich erinnern, nicht bloß eine Vollkommenheit der Form, sondern auch eine Größe der Seele, einen Adel des Gemütes, eine Erhabenheit über alle niedrigen und gemeinen Triebe und Neigungen, denen die Poesie huldige» kann, darlegen, die uns fast mit gleicher Achtung vor denjenigen erfüllt, welche in ihrem Geiste stark «nd reif genug waren, diese Kunstwerke zu genieße», wie vor denen, welche sie hervorgebracht habe«. Perikles, dessen ganze Verwaltung offenbar den Hauptzweck hatte, de» Sinn für die echte Schönheit unter seinem Volke allgemein «nd herrschend zu machen, konnte mit Wahrheit sagen, wie ihn Thukydides (II.40.) in der schon erwähnte» Leichen­ rede sagen läßt: „Wir lieben das Schöne ohne Prunksucht und die Weisheit ohne Verweichlichung"; eine» Schritt weiter, und an die Liebe -es wahre« Schönen hängte sich die Begierde nach Befriedi­ gung schlechter Gelüste, und die Liebe zur Weisheit erstickte in einem leere» Spiel von Gedanke« und Worte» die Kraft zu guten und großen Taten in der Brust der Athener.

Die Umgestaltung der Weltverhältnisse durch Alexander den Großen I. G. Droysen (Geschichte des Hellenismus, l. Teil, 2. Aufl. Gotha 1877)

Ein berühmter Forscher unserer Zeit hat Alexander den genial­ sten Staatsmann seiner Zeit genannt. Er war als Staatsmann, was Aristoteles als Denker. Der Denker konnte in der Stille und Abgezogenheit seines Geistes seinem philosophischen Systeme die ganze Geschlossenheit und Vollendung geben, die nur in der Welt der Gedanken möglich ist. Wenn das staatsmännische Werk Ale­ xanders vorerst nur skizzenhaft und nicht ohne mannigfache Fehl­ griffe im einzelnen, wen» die Art, wie er schuf, als persönliche Leidenschaft und Willkür oder vom Zufall bestimmt erscheint, so darf man nicht vergessen, daß es die ersten, aus der Friktion riesen­ hafter Verhältnisse hervorspringenden Gedanken find, die ihm sofort und wie im Fluge zu Normen, Organisationen, Bedingungen weiteren Tuns werden, noch weniger verkennen, wie jeder dieser Gedankenblitze immer weitere Gesichtskreise erschloß und erhellte, immer heißere Friktionen schuf, immer drängendere Aufgaben stellte. Die Armseligkeit der auf uns gekommenen Überlieferungen versagt uns jeden Einblick in die Werkstatt dieser Tätigkeiten, in die hochgespannte intellektuelle und moralische Arbeit dessen, der sich so unermeßliche Aufgaben stellte und sie löste. Kaum daß das was uns noch vorliegt, das Äußerlichste von dem, was durch ihn geschehen, was zur Ausführung und Wirkung gelangt ist, frag­ mentarisch erkennen läßt. Fast nur in dem räumlichen Umfang dieser Geschehnisse geben sie uns ein Maß für die Kraft, die solche Wirkungen erzeugte, für den Willen, der sie leitete, für den Ge­ danken, dem sie entsprangen, eine Vorstellung von der Größe Alexanders. Mag der nächste Impuls seines Tuns gewesen fein, den großen Kampf hinausführend, den sei» Vater vorbereitet hatte, dem Reich, das er sich eroberte, Sicherheit und Dauer zu geben — mit

dem glücklichen Radikalismus der Jugend ergriff oder erfand er sich zu diesem Zweck Mittel, die seine Kriegszüge an Kühnheit, seine Schlachten an Siegesgewalt übertrafen. Das Kühnste war, was ihm die Moralisten bis auf den heutigen Tag zum schwersten Dorwnrf machen: er zerbrach das Werkzeug, mit dem er seine Arbeit begonnen hatte, oder will man lieber, er warf das Banner, «nter dem er ausgezoge» war, den stolzen Haß der Hellenen gegen die Barbaren zn sättigen, in den Abgrund, den seine Siege schließen sollten. In einer denkwürdigen Stelle bezeichnet Aristoteles als die Aufgabe seiner „Politik", diejenige Staatsform zu finden, welche nicht die an sich vollkommenste, aber die brauchbarste sei: „Welche also ist die beste Verfassung und das beste Leben für die meisten Staate« und die meiste» Menschen, wenn man an Tugend nicht mehr verlangt als das Maß der Durchschnittsmenschen, noch an Bildung mehr als ohne besondere Begünstigung der Natur und der Umstände möglich ist, noch eine Verfassung, wie fie nur im Reich der Ideale liegen kann, sondern ein Leben, das mitzuleben, eine Verfassung, in der sich zu bewegen den meisten Mensche« mög­ lich ist?" Er sagt: daranf komme es an, eine solche Staatsordnung zu finden, welche aus ben gegebenen Bedingungen fich entwickelnd leicht Eingang «nd Teilnahme gewinnen wird; „denn es ist kein geringeres Werk, eine Staatsordnung zu verbessern als eine von Grund aus neue zu schaffen, wie ja auch das Umlernen ebenso schwer ist als das Erlernen". Soweit geht der Philosoph in seinem Realismus; aber wenn er von den meiste« Menschen, den meisten Staaten spricht, denkt er nur an die hellenische Welt, denn die Barbaren find ja wie Tiere und Pflanzen. Anch Alexander denkt völlig realistisch; aber er bleibt nicht vor den „gegebene» Bedingungen" stehen, oder vielmehr seine Siege haben deren neue geschaffen; der Bereich, für den er sein politisches System einzurichten hat, umfaßt die Völker Afiens bis zum Indus «nd Jaxartes. Und der hat gesehen, daß diese Bar­ baren nicht wie Tiere «nd Pflanze» sind, sondern auch sie Menschen mit ihren Bedürfnissen, Begabnngen, Tugenden, auch ihre Art, zu sei«, voll gesunder Elemente, solcher zum Teil, die denen, welche in ihnen Barbaren verachtet habe», schon verloren gegangen sind. Waren die Makedonen vortreffliche Soldaten, so hatte König Philipp sie dazu erzogen, und Alexander gedachte, so wie er schon die Thraker, Paionen, Agrianer und Odryser ihnen ebenbürtig

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gemacht hatte, ebenso die Asiaten zu gleicher Tüchtigkeit und Zucht zu gewöhnen; der Feldzug in Indien zeigte, in welchem Maße es ihm damit gelang. Von hellenischer Bildung aber hatten die make­ donischen Bauern und Hirten und Kohlenbrenner eben auch nicht mehr als ihre barbarischen Nachbarn jenseits des Rhodope und des Haimos, und die Doloper, Aitoler, Ainianen, Malier, die Bauern von Amphiffa sind in den hellenischen Landen nicht eben anders angesehen worden. Diese hellenische Bildung selbst aber, wie über­ schwänglich reich immer an Kunst und Wissenschaft, wie unver­ gleichlich, intellektuelle Gewandtheit und die Virtuosität persönlicher Strebsamkeiten zu entwickel», — sie hatte die Menschen klüger, nicht besser gemacht, die ethischen Kräfte, auf die das Leben der Familie„des bürgerlichen, des staatlichen Gemeinwesens sich gründen muß, hatte sie in dem Maße, als sie sich steigerte, geschwächt und zersetzt, wie von den Trauben, wenn der Wein daraus gekeltert ist, nur die Trebern bleiben. Hätte Alexander nur den Hellenen und Makedonen Asien erobern, ihnen die Asiaten zu Sklaven geben wollen, sie wären nur um so schneller zu Asiaten, aber im schlimmsten Sinne zu Asiaten geworden. War es Herrschaft und Verknechtung, was seit Jahrhunderten der hellenischen Welt in immer neuen Kolonien, immer weitere Ausdehnung, immer frische lebensvolle Schößlinge gebracht hatte? War hellenisches Leben bis zu den Libyern an der Syrte, den Skythen am maiotischen See, den keltischen Stämmen zwischen den Alpen und Pyrenäen nicht in derselben Weise hinausgezogen, wie sie nun Alexander über die weite Feste Asiens auszubreiten gedachte? War nicht das hellenische Söldnertum, das so lange und in immer größerer Schar in aller Welt umher und nur zu oft gegen die hellenische Heimat selbst seine Kräfte vergeudet hatte, ein Beweis, daß die hellenische Heimat nicht mehr Raum genug hatte für die Fülle von Kräften, die sie erzeugte? Hatte sich nicht die Macht der Barbaren, die den Hellenen als geborne Sklaven galten, seit einem Jahrhundert fast nur noch durch die Streitkräfte, die Hellas ihnen verkaufte, aufrecht erhalten? Gewiß hatte Aristoteles recht, zu fordern, daß auf die ge­ gebenen Bedingungen weiter gebaut werden müsse; aber er senkte die Sonde seines Denkens nicht tief genug ein, wenn er diese Gegeben­ heiten so nahm, wie sie nach ihren schwachen und schwächsten Seiten, wie sie in ihren unhaltbar gewordenen Formen waren. Daß die hellenische wie astatische Welt vor den Gewaltstößen der makedonischen Eroberung zusammengebrochen war, daß sich durch sie die geschicht-

liche Kritik völlig verrotteter, gedankenlos, unwahr gewordener Anstände vollzog, war nur die eine Seite der großen Revolution, die Alexander über die Welt brachte. Die Erinnerungen und die Kultur Ägyptens rechneten nach Jahrtausenden; welche Fülle polytechnischer Meisterschaft, astronomischer Beobachtungen, alter Literaturen bot die syrisch-babylonische Welt; und erschloß fich nicht in der lauteren Parsenlehre der Jranier und Baktrianer, in der Religion und Philosophie des Wunderlandes Indien eine Welt ungeahnter Entwicklungen, vor denen der noch so selbstgefällige hellenische Bildungsstolj staunen mochte? In der Tat, diese Aflaten waren nicht Barbaren wie die Illyrier, Triballer, Geten, nicht Wilde und Halbwilde, wie fich der hellenische Nativismus gern alles dachte, was nicht griechisch sprach; ihnen gegenüber hatten die Eroberer nicht bloß zu geben, sondern auch zu empfangen; es galt zu lerne« und umzulernen. Und damit — so könnte man schließen — begann der zweite Teil der Aufgabe, die fich Alexander gestellt hatte, die Friedens­ arbeit, die, schwieriger als die Waffensiege, diesen in geficherten Zuständen ihre Rechtfertigung und eine Zukunft geben mußte. Wie er aus Indien heimkehrend die Lage seines Reiches ge­ funden hatte, mußte er inne werden, welche Schäden an dem zu hastigen Aufbau, so wie er noch war, hafteten. Die Strenge seiner Strafen mochte der unmittelbaren Gefahr wehren, von neuen Freveln zurückschrecken, den Bedrückten wie den Bedrückern zeigen, daß ein scharfes Auge und eine gewaltige Hand über sie sei. Aber das Schwerere war, nach solchen zehn Jahren voll unge­ heurer Wechsel und unermeßlicher Aufregungen, nach allen den Steigerungen der Leidenschaften, der Ansprüche und Genüsse bei den Sieger», der Furcht und Erbitterung bei den Befiegten alle wieder zum ruhigen Atmen, zum Gleichmaß, zur Alltäglichkeit zu gewöhnen. Wenigstens in Alexanders Art, vielleicht in der Lage der Dinge, mit denen er zu rechnen hatte, lag es nicht, in solcher Weise zu ver­ fahren. Die Sonnenhöhe seines Lebens hatte er überschritten; es ging nun niederwärts und die Schatte» wuchsen. Es mag an dieser Stelle gestattet sein, die hauptsächlichsten Momente hervorzuheben, die das weiterdrängende Schwellen und Steigen der Flut von Schwierigkeiten bezeichnen, die nun ein­ setzte. In dem Maße, wie aus dem Getanen und den Prinzipien, die es in stch trug, Zuständlichkeiten werben sollten, traten Konsequenzen, 3*

Widersprüche, Unmöglichkeiten hervor, in denen das „andere Antlitz", das der vollbrachten Tat, sich zeigte, und um so heftiger drängte die schwellende Bewegung weiter. Wie die Maßregel, die Nikanor bei der olympischen Feier ver­ kündete, politisch gewirkt hat, ist angegeben worden*). Aber die nun Hetmkehrenden hatten Daheim ihr Haus, ihre Äcker gehabt, die seitdem konfisziert, verkauft und weiter verkauft waren. In jeder hellenischen Stadt folgten der Heimkehr der Flüchtlinge Ärgernisse und Prozesse mannigfachster Art. In Mitylene half man sich mit einem Vertrage zwischen den Verbannten und den Zurückgebliebenen, nach dem eine gemeinsame Kommission die Besitzverhältnisse regeln sollte; in Eresos ließ man „nach dem Befehl des Königs" die Gerichte den Flüchtlingen gegen die Tyrannen, die sie ausgetrieben hatten, deren Nachkommen und Anhänger ihr Recht schaffen; in Kalymna übertrug man fünf Bürgern aus Zasos das Schieds­ gericht. Es sind zufällige Notizen, die sich erhalten haben; in der Natur der Sache lag es, daß ungefähr jede hellenische Stadt in derselben Frage die gleiche Aufregung durchmache» mußte. Eins der stärksten Fermente für die neu werbenden Zustände muß die ungeheure Masse edlen Metalles gewesen sein, die die Eroberung Asiens in Alexanders Hand brachte. Dor dem peloponnesischen Kriege war Athen damit, daß es auf der Akropolis außer den silbernen und goldenen Geräten 9000 Talente geprägtes Silber im Schatz hatte, die größte Kapitalmacht der hellenischen Welt gewesen, und vor allem darin hatte es seine politische Überlegen­ heit über die noch völlig in der Naturalwirtschaft verharrenden Staaten des peloponnesischen Bundes gesichert gesehn. Jetzt handelte es sich um ganz andere Summen. Außer dem, was Alexander in dem persischen Lager bei Jffos, in Damaskos, in Arbela usw. erbeutete, fand er, wie angegeben wird, in Susa 50000 Talente, in Persepolis ebensoviel, in Pasargadat 6000, wettere Summen in Ekbatana; es sollen dort von ihm 180000 Talente niedergelegt worden sein. Was sonst an goldenen und silbernen Geräten, an Purpur, Edelsteinen, Kleinodien usw. in

*) Es handelt sich um ein bei den Olympischen Spielen (324) von Mkamor verkündetes königliches Dekret, wonach den Verbannten die Rück­ kehr in ihre Heimatstädte zngeflchert wurde. Die Durchführung dieser Maßnahme erregte in einzelnen Städten- besonders auch in Athen, große Mißstimmung, die fich hauptsächlich aus der vermögensrechtlichen Aus­ einandersetzung mit den Verbannten ergeben mußte.

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Alexanders Hand fiel, was in den Satrapien, was in Indien hinzu­ gekommen ist, wird nicht angegeben. Man wird auf jene Ziffer» keine statistische Berechnung der Massen Goldes und Silbers gründen wollen, die mit der Eroberung Alexanders und im Laufe von zehn Jahren dem Verkehr wieder zugeführt wurden. Aber wen» die neue Königsmacht, welche nun über Asten herrschte, die bisher totgelegte» Reichtümer entfesselte, wenn ste von ihr wie das Blut vom Herze» ausströmten, so steht man, wie damit, baß Arbeit und Verkehr fle in immer rascherer Zirkulation durch die lang unterbundenen und welk gewordene« Glieder des Reichs verbreiteten, das ganze wirtschaftliche Leben der Völker, deren Kraft die perfische Herrschaft vampyrhast avsgesogen hatte, flch aufttchten und steigern mußte. Freilich war damit ein ent­ sprechendes Steigen der Preise, eine Verschiebung der Schwer­ punkte des bisherigen Weltverkehrs, das Sinken der Handels­ bilanz für diejenigen Plätze, von denen er flch abwandle, un­ vermeidlich verbunden, ein Umstand, aus dem vielleicht manche Er­ scheinungen in de» althellenischen Landen, welche die nächste Folge­ zeit brachte, zu erklären find. Rach Herodots Angabe war der jährliche Betrag der Tribute im perflsche« Reich nach der Grundsteuer 14560 euboische Talente. Eine fteilich nicht aus bester Quelle stammende Angabe rechnet in dem letzten Jahre Alexanders den Ertrag des Tributs auf 30000 Talente und fügt hinzu, daß im Schatz nur noch 50000 Talente gewesen seien. Vor allem drückend war in der perstschen Zeit die endlose Masse der Naturalleistungen gewesen, wie denn die für den königliche« Hof allein auf 13000 Talente jährlich berechnet worden find; und jeder Satrap, jeder Hyparch und Dynast folgte in seinem Bereich dem Beispiel des Großkönigs. Aus einigen Andeutungen ist zu schließe», daß Alexander das System der Naturallieferungen aufhob; in demselben Maße, wie früher des Großkönigs An­ wesenheit eine Stadt oder Landschaft aussog, sollte fle fortan durch den Aufenthalt des königlichen Hoflagers gewinnen. Die Pracht, mit der flch der König namentlich in der letzten Zeit umgab, er­ drückte nicht mehr, sondern förderte Verkehr und Wohlstand; und wenn erzählt wird, daß er, um sein ganzes Hofgestade in Purpur zu kleiden, den Befehl «ach Ionien sandte, allen Vorrat an Purpur­ stoffen daselbst aufzukaufen, so läßt dieser einzelne Fall auf andere ähnliche schließen. Es versteht flch wohl von selbst, daß auch die

Satrapen, die Strategen usw. in den Provinzen nicht mehr auf Naturallieferungen gestellt waren; nicht minder, daß ihre ordnungs­ mäßigen Einnahmen hoch genug waren, sie mit dem nötigen Glanz leben zu lassen; was man auch von ihrer oft unsinnigen Verschwen­ dung sagen mag, sie gaben zu verdienen. Durch reiche Schenkungen, z. B. bei den von Opis heimziehenden Veteranen ein Talent für den Mann, sorgte der König dafür, daß auch die Truppen, zumal die ausgedienten, bequem leben konnten; und wenn der Soldat oft genug mehr verbrauchte als er hatte, so bezahlte der König mit unerschöpflicher Freigebigkeit dessen Schulden. Daß er für Dichter, Künstler, Philosophen, Virtuosen, für jede Art wissenschaftlicher Forschung immer offene Hand hatte, ist bekannt; und wenn es heißt, daß Aristoteles behufs seiner naturhistorische» Untersuchungen die Summe von 800 Talente» zu seiner Verfügung erhielt, so würde man an der Wahrheit dieser Angabe zu zweifeln geneigt sein, wenn sie nicht durch den Umfang seiner Leistungen begreiflich würde. Wenigstens erinnert mag hier werden an die großen Bau­ unternehmungen Alexanders, von denen gelegentliche Erwähnung geschieht, so die Wiederherstellung des Kanalsystems in Babylonien, die Auftäumung der Abzugsgräben vom Kopaissee, der Wieder­ aufbau der verfallenen Tempel in Hellas, wozu er 10000 Talente angewiesen haben soll, der Dammbau bei Klazomenai und die Durchstechung der Landenge von dort nach Teos und manches andere. Genug, um anzudeuten, was dem wirtschaftliche» Leben Alexanders Erfolge bedeuteten. Vielleicht nie wieder ist in diesen Beziehungen von dem persönliche» Einfluß eines Mannes eine so plötzliche und so tiefgreifende, so ungeheure Bereiche umfassende Umgestaltung ausgegangen. Sie war nicht das Ergebnis zusammen­ treffender Zufälligkeiten, sondern, soviel zu erkennen ist, gewollt und mit bewußter Konsequenz durchgeführt. Wen» einmal die Völker Asiens aufgerüttelt waren, wenn der Weste» die Genüsse des Ostens, der Osten die Künste des Westens kennen und bedürfen gelernt hatte, wenn die Abendländischen, die in Indien oder Baktrien geblieben, die Asiate», die aus allen Satrapien am Hofe versammelt waren, des Heimischen in der Fremde nur um so mehr begehrten, wenn das Durcheinander der verschiedensten Lebensweisen und Be­ dürfnisse, wie es sich zur höchsten Pracht gesteigert am Königshofe fand, in de» Satrapien, in den Häuser» der Vornehmen, in allen Kreisen des Lebens mehr oder minder zur herrschenden Mode

werden mußte, so ergab sich unmittelbar das Bedürfnis eines großen und durchgreifenden Handelsverkehrs, und es kam vor allem darauf an, demselben die sichersten und bequemsten Straßen zu öffnen und ihm in einer Reihe bedeutender Zentralpunkte Zu­ sammenhang und Stetigkeit zu geben. Diese Rücksicht, neben der militärischen, hat Alexander von Anfang an bei seinen Gründungen und Kolonisierungen im Auge gehabt, und die meisten seiner Städte stnd bis auf den heutigen Tag die bedeutendsten Emporien Asiens; nur daß heute die Karawanenzüge räuberischen Über­ fällen und willkürlichen Bedrückungen der Gewalthaber ausge­ setzt sind, während in Alexanders Reiche die Straßen gesichert, die Räuberstämme der Gebirge und der Wüsten in Furcht gehalten oder zur Ansiedelung genötigt, die königlichen Beamten jur Förde­ rung und Sicherung des Verkehrs verpflichtet und bereit waren. Auch die Kauffahrtei auf dem Mttelmeere wuchs außerordentlich, und schon jetzt begann das ägyptische Alexandrien Mittelpunkt des mittelländische» Verkehrs zu werden, der nach des Königs Plänen bald vor den Räubereien etruskischer und illyrischer Piraten geschützt werden sollte. Besonders wichtig aber war die unermüd­ liche Sorgfalt, mit der Alexander neue maritime Verbindungen zu eröffnen suchte; schon war es ihm gelungen, einen Seeweg vom Indus zum Euphrat und Tigris zu finden; die Gründung hellenisti­ scher Hafenstädte an den Mündungen dieser Ströme gab dem Verkehr auf dieser Seite die nötigen Stützpunkte; was Alexander tat, denselben in Aufnahme zu bringen und dem Inneren des syrischen Tieflandes mit den Strommündungen in ähnlicher Weise, wie den Jndusmündungen mit den oberen Jnduslandschaften, unmittelbare Handelsverbindung zu schaffen, wie er die Auffindung eines weiteren Seeweges vom persischen Meerbusen aus um die Halbinsel Arabien bis in das rote Meer und in die Nähe von Alexandrien plante, wie er Heer- und Handelsstraßen vom ägypti­ schen Alexandrien aus abendwärts an der Südküste des Mittel­ meeres entlang zu führen beabsichtigte, wie er endlich in der Hoff­ nung, eine Verbindung des kaspischen Meeres mit dem nördlichen und weiter dem indischen Ozean aufzufinden, in den hyrkanischen Wäldern Schiffe zu bauen anordnete, davon wird demnächst die Rebe sein. Noch ein anderer Gesichtspunkt verdient auch an dieser Stelle hervorgehoben zu werden, der der begonnenen Völkermischung, in der Alexander zugleich das Ziel und das Mittel semer Grün-

düngen sah. In einer Zett von zehn Jahre» war eine Welt ent­ deckt und erobert worden, waren die Schranken gefalle«, die Morgenund Abendland schieden, und die Wege geöffnet, die fortan die Länder des Aufganges und Niederganges miteinander vereine» sollten. Ein alter Schriftsteller sagt: „Wie in einem Becher der Liebe waren die Clemente alles Dölkerlebens ineinander gemischt, und die Völker tranken gemeinsam aus diesem Becher, und ver­ gaßen der alten Feindschaft und der eigene» Ohnmacht. Es ist hier nicht der Ort, darjulegen, zu welche» Folgen flch diese Dölkermischung entwickelt hat; sie sind die Geschichte der nächsten Jahrhunderte. Aber schon in diesen ihren Anfänge» lassen sich die Richtungen erkenne», die sich dann in Kunst, Wissen­ schaft, Religion, in allem menschlichen Erkenne« und Wolle« immer breiter entfaltet haben, oft wüst genug, oft zu Entartungen, in bene« nur der historische Blick, der über Jahrhunderte hin die Zusammen­ hänge erfaßt, den in der Tiefe wirkenden mächtige» Zug des Fort­ schreitens zu entdecken vermag. Es war für die hellenische Kunst kein Gewinn, daß sie die stille Größe harmonischer Verhältnisse zu dem asiatischen Prunk gewaltiger Masse» zu steigern, de» Idealis­ mus ihrer Darstellungen in der Üppigkeit kostbarer Materialien und realistischer Augenlust zu überbieten lernte. Die düstere Pracht der ägyptischen Tempel, die phantastische« Felsenbauten von Persepolis, die Riesentrümmer von Babylon, die indische» Pracht­ bauten mit ihren Schlangeaidole» und den lagernde» Elephanten unter de» Säulen, das alles wurde dem hellenischen Künstler, mit de» Traditionen seiner heimatlichen Kunst vermischt, immerhin ein reicher Schatz neuer Anschauungen und Entwürfe; aber schon schweiften die Konzeptionen ins ungeheure; man erinnere sich jenes Riesenplans des Deinokrates, den Berg Athos zu einer Statue Alexanders auszumetßel», deren eine Hand eine Stadt von zehntausend Einwohnern tragen, die andere einen Bergstrom in mächtige« Kaskaden in das Meer hinabgießen sollte. Auch die poetische Kunst versuchte es, an diesem neue« Lebe» Anteil zu gewinnen; sie entwickelte in der sogenannten neuen Komödie eine Feinheit psychologischer Beobachtung und eine Virtuosität, die Charaktere und Situationen des täglichen Lebens, des soziale» Kleinlebens möchte man sagen, zu schildern, die lebhafter als alles andere empfinde» läßt, wie weit htnweg man von dem alten Zuge der großen Gemeinintereffen, der großen Gedanken und Leiden­ schaften ist, die das Lebe» lebenswert machen. So dem Jnbivi-

duelle» und Realistischen htngegeben, hat die hellenische Poesie weder ans den Heldenkämpfen, die sie jetzt sich vollziehen sah, noch aus de» staunenswürdigen neuen Gestaltungen, die ihr durch sie erschlossen wurden, sich neue Bahnen gewonnen; sie hat nicht mehr vermocht, die Farbenpracht persischer Märchen oder die überirdische Feierlich­ keit monotheistischer Psalmen und Prophetien in sich aufzunehmen; sie kehrte, wenn sie sich über das beliebte Tagtägliche erheben wollte, zur Nachahmung ihrer klassischen Zeit zurück und überließ es dem Morgenlande, die Erinnerung an den gemeinsamen Helden Jskaader in tausend Sage» und Gesängen von Geschlecht zu Ge­ schlecht zu vererben. Unter de« redende» Künsten der Hellenen konnte nur die jüngste, die noch fttsch und lebendig unter den Zeit­ genossen blühte, neue Formen zu gewinne» versuche», und die sogenannte astantsche Beredsamkeit, blühend und überreich an Schmuck, ist ein charakteristisches Erzeugnis dieser Zeit. Desto fruchtbarer «ar die Umgestaltung, welche in den Wissen­ schaften begann. Durch Aristoteles «ar jener großartige Empiris­ mus ins Leben gerufen, dessen die Wissenschaft bedurfte, um des ungeheueren Vorrates von neuem Stoff, de» Alexanders Züge jedem Zweige des menschlichen Erkennens eroberte«, Herr zu werden. Der König, selbst Schüler des Aristoteles, und mit allem, was die Studien hellenischer Ärzte, Philosophen und Rhetoren bisher geleistet hatten, vertraut, bewahrte stets das lebendigste Interesse für dieselbe«; ihn begleiteten auf seinen Züge» Männer von allen Fächern der Wissenschaft; sie beobachteten, forschten, sammelten, sie vermaßen die neuen Länder und die Hauptstraße» in denselben. Ebenso begann für die geschichtlichen Studien eine neue Epoche; man konnte jetzt an Ort und Stelle forsche«, konnte die Sage» der Völker mit ihre« Denkmalen, ihre Schicksale mit ihren Sitten vergleichen, und trotz der unzähligen Irrtümer und Märchen, welche durch die sogenannten Schriftsteller Alexanders verbreitet wurden, ist doch erst mit dieser Zeit das Material und demnächst die Methode für die große geschichtliche Forschung gewonnen worden. In mancher Beziehung konnte die hellenische Wissenschaft unmittelbar von dem Morgenländer lerne«, und die große Tradition astronomischer Beobachtungen in Babylon, die bedeutende Arzneikunde, die im indischen Lande gewesen zu sein scheint, die eigentümlichen Kennt­ nisse der Anatomie und Mechanik unter de» Priestern Ägyptens gewannen unter der Hand hellenischer Forscher und Denker neue Bedeutung. Die eigentümliche Entwicklung des hellenischen Geistes

hatte bisher die Philosophie als den Inbegriff alles Wissens dar­ gestellt; jetzt emanzipierten sich die einzelnen Richtungen des Er­ kennens; die exakten Wissenschaften begannen sich, auf selbständige Empirie gestützt, zu entfalten, während die Philosophie, uneins über das Verhältnis des Denkens zur Wirklichkeit, bald die Er­ scheinungen für die Gedanken, bald die Erkenntnis für die Er­ scheinungen unzulänglich nannte. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Umgestaltung des Völkerlebens in sittlicher, sozialer, religiöser Beziehung langsamer und bis auf einzelne Eruptionen unmerklich vor sich gehen mußte; und wenn sich gegen das Neue, welches unter Alexanders Regi­ ment natürlicherweise zu plötzlich, zu unvorbereitet, oft gewaltsam ins Leben gerufen war, mit seinem Tode eine Reaktion hervor­ trat, welche in den dreißig Jahren der Diadochenkämpfe sich bald dieser, bald jener Partei anschloß, so war das Resultat kein anderes, als daß das Neue endlich zur Gewohnheit wurde und, nach den volkstümlichen Verschiedenheiten modifiziert, solche Formen an­ nahm, in die sich das Leben der Völker unter einem fortan gleichen und gemeinsamen Prinzip weiter hineinbilden konnte. Auf ein allmähliches Verschwinde» nationaler Vorurteile, auf eine gegen­ seitige Annäherung in Bedürfnissen, Sitten und Ansichten, auf ein positives und unmittelbares Verhalten der sonst entzweiten Volks­ tümlichkeiten gründete sich ein vollkommen neues, soziales Leben; und wie etwa in neuer Zeit gewisse Anschauungen, Voraussetzungen, Konvenienzen bis zu den Moden hinab, die Einheit der zivilisierten Welt bekundet, so hat sich in jener hellenistischen Zeit, und, ich zweifle nicht, unter ähnlichen Formen eine Weltbildung durch­ gearbeitet, die am Nil und Jaxartes dieselben konventionellen Formen als die der guten Gesellschaft, der gebildeten Welt geltend machte. Attische Sprache und Sitte wurde die Richtschnur der Höfe von Alexandreia und Babylon, von Baktra und Pergamon; und als der Hellenismus seine politische Selbständigkeit dem römischen Staate gegenüber verlor, begann er in Rom die Herr­ schaft der Mode und Bildung zu gewinnen. So darf man den Hellenismus mit Recht die erste Welteinheit nennen; während das Achaimenidenreich nichts als ein äußerliches Aggregat von Länder­ massen war, deren Bevölkerungen nur die gleiche Knechtschaft miteinander gemein hatten, blieb in den Ländern des Hellenis­ mus, selbst als sie zu verschiedenen Reichen zerfielen, die höhere Einheit der Bildung, des Geschmacks, der Mode, oder wie man

tonst dieses stets wechselnde Niveau der menschlichen Gesellschaft nennen will. Auf die sittlichen Zustände der Völker werden politische Ver­ änderungen stets in dem Verhältnis der unmittelbaren Beteiligung weniger, vieler, aller an den Funktionen des Staates wirken. Dieselbe geschichtliche Versumpfung, welche die Völker Asiens bisher in den stumpfsten politischen Formen, den despotischen und den hierarchische», hatte verharren lassen, ließ sie zunächst und zum guten Teil bei dem unermeßlichen Wechsel, der über sie gekommen war, stumm und passiv; wenn sich Alexander vielfach ihrem Her­ kommen und ihren Vorurteilen gefügt hatte, so zeigt das, auf welchem Wege allein es möglich war, sie allmählich über sich selbst hinauszu­ führen. Natürlich war der Erfolg dieser Bemühungen je nach dem Charakter der verschiedenen Völker sehr verschieden, und während die Uxter und Mardier erst lernen mußten, den Acker zu bestellen, „die Hyrkaner, ehelich zu leben, die Sogdianer, ihre alternden Väter z« ernähren, statt zu töten", hatte der Ägypter schon seinen Abscheu gegen die kastenlosen Fremdlinge, der Phoiniker die Greuel seiner Molochsopfer zu verlernen begonnen. Dennoch konnte erst die Folgezeit allmählich eine neue und analoge Weise zu sein, zu denken und zu handeln heranbilden, um so mehr, da de» meisten alt­ asiatischen Völkern die Grundlage ihrer Moral, ihrer persönlichen und rechtlichen Verhältnisse, welche den Hellenen dieser Zeit nur noch in dem positiven Gesetz oder in der entwickelten Erkenntnis ethischer Prinzipien gegeben schien, in der Religion enthalten war und durch sie gewiß und zwingend galt. Die Völker Asiens aufzu­ klären, ihnen die Fesseln der Superstition, der unfreien Frömmig­ keit, zu zerreißen, ihnen das Wollen und Können selbstgewiffer Ver­ ständigkeit zu erwecken und zu allen Konsequenzen, den heilvollen wie gefährlichen, zu steigern, kurz, sie für das geschichtliche Leben zu emanzipieren, das war die Arbeit, welche der Hellenismus in Asien zu vollbringen versucht und zum Teil, wenn auch erst spät, voll­ bracht hat. Schneller und entschiedener ist die Umgestaltung der sittlichen Zustände in dem makedonischen und hellenischen Volkstum hervor­ getreten. Beiden gemeinsam wird in Alexanders Zeit die Steigerung alles Könnens und Wollens, die Überspannung der Ansprüche und der Leidenschaften, das Leben in dem Moment und für ihn, der rücksichtslose Realismus; und doch, wie verschieden sind sie in jeder Beziehung. Der Makedone, vor drei Jahrzehnten noch von bäue-

rischer Einfalt, an der Scholle haftend und in dem gleichgültigen Einerlei seiner armen Heimat zufrieden, denkt jetzt nichts als Ruhm, Macht und Kampf; er fühlt sich Herr etner neuen Welt, die er stolzer ist zu verachten als erobert zu haben; aus den unablässigen KriegSfahrten hat er jenes trotzige Selbstgefühl, jene kalte militärische Schroffheit, jene Geringschätzung der Gefahr und des eigene» Lebens heimgebracht, wie sie die Zeiten der Diadoche« oft genug in der Karikatur zeigen; und wenn große geschichtliche Durch­ lebungen der Denkweise und der Physiognomie der Völker ihr Gepräge geben, so sind die Narben des zehnjährigen morgen­ ländische» Krieges, die in endlosen Strapazen, in Entbehrungen und Ausschweifungen aller Art tiefgefurchten Züge der Typus der Makedone». Anders das hellenische Wesen daheim. Dessen Zett ist vorüber; weder von dem Drange zu neuen Taten, »och von dem Bewußtsein politischer Macht gehoben, begnügen sich diese einst so rüstigen Hellenen mit dem Glanze ihrer Erinnerungen; das Prahlen ersetzt ihnen den Ruhm, und übersättigt von Genuß suchen sie um so mehr dessen oberflächliche Form, de» Wechsel; um so leichtfertiger, fahriger, parrheflastischer, um so entfernter jeder einzelne, sich einer Verantwortung oder Autorität «nterzuordnen, und um so loser und zuchtloser insgemein geht bas Griechentum in jene geistreiche, pikante, nervöse Dielgeschäftigkeit über, die immer das letzte Stadium in dem Leben der Völker bezeichnet; alles Positive, alles Haltende und Zusammenhaltende, selbst das Gefühl, Schlacke gewor­ den zu sein, geht dahin; das Werk der Aufklärunö hat sich vollbracht. Man darf wohl sagen, daß durch diese Aufklärung, so nivellie­ rend und widrig sie im einzelne» erscheint, die Kraft des Heiden­ tums gebrochen und eine geistigere Entwicklung der Religion möglich geworden ist. Nichts ist in dieser Beziehung wirksamer gewesen als jene sonderbare Erscheinung der Göttermischung, der Theokrafle, an der in den nächstfolgenden Jahrhunderten alle Völker des Hellenismus Anteil nahmen. Wen» man die Gottheiten, die Kulte, die Mythen des Heiden­ tums alL den eigensten und lebendigsten Ausdruck der ethno­ graphischen und geschichtlichen Verschiedenheit der Völker betrachte» darf, so lag da für das Werk, das Alexander schaffen wollte, die größte Schwierigkeit. Seine Politik traf den Nerv der Sache, wenn er, in dessen Person und Regiment zunächst jene Einheit sich darstellen mußte, in seiner unmittelbaren Umgebung so gut den indischen Büßer Kalanos und den persischen Magier OsthaneS wie den

lykischen Zeichendeuter Aristandros hatte, wenn er den Gottheiten der Ägypter, der Perser, der Babylonier, dem Baal von Tarsos, dem Jehovah der Juden sich in gleicher Weise wie ihren Gläubigen zuwandte und, alle Zeremonien und Ansprüche ihres Kultus er­ füllend, dessen Bedeutung und Inhalt als offene Frage zur Seite ließ, vielleicht da und dort schon Anschauungen und Gehetmlehren priesterlicher Weisheit begegnend, die in pantheistischer, deistischer, nihilistischer Fassung des Volksglaubens dem entgegenkam, was den gebildete« Hellenen ihre Philosophie gab. Des Königs Beispiel wird rasch genug in weiten und weitere« Kreise» gewirkt haben; man begann, nun dreister als es schon immer hellenische Art gewesen, Götter der Fremde heimisch zu machen und die heimatlichen Götter in denen der Fremde wieder zu erkennen, die Sagenkreise und Theogonien der verschiedene« Völker zu vergleiche« und in Einklang zu bringen; man begann sich zu überzeugen, daß alle Völker, in mehr ober minder glücklichem Bilde, in ihren Göttern dieselbe Gottheit verehrten, mehr oder minder tief gefaßt dieselbe Ahnung des Überirdischen, des Absolute», des letzten Zweckes oder Grundes auszusprechen versuchten, und daß die Unterschiede der göttliche« Namen, Attribute, Ämter, nur äußerliche und zufällige, zu berichtigen und zu ihrem Gedanke» zu vertiefen seien. So offenbarte es sich, daß die Zeit lokaler und nationaler, das heißt heidnischer Religionen vorüber, daß die endlich sich einigende Menschheit einer einige» und allgemeinen Religion bedürftig und fähig sei; die Theokrasie war selbst nichts als ein Versuch, durch Verschmelzung aller jener verschiedenen Religionssysteme eine Einheit hervorzubringea; nur daß sie auf diesem Wege in der Lat doch nimmer erreicht werde« konnte. Es war die Arbeit der hellenisti­ sche« Jahrhunderte, die Elemente einer höhere» und wahrhafteren Einigung zu erwirken, das Gefühl der Endlichkeit und Ohnmacht, das Bedürfnis der Buße und des Trostes, die Kraft der tiefsten Demut und Erhebung bis zur Freiheit in Gott und zur Kindschaft Gottes zu entwickeln; es sind die Jahrhunderte der Entgötterung der Welt und der Herze», der tiefsten Verlorenheit und Trostlosig­ keit, des immer lauteren Rufes »ach dem Erlösenden. In Alexander hat sich der Anthropomorphismus des helleni­ sche» Heidentums erfüllt; ein Mensch ist Gott geworden; sein, des Gottes, ist das Reich dieser Welt, in ihm der Mensch erhöht zu der höchsten Höhe der Endlichkeit, durch ihn die Menschheit erniedrigt, vor dem anzubeten, der der sterblich Geborenen einer ist.

Roms Bedeutung D. G. Niebuhr (Einleitung j» den Vorlesungen über die römische Geschichte)

Als die Griechen unter Roms Oberherrschaft gefallen waren, beschäftigte die Frage, ob Roms Größe eine Gabe des Glücks, oder frei, wie sie es nannten, durch Tugend, erworben sei, ihre Schrift­ steller, von denen die Meinung der Lesenden und der Gesellschaft des wehrlosen und müßigen Ostens bestimmt ward. Es war eine müßige Frage; nicht in dem Sinn aufgestellt, wie Mithridates ihr wohl später nachgesonnen haben mag: ob jeder Widerstand fruchtlos sei» würde? ob ein unwandelbares Schicksal Rom die Weltherrschaft bestimmt habe? ob, fast ebenso fruchtbar wie dieses, eine unerreichbare Vortrefflichkeit des Nationalsinnes und der Einrichtungen römischen Heeren den Sieg auf ewig jusichere? Es war nur die Beschäftigung derjenigen, welche sich der Scham entledigen wollten über die schmähliche Art, mit der sie in ihr Elend herabgesunken waren, indem sie Mangel an Kraft, Tugend und Verstand da als Nebensache ausgaben, wo ein unwiderstehliches Schicksal geboten habe; wobei sie nach Sklavenart, wie Xanthias bei dem Komiker, den höchsten Genuß darin fanden, ihre Herren zu behorchen, zu beklatschen und zu belügen. Polybius, dem es Ernst gewesen war, der sich treu blieb, aber der allmächtigen Gewalt gehorchte, an der die törichte Verwegenheit seiner von Leichtsinnigen und Heillosen aufgeregten Nation zertrümmerte, fühlte sich durch das Geschwätz solcher Schriftsteller erbittert, und einer der Zwecke seiner Geschichte war, den Griechen klar zu machen, wie Roms Größe nicht durch Fatalität, sonder» durch festen Willen, zweck­ mäßige Institutionen, unermüdete Aufmerksamkeit auf ihre Er­ haltung, Ausbildung und Anwendung begründet sei. Damit aber legte er de» Römern seiner Zeit dennoch nicht das Lob eigent­ licher Tugend bei; und wenn er sich hin und wieder mit einem uns an einem Manne seiner Verhältnisse befremdenden Enthusias­ mus ausdrückt, so müssen wir erwägen, daß er überhaupt ein ganz praktischer Mensch war, dem durchgehends Wärme und der Sinn für das Idealische fehlte, mit dem die Athenienser auch

das, was vor ihren Augen vorging, vor allem aber, was diesen durch eine auch kurje Vergangenheit entrückt war, betrachteten. In diesem Mangel liegen eben die Unvollkommenheiten seines Werks, welche ihn, nach dem Urteil seiner Landsleute, zu einem Geschichtschreiber vom zweiten Rang machten. Er fand in allen Staaten, die später in das römische Reich versanken, alles zum Untergang reif, und weil er sich bewußt war, daß er selbst mit nur sehr wenige» Gleichgesinnten diesem Strom vergebens wider­ standen hatte, weil er die, durch deren verschiedenartige Sünde das Elend bestand, Kallikrates, Diäus, Kritolaus, bitter verachtete, Scipio aber, Cato und Paullus bewunderte: so trägt sein un­ bestechliches Urteil vielleicht in einzelnen Fällen mehr als den Schein der Gefühllosigkeit. Die «eueren, namentlich Machiavelli und Montesquieu, scheinen jene Frage, und in einem etwas veränderten Sinn, wieder hervorgerufen zu haben, und gehen in ihrer Bewunderung der Römer und ihrer Einrichtungen bis zur entschiedensten Parteilichkeit. Die herbe Frugalität der alten Republikaner, ihre Unempfindlichkeit für den Besitz und die Genüsse des Reichtums, die strenge Gesetzlichkeit des Volkes, die feste all­ gemeine Treue während der schönen Jahrhunderte, in denen die Verfassung, seitdem die Ansprüche der Aristokratie beschränkt waren, in ihrer ganzen Vollkommenheit lebte, der reine Sinn, welcher nie erlaubte, bei innerm Zwist fremde Einmischung zu suchen, die Allmacht der Gesetze und Gewohnheiten, und der Ernst, womit an ihnen dennoch geändert war-, was nicht mehr ange­ messen war, die Weisheit der Verfassung und Gesetze, das Ideal der Männlichkeit in den Bürgern und im Staat: alle diese Eigen­ schaften errege» gewiß in uns die Ehrfurcht, welche wir bei der Betrachtung keines andern Volks so empfinden können. Es ist kein Zustand von Unnatur und Zwang wie die Gesetzgebung Spartas, unter der, nach dem Urteil anderer Griechen, die Todes­ verachtung natürlich war, weil der Tod ein unleidliches Joch brach: es war ein Leben, welches vielmehr wahres und hohes individuelles Glück pflegte, einen von Sinnlichkeit freien, starke» Lebensgenuß. Andere vielleicht eben so vollkommene Verfassungen imponieren uns schon darum weniger, weil sie den Reichtum ehren; vielseitige und lebensvolle Völker können Fehlern nicht entgehen, gegen die nur Einseitigkeit schützt, und in den Begebenheiten der Vergangen­ heit empfinde» wir stärker, worin gefehlt wird, als was gebricht. So ist es ganz natürlich, daß wir, auch abgesehen von dem Glanz,

womit Macht und Stege immer umgeben sind, &u den Römern jener guten Jett der Republik mit Bewunderung hinaufsehen. Sie haben in ihren Tugenden eine große Ähnlichkeit mit den Arabern der ersten Kalifen: diesen aber fehlte die Verfassung, worin sie sich erhalten konnten. Die Römer waren Jahrhunderte lang in sich in einem Mittelpunkt jusammengedrängt: jene hatten nie diese Kerneinheit gehabt, sie zerstreuten sich über eine halbe Welt, und arteten schnell aus. Aber wenn wir uns lebhaft in jene Zeiten hineindenken, so wird sich doch ein Granen in jene Bewundernag mischen: denn, verträglich und abgefunden mit diesen Tugenden, herrschte« von den älteste» Zeiten her die furchtbarsten Laster, unersättliche Herrschsucht, gewissenlose Verachtung des ftemden Rechts, gefühllose Gleichgültigkeit gegen fremdes Leiden, Geiz, als Raubsucht »och fremd war, und eine ständige Absonderung, aus der nicht allein gegen de» Sklaven oder den Fremden, sondern gegen den Mitbürger oft unmenschliche Verstockung entstand. Allen diese» Lastern bereiteten eben jene Tugenden den Weg zur Herrschaft und gingen so selbst unter. Wenn wir nun, bei einem gerechten Urteil über die Römer, auch diese dunkeln Schatten nicht vergessen müsse», und also ihrer Verherrlichung nur mit Einschränkung beistimmen können, so müssen wir auch, obgleich in einem andern Sinn als jene Griechen, dem Schicksal einen großen Anteil an der römischen Größe bei­ messen. Durch de« ganzen Gang der Geschichte werden wir sehen, wie oft alle Tugenden des Staats und des Volks fruchtlos gewesen wären, wenn nicht das Schicksal Rom in Gefahren gerettet und seine Triumphe vorbereitet hätte. Die Völker und die Männer, denen Rom hätte unterliege» können, erschienen zu spät: in den Perioden der Schwäche hatte es nur ihm nicht überlegene Gegner zu be­ kämpfen; und «ährend Rom alles an alles setzte, und im Krieg lebte, schonten andere Völker ihre Anstrengungen, weil sie am Siege verzweifelten oder im Grunde ihres Herzens nur weichliche Muße liebten, was auch ihre mißratene« Unternehmungen anzu­ deuten scheinen mochten. Keins unter allen ging ihm mit ähnlichem Sian und einem ähnlichen Ziel entgegen, und schon darum mußte Rom über alle siegen. Philipps Ruhe am Anfänge des hannibalischen Kriegs: Mithridates' Untätigkeit, so lange der marsische Roms Dasein bedrohte und ein kleines Übergewicht entschieden haben würde: darin verkenne keiner Gottes Finger. Denn daß Rom nicht angeboren unüberwindlich war, ist erwiesen durch den Wider48

stand kleiner echt kriegerischer Völker, die nnrdurch die Zahl und Macht überwältigt wurden; so aber dienten auch diese Kriege in den Zwischenräumen zwischen den größeren und entscheidenderen, der Ausartung der Disziplin und Kriegskunst vorzubeugen, welche langer Friede auch bei den römischen Heeren leicht einführte. Im Fortgang der Begebenheiten, da Roms Eroberungen in einen Körper verwuchsen, verliert die Geschichte gänzlich das moralische und poetische Interesse der früheren Jahrhunderte, welches schon längst durch Zerrüttungen und Greuel und das Absterben aller einheimi­ schen Tugenden getrübt war. Es scheint der Gang der Weltgeschichte zu sein, daß Eroberungen und vielfache Vermischung die ursprüng­ lichen zahllosen Stämme ineinander schmelzen, und die, welche dieser Verschmelzung unfähig sind, austilgen; und dies hat die römische Herrschaft in einem größeren Maß und Umkreise, als irgendeine andere große Weltrevolution, selbst als die arabische, bewirkt. Selten wird bei dieser Vermischung für einzelne Völker Gewinn sein, einige verlieren unersetzbaren Besitz einer edlen ein­ heimischen Bildung, Wissenschaft und Literatur; schwerlich er­ setzt auch ungebildeteren Völkern eine feinere, doch auch sonst, wenn sie ihrer Natur angemessen war, nicht unerreichbare Kultur die Einbuße ihrer ursprünglichen Sprache, und mit ihr eigen­ tümlicher Sinnesart, einer Landesgeschichte und ererbter Gesetze. Diese» Verlust empfanden zuerst die Provinzialen, aber indem Roms und Italiens Bevölkerung sich aus ihnen und aus Frei­ gelassenen erneuerte, büßte Rom in gleichem Maße: seine Vorzeit und ihre Geschichte ward ihm so fremd, daß schon im dritten Jahr­ hundert unserer Zeitrechnung ein demütiger Lobredner ohne Furcht zu beleidigen zweifeln konnte, ob sein von ihm -em großen Scipio verglichener Herr vom hannibalischen Kriege wisse: daß Valens dem Eutropius auftrug, ihm eine dürftige Übersicht der Geschichte zu schreiben, weil sie ihm ganz unbekannt war. Doch aber, wie vieles auch die römische Herrschaft zertreten hat, müssen wir dankbar erkennen, was sie stiftete und erhielt. Sie hat fast alle Städte gegründet oder belebt, welche innerhalb ihres alten Ursprungs noch jetzt bestehen; die Sprachen des westliche» Europa, aus der lateinische» erzeugt, erhielten ihre Literatur zugänglich und machten ihre Wiederbelebung möglich. Ja die römische Herrschaft hat ohne Zweifel Griechenland und die griechischen Schriften erhalten; denn wäre der Osten nicht durch die Kräfte eines großen Reichs geschützt worden, so hätten die Barbaren diese entvölkerten und geschwächten

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Gegenden wahrscheinlich schon sehr früh, unfehlbar aber in den Zeiten der großen Dölkerbewegungen, überwältigt, und mit den entarteten Griechen auch die Schätze vertilgt, welche sie für auf­ lebende Jahrhunderte bewahrten. Roms Gesetzgebung war wenig­ stens für die römisch gewordenen Völker ein großer Vorteil, so wie sie auch uns unentbehrlich bleiben wird, da wir die unserer Vor­ fahren nicht ausgebildet und ihren Geist verloren haben: und wie die Vereinigung der römischen Welt der Ausbreitung der Religion notwendig war, wie Rom als ihr Mittelpunkt das gesamte Abend­ land bildete und erleuchtete, wird von Unparteiischen jetzt wohl nicht leicht verkannt und geleugnet. So können wir auf diese große Periode der Geschichte mit der Beruhigung zurücksehen, daß den folgenden Geschlechtern, nach der Not und dem Untergang ihrer Vorfahren, durch das, was sich festsetzte, wohl geworden ist. Don möglichen Ereignissen zu reden, die im Keim erstickt sind, ist eitel: und so wollen wir nicht trauern, daß allen manches unersetzte und unersetzliche Gut verloren ging, nicht fragen, ob der reichste Ersatz, den die Nachkommen genossen haben mögen, die Leiden jertretener Ge­ schlechter vergüten kann? Wir wenden wenigstens von jenen Zeiten unser Auge nicht so trübe und zweifelnd, als von de» Schicksalen des verheerten und verödeten Asiens, dessen schönsten Ländern, selbst dem Leben der Natur entzogen und jährlich mehr absterbend, selbst die MöglichkeitblühendererZeitevversagt,wodas Grab Schlußder Geschichte ist. Von unserer deutschen Nation aber, so viele ihrer Stämme die Heimat nicht verließen, wenigstens nicht unter besiegte» romanischen wohnend verfremdet wurden, dürfe» wir behaupten, daß sie für den Kampf, den sie Jahrhunderte lang gegen Rom bestand, später­ hin durch die Vorteile mehr als belohnt worden ist, welche aus der Welteinheit unter Rom entstanden; und daß ohne diese, und die Früchte, welche in ihr reiften, wir schwerlich aufgehört haben würden, Barbaren zu sein. Nicht die Formen, welche unsre Vor­ fahren bei der Ausbreitung der Literatur von dort und vom klassischen Boden sich aneigneten, haben ihre ehrwürdige und unersetzliche Eigentümlichkeit verdrängt; sie waren mit ihr verträglich: aber erborgte, erkünstelte, geistlose, welsche Formen, Geschmack und Ideen, wie sich deren schon früher bei uns zum Verderben der einheimischen eiageschlichev hatten, diese haben uns während einer langen Zeit lau und unwahr gemacht. Und so habe» auch wir, wenn andre Nationen in den Römern eins ihrer Stammvölker sehen, doch kein geringes eigentümliches Interesse an ihrer Geschichte.

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Die Grundlagen des römischen Staatsgebäubes I. G. Herder (Ideen Philosophie der Geschichte der Menschheit) Romulus jählte sein Volk und teilte es in Zünfte, Kurien und Zenturien; er überschlug die Äcker und verteilte sie dem Gottesdiensie, dem Staate und dem Volke. Das Volk sonderte er in Edle und Bürger; aus jenen schuf er den Senat und verband mit den ersten Ämtern des Staats auch die Heiligkeit priesterlicher Ge­ bräuche. Ein Trupp von Rittern wurde gewählt, die in den spätern Zeiten eine Art Mittelstandes zwischen dem Senat und Volke aus­ machten; so wie auch diese beiden Hauptstände durch Patrone und Klienten näher miteinander verknüpft wurden. Von den Etruskern nahm Romulus die Liktors mit Stäben und Beil; ein furchtbares Zeichen der Obergewalt, welches künftig jede höchste Obrigkeit in ihrem Kreise von Geschäften, nicht ohne Unterschiebe, mit sich führte. Er schloß fremde Götter aus, um Rom seinen eigenen Schutzgott zu sichern; er führte die Augurien und andere Wahrsagungen ein, die Religio» des Volks mit den Geschäften des Krieges und Staats innig verwebend. Er bestimmte das Ver­ hältnis des Weibes zum Manne, des Vaters zu seinen Kindern, richtete die Stabt ein, feierte Triumphe, ward endlich erschlagen und als ein Gott aagebetet. Siehe da die einfachen Punkte, um welche sich nachher das Rad der römischen Begebenheiten unauf­ hörlich wälzet. Denn wenn nun mit der Zeit die Klassen des Volkes vermehrt, verändert oder einander entgegengesetzt werden, wenn bittere Streitigkeiten entstehen, was für die Klassen oder Zünfte des Volks und für welche derselben es zuerst gehöre, wenn Unruhen über die wachsende Schuldenlast der Bürger und die Bedrückungen -er Reichen sich erheben, also auch so manche Vorschläge zur Er­ leichterung des Volks durch Zunftmeister, Verteilung der Äcker, oder die Rechtspflege durch einen mittleren, den Ritterstanb, getan werden, wenn Streitigkeiten über die Grenzen des Senats, der Patrizier und Plebejer bald diese, bald jene Form annehmen, bis beide Stände sich untereinander verlieren: so sehen wir in 4*

alle diesem nichts als notwendige Zufälle einer roh zusammengesetzten, lebendigen Maschine, wie der römische Staat innerhalb der Mauern einer Stadt sein mußte. Ein gleiches ifis mit den Vermehrungen obrigkeitlicher Würden, da die Zahl der Bürger, der Siege, der eroberten Länder und die Bedürfnisse des Staats wuchsen. Cin gleiches mit de» Einschränkungen und Vermehrungen der Triumphe, der Spiele, des Aufwandes, der männlichen und väterlichen Gewalt, nach den verschiedenen Zeitaltern der Sitten und Denkart; lauter Schattierungen jener alten Stadteinrichtung, die Romulus zwar nicht erfand, fie aber mit so fester Hand hinstellte, daß ste bis unter die Gewalt der Kaiser, ja fast bis auf den heutigen Tag der Grund der römischen Verfassung bleiben konnte. Sie heißt: 8. P. Q. R.1); vier Zauberworte, die die Welt unter­ jocht, zerstört und Rom zuletzt selbst durch einander unglücklich gemacht haben. Lasset «ns einige Hauptmomente der römischen Verfassung bemerken, aus denen das Schicksal Roms, wie der Daum ans seinen Wurzeln, entsprossen zu sein scheinet. Der römische Senat wie das römische Volk waren von frühen Zeiten an Krieger; Rom, von seinem höch­ sten bis im Notfälle zum niedrigsten Gliede, war ein Kriegsstaat. Der Senat ratschlagte; er gab aber auch in seinen Patriziern Feldherren und Gesandte: der wohlhabende Bürger von seinem siebzehnten bis zum sechsundvierzigsten oder gar fünf­ zigsten Jahre mußte zu Felde dienen. Wer nicht zehn Kriegszüge getan hatte, war keiner obrigkeitlichen Stelle würdig. Daher also der Staatsgeist der Römer im Felde, ihr Kriegsgeist im Staate. Ihre Beratschlagungen waren über Sachen, die sie kannten, ihre Entschlüsse wurden Taten. Der römische Gesandte prägte Königen Ehrfurcht ein: denn er konnte zugleich Heere führen und im Senate sowohl als im Felde das Schicksal über Königreiche entscheiden. Das Volk der obern Zenturien war keine rohe Masse des Pöbels; es bestand aus kriegs-, länder-, geschäfterfahrenen, begüterten Männern. Die ärmeren Zenturien galten mit ihren Stimmen auch minder und wurden in den besseren Zeiten Roms des Krieges nicht einmal fähig geachtet. Dieser Bestimmung ging die römische Erziehung insonderheit in den edlen Geschlechtern entgegen. Man lernte ratschlagen, reden, seine Stimme geben oder das Volk lenken; *) Der römische Senat und das römische Volk. 52

man ging früh in den Krieg und bahnte sich den Weg zu Triumphen oder Ehrengeschenken und (Staatsämtern. Daher der so eigene Charakter der römischen Geschichte und Beredsamkeit, selbst ihrer Rechtsgelehrsamkeit und Religion, Philosophie und Sprache; alle hauchen einen Staaten- und Tatengeist, einen männlichen kühnen Mut, mit Verschlagenheit und Bürger-Urbanität verbunden. Es läßt sich beinahe kein größerer Unterschied gedenken, als wenn man eine sinesische oder jüdische und römische Geschichte oder Beredsam­ keit miteinander vergleicht. Auch vom Geiste der Griechen, Sparta selbst nicht ausgenommen, ist der römische Geist verschieden, weil er bei diesem Volke gleichsam auf einer härteren Natur, auf älterer Gewohnheit, auf festeren Grundsätzen ruht. Der römische Senat starb nicht aus: seine Schlüffe, seine Maximen und der von Romulus her geerbte Römercharakter war ewig. Die römischen Feldherren waren oft Konsuls, deren Amt- und Feldherrnwürde gewöhnlich nur ein Jahr dauerte: sie mußten also eilen, um im Triumphe zurückzukehren, und der Nachfolger eilte seines Vorfahren Götterehre nach. Daher der unglaubliche Fortgang und die Vervielfältigung der römischen Kriege; einer entstand aus dem andern, wie einer den andern trieb. Man sparte sich sogar Gelegenheiten auf, um künftige Feldzüge zu beginnen, wenn der jetzige vollendet wäre, und wucherte mit den­ selben, wie mit einem Kapital der Deute, des Glücks und der Ehre. Daher das Interesse, das die Römer so gern an fremden Völkern nahmen, denen sie sich als Bundes- und Schutzverwandte oder als Schiedsrichter, gewiß nicht aus Menschenliebe aufdrängten. Ihre Bundesfreundschaft ward Vormundschaft, ihr Rat Befehl, ihre Entscheidung Krieg oder Herrschaft. Nie hat es einen kälteren Stolz und zuletzt eine schamlosere Kühnheit des befehlenden Auf­ dringens gegeben, als diese Römer bewiesen haben: sie glaubten, die Welt sei die ihre, und darum ward sies. Auch der römische Soldat nahm an den Ehren und am Lohne des Feldherrn teil. In den ersten Zeiten der Dürgertugend Roms diente man um keinen Sold: nachher ward er sparsam erteilt; mit den Eroberungen aber und der Empor­ hebung des Volks durch seine Tribunen wuchsen Sold, Lohn und Beute. Oft wurden die Äcker der Überwundenen unter die Soldaten verteilt, und es ist bekannt, daß die meisten und ältesten Streitig­ keiten der römischen Republik über die Austeilung der Äcker unter das Volk entstanden. Späterhin, bei auswärtigen Eroberungen,

nahm der Soldat teil an der Beute, und durch Ehre sowohl als durch reiche Geschenke am Triumphe seines Feldherrn selbst teil. Es gab Bürger-, Mauer-, Schiffskronen, und L. Dentatus konnte sich rühmen, „daß, da er hundertundjwanjig Treffen beigewohnt, achtmal im Zweikampfe gesiegt, vorn am Leibe fünfundvierjig Wunden und hinten keine erhalten, er dem Feinde fünfunddreißigmal die Waffen abgezogen und mit achtzehn unbeschlagenen Spießen, mit fünfundzwanzig Pferdezierraten, mit dreiundachtzig Ketten, hundertundsechzig Armringen, mit sechsundzwanzig Kronen, näm­ lich vierzehn Bürger-, acht goldenen, drei Mauer- und einer Er­ rettungskrone, außerdem mit barem Gelde, zehn Gefangenen und zwanzig Ochsen beschenkt sei". Weil überdies der Ehrenpunkt unserer stehenden Armeen, in denen niemand zurück dienet und nach dem Alter des Dienstes ein jeder fortrückt, in den längsten Zeiten des römischen Staats nicht stattfand, sondern der Feldherr sich seine Tribunen und diese ihre Unterbefehlshaber beim Anfänge des Krieges selbst wählten: so ward notwendig damit eine freiere Konkurrenz zu Ehrenstellen und Geschäften des Krieges eröffnet, auch ein engerer Zusammenhang zwischen dem Feldherren, den Befehlshabern und der Armee errichtet. Das ganze Heer war ein zu diesem Feldzüge erlesener Körper, in dessen kleinstem Gliebe der Feldherr durch die Vertreter seiner Stelle als Seele lebte. Je mehr mit der Zeitfolge in Rom die Maner durchbrochen ward, die im Anfänge der Republik Patrizier und Volk schied, desto mehr ward auch das Kriegsglück und die Tapferkeit im Kriege für alle Stände der Weg zu Ehrenstelle«, Reichtümern und der Macht im Staate; so daß in den späteren Zeiten die ersten Allgewaltigen Roms, Marius und Sulla, aus dem Volke waren, und zuletzt gar die schlechtesten Menschen zu den höchsten Würden stiegen. Unstreitig war dies das Verderben Roms, so wie im Anfänge der Republik der Patrizierstolz seine Stütze gewesen war, und nur all­ mählich der drückende Hochmut des vornehmen Standes die Ursache aller folgenden inneren Zerrüttungen wurde. Ein Gleichgewicht zwischen Senat und Volk, zwischen Patriziern und Plebejern zu treffen, war der immerwährende Streitpunkt der Verfassung Roms, wo das Übergewicht bald auf der eine», bald auf der andern Seite endlich dem Freistaate ein Ende machte. Der größte Teil der gepriesenen Römertugend ist uns ohne die enge, harte Verfassung ihres Staates unerklärlich; jene fiel weg, sobald diese wegfiel. Die Konsuls

traten in die Stelle der Könige und wurden nach den ältesten Bei­ spielen gleichsam gedrungen, eine mehr als königliche, eine römische Seele zu beweisen; alle Obrigkeiten, insonderheit die Zensors, »ahmen an diesem Geiste teil. Man erstaunt über die strenge Unparteilichkeit, über die uneigennützige Großmut, über das ge­ schäftvolle bürgerliche Leben der alten Römer vom Anbruch des Tages an, ja noch vor Anbruch desselben bis in die späte Dämme­ rung. Kein Staat der Welt hat es vielleicht in dieser ernsten Geschäftigkeit, in dieser bürgerlichen Härte so weit als Rom ge­ bracht, in welchem sich alles nahe zusammendrängte. Der Adel ihrer Geschlechter, der sich auch durch Geschlechtsname» glorreich aus­ zeichnete, die immer erneuerte Gefahr von außen und das un­ aufhörlich kämpfende Gegengewicht zwischen dem Volke und den Edlen von innen, wiederum das Band zwischen beiden durch Klientelen und Patronate, das gemeinschaftliche Dränge« aneinander auf Märkten, in Häusern, in politischen Tempel«, die nahen und doch genau abgeteilten Grenzen zwischen dem, was dem Rate und dem Volke gehörte, ihr enges häusliches Leben, die Erziehung der Jugend im Anblicke dieser Dinge von Kindheit auf — alles trug dazu bei, das römische Volk zum stolzesten, ersten Volke der Welt zu bilden. Ihr Adel war.nicht, wie bei andern Völkern, ein träger Land­ güter- oder Nameaadel; es war ein stolzer Familien-, ein Bürger­ und Römergeist in den ersten Geschlechtern, auf welche« das Vater­ land, als auf seine stärkste Stütze, rechnete. In fortgesetzter Wirk­ samkeit, im dauernden Zusammenhänge desselben ewigen Staates erbte es von Vätern auf Kinder und Enkel hinunter. Ich bin gewiß, daß in den gefährlichsten Zeiten kein Römer einen Begriff davon gehabt habe, wie Rom untergehen könne: sie wirkten für ihre Stadt, als sei ihr von den Göttern die Ewigkeit beschieden, und als ob sie Werkzeuge dieser Götter zur ewigen Erhaltung derselben wären. Nur als das ungeheure Glück den Mut der Römer zum Übermute machte: da sagte schon Scipio beim Untergange Carthagos jene Verse Homers, die auch seinem Vaterlande das Schicksal Trojas weissagten. Die Art, wie die Religion mit dem Staate in Rom verwebt war, trug allerdings zu seiner bürgerlich­ kriegerischen Größe bei. Da sie vom Anbeginn der Stadt und in den tapfersten Zeiten der Republik in den Händen der ange­ sehensten Familien, der Staats- und Kriegsmänner selbst war, so daß auch noch die Kaiser sich ihrer Würden nicht schämten, so

bewahrte sie sich in ihren Gebräuchen vor jener wahren Pest aller Landesreligionen, der Verachtung, die der Senat auf alle Weise von ihr abzuhalten strebte. Der staatskluge Polybius schrieb also einen Teil der Römertugenden, vornehmlich ihre unbestechliche Treue und Wahrheit, der Religion zu, die er Aberglauben nannte; und wirklich sind die Römer bis in die späten Zeiten ihres Verfalls diesem Aberglauben so ergeben gewesen, daß auch einige FeldHerren vom wildesten Gemüt sich die Geberde eines Umgangs mit den Göttern gaben, und durch ihren Beistand nicht nur über die Gemüter des Volks und Heers, sondern selbst über das Glück und den Zufall Macht zu haben glaubten. Mit allen Staats- und Kriegshandlungen «ar Religion verbunden, also daß jene durch diese geweiht wurden; daher die edlen Geschlechter für den Besitz der Religionswürden, als für ihr heiligstes Vorrecht, gegen das Volk kämpften. Man schreibt dieses gemeiniglich bloß ihrer Staats­ klugheit zu, weil sie durch die Auspizien und Aruspizien, als durch einen künstlichen Religionsbetrug, den Lauf der Begebenheiten in ihrer Hand hatten; aber wiewohl ich nicht leugne, daß diese auch also gebraucht worden, so war dies die ganze Sache nicht. Die Religion der Väter und Götter Roms war, dem allgemeinen Glauben nach, die Stütze ihres Glückes, das Unterpfand ihres Vorzuges vor andern Völkern und das geweihte Heiligtum ihres in der Welt einzigen Staates. Wie sie nun im Anfänge keine fremde Götter aufnahmen, ob sie wohl die Götter jedes fremden Landes schonten, so sollte auch ihren Göttern der alte Dienst, durch den sie Römer geworden waren, bleiben. Hierin etwas verändern, hieß die Grundsäule des Staats verrücken; daher auch in Anord­ nung der Religionsbräuche der Senat und das Volk sich das Recht der Majestät vorbehielten, das alle Meutereien oder Spitzfindig­ keiten eines abgetrennten Priesterstandes ausschloß. Staats­ und Kriegsreligion war die Religion der Römer, die sie zwar nicht vor ungerechten Feldzügen bewahrte, diese Feldzüge aber wenigstens unter dem Scheine der Gerechtigkeit durch Gebräuche der Fetialen und Auspizien dem Auge der Götter unterwarf und sich von ihrem Beistände nicht ausschloß. Gleichergestalt war es späterhin wirk­ liche Staatskunst der Römer, daß sie wider ihre alten Grundsätze auch fremden Göttern bei sich Platz gaben und solche zu sich lockten. Hier wankte schon ihr Staat, wie es nach so ungeheuern Eroberungen nicht anders sein konnte; aber auch jetzt schützte sie diese politische Duldung vor dem Verfolgungsgeist fremder Gottesdienste, der

nur unter den Kaisern aufkam und auch von diesen nicht aus Haß oder Liebe zur spekulativen Wahrheit, sondern aus Staatsursachen hie und da geübt wurde. Im ganzen kümmerte sich Rom um keine Religion, als sofern sie den Staat anging: sie waren hierin nicht Mensche» und Philosophen, sondern Bürger, Krieger und Über­ winder. Was soll ich von der römischen Kriegskunst sagen, die allerdings damals die vollkommenste ihrer Art war, weil sie den Soldaten und Bürger, den Feldherrn und Staatsmann ver­ einigte, und immer wachsam, immer gelenk und neu, von jedem Feinde lernte? Der rohe Grund derselben war gleich alt mit ihrer Stadt, so daß die Bürgerschaft, die Romulus musterte, auch ihre erste Legion war; allein sie schämten sich nicht, mit der Zeit die alte Stellung ihres Heeres zu ändern, den alten Phalanx beweg­ licher zu machen, und warfen durch diese Beweglichkeit bald selbst die geübte mazedonische Schlachtordnung, das damalige Muster der Kriegskunst, über den Haufen. Statt ihrer alten lateinischen Rüstung nahmen sie von den Etruskern und Samnitern an Waffen an, was ihnen diente; sie lernten von Hannibal Ordnung der Märsche, dessen langer Aufenthalt in Italien ihnen die schwerste Kriegsübung war, die sie je gehabt haben. Jeder große Feldherr, unter welchen die Scipionen, Marius, Sulla, Pompejus, Cäsar waren, dachten über ihr lebenslanges Kriegswerk, als über eine Kunst, und da sie solche gegen die verschiedensten, auch durch Ver­ zweiflung, Rot und Stärke sehr tapfern Völker zu Üben hatten, kamen sie notwendig in jedem Teile ihrer Wissenschaft weit. Richt aber in den Waffen, in der Schlachtordnung und im Lager be­ stand der Römer ganze Stärke, sondern vielmehr in dem uner­ schrockenen Kriegsgeiste ihrer Feldherren und in der geübten Stärke des Kriegers, der Hunger, Durst und Gefahren ertragen konnte, der seiner Waffen sich als Glieder bediente, und, den Anfall der Spieße aushaltenb, mit dem kurzen römische» Schwert in der Hand, das Herz des Feindes mitten im Phalanx selbst suchte. Dies kurze Römerschwert, mit Römermut geführt, hat die Welt erobert. Cs war römische Kriegsart, die mehr angriff, als sich verteidigte, minder belagerte, als schlug, und immer den geradesten, kürzeste» Weg ging zum Siege und zum Ruhme. Ihr dienten jene ehernen Grund­ sätze der Republik, denen alle Welt weichen mußte: „Nie nachzu­ lassen, bis der Feind im Staube lag, und daher immer nur mit einem Feinde zu schlagen; nie Frieden anzu-

nehmen im Unglücke, wenn auch der Friede mehr als der Sieg brächte, sondern fest zu stehen und desto trotziger ju sein gegen den glücklichen Sieger; groß­ mütig und mit der Larve der Uneigennützigkeit anzu­ fangen, als ob man nur Leidende zu schützen, nur Bundesverwandte zu gewinnen suchte, bis man zeitig genug den Bundesgenosse» befehlen, die Beschützten unterdrücken, und über Freund und Feind als Sieger triumphieren konnte." Diese und ähnliche Maximen römischer Insolenz, oder, wenn man will, felsenfester, kluger Großmut machten eine Welt von Ländern zu ihren Provinzen, und werde« es immer tun, wenn ähnliche Zeiten mit einem ähnlichen Volke wiederkämen.

Weltverkehr und Wirtschaft seit dem Zeitalter der panischen Kriege. Die agrarische Reform des Liberins Gracchus. Karl Johannes Neumann (Die hellenistischen Staaten und die römische Republik, in der Weltgeschichte von I. v. Pflugk-Harttung, Verlag Ullstein & Co., Berlin)

Auf den Trümmern von Karthago beweinte Scipio das Schicksal der Feinde und gedachte des Wechsels, den die Gottheit auch über Städte, Völker und Reiche verhängt. Zn den Sinn und über die Lippen kamen ihm die Worte Hektors: Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinfinkt, Priamos selbst und das Volk des lanjenkundigen Königs. Und seinem Freunde Polybios gestand er seine Sorge um das Schicksal Roms. Auf der Höhe der Macht und des Erfolges stand Italien, stand Rom, als der achäische Strategen­ sohn im Jahre nach der Schlacht von Pydna, als Polybios 167 v. Chr. in den stadtrömischen Kreis der Scipionen und in die senatorische Gesellschaft eintrat. Er lernte dieses Rom bewundern und fragte nach den Ursachen seiner Größe, er ging daran, für seine Landsleute die Geschichte der Entstehung der römischen Weltherrschaft ju schrei­ ben. Diese Herrschaft über die Welt hatte Rom errungen unter dem Regiments des Senates, und für die Betrachtung des Polybios fügte der Senat sich mit den anderen staatlichen Faktoren zu har­ monischer Wirkung zusammen. Die Vortrefflichkeit der römischen Verfassung schien ihm die Ursache davon zu sein, daß der römische Staat sich aus dem tiefen Fall von Cannä bald wieder hatte erheben können. In dieser Verfassung erblickte er die Harmonie von Monar­ chie, Aristokratie und Demokratie, in der monarchischen Stellung der Konsuln, in der Aristokratie des Senates und der Demokratie der Volksversammlungen; es entging ihm, daß Rom damals einfach eine Aristokratie war, daß allein der Senat regierte, und daß die Harmonie nur darin wurzelte, daß die Magistratur sich längst vor dem Senate beugte, und daß die Volksversammlungen ihm ebenfalls nicht ent­ gegenwirkten. Diese kolossale Stellung hatte der Senat errungen durch die Betätigung des noblesse oblige; er hätte sie behaupten

können durch die konsequente Beobachtung dieses Grundsatzes. Aber bereits war die senatorische Gesellschaft der Versuchung unterlegen, von dem Staatsgut egoistischen Nutzen jn ziehen und noch dazu in offenkundigem und bewußtem Widerspruch mit dem Gesetze. Die Weltherrschaft hatte den Weltverkehr gesteigert und dieser wirkte, wie immer, in verschiedener Richtung, fördernd und hemmend, er hob die einen zu Wohlstand und Reichtum, während er andere schädigte und vernichtete, während er den italienischen Bauernstand ruinierte. Eine agrarische Reform war in Italien unerläßlich, und der Senat hätte sich wohl in seiner Stellung behaupten können, wenn er selber diese Reform in die Hand nahm; aber dazu konnte er sich nicht entschließen, aus materiellem Egoismus. Und so wurde die Reform ohne ihn und gegen seinen Willen unternommen; damit begann für den Senat das Zeitalter des Niederganges und Falles. Aber wie war es denn gekommen, daß diese Zeit eines blühenden Verkehrs den Bauernstand Italiens dezimierte? Wie stand es da­ mals um den landwirtschaftlichen Betrieb? Im Zusammenhänge mit seinen Siegen ließ sich Rom von den überwundenen Staaten und Stämmen meistens einen Teil ihrer Feldmark, in der Regel ein Drittel abtreten, und dieser Acker trat in das Eigentum des römischen Staates. Diese Eroberungen er­ weitern das Gebiet des ager Romanus vornehmlich im Zeitalter der Unterwerfung Italiens und der Begründung des italischen Bundes, nach der Auflösung des latinischen Bundes und vor dem Begin» der punischen Kriege. Jn großen unzusammenhängenden Stücken lag dieser Acker durch ganz Italien zerstreut, es war der ager publicus, die Domäne. Von dieser Domäne gab der Staat einen Teil wieder ab und verteilte ihn zu freiern Eigen, besonders bei der Begründung der Kolonien, der Grenzfestungen; auch wo uns Neubegründung einer ländlichen Tribus begegnet, da hat der Staat überall minde­ stens einen Teil seiner Eroberungen zu freiem Eigen an die Anfledler fortgegebe». Ein anderer großer Teil der Domäne aber blieb in de« Händen des Staates; er nutzte ihn zum Teil, aber nur in gerin­ gem Maße, durch Verpachtung, besonders aber dadurch, daß er gegen Entgelt die Genehmigung zu seiner Okkupation gab. Das «ar für den Staat insofern höchst bequem, als er dann alles weitere dem Okkupanten überlassen konnte, der Staat baute ihm kein Gehöft, er gab keine Klaue Grundinventar. Im Grundsätze konnte jedermann die Erlaubnis zur Okkupation von ager publicus in Anspruch nehme«, aber Gebrauch machen konnten von solcher Erlaubnis nur

kapitalkräftige Leute. Seit der Ausbildung der Geldwirtschaft neben der Naturalwirtschaft, seit der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. war aber Kapital in Rom vorhanden, und das Zeitalter der überseeischen Kriege, das 264 v. Chr. begann, brachte auch Arbeits­ kräfte in Fülle. Denn die Kriegsgefangenschaft begründete die Skla­ verei, und wenn man sich in den italischen Kriegen vor solcher Praxis noch gescheut hatte, so gab es bei den überseeischen Kriegen gegen Fremde keine Rücksicht. Massenhaft kommen jetzt Sklaven nach Ita­ lien, wo bis dahin die Sklavenwirtschaft nicht in erster Reihe gestanden hatte. Die Siege bringen auch Geld nach Rom, und nun treten die Römer auch als Käufer auf den großen Sklavenmärkten des Ostens auf. Unter diesen Umständen steigert sichOkkupation des ager publicus und sie wird besonders lohnend, seitdem die billige Sklavenarbeit reichlich jur Verfügung stand. Je mehr der einjelne Kapitalist vom ager publicus okkupieren kann, desto größer sein Gewinn, und man mußte der Begehrlichkeit der großen Kapitalisten schließlich eine Grenje jiehen und das höchste Maß der Okkupation bestimmen. Das geschah durch das licinische Ackergesetz, nicht, wie die Geschichts­ fälschung der ausgehenden. Republik behauptet, aus dem Jahre 367 v. Chr., sondern erst nach dem hannibalischen Kriege, im Jahre 196 v. Chr. gegeben; L. Licinius Lucullus, der Tribun dieses Jahres hat es beantragt. Er bestimmte, niemand dürfe mehr als 500 Mor­ gen vom ager publicus okkupieren oder mehr als 100 Stück Groß­ vieh und 500 Stück Kleinvieh auf die Domanialweide schicken. Auch sollte der Okkupant nicht bloß Sklaven beschäftigen dürfen, sondern auch eine Anzahl freier Arbeiter beschäftigen müssen. Dies Gesetz galt seit 196 v. Chr., aber es stand, wie man sagt, auf dem Papiere, der Herrenstand kehrte sich nicht daran, er überschritt das Gesetz in allen Wegen, er jahlte kaum noch die ursprünglich geforderten Abgaben, er betrachtete das okkupierte Land, dessen Eigentum dem Staate doch verblieben war, ganj wie sein eigen, er verband es bei der Be­ wirtschaftung mit seinem wirklichen Eigentum, ja, er behandelte es als solches sogar bei den Erbteilungen. Im Jahre 167 erwähnt der alte Cato dies Gesetz als bekanntermaßen bestehend, aber wir handeln, fügt er hinzu, in allem dagegen, und es geht «ns straflos hin. Der Ungesetzlichkeit und Strafbarkeit seiner Handlungsweise war sich der Senatorenstand also bewußt, aber er mißbrauchte seine Macht daju, offen und dauernd das Gesetz zu verletzen und sich Straflosigkeit dafür ju sichern. Das wäre nun wohl weiter so fort- und hingegangen, wenn

nicht neben das Prosperieren des kapitalistischen Großbetriebes der Okkupanten der Niedergang des bäuerlichen Kleinbetriebes in Italien getreten wäre. Er war eine Folge des Weltverkehrs. Zur See war Getreide leicht zu verfrachten, die Steigerung des Weltverkehrs steigerte das Angebot und drückte auf die Getreide­ preise. Auch dem Staate stand Getreide massenhaft als Natural­ abgabe der grundsteuerpflichtigen Provinzen zur Verfügung, das drückte ebenfalls auf die Preise. Der Weltverkehr ließ den Getreide­ preis sinken, damals genau wie heutzutage. Und dies Sinken des Getreidepreises führte auch damals zu einem agrarischen Not­ stand, aber in entgegengesetzter Richtung als heute. Heute ist es der landwirtschaftliche Großbetrieb, der unter dem Mißverhältnis niedriger Getreidepreise und hoher Arbeitslöhne leidet, während für den Kleinbetrieb einmal der Getreidebau neben der Viehzucht mehr zurücktritt und die Höhe der Löhne nicht in Betracht kommt, wo der Bauer selber mit den Seinen im wesentlichen die Arbeit schafft. Umgekehrt aber lagen die Dinge in Italien. Bei den niedrigen Getreidepreisen konnte wohl der Großbetrieb bestehe», dem die billige Sklavenarbeit zu Gebote stand, nicht aber der freie Bauer. Die Skla­ venarbeit ist so billig, weil der Unterhalt der Sklaven auf das Mini­ mum hinabgedrückt wird, bei dem der Sklave noch am Leben und arbeitsfähig bleibt; auf ein solches Minimum läßt sich aber der freie Bauer nicht hinabdrücken. So ging es den» mit den Bauern ab­ wärts, der Kapitalist kaufte ihn aus, bei der kapitalistischen Sklaven­ wirtschaft rentierte auch noch der zugekaufte Bauernacker. Die Bauernhöfe begannen in Italien zu verschwinden. Im Zusammenhänge damit begann auch die bürgerliche Be­ völkerung Italiens abzunehmen. Die Censuszahlen zeigen uns, wie nach dem hannibalischen Kriege bis zum Jahre 164 v. Chr. die Bevölkerung noch anwächst; dann aber tritt infolge des agrarischen Niederganges auch ein Rückgang der Bevölkerung ein, der in wei­ terem Fortschritt schließlich auch die Wehrfähigkeit Italiens mindern und gefährden mußte. Im Jahre 136 erreichte die Bevölkerung ihren Tiefstand. Italien und Rom beherrschten die Welt, und auch die Bauern gehörten zu den Weltbeherrschern, selbst noch dann, wenn sie schon ruiniert und aufgekauft waren. Aber wie sah es in Wirklichkeit aus, wie standen Theorie und Leben zueinander? „Die wilden Tiere," rief Tiberius Gracchus aus, „haben ihre Gruben, sie wissen ihre Lagerstätte, aber die freien Männer, die für Italien kämpfen und

sterben, haben nichts als Lust und Licht. Sie heißen Herren der Welt und nicht eine Scholle Erde ist ihr Eigen." Dieser innere Widerspruch kam den Bauern bereits zum Bewußt­ sein, und eine weitere Gefahr lag in den großen Sklavenmassen, in Etrurien, in ©teilten. Wie im Osten, kam es auch in Italien ju Sklavenunruhen, und in Sicilie» brachen die Sklaven unter der Führung Eunus' los, eines Propheten der syrischen Göttin Atargatis: es ist Antiochus, der König der Syrer. Seit 134 v. Chr. müssen die Römer mit einem konsularischen Heere in ©teilten Krieg führen; von der Belagerung von Henna sind Schleuderbleie noch erhalten. Die Gefahren, die aus der agrarischen Situation erwuchsen, konnten nur durch eine wirksame Durchführung des lieinischen Acker­ gesetzes gehoben werden, einer solchen aber stand das eigensüchtige materielle Interesse des Senatorenstandes im Wege, der aus der Domäne ungesetzlichen Nutzen zog und nicht darauf verzichten wollte. Der jüngere Seipio war sich der Gefahren wohl bewußt, aber er fürchtete von einem Eingriff eine Verwirrung, ebenso schlimm wie das Übel selber. Etwas weiter ging C. Lälius, der ein Ackergesetz beantragen wollte, den aber seine Standesgenoffen davon ab­ brachten und, weil er sich davon abbringen ließ, durch den Beinamen des Weisen ehrten. Wohl stand es schlimm um eine regierende Körperschaft, der jeder Versuch einer Reform für Frevel, und der impotente Verzicht auf politisches Handeln für einen Ausfluß von Weisheit galt. Da trat Tiberius Graechus auf, um den italischen Bauernstand zu retten; es war ein Ziel, das der Anstrengung wert war. Tiberius Graechus gehörte selber den vornehmsten Kreisen der senatorischen Aristokratie an, seine Mutter Cornelia war die Tochter des älteren Seipio Afrikanus, die als Witwe die Hand eines ägypti­ schen Prinzen ausgeschlagen hat; seine Sehwester war mit seinem Vetter, dem jüngeren Seipio, vermählt. Die Not des Staates war es, die dies Mitglied der höchsten Aristokratie gegen seine Standes­ genossen aufrief. Der Senat hatte es abgelehnt, die Reform von sich aus zu leiten, nun ging Graechus ohne den Senat an die Reform. Er ließ sich zum Tribunen wählen, um auf dem Wege der Gesetz­ gebung zu helfen; am 10. Dezember 134 trat er sein Amt an und er führte als Tribun sein Werk im Jahre 133 durch. Es war in der Sache und auch in der Form gesetzlich, es war Reform und keine Revolution. Tief griff er freilich.

Der antike Staat hat oft genug zu energischen Mitteln ge­ griffen. Mit diskretionärer Vollmacht hat Solo« die Schuldknecht­ schaft abgeschasst und durch Beseitigung der Grenzsteine, auf denen die hypothekarische Belastung offen ausgezeichnet war, die im Augen­ blick bestehenden hypothekarischen Verbindlichkeiten aufgehoben. Die kleinen auf dem Lande, die mit ihren Leistungen an die Groß­ grundbesitzer dauernd im Rückstand geblieben waren, die dadurch in Schuldknechtschaft geraten waren und die Freiheit verloren hatten, werden ohne weiteres frei. Den Grundbesitzern, die sich ohnehin in einer Notlage befanden und die jetzt auch noch ihre Schuldknechte verlieren, wird, so unglaublich es klingt, damit geholfen, daß sie ihre Hypothekenschulden einfach nicht z» bezahlen brauchten. Das mobile Kapital indessen, das diese Hypotheken gegeben hatte, wurde nicht direkt entschädigt; aber sein Aufschwung sollte durch Solons Übergang von der peloponnesischen zur euböischen Währung, die den Weltmarkt beherrschte, begünstigt werden. Lange nicht so tief griff Tiberius Gracchus ein; er ging lediglich auf die Durchführung des licinischen Ackergesetzes hinaus, und dieses war keine historische Anti­ quität, sondern erst 196 v. Chr. gegeben worden; wenn es über­ treten wurde, so wissen wir aus den Worten des alten Cato vom Jahre 167, daß seine Übertreter das mit vollem Bewußtsein taten. Selbst darauf, daß diese Übertretung doch tatsächlich geduldet worden «ar, nahm Gracchus in der maßvollen Formulierung seines Gesetz­ antrages Rückstcht. Die einfache Durchführung des licinischen Ackergesetzes hätte dazu führen müssen, daß jeder das herausgab, was er über 500 Mor­ gen von der Domäne okkupiert hatte. Der Antrag des Gracchus war erheblich milder, indem er für zwei Söhne noch je weitere 250 Morgen Domäne preisgab, also im ganzen 1000 Morgen; damit war die volle Durchführung der Beschränkung auf 500 Morgen auf die zweite Generation verschoben und erleichtert. Ferner-wurden diese icxx> Morgen freies Eigentum der Possessoren. Immerhin mußten große Massen von Domänen jetzt wieder zur Verfügung des Staates kommen, und aus ihnen sollten neue Bauernstellen geschaf­ fen werden, zu 30 Morgen; diese sollten unverkäuflich sein und eine kleine Abgabe zahlen, die aber mehr den Charakter einer Rekognitionsgebühr trug, formell wurden diese Bauernstellen also in Erb­ pacht ausgegeben und nicht als völlig freies Eigen, diese Beschränkung aber sollte lediglich dem Schutze der neuen Bauern dienen, sie sollte verhindern, daß diese von den Kapitalisten wieder ausgekauft 64

wurden, sie mußte den Bauern ihre Scholle sichern. Okkupation von Domänen aber sollte in Zukunft überhaupt nicht mehr gestattet werden. Es war vorauszusehen, das Volk werde das Gesetz annehmen, und so blieb dem Senate, wenn er es verhindern wollte, nichts an­ deres übrig, als einen der zehn Volkstribunen zum Einspruch gegen das Gesetz anzustiften; es gelang ihm, den M. Octavius für diese Jnterzession zu gewinnen. Vergebens versuchte Tiberius Gracchus den Octavius von seiner Jnterzession abzubringen, und so sah er sich schließlich genötigt, den Octavius durch einen Beschluß der Volksversammlung absetzen zu lassen; an seine Stelle wurde ein anderer Tribun gewählt. Nun ging das Ackergesetz ohne jede Schwierigkeit durch, zu Kommissaren für seine Durchführung wurden Tiberius Gracchus selbst, sein jüngerer Bruder Gaius und sein Schwiegervater Appius Claudius gewählt. Seit dem Altertum hat man behauptet, das Ackergesetz sei nur mit Hilfe der ungesetzlichen, verfassungswidrigen Absetzung des Tribunen Octavius zustandegekommen, also auf verfassungs­ widrige Weise, und daraus ergebe sich sei» revolutionärer Charakter; bis in die neueste Zeit hinein hat man dieses Gerede wiederholt, aber es beruht ausschließlich auf Unkenntnis des römischen Staats­ rechts. Von dem Staatsrecht der älteren römischen Republik war die Amtsentsetzung vor Ablauf der Amtszeit allerdings nicht vor­ gesehen, aber drei Jahre vor dem Tribunale des Tiberius Gracchus war eine solche einem Prokonsul gegenüber vorgekommen, dem spanischen Prokonsul M. Aemilius Lepidus gegenüber im Jahre 136 v. Chr. Die Absetzung des Octavius war also nicht der erste Fall einer Amtsentsetzung, sondern der zweite, und ruht auf einem als verfassungsmäßig anerkannten Präcedenzfall. Die Gültigkeit des nach der Absetzung des Octavius durchgegangenen Ackergesetzes ist daher auch nicht bestritten worden, während der Senat eine Hand­ habe für den Einspruch gegen seine Gültigkeit besaß: er konnte der Ackerkommission die Diäten verweigern. Aber er verweigerte sie nicht, sondern äußerte nur in kleinlicher Weise seinen Ärger, indem er der Kommission, es waren drei Männer sevatorischen, fürstlichen Ranges, unter ihnen sogar ein Claudier, Diäten von anderthalb Denaren, von 1 Mark 5 Pfennigen bewilligte. Die Ackerkommission ging nun an die Durchführung des Gesetzes, stieß aber bald auf Schwierigkeiten, weil es nicht überall leicht war, zu entscheiden, was Privateigentum, was Domäne war; zur Hebung dieser Schwierig-

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leiten gab Gracchus durch ein neues Gesetz der Ackerkommission darüber die jurisdiktionelle Entscheidung. Und als eben jetzt der Tod Attalus III. dem Reiche die pergamenische Erbschaft brachte, bestimmte ein drittes Gesetz des Gracchus, das Geld aus dieser Erbschaft solle zur Beschaffung des Inventars für die neuen Bauern verwendet werden. Für die weitere Durchführung der Reform war es wünschens­ wert, daß Tiberius Gracchus Tribun blieb und für 132 wiedergewählt wurde, dem stand aber die Bestimmung entgegen, man dürfe nicht im Amte kandidieren. Und hier beging Gracchus einen Formfehler: er versäumte es, vor seiner Bewerbung diese Bestimmung durch Ge­ setz aufheben zu lassen, wozu er durchaus den genügenden Einfluß, die genügende Macht besaß. So ist es bei der Tribunenwahl zu Irrungen und Wirrungen gekommen, und da der Konsul P. Mucius Scävola, der im Herzen ein Freund des Gracchus war, nicht bereit war, wie der Senat es von ihm verlangte, das senatusconsultulm ultimum für sich beschließen zu lassen, und damit diktatorische Gewait zu übernehmen, so stellte sich P. Cornelius Scipio Naflca an die Spitze der Senatoren, und mit Knitteln und Stuhlbeinen bewaffnet zogen diese Fürsten auf den Platz der Volksversammlung. Tiberius Gracchus wurde mit dreihundert seiner Anhänger erschlagen. In Rom begann das Jahrhundert der Straßenkämpfe und der Senat hat es eingeleitet. Waren Knittel und Stuhlbeine in den Händen der Senatoren wirklich eine wirksame Waffe, um die Herrschaft des Senates auf die Dauer aufrecht zu erhalten?

Gajirs Julius Cäsar und sein Werk Theodor Mommsen (Römische Geschichte, Band III, n. Anfl., Weidmann, Berlin) Der neue Monarch von Rom, der erste Herrscher über bas ganze Gebiet römisch-hellenischer Zivilisation, Gains Julius Cäsar, stand im sechsundfünfzigsten Lebensjahr (geb. 12. Juli 652?), als die Schlacht bei Thapsus, das letzte Glied einer langen Kette folgenschwerer Siege, die Entscheidung über die Zukunft der Welt in seine Hände legte. Weniger Mensche» Spannkraft ist also auf die Probe gestellt worden, wie die dieses einzigen schöpferischen Gentes, das Rom, und des letzten, das die alte Welt hervorgebracht und in dessen Dahnen sie denn auch bis zu ihrem eigenen Unter­ gänge sich bewegt hat. Der Sprößling einer der ältesten Adels­ familien Latiums, welche ihren Stammbaum auf die Helden der Ilias und die Könige Roms, ja auf die beiden Nationen gemeinsame Venus-Aphrodite zurückführte, waren seine Knaben- und ersten Jünglingsjahre vergangen, wie sie der vornehmen Jugend jener Epoche zu vergehen pflegten. Auch er hatte von dem Becher des Modelebens den Schaum wie die Hefe» gekostet, hatte rezitiert und deklamiert, auf dem Faulbett Literatur getrieben und Verse ge­ macht, Liebeshändel jeder Gattung abgespielt und sich einweihen lassen in alle Rasier-, Frisier- und Maaschettenmysterien der da­ maligen Toilettenweisheit, so wie in die »och weit geheimnisvollere Kunst, immer zu borgen und nie zu bezahlen. Aber der biegsame Stahl dieser Natur widerstand selbst diesem zerfahrenen und windigen Treiben; Cäsar blieb sowohl die körperliche Frische ungeschwächt wie die Spannkraft des Geistes und des Herzens. Im Fechten und im Reiten nahm er es mit jedem seiner Soldaten auf und sein Schwimme» rettete ihm bei Alexandreia das Leben; die un­ glaubliche Schnelligkeit seiner gewöhnlich des Zeitgewinns halber nächtlichen Reisen — das rechte Gegenstück zu der prozessions­ artige» Langsamkeit, mit der Pompejus sich von einem Ort zum andern bewegte — war das Erstaunen seiner Zeitgenossen und nicht die letzte Ursache seiner Erfolge. Wie der Körper war der Geist. Sein bewunderungswürdiges Anschauungsvermögen offen-

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barte sich in der Sicherheit und Ausführbarkeit all seiner An­ ordnungen, selbst wo er befahl, ohne mit eigenen Augen zu sehen. Sein Gedächtnis war unvergleichlich und es war ihm geläufig, mehrere Geschäfte mit gleicher Sicherheit nebeneinander zu be­ treiben. Obgleich Gentleman, Genie und Monarch hatte er dennoch ein Herz. So lange er lebte, bewahrte er für seine würdige Mutter Aurelia — der Vater starb ihm früh — die reinste Verehrung; seine» Frauen und vor allem seiner Tochter Julia widmete er eine ehrliche Zuneigung, die selbst auf die politische» Verhältnisse nicht ohne Rückwirkung blieb. Mit den tüchtigsten und kernigsten Männern seiner Zeit, hohen und niederen Ranges, stand er in einem schönen Verhältnis gegenseitiger Treue, mit jedem nach seiner Art. Wie er selbst niemals einen der Seinen in Pompejus kleinmütiger und gefühlloser Art fallen ließ und, nicht bloß aus Berechnung, in guter und böser Zeit ungeirrt an den Freunden festhielt, so haben auch von diesen manche, wie Aulus Hirtius und Gaius Matius, noch nach seinem Tode ihm in schönen Zeugnissen ihre Anhänglich­ keit bewährt. Wen» in einer so harmonisch organisierten Natur überhaupt eine einzelne Seite als charakteristisch hervorgehoben werden kann, so ist es die, daß alle Ideologie und alles Phantastische ihm fern lag. Es versteht sich von selbst, daß Cäsar ein leidenschaft­ licher Mann war, denn ohne Leidenschaft gibt es keine Genialität; aber seine Leidenschaft war niemals mächtiger als er. Er hatte eine Jugend gehabt und Lieder, Liebe und Wein waren auch in sei» Gemüt in lebendigem Leben eingezogen; aber sie drangen ihm doch nicht bis in den innerlichsten Kern seines Wesens. Die Literatur beschäftigte ihn lange und ernstlich; aber wenn Alexander» der homerische Achill nicht schlafen ließ, so stellte Cäsar in seinen schlaf­ losen Stunden Betrachtungen über die Beugungen der lateinischen Haupt- und Zeitwörter an. Er machte Verse wie damals jeder, aber sie waren schwach; dagegen interessierten ihn astronomische und naturwissenschaftliche Gegenstände. Wenn der Wein für Alexander der Sorgenbrecher war und blieb, so mied nach durchschwärmter Jugendzeit der nüchterne Römer denselben durchaus. Wie allen denen, die in der Jugend der volle Glanz der Frauevliebe umstrahlt hat, blieb ein Schimmer davon unvergänglich auf ihm ruhen: noch in späteren Jahren begegneten ihm Liebesabenteuer und Erfolge bei Frauen und blieb ihm eine gewisse Stutzerhaftigkeit im äußeren Auftreten oder richtiger das erfreuliche Bewußtsein der eigenen männlich schönen Erscheinung. Sorgfältig deckte er

mit dem Lorbeerkranz, mit dem er in späteren Jahren öffentlich erschien, die schmerzlich empfundene Glatze und hätte ohne Zweifel manchen seiner Siege darum gegeben, wenn er damit die jugendlichen Locken hätte zurückkaufen können. Aber wie gern er auch noch als Monarch mit den Frauen verkehrte, so hat er doch nur mit ihnen gespielt und ihnen keinerlei Einfluß über stch ein­ geräumt; selbst sein vielbesprochenes Verhältnis zu der Königin Kleopatra war nur angesponnen, um einen schwachen Punkt in seiner politischen Stellung ;u maskieren. Cäsar war durch­ aus Realist und Verstandesmensch; und was er angriff und tat, war von der genialen Nüchternheit durchdrungen und getragen, die seine innerste Eigentümlichkeit bezeichnet. Ihr verdankte er das Ver­ mögen, unbeirrt durch Erinnern oder Erwarten energisch im Augen­ blick zu leben; ihr die Fähigkeit, in jedem Augenblick mit gesammelter Kraft zu handeln und auch dem kleinsten und beiläufigste» Beginnen seine volle Genialität zuzuwenden; ihr die Vielseitigkeit, mit der er erfaßte und beherrschte, was der Verstand begreifen und der Wille zwingen kann; ihr die sichere Leichtigkeit, mit der er seine Perioden fügte, wie seine Feldzugspläne entwarf; ihr die,wunderbare Heiterkeit', die in guten und bösen Tagen ihm treu blieb; ihr die vollendete Selbständigkeit, die keinem Liebling und keiner Maitresse, ja nicht einmal dem Freunde Gewalt über sich gestattete. Aus dieser Derstandesklarheit rührt es aber auch her, daß Cäsar sich über die Macht des Schicksals und das Können des Menschen niemals Illusionen machte; für ihn war der holde Schleier gehoben, der dem Menschen die Unzulänglichkeit seines Wirkens verdeckt. Wie klug er auch plante und alle Möglichkeiten bedachte, das Gefühl wich -och nie aus seiner Brust, daß in allen Dingen das Glück, das heißt der Zufall, das gute Beste tun müsse; und damit mag es denn auch zusammen­ hängen, daß er so oft dem Schicksal Paroli geboten und namentlich mit verwegener Gleichgültigkeit seine Person wieder und wieder auf das Spiel gesetzt hat. Wie ja wohl überwiegend verständige Menschen in das reine Hasardspiel sich flüchte», so war auch i« Cäsars Rationalismus ei» Punkt, wo er mit dem Mystizismus gewissermaßen sich berührte. — Aus einer solchen Anlage konnte nur ein Staatsmann hervorgehen. Von früher Jugend an war denn auch Cäsar ein Staatsmann im tiefsten Sinne des Wortes und sei» Ziel das höchste, das dem Mensche» gestattet ist, sich zu stecken: die politische,, militärische, geistige und sittliche Wieder­ geburt der tief gesunkenen eigenen und der noch tiefer gesunkenen

mit der seinigen innig verschwisterten hellenischen Nation. Die harte Schule dreißigjähriger Erfahrungen änderte seine Ansichten über die Mittel, wie dies Ziel ju erreichen fei; das Ziel blieb ihm dasselbe in den Zeiten hoffnungsloser Erniedrigung wie unbegrenzter Machtvollkommenheit, in den Zeiten, wo er als Demagog und Verschworener auf dunklen Wegen ju ihm hinschlich, wie da er als Mitinhaber der höchsten Gewalt und sodann als Monarch vor den Augen einer Welt im vollen Sonnenschein an seinem Werke schuf. Alle ju den verschiedensten Zeiten von ihm ausgegangenen Maßregeln bleibender Art ordnen in den großen Bauplan zweckmäßig sich ein. Von einzelnen Leistungen Cäsars sollte darum eigentlich nicht geredet werden; er hat nichts einzelnes geschaffen. Mit Recht rühmt man den Redner Cäsar wegen seiner aller Advokatenkunst spottenden männlichen Beredsamkeit, die wie die klare Flamme zugleich erleuchtete und erwärmte. Mit Recht bewundert man an dem Schriftsteller Cäsar die unnachahmliche Einfachheit der Komposition, die einzige Reinheit und Schönheit der Sprache. Mit Recht haben die größten Kriegsmeister aller Zeiten den Feld­ herrn Cäsar gepriesen, der wie kein anderer ungeirrt von Routine u«d Tradition immer diejenige Kriegführung zu finden wußte, durch welche in dem gegebenen Falle der Feind besiegt wird und welche also in dem gegebenen Fall die rechte ist; der mit divinatorischer Sicherheit für jeden Zweck das rechte Mittel fand; der »ach der Niederlage schlagfertig dastand wie Wilhelm von Oranien und mit dem Siege ohne Ausnahme de« Feldzug beendigte; der das Element der Kriegführung, dessen Behandlung das militärische Genie von der gewöhnlichen Offiziertüchtigkeit unterscheidet, die rasche Bewegung der Masse« mit unübertroffener Vollkommenheit handhabte und nicht in der Massenhaftigkeit der Streitkräfte, sondern in der Geschwindigkeit ihrer Bewegung, nicht im lange« Vorbereiten, sondern im rasche», ja verwegenen Handeln selbst mit unzulänglichen Mitteln die Bürgschaft des Sieges fand. Allein alles dieses ist bei Cäsar nur Nebensache; er war zwar ei» großer Redner, Schriftsteller und Feldherr, aber jedes davon ist er nur geworden, weil er ein vollendeter Staatsmann war. Nament­ lich spielt der Soldat in ihm eine durchaus beiläufige Rolle, und es ist eine der hauptsächlichsten Eigentümlichkeiten, die ihn von Alexander, Hanmbal und Napoleon unterscheidet, daß in ihm nicht der Offizier, sondern der Demagog der Ausgangspunkt der politischen Tätigkeit war. Seinem ursprünglichen Plan zufolge 70

falte er sein Ziel wie Perikles und Gaius Gracchus ohne Waffen­ gewalt zu erreichen gedacht, und achtzehn Jahre hindurch hatte er als Führer der Popularpartei ausschließlich in politischen Plänen und Intriguen sich bewegt, bevor er, ungern sich überzeugend von der Notwendigkeit eines militärischen Rückhalts, schon ein Merziger, an die Spitze einer Armee trat. Es war erklärlich, daß er auch später­ hin immer noch mehr Staatsmann blieb als General — ähnlich wie Cromwell, der auch aus dem Oppositionsführer zum Militär­ chef und Demokratenkönig sich umschuf und der überhaupt, wie wenig auch der Puritanerheld dem lockeren Römer zu gleichen scheint, doch in seiner Entwicklung wie in seinen Zielen und Erfolgen vielleicht unter allen Staatsmännern Cäsar am nächsten verwandt ist. Selbst in seiner Kriegführung ist diese improvisierte Feldherrn­ schaft noch wohl zu erkennen; in Napvleons Unternehmungen gegen Ägypten und gegen England ist der zum Feldherrn ausge­ diente Artillerielieutenant nicht deutlicher sichtbar wie in den gleichartigen Cäsars der zum Feldherrn metamorphosierte Demagog. Ein geschulter Offizier würde es schwerlich fertig gebracht haben, aus politischen Rücksichten nicht durchaus zwingender Natur die gegründetsten militärischen Bedenken in der Art beiseite zu schieben, wie dies Cäsar mehrmals, am auffallendsten bei seiner Landung in Epirus getan hat. Einzelne seiner Handlungen sind darum militä­ risch tadelhafi; aber der Feldherr verliert nur, was der Staatsmann gewinnt. Die Aufgabe des Staatsmanns ist universeller Natur wie Cäsars Genie: wenn er die vielfältigsten und voneinander ent­ legensten Dinge angriff, so gingen sie doch alle ohne Ausnahme zurück auf das eine große Ziel, dem er mit unbedingter Treue und Folgerichtigkeit diente; und nie hat er von den vielfältigen Seiten und Richtungen seiner großen Tätigkeit eine vor der andern be­ vorzugt. Obwohl ein Meister der Kriegskunst, hat er doch aus staatsmännischen Rücksichten das Äußerste getan, um den Bürger­ krieg abzuwenden und um, da er dennoch begann, wenigstens so unblutige Lorbeeren wie möglich zu ernten. Obwohl der Begründer der Militärmonarchie, hat er doch mit einer in der Geschichte beispiel­ losen Energie weder Marschallshierarchie noch Prätorianerregiment aufkommen lassen. Wenn überhaupt eine Seite der bürgerlichen Ver­ dienste, so wurden von ihm vielmehr die Wissenschaften und die Künste des Friedens vor den militärischen bevorzugt. Die be­ merkenswerteste Eigentümlichkeit seines staatsmännischen Schaffens ist dessen vollkommene Harmonie. In der Tat waren alle Be-

dinglmgen zu dieser schwersten aller menschlichen Leistungen in Cäsar vereinigt. Durch und durch Realist ließ er die Bilder der Vergangenheit und die ehrwürdige Tradition nirgends sich an­ fechten: ihm galt nichts in der Politik als die lebendige Gegen­ wart und das verständige Gesetz, eben wie er auch als Grammatiker die historisch-antiquarische Forschung beiseite schob und nichts an­ erkannte als einerseits den lebendigen Sprachgebrauch, ander­ seits die Regel der Gleichmäßigkeit. Ein geborener Herrscher regierte er die Gemüter der Menschen wie der Wind die Wolken zwingt und nötigte die verschiedenartigsten Naturen, ihm stch zu eigen zu geben, den schlichten Bürger und den derben Unteroffizier, die vornehmen Damen Roms und die schönen Fürstinnen Ägyptens und Maure­ taniens, den glänzenden Kavalleriegeneral und den kalkulierenden Bankier. Sein Organisationstalent ist wunderbar; nie hat ein Staatsmann seine Bündnisse, nie ein Feldherr seine Armee aus ungefügen und widerstrebenden Elementen so entschieden zusammen­ gezwungen und so fest zusammengehalten wie Cäsar seine Koalitionen und seine Legionen; nie ein Regent mit so scharfem Blick seine Werkzeuge beurteilt und ein jedes an den ihm angemessenen Platz gestellt. Er war Monarch; aber nie hat er de» König gespielt. Auch als unumschränkter Herr von Rom blieb er in seinem Auf­ treten der Parteiführer; vollkommen biegsam und geschmeidig, bequem und anmutig in der Unterhaltung, zuvorkommend gegen jeden, schien er nichts sein zu wollen als der erste unter seines­ gleichen. Den Fehler so vieler ihm sonst ebenbürtiger Männer, den militärischen Kommandoton auf die Politik zu übertragen, hat Cäsar durchaus vermieden; wie vielen Anlaß das verdrießliche Verhältnis zum Senat ihm auch dazu gab, er hat nie zu Brutali­ täten gegriffen, wie die des achtzehnte» Brumaire eine war. Cäsar war Monarch; aber nie hat ihn der Tyrannenschwindel erfaßt. Er ist vielleicht der einzige unter den Gewaltigen des Herrn, welcher im großen wie im kleinen nie nach Neigung oder Laune, sondern ohne Ausnahme nach seiner Regentenpflicht gehandelt hat und der, wenn er auf sein Leben zurücksah, wohl falsche Rechnungen zu bedauern, aber keinen Fehltritt der Leidenschaft zu bereuen fand. Es ist nichts in Cäsars Lebensgeschichte, das auch nur im kleine» flch vergleichen ließe mit jenen poetisch-sinnlicher» Aufwallungen, mit der Ermordnung des Kleitos oder dem Brand von Persepolis, welche die Geschichte von seinem großen Vorgänger im Osten, berichtet. Er ist endlich vielleicht der einzige unter jenen Gewaltigen, 7-

der den staatsmännischen Takt für das Mögliche und Unmögliche, bis an das Ende seiner Laufbahn sich bewahrt hat und nicht ge­ scheitert ist an derjenigen Aufgabe, die für großartig angelegte Naturen von allen die schwerste ist, an der Aufgabe, auf der Zinne des Erfolgs dessen natürliche Schranken zu erkennen. Was möglich war, hat er geleistet und nie um des unmöglichen Besseren willen das mögüche Gute unterlassen, nie es verschmäht, unheilbare Übel durch Palliative wenigstens zu lindern. Aber wo er erkannte, daß das Schicksal gesprochen, hat er immer gehorcht. Alexander am Hypanis, Napoleon in Moskau kehrten um, weil sie mußten, und zürnten dem Geschick, daß es auch seinen Lieblingen nur be­ grenzte Erfolge gönnt; Cäsar ist an der Themse und am Rhein freiwillig zurückgegangen und gedachte auch an der Donau und am Euphrat, nicht ungemessene Pläne der Weltüberwindung, sondern bloß wohlerwogene Grenzregulierungen ins Werk zu setzen. — So «ar dieser einzige Mann, den zu schildern so leicht scheint und doch so unendlich schwer ist. Seine ganze Natur ist durchsichtige Klar­ heit; und die Überlieferung bewahrt über ihn ausgiebigere und lebendigere Kunde, als über irgendeinen seiner Pairs in der antiken Welt. Eine solche Persönlichkeit konnte wohl flacher oder tiefer, aber nicht eigentlich verschieden aufgefaßt werden; jedem nicht ganz verkehrten Forscher ist das hohe Bild mit denselben wesentlichen Zügen erschienen, und doch ist dasselbe anschaulich wiederzugeben noch keinem gelungen. Das Geheimnis liegt in dessen Vollendung. Menschlich wie geschichtlich steht Cäsar in dem Gleichungspunkt, in welchem die großen Gegensätze des Daseins sich ineinander auf­ heben. Von gewaltigster Schöpferkraft und doch zugleich vom durchdringendsten Verstände; nicht mehr Jüngling und noch nicht Greis; vom höchsten Wollen und vom höchsten Vollbringen; erfüllt von republikanischen Idealen und zugleich geboren zum König; ein Römer im tiefsten Kern seines Wesens und wieder be­ rufen, die römische und die hellenische Entwicklung in sich wie »ach außen hin zu versöhnen und zu vermählen, ist Cäsar der ganze und vollständige Mann. Darum fehlt es den» auch bei ihm mehr als bet irgendeiner anderen geschichtlichen Persönlichkeit an den sog. charakteristische» Zügen, welche ja doch nichts anderes sind als Abweichungen von der naturgemäßen menschlichen Entwicklung. Was dem ersten oberflächliche» Blick dafür gilt, zeigt sich bei näherer Betrachtung nicht als Individualität, sonder» als Eigentümlich­ keit der Kulturepoche oder der Nation; wie denn seine Jugend-

abenteuer ihm mit allen gleichgestellten begabteren Zeitgenossen gemein sind, sein unpoetisches, aber energisch logisches Naturell das Naturell der Römer überhaupt ist. Es gehört dies mit zu Cäsars voller Menschlichkeit, daß er im höchsten Grade durch Zeit und Ort bedingt ward; denn eine Menschlichkeit an sich gibt es nicht, sondern der lebendige Mensch kann eben nicht anders als in einer gegebenen Dolksetgentümlichkeit und in einem bestimmte» Kulturzug stehen. Nur dadurch war Cäsar ein voller Mann, weil er wie kein anderer mitten in die Strömungen seiner Zeit sich gestellt hatte und weil er die kernige Eigentümlichkeit der römischen Nation, die reale bürger­ liche Tüchtigkeit vollendet wie kein anderer in sich trug; wie denn auch sei» Hellenismus nur der mit der italischen Nationalität längst innig verwachsene war. Aber eben hierin liegt auch die Schwierigkeit, man darf vielleicht sagen die Unmöglichkeit, Cäsar anschaulich zu schildern. Wie der Künstler alles male» kann, nur nicht die vollendete Schönheit, so kann auch der Geschichtschreiber, wo ihm alle tausend Jahre einmal das Vollkommene begegnet, nur darüber schweigen. Den» es läßt die Regel wohl sich aus­ sprechen, aber sie gibt uns nur die negative Vorstellung von der Abwesenheit des Mangels; das Geheimnis der Natur, in ihre» vollendetste» Offenbarungen Normalität und Individualität mit­ einander zu verbinden, ist unaussprechlich. Uns bleibt nichts als diejenigen glücklich zu preise», die dieses Vollkommene schauten, und eine Ahnung desselben aus dem Abglanz zu gewinne», der auf den von dieser großen Natur geschaffenen Werken unvergäng­ lich ruht. Zwar tragen auch diese den Stempel der Zeit. Der römische Mann selbst stellte seinem jugendlichen griechischen Vorgänger nicht bloß ebenbürtig, sondern überlegen sich an die Seite; aber die Welt war inzwischen alt geworden und ihr Jugendschimmer verblaßt. Cäsars Tätigkeit ist nicht mehr wie die Alexanders ein fteudiges Borwärtsstreben in die ungemeffene Weite; er baute auf und aus Ruinen und war zufttede», in den einmal angewiesenen weite», aber begrenzte» Räumen möglichst erträglich und möglichst sicher sich einzurichten. Mit Recht hat den» auch der feine Dichter­ takt der Völker um den unpoetischen Römer sich nicht bekümmert und nur den Sohn des Philippos mit allem Goldglaaz der Poesie, mit allen Regenbogenfarben der Sage bekleidet. Aber mit gleichem Recht hat das staatliche Leben der Nationen seit Jahr­ tausenden wieder und wieder auf die Linien zurückgelenkt, die Cäsar gezogen hat, und wenn die Völker, denen die Welt gehört,

noch heute mit seinem Namen die höchsten ihrer Monarchen nennen, so liegt darin eine tteffinnige, leider auch eine beschämende Mahnung. Versuchen wir, im einzelnen Rechenschaft zu geben von der Überführung der alten Zustände in die neue Bah», so ist zunächst daran zu erinnern, daß Cäsar nicht kam, um anzufangen, sondern um zu vollenden. Der Plan zu einer neuen zeitgemäßen Politik, längst von Gaius Gracchus entworfen, war von seinen Anhängern und Nachfolgern wohl mit mehr oder minder Geist und Glück, aber ohne Schwanken festgehaltea worden. Cäsar, von Haus aus und gleichsam schon nach Erbrecht das Haupt der Popularpartei, hatte seit dreißig Jahren deren Schild hoch emporgehalte», ohne je die Farbe zu wechseln oder auch nur zu decken; er blieb Demokrat auch als Monarch. Wie er die Erbschaft seiner Partei, abgesehen natürlich von den katilinarischen und klodischen Verkehrtheiten, un­ beschränkt antrat, der Aristokratie und den echten Aristokraten den bittersten, selbst persönlichen Haß zollte und die wesentlichen Ge­ danken der römischen Demokratie: die Milderung der Lage der Schuldner, die überseeische Kolonisation, die allmähliche Nivellierung der unter den Klassen der Staatsangehörigen bestehende» Rechts­ verschiedenheiten, die Emanzipierung der exekutive» Gewalt vom Senat unverändert festhielt, so war auch seine Monarchie so wenig mit der Demokratie im Widerspruch, daß vielmehr diese erst durch jene zur Vollendung und Erfüllung gelangte. Denn diese Monarchie war nicht die orientalische Despotie von Gottes Gnaden, sondern die Monarchie, wie Gaius Gracchus fie gründen wollte, wie Perikles und Cromwell sie gründeten: die Vertretung der Nation durch ihren höchsten und «nnmschränkten Vertrauensmann. Es waren insofern die Gedanken, die dem Werke Cäsars zugrunde lagen, nicht eigentlich neue; aber ihm gehört ihre Verwirklichung, die zu­ letzt überall die Hauptsache bleibt, und ihm die Großheit der Aus­ führung, die selbst den genialen Entwerfer, wenn er sie hätte schauen könne», überrascht habe« möchte und die jeden, dem sie in lebendiger Wirklichkeit oder im Spiegel der Geschichte entgegengetretea ist, welcher geschichtlichen Epoche und welcher politischen Farbe immer er angehöre, je nach dem Maß seiner Fassungskraft für menschliche und geschichtliche Größe mit tiefer und tieferer Bewegung und Bewunderung ergriffen hat und ewig ergreife» wird. — Wohl aber wird es gerade hier am Orte sein, das, was der Geschichtschreiber stillschweigend überall voraussetzt, einmal ausdrücklich zu fordern und Einspruch zu tun gegen die der Einfalt und der Perfidie ge-

meinschaftliche Sitte, geschichtliches Lob und geschichtlichen Tadel von den gegebenen Verhältnissen abgelöst als allgemein gültige Phrase zu verbrauchen, in diesem Falle, das Urteil über Cäsar in eia Urteil über den sogenannten Cäsarismus umzudeuten. Freilich soll die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte die Lehr­ meisterin des laufenden sein; aber nicht in dem gemeinen Sinne, als könne man die Konjunkturen der Gegenwart in den Berichten über die Vergangenheit nur einfach wieder aufblättern und aus denselben der politischen Diagnose und Rezeptierkunst die Symptome und Spezifika zusammenlesen; sondern fie ist lehrhaft einzig insofern, als die Beobachtung der ältere» Kulturen die organischen Be­ dingungen der Zivilisation überhaupt, die überall gleichen Grund­ kräfte und die überall verschiedene Zusammensetzung derselben offenbart und statt zum gedankenlosen Nachahmen vielmehr zum selbständigen Nachschöpfe» anleitet und begeistert. I» diesem Sinne ist die Geschichte Cäsars und des römischen Cäsarentums, bei aller unübertroffenen Großheit des Werkmeisters, bei aller geschicht­ lichen Notwendigkeit des Werkes, wahrlich eine schärfere Kritik der modernen Autokratie, als eines Menschen Hand fie zu schreiben vermag. Nach dem gleichen Naturgesetz, weshalb der geringste Organismus unendlich mehr ist als die kunstvollste Maschine, ist auch jede noch so mangelhafte Verfassung, die der freien Selbst­ bestimmung einer Mehrzahl, von Bürgern Spielraum läßt, unend­ lich mehr als der genialste und humanste Absolutismus; denn jene ist der Entwicklung fähig, also lebendig, dieser ist, was er ist, also tot. Dieses Naturgesetz hat auch an der römischen absoluten Militär­ monarchie flch bewährt und nur umso vollständiger sich bewährt, als fie, unter dem genialen Impuls ihres Schöpfers und bei der Ab­ wesenheit aller wesentlichen Verwicklungen mit dem Ausland, sich reiner und freier als irgendein ähnlicher Staat gestaltet hat. Don Cäsar an hielt, wie die späteren Bücher dies darlegen werden und Gibbon längst es dargelegt hat, das römische Wesen nur noch äußerlich zusammen und ward nur mechanisch erweitert, während es innerlich eben mit ihm völlig vertrocknete und abstarb. Wenn in den Anfängen der Autokratie und vor allem in Cäsars eigener Seele noch der hoffnungsreiche Traum einer Vereinigung freier Volksentwicklung und absoluter Herrschaft waltet, so hat schon das Regiment der hochbegabten Kaiser des julianischen Ge­ schlechts in schrecklicher Weise gelehrt, inwiefern es möglich ist, Feuer und Wasser in dasselbe Gefäß zu fassen. Cäsars Werk war not# 76

wendig und heilsam, nicht weil es an sich Segen brachte oder auch nur bringen konnte, sondern weil, bei der antiken auf Sklaventum gebauten von der republikanisch-konstitutionellen Vertretung völlig abgewandten Dolksorganisation und gegenüber der legitimen in der Entwicklung eines halben Jahrtausends zum oligarchischen Absolutismus herangereiften Stadtverfassung, die absolute Militär­ monarchie der logisch notwendige Schlußstein und das geringste Übel war. Wenn einmal in Mrginien und den Karolinas die Sklavenhalteraristokratie es so weit gebracht haben wird wie ihre Wahlverwandten in dem sullanischen Rom, so wird dort auch der Cäsarismus vor dem Geist der Geschichte legitimiert sein; wo er unter andern Entwicklungsverhältniffen auftritt, ist er zu­ gleich eine Fratze und eine Usurpation. Die Geschichte aber wird sich nicht bescheiden, dem rechten Cäsar deshalb die Ehre zu ver­ kürze», weil ein solcher Wahlspruch den schlechten Cäsaren gegen­ über die Einfalt irren und der Bosheit zu Lug und Trug Gelegenheit geben kann. Sie ist auch eine Bibel, und wenn sie so wenig wie diese dem Toren es wehren kann, sie mißzuverstehen und dem Teufel, sie zu zitieren, so wird auch sie imstande sein, beides zu ertragen wie zu vergüten.

Leben und Staatswesen der ersten Zeit des römischen Kaiserreiches C. F. Schlosser (Weltgeschichte, Band IV)

Der Zustand des römischen Reiches bietet uns von der letzten Zeit der Republik an zwei sehr verschiedene Seiten dar. Auf der einen Seite erblicken wir eine stets zunehmende moralische Herab­ würdigung und eine sehr große allgemeine Entartung, daß auch die besten Regenten die Wirkungen des Zeitgeistes wohl vorüber­ gehend zu hemmen, nicht aber zu heilen vermochten. Auf der andern Seite dagegen gewährt uns das römische Reich den erfreu­ lichen Anblick einer Zivilisation, die sich mit raschen Schritten weiter als je juvor über die Welt hin ausbreitete, so daß sie auch ganj barbarische Länder, wie Frankreich, Spanien und die Wallachei, mit den Elementen eines bessern Daseins beftuchtete, und nach Norden hin sogar bis an den Fuß des schottischen Hochlandes vordrang. Ruhe und Frieden herrschten mit geringen Unter­ brechungen im Reiche, und Handel und Industrie, sowie eine gewisse Art von Wissenschaft und Kunst blühten so sehr, als zu irgend­ einer andern Zeit des Altertums. Endlich wurden den Bewohnern des Reichs damals auch die meisten der Anstalten und Einrichtungen juteil, welche in unsern Tagen das Leben behaglicher machen und den Verkehr erleichtern. Kanäle, Heerstraße», Posteinrichtungen, Anstalten jur Verpflegung der Kranken, zur Erziehung der Jugend und zur Unterstützung der Notleidenden, polizeiliche Sicherheit und Ordnung und eine, alle Teile des Staates umfassende Sorge für Recht und Gerechtigkeit wurden gerade zu jener Zeit die Haupt­ gegenstände, auf welche die Tätigkeit der Regierung sich richtete, und die Bequemlichkeit in Hinsicht auf Wohnung, Kleidung und andere Dinge war, wie die in Herkulanum und Pompeji gefundenen Einrichtungen zeigen, damals fast ebenso groß, ja in mancher Beziehung sogar noch größer als in unserer Zeit. Wer daher bei der Betrachtung der menschlichen Dinge bloß die äußere Seite des Lebens ins Auge faßt, wird diesen Zustand der römischen Welt für

einen sehr glücklichen erklären, und in der Tat hat es auch Ge­ schichtschreiber gegeben, welche die ersten hunbertfünfjig Jahre des römischen Kaiserreichs den schönste» Zeiten der Menschheit beigezählt, und diese Zeit ebenso, wie die unsrige, vorzugsweise glücklich gepriesen haben. Wer dagegen die moralischen und geistigen Zwecke der Mensch­ heit höher anschlägt als alle Bequemlichkeiten, Verfeinerungen und Hilfsmittel des äußeren, finnlichen Lebens, wer in dem Treibe» der Welt nur das, was Eigentümlichkeit, Charakter und Kraft hat, zu schätzen gewohnt ist, und bei der Beurteilung unseres Geschlechtes sich nicht um die äußere« Zufälligkeiten kümmert, an die der Mensch im zivilisierten Zustand sich in der Regel ganz zu binden pflegt, sondern auf unabhängigen Sinn und moralische» Wert steht, der wird die ersten anderthalb Jahrhunderte des römischen Kaiser­ reichs zu den traurigsten Zeiten der Geschichte zählen. Viele römische Geschichtschreiber und Satyriker haben den damaligen Zustand der Welt bloß von dieser Seite her angesehen, und ihn deshalb mit den dunkelsten Farben gemalt; von tiefem Unwillen gegen ihre Mit­ welt erfüllt, haben sie sich durch die Betrachtung der frühere» besseren Zeiten zu erquicken gesucht, diese zum eigenen Maßstabe ihrer Beurteilung gemacht, und in Folge davon ein Bild ihrer Zeit entworfen, in welchem die andere Seite zu sehr in den Schatten gestellt ist. So sehr hängt bei der Beurteilung menschlicher Dinge alles von dem Sinn und Standpunkt des Beurteilers ab! So schwer ist es, über den Vorzug der einen Zeit vor der anderen zu entscheiden! Fassen wir bei unserer Betrachtung beide Seiten zusammen, so zeigt «ns die Geschichte dieses Zeitraums besser, als die irgend eines anderen, daß de» Staaten wie de» einzelnen Menschen vom Schicksal ei» bestimmtes Alter angewiesen ist, über dessen Ziel hinaus Schwäche und Kränklichkeit ihr Erbteil werden. Geregelte Lebensweise und ärztliche Kunst vermögen zwar das gebrechliche Dasein eines Greises auf Jahre hinaus zu verlängern; neue Säfte aber und die ver­ lorne Rüstigkeit der männlichen Kraft können sie ihm nicht verleihen. Wie viele Männer von Einsicht, Kraft und gutem Willen beherrschten in jenem Zeitraum das römische Reich! Diesen Kaisern standen die ausgezeichnetsten Rechtsgelehrten, die gewandteste» Geschäfts­ männer, die tüchtigsten Generale, die furchtbarsten, tapfersten und aufs beste eingerichteten Heere zu Dienste; selbst die schlechtesten Regenten schadeten mehr der Hauptstadt und ihren nächsten Um­ gebungen als dem Reiche; und dennoch, wie sank alles so sichtlich herab, wie sehr verschwand nach und nach sogar der Schimmer

-er alte n Größe! Die Zivilisation gewann an Ausdehnung, Künste, Gewerb e und Handel erhielten einen neuen Aufschwung, alles, was d en Zwecken des äußeren Lebens diente, war in stetem Fortschreiten begriffen, eine neue Religion brachte der erschlaffte» Welt sogar e ne neue Moral; aber was half dies alles? Der alte Geist und die alte Kraft waren entwiche», Selbstsucht und niedriger Sklavenfinn hatten die Stelle der Vaterlandsliebe und des Bürgerstnnes einge­ nommen, das römische Volk war nur noch ein Körper ohne Seele, es konnte sich daher auch nicht mehr aus und durch sich selbst er­ neuern. Der auffallendste Charakterzug dieser Zeit ist die sonderbare Mischung von republikanischen Formen und Einrichtungen vnd von despotischer Regierungsweise und Hofsitte. Dieser Charakter­ zug gab dem ganzen Leben eine eigentümliche Gestalt, durch welche sich die damalige römische Welt bedeutend von anderen in moralischer Hinsicht ähnlichen Zeiten unterschied. Die republikanische Ver­ fassung des Staates und die mannigfaltigen Vorrechte von Städten und Provinzen dauerten der Form nach fort, in der Wirklichkeit aber waltete die völlig willkürliche Regierung eines einzelnen, welche weder Gesetz noch Verbriefung berücksichtigte. Je nachdem nun der Regent und seine Umgebung mehr oder weniger despotisch gesinnt waren, nahm der Einfluß dieser republikanischen Form ab ober zu. Bald befand sich der Staat in einem Rechtszustande, welcher nahe an die frühere republikanische Freiheit grenzte, bald wieder in einem Zustande völliger Willkür und Gesetzlosigkeit, die mildeste Form der Monarchie wechselte mit grausamer Despotie ab, nnd die aus beiden hervorgegangenen Einrichtungen standen oft sowohl nntereinander selbst als auch mit der äußeren Verfassung im Widerspruch. Dieser schwankende Zustand war dem Staate und den Bürgern vielleicht verderblicher als eine fortdauernde Tyrannei gewesen sein würde. Der Staat war in eine tote Form gebannt, und konnte sich also nicht mehr den veränderten Verhält­ nisse» und Umständen gemäß entwickeln; Gesetz und Verfassung gewährten dem einzelnen keinen Schutz mehr, und gaben ebensowenig dem Fürsten einen Anhalt und Stützpunkt. Alles, selbst das Ge­ richtswesen, hing von der Persönlichkeit des Herrschers ab. Dazu kam noch, daß wegen der beständig zunehmenden Sittenlosigkeit und Verweichlichung eine polizeiliche und militärische Regierungs­ weise immer nützlicher und notwendiger ward. Die Regierung wurde also auch im allgemeinen genommen stets monarchischer und 8o

despotischer, während die republikanischen Formen und Ämter immerfort bestehen blieben. Ebenso wie mit der Verfassung verhielt es sich mit den Sitten. Auch in ihnen zeigt sich eine Mischung und ein steter Wechsel von republikanischem und monarchischem Wesen, im ganzen aber nahmen sie immer mehr den Charakter des Lebens an, welches von jeher in den Reiche» des Orients zu finden war. Caligula, Claudius und Nero führte» zuerst eine orientalische Art von Etikette und Hofwesen ein; Vespasian und Titus dagegen kehrten wieder zur alten Einfachheit und Sitte zurück. Domitians Regierung war eine Wiederholung der Regierung Neros, seine nächsten Nachfolger aber betraten wieder denselben Weg, welchen Vespasian und Titus gegangen waren. Nerva, Trajan, Hadrian, Antoninus Pius und Marcus Aurelius würden Rom wieder zur alten Einfachheit zurückgeführt haben, wenn dies möglich gewesen wäre; allein -er Geist der Zeit, der ganze Charakter des Lebens hatte sich zu sehr ge­ ändert. Das frühere Verhältnis der Stände zueinander war ganz verschwunden; der Reiche und Mächtige stand dem Armen und Niederen nicht mehr wie einem gleichberechtigten Bürger gegen­ über, sondern eine unübersteigliche Kluft trennte beide voneinander, und statt der Patronen und Klienten der republikanischen Zeit gab es nur Herren und Diener, Fürsten und Knechte. Statt daß früher, wie das Beispiel des älteren Cato am besten zeigt, der Klient und Patron eine gewisse Gemeinschaftlichkeit des Lebens gehabt hatten, war die Stellung des letzteren zu dem ersteren ungefähr so, wie sie heutzutage zwischen den russischen Großen und den von ihnen abhängigen Bürgerlichen ist. Hohe Gönner werden von den Dichtern des ersten Jahrhunderts der Kaiserzeit sogar öfters mit dem Namen Könige bezeichnet. Auch der Ritterstand hatte alle Bedeutung verloren, er war ein bloßer Namen und Titel geworden. Kurz, die mittleren Stände waren ganz herabgesuaken, sie hatten ihre Kraft und ihr Ansehen verloren und wurden von den höheren Klaffen auf herab­ würdigende Weise behandelt. Ein anderer Charakterzug jener Zeit bestand darin, daß alle edleren Triebfeder» aus dem Leben verschwunden waren, und daß, wie in unserer Zeit, jede höhere Rücksicht der ängstlichen Sorge für behagliche Existenz weichen mußte. Mit der republikanischen Ein­ fachheit und Natürlichkeit war auch die Leichtigkeit des Lebens ver­ schwunden, die einen Hauptcharakterzug des früheren griechischen und römischen Altertums gebildet hatte; den» jeder, der in der Ge-

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sellschast eine Bedeutung habe» wollte, mußte gewisse Moden mit­ machen, gewisse Bedürfnisse befriedigen können. Noch unter Liberins Regierung dachte man nicht daran, durch Kleidung, Haus­ einrichtung und Lebensweise seinen Stand zu erkennen ju geben; bald nachher aber erscheint auch hierin das römische Leben dem der »eueren Zeit gleich. Die nämliche» Erbärmlichkeiten, welche unter uns die Stände voneinander scheiden, trennten auch den Römer vom Römer. Die Feinheit des Kleides und die Kostbarkeit seiner Farbe bezeichneten den Mann von Stande, Möbel von seltenem Holze und von teuerer Arbeit waren für jeden vornehmen Mann ein wesentliches Bedürfnis, wer diese Art von Hausrat oder Kleidung nicht besaß, gehörte nicht zur guten Gesellschaft. Der Philosoph Seneca, ein Zeitgenosse von Claudius und Nero, spricht sich in dieser Beziehung so aus: „Bei uns ist es unglücklicherweise dahin gekommen, -aß niemand anständig leben kann, ohne eine Menge von goldene» und silbernen Gerätschaften zu besitzen, sowie Gefäße von solchen Stoffen, welche ihre Kostbarkeit bloß der Grille einiger weniger Leute verdanke», und so viele Sklaven, daß für ihre Zahl sogar die Räumlichkeiten der größten Paläste zu enge sind!" Die schon in der letzten Zeit der Republik eingeriffene Pracht­ liebe, Schwelgerei und Verschwendung mußte sich in auffallend starkem Maße steigern, weil teils die Staatsvorurteile innig damit verknüpft waren, teils die sinnlichen Genüsse das eigentliche Element des Lebens wurden. Die kostbarsten Teppiche und Kleidungsstoffe wurden damals Mode. In jedem vornehmen Hause hielt man eine Anzahl Kosmeten oder Leute, die sich auf die Kunst des Putzens verstanden, und den zierlichen Herren und Damen nicht bloß zum geschmackvollen Ankleiden behilflich waren, sondern auch Runzeln glätteten, entstellte Züge verdeckten, falsche Zähne einsetzten und Augenbraue» malten. Der Luxus in der Einrichtung und Aus­ schmückung von Palästen, Landhäusern und Bädern, die Üppigkeit der Mahle und die Menge und Mannigfaltigkeit der Diener über­ stiegen alles Maß. I» der Beschreibung, die «ns Petronius von dem Palast eines seiner Freunde hinterlassen hat, verrät alles eine wahrhaft königliche Pracht und eine Vorsorge für Genüsse, wie sie der entartetste Epikuräer nicht besser auszudenken vermöchte. Silberne Hausgötter und eine lange Reihe von Gemälden schmückten die Eingangshalle. In den nächsten Zimmern befindet sich eine ganze Kanzlei von Dienern, welche die Leitung und das Rechnungs­ wesen der Haushaltung verwalten. In den Besuchzimmern wimmelt

es von Sklaven, die in Alexandria abgerichtet worden sind, weil man dort allein die feinste Art, jemand zu bediene», lernen konnte. In den Speisesälen, in de» Wohnjimmer» und in allen andern Räumen ist für jede mögliche Art von Bequemlichkeiten und Ver­ gnügungen Sorge getragen. Dies geht so weit, daß alle Diener des Hauses zugleich gute Sänger sind, und daß sogar das Vorschaeiden und Auftrage» der Speisen unter Gesang und Musik geschieht. Die Schwelgerei im Esse» und Trinken wurde überhaupt damals in jeder Beziehung bis aufs äußerste getrieben. Man studierte alles aus, um die Speisen mannigfaltiger zu machen, man verschwendete ungeheure Summen, um die feinsten und seltensten Gerichte aus allen Weltgegenden zusammenzubringen. Unter Augustus machte sich Marcus Apicius bloß dadurch weltberühmt, daß er sich auf die Kochkunst besser als alle anderen verstand, weshalb sein Name noch jetzt einen vollendeten Schlemmer bezeichnet. Von anderen sinn­ liche» Ausschweifungen jener Zeit zu reden, erlaubt die Rücksicht auf Anstand und Schicklichkeit nicht, übrigens war die Schwelgerei und Prachtliebe in der Zeit von Tiberius an bis auf Nero am größten; die Demoralisation wurde damals, wie in Frankreich seit der Feit des Regenten, gewissermaßen von oben her organisiert, und machte besonders unter Caligula, Claudius und Nero schreckliche Fortschritte. Von Nero's Tod an nahm das Übel wieder allmählich ab, weil gleich nachher eine geregelte Monarchie eintrat, und weil die ersten Familien durch übermäßige Verschwendungen in ihrem Vermögen zu sehr heruntergekommen waren. Außerdem wirkte auch das Beispiel Despasians und der vielen Provinzbewohner, welche in den Senat ausgenommen wurden, sehr wohltätig ein; der erstere gab durch seine einfache Lebensweise einen besseren Ton an, und die letzteren brachten die Sparsamkeit, an welche sie in ihrer Heimath gewohnt gewesen waren, mit in die Hauptstadt. Dessen ungeachtet war an eine Rückkehr zur alten Sitte nicht zu denken; den» die ganze Richtung der Zeit stand damit im Wider­ spruch, und außerdem sind Verschwendung und Schwelgerei von großem Reichtum und von großen Städten immer unzertrennlich. Am meisten wurde die herrschende Entartung durch das Beispiel des Hofes und durch die öffentlichen Spiele befördert. Die Schwelgerei der schlechteren Kaiser und die Schamlosigkeit, mit welcher an ihren Höfen alle Laster getrieben wurden, sind bekannt; über die öffentlichen Spiele dagegen und über ihren Einfluß auf die Moral müssen noch einige Andeutungen gegeben werden. Die 6*

blutigen Kämpfe, welche schon in der republikanischen Zeit eine Hauptquelle der Roheit des Pöbels waren, wurden unter den Kaisern immer häufiger, und selbst die besseren Regenten des Reichs mußten es fich angelegen sein lassen, die unmenschliche Schaulust des Volkes zu befriedigen. Das Wohlgefallen an diesem grausamen Vergnügen nahm daher fortwährend zu. Man begab fich oft schon mitten in der Nacht in diejenigen Amphitheater, in welchen an andern Tagen Spiele gehalten wurden; selbst Leute von vornehmem Stande, ja sogar Damen drängten sich schon zur Nachtzeit hinein, und unter Caligula kam es einmal vor, daß bei einer solchen Gelegenheit außer vielen andern Menschen zwanzig Ritter und ebensoviele Damen erdrückt wurden. Zu dem ver­ derblichen Einflüsse der Gladiatorspiele und Tierhetzen kam noch die Wirkung, welche die Aufführung der sogenannten Mimen und Pantomimen, die Tänze und der Gesang in anderen öffentlichen Spielen auf die Sinnlichkeit und auf den Geschmack in Kunst und Wissenschaft ausübten, zumal da man sich nicht mit den einheimi­ schen und nationalen Unterhaltungen begnügte, sondern auch aus dem Orient, aus Spanien und aus anderen Ländern schwülstige, geschmacklose oder ganz rohe Gesänge und Tänze nach Rom brachte. Alle besseren Schriftsteller und alle tüchtigen Staatsmänner der ganzen Zeit, von Augustus bis Hadrian, sprechen das einstimmige Zeugnis aus, daß nichts so sehr auf die Entartung der römischen Welt eingewirkt habe als die öffentlichen Spiele. Leider blieb diese Wirkung nicht auf die Stadt Rom beschränkt, sondern die Lustbar­ keiten der Hauptstadt wurden allmählich auch in allen größeren Orten der Provinzen eingeführt. Die Spiele hatten außer ihrem moralischen Einfluß auch noch den großen Nachteil, daß sie bedeutende Summen aus der Staats­ kasse in Anspruch nahmen und alle Ersparnisse verschlangen. Bringt man dabei noch die großen Summen in Anschlag, welche die Unter­ haltung einer ansehnlichen Heeresmässe und die Erbauung so vieler neuer Brücken, Heerstraßen und Prachtgebäude erforderten, so wird man leicht einsehen, daß die Verwaltung des Reiches sehr kostspielig war, und daß der Glanz des Äußeren in Rom und anderen größeren Orten, ebenso wie bei manchen unserer Hauptstädte, von den Provinzen teuer bezahlt wurde. Natürlicherweise mußten daher die öffentlichen Lasten, selbst abgesehen von der Verschwendung eines Caligula, Nero und Domitian in der Kaiserzeit fortwährend zunehmen. Auch die Errichtung von Bibliotheken, Stiftungen und 84

«aderen Anstalten, welche zum Teil die bessere Seite dieser Zeit bilde­ ten, trugen dazu viel bei. Die Steuern wurden mannigfaltiger und größer, und wen» auch einzelne verständigere und mildere Kaiser die eine oder andere neue Abgabe wieder eingehen ließen, so half dies doch wenig oder gar nichts. Konnten ja doch in einer Zeit, wo fast kein einziger Bürger mehr die öffentliche Sache als seine eigene ansah, selbst die besseren Kaiser das nötige Geld nicht herbeischaffen, ohne zu gewaltsamen Mitteln zu greifen! Das beweist am besten Despafians Regierung, besonders der Tadel wegen seiner Kargheit und die Behauptung, welche er bei seinem Regierungsantritte vor dem Senat ausgesprochen haben soll, daß er einer Summe von mindestens dreiundachtzig Millionen Gulden bedürfe, wenn der Staat fortbestehen solle. Betrachten wir die besseren Seiten der Zeit, so ist die allge­ meinere Verbreitung der Kultur unstreitig die erfreulichste Er­ scheinung. Die Grenzen der Zivilisation wurden immer mehr erweitert, und Völker, welche, wie die Briten, die Gallier und die Spanier, bisher nur durch wilde Roheit ausgezeichnet gewesen waren, nahmen römische Sitten und römischen Charakter an. Auch im Innern des Reiches ward die Bildung mit allen den Vor­ teilen, die sie dem äußeren Leben des Menschen bringt, immer mehr ein Gemeingut, statt daß sie früher auf einzelne Städte und Länder beschränkt gewesen war. Die verschiedenen Teile des Reiches wurden dadurch einander ähnlicher, und das Übergewicht von Rom und Italien nahm infolge davon so sehr ab, daß schon am Ende der ersten Periode drei Provinzialen nacheinander Kaiser wurden, ohne daß man den mindesten Anstoß an ihrer Herkunft nahm. Ein anderer Vorteil, der aber auch mit großen Nachteilen verknüpft war, bestand in den vielen neuen Einrichtungen, die aus dem monarchischen Wesen hervorgingen, besonders in den Wohltätig­ keitsanstalten, den Bibliotheken und dem Gebrauche, Beamte und Gelehrte zu besolden. Diese Erscheinungen verdienen um so mehr eine nähere Betrachtung, als sie der klassischen Zeit des Altertums ganz fremd gewesen waren, und dagegen von Vespasians Tagen an eine Eigentümlichkeit aller zivilisierten Staaten geblieben sind. Besoldete Staatsdienste waren in frühere» Zeiten etwas Uner­ hörtes; man erhielt zwar eine Entschädigung für die auf öffent­ liche Geschäfte verwendete Zeit und Geldausgabe, allein einen Erwerb und die Mittel zur Existenz konnte man nur in Privat­ geschäften suchen. Dies änderte sich von Vespasians Zeit an völlig.

die Beamten erhielten, wie in der neuere» Zeit, eigentliche Be­ soldungen, ihre Existenz wurde aber dadurch freilich auch ganz von dem Herrscher, von seinem Hofe und von dem Zustande der Staats­ kasse abhängig. Derselbe Fall war mit der Wissenschaft. Man gab de» Lehrern bestimmte Gehalte, man gründete Stipendien für die Schüler, und einzelne Kaiser, sowie reiche Privatleute und Städte machten Stiftungen für gelehrte Anstalten. Selbst ge­ wöhnliche Schulen wurden vom Staate mit Geld unterstützt. Die Bildung hörte also auf, Sache -es einzelnen zu sein. Dies hatte zwar seinen Nutzen und war in einem monarchische» Staate sogar notwendig; es brachte aber auf der anderen Seite den Schlen­ drian, der allen Anstalten der neueren Zeit verderblich wird, auch in die des Altertums, welche bisher davon ganz frei geblieben waren. Namentlich wurden die Lehrerstellen ebenso wie die Staats­ ämter als eia Mittel der Versorgung angesehen und benutzt. Auch die Verpflegung und Unterstützung der Armen wurde, noch ehe das Christentum fie zur Religionspflicht machte, ein Gegen­ stand der Fürsorge derjenigen Kaiser und Privatleute, welche sich auf eine bessere Art verewigen wollten als durch Stiftungen für Spiele und Wettkämpfe. In den früheren Zeiten des Altertums kümmerte sich der Staat um die Notleidenden nicht, selbst die Wohltätigkeit der Privaten war gering, und die Sorge für die Armen ging nie so weit, daß man förmliche Armenanfialten grün­ dete. Nur wenn die Menge der Armen zu groß wurde, suchte man von Staats wegen dem Übel abzuhelfen; man beschränkte stch aber darauf, daß man eine neue Kolonie gründete, in welcher ein Teil des geringen Volkes auf Staatskosten angesiedelt wurde. Gegen das Ende der Republik kam noch der Mißbrauch öfterer Getreideausteilungen hinzu, und zu Augustus Zeit waren diese schon so sehr Gewohnheit geworden, daß an eine Aufhebung der­ selben nicht mehr gedacht werden konnte. Es erhielten damals nicht weniger als zweimalhunderttausend Bewohner der Hauptstadt regelmäßig ihren Brotbedarf vom Staate geschenkt. Augustus selbst fühlte zwar den Nachteil einer solchen Pflegeanstalt, durch welche die Müßigen auf Kosten -er Arbeitsamen unterhalten wurden; allein er durfte nicht wagen, dieses Übel abzustellen, weil dadurch das Fortbestehen seiner Herrschaft in Gefahr gebracht worden wäre. Sein grausamer Stiefsohn und Nachfolger konnte die wildeste Tyrannei einrichten. Recht und Gerechtigkeit mit Füßen treten, Menschlichkeit und Tugend verhöhnen, er brauchte dessen

ungeachtet keine Unruhen zu befürchte». Als er aber einst seine Sparsamkeit auf die Getreideausteilung anwandte, geriet das Volk in die größte Aufregung und verlangte mehrere Tage hinter­ einander im Theater laut und stürmisch die gewohnte reichlichere Spende. Diese Getreideausteilungen waren in Rom eine ebenso große Notwendigkeit geworden wie die öffentlichen Spiele, und der Ausdruck panis et circenses (Brot und Kampfspiele) ward als der Inbegriff der Hauptbedürfnisse des römische» Volkes sprichwört­ lich. Trajan führte aus der edelsten Absicht einen neuen Mißbrauch ein, welcher ähnliche Folgen hatte wie die Armengesetze in England. Er wies eine bedeutende Summe aus de» Staatsgeldern zur Verpflegung von fünftausend arme« Kindern an. Dies fand so­ gleich bei einigen Privatleuten Nachahmung. Der Schriftsteller Plinius der Jüngere, ein Freund Trajans, machte in seiner Vater­ stadt Como eine Stiftung, »ach welcher die jährlichen Einkünfte eines seiner Landgüter zur Ernährung armer Kinder verwendet werden sollte». Andere Männer befolgten das von Trajan und Plinius gegebene Beispiel, und es entstanden damals durch Privatchenkungen, durch die Freigebigkeit des Kaisers und durch die Bei­ träge der Städte selbst in verschiedenen Gegenden von Italien zum ersten Male solche Anstalten wie unsere milden Stiftungen sind. Hadrian erweiterte gleich bei seiner Thronbesteigung die von Trajan gegründete Versorgungsanstalt für Kinder, und sein Nachfolger gab derselben eine »och größere Ausdehnung. Der Nachteil, de» diese neue» Einrichtungen mit sich führten, ist nicht schwer zu ent­ decken. Man sieht leicht ei», daß innere Kriege, Einfälle der Barbaren und die eintretende Verarmung einzelner Städte um so verderb­ lichere Folgen haben mußten, je mehr sich »ach und nach jedermann gewöhnte, für seine Privatangelegenheiten auf Stadt und Staat zu sehen, und daß eine einzige Stockung die ganze Maschine hemmen konnte. Außerdem waren die meisten Stiftungen aus dem Staats­ gute gemacht, und die öffentlichen Kaffen hatten seitdem jährlich eine bedeutende Mehrausgabe für milde Zwecke, für Schule», Museen und Bibliotheken zu bestreite»; jenes ward also in dem­ selben Grade vermindert, in welchem die Steuern zunahmen. Endlich zeigt sich noch ein Vorzug dieser Zeit in dem Zustande des Handels, der Industrie und des Ackerbaues. Der vermehrte Luxus und die dadurch geweckte Erfindsamkeit riefen eine Menge neuer Gewerbe hervor, und der Handel erhielt einen größeren Aufschwung und ein weiteres Feld. Selbst die schlechteste» Kaiser,

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ein Nero, ein Domitian und andere, wirkten durch ihre Verschwen­ dung und Eitelkeit fördernd darauf ein. Es würde ju viel Raum erfordern, wenn man die Zunahme und Ausbreitung des Handels im römischen Reiche, die Verbesserung des Weinbaues, der Vieh­ zucht und anderer Teile der Landwirtschaft, sowie die Fortschritte der Industrie in der Bereitung des Glases, des Papiers, der Haus­ geräte und anderer Gegenstände im einzelnen darstellen wollte. Nur über de» Buchhandel und die Kunstwerke jener Zeit müssen einige Andeutungen gegeben werden, weil man an beiden den herrschenden Geist und seine Richtung erkennen kann. Der Buch­ handel wurde damals zugleich mit der Papierfabrikation ein be­ deutendes Gewerbe; denn die Beschäftigung mit der Literatur war ei» allgemeines Bedürfnis geworden, und die Mode machte in jedem vornehmen Hause eine Bibliothek nötig. Schon unter Augustus war das Abschreiben der Bücher durch Sklaven ein leb­ haftes Gewerbe in Rom, von Vespasians Zeit an aber nahm diese Art von Vervielfältigung der literarischen Werke, auf welcher das Geschäft des römischen Buchhandels beruhte, nicht bloß in der Hauptstadt sehr bedeutend zu, sondern fie breitete sich auch in den Provinzen aus. Besonders kam in Gallien der Buchhandel sehr empor. Dort wurden nämlich in Lyon, Autun und anderen Städten die römischen Studien mit stets zunehmendem Eifer betrieben, und in Marseille bestand eine Lehranstalt für griechische Literatur und Kunst, welche von den vornehmen Römern sogar den Schulen von Athen vorgezogen ward. Die gesteigerte Lust an der Lektüre und die vermehrte Liebhaberei für Bücher machte auch für Dichter und Gelehrte das Schreiben immer mehr zu einer Art von Ge­ werbe. Die Honorare wurden bedeutender, und selbst angesehene Männer scheuten sich nicht, sich für ihre Werke große Summen zahlen zu lassen. Noch allgemeiner war die Kunsiliebhaberei. Die Macht der Mode machte Kunstwerke ebenso unentbehrlich als ge­ wöhnliches Hausgeräte. Diese Richtung beschäftigte eine Menge Künstler und gab der Kunst als Gewerbe eine große Bedeutung. Auch für die neuere Zeit ist dieses Streben sehr wichtig geworden; denn die meisten antiken Werke, welche unseren Künstlern als Muster dienen, rühren entweder aus jener Zeit her, oder sie wurde» damals infolge der herrschenden Kunsiliebhaberei von Griechenland nach Italien gebracht, wo man sie in der neueren Zeit wieder aufge­ funden hat. Freilich war ein Zeitalter, in welchem Geldgier, Schwelgerei und Prachtliebe herrschten, der wahren Kunst ebenso-

wenig günstig als der echten Wissenschaft, und wenn man auch zugestehen muß, daß »och immer einzelne Meisterwerke hervor­ gebracht wurden, so zeigt fich doch in der Hauptsache schon der über­ ganz zur späteren Geschmacklosigkeit. Man fing schon an, auf das Material, aus welchem ein Kunstwerk bestand, de» Hauptwerk zu lege» und zog goldene und silberne Statuen den eherne» vor. Man strebte ferner danach, Staunen zu erregen und durch die Größe und Masse der Bildsäulen zu wirken. Zu Neros Zeit ließen z. B. die Bewohner der heutigen Auvergne eine Merkurstatue anfertigen, welche so kolossal war, daß nicht weniger als zehn Jahre an ihr gearbeitet ward, und daß sich der Arbeitslohn allein auf drei Millio­ nen dreimalhunderttausend Gulden belief. Wenn man auch von diesen Irrwegen, auf welche die Kunst damals geriet, nichts wüßte, so würde man doch schon aus dem ganze» Leben und Treiben jener Zeit auf eine» sinkenden Zustand der Kunst zurückschließen müssen; denn die Kunst kann nicht blühen, wenn sie eine Sache der Mode und ein Gewerbe geworden ist, da Kunstsinn und Modegeschmack zwei ganz verschiedene Dinge sind. Auch in den Bauwerken jener Zeit, besonders in de» prächtigen Landhäusern, zeigt sich, daß der Luxus ein Feind der wahren Kunst ist. Wie sehr bei dem Dau der letzteren das Streben nach dem Prächtigen, Mannigfaltigen und Interessanten vorherrschte, läßt sich am besten aus der Villa Hadrians erkennen. Der Luxus brachte dabei außerdem noch die Sitte auf, möglichst viele Kunstwerke in den Landhäusern zusammevzuhäufen, wo sie ebenso wie heut­ zutage in den Dillen englischer Großen, bloß als Merkwürdigkeiten oder als kostbarer Zierrat diente». Wie Vieles und Prächtiges übrigens auch die Kaiser und ihre Großen bauten, der wahre Geschmack, das Edle, Erhabene und Einfache der Kunst selbst gingen unter. Sogar die allgemeine Gewerbstätigkeit und der Wohlstand der Bürgerklaffe gewannen dadurch nur scheinbar. Nur was aus dem wirklichen Bedürfnis einer Nation hervorgeht und ein Werk der freien Erzeugung ist, kann gedeihen und Nutzen bringen. Ein König oder Kaiser läßt wohl gewisse Kunstwerke machen, hebt ein­ zelne Zweige der Betriebsamkeit und befördert diese oder jene Anstalt; allein alles zerrinnt wieder, sobald der Nachfolger sich der Sache nicht ebenfalls annimmt, und es bleiben nur die Spuren verlorener Bestrebung übrig. Endlich geht auch der Bürgerstand und die allgemeine Wohlhabenheit in einem Lande unter, wo alles herrschaftlich ist, wo alle Vorteile nur den Menschen, die mit dem 8y

Hofe zu tun haben, zustatten kommen, der Bürger und Bauer aber allein den Druck tragen und daher z« Taglöhnern oder Leib­ eigenen werden. Diese Erscheinung zeigt der Orient in unseren Tage», und im römischen Reiche, besonders in Italien, ging es zur Katserzeit ebenso. Wenn also diese Zeit auch, »eben der unter­ gehenden Moralität und Kraft des Reiches, den erfteuliche» An­ blick einer Entwicklung des äußeren Lebens und seiner Bedürfnisse darbietet, so erstreckte sich doch der Vorteil davon nicht bis auf die große Masse des Volkes.

Der Eintritt des Christentums in die römische Welt $. v. Ranke Überblicke« wir den Umkreis der alten Welt in den früheren Jahrhunderte», so finde« wir ihn mit einer große« Anzahl unab­ hängiger Völkerschaften erfüllt. Um das Mittelmeer her, soweit von den Küsten die Kunde in das innere Land reicht, wohnen fie, mannigfach gesondert, ursprünglich alle enge begrenzt, in lauter freie» und eigentümlich eingerichtete» Staaten. Die Unabhängig­ keit, die sie genießen, ist nicht allein politisch: allenthalben hat sich eine örtliche Religion ausgebildet; die Ideen von Gott und gött­ lichen Dingen haben sich gleichsam lokalisiert; nationale Gottheiten von den verschiedensten Attributen nehmen die Welt ein; das Gesetz, das ihre Gläubigen beobachten, ist mit dem Staatsgesetz unauflöslich vereinigt. Wir dürfen sagen, diese innige Vereinigung von Staat und Religion, diese zwiefache Freiheit, die nur etwa durch leichte Verpflichtungen der Stammesverwandtschaft beschränkt wurde, hatte den größten Anteil an der Bildung des Altertums. Man war in enge Grenzen eingeschloffen, aber innerhalb derselben konnte sich die ganze Fülle eines jugendlich sich selber überlassenen Daseins in freien Trieben entwickeln. Wie wurde dies alles so anders, als die Macht von Rom empor­ kam ! Alle die Autonomien, welche die Welt erfüllen, sehen wir eine nach der andern sich beugen und verschwinden; wie ward die Erde plötzlich so öde an freien Völkern! Zu anderen Zeiten sind die Staaten erschüttert worden, weil man aufgehört hatte, an die Religion zu glauben; damals mußte die Unterjochung der Staaten den Verfall ihrer Religionen nach sich ziehen. Mit Notwendigkeit, im Gefolge der politischen Gewalt strömten sie nach Rom zusammen; welche Bedeutung aber konnte ihnen noch beiwohnen, sobald sie von dem Boden losgerissen wurden, auf dem sie einheimisch waren? Die Verehrung -er Isis hatte vielleicht einen Sinn in Ägypten: sie vergötterte die Natur­ kräfte wie sie in diesem Lande erscheinen; in Rom ward ein Götzen­ dienst ohne allen Sinn daraus. Indem dann die verschiedenen

Mythologien einander berührten, konnten sie nicht anders, als sich wechselseitig bestreiten und auflösen. Es war kein Philosophem zu erdenken, das ihren Widerspruch zu beseitigen vermocht hätte. Wäre dies aber auch möglich gewesen, so hätte es dem Bedürfnis der Welt schon nicht mehr genügt. Bei aller Teilnahme, die wir dem Untergange so vieler freier Staaten widmen, können wir doch nicht leugnen, daß aus ihrem Ruin unmittelbar ein neues Leben hervorging. Indem die Freiheit unterlag, fielen jugleich die Schranken der engen Nationalitäten. Die Nationen waren überwältigt, jusammen erobert worden, aber eben dadurch vereinigt, verschmolzen. Wie man das Gebiet des Reiches den Erd­ kreis nannte, so fühlten sich die Einwohner desselben als ein ein­ ziges, ein zusammengehörendes Geschlecht. Das menschliche Ge­ schlecht fing an, seiner Gemeinschaftlichkeit inne zu werden. In diesem Moment der Weltentwicklung ward Jesus Christus geboren. Wie so unscheinbar und verborgen war sein Leben, seine Be­ schäftigung, Kranke zu heilen, ein paar Fischern, die ihn nicht immer verstanden, andeulend und in Gleichnissen von Gott zu reden; er hatte nicht, da er sein Haupt hinlegte; — aber, auch auf dem Standpunkte dieser unserer weltliche« Betrachtung dürfen wir es sagen: unschuldiger und gewaltiger, erhabener, heiliger hat es auf Erden nichts gegeben, als seinen Wandel, sein Leben und sein Sterben; und in jedem seiner Sprüche wohnt der lautere Gottes­ odem; es sind Worte, wie Petrus sich ausdrückt, des ewigen Lebens; das Menschengeschlecht hat keine Erinnerung, welche dieser nur von ferne zu vergleichen wäre. Wenn die nationalen Verehrungen je ein Element wirklicher Religion in sich eingeschlossen haben, so war dies damals voll­ ständig verdunkelt; sie hatten, wie gesagt, keinen Sinn mehr; in dem Menschensohn, Gottessohn erschien ihnen gegenüber das ewige und allgemeine Verhältnis Gottes zu der Welt, des Menschen zu Gott. In einer Nation ward Christus geboren, die sich durch ein einseitiges strenges Ritualgesetz von allen anderen am entschiedensten absonderte, die sich aber das unermeßliche Verdienst erworben, den Monotheismus, den sie von Anbeginn bekannte, unwandelbar festzuhalten, sich ihn nie entreißen zu lassen. Allerdings dachte sie ihn eben auch als einen nationalen Dienst, nunmehr aber bekam er eine ganz andere Bedeutung. Christus löste das Gesetz auf, indem Y2

er es erfüllte; der Menschensohn erwies sich nach seinem Ausspruch als Herr auch des Sabbats; er entfesselte den ewigen Inhalt der von einem engen Verstand unbegriffeenn Formen. Aus dem Volke, das bisher durch unübersieigliche Schranken der Gesinnung und der Sitte von allen anderen getrennt war, erhob sich dann mit der Kraft der Wahrheit ein Glaube, der sie alle einlud und aufnahm. Es ward der allgemeine Gott verkündigt, durch de», wie Paulus den Athenern predigte, von einem Blut aller Menschen Geschlechter über den Erdboden wohnen. Für diese erhabene Lehre war, wie wir sahen, eben der Zeitpunkt eingetreten: es gab ein Menschen­ geschlecht, sie zu fassen. Wie ein Sonnenblick, sagt Eusebius, leuchtete sie über die Erde dahin. In kurzer Zeit sehen wir sie von dem Euphrat bis an de» atlantischen Ozean, längs des Rheines und der Donau, über die gesamten Grenzen des Reiches ausgebreitet. So harmlos und unschuldig sie aber auch war, so mußte sie doch der Natur der Sache nach starken Widerstand in den bestehenden Diensten finden, die sich an die Gewohnheiten und Bedürfnisse des Lebens, an alle alten Erinnerungen anschlossen und jetzt eine Wendung genommen hatten, durch die sie der Verfassung des Reiches doch auch wieder entsprachen. Der politische Geist der antiken Religionen versuchte sich noch einmal in einer neuen Bildung. Die Summe aller jene» Auto­ nomien, welche einst die Welt erfüllt, ihr Gesamtinhalt war einem einzigen zuteil geworden, es gab nur noch eine einzige Gewalt, die von sich selber abhängig zu sein schien; die Religion erkannte dies an, indem sie dem Imperator göttliche Verehrung widmete. Ma» richtete ihm Tempel auf, opferte ihm auf Altären, schwur bei seinem Namen und feierte ihm Feste, seine Bildnisse gewährten ein Asyl. Die Verehrung, die dem Genius des Imperators er­ wiesen wurde, war vielleicht die einzige allgemeine, die es in dem Reiche gab. Alle Götzendienste bequemten sich ihr; sie war eine Stütze derselben. Dieser Dienst des Cäsar und die Lehre Christi hatte» im Ver­ hältnis zu den lokalen Religionen eine gewisse Ähnlichkeit; aber zu­ gleich standen sie auch in einem Gegensatz, der sich nicht schärfer denken läßt. Der Imperator faßte die Religion in dem weltlichsten Bezüge, — an die Erde und ihre Güter gebunden: ihm seien dieselben über­ geben, sagt Celsius; was man habe, komme von ihm. Das Christen­ tum faßte sie in der Fülle des Geistes und der überirdischen Wahrheit.

Der Imperator vereinigte Staat und Religion; das Christen­ tum trennte vor allem das, was Gottes, von dem, was -es Kaisers ist. Indem man dem Imperator opferte, bekannte man stch zur tiefsten Knechtschaft. Eben darin, worin bei der frühere» Verfassung die volle Unabhängigkeit bestand, in der Vereinigung der Religio» und des Staates, lag bei der damaligen die Defiegelung der Unter­ jochung. Es war ein Akt der Befreiung, daß das Christentum den Gläubigen verbot, dem Kaiser zu opfern. Der Dienst des Imperators war endlich auf die Grenzen des Reiches, des vermeinte» Erdkreises, beschränkt; das Christentum war bestimmt, -en wirkliche» zu umfassen, das gesamte Menschen­ geschlecht. Das ursprüngliche, älteste religiöse Bewußtsein, oder wenigstens ein unbedingt reines, durch keine notwendige Beziehung auf den Staat getrübtes, suchte der neue Glaube in den Nationen zu erwecken und setzte es dieser weltherrschenden Gewalt entgegen, die, nicht zufrieden mit dem Irdischen, auch das Göttliche unter­ werfe» wollte. Dadurch bekam der Mensch ein geistiges Element, indem er wieder selbständig, frei und persönlich unüberwindlich wurde; es kam Frische und neue Lebensfähigkeit in den Boden der Welt; fie wurde zu neuen Hervorbringungen befruchtet. Es war der Gegensatz des Irdischen und des Geistigen, der Knechtschaft und der Freiheit, allmählichen Absterbens und lebendiger Verjüngung. Hier ist nicht der Ort, den lange» Kampf dieser Prinzipien zu beschreiben. Alle Lebenselemente des römischen Reiches wurden in Bewegung gezogen und allmählich von dem christlichen Wesen ergriffen, durchdrungen, in diese große Richtung des Geistes fort­ gerissen. Don sich selber, sagt Chrysostomus, ist der Irrtum des Götzendienstes erloschen. Schon ihm erscheint das Heidentum wie eine eroberte Stadt, deren Mauern zerstört, deren Hallen, Theater und öffentliche Gebäude verbrannt, deren Verteidiger umgekommen seien; nur unter den Trümmern sehe man noch ein paar Alte, ei» paar Kinder stehen. Bald waren auch diese nicht mehr, und es trat eine Verwand­ lung ohnegleichen ein. Aus den Katakomben stieg die Verehrung der Märtyrer hervor; an den Stellen, wo die olympischen Götter angebetet worden, aus den nämlichen Säulen, die deren Tempel getragen, erheben sich Heiligtümer zum Gedächtnis derjenigen, die diesen

Dienst verschmäht und darüber den Tod erlitten hatten. Der Kultus, den man in Einöden und Gefängnissen begonnen, nahm die Welt ein. Man wundert sich zuweilen, daß gerade ein weltliches Gebäude der Heiden, die Basilika, in eine Stätte christlicher Verehrung umgewandelt worden. Es Hat Lies doch etwas sehr Bezeichnendes. Die Apsis der Basilika enthielt ein Augusteum, die Bilder eben jener Cäsaren, denen man göttliche Ehre erwies. An die Stelle derselben trat, wie wir es in so vielen Basiliken noch heute sehen, das Bild Christi und der Apostel; an die Stelle der Weltherrscher, die selber als Götter betrachtet wurden, trat der Menschensohn, Gottessohn; die lokalen Gottheiten wichen, verschwanden. An alle» Landstraßen, auf -er steilen Höhe des Gebirges, in den Pässen durch die Talschluchten, auf den Dächern der Häuser, in der Mosaik der Fußböden sah man das Kreuz. Es war ein entschiedener, voll­ ständiger Sieg. Wie man auf Münzen Konstantins das Labarum mit dem Monogramm Christi über dem besiegten Drachen erblickt, so erhob sich über dem gefallenen Heidentum Verehrung und Name Christi. Auch von dieser Seite betrachtet, wie unendlich ist die Be­ deutung des römischen Reiches! In den Jahrhunderten seiner Er­ hebung hat es die Unabhängigkeit gebrochen, die Völker unter­ worfen; es hat jenes Gefühl der Selbständigkeit, das in der Sonde­ rung lag, vernichtet; dagegen hat es dann in seinen späteren Zeiten die wahre Religion in seinem Schoße hervorgehen sehen, — den reinsten Ausdruck eines gemeinsamen Bewußtseins, welches weit über seine Grenzen reicht, das Bewußtsein der Gemeinschaft in dem einen wahren Gott. Dürfen wir sagen, daß das Reich durch diese Entwicklung seine eigene Notwendigkeit aufhob? Das Menschen­ geschlecht war nunmehr seiner selbst innegeworden; es hatte seine Einheit in der Religion gefunden.