Aurora: Band 70-71 2010 - 2011 9783110239263, 9783110239256

Aurora, das Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft erschien als Fortsetzung des Almanachs Aurora (1929–1943) nach dem Kri

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German Pages 193 [200] Year 2012

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Table of contents :
Der junge Herr Publikum. Eichendorffs Tagebuch als theatergeschichtliche Quelle
Konstruierte Wirklichkeiten. Zu Eichendorffs Lyrik
„Von Regensburg her“. Zur Funktion außertextueller Referenzen in Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart
„Im Rheingau, wo jetzt Rüdesheim liegt...“. Chronotopoi in Clemens Brentanos Mährchen vom Rhein
Der Raum des romantischen Sonetts
Raum und Raumkonzept im Theater Calderons
„Alle diese Abscheulichkeiten, und nichts zu sehen, als rundum den Himmel“ – Narrative Konstruktionen des urbanen Raumes in Heinrich von Kleists Briefen aus Paris
Bericht über den 20. Internationalen Kongress der Eichendorff-Gesellschaft vom 7. bis 9. Oktober 2010 in Regensburg
Verleihung der Eichendorff-Medaille 2010 an Hermann Korte. Laudatio
Eichendorff-Autographen im Freien Deutschen Hochstift. Eine Handschriften-Inventur
Buchbesprechung
Novalis. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs / Gerhard Schulz
Anschriften der Beiträger
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Aurora: Band 70-71 2010 - 2011
 9783110239263, 9783110239256

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Aurora Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft Band 70/71

2010/2011

Herausgegeben von Jürgen Daiber, Eckhard Grunewald, Gunnar Och und Ursula Regener

De Gruyter

ISBN e-ISBN ISSN

978-3-11-023925-6 978-3-11-023926-3 0341-1230

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Editorial Mit der Aurora 2010/2011 geht eine Ära der Eichendorff-Forschung und -Publizistik zu Ende. Da sich die Eichendorff-Gesellschaft zum Ende des Jahres 2011 auflöst, stellt auch das Jahrbuch der Gesellschaft mit diesem Band sein Erscheinen ein. Der Titel Aurora gehört somit erst einmal der Geschichte an. Für das wissenschaftliche Profil des Periodikums zeichneten seit der Neugründung der Eichendorff-Gesellschaft (1952; damals noch Eichendorff-Stiftung) und ihres Jahrbuchs (1953) verantwortlich: Karl Schodrok (1953–1969), Franz Heiduk (1970–1989), Wolfgang Frühwald (1978–1988), Helmut Koopmann (1978–2001), Peter Horst Neumann (1984–2001), Lothar Pikulik (1991–2001), Alfred Riemen (1991–2000), Ursula Regener (2001–2011), Jürgen Daiber (2002–2011), Eckhard Grunewald (2002–2011) und Gunnar Och (2002–2011). Diesen Herausgebern und unzähligen Beiträgern ist es zu danken, dass die Aurora über viele Jahrzehnte der Eichendorff- und Romantik-Forschung ein interdisziplinäres Diskussionsforum von internationalem Rang bieten konnte. Die jetzigen Herausgeber hoffen, dass das Einstellen des Periodikums nicht nur als Ende verstanden wird. Vielmehr möchten sie auf die Chancen aufmerksam machen, die sich durch die enge Zusammenarbeit mit dem Freien Deutschen Hochstift (Frankfurt am Main) bieten, in dessen Archiv nun auch die Bücher, Handschriften und Kunstwerke der Eichendorff-Gesellschaft sachgerecht verwahrt werden. Den Mitgliedern der Eichendorff-Gesellschaft und zukünftigen Eichendorff-Fans eröffnet sich dort eine bereits bestens etablierte Interessengemeinschaft für alle Fragen, die die klassisch-romantische Zeit betreffen. Von Frankfurt aus werden Ausschreibungen und Veranstaltungen des aus der Eichendorff-Gesellschaft hervorgegangenen Eichendorff-Forums speziell der Eichendorff-Forschung weiterhin Anreize geben. So ist der nächste Vortragswettbewerb der Jungen Sektion zum Thema „Was kostet die Romantik?“ am 28.09.2012 im Frankfurter Goethehaus bereits ausgeschrieben. Im Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts findet die Eichendorff-Forschung künftig einen angemessenen Publikationsort. Zusätzlich bietet das Eichendorff-Forum im Internet eine Plattform für autorbezogene Anfragen, Mitteilungen, Netzpublikationen etc. Im Sinne dieser neuen Wege: Die Herausgeber

Inhalt Hermann Korte Der junge Herr Publikum. Eichendorffs Tagebuch als theatergeschichtliche Quelle

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Helmut Koopmann Konstruierte Wirklichkeiten. Zu Eichendorffs Lyrik

35

Vera Bachmann „Von Regensburg her“. Zur Funktion außertextueller Referenzen in Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart

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Wolfgang Bunzel „Im Rheingau, wo jetzt Rüdesheim liegt...“ Chronotopoi in Clemens Brentanos Mährchen vom Rhein

65

Thomas Borgstedt Der Raum des romantischen Sonetts

81

Ralf Junkerjürgen Raum und Raumkonzept im Theater Calderóns

101

Jürgen Daiber „Alle diese Abscheulichkeiten, und nichts zu sehen, als rundum den Himmel“ – Narrative Konstruktionen des urbanen Raumes in Heinrich von Kleists Briefen aus Paris

113

Volkmar Stein Bericht über den 20. Internationalen Kongress der Eichendorff-Gesellschaft vom 7. bis 9. Oktober 2010 in Regensburg

127

Ursula Regener Verleihung der Eichendorff-Medaille 2010 an Hermann Korte. Laudatio

139

Ursula Regener Eichendorff-Autographen im Freien Deutschen Hochstift. Eine Handschriften-Inventur

141

Buchbesprechung Helmut Koopmann Novalis. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs / Gerhard Schulz

185

Anschriften der Beiträger

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Hermann Korte

Der junge Herr Publikum. Eichendorffs Tagebuch als theatergeschichtliche Quelle Der Theaterpublikumsforschung, der dieser Beitrag verpflichtet ist, liegt die schlichte Einsicht zugrunde, dass der Zuschauer einen aktiven Anteil am Zustandekommen theatralischer Kunst hat. Begriff und Idee einer „theaterwissenschaftlichen Publikumsforschung“1 sind älteren Datums, schon in den 1920er Jahren nachweisbar und ein Resultat kontinuierlicher theatergeschichtlicher Forschungen, die 1891 mit Berthold Litzmanns Reihe Theatergeschichtliche Forschungen und 1902 mit den Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte2 einsetzen und deren Verdienst es ist, auf gesicherter Quellenbasis das Leben und Wirken von Schauspielern und Schauspielerfamilien zu untersuchen. Ein Beispiel dafür ist Weils IfflandMonographie, in der die „Abhängigkeit des Schauspielers von den im Augenblick seines Schaffens anwesenden Zuschauern“3 hervorgehoben wird: Schauspieler wie Iffland agieren und reagieren vor dem Publikum, das seinerseits das Geschehen auf der Bühne stimulieren, Effekte verstärken und sogar die tägliche Leistungsfähigkeit eines Akteurs beeinflussen und ihn motivieren kann, „durch kleine Nuancierungen seines Spiels sich des Mitgehens seines augenblicklichen Publikums zu versichern.“4 Auch Goethe hat eine solche Schauspielerkunst entsprechend gewürdigt: Eine „fortgesetzte wachsame Aufmerksamkeit“ sei der Ausdruck für „Interesse“ und „Rührung“ und damit eine Art Ehrung für das Stück und seine Akteure.5 –––––––— 1

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Rudolf Weil: Das Berliner Theaterpublikum unter A. W. Ifflands Direktion (1796 bis 1814). Ein Beitrag zur Methodologie der Theaterwissenschaft. Berlin 1932. S. 7. Vgl. zur aktuellen Position ausführlicher Erika Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 81. 1991. S. 13–36. Die Schriftenreihe, von der Gesellschaft für Theatergeschichte herausgegeben, hatte zwischen 1902 und 1930 bereits vierzig einschlägige Monographien und Sammelbände veröffentlicht. Schon 1890 hatte der Bonner Literarhistoriker Berthold Litzmann seine grundlegende Reihe Theatergeschichtliche Forschungen begründet, in der allein zwischen 1891 und 1902 19 Monographien erschienen. Litzmanns Schriftenreihe gehört bis heute zu den bedeutenden wissenschaftlichen Publikationen der deutschsprachigen Theatergeschichte. Weil: Das Berliner Theaterpublikum (wie Anm. 1). S. 9. Ebd. Johann Wolfgang Goethe: „Die Piccolomini“. „Wallensteins“ Erster Teil. Aufgeführt zum ersten Mal Weimar am 30. Januar 1799, als am Geburtstage der regierenden Herzogin. In: Ders.: Poetische Werke. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Hg. von einem Bearbeiter-Kollektiv unter Leitung von Siegfried Seidel u. a. 22. Bde.

Aurora 70/71 (2010/11). S. 1–33

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Zwischen 1750 und 1850 bildet die facettenreiche theatralische Kommunikation zwischen dem einzelnen Schauspieler und dem Publikum die eigentlich zentrale Bedeutungsebene: noch nicht die Ensembleleistung, noch nicht Aspekte wie die Geschlossenheit und Stimmigkeit der Inszenierung, noch nicht der Textbezug und die Werktreue der Aufführung und auch nicht die Arbeit des Regisseurs als eine unabhängigen Spielinstanz. Die Abhängigkeit des Theaters vom Publikum besteht in der von Launen wie von überschwänglicher Begeisterung geprägten Bindung der Zuschauer zu einzelnen Schauspielerinnen und Schauspielern.6 Deren individuelles Spiel entscheidet über Erfolg und Misserfolg eines Stücks, der daran gemessen wird, ob die Publikumsmagneten unter den Akteuren einem Stück die Wiederholung sichern, so dass dasselbe Publikum mehrfach in kurzer Zeit dasselbe Stück besucht. Wer wissenschaftlich diesen Zusammenhang näher untersucht, löst sich schnell von der germanistischen Fixierung auf das Drama als Lesedrama, auf Dramenpoetiken und Wirkungsstudien, die allenfalls Theaterkritiken heranziehen. Auch in der aktuellen Forschung sind allerdings die Theaterzuschauer noch immer kein selbstverständlicher Untersuchungsgegenstand.7 Die wegweisenden Studien des Wiener Instituts für Publikumsforschung stammen aus den 1970er und 1980er Jahren.8 Der Befund ist überraschend, zumal es an unveröffentlichten Quellen zum Verhalten des Publikums im Parkett, in Logen und auf der Galerie –––––––—

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Berlin, Weimar. 1965-78. Dazu Suppl.-Bd. 1978. Bd. 17: Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. 1970. S. 44–67; Zitat S. 67. Allerdings sind Schauspielerinnen und Schauspieler, sofern sie zum festen Theaterpersonal an einem Ort gehören, gleichsam ‚öffentliche‘ Personen, über deren (moralisches) Verhalten öffentlich diskutiert wurde, im Einzelfall bis hin zu entsprechenden Reaktionen der Ablehnung während einer Aufführung. Noch Laube, erfolgreicher Burgtheaterdirektor im 19. Jahrhundert, erörtert in seinen Memoiren die Frage, „ob das Publikum ein Recht habe, die persönlichen Verhältnisse des Schauspielers der Kritik zu unterwerfen“ (Heinrich Laube: Das norddeutsche Theater. In: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden. Hg. von Heinrich Hubert Houden. Bd. 31. Leipzig 1909. S. 33), und verneint sie emphatisch: „Der Schauspieler ist Künstler und kann verlangen, daß seine Leistung wie die Leistung des Dichters, Malers und Bildhauers angesehen wurde, ohne Rücksicht auf sein Privatleben“ (ebd. S. 35). Auch im Weimar der Goethe-Zeit gab es manche Klage über das Benehmen der Schauspielerinnen und Schauspieler außerhalb des Theaters; im § 75 seiner Regeln für Schauspieler (1803) legt Goethe deshalb fest: „Der Schauspieler soll auch im gemeinen Leben bedenken, daß er öffentlich zur Kunstschau stehen werde“ (Goethe: Poetische Werke [wie Anm. 5]. S. 82–105; Zitat S. 101). Eine der fundiertesten, in ihren Ergebnissen bisher freilich noch kaum für die deutsche Dramen- und Theatergeschichte zwischen 1750 und 1800 ausgewerteten Studie ist Peter Heßelmann: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800). Frankfurt am Main 2002; Heßelmanns Metapher „gereinigtes Theater“ umschreibt den Prozess der Disziplinierung und Domestizierung der Schauspielkunst und des Theaterpublikums, indem der Theaterdiskurs der Theaterjournale minutiös rekonstruiert wird. Ein besonders herausgehobenes Beispiel ist eine Publikation zur 200-Jahrfeier der Erhebung des Wiener Burgtheaters zum Nationaltheater: Margret Dietrich (Hg.): Das Burgtheater und sein Publikum. Wien 1976.

Der junge Herr Publikum

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wahrlich nicht mangelt. Neben den spezifischen Theaterakten der Bühnen gehören zum Quellenkorpus der Publikumsforschung die einschlägigen Zeitungs- und Zeitschriftensparten, Theaterzettel, Spielpläne, Reiseliteratur und schließlich autobiographische Quellen, wie die Tagebücher und Memoiren von Schauspielern, Theatermachern und nicht zuletzt auch von Zuschauern.

Eichendorffs Praxis der Tagebuchaufzeichnungen Gerade Tagebücher geben wichtige Aufschlüsse über die Häufigkeit des Besuches bestimmter Stücke, über Gewohnheiten und „Gebräuch[e], die im Theatergebäude üblich waren,“9 und über die Konkurrenz durch „sonstig[e] Vergnügungsmöglichkeiten“,10 so dass die dokumentierten Theaterbesuche in ihrem Alltagskontext, ihren Vernetzungen und ihrem Stellenwert im System konkurrierender Vergnügungen erschlossen werden können. Eine dieser Quellen, theatergeschichtlich bisher kaum ausgewertet, sind die Tagebuchaufzeichnungen Joseph von Eichendorffs, der zwischen 1801 und 1812 regelmäßig seine Theaterbesuche notierte.11 Der junge Eichendorff war, wie das Tagebuch in Dutzenden von Eintragungen belegt, ein begeisterter Theatergänger, der durchaus wusste, dass das Theater keine Stätte der Langeweile sein sollte, sondern ein Ort der Vergnügung und Zerstreuung – und sei es, dass dort die schnell fabrizierten Stücke des Herrn von Kotzebue Massen von Zuschauern Abend für Abend begeisterten. Der junge Herr im Publikum hielt diese und andere Theaterereignisse für so erwähnenswert, dass er sie im Alter von 13 bis 24 Jahren mit konstanter Regelmäßigkeit notierte, im krassen Gegensatz zu seiner Lektüre und seinen Leseerlebnissen, die kaum erwähnt wurden. Eichendorffs Tagebuch ist ein autobiographisches Medium, das am Tagesgeschehen ausgerichtet ist. Aus heutiger Perspektive fällt auf, dass der junge Eichendorff seinem Tagebuch kaum persönliche Bekenntnisse und Reflexionen anvertraut: Die innerpsychische Sphäre bleibt sorgsam ausgespart. Die Motive dafür bleiben im Dun–––––––— 9 10 11

Weil: Das Berliner Theaterpublikum (wie Anm. 1). S. 25. Ebd. S. 28. Die Tagebücher – der im Titel verwendete Singular ist eine summarische Formel – werden im Text (Seitenzahl in Klammern) zitiert nach Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. (= Historischkritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer. Fortgeführt und herausgegeben von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann [fortan: HKA]). Bd. XI: Tagebücher. Text. Hg. von Franz Heiduk und Ursula Regener. Tübingen 2006. Eine Einführung in die autobiographischen Schriften gibt der in der Frankfurter Ausgabe: Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald u. a. Bd. 5: Tagebücher, Autobiographische Dichtungen, historische und politische Schriften. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt am Main 1993 beigefügte Essay Wolfgang Frühwalds: Die Entdeckung der Erinnerung. Zu Eichendorffs historischen, politischen und autobiographischen Schriften. S. 843–876. – Grundlegend zu Eichendorffs Autobiographien vgl. Dietmar Kunisch: Joseph von Eichendorff. Fragmentarische Autobiographie. Ein formtheoretischer Versuch. München 1985.

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keln; vielleicht erklärt sich einiges aus dem Umstand, dass die erziehende Umgebung – Eltern und die als Hauslehrer tätigen Geistlichen – Mitleser sind.12 Jedenfalls bevorzugt der Tagebuchautor eindeutig die Pro-Memoria-Funktion, indem er detailreich und lebendig erwähnenswerte Ereignisse des Tages festhält. Da sind zunächst Einträge aus der Breslauer Schulzeit,13 als Eichendorff als Akteur – vorzüglich in weiblichen Rollen – und selbstverständlich auch als Zuschauer an Schulaufführungen teilnimmt, die an die lange Tradition des Schultheaters anschließen. Das Tagebuch zeigt den hohen Stellenwert der Konvikt-Inszenierungen und auch den Grad selbstkritischer Reflexion des Ganzen. Unter dem Datum des 24. September 1801 finden wir die erste Erwähnung eines Theaterbesuchs: „nach Rattibor [gefahren], und ein Schauspiel der Vogtschen Gesellschaft gesehn“ (26) – ein Eintrag noch ohne Titelangabe und Kommentar. In knappster Form werden von nun an Theaterbesuche notiert. „In der Comedie /:Lilla:/ gewesen“ (29), „In der Comedie /:Zauberflöte:/ gewesen“ (ebd.), „In der Commedie /:Kabale und Liebe:/ gewesen“ (46). Der zeitgenössische Begriff der „Commedie“ ist ein Synonym für das Theater: bezeichnend genug, weil das Lustspiel bis weit ins 19. Jahrhundert im Theateralltag dominiert. Die Kürzestversion – die bloße Notierung des Besuchs und des Titels – behält Eichendorff über ein Jahrzehnt lang bei; gelegentlich finden sich auch Eintragungen von der Hand des Bruders Wilhelm.14 Seltener als die Titel notiert der junge Eichendorff Namen von Schauspielerinnen und Schauspielern. Diese Praxis ist ein besonderer Akt der Hervorhebung und zum ersten Mal für den 9. Dezember 1801 nachweisbar: „In der Commedie /:unterbr Opferfest:/ gewesen, wo sich Mad. Schüler als Myrrha sehen ließ“ (25). Ähnlich heißt es an anderer Stelle: „In der Commedie /:Rollas Tod:/ gewesen, wo die neue Schauspielerin Göhlhaar in der Rolle der Cora debetirte“ (31). Den Dramatiker und Stückeschreiber erwähnt Eichendorff dagegen kaum: ein Indiz für das Hauptinteresse des zeitgenössischen Theaterpublikums am Bühnengeschehen und den Akteuren. Autor und Regie dagegen bleiben im Hintergrund.15 –––––––— 12

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Aufgrund verschollener Originalquellen ist die Editionsgeschichte der Tagebuchhefte schwierig, und zwar nicht nur wegen gelegentlicher Lückenhaftigkeiten, sondern auch wegen möglicher Eingriffe (die zeitlich schwierig zu datieren sind); so fehlen möglicherweise für das Jahr 1808 Eintragungen über die Begegnung und den Beginn der Liebesbeziehung zu Luise von Larisch (vgl. Eichendorff, Werke [wie Anm. 11]. S. 979 [Kommentar]); entsprechende Lücken finden sich auch für 1811, diesmal im Zusammenhang mit dem finanziellen Desaster der Eltern (vgl. ebd. S. 997f.). Vgl. Hartwig Schultz: Joseph von Eichendorff. Eine Biographie. Frankfurt am Main/Leipzig 2007. S. 37–55. Vgl. beispielsweise ebd. S. 164–167 (Eintragung vom August 1806). Schultz interpretiert das Fehlen von Auseinandersetzungen mit Themen und Inhalten von Stücken etwas vordergründig mit einem „Skandal“-Interesse Eichendorffs: „Skandale, die sich hinter den Kulissen des Theaters abspielen, scheinen ihn [Eichendorff, H.K.] mehr zu bewegen als die Themen der Stücke“ (Schultz: Eichendorff [wie Anm. 13]. S. 42). – Zur „Entstehung des ‚Regietheaters‘“ vgl. Heßelmann: Gereinigtes Theater (wie Anm. 7). S. 318–328.

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Im Übrigen spielt für den Zuschauer auch der Dramentext eine untergeordnete Rolle:16 Vorstellungen von einem Werkganzen waren nicht weit verbreitet, so dass es verständlich ist, dass Eichendorffs Tagebuch keine Spuren von Werkdeutungen und dramenpoetischen Einlassungen enthält. Die Fixierung des Publikums auf die einzelne Schauspieler-Leistung findet sich schon früh bei Eichendorff wieder. Im März 1802 heißt es: „In der Commedie /:Jungfrau v. Orleans:/ gewesen. Das Mädchen v. Orl: spielte Mad: Gölhaar sehr schön“ (33). Eine Formel wie „sehr schön“ wirkt 1802 noch wie ein konventionelles Lob. Doch Eichendorff entwickelt im Laufe der Zeit eine immer differenziertere Beobachtungsgabe. Eine Probe seiner Kunst des Zuschauens, Produkt jahrelanger Theaterpraxis, gibt ein Tagebucheintrag vom 11. Oktober 1809 anlässlich von Schillers Don Carlos, der, wie häufig im frühen 19. Jahrhundert, noch in der Prosabearbeitung17 gegeben wird (357f.): Julius den Karlos sehr liebenswürdig. H: Devrient mit den wilden Augen u. Feuer=Gesichte den König sehr gut. Mad: Julius ebenso die Königin. Die ältere Mlle: Benda mit den schönen, waltierischen Augen die Eboli, besonders die Scene mit Carlos, vortrefflich. Der künstlerische Regisseur Becker s Weimar [den] den Dominicaner sehr fein. Der fleischigte Nagel den Posa plump. Schöne, steife Grandezza der Statistinnen etc: besonders in der 1t Audienz.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Eichendorff sich mit der Zeit als immer aufmerksamerer Beobachter des Theaterpublikums erweist. Öfters notiert er Beifallsbekundungen, krasse Missfallensäußerungen und nicht zuletzt auch Skandale – in allen Facetten. Eichendorff weiß unterschiedliche Grade der eigenen Wertschätzung einer Inszenierung zu kennzeichnen; in dem Maße, wie das jeweils gespielte Stück, die Akteure und das Publikum eine Einheit bilden, werden die Notizen ausführlicher. So heißt es im November 1804: „In der Commedie /:Fanchon, das Leyermädchen:/ einer sehr schönen Oper, gewesen, wo –––––––— 16

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Es gibt leider noch keine Studie über die veränderten Gewohnheiten der Theaterzuschauer im 19. Jahrhundert und die Entstehung eines ‚textfesten‘ Publikumstypus; Krämer zitiert aus einem Theaterlexikon von 1839, das in einer Typologie des Publikums darauf hinweist, wie stark die Kontraste zwischen einem „Studenten, der nach sorgfältiger Vorbereitung durch wiederholtes Lesen einer klassischen Dichtung mit dem Buche in der Hand“ zur Aufführung erscheint, während andere aus der „rohesten Vergnügungssucht“ kämen (zit. nach Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung. Teil I. Tübingen 1998. S. 110); ein Zuhören „mit dem Buche in der Hand“ (ebd.) ermöglichte der beleuchtete Theatersaal, bis er im Zuge der Elektrisierung verdunkelt werden konnte. Mancher Theaterzettel enthielt nach 1800 den Hinweis, man könne eine Zusammenfassung des Inhalts gegen Geld im Theater erhalten, für das Musiktheater wurden Arienbücher zum Kauf angeboten. Es gab im Publikum noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine Aversion gegen das Versdrama, vor allem aber gegen Verstragödien, die als langweilig und zu schwierig galten. Vor diesem Hintergrund ist ein Statement wie Goethes Satz „Die Notwendigkeit, unser tragisches Theater durch Versifikation von dem Lustspiel und Drama zu entfernen, wird immer mehr gefühlt werden“ (Goethe: Poetische Werke [wie Anm. 5]. S. 68) eine langfristige Prognose, die erst um 1850 bestätigt wird.

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H: Kuttner und darauf Mad: Geelhaar [/:als Fanchon:/] herausgerufen wurden“ (128). Eichendorff versteht sich als Zuschauer inmitten des Anteil nehmenden, aufmerksamen Publikums, dem es freilich wesentlich um sinnliches Vergnügen, um Unterhaltung im Theater ging. Eine deutliche Distanz zu einer spezifischen Gruppe von Zuschauern spürt man dagegen aus einer Notiz von 1811 über das Wiener Burgtheaterpublikum: „Mit Wilhelm nach undenklicher Zeit wieder einmal in dem mich überraschend schönen Burgtheater. Galante Welt u. Affektirerey von allen Seiten“ (423).18 Gelegentlich finden sich auch Äußerungen zu Schauspielhaus-Architekturen. Eichendorffs Vergleichsbasis ist das von ihm schon früh und in den folgenden Jahren oft besuchte Breslauer Theater.19 1805 heißt es beispielsweise über das Theater in Lauchstädt, das die Brüder Eichendorff von ihrem Studienort Halle aus öfter besuchten (und wo sie gelegentlich Goethe in der Loge beobachten konnten),20 es sei „klein, aber geschmakvoll gebaut“ (159). Während der im selben Jahr veranstalteten Reise nach Hamburg steht auch das Theater auf dem Programm. Angetan ist Eichendorff vom deutsche[n] Theater, das dem Breslauer sehr ähnlich, nur größer u. schöner ist; es wurde eben der: Ring von Schröder gut gegeben, und – – Herr Herbst aus Breslau spielte eine Gastrolle. […] Abends besuchten wir das französische Theater, das ein Tummelplatz der hiesigen Bon-vivants zu seyn scheint. (186)

Besonders beeindruckt aber ist Eichendorff vom Berliner Nationaltheater am Gendarmenmarkt, dessen abgestufte Parterre-Konstruktion er ebenso bewundert wie die „[h]immlische, überraschende Einrichtung u. Malerei des Auditoriums mit 5 Etagen“, einer „[t]ransparente[n] Uhr über der Bühne“ und einer „schönerleuchtete[n] Nischenloge“ (357).

Auf dem Weg zum disziplinierten Zuschauer? Der Theaterdiskurs zwischen Schaulust-Apologie und Domestizierungsprogramm Auf den jungen Eichendorff übt das Theater eine Faszination aus wie keine andere kulturelle Institution. Es bietet ihm Unterhaltung, Geselligkeit und Vergnügen – auf alle mögliche Weise; nur langweilig darf es nicht sein. Eichendorff teilt seine Präferenzen und Vorlieben –––––––— 18

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Zur Wiener Studienzeit vgl. ausführlicher Schultz: Eichendorff (wie Anm. 13). S. 101–131; zum zeitgenössischen Wiener Theater vgl. auch Hilde Haider-Pregler: Der wienerische Weg zur K.K. Hof- und Nationalschaubühne. In: Roger Bauer/Jürgen Wertheimer (Hg.): Das Ende des Stegreifspiels – Die Geburt des Nationaltheaters. München 1983. S. 24–37; ferner Johann Hüttner: Das Burgtheaterpublikum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Dietrich: Das Burgtheater und sein Publikum (wie Anm. 8). S. 123–184. Vgl. Maximilian Schlesinger: Geschichte des Breslauer Theaters. 1522–1841. Berlin 1898. Vor allem S. 98–130; ferner Karl Weber: Geschichte des Theaterwesens in Schlesien. Daten und Fakten – von den Anfängen bis zum Jahre 1944. Dortmund 1980. Vgl. Schlesinger: Geschichte des Breslauer Theaters (wie Anm. 19). S. 60 –62.

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mit einem großen Teil des zeitgenössischen Publikums: Unterhaltung und sinnliches Vergnügen sind im 18. und im frühen 19. Jahrhundert die Prämissen theatralischer Wirkung überhaupt – und dies im diametralen Gegensatz zu den ästhetischen Wirkungsdramaturgien und Dramenpoetiken der Zeit. Wer aber hatte, bevor die Klassiker den Theaterdiskurs bestimmen, die Deutungshoheit über das Theater als Stätte vergnüglicher Ergötzlichkeit? Seit dem Mittelalter hatten Generationen von Theologen über die moralische Verwerflichkeit der Bühne und ihrer Darsteller gestritten.21 Sie hatten schon deshalb eine große Diskursmacht, weil ihre Diskursrede, niedergelegt in einer großen Anzahl von Schriften, stets machtförmige Handlungs- und Entscheidungskontexte einschloss: von Plädoyers für Aufführungsverbote über die Diskriminierung des sozial verachteten Schauspielerstandes bis hin zu Vorschriften über Theaterstoffe und die Tabuisierung religiöser Anspielungen und Themen auf der Bühne.22 Im Laufe des 17. Jahrhunderts war den Theologen allerdings eine immer bedeutendere Konkurrenz erwachsen: Juristen und Kameralisten begannen sich zu Begriffen wie Vergnügen und Ergötzlichkeit zu äußern und sich so in den Theaterdiskurs der gelehrten Welt einzumischen.23 Während die Epoche theologischer Theatrophobien allmählich zu Ende ging und sich das Publikum nach wie vor im Theater belustigte, wurde die Frage, wie sich der Staat – Stadträte, Landesherren und Obrigkeiten aller Art – zur Institution des Theaters verhalten sollte, zum Gegenstand juristischer Reflexionen und staatswirtschaftlicher Handlungsmaximen.24 Wolfgang Martens zitiert in seiner Studie zum Verhältnis von Kameralistik und Theaterwesen im 18. Jahrhundert eine anonyme Schrift aus dem Jahr 1717, in der für die galante Gesellschaft eine theatralische „Ergetzung“ sozialhygienisch begründet wird: Zur „neuen Belebung der Gesundheit“ sollen „Comedien/ Opern/ Ballen/ Masqueraden / Wirthschafften / Promenaden / Spatzier-Fahrten / assembléen / Societaeten / Musiquen / Serenaden“ dienen und so „schlaffende Sinnen ermuntert und froelich gemacht werden.“25 Diese Art von „Ergetzung“ meint in einer Zeit, in der Horaz’ De arte poetica Kernkanon aller Gelehrten ist, Nutzen und Vergnügen zugleich („aut prodesse volunt aut delectare poe–––––––— 21

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Vgl. ausführlich Hilde Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien/München 1980. S. 69–134. – Den paradigmatischen Positionswechsel, der in der theologischen Debatte sich zwischen dem 18. und frühen 19. Jahrhundert vollzieht, dokumentieren zwei einflussreiche Schriften. Die Position der Theatergegner findet sich bei Lessings Kontrahenten Johan Melchior Goeze: Theologische Untersuchung der Sittlichkeit der heutigen Schaubühne überhaupt […]. Hamburg 1770. Zur späteren theologischen Verteidigung des Theaters vgl. exemplarisch Carl Friedrich Stäudlin: Geschichte der Vorstellungen von der Sittlichkeit des Schauspiels. Göttingen 1823. Vgl. Wolfgang Martens: Obrigkeitliche Sicht: Das Bühnenwesen in den Lehrbüchern der Policey und Cameralistik des 18. Jahrhunderts. In: IASL 6. 1981. S. 19–51. Vgl. Haider-Pregler: Der wienerische Weg zur K.K. Hof- und Nationalschaubühne (wie Anm. 18). S. 31f. Zu Justis Beziehungen zum zeitgenössischen Wiener Theater vgl. ebd. S. 29f. Martens: Obrigkeitliche Sicht (wie Anm. 22). S. 23.

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tae“).26 Bei Juristen wurden Begriffe wie Unterhaltung, Ergötzen, Lustbarkeit, Vergnügen weithin synonym gebraucht. Die Deutungshoheit darüber hatten noch bis in die 1760er Jahre nicht die schönen Wissenschaften, sondern zunächst die Polizei- und Kameralwissenschaft, die, wie Johann Heinrich Gottlob von Justi 1761 im viel genutzten Handbuch Die Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten; oder ausführliche Vorstellung der gesamten Policey-Wissenschaft, auf einer aufklärerisch-anthropologischen Basis die Frage stellte: „Warum die Menschen Ergetzlichkeiten nöthig haben“.27 Der Begriff der Polizei war noch nicht, wie heute, auf spezifisch verrechtlichte Aufgabenfelder der Exekutive verengt, sondern wurde in einem weiten Verständnis von Ordnung, Struktur und Regelsystem verwendet. Justis Standardwerk war sehr einflussreich, bestimmte an vielen Universitäten den staatswirtschaftlichen und juristischen Lehrplan und war noch im 19. Jahrhundert in vielen Privatbibliotheken von Juristen nachweisbar, so auch bei E.T.A. Hoffmann.28 Justis Grundfeste enthält einen ausführlichen Abschnitt „Von denen Ergetzlichkeiten und Lustbarkeiten des Volkes“.29 Aufschlussreich ist Justis Prinzip, dass es eine Art Recht auf Unterhaltung geben muss, das einzugestehen zu den „Regeln einer guten Staatskunst“30 gehört. Justis Legitimationsansatz basiert auf der Erfahrung seines Zeitalters, dass Menschen zunehmend über freie Zeit verfügen, in Städten wie auf dem Lande, und nicht nur reiche Müßiggänger, die Justi aber ausdrücklich einbezieht, auch wenn sie „selten geneigt“ seien, „sich mit Vergnügungen des Geistes zu beschäftigen“.31 Der Staat muss sie schon aus fiskalischen Gründen im Lande halten und darf keine „Ergetzlichkeiten“ verbieten:32 Die zweyte Art Menschen sind diejenigen, die in ihren Diensten, Geschäften und Gewerben noch viel leere Zeit übrig behalten […]. Die dritte Sorte endlich bestehet in Leuthen, die allezeit unter dem Joche der Geschäfte und der Arbeit stecken; und diese haben am meisten von Zeit zu Zeit eine kleine Abwechselung und Erquickung von ihrem unaufhörlichen Fleiße nöthig.

Verfolgt man Justis Argumentation weiter zurück, so hat er ein im 17. Jahrhundert noch ausdrücklich dem Landesherrn vorbehaltenes Bedürfnis auf die im „Joche der Geschäfte und der Arbeit“ Stehenden übertragen. 1686 waren in einer Rechtfertigungsschrift fürstlicher Ausgaben Komödien und anderer teurer Zeitvertreib als nützliche „recreationes“ des Fürsten durch „extraordinaire belustigung und ergetzlichkeit“33 verteidigt. Hundert Jahre –––––––— 26

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Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch-Deutsch. Hg. von Hans Färber. Darmstadt 1967. S. 250 (De arte poetica, V. 333). Johann Heinrich Gottlob von Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten; oder ausführliche Vorstellung der gesamten Policey-Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg/Leipzig 1761. S. 371–383; Zitat S. 371. Vgl. Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2009. S. 395. Justi: Grundfeste (wie Anm. 27). S. 371–383. Ebd. S. 371. Ebd. S. 373. Ebd. Zit. n. Martens: Obrigkeitliche Sicht (wie Anm. 22). S. 21.

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später fordert nun Justi das Unterhaltungsrecht gerade umgekehrt vom Landesherrn ein: „Die Regierung muß vor die Ergetzlichkeiten des Volkes Vorsorge tragen“, wenn sie nicht will, „daß die Menschen unaufhörlich in dem Joche der Arbeit und der Mühseeligkeit ohne alle Abwechselung ein trauriges und elendes Leben führen sollen.“34 Justi nimmt das Entspannung und „Abwechselung“ bringende, physisch und psychisch entlastende Theater ausdrücklich in die staatliche Vorsorgeaufgabe mit auf und widmet der Komödie wie der Tragödie eigene Paragraphen. Er legitimiert das eskapistische Bedürfnis nach „Ergetzlichkeiten“ ebenso wie das Lachen im Zuschauerraum: „Die Comödie ist unstreitig eine der erlaubtesten und angenehmsten Vergnügungen vor das Volk“.35 Für den Theaterdiskurs des 18. Jahrhunderts ist Justis Standpunkt schon deshalb bedeutsam, weil er die Komödie ausdrücklich gegen ihre Kritiker in Schutz nimmt, die ihr jeden positiven Einfluss auf „die Tugend und guten Sitten“ absprechen: „Allein, diese Wirkung verlanget man nicht von der Comödie“, heißt es, auch wenn ein solcher Einfluss wünschenswert wäre; im Übrigen müssten „noch andre wirksame und gespannte Triebfedern zu den guten Sitten und bürgerlichen Tugenden im Staate vorhanden seyn.“36 Justi bezweifelt daher die Komödie, in der „die ernsthaftigen Köpfe“ nur „das Comische und Scherzhafte allzu sparsam anbringen, oder zu sehr verstecken, und mit Ernsthaftigkeit bekleiden. Dergleichen Comödien, so vortreflich auch die Sittenlehre darinnen seyn kann, werden nur von sehr verständigen Leuthen, und mithin von zu wenig Zuschauern besuchet, als daß die Comödie dabey bestehen könnte.“37

Was die Tragödie betrifft, so weiß Justi vom Publikumsvorbehalt gegen Trauerspiele, empfiehlt sie aber ausdrücklich, wenn sie von „vortreflichen Schauspielern“38 aufgeführt werden. Dabei setzt er hinzu: „Die Vergnügungen der Sinne finden allemal mehr Liebhaber, als die vor den Verstand“; und der Staat, so Justis Folgerung, hat auf „Ergetzlichkeiten“ auch des „größten Haufen[s]“ zu achten, während er aber „vor die Vergnügungen des Verstandes gar nicht zu sorgen hat.“39 Schon der frühaufklärerische Rationalist Christian Wolff hatte ausdrücklich die hohe Wirkung dramatischer Kunst auf das menschliche Gemüt anerkannt: „Es haben aber Comödien und Tragödien darinnen einen Vorzug für geschriebene Historien, daß sie einen größern Eindruck in das Gemüthe des Menschen machen. Denn was man selber mit Augen siehet und mit Ohren höret, beweget einen mehr und bleibet besser, als was man bloß –––––––— 34 35

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Justi: Grundfeste (wie Anm. 27). S. 374. Ebd. S. 375. – Zur psychischen „Entlastungsfunktion“ des Theaters vgl. Heßelmann: Gereinigtes Theater (wie Anm. 7). S. 245–252. Justi: Grundfeste (wie Anm. 27). S. 375. Ebd. S. 376. Ebd. S. 377. Ebd. S. 378. – Vgl. auch Peter Heßelmann: Gereinigtes Theater (wie Anm. 7). S. 229–238.

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erzehlen höret.“40 Wolff hatte im Übrigen keinen Grund, die Horazische Poesie-Maxime ‚Erfreuen und Nützen‘ anzuzweifeln. Diese Formel allerdings löst als einer der ersten Gottsched in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst auf, indem er bestimmte poetische Gattungen nach ihrem Zweck unterscheidet, „mehr zum Vergnügen“ oder „aber mehr zum Unterrichte der Menschen“41 geschrieben zu sein. Für das Lustspiel lässt er kaum mehr als Andreas Gryphius’ Komödie Peter Squenz gelten, die „viel Vergnügen und Nutzen“42 verschafft habe. Hatte noch Wolff die sinnliche Wirkung des Theaters ausdrücklich hervorgehoben, so lehnt Gottsched kategorisch das „Vergnügen“ ab, das „keine andere Wirkung zuwege“ bringe, „als daß sie die Sinne bezaubert“:43 Gemeint ist die Oper, welche „die Seele weichlich macht, die Sitten verderbt, und ein ganzes Volk auf nichtige Dinge lenket.“44 Im Theaterdiskurs des 18. Jahrhunderts beginnt mit Gottsched die Denunzierung bloß sinnlichen Vergnügens, und zwar nicht als eine Art Gelehrtenstreit, sondern mit der pragmatischen Zielrichtung, über die Aufrichtung eines Negativkanons die gesamte performative Seite des Theaters diskurspolizeilich mitzukontrollieren, etwa Argumente zu liefern, um Opernhäuser zu schließen, Opern und Singspiele, Sängerinnen und Sänger von der Bühne zu bannen, etatbewusste Hofbeamte und geizige Fürsten zu fiskalischen Schnitten zu ermuntern und auf die Produktion eines deutschen Musiktheaters Einfluss zu nehmen. Gottscheds Standpunkt jedenfalls ist eindeutig: Die Oper sei „ein bloßes Sinnenwerk: der Verstand und das Herz bekommen nichts davon. Nur die Augen werden geblendet; nur das Gehör wird gekützelt und betäubet: die Vernunft aber muß man zu Hause lassen, wenn man in die Oper geht, damit sie nicht etwa durch ein gar zu kützliches Urtheil, die ganze Lust unterbreche.“45 Vergnügen, bis dahin eine anerkannte Formel, wird bei Gottsched suspekt: Das „Sinnenwerk“ wird zu einem pejorativ belegten Vergnügen, das nicht aufs Theater gehört. Hatte die Unterscheidung der „Vergnügungen der Sinne“ und der „Vergnügungen des Verstandes“46 bei Justi noch keine reglementierende theaterpolizeiliche Konsequenz, so ändert sich dies bei Gottsched und etwas später auch bei Joseph von Sonnenfels, der 1768 seine Briefe über die wienerische Schaubühne47 veröffentlichte. Im Rückblick verkörpert Sonnenfels, als –––––––— 40

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Christian Wolff: Vernünfttige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zur Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes. 4. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1736. S. 276; vgl. auch Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule (wie Anm. 21). S. 37ff. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. 4., verm. Auflage Leipzig 1751. S. 514. Ebd. S. 642. Ebd. S. 742. Ebd. S. 743. Ebd. S. 742. Justi: Grundfeste (wie Anm. 27). S. 378. Joseph von Sonnenfels: Briefe über die wienerische Schaubühne. Nachdruck der Ausgabe von 1768. Hg. von Hilde Haider-Pregler. Graz 1988; vgl. auch Haider-Pregler: Der wienerische Weg zur K.K. Hof- und Nationalschaubühne (wie Anm. 18). S. 29–34; vgl. ferner Franz Hadamowsky: Wien. Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Wien/München 1988. S. 227–240.

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Jurist einer der bekanntesten Polizeiwissenschaftler seiner Zeit, die Verbindung zwischen dem kameralistischen Theaterdiskurs und der seit Gottsched immer vernehmbareren, um ästhetische Geschmacksbildung und moralische Wirkung kreisenden Theaterdebatte der Schönen Wissenschaften. So sind seine Schaubühnen-Briefe ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um ein deutsches Nationaltheater. Eichendorff übrigens hat an Sonnenfels in seiner Geschichte des Dramas (1854) kein gutes Haar an ihm gelassen und seinem Schauspielgeschmack attestiert, dass er „vor Langweiligkeit verstirbt“.48 Sonnenfels, der das Extemporieren auf Wiener Bühnen mit kaiserlichen Erlassen verfolgte und dafür – Ausdruck repressiver Anmaßung aufklärerischer Logik – eine Theaterzensur forderte,49 war einer der eifrigsten Verfechter beim semantischen Umbau des Begriffs „Vergnügen“. Dem „grobe[n] Vergnügen zu lachen“ stellte er „die feinere Wollust einer niedlichen Schwermüthigkeit, einer sanften Thräne“50 gegenüber. Das Legitimationsmonopol für diese Verengung theatralischer Vergnügungen auf den spezifischen empfindsamen Bühnentypus ging einher mit einer Differenzierung des Publikums. Der „Haufen“, also die weitaus größere Gruppe der Zuschauer, bestehe aus „Leuten ohne Ohren, ohne Geschmack, ohne Seele, ohne das geringste Gefühl des Schönen“;51 ihnen gestand Sonnenfels keine eigene Stimme im Theaterdiskurs mehr zu: eine Ausgrenzung, die der Wiener Aufklärer mit den seit den 1760er Jahren sprunghaft verbreiteten Theaterjournalen, -zeitschriften und -kalendern teilte. Seine eigenen Plädoyers verstand er als einen „Schritt näher zur merkwürdigen Epoche der Geschmacksveränderung, welche eine aufklärende Kritik […] herbey[be]fördern“52 solle. Die „Schaubühne“ bedürfe „mehr, als jeder andre Theil der ergötzlichen Wissenschaften [also der Poesie, H.K.], von der Kritik geleitet zu werden“.53 Von hier aus ist sein Programm motiviert, eine Nationalbühne in Wien zu errichten und die „Verbesserung der Bühne und des gesitteten Vergnügens herbeyzuführen“.54 Seine Briefe schließt er 1768 mit einer von Heufeld und Klemm, den Direktoren des deutschen Theaters zu Wien, –––––––— 48

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Joseph von Eichendorff: Zur Geschichte des Dramas. In: HKA VIII. Literarhistorische Schriften II: Abhandlungen zur Literatur. Hg. von Wolfram Mauser. Regensburg 1965. S. 247–424; Zitat S. 348. Vgl. Joseph von Sonnenfels: Grundsätze der Polizey, Handlungs und Finanzwissenschaft. Erster Theil. 3. Aufl. Wien 1770. S. 63; vgl. auch S. 94: Aus dem „Grundsatze, daß die Schaubühne eine Schule der Sitten seyn soll, ist nicht zuzugeben, daß unflätige Possen, oder anders die Sitten und den Anstand entehrendes Zeug auf derselben zum Vorschein komme. Eine Theatralcensur ist unumgänglich erforderlich.“ Zur Theaterzensur vgl. auch Peter Höyng: Vier Gründe, warum Theaterzensur im 18. Jahrhundert von der Forschung vernachlässigt wird. In: Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999. S. 433–447. Sonnenfels: Briefe über die wienerische Schaubühne (wie Anm. 47). S. 13. Ebd. Ebd. S. 124. Ebd. S. 125. Ebd. S. 346. – Zu Begriff und Idee des deutschen Nationaltheaters vgl. grundlegend Reinhart Meyer: Das Nationaltheater in Deutschland als höfisches Institut. Versuch einer Begriffs- und Funktionsbestimmung. In: Bauer/ Wertheimer: Das Ende des Stegreifspiels (wie Anm. 18). S. 124–152.

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verfassten „Nachricht an das Publikum“, die selbstverständlich mit einer programmatischen Definition von „Vergnügen“ beginnt:55 Das angenehmste, das lehrreichste, das unschuldigste Vergnügen für die Bürger eines Staates, ist unstreitig eine wohleingerichtete Schaubühne. Ist diese Schaubühne national, macht sie die herrschenden Laster und Thorheiten verächtlich und lächerlich: so wird dieses Vergnügen um desto mehr erhöhet, und auch der niedrigste Bürger lernt das wahre Gute und Schöne kennen; der gute Geschmack verbreitet sich auf die ganze Nation.

Sonnenfels hatte zeitweilig eine starke Position, eine echte Diskursmacht, die symbolisch gleich mit drei theaterpolizeilichen Maßnahmen verbunden war: dem Extemporierverbot, dem Verächtlichmachen der in der Altwiener Volkskomödie fest verankerten Hans-WurstFigur und der Theaterzensur. Vergnügen und Ergötzen wurden im programmatischen semantischen Umbau verengt auf ein höheres Vergnügen, auch wenn die Dichotomie von Unterhaltungs- und Bildungstheater bis weit ins 19. Jahrhundert kaum mehr als eine fixe Idee unbeliebter Publikumserzieher blieb. Dennoch hat kaum jemand so nachhaltig wie Sonnenfels die Legitimation aller Formen staatlich zugestandener öffentlicher Vergnügungen an ein aufklärerisches Bildungsprojekt geknüpft. 1770 heißt es in seinen Grundsätzen der Polizey, Handlungs und Finanzwissenschaft:56 Gleich einem geschickten Architekten […] muß der Gesetzgeber die Ergötzungen des Volkes zu einem wirksamen Mittel, die Sitten zu bilden, zu gebrauchen wissen. Hierunter sind die Schauspiele, vorzüglich seiner Aufmerksamkeit würdig, die, wofern sie gehörige Einrichtung erhalten, das Ergötzende mit dem Nutzbaren vereinigen, und […] eine Schule der Sitten, der Höflichkeit und der Sprache werden können. […] Wenn die Schauspiele eine Schule der Sitten werden sollen, so ist darauf zu sehen, daß solche Stücke aufgeführt werden, die diesem Endzweck zusagen.

Die Legitimation des Theaters als Stätte des Vergnügens und des Ergötzens jenseits moralischer Zurüstungsfunktionen und dominant ästhetischer Interessen findet sich in vereinzelten Stimmen auch in den 1760er Jahren noch; die von Gottsched vehement geforderte und von Sonnenfels mit entsprechender Resonanz fortgeführte Harlekin-Debatte ist dafür ein signifikantes Beispiel.57 Nur wenige Skeptiker formulieren noch Plädoyers für das schaulustige Lachen auf dem Theater; so heißt es bei Friedrich Nicolai:58 Selbst die Verfeinerung der Belustigungen des gemeinen Mannes wäre keine geringe Verbesserung des Nationalzustandes. Von Herzen lachen ist etwas sehr gutes; nur muß freilich das lächerliche nicht von

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Sonnenfels: Briefe über die wienerische Schaubühne (wie Anm. 47). S. 344; zur Verfasserfrage der „Nachricht an das Publikum“ vgl. den Kommentar Hilde Haider-Preglers ebd. S. 563. Sonnenfels: Grundsätze (wie Anm. 49). S. 92; vgl. auch Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule (wie Anm. 21). S. 57ff. Vgl. Jürgen von Stackelberg: Metamorphosen des Harlekin. Zur Geschichte einer Bühnenfigur. München 1996. Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. 4. Bd. Berlin/ Stettin 1784. S. 616.

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der Art seyn, daß ein vernünftiger Mensch sich dessen schämen muß. Jetzt ist in Wien mancher Mann, der über das Possenspiel in Gesellschaft die Nase rümpft, weil es so der Ton ist, und des Abends in seinem Mantel gewickelt zum Kasperl schleicht, um sich einmal satt zu lachen, wenn ihm das große Schauspiel einigemal hintereinander lange Weile gemacht hat.

Eine deutliche Gegenstimme gegen die Harlekin-Verbannung ist vernehmbar in Justus Mösers Schrift Harlequin oder Verteidigung des Grotesk-Komischen (1761), die sich gleich doppelt in den gelehrten Theaterdiskurs einmischt, indem sie mit dem Harlekin-Thema eine der heftigsten zeitgenössischen Kontroversen aufgreift und eine dezidierte Verteidigung komödiantischer Praktiken entwickelt:59 Die Herren Gelehrten mögen bisweilen seltsame Einfälle haben. Denn in der Zeit, daß Kaiser, Könige, Fürsten, Grafen, Freiherren, Ritter, Räthe, Kaufleute, Handwerker und, welche ich hier billig zuerst nennen sollen, Frauenzimmer und Geistliche sich vor meiner Schaubude einfinden und mir ihren unverdächtigen Beifall durch ein offenherziges Lachen bezeugen, in der Zeit, daß der Bischof seine Gemeinde, der Staatsminister seine neuen Vorschläge, der Feldherr seine Schlachten und der alte ehrliche Sancho Pansa seine Statthalterschaft bei mir vergißt, so sitzt der unerbittliche Gelehrte in seinem geerbten Lehnstuhle […], und rechnet nach Gründen aus, ob meine Vorstellungen gefallen können, oder nicht.

Mösers Rollenprosa – er schreibt aus der Perspektive des Harlekins – konfrontiert den Leser gleich in der Vorrede mit zwei wesentlichen theatralischen Wirkungskomponenten: Das Theater sei der einzige Ort, der unterschiedliche Stände und Geschlechter vereint, nicht zuletzt durch „unverdächtigen Beifall“ und „durch ein offenherziges Lachen“. Indem Möser der diskursiv so komplexen Theorie des Gefallens die praktische Erfahrung alltagsentlastender Schaulust gegenüberstellt, formuliert er zugleich eines der grundlegenden Wirkungsgesetze zeitgenössischer Theaterunterhaltung. Eskapistische Motive werden bei Möser nicht mehr durch moralistische Einwürfe diskreditiert, sondern zur Verteidigung harlekinistischer Künste aufgewertet. Was auf der Bühne gefällt, darüber stimmt das Publikum mit den Füßen ab. Süffisant erinnert Mösers Harlekin daher an die geringe Wertschätzung von Tragödienaufführungen, die keinen Beifall finden:60 Und wenn meine Collegen, welche die Tugenden und Thorheiten der Menschen in prächtigern und feinern Gestalten aufzuführen berufen sind, einigermaßen unparteiisch sein könnten, so würden sie gewiß selbst gestehen müssen, daß ihre tragischen Prinzessinnen nur um deßwillen so oft von einer allzeitfertigen Kolik befallen werden, weil die vorhandenen wenigen Zuschauer […] nicht zureichen wollen, den Aufwand der Lichter zu bezahlen.

Das Extemporierverbot ist Ausdruck einer Unterwerfung unter die Prädominanz des Textes und später – erst seit den 1810er/1820er Jahren – des dem Text verpflichteten Regisseurs. Mösers Spott ist der Skepsis gegenüber einem Domestizierungsprogramm geschuldet, das –––––––— 59

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Justus Möser: Harlequin oder Verteidigung des Grotesk-Komischen. In: Just Möser’s sämmtliche Werke. Neu geordnet durch B. R. Abeken. Neunter Theil. Berlin 1843. S. 64. Ebd. S. 66.

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den Zuschauer wie den Schauspieler gleichermaßen betrifft und dessen Strategie viele Theaterzeitschriften verbreiten. Manchem Kritiker des Publikums geht es allerdings nicht um eine bloße Schelte oder arrogante Distinktion; wer die Theaterpraxis aufmerksam beobachtet, reflektiert die Publikumsbedürfnisse nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Angebots an Stücken. So erklärt Goethe den Umstand, dass das Publikum noch immer „dem Lustspiel den Vorzug vor dem Trauerspiel“ gebe, mit dem Mangel an „guten Tragödien“.61 Goethe ist sich des Projekthaften und Unfertigen des deutschen Theaters sehr bewusst. In seinem Aufsatz Weimarisches Hoftheater betont er 1802, dass das deutsche Theater „noch erst im Werden“ begriffen sei: eines, in dem die „Vielseitigkeit des Publikums“ gelte.62 Aufgabe sei daher, „die Denkweise des Publikums […] zur Vielseitigkeit zu bilden.“63 Ohne Selbstdisziplinierung64 aber ist dies auch bei Goethe nicht zu erreichen. „Vielseitigkeit“ heiße, „daß der Zuschauer einsehen lerne, nicht eben jedes Stück sei wie ein Rock anzusehen, der dem Zuschauer völlig nach seinen gegenwärtigen Bedürfnissen auf den Leib gepaßt werden müsse. Man sollte nicht grade immer sich und sein nächstes Geistes-, Herzens- und Sinnesbedürfnis auf dem Theater zu befriedigen gedenken“.65 Das ist kein Plädoyer für ein elitäres Bildungstheater, sondern für „Vielseitigkeit“ als Intendantenmaxime; so notiert Goethe, dessen problematisches Verhältnis zum Theaterpublikum Weimars bekannt ist,66 1798, ein „Schauspielhaus […] mag verziert sein wie es will, so ist ein zahlreiches Publikum doch die beste Zierde.“67

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Johann Wolfgang Goethe: Dramatische Preisaufgabe. In: Ders.: Poetische Werke (wie Anm. 5). S. 69–71; Zitat S. 69. Johann Wolfgang Goethe: Weimarisches Hoftheater. Februar 1802. In: Ders.: Poetische Werke (wie Anm. 5). S. 71–80; Zitat S. 77. Ebd. S. 78. Vgl. zum zeitgenössischen „Krieg gegen das Publikum“ anschauliche Belege bei Georg-Michael Schulz: Der Krieg gegen das Publikum. Die Rolle des Publikums in den Konzepten der Theatermacher des 18. Jahrhunderts. In: Fischer-Lichte/Schönert: Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 49). S. 483–502; vgl. zur Disziplinierung von Schauspielern und Publikum in Weimar auch Klaus Schwind: „Regeln für Schauspieler“ – „Saat von Göthe gesäet“: aufgegangen in der Uraufführung des „Zerbroch(e)nen Krugs“ (1808 in Weimar?). In: Fischer-Lichte/Schönert: Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 49). S. 151–183. Goethe: Weimarisches Hoftheater (wie Anm. 5). S. 78. Instruktiv dazu immer noch Julius Wahle: Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. Aus neuen Quellen. Weimar 1892. Johann Wolfgang Goethe: Eröffnung des Weimarischen Theaters. Paralipomena. In: Ders.: Poetische Werke (wie Anm. 5). S. 42f.; Zitat S. 43.

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Der junge Eichendorff als Theaterzuschauer Es geht Theaterpraktikern wie -theoretikern seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert um ein verändertes Verhalten und eine veränderte Einstellung des Publikums zur Bühne, letztendlich sogar um das Ziel einer umfassenden Metamorphose der Zuschauer zu stummen Figuren im Theaterrund. Davon allerdings war man um 1800 noch weit entfernt, wie die vielen Klagen der Theaterzeitschriften jahrzehntelang an immer neuen Fehlleistungen illustrieren: Zuschauerinnen hätten kleine Kinder ins Theater mitgebracht, das Publikum sei völlig unaufmerksam gewesen, habe gelärmt und gestritten, an falschen Stellen geklatscht oder habe durch ungerechtes Pochen, Zischen und Ausklatschen den Spielverlauf gestört; nur bestimmten Schauspielern sei Beifall zugestanden worden, andere aber habe man gedemütigt oder man habe sich abgesprochen, mutwillig um des eigenen Vergnügens willen sogar einen handfesten Theaterskandal zu provozieren. Aus seiner Zuschauerperspektive bestätigt Eichendorff manche der Vorwürfe, ohne sie indes zu tadeln. Es gilt dabei zu berücksichtigen, dass es im 18. und frühen 19. Jahrhundert außerhalb des kirchlich-religiösen keinen anderen öffentlichen Raum gab, an dem Männer und Frauen aus allen sozialen Schichten einschließlich der Analphabeten unter ihnen derart regelmäßig zusammenkamen; sie alle bildeten als Publikum für eine kurze Zeit eine Einheit – mit entsprechenden Gewohnheiten und Vorlieben, sich im Theater bemerkbar zu machen. Schon aus der Schulzeit kannte Eichendorff das vorher abgesprochene Herausrufen von Akteuren; im Februar 1804 notierte er zu Kotzebues Posse Der Wirrwarr, die im Konvikt aufgeführt wurde: „Abends die Brüllerey auf dem Theater nit zu vergeßen“ (97). Im selben Monat erlebte er einen von in Breslau stationierten Offizieren angezettelten Theaterskandal, der die Obrigkeit zum Eingreifen und zur Arretierung veranlasste, weil die Offiziere sich abgesprochen hatten, ein vom übrigen Publikum gewünschtes Stück durch ein anderes ersetzen zu lassen: eine so gewaltige Störung, „daß der Vorhang augenbliklich fallen mußte“ (101). Die Ereignisse sind unter dem Stichwort „N. B.“ und offen gelassenen Datum an die Februar-Eintragungen angefügt und werden im Rückblick schon als „das berühmte Theaterspektakel“ (ebd.) bezeichnet: „Es wurde nemlich der Marktschreyer [eine Oper Franz Xaver Süßmayers, H.K.] gegeben, welcher schon das letztemal durch seine Schlechtheit allgemeines Murren erregt hatte“ (ebd.). Der Schauspieler Schwarz fragte deshalb öffentlich, ob man heute den Marktscheyer, o etwa statt desselben die Dorfdeputirten [ein Singspiel von Lukas Schuhbauer, H.K.] sehen wollte? Das gesammte Publicum aber verlangte den Marktschreyer. Unmittelbar darauf kam hingegen ein[e] Schwarm Offiziere hereingestürzt, [m] wohlangethan mit Pfeiffen, in der Absicht den Marktschreyer auszupfeiffen; welches sie auch, anstatt zu Ende des Stükes, wieder alle Billigkeit, gleich in der ersten Scene auf eine so betäubende Art ausführten, daß der Vorhang augenbliklich fallen mußte. Das übrige Publicum aber, welches doch ausdrüklich den Marktschr: verlangt hatte und sich nun um sein Geld geprellt sah, war darüber so aufgebracht, daß man aus den Logen auf die Offiziere: dumme Jungen, herabrief, vom 4 Groschen Platz aber eine Menge Volks, mit Scheidten etc: bewaffnet, herunterströmte, um die H: Offiziers einmal recht herzlich durchzuwalke[l]n. Durch die

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Hermann Korte [her] überall herzulauffenden Wachen wurde jedoch noch Tod u. Mordschlag verhütet. […] Die Folge davon war, daß 8 Offiziere arretirt wurden, von Berlin aber in den Zeitungen alles Pfeiffen u. Poltern bey Arretirung verboten wurde. Den Tag darauf verlangten die Civilisten wieder den Marktschreyer. (101f.)

Um 1800 bildeten die Offiziere eine der unberechenbarsten Publikumsgruppen, wie Arno Pauls Studie Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums68 breit illustriert. Das Theater als öffentlicher Ort bot, so Paul, keineswegs selbstverständlich den geeigneten Raum, um als soziale Gruppe das Distinktionsbedürfnis von Offizieren zu befriedigen, auch wenn das Schauspielhaus eine seltene Möglichkeit zur Begegnung mit Zivilbürgern war.69 In Bezug auf Berlin berichtet Paul schon für 1692 und das 18. Jahrhundert von „Offizierskrawalle[n]“,70 die er als „Rowdytum“71 bewertet, oft motiviert aus einer Art Triebabfuhr, die eine Reaktion auf die durch Subordinations- und Zwangsmechanismen des Militärs provozierte alltägliche Unterwerfung darstellte. In der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts, also in einer seit 1792 durch anhaltende Niederlagen gegen das revolutionäre Frankreich und gegen Napoleon bestimmten Krise des nachfriderizianisch-preußischen Militärsystems, kulminierten die durch Offiziere untätiger Garnisonen oft mutwillig herbeigeführten Skandale derart, dass Paul sie unter dem Begriff „[m]ilitärische Theateraufstände“72 zusammenfasst. Paul bestätigt den von Eichendorff notierten Skandal des Jahres 1804 und hebt einen Umstand der „Verprügelung der Offiziere“ besonders hervor: die aktive Beteiligung einer „Gruppe ‚lutherischer Studenten‘“73 daran. Solche sozialen „Rangkämpfe zwischen Offizieren und Studenten“74 waren keineswegs selten; allerdings gab es auch Bündnisse beider Gruppen, und zwar auch in Breslau, diesmal zur Direktionszeit Karl von Holteis im Jahr 1823, gegen den Militär und Studentenschaft in einem der handfestesten „Theaterangriffe[ ]“75 rebellierten. Eichendorffs Tagebuch bestätigt die Störrolle und permanente Provokationsbereitschaft der Studenten, einer Zuschauergruppe, die nach Paul zu den „wildesten und aggressivsten“76 gehörte. Einer der bekanntesten Skandale des frühen 19. Jahrhunderts – Fontane hat ihn in seinen Roman Schach von Wuthenow als üblen Offiziersscherz eingeflochten77 – war der Streit um –––––––— 68

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Arno Paul: Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums. Eine strukturell-funktionale Untersuchung über den sog. Theaterskandal anhand der Sozialverhältnisse der Goethezeit. München 1969. S. 156–199 (Kapitel „Offiziere“). Vgl. ebd. S. 161ff. Ebd. S. 163. Ebd. S. 168. Ebd. S. 171. Ebd. S. 172. Ebd. S. 173. Ebd. S. 190. Ebd. S. 199. Vgl. Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. In: Ders.: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Bd. 8. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1984. S. 78–81 (Kapitel 11: „Die Schlittenfahrt“).

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Ifflands Nationaltheaterinszenierung von Zacharias Werners Martin Luther oder die Weihe der Kraft, das im Juni 1806 zum ersten Mal aufgeführt wurde.78 Berliner Gendarmenoffiziere veranstalteten eine „nächtliche Maskerade“, bei der „berittene und fackelschwingende Offiziere in grotesken Nonnentrachten einen als Schlitten ausstaffierten Wagen in lärmender, rasender Fahrt durch Berlin begleiten.“79 Karzerstrafen und Strafversetzungen waren die Folge. Iffland, der die Rolle des Luther spielte, hat es allerdings verstanden, die kritische Stimmung gegen das Stück in einen großen Erfolg umzuwandeln, und zwar offenbar durch eine „außergewöhnlich prunkvolle Inszenierung“.80 Als Eichendorff im Februar 1810 das Stück sah – wiederum mit Iffland in der Hauptrolle –, war der Skandal bereits vergessen. Eichendorff teilte mit vielen Zuschauern den Geschmack an unterhaltsamen, an Maximen der Schaulust und Spielfreude orientierten Theaterabenden.81 Und doch entwickelte er schon früh auch eine eigene, individuelle Sicht auf Bühnengeschehen und Schauspielerleistungen. Das Tagebuch spiegelt eine Dynamik der Erfahrungen und eine immer kompetentere Reflexionsfähigkeit wider. Diese zeigt sich vor allem am Interesse für die Ausgestaltung einer Rolle auf der Bühne und für die Nuancen der Akteure, die er mit prägnanten Wendungen kommentiert. Daher lesen sich seine Aufzeichnungen wie farbige Miniaturskizzen von Theatereindrücken. Diese belegen ein ausgeprägtes Interesse am Bühnengeschehen und an der Kunst der Schauspieler; es gibt jedoch kaum Hinweise auf Erlebnisse, die auf tiefere Identifikationsprozesse während des Spielens schließen lassen. Im Tagebuch finden sich keine Spuren einer auf Identifikation zielenden Wirkungsdramaturgie, wie sie in der Dramenpoetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts zum Programm erhoben wird. Nicht aus der konzeptionellen Geschlossenheit einer Aufführung, sondern aus der Ganzheit des theatralischen Events entwickelt Eichendorff die stärksten Eindrücke eines Theaterabends. Eine solche Diskrepanz zwischen „Theaterpraxis und Dramentheorie“ hat Wolfgang Orlich am Beispiel des französischen Theaters im 18. Jahrhundert entwickelt und dabei auf die äußeren Bedingungen der Theatersituation hingewiesen:82 Wer nicht im Parkett stand oder saß, hatte oft nur eine beschränkte Sicht auf die Bühne, auch und gerade von den Logen und selbstverständlich von allen hinteren Rängen; hinzu kamen eine schlechte Akus–––––––— 78

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Das Ritterschauspiel wurde auf dem Berliner Nationaltheater unter dem Titel Die Weihe der Kraft gegeben; vgl. Klaus Gerlach (Hg.): Eine Experimentalpoetik. Texte zum Berliner Nationaltheater. Hannover 2007. S. 241–250 (Gerlach präsentiert im Faksimiledruck eine große Anzahl von Theaterzetteln, die ein wichtiges Kommunikationsmedium zum zeitgenössischen Publikum des Berliner Nationaltheaters darstellen). Paul: Aggressive Tendenzen (wie Anm. 68). S. 191. Ebd. S. 192. – Zu Ifflands Theaterstücken vgl. grundlegend Mark-Georg Dehrmann/Alexander Košenina (Hg.): Ifflands Dramen. Ein Lexikon. Hannover 2009. Dieses Zuschauerinteresse – „Schau- und Hörlust“ – bestimmte zur Mitte des 19. Jahrhunderts eindeutig die Einstellung zum Theater im heterogen zusammengesetzten Publikum, wie Krämer betont (Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert [wie Anm. 16]. S. 110). Wolfgang Orlich: „Realismus der Illusion – Illusion des Realismus“. Bemerkungen zur Theaterpraxis und Dramentheorie in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte. 1984. S. 431–447.

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tik, schwierige Beleuchtungsverhältnisse auf der Bühne sowie eine ständige Unruhe und Lärm im gesamten Publikum.83 Heftige Reaktionen auf das Bühnengeschehen sind sicherlich nicht auszuschließen, sondern eher sogar wahrscheinlich. Doch sie sind das Resultat eines effektvollen Spielmoments und einer spontanen Überwältigung des Zuschauers durch eine bravouröse, an den Augenblick gebundene Schauspielerleistung und kaum das Resultat einer illusionsästhetisch langsam aufgebauten inneren Rührung, bei der sich der vom Geschehen gefesselte Besucher selbst vergisst.84 Eichendorffs Tagebuch kennt keinen einzigen Eintrag, der von einem solchen Rezeptionserlebnis berichtet. Schwieriger zu beurteilen ist die Frage, welchem Zuschauertypus der junge Eichendorff angehört. Manche Theaterschrift entwarf hoch differenzierte Zuschauertypologien. Ein anschauliches Beispiel liefert ein Versuch Karl August Böttigers. Im Theater sitzen, so Böttiger in seinem Buch Entwickelung des Ifflandischen Spiels (1796), „der verständige Zuschauer“,85 der „Zuschauer von feinerem Gefühl“,86 aber auch der „gemeine Zuschauer“,87 der „weniger aufmerksame Zuschauer“,88 der „ungeübte[ ]“89 und „der ununterrichtete Zuschauer“:90 Und Iffland habe sie alle erreicht. Böttiger unterscheidet nicht nur Grade des Wissens und der Theatererfahrung, sondern auch das emotionale Interesse am Bühnengeschehen, also etwa die „Ergetzung und Unterhaltung für den bloß genießenden, oder auch bloß beobachtenden Zuschauer“91 und „die Zuschauerinnen von reitzbarerm Nervensystem“,92 die sich deutlich von den „trockensten, hartherzigsten Zuschauer[n]“93 abgrenzen, denen kein Stück „etwas Nasses in die Augen“94 pumpt.95 Von wünschenswerten Kenntnissen über Dramenautoren und Dramentexte ist sogar bei den auf konsequenteste Domestizierung zielenden Publikumskritikern noch kaum die Rede, wie überhaupt Lesedramen – viele Goethe-Stücke wurden dazu gerechnet – schon deshalb um 1800 einen schweren Stand haben, weil sie für –––––––— 83 84

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Vgl. ebd. S. 436–440. Orlich hebt mit Recht hervor, dass sich die Theaterverhältnisse in Richtung auf ein von Identifikation bestimmtes Rezeptionserlebnis erst mit der „Einführung des sitzenden Parterres sowie der Verdunkelung des Zuschauersaales im Laufe des 19. Jahrhunderts“ (ebd. S. 444) verändern. Karl August Böttiger: Die Entwickelung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprilmonath 1796. Leipzig 1796. S. 397; Tiecks Theatersatire Der gestiefelte Kater parodierte Böttigers Iffland-Elogen und dessen Favorisierung des Familiendramas. Böttiger: Die Entwickelung des Ifflandischen Spiels (wie Anm. 85). S. 318f. Ebd. S. 212. Ebd. S. 391. Ebd. S. 13. Ebd. S. 122. Ebd. S. 163f. Ebd. S. 305. Ebd. S. 87. Ebd. Vgl. zur Differenzierung des Publikums in eine Gruppe der Kenner und des gemeinen ‚Haufens‘ auch Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert (wie Anm. 16). S. 101–113.

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unaufführbar gelten.96 Dass es unterschiedlichste Gruppen im zeitgenössischen Theater gab und Böttigers Differenzierungsversuche keiner bloßen Laune entsprangen, zeigt ein Blick in Karl von Holteis Autobiographie, wo er anschaulich die Erlebnisse und Wechselfälle eines Schauspielers, Regisseurs, Intendanten und Theaterautors schildert. Auch Holtei, der 1798 in Breslau geboren wurde und dessen Laufbahn in Breslau begann, kennt den „simpelneugierige[n] Zuschauer“,97 den „gebildete[n] und urtheilsfähige[n]“98 und den „denkende[n] Zuschauer“99; und er weiß, dass „die Tonangeber im Parterre“100 sitzen und dass im Übrigen das Publikum „in seinem Hin- und Herwogen, in seinen Ab- und Zuströmungen, das unerklärlichste Räthsel auf dieser Erde“101 bleibt. Eichendorffs Tagebuch dokumentiert die Praxis eines Zuschauers, der – ein zunehmend versierter, hoch erfahrener Theatergänger auch in seiner Wiener Zeit – noch dem „Kasperl“ (dem Leopoldtstädter Theater) und den Vorstadtbühnen die Treue hält, das Burgtheater aber kaum erwähnt. Eichendorff unterscheidet nicht zwischen einem Bildungs- und einem Unterhaltungstheater; auch in diesem Punkt folgt er der übergroßen Mehrheit des zeitgenössischen Publikums. Wer sich auf die weitere Spurensuche nach den Theatergewohnheiten Eichendorffs begibt, kann den Tagebuchnotizen manche charakteristische Vorliebe entnehmen. So sitzt Eichendorff weitaus am liebsten im Parterre und registriert zuweilen mit Enttäuschung, wenn er auf hinteren Rängen Platz nehmen muss oder gar nur einen Stehplatz findet.102 Das Parterre ist ein einflussreicher Ort innerhalb des Theaters, weil hier die Kommunikation mit –––––––— 96

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Leider gibt es kaum Studien zum Zusammenhang von Lesekultur und Theaterkultur; Meyer deutet in seinem Essay zum Nationaltheater die Rolle von „neuen Lesergruppen“ innerhalb des Theaterpublikums um 1800 an (vgl. Meyer: Das Nationaltheater in Deutschland [wie Anm. 54]. S. 128). Zu fragen ist beispielsweise nach der im Verlaufe des 18. Jahrhunderts zunehmenden Rolle der Romanlektüre als eine Art fortgesetzter Schule identifikatorischen Lesens, also einer qua Romanlektüre erworbener Kompetenz zur literarischen Imagination und Identifikation, die auch auf die Illusionsbildung im Theater einen fördernden Einfluss haben könnte (vgl. auch Orlich: „Realismus der Illusion – Illusion des Realismus“ [wie Anm. 82] S. 444). Vgl. auch Matthias Rothe: Lesen und Zuschauen im 18. Jahrhundert. Die Erzeugung und Aufhebung von Abwesenheit. Würzburg 2005. Karl von Holtei: Vierzig Jahre. Erster Band. Berlin 1843. S. 294. Ders.: Vierzig Jahre. Fünfter Band. Breslau 1845. S. 104. Ebd. S. 280. Ebd. S. 152. Holtei: Vierzig Jahre (wie Anm. 97). S. 294. Der Begriff des Parterres ist hier eher als Sammelbezeichnung gemeint; die konkrete Position des Parterres war von Theater zu Theater verschieden und hing von der architektonischen Gestaltung des Bühnenund Zuschauerraums ab, der von Ort zu Ort variierte; vgl. Isabel Matthes: Das öffentliche Auge. Theaterauditorien als Medium der Vergesellschaftung im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Fischer-Lichte/Schönert: Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 49). S. 419–432. Matthes hebt die Bedeutung des Parterres pointiert hervor: „Das Parterre, im Kollektivsingular, ist der neue privilegierte Adressat des Spiels auf der Bühne“ (S. 429).

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den Akteuren am direktesten möglich ist. Die Disziplinierung des Theaterpublikums im Zeichen des höheren Vergnügens und des ästhetischen Geschmacks setzt deshalb in den Theaterzeitschriften gerade beim Parterre an, dessen sinnliches Vergnügen in tiefsinnige Aufmerksamkeit transformiert werden soll. Wie weit davon das Breslauer Publikum noch entfernt ist, zeigt eine Tagebuchnotiz vom 2. Januar 1804, die als Beispiel für eine damals an den meisten Bühnen Deutschlands übliche Alltagspraxis gelesen werden kann (93f.): In der Kommedie /.Französische Kleinstaedter, u. Das war ich!:/ gewesen. Während diesem lezteren, sehr elendem Stüke gab schon das ganzte Publicum seinen Unwillen durch Pochen, Husten etc: zu erkennen. Kurtz vor dem Ende des Stükes aber, als eben [die] Mad: Gelhar allein gegenwärtig war, [so] fing man communiter an zu pfeifen, u. im Gegentheil wieder zu klatschen; wodurch denn so ein Lärm entstand, daß die Gardine augenbliklich herunter gelaßen wurde.

Im Verlauf des 18. Jahrhunderts hatte sich das Theaterparterre buchstäblich zu einem tonangebenden Ort entwickelt. 1775 veröffentlichte der viel gelesene Gothasche Theater-Kalender einen Essay mit dem Titel Versuch über das Parterre, der einen „Codex der Rechte des Parterre“103 entwarf. Dabei ging es nicht um eine bloße Kodifizierung gängiger Praktiken, sondern, wie in allen Theaterzeitschriften, um die Verbreitung eines Wissens über ein adäquates Benehmen im Parterre-Publikum. „Die Entscheidung des Urtheils“ über eine Inszenierung, so der Verfasser, „ist dem Parterre allein überlassen“,104 einem vom „architektonischen Parterre“ unterschiedenen „Parterre im moralischen Sinne“, das geradezu ein öffentliches Amt ausübt, weil sich in ihm „Personen befinden, die in der öffentlichen Beurtheilung den Ton angeben.“105 Das Parterre – der Verfasser nennt den Begriff „eine Terminologie der bürgerlichen Baukunst“106 – hat gegenüber den aristokratischen Logen mit Seitenblick zum Geschehen eine bevorzugte Sicht und, noch wichtiger, einen engen Kontakt zur Bühne: „Die Anreden der Schauspieler geschehen an das Parterre“, das „Parterre hat […] das Vorrecht des Ausrufens“;107 es „maßt sich zuweilen auch das Recht an, bei mündlicher Ankündigung der künftig zu spielenden Stücke, die Vorstellung eines Stückes zu verhindern und hingegen die eines andern, zu befördern“ und „richtet“ schließlich „alle neuen Stücke“,108 weil es ohne Parterre-Beifall keine Wiederholungen gibt.

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[Anonym:] Versuch über das Parterre. In: Theater-Kalender auf das Jahr 1775. Gotha 1775. S. 47–63; Zitat S. 63. Ebd. S. 48. Ebd. S. 49. Ebd. S. 53. Ebd. S. 61. Ebd. S. 62.

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Ohne Zweifel ist das Parterre ein aktiver Mitspieler im Theater. Ludwig Tiecks Gestiefelter Kater109 und später Eichendorffs Krieg den Philistern führen die Macht des Parterre im Bühnenspiel unmittelbar vor,110 indem es kräftig in das Geschehen oben auf der Bühne eingreift und, die Illusion der vierten Wand durchbrechend, selbst eine Rolle im Stück zu spielen weiß. Tiecks dramatische Satire über das Theater nimmt dabei besonders das so genannte bildungsbürgerliche Publikum aufs Korn; mit der Figur des Bötticher spielt er auf den Wiemarer Schuldirektor, Theaterkritiker und gefragten Journalmitarbeiter Karl August Böttiger an und gibt ihm dem Gelächter preis:111 Es sind die Agenten des Disziplinierungsdiskurses, die auf der Bühne karikiert werden: neben dem Literaturkritiker auch mitspielende Bürger, die ihre Kenntnisse über dramaturgische Techniken und illusionsästhetische Dramentheorien ausbreiten, die den Text zur Aufführung mitbringen und so die Textfestigkeit des Schauspielers kontrollieren und sich als aufgeklärtes Publikum gerieren, bis sie dann doch – allesamt im Parterre sitzend – sich am Klatschen, Pfeifen, Pochen, Trommeln, Bravorufen beteiligen: „Publikum, soll mich dein Urteil nur einigermaßen belehren,/ Zeig erst, daß du mich nur einigermaßen verstehst“, ruft der verzweifelte Dichter auf der Bühne aus, bevor „aus dem Parterre mit verdorbenen Birnen und Äpfeln und zusammengerolltem Papier nach ihm geworfen“112 wird. Das Parterre, wie es Tiecks Theatersatire 1797 nachspielt, erhält im Laufe des 18. Jahrhunderts Diskursmacht in dem Sinne, dass es nicht bloß seine momentane Gunst und Ablehnung zeigen kann, sondern auf Spielplan und Repertoire großen Einfluss ausübt und zuweilen auch faktisch darüber richtet, wer mit welchem Status und über welchen Zeitraum hinweg die Schauspielkunst an einem Ort praktiziert. Mit Blick auf Paris vermutet der Gothasche Theater-Kalender, es habe das Parterre-Publikum seiner „Kenntnisse halber bei dem Publikum in großem Ansehen“ gestanden, denn der „größte Theil der Gelehrten von –––––––— 109

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Vgl. Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater. Ein Kindermärchen in drei Akten, mit Zwischenspielen, einem Prologe und Epiloge. In: Ders.: Schriften. Bd. 6: Phantasus. Hg. von Manfred Frank. Frankfurt am Main 1985. S. 490 – 566. Vgl. Eichendorff: Krieg den Philistern. Dramatisches Mährchen in fünf Abentheuern. Berlin 1824. – Eichendorffs dramatische Aufklärungssatire basiert auf Tiecks Gestiefeltem Kater; allerdings hält es zugleich eigene Theatererfahrungen (zum Beispiel aus der Breslauer Zeit) fest, wenn es gleich in einer Regieanweisung des ersten Aktes heißt: „Das Publikum stürmt die Bühne und geräth mit dem Volk ins Handgemenge. Großes Getümmel und Pfeifen“ (S. 26). Auch Eichendorffs Karikatur des zeitgenössischen Theaterpublikums zielt massiv auf deren bildungsbürgerlichen Teil; „ein philosophisches Publikum“ (ebd.) hilft den Narren von der Bühne zu vertreiben, als hätte es bei Gottsched und Sonnenfels seine Lektion gut gelernt. Vgl. Manfred Franks Kommentar in Tieck: Der gestiefelte Kater (wie Anm. 109). S. 1388f.; Tieck hat im Rückblick 1828 betont, in welchem Maße er eigene Theatererfahrungen in seine Satire einbezogen hat: „Alle meine Erinnerungen, was ich zu verschiedenen Zeiten im Parterre, in den Logen, oder in den Salons gehört hatte, erwachten wieder, und so entstand und ward in einigen heitern Stunden dieser Kater ausgeführt“ (ebd. S. 1389). Tieck: Der gestiefelte Kater (wie Anm. 110). S. 563.

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Profeßion, alle Schriftsteller die für das Theater geschrieben haben, alle Dilettanten und sogenannten schönen Geister, haben von jeher das Parterre zu ihrer Stelle im Schauspielhaus gewählt“: einen „Mittelort, der für ihr Vermögen und ihren Stand der bequemste war.“113 Begonnen hatte Eichendorffs Zuschauerkarriere in jungen Jahren im königlich-privilegierten Theater zu Breslau, einem der ersten Adressen außerhalb der Residenzstädte Wien und Berlin. Prinzipale wie Schönemann, Schuch, Ackermann und Wäser waren hier für längere Zeit mit ihren Gesellschaften geblieben und versorgten die Sprech- und die Musikbühne.114 Für die Mitte des Jahrhunderts spricht Schlesinger von über 100 Komödienaufführungen pro Jahr.115 Wie viele größere Bühnen hatte das Breslauer Stadttheater in den 1750er und 1760er Jahren noch Stegreifspiel und Extemporierpraktiken gewahrt, die sich beim Publikum hoher Beliebtheit erfreuten. Zu den heute prominentesten Besuchern gehörte zwischen 1760 und 1765 Lessing, dessen Prosastücke Miss Sara Sampson und Der Freigeist Schuch in dieser Zeit inszenierte. Lessing erlebte allerdings auch, wie schwer die so genannten „regelmäßigen Stücke“, die Versdramen, bei den Zuschauern durchzusetzen waren, weil diese sie „zum Gähnen und Herausgehen“116 fanden. Üblicherweise wurde bis weit ins 19. Jahrhundert nicht nur ein einziges Stück aufgeführt. Theaterabende umfassten vier bis fünf Stunden und Folgen von Komödien, Singspielen, Possen, Einaktern, Prologen und Tanz; Tragödien, ohnehin kaum gespielt, bot man kaum ohne Nachkomödien, musikalische Zwischenspiele und Ballett an. Zuschauer kamen und gingen, wie es ihnen auskam. Von Lessing ist überliefert, dass er meistens erst zur Nachkomödie kam und ohnehin Schuchs Harlekinaden mehr schätzte als dessen Versdramenproduktionen.117 Drei Jahre, nachdem Lessing Breslau verlassen hatte, wurde seine Minna von Barnhelm hier zum großen Erfolg. Es ist überliefert, dass in Breslau das Parterre die Wiederholung lautstark dreimal hintereinander erzwang: eine Sitte, die an vielen Bühnen auch zu Anfang des 19. Jahrhunderts nachweisbar ist – zum Verdruss vieler Theaterreformer, die dem Publikum jeden Einfluss aufs Repertoire untersagen wollten. Auch in Breslau war das Theater um 1800 noch von Schaulust, Zeitvertreib und Unterhaltungsdrang durchherrscht. Seit dem späten 19. Jahrhundert haben allerdings viele Theaterhistoriker und insbesondere die germanistischen Drameninterpreten diesen Zusammenhang systematisch verdrängt. Nicht zufällig widmet auch Schlesingers Geschichte des Bres–––––––— 113 114 115

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[Anonym:] Versuch über das Parterre (wie Anm. 103). S. 52. Vgl. Schlesinger: Geschichte des Breslauer Theaters (wie Anm. 19). S. 27–90. Vgl. ebd. S. 37; zwischen 1743 und 1745 seien vom Theaterprinzipal Schönemann sogar „233 Komödien in Breslau vorgestellt“ (ebd.) worden. Ebd. S. 48 (zitiert wird aus der Lessing-Biographie des Bruders Karl Gotthelf Lessing von 1793, in der es zum Versdrama in Breslau heißt: „Lessing dachte wie das Publikum und affektierte nicht das Gegenteil zur Aufrechterhaltung der theatralischen Regelmäßigkeit, welche man damals lieber eine theatralische Magerheit nennen sollen“ [ebd.]; zum Verhältnis Lessings zu Schuchs Schauspielkunst ebd. S. 49. Vgl. Weber: Geschichte des Theaterwesens in Schlesien (wie Anm. 19). S. 32.

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lauer Stadttheaters sich ausführlich den Inszenierungen Schillerscher Stücke – also der Ausnahme im täglichen Repertoire –, während „der größte Günstling des großen Theaterpublikums, Kotzebue“118 – der einzige Bühnenautor, der es um 1800 im Ausland zu Ansehen und Erfolg gebracht hatte – kaum vorkommt. Eduard Devrient, der als Schauspieler und späterer Intendant des Karlsruher Theaters noch Mitte des 19. Jahrhunderts manchen Kampf gegen das Publikum ausfocht, fasst in seiner Theatergeschichte den verbreiteten Publikumsgeschmack der Zeit um 1800 resignierend zusammen: „[D]ie Menge hielt noch immer das Theater für nichts andres als einen Vergnügungsort, der durch ihren Besuch erhalten werde, und wo sie für ihr Geld nach ihrem Wunsche bedient sein wolle.“119 Davon zu unterscheiden sei nur „das kleine hochgebildete Publikum“; es habe „idealere Forderungen gestellt und, von Lessings Nathan angeregt, die Dalbergschen Jambenversuche und Schillers Carlos [in der Blankversfassung, H.K.] unterstützt.“120 Eichendorffs Tagebuch notiert insgesamt rund 150 Theaterbesuche, darunter acht Schiller-, zwei Lessing- und vier Goethe-Aufführungen, drei davon allein in Lauchstädt, auf dessen Repertoire Goethe selbst Einfluss hatte. Eichendorff sah meistens Lust- und Singspiele, Burlesken, Possen, seltener schon Opern und kaum Tragödien. Mit über zwei Dutzend verschiedenen Stücken steht August von Kotzebue deutlich an der Spitze der Dramatiker. Das war keineswegs ungewöhnlich, denn der Schriftsteller war einer der beliebtesten und mit Abstand der meistgespielte Dramatiker bis 1850. Die Germanistik allerdings hat schon im 19. Jahrhundert auf paradoxe Weise viel dazu beigetragen, dass der Name Kotzebue nie untergegangen ist: Kotzebue steht seit fast 200 Jahren für den literarischen Negativkanon schlechthin;121 er ist der prominenteste Name in diesem Kanon und kann einfach nicht vergessen werden, im Gegensatz zu den vielen anderen, die der junge Eichendorff mit Vergnügen auf der Bühne gesehen hat: wie den Ritterdramen- und Lustspielautor Joseph Marius von Babo (vier Stücke), den Wiener Theaterdichter Ferdinand Kringsteiner (fünf Stücke), Ferdinando Paer (vier Singspiele) und den Librettisten und Komödiendichter Georg Friedrich Treitschke (vier Stücke). Zum populären Repertoire der Zeit gehört auch Friedrich Ludwig Schröder, berühmter Hamburger Schauspieler und Intendant, der seinen Ruf durch legendäre Gastspielreisen in ganz Deutschland verbreitete. Eichendorff kannte vier seiner Stücke bereits aus Breslau und sah Schröder 1805 auf der Hamburger Bühne als Akteur in Schröders eigenem Lustspiel Der Ring. Schröder verkörperte als Theaterdichter noch den Typus des Theaterdirektors, der französische Vorlagen frei bearbeitete und manche Shakespeare-Übersetzung produzierte. –––––––— 118

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Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst. In zwei Bänden hg. von Rolf Kabel/Christoph Trilse. Bd. I. Berlin 1967. S. 513. Ebd. S. 577. Ebd. S. 602. Vgl. Simone Winko: Negativkanonisierung: August v. Kotzebue in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. In: Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart/Weimar 1998. S. 341–364.

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Bis 1812, dem letzten Jahr der Eichendorffschen Theaternotizen, hatte sich August Wilhelm Schlegels Übersetzungswerk noch nicht durchgesetzt (und Tieck veröffentlichte den ersten Band mit Shakespeare-Übersetzungen erst 1825). Es verwundert daher nicht wirklich, dass der junge Eichendorff kaum Shakespeare auf der Bühne sah, dafür aber Iffland, Schickaneder und manche, die so unbekannt sind, dass sie die Werkausgabe des Frankfurter Klassiker-Verlags von 1993 nicht ermittelte, wie Theodor Heinrich Friedrich (1776–1819), zu dessen im Berliner Nationaltheater 1810 aufgeführten Lustspiel Der Versucher in der Wüste122 Eichendorff nur zwei Worte notiert: „/:schrekl: langweilig[,]:/“ (373). Positive Wertungen sind keineswegs von der Bekanntheit des Verfassers abhängig; so erklärt Eichendorff 1804 Wilhelm Vogels Schauspiel Reue und Ersatz zu „einem musterhaften Lustspiel“ (75). Eine der wenigen vehementen Ablehnungen dagegen gilt dem Dresdner Hofopernstil. Am 27. April 1805 wurde Domenico Cimarosas Die Horatier und Curiatier gegeben: ein Ereignis in Anwesenheit des sächsischen Kurfürsten. Amüsiert schildert Eichendorff „das steife Hofzeremoniel“, „das Bekomplimentiren des Bruders des Churfürsten gegen den Churfürsten aus der gegenüberstehenden Loge“ und „das Hutabziehn des Parterrs“, während die „scheuß[h]liche Spiegelkarpfengestalt des unförmlichen Castraten“ und „das ewige Geklatsche im Parterre […] hingegen so wiedrige Langeweile“ produzierte, dass beide Brüder „den Entschluß faßten, außer in Berlin o Wien, wohl nicht so bald wieder eine italienische Opera zu besuchen“ (143). Die Distanz zum hochadligen Theaterhabitus und -geschmack ist ebenso bemerkenswert wie die kritische Replik zum Beifall, weil dies eine der ganz wenigen Stellen des Tagebuchs ist, in denen Eichendorff mit den unzähligen Vorbehalten der Theaterzeitschriften, Aufführungskritiken und Dramenpoetiken gegen die vorherrschende Beifallspraxis übereinstimmt. Provozierend fragt 1795 der Mannheimer Theaterkalender: „Ist das Händeklatschen oder eine allgemein herrschende Stille der schmeichelhafteste Beifall für den Schauspieler?“123 Für Mannheim übrigens bestätigt anlässlich einer Räuber-Inszenierung von 1787 ein prominenter französischer Besucher, der Schriftsteller Mercier, erstaunt das disziplinierte Publikumsverhalten. Mercier, der 1787 im Nationaltheater Mannheim auf eigenen Wunsch, wie er schreibt, Schillers Räuber gesehen hat (und gerade die Tatsache, dass er kein Wort Deutsch verstand, als günstigen Umstand für eine theaterprofessionelle Beobachtungskunst hervorhebt), spricht vom Schauspiel als „das außerordentlichste“ Stück mit „rührendsten, schrecklichsten und zärtlichsten Scenen“.124 Zum Zuschauerverhalten schreibt er: „Selten klatscht man Beyfall; es herrscht aber ein aufmerksames und tiefes Schweigen. Jeder Auftritt rührt; –––––––— 122

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Theodor Heinrich Friedrichs Stück Der Versucher in der Wüste, ein Lustspiel in zwei Akten, wurde im Berliner Nationaltheater am 26.2.1810 aufgeführt (vgl. Datenbank Berliner Klassik der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften). Zit. nach Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst (wie Anm. 118). Bd. 1. S. 503. Louis-Sébastien Mercier: Schreiben über das deutsche Theater. Aus dem Französischen. In: Historisch-politisches Magazin, nebst litterarischen Nachrichten. Hg. von A. Wittenberg, Hamburg 1787. 2. Bd. S. 926–929; Zitat S. 928.

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denn man wohnt einer Handlung bey, die der schrecklichen Wahrheit nahe kommt.“ Solchen Zuschauern könne man „ihre Vergnügungen […] nicht streitig machen“.125 Missfallen und Beifall sind auf dem Theater des 18. und frühen 19. Jahrhunderts variantenreiche Rituale und bewirken entsprechend zahlreiche Publikumsschelten. „Wie selten ist das Bravorufen im Theater ein Nachhall der Gefühle der Zuhörer! ist es doch gewöhnlich nur ein Unfug, den einige Unberufene, einige Parteigänger sich erlauben.“126 Adressiert ist solche Kritik keineswegs nur an das Publikum, sondern auch an die Akteure; auch deren Disziplinierung ist ein wesentliches Anliegen der Theaterzeitschriften. Wer am „Bravorufen im Theater“ Anstoß nimmt, begründet dies gerade mit dem Hinweis auf die Schauspieler: „Welcher gebildete und denkende Schauspieler wird dem lauten Beifallsgeschrei noch einen Werth beilegen?“127 Entsprechendes findet sich in den Annalen des Theaters von 1793:128 Den Beifall des ersten Augenblicks bey Werken des Geschmacks geben die meisten Menschen nicht aus lebendigem Gefühl, aus Überzeugung und Einsicht, sondern wegen eines Nebenumstandes, der ihrer Eigenliebe, Neugierde oder Zuneigung schmeichelt. Manchem gefallen Kotzebue’s Schauspiele, weil ihr Verfasser einen Rang in der vornehmen Welt hat; mancher Dame Menschenhaß und Reue, weil Meinau die Eulalia wieder nimmt; einer andern gefällt, weil ein sehr guter weiblicher Charakter darin geschildert wird; einer dritten die Entführung, weil es Dinge enthält, die auf ihren Herzenszustand oder auf ihre Laune passen; und am öftersten empfängt ein Schauspiel das Eigenschaftswort schön, weil die A. L. Z. oder A. D. B. sagte, daß es schön wäre.

Solche Publikumsschelte ist Teil eines Disziplinierungsdiskurses, an dessen Ende der still sitzende, sich nicht rührende Zuschauer steht, dem statt der früheren Schaulust nun ein ästhetisches Äquivalent angeboten wird. Davon war das frühe 19. Jahrhundert noch weit entfernt, in Breslau wie in Weimar, Leipzig, Berlin, Hamburg, Wien und anderswo. Im Übrigen war der Zuschauerraum vor der Elektrisierung während der Vorstellung beleuchtet, die Bühne auch, oft allerdings schwächer.129 Längst nicht überall waren um 1800 das Parterre und schon gar nicht die höheren Ränge und Galerien bestuhlt. Von einer ‚vierten Wand‘

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Ebd. [Anonym:] Bemerkung. In: Allgemeine Theaterzeitung. Hg. von J.G. Rhode. Erster Band. Berlin. Nr. 27 Julius 1800. S. 47. Ebd. [Pseudonym Selmar:] Über den Theater-Geschmack. Ein Versuch. In: Annalen des Theaters. 11. Stück. Berlin 1793. S. 22–32; Zitat S. 22f. Vgl. grundlegend Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München/Wien 1983. S. 181–209 (Kapitel „Die Bühne“); zur „Verdunkelung des Zuschauerraumes“ vgl. S. 193–201; ein verdunkelter Zuschauerraum wurde noch in den 1890er Jahren, wie bei einer Aufführung von Wagners Ring des Nibelungen im Londoner Covent Garden, nicht vom gesamten Publikum akzeptiert, weil es sich genötigt fühlte, nur auf das Bühnengeschehen zu schauen – ohne sich selbst zur Schau zu stellen (vgl. ebd. S. 199).

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im Theater als Signum der Frühmoderne130 konnte keine Rede sein. Wohl aber ließen sich in den Logen einfach Rollläden herunterziehen, um ungestört anderen Vergnügungen wie Soupieren und Feiern nachzugehen: bei einer stets mehr oder minder vorherrschenden Lärmkulisse.131 Der Goethe zugeschriebene Ausspruch „Man lache nicht!“132 blieb nur ein frommer Wunsch. „Abends in der Commödie: Rochus Pumpernikel, ein Quodlibet zum Todtlachen“ (329), notiert Eichendorff hochzufrieden am 20. Oktober 1809. Anstandsbücher – eine wichtige Quelle für Mentalitätswandel, Konventionsgeschichte und historische Anthropologie – thematisieren die enge Wechselwirkung von Publikumsreaktion und Bühnenspiel. Sie beziehen daher die Schauspieler ausdrücklich mit ein, wenn es um die Domestizierung des Publikums geht. Der Schauspieler habe sich, so heißt es in Knigges Über den Umgang mit Menschen, „an Pünctlichkeit und Ordnung zu gewöhnen“, „Eigensinn“ und „Grillen“, „Naseweisigkeit“ und „Zügellosigkeit“ aber abzulegen133 – mit Konsequenzen auch fürs Publikum: „Das übertriebene Beklatschen und Lobpreisen macht sie [die Schauspieler, H.K.] schwindlicht, aufgeblasen, hochmüthig. Sie beeifern sich dann nicht weiter, der größeren Vollkommenheit nachzustreben und hören auf, ein Publicum zu achten, das so leicht zu befriedigen scheint.“134 Eine Theaterzeitschrift beklagt das rückständige Theaterwesen in Deutschland und verweist auf die beiden Länder, die für alle Theaterinteressierten die wichtigste Orientierung darstellten: „Wenn die Publikums in Frankreich und England ihre Schauspieler bildeten, so verderben unsere Publikum die ihrigen. Sie verderben sie dadurch, daß sie ihren unendli-

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Diese These vertritt Johannes Friedrich Lehmann: Der Blick durch die Wand: Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg i. Br. 2000; Lehmann argumentiert „an Hand von Theorien, Ästhetiken und Poetiken“ (S. 13) und dichtet sein „Theorem der Vierten Wand“ als „die für das Theater entscheidende Wende zur Moderne“ (S. 14) gegen die Theaterempirie des 18. Jahrhunderts sorgfältig ab; die Arbeit zeigt daher methodologisch, wie obsolet eine ausschließlich an Theoriefixierungen klebende Forschung ist, die immer und immer wieder längst bekannte Dramenpoetologie-Passagen interpretiert. Lehmann kommt sogar ohne die Erfahrungen des eifrigen Theatergängers Lessing aus, um seine Hypothesen zu entfalten. – Zum ‚Blick‘ der Schauspieler auf ihr Publikum vgl. ausführlicher Hilde Haider-Pregler: Theorien der Schauspielkunst im Hinblick auf ihre Publikumsbezogenheit. In: Das Theater und sein Publikum. Referate der Internationalen theaterwissenschaftlichen Dozentenkonferenzen in Venedig 1975 und Wien 1976. Hg. vom Institut für Publikumsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und von der Commission Universitaire der Fédération Internationale pour la Recherche Théâtrale. Wien 1977. S. 89–100. Vgl. Roland Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand. Berlin 1993. S. 106ff. Vgl. Klaus Schwind: „Man lache nicht!“ Goethes theatrale Spielverbote. Über die schauspielerischen Unkosten des autonomen Kunstbegriffs. In: IASL 21. Bd. 2. 1996. S. 66–112. Adolf von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Dritter Theil. 8., verb. Aufl. Hannover 1804. S. 111. Ebd. S. 111f.

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chen Unsinn mit einer solchen Gleichgültigkeit ertragen“.135 Noch 1822 heißt es im Allgemeinen Deutschen Theater Almanach:136 [Ü]bertriebener Beifall macht bauernstolze und hochmüthige Schauspieler, welche sich für das n o n p l u s u l t r a ihrer Kunst halten, so daß niemand mit ihnen umgehen und im Verhältnisse stehen mag. Der gebildete Zuschauer wird sich selten zu solch einem Beifalle verstehen, aber die sogenannte Gallerie und vozüglich die quäkenden Bravo- und Hervorrufer auf derselben üben ihn oft zum höchsten Nachtheile aus.

Die Domestizierung des Publikums geht mit der Domestizierung des Schauspielers Hand in Hand, die stets eine Domestizierung des Körpers (des Schauspielers wie des Zuschauers) einschließt, und eine Domestizierung der Stimme, der Gestik, der Mimik, der Bewegung.137 Das von Gottsched wie von Sonnenfels geforderte Extemporierverbot ist Ausdruck einer Unterwerfung unter die Prädominanz des Textes, eine Option also für das Werk und den Autor und seit den 1820er Jahren endlich auch eine Option für die dem Text verpflichtete Regie. Das Extemporieren jedenfalls hat sich auf der Bühne lange gehalten. In der Novelle Signor Formica hat E.T.A. Hoffmann geschildert, dass es „nichts Vollkommneres“ zu sehen gab als die „improvisierten Darstellungen des Nicolo Musso“: „so wie das Stück fortging, stieg die Aufmerksamkeit zum Beifall, der Beifall zur Bewunderung, die Bewunderung zum höchsten Enthusiasmus, der sich durch das anhaltendste, wütendste Gelächter, Klatschen, Bravorufen Luft machte.“138 Auch in der Prinzessin Brambilla wird noch einmal eine über eine halbe Stunde währende Theaterimprovisation gefeiert.139 Wer die Fähigkeit zu Improvisation und Extemporieren besaß, konnte eine Probe seiner Darstellungskunst liefern und beherrschte das von aufmerksamster, momenthafter Publikumsbeobachtung bestimmte effektvolle Bühnenspiel. Es war kein Zufall, dass Iffland, einer der versiertesten zeitgenössischen Theatermänner, als „Zuschauer der Zuschauer“140 galt und nicht Diderots Ratschlag folgte, so zu spielen, als –––––––— 135

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Zu England vgl. ausführlicher Wolfgang Weiß: Tendenzen der Literarisierung im englischen Theater des 18. Jahrhunderts. In: Bauer/Wertheimer: Das Ende des Stegreifspiels (wie Anm. 18). S. 67–75; ferner Martin Brunkhorst: Die Situation des englischen Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Ebd. S. 76–85. Zum französischen Theater vgl. Roger Bauer: Theater und Nation in Frankreich – Von Voltaire bis Louis-Sébastien Mercier. Ebd. S. 95–103. Karl August Böttiger: Kritik des Parterre. In: Allgemeiner deutscher Theater Almanach. Hg. von August Klingemann. Braunschweig 1822. S. 182–197; Zitat S. 191; es handelt sich um den „Nachtrag“ zu Böttigers Essay Ueber das heutige Beifallklatschen im Theater (ebd. S. 166–181). Vgl. Heßelmann: Gereinigtes Theater (wie Anm. 7). S. 279–328. E.T.A. Hoffmann: Signor Formica. Eine Novelle. In: Ders.: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe in fünfzehn Bänden. Hg. von Walther Harich. Bd. 8. Weimar 1924. S. 237–347. Zitat S. 297f. Vgl. E.T.A. Hoffmann: Prinzessin Brambilla. Ein Capriccio nach Jakob Callot. In: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinbecke. Bd. 3. Frankfurt am Main 1985. S. 908. Böttiger: Entwickelung des Ifflandischen Spiels (wie Anm. 85). S. 15.

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gäbe es keinen Zuschauerraum.141 Eichendorff hat den großen Mimen auch in seiner legendären Rolle des Franz Moor auf der Bühne agieren gesehen und war beeindruckt; aber er notierte zu Iffland keineswegs nur Zustimmung. Eine Berliner Aufführung von Minna von Barnhelm quittiert er mit der lakonischen Bemerkung: „Demohngeachtet die größte Langeweile“ (364). An dem schon erwähnten Werner-Stück Martin Luther oder die Weihe der Kraft hebt er allerdings etwas später positiv Ifflands auf äußere Bühneneffekte zielende Aufführung hervor, etwa eine „ächtromantische Scene“ mit Iffland als Luther und den „[g]roße[n], pompöse[n] Zug in ächtem, reichstem Costum“ sowie die „[h]errliche Figur des Kaisers (Bethmann) zu Pferde unterm Baldachin“ (373).142 Eichendorffs Iffland-Kommentare im Tagebuch dokumentieren eine Position, die noch nicht mit der ablehnenden, von Ironie und Spott geprägten Perspektive des älteren Dichters und Literarhistorikers Eichendorff identisch ist, für den Iffland und Kotzebue gleichermaßen nur noch zwei „kleingesinnte[ ] Theaterschriftsteller“143 sind, wobei Iffland seinen Part als „theatralischer Prediger“ zu spielen hat:144 So wurde die deutsche Gemüthlichkeit aufgebracht: die Menschheit im Schlafrock, die aus lauter ‚gutem Herzen‘ zu keiner rechten Herzhaftigkeit kommt, und mitten darunter Gott Vater als gutmüthiger Komödienpapa, der manchmal dazwischen poltert, aber zuletzt, wenn die allgemeine häusliche Thränenwäsche erst recht in Gange ist, doch selbst vor Schluchzen Alles wieder vergessen und vergeben muß. Zweifellos sind in diese Anspielung auf „Schluchzen“ und „Tränenwäsche“ auch frühe Theatererfahrungen Eichendorffs eingegangen, nun freilich aus der Distanz einiger Jahrzehnte mit negativem Vorzeichen erinnert. Und doch gibt es sogar beim späten Eichendorff in der Geschichte des Dramas ein Urteil über das Publikum, das dessen aktiven Part herausstellt und es keineswegs als domestiziertes Objekt eines distinguierten Bildungstheaters versteht: Denn das Publicum ist gar nicht so dumm, wie es aussieht, es liebt überall die Kühnheit mehr als die Vorsicht, und nimmt eine so vornehme Herablassung seiner Bühnendichter mit vollem Rechte leicht übel.145

Dutzende Male hat der junge Eichendorff Ifflands und Kotzebues Stücke gesehen – und das relativiert ein wenig seine Iffland-Karikatur: „Man hat ihm häufig Menschenkenntniß, Beobachtungsgabe und feine Charakterschilderung nachgerühmt; und in der That, seine saubern Miniaturporträts der Wirklichkeit sind oft, z. B. in seinen ‚Jägern‘ frappant getroffen.“146 Den ersten Besuch des ländlichen Sittengemäldes Die Jäger belegt das Tagebuch für 1802 (55); kurz zuvor hatte er bereits dessen Schauspiel Der Spieler gesehen (37). 1805 sah er auf dem Konvikttheater Ifflands Lustspiel Der Magnetismus und hielt im Tagebuch getreulich –––––––— 141 142 143 144 145 146

Vgl. ausführlicher Lehmann: Zur Geschichte des Theaterzuschauers (wie Anm. 130). Vier zeitgenössische Kritiken finden sich bei Gerlach: Eine Experimentalpoetik (wie Anm. 78). S. 241–250. Eichendorff: Zur Geschichte des Dramas (wie Anm. 48). S. 370. Ebd. S. 371. Ebd. S. 416. Ebd. S. 372.

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fest, welche Akteure sich dabei „vorzüglich auszeichneten“ (132). Noch war der junge Eichendorff von der kritischen Distanz zum Heldenrepertoire Ifflands weit entfernt, die später gerade die einst so „vorzüglich“ gespielten Rollen als bloße Masken entlarvt: Was „die Charakterschilderung anbetrifft, so sind seine bürgerlich gewordenen Helden, diese biedern Förster, tugendhaften Essighändler, falschen Hofräthe und edelmüthigen Fürsten doch eigentlich wieder bloße conventionelle Masken“.147

Ausblick: Theaterspuren in Eichendorffs Erzählkunst? Die Verspottung des philiströsen Familienstücks, der eigentlichen Domäne der Dramen Ifflands, teilt Eichendorff mit einer Reihe zeitgenössischer Kritiker, beispielsweise auch mit Goethes 1813 entstandenen, erst nach dem Tod veröffentlichten Essay Deutsches Theater, der pessimistisch „eine fortdauernde und vielleicht nie zu zerstörende Mittelmäßigkeit des deutschen Theaters“ prognostiziert und ausgerechnet die großen Drei unter den deutschen Schauspielern dafür in Beschlag nehmen will, Eckhof, Schröder und Iffland: „Die Sentimentalität, die Würde des Alters und des Menschenverstandes, das Vermitteln durch vortreffliche Väter und weise Männer nahm auf dem Theater überhand. Wer erinnert sich nicht des ‚Essighändlers‘ […] und so vieler verwandten Stücke?“148 Den Essighändler Heinrich Leopold Wagners finden wir als Negativkanon auch bei Eichendorff – in ähnlichen Wendungen. Im Fragment Erlebtes heißt es im Kapitel „Der Adel und die Revolution“ in kritischer Distanz zur alten, keineswegs guten Zeit: „Wer erinnert sich nicht noch aus den damaligen Leihbibliotheken u. Theatern der falschen Minister, der abgefeimten Kammerherren, der Schaaren unglücklicher Liebender, die vom Ahnenstoltz unbarmherzig unter die Füße getreten werden, sowie andrerseits der edelmüthigen Eßighändler, biederen Förster u.s:w:, wovon Z. B: Schillers ‚Kabale und Liebe‘ ein geistreiches Resümée gibt“ (133).149 Und er setzt lapidar hinzu: „Allein in der Wirklichkeit verhielt es sich anders als in den Leihbibliotheken“ (ebd.). Die Vorbehalte gegen Iffland und Kotzebue, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nach wie vor auf den Spielplänen aller deutschen Theater zu finden sind, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Eichendorffs Theatererfahrungen, geschult in Dutzenden von Aufführungen in der Jugendzeit, sich nicht einfach verflüchtigen, auch wenn bisher noch kaum gefragt wurde, was der spätere Dichter jenen ‚Iffländereien‘ und ‚Kotzebueaden‘ eigentlich verdankt. Immerhin handelt es sich um erste, grundlegende Einblicke in eine gefeierte dra–––––––— 147 148 149

Ebd. Goethe: Poetische Werke (wie Anm. 5). S. 123. Der Text und die Tagebücher werden zitiert nach HKA V/4 (wie Anm. 11). Erzählungen. Dritter Teil. Autobiographische Fragmente. Text und Kommentar. Hg. von Dietmar Kunisch. Tübingen 1989.

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matische Praxis, die wir bis zu dem Punkt verfolgen können, an dem Eichendorff sich selbst mit seinem Romanerstling Ahnung und Gegenwart in die literarische Kultur einzubringen versucht – noch in Wien und damit an einem noch von Schaulust elementar bestimmten Ort auf dem ganzen Spektrum zwischen Burgtheater und Leopoldstädter Theater und inmitten der Welt der kleinen Choristinnen,150 wie das Tagebuch mit entsprechender Diskretion andeutet. Wer sich auf die Spurensuche der Komödieneindrücke begibt, wird bei Eichendorff kaum fündig, wenn es um spezifische Einflüsse Iffands oder Kotzebues geht. Aber es fällt doch auf, dass im Erzählwerk komödiantische Situationen und vor allem komödiantische Konfusionen immer wieder hervortreten: Verwicklungen, Verkleidungen, Verwechslungen, Täuschungen, dramatische Szenerien, regelrechte Auftritte und effektvolle Bühnenabgänge handelnder Figuren und eine Beobachtungstechnik des Erzählers, der manche Episode aus der Perspektive eines Zuschauers oder Zuhörers schildert und seine Personen zuweilen wie Bühnenfiguren agieren lässt: wenn sie hervortreten und Lieder singen, musizieren, zum ästhetischen Tee zusammenkommen, gesellig beieinander sitzen, lachen und weinen und die Welt sich in eine Bühne verwandelt, in jenes zum Topos gewordene Welttheater. Zur epischen Staffage Eichendorffs gehört das ihm aus seiner frühen Zuschauerzeit sattsam bekannte Komödienpersonal: mitspielende Kutscher, Kammerjungfern, Geistliche, Studenten, Gärtner, Jäger, Soldaten, Hofräte, Fürsten, Amtmänner, Wirte, Steuereinnehmer, Hausväter, junge und alte Liebhaber und schließlich auch Komödianten, Sänger, Schauspieldichter, ein Theaterprinzipal und manche ‚Inkognito‘-Figur (so heißt eine Posse Kotzebues, Eichendorff sah sie mindestens zweimal, im Breslauer Theater 1804 [110] und im Schultheater des Konvikts 1805 [132]). Jahrzehnte später hat Eichendorff zwar Iffland wie Kotzebue gleichermaßen unter das „Philister-Weltbürgerthum“ gerechnet und sie zu dessen dramatischen Propagandisten erklärt, welche die „Physiognomie der deutschen Familie zu modificieren“ versucht und die Illusion verbreitet hätten, eine „Ehe sollte von bloßer Sentimentalität leben“151 können. Erfahren aber hatte der junge Theaterzuschauer Eichendorff in den Stücken der so Gescholtenen den epochal konstitutiven, im Zeichen der gesellschaftlichen Moderne forcierten Wechsel von der Konvenienzehe zur Liebesheirat; denn Iffland wie Kotzebue bringen in immer neuen Handlungsvarianten den Code der ‚romantischen‘ Liebe auf die Bühne, wodurch dann in der Tat der „Ernst der altväterischen Zucht verwaschen“ und die „Familie selbst theatralisch“ gemacht wird.152 Solche Art Theatererfahrungen sind in Eichendorffs –––––––— 150

151 152

Eichendorffs Tagebuch gibt Hinweise auf Mesalliancen mit Choristinnen im Wiener Theater (vgl. z. B. HKA XI/1 [wie Anm. 11]. S. 426 und 434); am 3. Dezember 1811 notiert er: „Vorn am Orchester gestanden, um die Choristin zu erblikken“ (S. 438). Eichendorff: Zur Geschichte des Dramas (wie Anm. 48). S. 374. Ebd.; zum Code der ‚romantischen‘ Liebe und seiner epochalen Bedeutung seit dem 18. Jahrhundert vgl. grundlegend Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main 1982; ferner Christoph Egen: Zur Sozio- und Psychogenese der romantischen Liebesvorstellung in westeuropäischen Gesellschaften.

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Romanen und Erzählungen durchaus präsent, und manches Liebes-HappyEnd, wie im Taugenichts, hat nichts mit dem „Ernst der altväterischen Zucht“ zu tun, sondern konterkariert ihn gründlich. Die Distanz freilich zur literarischen Familienkonstellation Ifflands und Kotzebues ist beim Schriftsteller Eichendorffs immer dort zu spüren, wo er sich, wie in Ahnung und Gegenwart und Dichter und ihre Gesellen, vom Schein harmonischen Familienglücks löst und gerade die Grundlagen der „deutsche[n] Gemüthlichkeit“ und der „Menschheit im Schlafrock“153 attackiert. Hinzu kommt, dass Erfahrungen aus Dutzenden von Familienkomödien aller Art, wie sie Eichendorff in der Jugend gesehen hat, prinzipiell auch ins Modellieren und Gestalten epischer Werke eingehen können. Im Anschluss an Hubers Studie Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800154 mit den Paradigmen Goethe und Jean Paul wäre daher noch genauer zu untersuchen, ob bei Eichendorff Elemente eines genuin theatralen Erzählens zu finden sind, ‚narrative Inszenierungen‘, die konstitutiv sind im sinnlichen Potenzial Eichendorffscher Romane und Novellen. Die komödienartige Verwirrung von Roman- und Novellenhandlungen hat ebenso etwas Dramatisches an sich wie die atemlose Dynamik erzählter Ereignisse und die Dramaturgie zahlreicher Gesprächssituationen an Schlüsselstellen der Erzählungen. Eichendorffs satirische Novelle Viel Lärmen um Nichts schließlich trägt den Theaterbezug schon im Titel und lässt sich als epische Transformation einer turbulenten Verwirr- und Verwechslungskomödie lesen, die selbstverständlich, wie die vielen Lustspiele der Eichendorffschen Jugendzeit, mit der Hochzeitsszene endet, diesmal allerdings mit einer zur Karikatur verformten Verheiratung. Eine zentrale Figur der Satire ist Herr Publikum: Mitspieler, Dichtermäzen, Literaturproduzent, Unterhaltungsarrangeur, Schlossherr und unersättlicher Kulturkonsument in einer Person – Spottfigur und Philister-Figuration in eins, –––––––—

153 154

Göttingen 2009. – In diesem Zusammenhang sei noch einmal an den jungen Eichendorff erinnert, der im Breslauer Schultheater weibliche Rollen spielte, wie die der Sophie in Schröders Erfolgsstück Der Fähndrich (Friedrich Ludwig Schröder: Der Fähndrich. Ein Lustspiel in drei Aufzügen. In: Ders.: Dramatische Werke. Hg. von Eduard von Bülow. Bd. 2. Berlin 1831. S. 159–212). Schröders Stück wurde am 9. Januar 1802 das erste Mal geprobt; das Tagebuch hält das Ereignis fest: „I[....@“. Vgl. ebd. S. 194f. Vgl. ebd. S. 202. Ebd. S. 279.

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Dass es keine reale Topographie ist, um die es Eichendorff zu gehen scheint, zeigt sich in Ahnung und Gegenwart vor allem an der formelhaften Beschreibung des Rheins, den Eichendorff kaum aus eigener Anschauung kannte, der als literarisches Motiv aber bereits durch Friedrich Schlegel, Achim von Arnim und Clemens Brentano vorgeprägt war.22 Im Unterschied zu diesen Vorgängern fällt bei Eichendorff aber gerade der Wegfall von Ortsbezeichnungen auf – der Rhein ist kein Raum der geographischen Wirklichkeit, sondern eine autonome Kunstlandschaft. Die Rheinreise gleicht einer Wallfahrt an einen heiligen Strom, der gleichzeitig politischer Gedächtnisort ist; er ist, so Susanne Kiewitz, „Heimat einer Kunst, in der sich die Nation als ewige Geistesgemeinschaft offenbart.“23 Was für den Erinnerungsort Rhein gilt, gilt auch für andere Orte der Eichendorffschen Raumdarstellung. Oskar Seidlin hat am Beispiel des Taugenichts gezeigt, dass das Rom, in das der Taugenichts einzieht, alles andere als der konkrete geographische Ort ist.24 Die Darstellung der geographischen Wirklichkeit gleiche hier eigentlich einer „Weg-Stellung“25. Das Rom, auf das der Taugenichts zuwandert, erweist sich bei genauerem Hinsehen schnell als etwas anderes als die geographisch-exakt umrissene Hauptstadt Italiens: Die Stadt ist weniger in der Außenwelt als in der Innenwelt der Erinnerung des Protagonisten situiert. Im Blick auf Rom verlieren die Kategorien von Raum und Zeit selbst ihre ordnungsstiftende Funktion, sie lösen sich auf. Und gerade dieses radikale Paradox einer Auflösung des Raumes durch seine Beschreibung und Darstellung deutet Seidlin als Eingang zu der Gottesstadt, die mit dem Namen „Rom“ eigentlich bezeichnet sei: Die Stadt Rom sei das Bild des Heils – Geographie fällt hier mit Theologie zusammen, die Landschaft, in der sich der Taugenichts bewegt, ist eine metaphysische.26 Die Stadt Regensburg in Eichendorffs Ahnung und Gegenwart hat demgegenüber weniger metaphysische Konnotationen. Erzähltechnisch dient die Nennung der Stadt am Romananfang zunächst ganz konkret dazu, zusammen mit dem Vektor der Donau den erzählten Raum zu eröffnen. Der zweite Punkt, an dem die Erzählung erstmals innehält, ist der Wirbel in der Donau. Doch zieht man eine Karte zu Rate, wird die geographische Exaktheit –––––––— 22

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Vgl. zum Folgenden Susanne Kiewitz: Poetische Rheinlandschaft. Die Geschichte des Rheins in der Lyrik des 19. Jahrhunderts. Köln u. a. 2003; zu Eichendorffs Ahnung und Gegenwart siehe S. 108–123. Eichendorffs Roman offenbare, so Kiewitz, „als ein erstes Rezeptionszeugnis zugleich, daß das Rheinmotiv sich in seiner romantischen Gestalt topisch zu fixieren begann.“ (Ebd. S. 108). Ebd. S. 111. Vgl. Oskar Seidlin: Der Taugenichts ante portas. In: Ders.: Versuche über Eichendorff. Göttingen 1965. S. 14–31. Ebd. S. 15. Seidlins Interpretation der Stadt Rom als Gottesstadt ist seither um weitere, z. T. auch widersprechende, Bedeutungsaspekte ergänzt worden. So sei die Stadt nicht nur die Stadt der Gottesnähe, sondern auch der Gottesferne, argumentiert beispielsweise Otto Eberhardt (Eichendorffs „Taugenichts“ – Quellen und Bedeutungshintergrund. Untersuchungen zum poetischen Verfahren Eichendorffs. Würzburg 2000). Außerdem gehöre, so Eberhardt, „schon einfach vom Namen her die Romantik nach Rom“, die Stadt sei also auch der „Hauptort der Dichtung“ (ebd. S. 455). Diese Beobachtungen bestätigen den Eindruck, dass es bei der Stadt Rom jedenfalls nicht um den konkreten geographisch identifizierbaren Ort geht.

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dieser Raumeröffnung fraglich. Nicht nur, dass die Darstellung des Wirbels nicht den geographischen Tatsachen entspricht – es fällt auf, dass Grein, der Ort, an dem sich der reale Wirbel befand, weit von Regensburg entfernt liegt. Dazwischen befinden sich die Donaustädte Passau und Linz, die nicht erwähnt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Nennung von Regensburg am Beginn des Romans nur um so seltsamer. Der Verdacht drängt sich auf, dass es auch bei „Regensburg“ gar nicht um den konkreten Ort geht. Die Assoziation von Regensburg und dem Donaustrudel scheint vielmehr von einem alten Volkslied herzurühren, das in Regensburg jedes Kind kennt: „Als wir jüngst in Regensburg waren, / Sind wir über den Strudel gefahren“, lautet die erste Liedzeile. In dem Lied geht es um ein Thema, das auch der Roman mit Verve verfolgt: das Thema der gefallenen Jungfrau, die ihre Übertretung mit dem Tod bezahlen muss. Im Lied ist es „Adlig Fräulein Kunigund“,27 die sich, trotz der Warnung des Schiffmanns, dass nur „Wem der Myrtenkranz geblieben, / Landet froh und sicher drüben“28, auf die Fahrt einlässt, und, kaum sind sie in der Mitte des Wassers, von einem großen Nix in die Tiefe gezogen wird. Im Roman ist es Rosa, die „unverwandt in den Wirbel hinab>sah@“29, sich später in den Wirbel des gesellschaftlichen Lebens in der Residenz ziehen lässt und Friedrich so verliert. Das Zitat des Liedes spielt also eine bestimmte Motivik an, die im weiteren Verlauf des Romans eine Rolle spielen wird, und weist so auf den Weitergang der Handlung voraus. Doch das Lied selbst wirft bei näherem Hinsehen einige Fragen auf, die 1923 Heinrich Uhlendahl, einen Teilnehmer einer Regensburger Bibliothekarstagung, zu weiteren Nachforschungen angeregt haben: „‚Wo ist der Strudel?‘ ‚Wo sind die schwäbischen und bayrischen Dirndel?‘“30, so habe nicht nur er sich gefragt, aber „selbst die ortskundigsten Bürger, selbst die gelehrtesten Historiker und Geographen gerieten bei diesen Fragen in Verlegenheit und zuckten die Achseln oder gaben Auskünfte, die sie von vornherein selbst in Zweifel zogen. Die einen verwiesen auf die oberhalb Regensburgs zwischen Kloster Weltenburg und Kelheim befindlichen Stromschnellen, wo die Donau mit starkem Stoß den Fränkischen Jura durchbricht und die felsigen Ufer zu wildromantischen Landschaftsbildern gestaltet hat. >...@. Andere wollten das Gewoge und Gewirbel an der Regensburger Steinernen Brücke, das sich von der berühmten Wurstküche aus so bequem und angenehm beobachten läßt, als den Strudel ansprechen. >...@ Auf unser Lied aber paßt auch diese Szenerie schlecht; denn wo es eine Brücke gibt, noch dazu eine so alte und feste wie die Regensburger, da bedarf es wirklich keiner Überfahrt und keines warnenden Schiffsmannes.“31 Geht man der Herkunft des Volksliedes nach, so finden sich die ersten schriftlichen Quellen relativ spät, sie stammen aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Arnims und Brentanos Sammlung Des Knaben –––––––— 27

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Zitiert nach dem abgedruckten Liedtext in: Heinrich Uhlendahl: Als wir jüngst in Regensburg waren. Eine literarhistorische Skizze. Berlin 1924. S. 3f. Ebd. HKA III (wie Anm. 1). S. 4. Uhlendahl: Als wir jüngst in Regensburg waren (wie Anm. 27). S. 6. Ebd. S. 6.

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Wunderhorn beispielsweise kennt das Lied nicht. Eine der frühesten Quellen aus dem Jahr 1840 geht auf Hoffmann von Fallersleben zurück, der sie in Schlesien aufgezeichnet haben soll.32 In dieser Fassung lautet der Text nicht: „Als wir jüngst in Regensburg waren“, sondern „Als wir jüngst von Regensburg kamen“33 – und dies entspricht genau der Ausgangskonstellation von Eichendorffs Roman. In dieser Fassung berührt sich das Volkslied auch mit einigen älteren Varianten, die allesamt von bayrischen und schwäbischen Mädchen handeln, die die Donau hinabfahren. Historischen Hintergrund dieser Lieder bildet die süddeutsche Auswanderungsbewegung nach Ungarn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Nach der Vertreibung der Türken aus Ungarn 1718 wurden in den teilweise entvölkerten Gebieten deutsche Kolonisten (vor allem Schwaben) angesiedelt, und in einigen deutschen Städten, darunter Regensburg, waren eigene Regierungskommissare tätig, um die Anwerbung und den Transport der Auswanderer zu leiten. Regensburg war der Hauptsammelpunkt der Kolonisten.34 Es ist also, so meine These, das Lied in dieser Fassung, das Eichendorff zu Beginn seines Romans zitiert. Vielleicht war es ihm aus seiner Jugend bekannt – immerhin wurde es von Hoffmann von Fallersleben unweit von Ratibor, der Heimat Eichendorffs aufgezeichnet. Das „Regensburg“ zu Beginn von Eichendorffs Roman ist die Stadt des Liedes, der Ausgangspunkt von Donaufahrten, die über den gefährlichen Strudel führen, von dem der Roman wiederum seinen Ausgang nimmt. Wie der Rhein bereits ein literarisches Motiv ist, so ist auch Regensburg kein realer Ort, sondern bereits ein kulturell vermittelter. Der Realismus Eichendorffs erweist sich als Intertextualität. Sieht man sich den Romaneingang noch einmal genauer an, so ist Regensburg, anders als etwa die „Residenz“, genau genommen auch gar kein Schauplatz des Romans – die Handlung setzt viel weiter donauabwärts ein. Die außertextuelle Referenz auf Regensburg verweist nicht nur über den fiktionalen Raum hinaus, sondern auch über die erzählte Zeit: Zu dem Zeitpunkt, als der Roman einsetzt, hat er Regensburg längst hinter sich gelassen, die Stadt wird als Ausgangspunkt einer Reise genannt, die sich am Anfang des Erzählens schon ihrem Etappenziel nähert. Der Roman beginnt medias in res: Die Sonne geht nicht auf, sondern „war eben prächtig aufgegangen“35, das Schiff von Graf Friedrich und seinen Begleitern befindet sich bereits in voller Fahrt „auf der Donau herunter“36. Nicht sie sind es genau genommen, die Regensburg passiert haben, sondern das vom Erzähler aufgerufene unpersönliche Kollektiv derjenigen, die mit der Topographie vertraut sind, da sie schon einmal eine Donauschifffahrt von Regensburg aus unternommen haben, oder, könnte man ergänzen, die vielleicht auch nur das Lied kennen, das diesem Romananfang Pate gestanden hat. –––––––— 32 33 34 35 36

Vgl. Uhlendahl: Als wir jüngst in Regensburg waren (wie Anm. 27). S. 10. Vgl. ebd. Hervorhebung VB. Vgl. ebd. S. 25. HKA III (wie Anm. 1). S. 3. Ebd.

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Doch die Stadt Regensburg hat, wie ich meine, eine weitere Bedeutung, die über das Zitat eines Liedanfangs hinausgeht: Regensburg ist eine geopolitische Chiffre. Es steht für den Niedergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in den Koalitionskriegen. Seit 1663 war die freie Reichsstadt Sitz des immerwährenden Reichtages, der Ständevertretung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, bis 1803 hier der Reichsdeputationshauptschluss veröffentlicht wurde, der die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches einleitete. 1806 wurde dieser mit der Niederlegung der Reichskrone durch Franz II. endgültig vollzogen. Ein Jahr später, 1807, kam Eichendorff auf einer Reise durch Regensburg. In seinem Tagebuch notierte er: „Es ist herzergreifend, wie diese alte berühmte Stadt jezt durch die Auflösung des Reichstages öde u. leer ist; nur die Kirchen schauen, erhaben über die kleinlichen Jahre, [noch] einsam aus den alten kräftigen Zeiten der Herrlichkeit herüber.“37 Die gleiche Deutungsperspektive bezüglich der „kleinlichen Jahre“ nimmt auch der drei Jahre später begonnene Roman ein: Auch hier ist es die Kirche und der Glaube, die Friedrich über die „weite> @, ungewisse> @ Dämmerung“38 seiner Zeit rettet: „Mir scheint in diesem Elend, wie immer, keine andere Hülfe, als die Re lig ion.“39 Regensburg ist also ein Raum, in dem die Zeit zu lesen ist.40 Das Vorwort zu Ahnung und Gegenwart, das Fouqué auf Bitte Eichendorffs und unter Verwendung von dessen eigenen Formulierungen geschrieben hatte, weist den Roman mit Bezugnahme auf den Russlandfeldzug Napoleons auch eindeutig als Zeitroman aus, der die Jahre nach dem Niedergang des Heiligen Römischen Reiches und vor der „erfolgte[ ] Weltbefreyung“41 zum Thema habe: „ein getreues Bild jener gewitterschwülen Zeit, der Erwartung, der Sehnsucht und Verwirrung“42 sollte er bieten. Den realen Ort Regensburg hat der Roman also auch in dem Sinne längst hinter sich gelassen, dass es nicht der konkrete Ort, sondern seine zeitgeschichtliche und politische Bedeutung ist, die hier eigentlich von Interesse ist. Regensburg ist Symbol für das untergegangene Reich und die prekäre Lage des Gebildes, das der Roman „Deutschland“ nennt.43 Und doch ist auch und gerade die reale Ortsreferenz in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Denn der Raum, den Eichendorff in seinem Roman entwirft, ist, aller Eigenlogik, Zitathaftigkeit und Projiziertheit zum Trotz, doch keine „Utopie“ in ihrer wörtlichen Bedeutung von „Nirgendort“. Durch die außertextuellen Referenzen bleibt der fiktive Raum im Realen verankert. So, wie das Vorwort den Roman zeitlich situiert, wird der fiktive Raum –––––––— 37 38 39 40

41 42 43

HKA XI/1. Tagebücher. Text. Hg. von Franz Heiduk und Ursula Regener. Tübingen 2006. S. 280. HKA III. S. 333. Ebd. S. 328. Vgl. den Buchtitel von Karl Schlögel, der den spatial turn in den Geschichtswissenschaften entscheidend angeregt hat: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München/Wien 2003. HKA III (wie Anm. 1). Vorwort. Ebd. Vgl. ebd. S. 328.

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des Romans mit der Topographie des realen Raums unterlegt und konstituiert sich erst in Auseinandersetzung, in Differenz und Analogie zu dieser. Und diese Reibung von realer und imaginärer Karte, die der Roman selbst provoziert, wenn er an die Ortskenntnis seiner Leser appelliert, ist konstitutiv für das, um was es den Protagonisten nach eigener Aussage geht: um „Deutschland“, das vor dem Zeithorizont, der im Vorwort ausdrücklich benannt wird, ein geistiges Konstrukt mit nur vage räumlichen Dimensionen ist, ein politisches Gebilde, das kein territoriales Äquivalent hat. Der zeitgeschichtliche Hintergrund des Romans ist also auch ein raumgeschichtlicher. Wird Deutschland heute gewöhnlich als Territorium und Nationalstaat gedacht, so war es zur Zeit der napoleonischen Kriege alles andere als ein einheitlicher Raum. Es änderte auf der politischen Karte ständig seine Grenzen und war weit davon entfernt, als monochrome Karte reproduzierbar zu sein.44 In Deutschland setzt sich, so der Historiker Karl Schlögel, erst in den Jahren vor der Reichsgründung das Kartenbild als dasjenige Bild durch, in dem die Nation sich selbst vorstellt.45 Aus dieser rückblickenden Perspektive ist die imaginäre Gemeinschaft „Deutschland“ vor der Reichsgründung defizitär: ein Flickenteppich und zerrissener Körper.46 Bei Eichendorff fehlt diese deutliche Wertung. Das „Deutschland“, das Eichendorff ganz real in den Befreiungskriegen verteidigt hat, ist, jenseits seiner Zerrissenheit auf der Karte, ein imaginäres Heimatland, für das beispielsweise der Rhein weniger Grenzfluss denn Symbolträger ist. Die Tatsache, dass der Roman es mit der Topographie der Gegenden von Donau oder Rhein nicht so genau nimmt, unterstreicht noch den Symbolcharakter dieser Räume. Die Differenz von realer und imaginärer Karte des Romans lässt auch diejenige hervortreten, die zwischen dem imaginären Bild von Deutschland und seiner Karte besteht. Es geht also nicht nur um den Entwurf eines imaginären Heimatlandes, sondern gerade um die Differenz dieses Entwurfs zur realen Karte. Die Nennung von „Regensburg“ zu Beginn des Romans erfüllt damit eine doppelte Funktion: Auf Ebene der Symbolik weist die Stadt durch die Anspielung auf das Volkslied auf den Weitergang der Handlung voraus, als geopolitische Chiffre des untergegangenen Reichs aber weist sie zurück in die Vergangenheit, in die Zeit vor der erzählten Zeit. Daneben ist die Stadt auch der Punkt, an dem der fiktive Raumentwurf des Romans in der realen Topographie verankert ist, von dem er sich dann aber fortentwickelt und ein imaginäres Bild von Deutschland entwirft, das keiner realen Karte entsprechen muss. In diesem Sinne ist die Stadt Regensburg das Scharnier zwischen Fiktivem und Realem, zwischen Raum und Zeit. Es ist der Raumentwurf dieses Romans, der ihn zu einem Zeitroman macht.

–––––––— 44

45 46

Vgl. das Kapitel: „Karten monochrom: der Nationalstaat“. In: Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit (wie Anm. 40). S. 199–210. Vgl. ebd. S. 199. Vgl. ebd. S. 202f.

Wolfgang Bunzel

„Im Rheingau, wo jetzt Rüdesheim liegt...“ Chronotopoi in Clemens Brentanos Mährchen vom Rhein „Im Rheingau, wo jetzt Rüdesheim liegt, stand vor undenklichen Zeiten eine einsame Mühle am Rhein [...]. Auf dieser Mühle wohnte Radlauf, ein junger frommer Müllerbursche.“1 Der Beginn der Mährchen vom Rhein lässt mit seiner Engführung von temporaler Unbestimmtheit („vor undenklichen Zeiten“) und topographischer Konkretion („im Rheingau, wo jetzt Rüdesheim liegt“) bereits das ästhetische Programm des gesamten Erzählzyklus umrisshaft aufscheinen. Ungeachtet des märchenhaften Charakters siedelt Clemens Brentano das von ihm mitgeteilte Geschehen gerade nicht in einem ungreifbaren Nirgendwo an, sondern verankert es in der Wirklichkeit und damit im Erfahrungsraum der Rezipienten. Auch wenn der zeitliche Abstand zur zeitgenössischen Gegenwart mehrere hundert Jahre beträgt, gestattet die Konstanz des Raums doch ein Partizipieren an den – behaupteten – Ereignissen der Vergangenheit. Der Märchentext erweist sich damit als in seinem Kern mythische Erzählung, deren Funktion darin besteht, die „undenklich“ weit zurückliegenden „Zeiten“ mit dem „Jetzt“ zu verknüpfen und so die Vor- und Ursprungsgeschichte der Gegenwart zu enthüllen.2 Mit der Verschränkung von konkreten, auf Wiedererkennbarkeit angelegten geographischen Markierungen und nur sehr ungenau umrissenen Zeitangaben macht Brentano aber nicht nur die Realität auf das Wunderbare hin durchlässig, sondern installiert auch den zentralen Chronotopos des Märchenzyklus. Der von Michail Bachtin geprägte Begriff des Chronotopos zielt bekanntlich darauf ab, den „grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der [...] Zeit-und-Raum-Beziehungen“3 in einem fiktionalen narrativen Text zu erfas–––––––— 1

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Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe (=Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Anne von Bohnenkamp-Renken, Konrad Feilchenfeldt, Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald und Detlev Lüders. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1975ff.). Bd. 17: Die Mährchen vom Rhein. Hg. von Brigitte Schillbach. Stuttgart(u. a.) 1983. S. 13. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Edition direkt im Text nachgewiesen. Brentano setzt damit in gewisser Weise Friedrich Schlegels Forderung nach einer „mythischen Poesie“ in die Tat um; Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. 1803–1812. Studienausgabe in sechs Bänden. Hg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Paderborn/München/Wien/Zürich 1988. Bd. 3. S. 19–28. Hier S. 20. Vgl. hierzu auch Elisabeth Stopp: „Übergang vom Roman zur Mythologie“: formal aspects of the opening chapter of Hardenberg’s „Heinrich von Ofterdingen“. Part II. In: DVjs 48 (1974). S. 318–341. Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hg. von Edward Kowalski und Michael Wegner. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt am Main 1989. S. 7.

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sen. Da „die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum“4 aber textsortenspezifisch unterschiedlich funktioniert, ist das Konzept vor allem nützlich, um „verschiedene[ ] Genrevarianten“5 narrativer Texte voneinander zu unterscheiden. Eine genaue Beschreibung der in den Mährchen vom Rhein zum Einsatz kommenden Chronotopoi dient denn auch einer präziseren Bestimmung des spezifischen Gattungscharakters dieses Erzählzyklus, die wiederum Rückschlüsse auf die Poetik des Autors gestattet. Anders als es der (im Übrigen durchaus mehrdeutig zu verstehende6) Titel vermuten lässt, spielen Brentanos Märchen durchaus nicht nur am Rhein. Zwar ist das Hauptgeschehen im Landschaftsraum zwischen Mainz und Trier angesiedelt, doch gibt es daneben mit dem Schwarzwald noch einen wichtigen Nebenschauplatz, dem rein quantitativ gesehen sogar der größere Anteil an der Gesamtnarration zukommt. Da beide Handlungsorte nicht nur regional differenziert, sondern auch mit gegensätzlichen zeitlichen Markierungen versehen sind, ruht das Erzählgeschehen der Mährchen vom Rhein auf zwei komplementär konstruierten Chronotopoi. Einem topographisch fest umrissenen Geschichtsraum steht dabei ein nur höchst vage lokalisierter Naturraum gegenüber, der durch den Stillstand von Zeit oder einen Zustand der Zeitlosigkeit gekennzeichnet ist. Zwischen diesen beiden Räumen gibt es keinerlei Berührung, geschweige denn dass ein Austausch stattfinden würde. Zu unterschiedlich – um nicht zu sagen: unvereinbar – sind die dort jeweils geltenden temporalen Verhältnisse. Dementsprechend ist auch das Personal beider Handlungsräume strikt voneinander separiert. Von den Menschen vermag jedenfalls einzig der Protagonist Radlauf unversehrt von einem in den anderen und wieder zurück zu wechseln, was seine Sonderstellung im Figurengefüge des Textes noch einmal hervorhebt. Der Raum, in dem der Müller beheimatet ist, mutet zunächst wie eine naturhafte Idylle an. So wird von der „einsam[ ]“ gelegenen „Mühle am Rhein“ nicht nur gesagt, sie sei „umgeben von einer grünen und blumenvollen Wiese“, von Radlauf heißt es auch: Er lebte mit der ganzen Welt in Frieden, gab den Armen gern ein Mäßchen Mehl umsonst, und streute seine Brodsamen den Fischen und Vögeln aus. Jeden Abend setzte er sich auf den Mühlendamm hinaus, und hatte da seine Freude an den schönen grünen Wellen des Rheins, an den Ufern, die sich spiegelten, und den Fischen, die vor Lust aus der Fluth emporsprangen. Ehe er aber schlafen ging, flocht er immer noch einen schönen Blumenkranz, und sang dem alten Rhein ein Lied vor, ihm seine Ehrfurcht zu beweisen. Am Schlusse des Liedes warf er dann den Kranz in die Wellen, die ihn freudig hinunter trugen,

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Vgl. hierzu auch Michael Wegner: Die Zeit im Raum. Zur Chronotopostheorie Michail Bachtins. In: Weimarer Beiträge 35 (1989). S. 1357–1367. Bachtin: Formen der Zeit im Roman (wie Anm. 3). S. 201. Ebd. S. 9. Bachtin selbst hat sich deshalb darum bemüht, eine historische Typologie des europäischen Romans anhand unterschiedlicher Chronotopoi zu entwerfen. Die Überschrift weist mindestens vier verschiedene Bedeutungsdimensionen auf, kann sie doch gedeutet werden als: 1. Märchen, die aus der Rheinregion stammen, 2. Märchen, die in der Rheinlandschaft spielen, 3. Märchen, die den Rhein zum Gegenstand haben, und 4. Märchen, die dem Rhein erzählt werden. Auf Brentanos Erzählzyklus lassen sich in jedem Fall die Bedeutungsvarianten zwei bis vier anwenden.

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und wenn Radlauf den Kranz nicht mehr schwimmen sah, ging er ruhig nach seiner Mühle, um zu schlafen. (S. 13)

Doch schon der Traum, den Radlauf zu Beginn des Textes hat,7 kündigt eine Veränderung seines bisherigen Zustands an: Einstens träumte dem Müller, er gehe auf seine Wiese und wolle dem alten Rhein den gewöhnlichen Blumenkranz winden, er finde aber auf der Wiese gar keine andern Blumen, als nur Rittersporn und Kaiserkronen und Königskerzen und Schwerdlilien und Ehrenpreiß und dergleichen vornehme ritterliche Gewächse, er aber scheue sich mit seinen bürgerlichen Händen nicht, breche die edlen Blumen nach Herzenslust, und freue sich seinem alten Freund, dem adlichsten der Flüsse, einen recht prächtigen Kranz daraus zu winden. Als er nun diesen im Traume in die Wellen geworfen, tauchte unter demselben eine [sic] alter sehr ernsthafter und doch liebreicher Mann aus der Fluth; sein grünes Schilfhaar war mit einer goldenen Rebenkrone umgeben, in deren Zweigen der Blumenkranz Radlaufs ruhte. In den Armen hielt er ein wunderschönes Jungfräulein und setzte sie vor Radlauf, der am Ufer niedergekniet war, auf den Strand. Die Jungfrau, träumte er weiter, habe sich ihm freundlich genaht, ihm eine köstliche alte Krone aufgesetzt, und ihn dann an der Hand aufgehoben, um ihn nach seiner Mühle zu begleiten. (S. 15f.)

Und tatsächlich beginnt sich die Traumprophetie bereits am anderen Morgen zu erfüllen. Just in der Nähe seiner Mühle findet nämlich auf zwei Rheinschiffen ein herrscherdynastisch bedeutsames Treffen zweier Königsfamilien statt, bei dem die Mainzer Prinzessin Ameleya und der Trierer Prinz Rattenkahl miteinander verlobt werden sollen. Dazu kommt es aber nicht, weil Zwistigkeiten entstehen, welche die Zeremonie vereiteln. Als in der Folge Ameleya versehentlich in den Rhein stürzt, verspricht der besorgte König dem, der sie rettet, nicht nur ihre Hand, sondern obendrein auch noch die Regentschaft über Mainz. Kein anderer als der Müller Radlauf ist es dann, der – obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch keine Kenntnis von der ausgesetzten Belohnung hat – die Königstochter aus dem Wasser zieht und versorgt.8 Damit aber wird er unwiderruflich aus seiner zurückgezogenen und bescheidenen Privatexistenz herausgerissen und mit den staatspolitischen Belangen seiner Heimatregion konfrontiert. Die Rheingegend präsentiert sich dem Leser als geschichtsdurchtränkter Raum, und Brentano liefert unter Rekurs auf einzelne Ereignisse der Regionalgeschichte geradezu eine poetische Historiographie des Rheingaus und des oberen Mittelrheintals. Er erfindet phantasievolle Erklärungen dafür, wie Orte und Gebäude zu ihrem Namen kamen, und integriert –––––––— 7

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Der prophetische Vorblick im Schlaf auf künftige Geschehnisse, die dann im Fortgang des Textes enthüllt werden, in der Funktion einer Prolepse verbindet die Mährchen vom Rhein mit Novalis’ Heinrich von Ofterdingen; vgl. hierzu Siret Ristmägi: Erwartung oder Erfüllung? Zur Struktur des „Heinrich von Ofterdingen“. In: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen 2 (1995). S. 55–73. Der Sturz ins Wasser und die – im Nachhinein bei allen Familienangehörigen auf Argwohn stoßende – Situation des Zueinanderfindens des vermeintlichen Müllersburschen mit der, einem Anderen versprochenen, Mainzer Prinzessin im Raum der elementaren Natur erinnert in ihren Grundzügen an die Szenerie der „wunderlichen Nachbarskinder“ in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften.

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diese in ein märchenhaftes Handlungsgerüst. So beschreibt er beispielsweise die Anlässe, die zum Bau des Binger Mäuseturms, zur Errichtung der Burgen Katz und Maus, zur Gründung der Orte Biebrich und Wiesbaden oder zum Geschlechternamen Katzenellenbogen geführt haben, und erläutert, weshalb die Stadt Mainz in ihrem Wappen als Symbol ein Rad hat. Auf diese Weise reichert er politische Begebenheiten mit fiktiven Individualgeschichten an und verflicht von Menschen gemachtes Geschehen mit märchenhafter Naturgeschichte. Topographisch unmittelbar greifbar wird die nachgerade programmatische Verschränkung von Realgeschichte und erfundener Märchenhandlung im Binger Mäuseturm, besteht der nach Auskunft des Textes doch aus den Steinen von Radlaufs Mühle, die König Hatto von Mainz während dessen Abwesenheit „abbrechen und in den Thurm verbauen“ (S. 118) ließ. Brentano hat damit eine perfekte Allegorie für die Machart seines Erzählzyklus geschaffen, der ja gleichfalls mit Hilfe märchenhafter Fiktion topographische Realien neu entstehen lässt, indem poetische Begründungen für den Ursprung historisch belegbarer Bauwerke, Namen und Symbole geliefert werden. Vollends zum mythischen Raum wird die Rheinlandschaft dadurch, dass der Protagonist und einige weitere Figuren keine einfachen Sterblichen sind, sondern qua Herkunft zu einem Teil auch der Sphäre der „Geister“ (S. 171, 207, 237, 282) zugehören. Brentano setzt damit eine Forderung von Novalis um, der im Allgemeinen Brouillon (1798) gefordert hatte: In einem ächten Märchen muß alles wunderbar – geheimnißvoll und unzusammenhängend seyn – alles belebt. [...] Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt seyn.9

Einen Vorschlag, wie dies praktisch umgesetzt werden könnte, hatte seinerzeit August Wilhelm Schlegel unterbreitet; in einem Brief an Schleiermacher vom 9. Juni 1800 äußert er, es sei ,,einmal Zeit daß Luft, Feuer, Wasser, Erde wieder poetisirt werden“10. Genau dies nun hat Brentano in seinen Mährchen vom Rhein getan, indem er von den Geisterwesen Frau Erde, Frau Luft, Frau Feuer und Frau Wasser berichtet11 und mit deren Töchtern Frau Edelstein, Frau Phönix Federschein, Frau Feuerschein und Frau Lureley Vertreterinnen der vier Elemente auftreten lässt. Alle diese weiblichen Nachkommen gehen – gemäß dem Fluch, den die Matriarchin gegenüber ihrer Enkelin Frau Mondenschein ausgesprochen hat, die sich als erste mit einem Sterblichen verheiratete12 – Mesalliancen mit Menschenmännern ein. Un–––––––— 9

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Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl. München/Wien 1978. S. 514. Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Zum Druck vorbereitet von Ludwig Jonas, nach dessen Tode hg. von Wilhelm Dilthey. Bd. 3. Berlin 1861. S. 182. Kosmologisch hinter sie zurückgreifend, werden darüber hinaus auch noch Frau Mondenschein als Verkörperung der lunaren Sphäre und die namenlose Großmutter als Herrin des „Tierkreises“ (S. 544) und der Gestirne vorgestellt. Letztlich kann der Fluch der Großmutter: „[W]ohlan so mögen ihre Töchter, meine Damen, alle solche Misheurathen thun [...]; [e]in Bergknappe, ein Vogelsteller, ein Kohlenbrenner, ein Müller mögen eure

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glücklich werden diese Verbindungen aber erst durch den parallelen Fluch der Starenkönigin Frau Aglaster, die den Schäfer Damon und seine Nachkommen „zu Staarenart verdamm[t]“ und ihnen damit die verhängnisvollen Eigenschaften „Neugier, und Sucht nach Glanz, Leichtsinn und Plauderei“ (S. 177) beschert. In den Vorfahren Radlaufs treffen also zwei Verwünschungen aufeinander, die das gender-dichotomisch akzentuierte und damit auf den Gegensatz der Geschlechter übertragene Verhältnis zwischen Menschen und „Geistern“ nachhaltig zerrütten. Immerhin haben beide Flüche nur begrenzte Dauer: Die Verwünschung der Elementarfrauen ist zeitlich auf fünf Generationen terminiert, und die Verwünschung der „Mondschäfer“-Dynastie hört auf zu wirken, sobald „ein später Erbe“ (S. 194) sich selbst für seine Verwandten opfert. Deshalb kann schließlich in Gestalt von Radlauf eine Erlöserfigur auftreten, welche den Verrat, den deren Vorväter an ihren Frauen begangen haben, sühnt und so eine harmonische „Gemeinschaft der Geister mit den Menschen“ (S. 207) wieder ermöglicht. Die entscheidende Erlösungstat ereignet sich dabei im „Schwarzwald“ (S. 46, 117, 124, 125, 174), der im Text als topographische Gegenregion zur Rheinlandschaft fungiert. Der Weg dorthin verläuft geographisch vom lieblichen und übersichtlichen Rheintal ins schroffe, unwegsame Gebirge; in Radlaufs Bericht heißt es dementsprechend: „Nach vielen Tagreißen sah ich endlich ein dunckles waldiges Gebürg wie eine Gewitterwolcke vor mir aufsteigen, je näher ich kam, je höher ward es“ (S. 125). Zugleich markiert der Landschaftswechsel symbolisch einen Übergang von der Zivilisation in die „Wildniß“ (S. 128, 244), die übrigens an die „Waldeinsamkeit“ aus Ludwig Tiecks Blondem Eckbert erinnert.13 Radlauf konstatiert den Eintritt in den eigengesetzlichen Naturraum mit den Worten: „[I]ch zog nun immer weiter in den Wald, es ward immer dichter und wilder und stiller.“ (S. 125) Zunächst reagiert er nur konsterniert ob des eigenartigen Verhaltens der Menschen, die er antrifft: „Ich war ganz stumm von Verwunderung über diese Leute“ (S. 127). Aber bald schon wird ihm „angst und bang“ (S. 128) angesichts der Begebenheiten, die ihm in dieser seltsamen Sphäre widerfahren. Ihren Höhepunkt erreichen die sich akkumulierenden Zeichen des –––––––—

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Nachkommen werden –“ durch die Ergänzung der Elementarfrauen: „[D]as soll ein Wort seyn, ja und Fürsten und Könige dazu“ (S. 186), aber nicht nur in seiner Tragweite begrenzt, sondern letztlich auch ins Positive umgewendet werden. Ähnlich wie in den Mährchen vom Rhein ist auch im Blonden Eckbert der waldig-gebirgige Naturraum eine Art von Gefängnis. Und obwohl sie sich verzweifelt darum bemüht, gelingt es Bertha nicht, einen „Ausgang aus der Wildnis zu entdecken“: „Die Felsen um mich her gewannen jetzt eine andre, weit seltsamere Gestalt. Es waren Klippen, so aufeinandergepackt, daß es das Ansehn hatte, als wenn sie der erste Windstoß durcheinanderwerfen würde. Ich wußte nicht, ob ich weitergehn sollte. Ich hatte des Nachts immer im Walde geschlafen, denn es war gerade zur schönsten Jahrszeit, oder in abgelegenen Schäferhütten; hier traf ich aber gar keine menschliche Wohnung, und konnte auch nicht vermuten, in dieser Wildnis auf eine zu stoßen; die Felsen wurden immer furchtbarer, ich mußte oft dicht an schwindlichten Abgründen vorbeigehn, und endlich hörte sogar der Weg unter meinen Füßen auf.“ Tiecks Werke in zwei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Claus Friedrich Köpp. Berlin (Ost)/Weimar 1985. S. 82f.

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Unheimlichen, als Radlauf in der Mühle seines Vaters übernachtet und dabei feststellen muss, dass sie seiner eigenen am Rhein gleicht „wie zwei Tropfen Wasser“: Da stand ich nun allein in einem wildfremden Hauße [...]. Nachdem ich ein paar Minuten stille gestanden, wurde mir es, als sei ich zu Hauße am Rhein, ich ging lincks an den kleinen Schranck, wo dort das Feuerzeug stand, und sieh da, ich fand den Schranck, ich fand das Feuerzeug. Schnell schlug ich Licht, und ging mit dem brennenden Schwefel nach der Stelle wo am Rhein die Lampe an einem Pfeiler hing, ich fand den Pfeiler und die Lampe. Aber es war kein Oel drinnen, ich steckte daher einen Kienspann an, und wie das Licht um mich her leuchtete, sah ich alles, alles rings um mich Treppen, Räder, Mühlbeutel, Thüren, und Hausrath, wie zu Hauß; ja der Mondschein fiel durch einen Spalt der Stubenthüre auf den Hausflur wie zu Hauß. Ich eilte in die Stube selbst, da stand der Tisch, der Stuhl, das Bett wie zu Hauß, ich war wie in einem Traum, und eilte nun noch hinaus auf den Mühlendamm, um zu sehen, ob denn auch der Rochusberg mir gen über stehe, und ob ich dann wircklich am Rhein sey, alle kleinen Gänge und Stufen biß zu dem Damm waren dieselbe. Gegen mir über war ein Berg mit einem hochgethürmten Schloß. Es war aber nicht die Rochuskapelle und vor mir breitete sich der weite Spiegel eines Sees aus, und es war der Rhein nicht, doch machte die Gegend mir einen ähnlichen Eindruck nur stiller, einsammer, weiter, und ernsthafter. Lange saß ich und sah in den grünen Wellen des Sees den Mond und die Sterne an, aber die Augen sancken mir, ich vergaß ganz wo ich war, und ging in meine Stube zurück, betete, und legte mich aufs Bett. (S. 132)

Indem Brentano Interieur und Umgebung der Mühle dupliziert und beides einmal im Geschichtsraum der Rheinlandschaft und das andere Mal im Naturraum des „Schwarzwalds“ zeigt, überträgt er das insbesondere für die Schauerromantik charakteristische Doppelgängermotiv14 auf einen Ort.15 Unheimlich ist das väterliche Gebäude, weil es genau so beschaffen und eingerichtet ist wie Radlaufs eigene Mühle und auch in eine ähnliche Landschaft eingebettet ist. Allerdings ist – wie sich am anderen Tag herausstellt – das Anwesen längst verlassen worden und steht seitdem ungenutzt da. Im Gegensatz zur Mühle am Rhein erfüllt die Mühle im „Schwarzwald“ ihren Zweck also nicht mehr und ist dysfunktional geworden. Radlauf ist der Einzige, der die Zeichen des Verfalls richtig zu deuten und an ihnen –––––––— 14

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Vgl. hierzu Wilhelmine Krauss: Das Doppelgängermotiv in der Romantik. Studien zum romantischen Idealismus. Berlin 1930; Andrea Siebert: Das Doppelgängermotiv bei Tieck, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann. Eine vergleichende Studie zur Doppelgängerproblematik in der deutschen Romantik. Magisterarbeit (Masch.) Universität Osnabrück 1988, und Birgit Fröhler: Seelenspiegel und Schatten-Ich. Doppelgängermotiv und Anthropologie in der Literatur der deutschen Romantik. Marburg 2004. Der Aufbau dieser unheimlichen Welt geschieht dabei komplementär zur konsequenten Entdämonisierung der Elementarwesen. Brentano treibt diese bei Paracelsus beginnende Entwicklung entschlossen weiter, indem er das Motiv des Seelenerwerbs komplett streicht und die Elementarwesen soweit vermenschlicht, dass diese einzig aus Liebe Verbindungen mit Sterblichen eingehen. Letztlich erweisen sich die Elementarwesen dem Menschen sogar als überlegen, da sie als Teil der romantischen Geist-Natur tieferreichende Einblicke in die kosmische Ordnung besitzen. Jeder Menschenmann, der sich – wissentlich oder unwissentlich – mit einem weiblichen Elementargeist vermählt, kann insofern als ein Auserwählter angesehen werden.

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abzulesen vermag, wie viel Zeit seitdem verstrichen ist. Wie der Bericht der Mühlknappen zeigt, erweist sich der Zustand der Mühle bei Licht betrachtet schlichtweg als desaströs: [...] sie [...] versicherten mich, [...] es seien ganz dicke Bäume quer durch das Mühlrad von der entgegen gesetzten Felswand durchgewachsen und das Rad sei halb verfault. [...] Der eine sah das Korrn aus dem Mühltrichter herausgewachsen, der andere sah ein Loch im Dach, die Säcke waren vermodert und geplatzt, der Wind der durch die verfallene Mühle gestrichen war, hatte die Körner durch die ganze Gegend geweht, und rings um die Mühle standen dichte Ährenfelder (S. 134f.).

Doch nicht nur eine Renaturierung hat hier stattgefunden, der Raum um die Mühle ist im Lauf der Zeit auch zu einem gespenstischen Totenort geworden, liegen doch „statt der beiden wachsamen Hunde vor der Mühle zwei weiße von Regen und Sonne weisgebleichte Gerippe in den Hütten an Ketten“ (S. 135) und stellt sich doch des Weiteren heraus, dass „die sechs Esel des Müllers auch nichts mehr waren als Gerippe, durch deren Rippen Distelstöcke die sie sonst gefressen, frei durch wuchsen“ (S. 135). Für die Menschen in dieser archaischen „Wildnis“ ist die Zeit stehengeblieben. Die Mühlknappen beispielsweise haben kein Bewusstsein dafür, dass sie mittlerweile alte Männer geworden sind und ganze 40 Jahre verschlafen haben. Ganz ähnlich geht es den Vorfahren Radlaufs, die – in bezeichnender Inversion des puer senex-Topos16 – als kindhafte Greise vor sich hinvegetieren. In der märchenhaft-unheimlichen „Schwarzwald“-Welt lebt der Sohn neben dem Vater, dem Großvater, dem Urgroßvater und dem Ururgroßvater. Geschichte ist hier suspendiert, weil es keine temporale Sukzession gibt, sondern alle Zeitebenen in einen Raum der Gleichzeitigkeit zusammenlaufen. Diese verhängnisvolle Stillstellung von Zeit in einem verwunschenen Naturraum wird in einem Gedicht der Vorväter thematisiert: Lange haben wir gesessen, Kraut und Wurzeln viel gefressen, Neue Jahre ausgemessen, Alte Jahre viel vergessen Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Kindes, Kindes, Kindes, Kinder Kamen alle Jahr geschwinder, Wurden dennoch niemals minder. (S. 140)

Die gespenstisch wirkende Kopräsenz von fünf Generationen in ein und derselben Landschaft verdeutlicht noch einmal, dass in diesem sonderbaren „Schwarzwald“-Raum die –––––––— 16

Zum puer senex-Topos und seiner Adaption bei Brentano vgl. Gerhard Schaub: Le génie enfant. Die Kategorie des Kindlichen bei Clemens Brentano. Berlin/New York 1973, und Judith Braun-Biehl: Ausschweifendere Geburten der Phantasie. Eine Studie zur Idee des „Kindermärchens“ bei Tieck, Brentano, Jacob und Wilhelm Grimm und E.T.A. Hoffmann. Diss. Universität Mainz 1990.

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Naturgesetze mindestens teilweise außer Kraft gesetzt sind. Genau besehen handelt es sich hier um einen Verbannungsort, schließlich vermögen die Menschen, die dort eingeschlossen sind, ihn nicht aus freien Stücken zu verlassen.17 Und da sie auch nicht sterben können, ist diese ganz und gar unromantische „Waldeinsamkeit“ nichts anderes als eine limbusartige Sphäre von Untoten, ein Zombieland. Der auf den ersten Blick so märchenhaft wirkende Wunder-Raum im „Schwarzwald“ erweist sich also rasch als Schein-Idylle.18 Im Gegensatz zur konventionellen Idylle ist aber gerade der Zustand des „zeitlosen Seins“19 Zeichen für die Unerlöstheit der Figuren. Mit seiner Reise zu den Vorfahren wechselt Radlauf demnach vom vitalen Geschichtsraum Rhein, der nicht zufällig als Schauplatz von Staatsaktionen vorgeführt wird, in den agonalen Naturraum „Schwarzwald“. Während die Rheinregion durch ständige Entwicklung gekennzeichnet ist,20 was sich nicht zuletzt an der Erwähnung neuer Ortsgründungen zeigt, scheint die Zeit im „Schwarzwald“ stillzustehen.21 Dieser Stillstand der Zeit wirkt freilich nicht idyllisch, sondern bedrohlich, weil aus dem radikal entzeitlichten Raum, in den der Müller eintritt, alles wirkliche Leben gewichen ist. Radlaufs Funktion als Erlöser besteht nun darin, diesem letztlich unnatürlichen Zustand ein Ende zu machen. Die Vergangenheit muss –––––––— 17

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Zudem ist der Preis für das Verlassen dieses Fluchorts hoch: Radlaufs drei Brüder verlassen ihn mit Sprachlosigkeit geschlagen und in Tiere verwandelt, und sein Vater Christel büßt sein gesamtes Erinnerungsvermögen und damit in gewisser Weise auch seine menschliche Individualität ein. Nur Radlaufs Erlösungstat ist es zu verdanken, dass Frau Lureley die alt gewordenen Mühlknappen verjüngt und in Ritter verwandelt, die ihren (neuen) König an den Rhein begleiten dürfen. Zu den Kennzeichen der Idylle gehört nach Bachtin ja „die durch die Verwischung der Zeitgrenzen initiierte Präsenz aller Altersklassen“ an einem Ort; Judith Reusch: Zeitstrukturen in Goethes „Wahlverwandtschaften“. Würzburg 2004. S. 19. So heißt es in Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman: „Die Einheit des Ortes im Leben der Generationen schwächt und mildert alle zeitlichen Grenzen, die es zwischen den individuellen Leben wie auch zwischen den verschiedenen Phasen ein und desselben Lebens gibt. Die Einheit des Ortes führt zu einer Annäherung und Verschmelzung von Liebe und Grab [...], von Kindheit und Alter [...], sie vereinigt das Leben verschiedener Generationen, die ebendort, unter den gleichen Bedingungen gelebt und dasselbe gesehen haben“; Bachtin: Formen der Zeit im Roman (wie Anm. 3). S. 171. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt am Main 1976. S. 33. Wie dynamisch der Geschichtsraum rund um den Rhein tatsächlich ist, wird Radlauf erst bei seiner Rückkehr gewahr. Obwohl er nur kurze Zeit abwesend war, heißt es im Text: „[E]r kannte seine Heimath kaum wieder“ (S. 120). Nur in ferner Vorzeit war auch die „Schwarzwald“-Gegend noch von Entwicklungsdynamik geprägt und veränderte sich, wie es für lebendige Räume charakteristisch ist. So erzählt Frau Mondenschein: „Vor vierhundert Jahren [...] wandelte [ich] [...] hier auf dieser Insel umher, die mir besonders lieb war; aber sie war damals noch keine Insel, der Raum zwischen hier und dem Jenseitigen Ufer war ein wildes Felsenthal, und hier war eine anmuthige Bergwiese.“ (S. 160) An anderer Stelle wird die hier geschilderte Szenerie sogar zur paradiesischen Landschaftsidylle verklärt: Wir „sahen in eine ganz veränderte Gegend: das Felsenthal, ringsum hatte sich in einen See verwandelt, ein Regenbogen stand über uns aus gespannt, und Tauben schwebten über dem Spiegel“ (S. 163).

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begraben werden, damit es (wieder) Raum für die Zukunft gibt. Denn solange die Vergangenheit unerlöst weiterbesteht, kommt sie nicht zur Ruhe. Radlaufs Vorväter ersehnen deshalb nichts mehr als ihr Ende. Ihr einziger Wunsch lautet, „[d]aß uns geht die Zeit herum“ (S. 140). Die Begegnung mit seinem Nachfahren Radlauf löst denn auch beim Ahnherrn Grubenhansel große Erleichterung aus, weil sie Erlösung von einer quälenden Unsterblichkeit verspricht: „Ach Gott sei Danck! […] so sehe ich doch endlich ein Kind meines unglücklichen Ur Ur Ur Urenckels bei menschlichem Leibe, nun kann ich doch endlich hoffen des langweiligen Lebens los zu werden, und einmal zu sterben.“ (S. 131) Die Erlösung selbst besteht darin, dass Radlauf den Fluch sich ewig erneuernden Unglücks ein für allemal beendet und so die Zeit wieder in ihr Recht einsetzt: Heil dem, der die Zeit erfüllet Der die ewigen Maaße mißt Und die Pein mit Schlaf umhüllet Wenn die Schuld versöhnet ist. (S. 145 und 146)

Als Testamentsvollstrecker (seine Hauptaufgabe besteht ja darin, die Gebeine des schwarzen Hans zu bestatten) wird Radlauf zum Totengräber einer unseligen Vergangenheit, die sich fortgeerbt und der Zukunft nicht Platz gemacht hat. Indem er diese beendet und damit „die Zeit erfüllet“, beendet er aber auch den Fluch, der über dem Toten-Raum „Schwarzwald“ lag und verschafft dieser Region wieder Anschluss an das Leben. Nachdem er seine untreu gewordenen Vorväter begraben und sich auf den Rückweg begeben hat, erzählen ihm seine Urmütter ihre Lebensgeschichten. Nun kennt er die gesamte Vergangenheit und kann wieder in die lebendige Gegenwart der Rheinlandschaft eintreten und dort als König für die Zukunft seiner Untertanen Sorge tragen. Nicht zufällig bestimmt er dann das Rad zum Wappensymbol der von ihm regierten Stadt Mainz,22 ist es doch die sinnbildliche Verkörperung des Lebenskreislaufs und steht damit für Wandel und Erneuerung. Im historischen Vergleich betrachtet erweist sich die Raum/Zeit-Ordnung der Mährchen vom Rhein als reichlich eigenwilliges Konstrukt. Einerseits übernimmt Brentano in seinem Erzählzyklus vielfach Elemente aus den vertrauten Raumsemantiken romantischer Texte. So greift der Autor u. a. auf die – seit Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen topisch gewordene – romantische Bergwerksmetaphorik zurück, die ja symbolischer Ausdruck für die verborgenen Bereiche der Wirklichkeit und für die Begegnung mit dem eigenen Unbewussten ist.23 Grubenhansels „Wohnung“ beispielsweise besteht „in einem Felsenkeller [...], dessen Wände mit den wunderbarsten Kristallen, Edelsteinen, Gold- und Silbererzstufen ausgelegt –––––––— 22

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Zu den Bedeutungsdimensionen dieses heraldischen Symbols vgl. Clemens Kissel: Das Mainzer Rad, historisch und künstlerisch erläutert. Mainz 1900. Vgl. vor allem Helmut Gold: Erkenntnisse unter Tage. Bergbaumotive in der Literatur der Romantik. Opladen 1990, und Herbert Uerlings: Die Bedeutung des Bergbaus für den ‚Heinrich von Ofterdingen‘. In: Bergbau und Dichtung. Friedrich von Hardenberg (Novalis) zum 200. Todestag. Hg. von Eleonore Sent. Weimar/Jena 2003. S. 25–55.

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waren, welche von der Beleuchtung einer Lampe so herrlich durcheinander schimmerten, daß einem das Herz lachte“ (S. 131). Und in Radlaufs Begegnung mit „seinem Urvater, dem Mondenschäfer Damon“, verquickt Brentano die Bildlichkeit des Montanen zusätzlich noch mit dem aus der Barbarossa-Legende bekannten Motiv des durch Stein hindurchgewachsenen Bartes: Bald kammen wir an einen Felsen, der sich auf that, und nun stiegen wir viele Treppen hinan biß wir in einem gewölbten Saal ankamen, da stand ein großer Tisch von Gewachsenem Ertz, und oben an dem Tisch saß ein uralter Mann, er stützte sein bleiches Angesicht, auf seine zwei Hände, seine Ellenbogen ruhten auf dem Tisch, sein Silberweißer Bart war durch den Tisch durchgewachsen und Glänzte wie Asbest (S. 144).

Daneben spielt die – als Metapher für die Poesie fungierende24 – Sphäre des Wassers eine beherrschende Rolle in den Mährchen vom Rhein.25 Dies hängt natürlich damit zusammen, dass der Rhein als zentrale Bezugsgröße des Erzählzyklus fungiert und die Hauptfigur Radlauf ein besonderes Verhältnis zu diesem Fluss hat. Schließlich ist sie nicht nur „am Rhein erzeugt“ (S. 135) worden, sie wurde auch von einem Wassermann aufgezogen, und hat mit Frau Lureley eine figurale Verkörperung des Elements Wasser zur Mutter. Was Brentano offenbar besonders an der Darstellung der Sphäre unter Wasser gereizt hat, ist die damit verbundene Möglichkeit einer Verrückung der Perspektive. Schon durch den Spiegelungseffekt der Wasseroberfläche ergibt sich eine ästhetisch reizvolle Verdoppelung: Himmel oben, Himmel unten, Stern und Mond in Wellen lacht Und in Traum und Lust gewunden Spiegelt sich die fromme Nacht. Welch entzückend laues Wehen! Blumenathem, Rebendufth, Wie die Felsen ernsthaft sehen,

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Das Wasser als gestaltloses und ungreifbares, zugleich aber jede Form ausfüllendes Element besitzt die Attribute des Traumes und damit der Poesie in ihrer reinsten Form; vgl. Andrea Geffers: Stimmen im Fluss. Wasserfrau-Entwürfe von Autorinnen. Literarische Beiträge zum Geschlechterdiskurs von 1800–2000. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2007. S. 11. Siehe hierzu etwa Eva-Maria Broomer: „Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes“. Wasser-Räume und Poesie in der Romantik. In: Raumkonfigurationen in der Romantik. Eisenacher Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen 2009. S. 161– 178, und Antje Roeben: „Geheimnisse des Flüssigen“. Die Bildlichkeit des Fließens in Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“. In: Romantische Metaphorik des Fließens: Körper, Seele, Poesie. Schönburger Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen 2007. S. 143–153. Stellvertretend für die mittlerweile sehr zahlreiche Sekundärliteratur zu Nixen, Undinen und Melusinen seien hier nur genannt die Untersuchung von Beate Otto: Unterwasser-Literatur. Von Wasserfrauen und Wassermännern. Würzburg 2001, und das instruktive Brentano-Kapitel bei Andreas Kraß: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt am Main 2010. S. 226–261.

„Im Rheingau, wo jetzt Rüdesheim liegt…“

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In des Widerhalles Kluft. Rhein, du breites Hochzeitbette Himmelhohes Lustgerüst, Wo sich spielend um die Wette Stern und Mond und Welle küßt. (S. 98f.)

Mindestens ebenso reizvoll erscheint aber auch die Schilderung eines eigenen aquatischen Lebensbereichs. Ebenso wie in den Tiefen des Gesteins befindet sich auch unter der Wasseroberfläche eine eigene, dem Menschen weitgehend unbekannte Welt. Bei seiner ersten Begegnung mit dieser ihm bislang unzugänglichen Sphäre entdeckt Radlauf denn auch eine Fülle ihm höchst fremdartig vorkommender Erscheinungen: Als ich hinab gesuncken, stand ich in einer Grünen Laube von Wasserbinsen geflochten, die vier Pfähle worauf sie ruhte waren vier Korallen Bäume; rings herum standen sieben Wasserlilien, und auf jeder saß eine sehr traurige Jungfrau, in der Mitte aber war dasselbe holdseelige Weib, das ich auf dem Felsen gesehen hatte, als unser Boot unterging. (S. 141)

Die nur schwer zugängliche unterirdische Gebirgs- und die gleichfalls im Verborgenen liegende Unterwasserwelt sind allerdings beileibe nicht die einzigen Elementarräume, die in den Mährchen vom Rhein zur Darstellung gelangen. Vielmehr erweitert Brentano die traditionelle romantische Bergwerks- und Wassersymbolik der Romantik um die Elemente Luft und Feuer zu einer kosmogonischen Szenerie. Denn nur so kann die von der Naturphilosophie der Romantik26 imaginierte Allnatur in sämtlichen Erscheinungsformen vom Anorganischen bis hin zum Menschlichen und vom Kosmischen bis hin zu den kleinsten Lebewesen zur Anschauung gebracht werden. Das Ineinandergreifen und Zusammenwirken der einzelnen Elemente zeigt sich immer dann besonders deutlich, wenn die Naturbeschreibungen synästhetisch angelegt sind, wie etwa in der Schilderung des in einen Fisch verwandelten Bruders von Radlauf, der aus der Perspektive unterhalb der Wasseroberfläche berichtet: Die Sonne ließ eben ihre ersten Strahlen in den Rhein niedersincken, der wie ein fließendes Gold zitterte [Feuer], man sah die Felsen oben, und die Städte, und die Berge [Erde] und die Menschen und die Schiffe; man sah an der Felsenwand das ganze Haus der Frau Lureley hinauf bis an den blauen Himmel, wo die Vögel hin und her schwebten [Luft], man sah den Reiher niederstürzen und einen vorwitzigen Fisch holen [Wasser] (S. 112).

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Vgl. hierzu als Grundlagenstudie nach wie vor die 1963 eingereichte Habilitationsschrift von Odo Marquard: Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln 1987. Von neueren Arbeiten sei nur genannt der Aufsatz von Manfred Engel: Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur – am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002. S. 65–91.

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Wolfgang Bunzel

Es ist diese Poetisierung der Elemente, welche die Raumsemantik von Brentanos Erzählzyklus auszeichnet.27 Gewöhnlich ist die symbolische Topographie romantischer Texte ja dadurch gekennzeichnet, dass parallel zur bzw. neben der alltäglichen Philisterwelt ein poetisches Traum- oder Zauberreich existiert, das aber nur Figuren, die für das Wunderbare empfänglich sind, zugänglich ist. Die Portale zu diesem Reich befinden sich meist in Randzonen der Realität und stellen transitorische Übergangsorte mit Schwellenfunktion dar. Die Mährchen vom Rhein dagegen sind raumsymbolisch anders strukturiert, wird hier doch die Sphäre des Wunderbaren als koextensiv gedacht mit dem Raum der Wirklichkeit. Bei Brentano führt die Poesie nicht eine versteckte Nischenexistenz innerhalb einer philiströs wirkenden Alltagslebens, sondern ist eins mit jenem allbelebten und durchgeisteten Ereignisraum, der sich – aufgebaut aus den vier Elementen als Grundbausteinen einer ständig schaffenden natura naturans – vom Mikrokosmos bis zum Makrokosmos der Gestirne erstreckt. Durch seinen Charakter als Geschichtsraum, der in mythische Zeiten zurückreicht, erweist sich der Rhein als „Heimat alles Wunderbaren“28. Hier spielt sich ein säkulares Heilsgeschehen ab, das die Fluchformel widerlegt, „daß aus der Gemeinschaft der Geister mit den Menschen nur Treulosigkeit und Unglück erfolgt[ ]“ (S. 207). Zugleich erfüllt sich hier „die Prophezeihung, daß am Bingerloch durch Zusammenkunft von Katz und Ratz eine Hohe glückliche Verbindung und eine neue glückliche Zeit“ eintritt: Gute Zeit! wann Ratz und Katz Einig auf des Rheines Fluth, Hingeleiten Schatz zu Schatz, Alles wird dann werden gut. Glück, dann hält des Rades Lauf Hochzeitskranz und Krone auf. (S. 19)

Ist der Rhein anfangs nur jene Flusslandschaft, an der die Menschen noch naturnah leben und sich deshalb einige von ihnen eine Haltung der Demut gegenüber der Schöpfung bewahrt haben, so wird sie schließlich auch zur Region eines idealen Staatswesens. Mit der Verschränkung von konkreten, auf Wiedererkennbarkeit angelegten geographischen Markierungen und nur sehr ungenau umrissenen Zeitangaben partizipiert Brentanos Text an ganz unterschiedlichen Gattungstraditionen. Die zeitlich nur recht vage Festlegung –––––––— 27

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Brentano versetzt demnach mit seinem Text die Zuhörer bzw. Leser in jenen Zustand der „alten Zeiten“, als „die Thiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen“ haben, der zu Beginn von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen nur verheißungsvoll angedeutet wird; Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe. Hg. von Richard Samuel. München/Wien 1978. S. 240. Wilhelm Heinrich Wackenroder: Dichtung, Schriften, Briefe. Hg. mit Kommentar und Nachwort von Gerda Heinrich. Berlin (Ost) 1984. S. 304 (Phantasien über die Kunst). Vgl. hierzu Bernhard Gajek: Orient – Italien – Rheinlandschaft. Von der dreifachen „Heimat alles Wunderbaren“. Zu Clemens Brentanos „Lore Lay“. In: Deutsche Balladen. Gedichte und Interpretationen. Hg. von Gunter E. Grimm. Stuttgart 1988. S. 137–148, bes. S. 144.

„Im Rheingau, wo jetzt Rüdesheim liegt…“

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des Geschehens entspricht eindeutig den Konventionen der Märchenerzählung. Angaben wie: „vor undenklichen Zeiten“ markieren dabei gewöhnlich einen Handlungsraum des Wunderbaren. Dies ist grundsätzlich auch bei Brentano der Fall. Dadurch, dass er aber bestimmte verifizierbare historische Markierungen setzt – den Bau des Binger Mäuseturms, die Errichtung der Burgen Katz und Maus, die Gründung des Klosters Maria Laach sowie die Regentschaft und den Tod des Königs bzw. Erzbischofs Hatto II. –, spielt sich die Handlung nicht einfach außerhalb der Geschichte ab. Eher wird ein Bereich avisiert, in dem die Historiographie mangels überlieferter Quellen noch tastend und unsicher ist. Angesiedelt sind die Mährchen vom Rhein in einer Art von imaginärem Mittelalter, von dem sich nur sagen lässt, dass viele heute bekannte Städte am Rhein noch gar nicht gegründet sind. Lediglich Mainz und Trier existieren, wobei ein Hinweis auf ihre römische Vergangenheit bezeichnenderweise aber unterbleibt. Dies ist ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass der Autor das Geschehen dem Zugriff der Geschichtsschreibung entziehen und sich so poetische Lizenzen für das freie Erfabulieren nachmals dann belegbarer Ereignisse sichern möchte. Brentano geht also gezielt zurück zu den Anfängen lokal- und regionalhistorischer Überlieferung und knüpft seine Märchenerzählung vielfach an Sagenstoffe an, von denen sich auch meist nicht mehr sagen lässt, ob (bzw. wie viel) sie Wahres oder Erfundenes schildern. Zu diesen sagenhaften Elementen gehören die Sage vom Rattenfänger zu Hameln, die Sage vom Bau des Mäuseturms bei Bingen, die Sage von der Versenkung des Nibelungenschatzes im Rhein und die Sage von der heiligen Genoveva. Ein einigermaßen konziser zeitlicher Rahmen ergibt sich so aber nicht: So wurde Biebrich schon im Jahre 874 erstmals schriftlich als „villa biburg“ erwähnt, der Mainzer Erzbischof Hatto II. starb aber erst 970. Nochmals mehr als hundert Jahre vergingen, bis Pfalzgraf Heinrich II. 1093 das Kloster Maria Laach gründete. Die Burgen Maus (ursprünglich: Peterseck) und Katz (ursprünglich: NeuKatzenelnbogen) schließlich wurden sogar erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erbaut. Immerhin diente Burg Maus tatsächlich der Sicherung der rechtsrheinischen Besitzungen Triers gegen die Herren von Katzenelnbogen (mit ihrer linksrheinischen Festung Rheinfels), die darauf als Gegenmaßnahme wenige Kilometer stromaufwärts Burg Katz errichteten. Die historischen Ereignisse, auf die in den Mährchen vom Rhein Bezug genommen wird, erstrecken sich also über eine Zeitspanne von einem halben Jahrtausend. Indem die märchentypische Suspendierung von Zeitlichkeit mit einer genauen räumlichen Verortung der Handlung einhergeht, wie man sie sonst nur von legendenhaften Geschichtsberichten oder fiktionalen historischen Erzählungen kennt, kommt es einerseits zu einem irritierenden Gattungsmix von Elementen des Märchens, der Sage und des historischen Romans,29 andererseits zu einer Verkreuzung von narrativer Fiktion und außersprachlicher Realität. Beides trägt ästhetischen Forderungen der Frühromantik auf eigenwillige –––––––— 29

Der gattungstransgressive Charakter der Mährchen vom Rhein und von Brentanos Märchenkonzeption insgesamt schlägt sich also in der Kombination von Chronotopoi verschiedener Gattungsmuster nieder.

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Weise Rechnung, hatte Friedrich Schlegel die angestrebte „progressive Universalpoesie“ doch folgendermaßen charakterisiert: Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen [...]. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, [...] Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen30.

Brentanos Erzählzyklus nun erfüllt gleich in mehrfacher Hinsicht die Kriterien einer „progressiven Universalpoesie“:31 Er „mischt“ und „verschmilzt“ durch die extensive Integration von Verseinlagen in die Märchennarration „Poesie und Prosa“, er vereinigt mit Märchen, Roman und Sage „getrennte Gattungen“, die sich im Zuge der Ausdifferenzierung literarischer Formen voneinander abgelöst haben, „wieder“ miteinander, er stellt durch die Anknüpfung des märchenhaften Geschehens an die – topographisch konkretisierte – Realgeschichte eine Verbindung von „Poesie“ und „Leben“ her und macht so „die Gesellschaft poetisch“, und er ist mindestens in dem Sinn „progressiv“, dass seine Narration nicht nur in der jetzt überlieferten Form als unabgeschlossen zu betrachten ist, sondern als tendenziell unabschließbar gelten muss, weil die einmal begonnene Aneinanderreihung von Binnenmärchen im Prinzip endlos fortgesetzt werden kann.32 Lediglich in einer Hinsicht entsprechen die Mährchen vom Rhein dem Schlegelschen Programm nicht, verzichten sie doch darauf, die „Poesie mit der Philosophie, und Rhetorik in Berührung zu setzen“ bzw. „Genialität und Kritik“ miteinander zu vermengen. Auch wenn die Texte hier und da durchaus gewisse poetologische Züge aufweisen, sind sie doch weit davon entfernt, die Dichtung „mit der künstlerischen Reflexion“ zu „vereinigen“ und „zugleich Poesie und Poesie der Poesie“33 zu sein, wie im 238. Athenaeums-Fragment gefordert. Ganz offensichtlich bot die Märchenform Brentano eine Möglichkeit, dem für die moderne Kunst kennzeichnenden Zwang zur (Selbst-)Reflexion zu entgehen. Bezeichnenderweise sind es ja gerade „Neugier, und [...] Tiefsinn“ (S. 177), welche die Männer des Starenberger Geschlechts allesamt ins Unglück stürzen. Die angestrebte „progressive Universalpoesie“ verwirklicht Brentano also nicht mehr mit Hilfe des Romans, sondern in der Form des Märchens, die ihm noch deutlich größere poetische Lizenzen gewährt. Raumsymbolisch bietet ihm diese Gattung schließlich sogar die Möglichkeit, einen Gegenentwurf zum biblischen Mythos vom Sündenfall zu gestalten. Wie in der biblischen Paradiesgeschichte geht es auch in den Mährchen vom Rhein um die Übertretung von durch –––––––— 30 31

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Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente (wie Anm. 2). Bd. 2. S. 114. Apel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass „Brentano in vielem in die poetische Tat umsetzte, was Friedrich Schlegel programmatisch forderte“; Friedmar Apel: Die Zaubergärten der Phantasie. Zur Theorie und Geschichte des Kunstmärchens. Heidelberg 1978. S. 144. Siehe hierzu das Kapitel „Die Märchen vom Rhein – Fragment volkstümlicher Endlosigkeit“ bei Christine Mielke: Zyklisch-serielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie. Berlin/New York 2006. S. 276–282. Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente (wie Anm. 2). Bd. 2. S. 127.

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höhere Wesen ausgesprochenen Verboten und die Folgen des menschlichen Willens zum Wissen.34 Bei Brentano sind es „Neugier, und Sucht nach Glanz, Leichtsinn und Plauderei“ (S. 177),35 die dem paradiesischen Zustand einer harmonischen „Gemeinschaft der Geister mit den Menschen“ ein Ende bereiten und so das anfängliche Glück zerstören. Doch ist der Sündenfall für ihn kein Verhängnis, dem der Mensch anheimfällt und das sich nur durch göttliche Gnade wieder aufheben lässt. Vielmehr ermöglichen Liebe, Pietät und Selbstlosigkeit eine Sühnung der Vergehen der Vorväter. Demnach kann sich der Mensch selbst erlösen, allerdings nur, wenn und indem er von sich absieht und sein Wirken auf andere ausrichtet. Nicht zufällig hat Brentano am 21. Januar 1810 in einem – zur Entstehungszeit der Mährchen vom Rhein geschriebenen – Brief an Philipp Otto Runge die Überzeugung geäußert, Aufgabe des „Künstler[s]“ sei es, „das verlorne Paradies [...] zu konstruieren“36. Genau dies nun tut er in den Mährchen vom Rhein – allerdings mit der Besonderheit, dass es bei ihm nicht nur ein verlorenes, sondern auch ein wiedererlangtes Paradies gibt. Dies schlägt sich auch in den zum Einsatz kommenden Raumkonzepten nieder. An die Stelle der biblischen Vorstellung vom Paradies als einem abgegrenzten, gartenartigen Raum, der – zumindest nach dem Sündenfall – von Wächtern umstellt ist, setzt er das romantische Bild geist(er)beseelter Allnatur, die durch die kulturschaffende Tätigkeit des Menschen noch perfektioniert wird. Das Paradies ist demnach überall, die Rheingegend fungiert lediglich als topographisches Anschauungsbeispiel dafür. Andere Regionen mögen landschaftlich und klimatisch weniger begünstigt sein, ein „Jenseits von Eden“ aber gibt es in Brentanos Märchenwelt nicht.

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Nicht zufällig gibt Brentano in seinem – auf Giambattista Basiles La Polece (aus dem Pentamerone) zurückgehenden – Märchen von dem Baron von Hüpfenstich einer Figur den Namen Willwischen. Pregel hat darauf hingewiesen, dass bei Brentano „die curiositas als Begriff einer Geisteshaltung (Wißbegier, Allwisserei, Neugier)“ fungiert; Dietrich Pregel: Das Kuriose als Kategorie dichterischer Gestaltung. Diss. (Masch.) Universität Göttingen 1957. S. 150. Clemens Brentano: Briefe. Hg. von Friedrich Seebaß. Nürnberg 1951. Bd. 2. S. 14.

Thomas Borgstedt

Der Raum des romantischen Sonetts Der Raum des Gedichts und die Verräumlichung des Sonetts Das Interesse an Fragen der kulturellen Ordnung des Raumes und an Konzepten der Räumlichkeit wurde im Zusammenhang der sogenannten ‚spatial‘ und ‚topographical turns‘ ins Zentrum der kulturwissenschaftlichen Debatten gerückt.1 Obgleich dabei literarische Konzeptionalisierungen stets eine wichtige Rolle spielten, waren die medialen und generischen Spezifika des Literarischen im kulturwissenschaftlichen Kontext von eher nachgeordneter Bedeutung.2 Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gerät dagegen bei der Analyse von Fragen der Räumlichkeit verstärkt deren Abhängigkeit von den formalen Bedingungen der Texte und damit von deren Gattungsvoraussetzungen in den Blick. Die Darstellung von Räumlichkeit unterliegt im Fall von Dramentexten anderen Bedingungen und sie hat andere Möglichkeiten, als im Fall von Erzähltexten oder von Gedichten. Im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Gattungspoetik lässt sich ein gesteigertes Interesse an der Analyse der Konstruktion von Räumlichkeit – neben der theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Raum3 – vor allem im Blick auf die Erzählliteratur feststellen. Dies ist nicht zuletzt auf das starke Systematisierungsinteresse der modernen Erzähltheorie zurückzuführen. Im Gefolge der strukturalistischen Narratologie, die sich vornehmlich mit den chronologischen Verhältnissen von Erzähltexten beschäftigt hatte, war hier ein Defizit in der Theoretisierung des Räumlichen sichtbar geworden,4 um dessen Behebung man sich inzwischen verstärkt bemüht.5 Von der Sache her gerechtfertigt ist eine Beschränkung auf die narrative Raumkonstitution allerdings nicht. Für den Bereich der Lyrik sind ähnlich intensive Anstrengungen dennoch bislang kaum zu beobachten. Dafür könnte man den theoretisch weniger elaborierten –––––––— 1

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Sigrid Weigel: Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2 (2002). S. 151–165. Vgl. die Einleitungstexte und die Beiträge des DFG-Symposienbandes: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart [u. a.] 2005. Einen Überblick über raum- und gattungsbezogene Theorieansätze von Bachtin bis Agamben gibt Reinhold Görling: Raum und Gattung. Topologie des Romans. Ebd. S. 355–370. Vgl. stellvertretend: Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main 32005. S. 285–308. Dies zeigt ein beliebiger Blick in narratologische Standardwerke und Einführungen von Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1994 bis Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin [u. a.] 22008. Mit einem hohen Systematisierungsanspruch geschieht dies bei Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin [u. a.] 2009.

Aurora 70/71 (2010/11). S. 81–99

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Stand der Lyriktheorie verantwortlich machen.6 Ursächlich ist allerdings auch, dass der Diskurstyp lyrischer Texte nicht klar bestimmt ist, da Lyrik letztlich alle denkbaren Diskurstypen erlaubt. Lyrische Texte sind kommunikationstheoretisch sehr viel unbestimmter als beispielsweise narrative. Das Spektrum kommunikativer Möglichkeiten rangiert hier vom Monologischen bis zu dialogischer oder geselliger Rede, vom emotionalen Ausdruck bis zum argumentativen Raisonnement, von der Deskription bis zur Narration, von der Lautpoesie bis zur visuellen Poesie, es kann auf allen Arten von Sprechakten aufbauen, usw. Zugleich sind diese vielfältigen Möglichkeiten aber nicht spezifisch für den lyrischen Text. Die Möglichkeiten zur Entfaltung räumlicher Relationen im Gedicht sind also äußerst vielschichtig und zugleich wenig spezifisch. Wohl aus diesem Grund taucht die Frage der Räumlichkeit auf der Ebene der Lyrikheorie zunächst gar nicht auf. An dieser Situation wird sich wenig ändern, solange man ausschließlich nach den spezifischen Bedingungen für lyrische Texte fragt. Man wird die Möglichkeiten der Darstellung von Räumlichkeit im Gedicht nicht erfassen können, solange man in traditioneller Weise von Verskriterien oder von der Konstruktion spezifisch lyrischer Kommunikationsweisen – etwa im Sinn der ‚emotiven Funktion‘ Roman Jacobsons – auszugehen versucht.7 Aus diesem Grund erweist sich die Anwendung narratologischer Fragen auf lyrische Texte auch für die Frage nach der Räumlichkeit im Gedicht als ausgesprochen fruchtbar. Weiterführend scheint auch der Schritt zu sein, den Rüdiger Zymner am Beginn seines Definitionsversuchs der Lyrik unternimmt, indem er Lyrik als „Repräsentation von Sprache“ fasst.8 Diese Bestimmung ist zwar in dieser – hier verkürzten9 – Form nicht lyrikspezifisch und nicht distinktiv, doch erlaubt sie es, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass lyrische Texte diskurstypologisch unspezifisch sind und die verschiedensten Kommunikationsweisen erfüllen können. Mit dem Begriff der Repräsentation enthält sie zugleich eine Bestimmung, die den Aufführungscharakter lyrischer Texte, ihre ritualisierte ‚Uneigentlichkeit‘ und Exemplarizität zum Ausdruck bringt. Indem Lyrik als Repräsentation von Sprache bestimmt wird, bleibt deren umfassendes kommunikatives Spektrum im Blick. Ein nächster Schritt könnte nun darin bestehen, die vielfältigen Möglichkeiten zu beschreiben, die lyrische Texte zur Konstitution von Räumlichkeit besitzen. Unter der Voraussetzung, dass Gedichte Sprache ganz allgemein als exemplarische Rede oder als exemplari–––––––— 6 7

8 9

Dies diskutiert zuletzt Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn 2009. S. 7–9. Um ein eindeutiges Verskriterium bemüht sich das Buch von Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 1989. Die Zuordnung der Lyrik zu einem ‚Makrogenre‘, das durch eine ‚reflexive‘ Kommunikationsfunktion konstituiert werde, wird beispielsweise von der Narratologin Monika Fludernik vorgeschlagen: Genres, Text Types, or Discourse Modes? Narrative Modalities and Generic Categorization. In: Style 34 (2000) H. 2. S. 274–292, bes. S. 281ff. Zymner: Lyrik (wie Anm. 6). S. 140. Vollständig heißt es, Lyrik sei „Repräsentation von Sprache als generisches Display sprachlicher Medialität und damit als generischer Katalysator ästhetischer Evidenz“. Weder die starke Fokussierung des Medialen noch die Hinzufügung eines Ästhetik-Kriteriums scheint mir zwingend zu sein, weshalb ich beides für die vorliegende Fragestellung nicht weiter berücksichtige (wie Anm. 8).

Der Raum des romantischen Sonetts

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schen Text präsentieren, wird klar, warum dabei Räumliches zunächst nicht im Vordergrund steht. Ein Liebesgedicht, ein Abschiedsgedicht, ein Einsamkeitsgedicht, ein Geselligkeitsgedicht entfaltet spezifische Sprechakte und kommunikative Situationen. Dabei steht weder Beschreibendes noch Erzählendes im Vordergrund, und insofern sind diese Gedichttypen nicht primär mit der Konstitution von Räumen beschäftigt. Für ein Liebesgedicht benötige ich keinen Raum, ich benötige lediglich ein kommunikatives Gegenüber. Für einen narrativen oder dramatischen Text wäre das so nicht umsetzbar, und damit handelt es sich nun doch wiederum um ein lyrikspezifisches Merkmal: Gedichte können ohne Raum auskommen. Gleichwohl spielen Räume für Gedichte eine sehr vielfältige Rolle. In der Erzählung kann man beispielsweise Räumlichkeit einerseits durch direkte geographische Deixis oder andererseits durch die topographische Beschreibung von Merkmalen eines Schauplatzes evozieren.10 Beides spielt auch für die Lyrik eine immense Rolle und konstituiert ganze Untergattungen. Die unzähligen Gedichte auf Städte und Landschaften oder Nationen wären hier zu nennen. Solche Texte durchziehen die gesamte Geschichte der Lyrik. Stärker als im Fall der geographischen Deixis – also etwa Martin Opitzens Vom Wolffesbrunnen bey Heydelberg, um ein willkürliches Beispiel zu nennen – kommen die medialen und materialen Bedingungen des lyrischen Textes im Fall der topographischen Beschreibung ins Spiel, die auch mit der Deixis einhergehen kann. Es bedarf nun drittens zur lyrischen Beschreibung räumlicher Gegebenheiten einer bestimmten Textmenge, um das räumliche Nebeneinander in einem sprachlichen Nacheinander abzubilden. Diese Textmenge erscheint im geschriebenen Gedicht wiederum als ein typografisches Nebeneinander, das durch die Überschaubarkeit des lyrischen Textes selbst eine räumliche Qualität besitzt. Die relative Kürze vieler Gedichte ist also für ihre Auseinandersetzung mit räumlichen Gegebenheiten nicht unerheblich. Dabei wiederum handelt es sich um ein lyrikspezifisches Merkmal. Murray Krieger analysiert dies als die spezifische ‚Ekphrasis‘ des Gedichts: The poem can uniquely order spatial stasis within its temporal dynamics because through its echoes and its texture it can produce together with the illusion of progressive movement - the illusion of an organized simultaneity.11

Auf diese Argumentation verweist Elmar Schenkel in seiner Studie zu Regionalität und Raumbewusstsein in der Lyrik: Der tendenziell geringe Umfang des modernen Gedichts [...] verkürzt die Zeitdimension des Lesevorgangs und macht den Text vor allem durch mehrmaliges Lesen zu einem fast räumlichen Gebilde. Aufgrund der temporalen Folgen von sprachlichen Einheiten kann es jedoch nur bei einer Annäherung

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Knappe Hinweise bei Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt 2006. S. 52–54. Murray Krieger: The Play and Place of Criticism. Baltimore 1967. S. 125.

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Thomas Borgstedt an den Raum bleiben. Durch ein komplexes Verweis- und Wiederholsystem ist aber das Gedicht in der Lage, vom linearen Zeitfluß auf ein räumliches Neben- oder Untereinander hinzuwirken.12

Die Einbeziehung der materialen Gegebenheiten des lyrischen Textes – seine mögliche typografische Flächigkeit, seine häufige Kürze und kurzfristige Wiederholbarkeit der Lektüre – verweist damit auf eine dritte, sehr spezifische Qualität lyrischer Räumlichkeit. Neben der geographischen Deixis und der topographischen Deskription hält das Gedicht eine eigene, medial generierte Räumlichkeit bereit. Diese erscheint, wie hier bei Krieger und Schenkel beschrieben, als illusionärer Effekt einer verkürzten temporalen Dynamik oder – wenn man die mögliche Schriftlichkeit des Gedichttextes einbezieht – als materialer Effekt seiner typographischen Gestalt.13 Dieser Aspekt der Raumgestaltung im Gedicht ist gattungsspezifisch, da er vom Merkmal der Kürze abhängt, und er rückt bestimmte – kurze – Gedichtformen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zugleich treibt er ein Moment der poetologischen Selbstreflexion des Gedichttextes hervor. Wo das kurze Gedicht als räumlich gegebener Text ein ikonisches Abbild seines Gegenstands zu geben versucht, eignet ihm zugleich ein Moment der ‚Metaisierung‘: Es beginnt, sich selbst abzubilden und von sich selbst zu sprechen. Dieser Vorgang ist nicht zwingend, doch bezeichnet er eine genuine Möglichkeit des lyrischen Textes, der sich der Beschreibung räumlicher Gegebenheiten widmet. Innerhalb der Romantik mit ihrer Präferenz für liedhafte und für narrativ-balladeske Formen einerseits und für das Sonett andererseits kommt dem Sonett mit seiner genrespezifischen Kürze in dieser Hinsicht eine Sonderrolle zu. Diese Sonderrolle betrifft nicht nur das generelle Faktum der Kürze. Das Sonett zeichnet sich zudem durch eine numerische Ordnung aus, die es im Konzert der literarischen Formen einzigartig macht. Es ist im Umfang strikt begrenzt und fixiert, was es von den sangbaren Liedformen deutlich abhebt, bei denen man immer noch eine Strophe anhängen kann und wo jedes neue Lied wieder anders geordnet ist. Dies ist nicht so beim Sonett. Hier bewirkt die feste Verszahl eine festgelegte textliche Ausdehnung des Gedichts, die auch optisch immer gleich aussieht. Die ebenfalls festgelegte innere Gliederung des Sonetts wirkt dabei wie ein Barcode und erlaubt die Identifikation eines Sonetts aufgrund rein äußerlicher, graphischer Merkmale. Sonette können visuell wahrgenommen werden, ohne dass ein einziges Wort gelesen wird. Sie sind aus diesem Grund in der Moderne des 20. Jahrhunderts zu einem Lieblingsgenre der experimentellen und visuellen Poesie geworden. Dies ist das Resultat jener eigentümlichen numerischen Ordnung im Sonett, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Die numerische Ordnung erlaubt es, das Sonett in andere, nichtsprachliche Medien zu transferieren, indem man ihre –––––––— 12

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Elmar Schenkel: Sense of Place. Regionalität und Raumbewußtsein in der neueren britischen Lyrik. Tübingen 1993. S. 33. Vgl. zum grundsätzlichen medialen Doppelcharakter literarischer Texte Verf.: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009. S. 40–49; hinsichtlich der Medialität der Lyrik ähnlich: Zymner: Lyrik (wie Anm. 6). S. 24; von einem Vorrang der Schriftform geht – im Gegensatz zur phonozentrischen Tradition – dagegen Dieter Burdorf aus: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart 21997. S. 22–24.

Der Raum des romantischen Sonetts

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Numerik im anderen Material reproduziert. Die numerische Ordnung des Sonetts bildet die Voraussetzung seiner Transmedialität.14 Sie bildet dabei aber zugleich die Voraussetzung für die oben diskutierte Räumlichkeit des Sonetts selbst als eines genuinen Merkmals seiner Poetik. Dies wiederum macht es zu einem privilegierten Untersuchungsobjekt im Kontext der Frage nach der Gestaltung von Räumlichkeit im Gedicht der Romantik. Die numerische Ordnung des Sonetts und ihre ‚Graphizität‘ wurde nicht immer in gleicher Weise wahrgenommen. Manche Barockdichter versuchten sich in Bildsonetten, insgesamt war aber die Frühe Neuzeit mit ihrer epigrammatischen Auffassung des Sonetts kaum an dessen numerischer Konstitution interessiert.15 Deutlich herausgestellt wurde diese numerische Konstitution erst von der Romantik. Für die Karriere des Sonetts in der Moderne ist in hohem Maß August Wilhelm Schlegel verantwortlich, der in seinen Vorlesungen eine sehr eigenwillige und wirkungsvolle moderne Theorie des Sonetts entworfen hat. Diese wird bis heute für mehr oder weniger verbindlich gehalten. Schlegel hebt dabei ganz entschieden die numerische Ordnung des Sonetts hervor. Dies unterscheidet ihn von seinen Vorläufern im 18. Jahrhundert, die sich von der starren Schematik der Sonettistik zu befreien versuchten, indem sie die Form wie etwa Gottsched als Lied interpretierten.16 Diese Sonettauffassung erlaubte es, die strikten Reimschemata weniger streng zu fassen. Sie sollten vielmehr möglichst stark variiert und aufgebrochen werden. Das Sonettverständnis ist im 18. Jahrhundert infolgedessen in formaler Hinsicht sehr liberal. Dies gilt dann nicht mehr für August Wilhelm Schlegel, der das Sonett am Ende des Jahrhunderts aufwerten und die Reimordnung rational begründen will. Er formuliert zu diesem Zweck eine mathematische Begründung der Sonettform. Damit betont er gegenüber der liedhaft-musikalischen Auffassung des Sonetts dessen Tektonik. 4 – 4 + 3 – 3 lautet seine verbindliche Formel. Sie gewährleistet gleichsam eine Klassizität des Sonetts und gibt diesem zugleich eine mehr oder weniger räumliche Interpretation. Schlegel findet dafür ein sehr treffendes Bild: Soll ich es durch ein Gleichniß aus der Architektur deutlicher machen so denke man sich einen länglicht viereckigen Tempel, die zweyten Seitenwände, welche ihn einschließen, von der schlichtesten Bauart und ohne Verzierung sind die Quartetts; die schmalere Hinterseite gleicht zwar auf gewisse Weise dem Fronton, ist aber doch am wenigsten in der Erscheinung hervorzutreten bestimmt: diese würde dem ersten Terzett entsprechen; die Vorderseite endlich krönt wie das letzte Terzett, und schließt das Ganze,

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15 16

Vgl. Verf.: Die Zahl im Sonett als Voraussetzung seiner Transmedialität. In: Sonett-Künste. Mediale Transformationen eines klassischen Genres. Hg. von Erika Greber und Evi Zemanek. Dozwil, Thurg., im Druck. Vgl. Verf.: Topik des Sonetts (wie Anm. 13). S. 211–268. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst: Anderer Besonderer Theil. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Joachim Birke und Brigitte Birke. 6. Bd. 2. Teil. Berlin/New York 1973. S. 531– 537; vgl. Verf.: Topik des Sonetts (wie Anm. 13). S. 367f.

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Thomas Borgstedt giebt dessen Bedeutung im Auszuge, und zeigt an den stützenden Säulen und dem deckenden Giebel die reichste Architektonische Pracht, jedoch immer mit einfacher Würde.17

Diese architektonische Wahrnehmung der Gedichtform ist bei Schlegel noch nicht in bestimmte Gedichte umgesetzt. Zunächst bildet sie lediglich ein Gleichnis der von Schlegel propagierten formalen Regeln und der tektonischen Blockbildung der Quartette und Terzette. Inwiefern wirkt es sich nun aber auf konkrete Sonette aus, dass diese gleichsam als statische Bauformen betrachtet werden? Ich werde im Blick darauf im Folgenden eine erste Sichtung der romantischen Sonettproduktion vornehmen. Die Raumkonstruktion des Sonetts wird zunächst eher zögerlich vorangebracht. Stellt man sich das mögliche Ausmaß an Raumgestaltung in einem Sonett als skalierbar vor, dann sind Steigerungen möglich: Es sind stärker und weniger stark räumlich gestaltete Sonette beschreibbar.

Das Sonett als Reflexionsraum in Gemälde- und Skulpturensonetten Die Sonette der frühen Romantiker waren zunächst vornehmlich gesellig orientiert. Andichtungen an die Dichterkollegen und programmatische Reflexionen beherrschen neben Übersetzungen etwa Petrarcas durch August Wilhelm Schlegel zunächst das Feld. Einschlägig für eine spezifische Raumsemantik sind als erstes die Gemäldesonette, für die der italienische Barockdichter Giambattista Marino mit seiner Gedichtsammlung La Galleria aus Madrigalen, Sonetten und Kanzonen das Vorbild gegeben hat. Diese Gemäldegedichte empfehlen sich für die Romantiker als Modell, da die Auseinandersetzung mit der Malerei der Renaissance und des Barock einen entscheidenden Impuls der romantischen Kunstreflexion darstellte. August Wilhelm Schlegel reflektiert bei seinen frühen Versuchen im Gemäldesonett – den Geistlichen Gemählden und den Gemählden – sogleich auf die mediale Differenz von Malerei und Dichtkunst. Der Dichtkunst spricht er dabei die Möglichkeit der reflexiven Überbietung der Malerei zu. Gemäldegedichte sollen also nicht nur Gemälde beschreiben, sie sollen diese vielmehr sprachlich-reflexiv im Sinne einer Vereinigung der Künste ergänzen.18 Eines dieser Gemäldegedichte bittet sich Schlegel in einem Brief von Ludwig Tieck als Leiharbeit aus. Es handelt sich um das Sonett auf die Io von Correggio. Dabei merkt er in seinem Brief an, Tieck solle es „ein wenig strenge“ arbeiten, damit es für sein eigenes durchgehen könne19. In den Werkausgaben ist es dabei tatsächlich geblieben. Man muss das Sonett zumindest beiden Autoren zuschreiben (vgl. die Abb.). –––––––— 17

18 19

August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik [1803–1827]. Textzusammenstellung von Ernst Behler. Mit einer Nachbemerkung von Georg Braungart. Paderborn [u. a.] 2007 (Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 2,1). S. 166. Vgl. Verf.: Topik des Sonetts (wie Anm. 13). S. 436f. Briefe an Ludwig Tieck. Hg. von Karl von Holtei. Bd. 3. Breslau 1864. S. 232.

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August Wilhelm Schlegel / Ludwig Tieck: Io von Correggio (1800) Verhüllend will sich Nebel um sie legen, Doch bleibt vom Nacken nieder zu den Sohlen Der zarte Bau der Glieder unverhohlen, Und Schön’res noch erräth der Blick verwegen. Entzücken scheint sich durch sie hin zu regen, Und, vor Entzücken, tief’res Athemholen. Und, seh’ ich recht? es kommt ein Mund verstohlen Dem Rosenantlitz aus dem Duft entgegen. Dein Looß, Ixion, hat sich hier verkehret: Du wolltest kühn der Göttin Leib umfangen, Und eine Wolke blieb in deinen Armen. Doch Io’s Reiz hat andern Trug gelehret, Daß eine Wolk’ in liebendem Verlangen, Und in der Wolk’ ein Gott sie muß umarmen.20

Das Sonett widmet sich in den Quartetten einer Beschreibung des Bildgegenstandes. Das hier gezeigte Bild aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum war den zeitgenössischen Ausgaben natürlich nicht beigegegeben. Im Sonett kommen nun zunächst die räumlichkörperlichen Verhältnisse zur Sprache: Der Nebel legt sich demnach „um sie“ (V. 1), man sieht die nackte Io „vom Nacken nieder zu den Sohlen“ (V. 2), es ist von ihrem „Blick“ die Rede (V. 4) und von dem „Duft“, der sie als Wolke umarmt (V. 8). In den Terzetten dagegen wendet sich das Sonett von der Bildbeschreibung ab und einer mythologischen Ergänzung zu: Es wird der Mythos von Ixion als oppositiver Vergleich zitiert, um in einem sententiösen Schlussvers die Göttlichkeit der erotischen Begegnung auf dem Bild hervorzuheben. Diese mythologische Ergänzung ist dem Bild nicht immanent. Das Sonett zielt mithin nur partiell auf eine Beschreibung der Darstellung auf dem Gemälde. Seine Pointe bildet dagegen die sprachlich-reflexive, in diesem Fall mythologische Überbietung, zu der die Zweiteilung des Sonetts genutzt wird. Die räumliche Darstellung bleibt partiell, hier auf die Quartette beschränkt. Das ist charakteristisch für die frühromantischen Gemäldesonette. Weitergehend sind da jene Kunstwerksonette, die Clemens Brentano zur gleichen Zeit in seinen Godwi-Roman eingearbeitet hat. Diese Sonette spielen eine handlungskonstitutive Rolle, da sie wichtigen weiblichen Figuren des Romans zugeordnet sind und deren essenzielle Charakterisierung bilden. Dabei sind sie zugleich systematisch an Heiligenmotive ge–––––––— 20

August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. 12 Bde. Hg. von Eduard Böcking. Hildesheim, New York 1971. Reprogr. Nachdruck der Ausgabe. Leipzig 1846. Bd. 1. S. 330.

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knüpft. Bei den Figuren handelt es sich um Godwis Mutter Marie und deren Schwester Annonciata sowie um Godwis Geliebte Violette. Die Darstellungen folgen deutlich den Ikonographien der Verkündigungsszene sowie denen der gefallenen Maria Magdalena. Das Denkmal der Violette schmücken gleich vier Sonette, die ihre Geschichte behandeln. Das Bildnis der Marie und der Annonciata werden jeweils in einem Sonett behandelt. Diese sind sehr viel stärker bildbeschreibend, als andere Gemäldesonette der Frühromantiker: Clemens Brentano: Mariens Bild Im kleinen Stübchen, das von ihrer Seele, An reiner Zierde uns ein Abbild schenket, Sitzt sie und stickt, den holden Blick gesenket, Daß sich ins reine Werk kein Fehler stehle. Was ihres Busens keuscher Flor verhehle Und ihre Hand in stillem Fleiße lenket, Die Lilie an ihrer Seite denket, Das Täubchen dir in ihrem Schooß erzähle. Durch’s Fenster sehen linde Sonnenstrahlen, Die Josephs Bild, das eine Wand bedecket, Mit ihrem frohen Glanze heller mahlen, Und wär der Schein der Taube zu vereinen, Die sie herabgebückt im Schooß verstecket, Marie würde Mutter Gottes scheinen.21

Es handelt sich um eine Zimmerszene, wobei das Sonett einerseits von dem Raum und andererseits von der Beschreibung der Gestalt der Marie strukturiert wird: In Vers 1 wird das „Stübchen“ genannt, während die Terzette durch die Nennung von „Fenster“ und „Wand“ eröffnet werden (V. 9f.). Das Sonett schreitet mithin topographisch den Innenraum des Zimmers ab und beschreibt das Bild dieses Zimmers, das als „Abbild der Seele“ der Marie angesprochen wird (V. 1f.). Eingeschrieben ist diesem Raum die Beschreibung der Gestalt der Marie, die nach dem Muster von traditionellen Schönheitsbeschreibungen körperlich vom Kopf bis zum Schoß wahrgenommen wird: von ihrem „Blick“ (V. 3) über ihren „Busen“ (V. 5), die „Hand“ (V. 6), ihre „Seite“ (V. 7) bis hin zu ihrem „Schooß“ (V. 8/13). Die Raumimagination ist integral und erfasst das gesamte Sonett. Gleichwohl ist auch hier zu sehen, dass im letzten Vers mit dem Konditional des „Mutter Gottes scheinen“ ganz im Sinne Schlegels doch noch eine reflexiv-imaginative Ebene eingezogen wird. Die bloße Bildwahrnehmung wird damit überschritten und die Romanfigur Marie in ihrer Ähn–––––––— 21

Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman. Hg. von Ernst Behler. Stuttgart 1995. S. 372.

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lichkeit zur Mutter Gottes angesprochen. Dennoch wird das Sonett zu einer integralen Raumimagination und kann selbst als „Stübchen“ (V. 1) erscheinen. Brentano verknüpft die räumliche Entfaltung des Bildes auf intensivere Weise mit der imaginativen Ebene, als dies Schlegel tat, indem er beides auf Quartette und Terzette verteilte.

Empfindungsraum: Sonettstruktur zur Landschafts- und Seelenschilderung Angesichts des Gedichts von Brentano muss darauf hingewiesen werden, dass die alte Tradition der Schönheitsbeschreibung der Frau, die in ihrer körperlichen Abschilderung vom Kopf bis zu den Füßen ebenfalls eine räumliche Imagination schafft, bei den Romantikern keine große Nachfolge gefunden hat. Das Interesse der Romantiker am Petrarkismus bezieht sich gerade nicht auf die Schönheitsbeschreibung der unerreichbaren Dame.22 Es zielt vielmehr entschieden auf die Empfindung des Liebenden. Für diese greift es zentral auf Landschaftsmotive zurück, die in exemplarischer Weise als Empfindungsraum vorgestellt werden. Dennoch findet man solche Seelenlandschaften im Sonett in weitaus geringerem Maß, als man dies vielleicht erwarten würde. Während die Frühromantiker in Landschaftssonetten noch nicht sehr versiert sind, finden sich bei Eichendorff eine ganze Reihe von Beispielen, die aber zugleich wieder recht schematisch zu verfahren scheinen. Eichendorff entwirft gern antagonistische Landschaften, in denen ein Land der Poesie einem Land des profanen Alltags gegenübergestellt wird, wozu sich dann das Dichtersubjekt jeweils in ein Verhältnis setzt. Dabei werden Landschaftselemente eher deiktisch evoziert als detailliert beschrieben. Die eher abstrakten, antagonistischen Landschaftsentwürfe lassen sich andererseits gut in die dialektisch verstandene Sonettstruktur Schlegelscher Provenienz einpassen. Ich gebe nur ein Beispiel: Joseph von Eichendorff: Der Wegelagerer (1839) Es ist ein Land, wo die Philister thronen, Die Krämer fahren und das Grün verstauben, Die Liebe selber altklug f e i l s c h t mit Hauben – Herr Gott, wie lang willst du die Brut verschonen! Es ist ein Wald, der rauscht mit grünen Kronen, Wo frei die Adler horsten, und die Tauben Unschuldig girren in den kühlen Lauben, Die noch kein Fuß betrat – dort will ich wohnen!

–––––––— 22

Vgl. Verf.: Petrarkismus. In: Petrarca. 1304–1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca petrarchesca. Hg. von Reiner Speck u. Florian Neumann. Köln 2004. S. 127–151; bes. S. 144ff.

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Thomas Borgstedt Dort will ich nächtlich auf die Krämer lauern Und kühn zerhaun der armen Schönheit Bande, Die sie als niedre Magd zu Markte führen. Hoch soll sie stehn auf grünen Felsenmauern, Daß mahnend über alle stillen Lande Die Lüfte Nachts ihr Zauberlied verführen.23

Im Wegelagerer ist das erste Quartett dem „Land der Philister“ gewidmet (V. 1) und das zweite dem freien „Wald“ (V. 5). Die Verweise bilden eine geographische Deixis und bilden zugleich eine topographische Raumimagination, indem jeweils eine Position des Oben – „Philister thronen“ (V. 1) und „grünen Kronen“ (V. 5) – einem Unten korrespondiert – „Krämer fahren“ (V. 2) und „Lauben“ (V. 7) –, was den oppositiven Raum konstituiert. Bezogen auf diesen Raum finden sich emphatische Sprecheraussagen, im ersten Fall fluchend (V. 4), im zweiten Fall mit dem Ausruf: „Dort will ich wohnen!“ (V. 8). Die Terzette schließen eine Dichterimagination an, die der gewaltsamen Eroberung der schönen Frau aus dem Bereich des Unten des ersten Quartetts gewidmet ist: der „niedre[n] Magd“ (V. 11). Diese wird im Schlussterzett ins Oben auf die „hohen Felsenmauern“ versetzt (V. 12), wo sie das Lied der Poesie zu singen vermag. Dem Gegensatz von Land und Wald tritt ein Überbietungsbild der felsigen Höhe gegenüber, in dem sich Poetisches mit Metaphysischem verschränkt. Die Raumimagination ist dabei in das dialektische Sonettschema aus These, Antithese und Synthese eingelassen, es ist diesem aber auch unterworfen. Das Sonett selbst bleibt bei all dem diskursiv, es bringt die Rede eines emphatischen Ich zum Ausdruck. Die Imagination des Raums ist seinem Diskurs eingeschrieben und untergeordnet. Dies ist ein ausgesprochen geläufiges Verfahren romantischer Landschaftssonettistik.

Der Raum des Sonetts Die bisher untersuchten Beispiele für eine räumliche Interpretation der Sonettstruktur beschränkten sich darauf, räumliche Gegebenheiten deiktisch oder topographisch auf die dialektisch verstandene Sonettform zu applizieren. Die Form selbst wurde dabei bevorzugt durch die Ordnung von Gegensätzen bestimmt, wie sie Schlegel entworfen hatte. Landschaften und Räume wurden dem zugeordnet beziehungsweise unterworfen. Solche Raumordnungen sind allerdings nicht zwingend ans Sonett gebunden. Sie thematisieren nicht die tektonisch verstandene, räumlich interpretierbare Ordnung des Sonetts selbst. Damit dies geschehen kann, scheint eine poetologische Selbstreferenz der Sonettform nötig zu sein, wie –––––––— 23

Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. (= Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer. Fortgeführt und herausgegeben von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann [fortan: HKA]). Bd. I/1. Gedichte 1. Teil. Text. Hg. von Harry Fröhlich und Ursula Regener. Tübingen 1993. S. 116.

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sie eingangs als Effekt einer ‚Metaisierung‘ erörtert wurde. Im Fall des Sonetts ist eine solche Selbstreferenz als Thema seit dem Mittelalter ein signifikanter Bestandteil der Gattung.24 ‚Sonett-Sonette‘ sind beinahe so alt wie das Sonett selbst. Auch die Romantiker haben sich der Sache angenommen, wie in dem berühmten Zwei Reime heiß’ ich viermal kehren wieder von August Wilhelm Schlegel oder dem spöttischen Ein nett honett Sonett so nett zu drechseln (1805) von Ludwig Tieck.25 Einen Vorgriff auf die visuellen Sonette der Moderne bietet der satirische Klingklingel-Almanach, der im Rahmen des sogenannten romantischen Sonettenkriegs 1810 von Jens Baggesen vorgelegt wird.26 Er zeigt eine rein graphische Anordnung der Sonettteile, ohne dass es sich dabei bereits um eine visuelle Sonettauffassung handeln würde. Dargestellt ist vielmehr das von der sprachlichen Füllung abstrahierte Reimschema, das den hohlen Formalismus des Sonetts desavouieren soll. Die genannten Beispiele haben allerdings nur indirekt mit der Räumlichkeit des Gedichts selbst zu tun. Eine wirklich bemerkenswerte intrinsische Verbindung der Sonettform mit Landschaftsmotiven präsentiert allerdings Goethe mit dem Eröffnungsgedicht seines Sonettzyklus von 1807. Johann Wolfgang Goethe: Mächtiges Überraschen (Sonette I) (1815) Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale Dem Ozean sich eilig zu verbinden; Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen, Er wandelt unaufhaltsam fort zu Tale. Dämonisch aber stürzt mit einem Male – Ihr folgten Berg und Wald in Wirbelwinden – Sich Oreas, Behagen dort zu finden, Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale. Die Welle sprüht und staunt zurück und weichet, Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken; Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben. Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet; Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.27

–––––––— 24 25 26

27

Vgl. Paul Goetsch: Sonette über das Sonett. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 38 (1997). S. 261–280. Ludwig Tieck: Gedichte. Hg. von Ruprecht Wimmer. Frankfurt am Main 1995. S. 397f. Der Karfunkel oder Klingklingelalmanach. Hg. von Jens Immanuel Baggesen. Tübingen o.J. [1809]. Frontispiz, abgebildet in Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln u. a. 2002. S. 697, sowie in Sonett-Anthologien. Johann Wolfgang Goethe: Werke. Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. München 101981. Bd. 1. S. 294.

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Mächtiges Überraschen ist eines der berühmtesten deutschen Sonette des 19. Jahrhunderts. Nicht zuletzt liegt das gerade auch an seiner innovativen Interpretation der Räumlichkeit des Sonetts. Lange Zeit hat man dieses Sonett als ein Gedicht über die dämonischen Elementarkräfte der Natur und über die Macht der Liebe gelesen.28 Das alles ist es natürlich auch, doch es ist darüber hinaus auch ein Gedicht über die Sonettform selbst. Dem Zyklus voran steht das Motto „Liebe will ich liebend loben, / Jede Form sie kommt von oben“: Goethe bezieht hier Stellung im Sonettenstreit, indem er den poetischen Wert der Sonettform gegen deren klassizistische Kritiker verteidigt.29 Formal entsprechen seine Sonette vollkommen der Schlegelschen Sonettauffassung. Er verteidigt damit die romantische Partei und vertritt sie geradezu. Das Eröffnungssonett wählt ein imposantes Naturbild, das als eine symbolische Auseinandersetzung mit der Form des Sonetts selbst aufgefasst werden kann. Die asymmetrische Anordnung der Teile des Sonetts, die sukzessive Verkürzung der vierversigen Quartette zu den nur noch dreiversigen Terzetten, erscheint im Bild des gestauten Stromlaufs unmittelbar abgebildet. Wenn es am Mitteleinschnitt des Sonetts heißt: „Die Welle sprüht, und staunt zurück und weichet“ (V. 9), dann lässt sich das direkt auf den Strom der Verse und auf ihre sich verkürzenden „Wellen‘‘ beziehen. Damit wird auch auf markante Weise die Schlegelsche Sonett-Interpretation unterstrichen, die dem Mitteleinschnitt einen signifikanten Umbruch zugesprochen hatte.30 Das Sonett besitzt vielfältige Konnotationen und hat zahlreiche Interpretationen erfahren. Es sind intertextuelle Bezüge darin verborgen, so der immer wieder zitierte zu Goethes Sturm-und-Drang-Hymne Mahomets-Gesang, die ebenfalls einen poetischen Flusslauf beschreibt. Ferner findet sich ein Bezug zu Petrarcas Rhone-Sonett Rapido fiume, das mit dem Fluss auf das erotische Geschehen verweist. Und schließlich gibt es Entsprechungen zum zweiten Sonett des Goetheschen Zyklus Freundliches Begegnen, das wiederum enge Parallelen zu Petrarcas Einsamkeitssonett Solo et pensoso aufweist. Dazu kommen biographische Bezüge zu Briefstellen der Bettine Brentano, die sich selbst als Damm im Lebensstrom Goethes imaginiert hat und damit womöglich das Bild der Stauung verantwortet. So wichtig diese Zusammenhänge sind, so haben sie doch nur indirekt mit dem räumlichen Aspekt des Sonetts zu tun, um den es hier gehen soll.31 –––––––— 28

29

30

31

Vgl. besonders Paul Hankamer: Spiel der Mächte. Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt. Tübingen 1942. S. 53ff.; dazu Verf.: Goethes Sonett „Mächtiges Überraschen“. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hg. von Helmut Brackert und Jörn Stückrath. Reinbek 1992. S. 198–209. Vgl. zum Sonettenkrieg Heinrich Welti: Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung. Mit einer Einleitung über Heimat, Entstehung und Wesen der Sonettform. Leipzig 1884. S. 192 ff.; wichtige Quellentexte finden sich bei Jörg-Ulrich Fechner (Hg.): Das deutsche Sonett. Dichtungen. Gattungspoetik. Dokumente. München 1969. S. 338–366. Vgl. für die These bereits Verf.: Goethes Sonett (wie Anm. 28). S. 207f.; zustimmend Katrin Jordan: „Ihr liebt und schreibt Sonette! Weh der Grille!“ Die Sonette Johann Wolfgang von Goethes. Würzburg 2008. S. 149–151. Vgl. Verf.: Poesie des Lebens, Poesie der Poesie. Die Wiedergeburt des Sonetts bei Gottfried August Bürger, August Wilhelm Schlegel und Johann Wolfgang Goethe. In: Erscheinungsformen des Sonetts. Hg. von Theo Stemmler und

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Der Bezug des Naturmotivs auf die Sonettform selbst versteht den Gegenstand des Sonetts im Sinne der Goetheschen Symbolpoetik, insofern das Bild des gehemmten Stromlaufs zugleich auf die Gedichtform verweist und diese zur Darstellung bringt.32 Und genau darin liegt auch seine eindrucksvolle Räumlichkeit beschlossen. Das Sonett selbst ist der Form gewordene Ausdruck jenes Einbruchs, der im Gedicht zugleich ein Einbruch der dämonischen Natur und ein Einbruch der Liebe ist. Dieses Geschehen wird von den Abschnitten des Sonetts symbolisch repräsentiert: Das erste Quartett entwirft bereits den weiten Raum des Stromlaufs von der Quelle im „umwölkten Felsensaale“ bis zum „Ozean“. Das zweite Quartett ist dem ebenso dynamischen Bergsturz der Oreas gewidmet, der den „Lauf“ des Flusses „hemmt“ und zu einem neuen räumlichen Bild formt, der „weite[n] Schale“, die bereits die überschaubare Form des Sonetts anspricht. Ebenso raumbezogen gestaltet sind die Terzette: Das erste benennt und vollzieht die dynamische Bewegung der Hemmung und des Zurückschwappens, des ‚Sich-selbst-Trinkens‘ der Welle, während das zweite die Beruhigung und Entstehung des Sees als eines ‚neuen Lebens‘ beschreibt. Damit ist auf Dantes Vita Nuova und also explizit auf die Gattungstradition der Liebessonettistik zurückverwiesen. Zugleich benennt die ‚Hemmung‘ des Stromlaufs das entscheidende Sonettmerkmal der fixierten Verszahl und der festgeschriebenen Strophenform. Der Stromlauf und die Stauung, die ‚weite Schale‘ und der zurückgedeichte See sind allesamt räumliche Bilder für die Form selbst. Neben dem erotischen und dem poetischen Bezug des Naturbilds ist auch ein metaphysischer, emanativer Bezug eingearbeitet, der die Aussage des Mottos aufgreift, dass auch die Sonettform ‚von oben‘ komme. Diesen Bezug stellt das Motiv der Spiegelung her, das im ersten und im letzten Abschnitt auftaucht und damit das alte Sonettmerkmal der ‚Verklammerung‘ beider Sonettteile erfüllt: Weil das Sonett als ursprüngliche Einzelstrophe keine strophisch-musikalische Wiederholung kennt, da Oktett und Sextett formal unterschiedlich sind, eignet diesen beiden Teilen eine immanente Tendenz zur Dissoziation, zum Auseinan–––––––—

32

Stefan Horlacher. Tübingen 1999. S. 201–243. Hier S. 232–238 und Jordan: „Ihr liebt und schreibt Sonette!“ (wie Anm. 30). S. 126–151. Gerhart von Graevenitz hat sich in einer ambitionierten Interpretation grundsätzlich gegen eine Deutung der Goetheschen Sonette im Sinne der zeitgenössischen Symbolpoetik ausgesprochen: G. v. Graevenitz: Gewendete Allegorie. Das Ende der „Erlebnislyrik“ und die Vorbereitung einer Poetik der modernen Lyrik in Goethes Sonett-Zyklus von 1815/1827. In: Allegorie. Konfigurationen von Text, Bild und Lektüre. Hg. von Eva Horn u. Manfred Weinberg. Opladen/Wiesbaden 1998. S. 97–117. Er schließt seine Deutung an den Begriff der Allegorie im Sinne von Heinz Schlaffer und Walter Benjamin an, um Goethes Sonette zum Ausweis einer Poetik der Moderne zu machen. Demnach sei der Bruch, den das Eröffnungsgedicht in seiner Mitte inszeniere, gegen das „Pindarische Fließen der natürlichen Genie- und Ausdrucks-Kunst“ (S. 100) und im Weiteren dann auch gegen „das ‚Symbolische‘ der natürlichen Ausdrucks-Kunst“ (S. 101) gerichtet. Er repräsentiere eine Wendung von der Einheits- und Präsenzphilosophie der Symbolpoetik zu einer ‚Artistik‘ des ‚Allegorischen‘. Die Argumentation ist voraussetzungsreich und bleibt in ihrem Textbezug sehr abstrakt. Für die Analyse einer Poetik der Räumlichkeit erweist sich der Bezug auf den geschichtsphilosophisch gedeuteten Allegoriebegriff als wenig anschließbar.

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derfallen. Seit den frühesten Sonetten werden dem innerhalb der Gattungstradition immer wieder integrative, verklammernde Motive entgegengesetzt, die Anfang und Ende von Sonetten verknüpfen.33 Hier geschieht dies durch das Spiegelmotiv, das noch dazu eine gegenläufige Bewegung zum Stromlauf beschreibt: Während sich am Anfang in Vers 3 der „Grund“ des Stroms spiegelt, sind es am Ende in Vers 13 die „Gestirne“ in der Oberfläche des Sees. Die Bewegung der Spiegelung geht von unten nach oben, die des Flusses von oben nach unten. Es ist eine doppelte Raumbewegung, die die integrative Räumlichkeit des Gedichts noch unterstreicht. Die Sonettabschnitte sind jeweils von dem räumlichen Landschaftsereignis ausgefüllt und sind mit ihm identisch. Landschaft wird nicht bloß denotiert und aufgerufen, sie wird poetisch aufgeführt und gewinnt einen performativen Charakter. Diese räumliche Performativität trägt dem poetischen Raumpotential der schlegelschen Sonettdeutung unmittelbar Rechnung, und zwar nicht nur durch den Nachvollzug des dialektisch-rationalen Schemas. Das Gedicht geht in seiner räumlichen Ordnung vollständig auf. Seine Räumlichkeit ist integral. Es beschreibt ein Raumgeschehen und stellt dieses zugleich in der Form des Sonetts dar. Zeichen und Bezeichnetes fallen zusammen, worin sich auch die Forderung der Symbolpoetik exemplarisch erfüllt. Goethes Gedicht setzt die schlegelsche Vorstellung vom idealen Sonett auf eine Weise um, wie sie von Schlegel selbst und auch von seinen Nachfolgern kaum realisiert wurde. Goethe nimmt in seinem Sonettzyklus in vielfacher Weise auf die Gattungstradition Bezug, nicht nur durch die Petrarca-Referenzen, sondern auch etwa durch die Umsetzung dialogischer Briefsonette. Für die Kommunikativität dieser Sonette spielt ihre räumliche Konstitution keine Rolle. Als Thematisierung von Räumlichkeit lässt sich dagegen das eher wenig beachtete spielerische Sonett Nr. XII mit dem Titel Christgeschenk verstehen. Johann Wolfgang Goethe: Christgeschenk (Sonette XII) (1807) Mein süßes Liebchen! Hier in Schachtelwänden Gar mannigfalt geformte Süßigkeiten. Die Früchte sind es heil’ger Weihnachtszeiten, Gebackne nur, den Kindern auszuspenden! Dir möcht’ ich dann mit süßem Redewenden Poetisch Zuckerbrot zum Fest bereiten; Allein was soll’s mit solchen Eitelkeiten? Weg den Versuch, mit Schmeichelei zu blenden! Doch gibt es noch ein Süßes, das vom Innern Zum Innern spricht, genießbar in der Ferne, Das kann nur bis zu dir hinüberwehen.

–––––––— 33

Aldo Menichetti: Implicazioni retoriche nell’invenzione del sonetto. In: Strumenti critici 11 (1975) H. 1. S. 1–30, bes. S. 28; vgl. auch Verf.: Topik des Sonetts (wie Anm. 13). S. 130f.

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95 Und fühlst du dann ein freundliches Erinnern, Als blinkten froh dir wohlbekannte Sterne, Wirst du die kleinste Gabe nicht verschmähen.34

Bei dem Sonett handelt es sich um eine Geschenkbeigabe. Goethe legte es vermutlich einem Geschenkpaket bei, das der Verleger Frommann nach einem Besuch bei Goethe vom 26. bis 28. Dezember 1807 für seine Frau mitnahm. Der Text schließt an die Gattungstradition des Geschenkepigramms an, das ein übersendetes Objekt bedichtete und begleitete. Es erinnert damit an die enge Verbindung von Sonett und Epigramm seit der Frühen Neuzeit. Die entsprechende Referentialisierung „Hier in Schachtelwänden“ (V. 1) lässt sich nicht nur auf die Geschenkschachtel beziehen, sondern ebenso auf den schachtelartigen Charakter des Sonetts selbst.35 Dann bezeichnet es dessen vier Teile ähnlich wie in Schlegels Tempelvergleich als vier Wände, hier allerdings als die Wände einer Schachtel. Als Geschenkepigramm tritt es spielerisch-leicht auf, wendet diesen gesellig-spielerischen Charakter dann aber ins Innerliche und Substanzielle, wie es für den Zyklus und die in ihm vollzogene Sonett-Apologie durchweg charakteristisch ist. Die Gestalt des Sonetts bildet hier aber nicht nur die vier Seitenwände der Geschenkschachtel ab, sondern sie reproduziert zugleich das Verhältnis von Verpackung und Inhalt in doppelter Weise. Während das erste Quartett die Schachtel und ihren materiellen Inhalt – das Weihnachtsgebäck für die Kinder – benennt, thematisiert das zweite Quartett einen weiteren Inhalt – das vorliegende Sonett – als „poetisch[es] Zuckerbrot“ (V. 6) für die Empfängerin selbst, die galant als „Liebchen“ (V. 1) bezeichnet wird. Zugleich wird die gesellige Zusammenstellung aus Geschenkgabe und epigrammatisch-sonettistischer Beigabe als „Schmeichelei“ (V. 8) aus „Eitelkeiten“ (V. 7) verworfen. In den Terzetten wird das derart als äußerlich markierte Geschenk aus wirklichen und poetischen „Süßigkeiten“ (V. 2) nun durch eine innerliche, substantiellere Gabe ergänzt, durch eine ebenfalls ‚süße‘ Kommunikation „vom Innern Zum Innern“ (V. 9/10). Dies greift die Tradition der Liebes-Fernkommunikation auf, wie man sie – u. a. im ‚Westwind‘-Motiv – ebenfalls aus der Tradition des Petrarkismus kennt, neben Petrarca in Deutschland etwa von Martin Opitz oder von Paul Fleming. Mit einem zitierenden Rückbezug auf die Sonette II – mit dem Ausdruck „freundliches Erinnern“ (V. 12) – und I – mit dem Vers „Als blinkten froh dir wohlbekannte Sterne“ (V. 13) – wird dieser als substantiell bezeichnete Gehalt des aus der Ferne gesendeten Geschenksonetts an die unmittelbare Gegenwart des geliebten Gegenübers zurückgebunden. Damit kommen in diesem Sonett wie in einigen anderen des Zyklus – vor allem in den Zweiflersonetten XIV und XV – auch die Vorbehalte der Sonettkritiker gegen die artifizielle Form zum Ausdruck. Diese Vorbehalte werden zugleich – partiell – entkräftet. Eine Schmeichelei bleibt das vorliegende Sonett aber doch. Mit der Schachtelmetapher inszeniert –––––––— 34 35

Goethe: Werke. Bd. 1 (wie Anm. 27). S. 300. Graevenitz: Gewendete Allegorie (wie Anm. 32), bezieht es allgemein auf das Benjaminsche „KästchenMotiv“, nicht jedoch auf die Sonettform (S. 111); vgl. auch Jordan: „Ihr liebt und schreibt Sonette!“ (wie Anm. 30), S. 242–248.

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Goethe dabei ein räumliches Bild der Form, das eher dessen Kleinheit und spielerischen Charakter markiert, als dass es auf seine poetische Dignität zielte, wie dies Schlegels Tempelvergleich unternahm. Die Wahrhaftigkeit des Gefühls ist dem Sonett hier nicht intrinsisch eingeschrieben, sie erscheint vielmehr als eine zusätzliche Beigabe, die in den Terzetten evoziert werden muss. Eine letzte Distanz des ‚Klassikers‘ Goethe zur artifiziellen Sonettform bleibt hier bestehen. Die integrative Raumphantasie des Sonetts, wie sie Goethe in Mächtiges Überraschen vorgeführt hat, ist eine faszinierende Möglichkeit des Umgangs mit der Form, die deren Potenzial an eine Grenze treibt. Überbietungen des Goetheschen Modells dieser romantisch-sonettistischen Raumimagination finden sich am gelungensten wohl unter den Dinggedichten Rainer Maria Rilkes. Ihre Evokation räumlich gegebener Objekte ermöglicht eine weitere Intensivierung der sonettistischen Raumphantasie, wobei die dabei angestrebte Entsubjektivierung nochmals über Goethe hinausgeht. Bei diesem war das Strombild im weiteren Fortgang seines Sonettzyklus auf ein subjektbezogenes Liebesgeschehen ausgerichtet. Der Stromlauf und der Einbruch der Bergnymphe entsprach dem Einbruch des Eros in den Lebenslauf des Dichters. Dies machte das zweite Sonett der Reihe – Freundliches Begegnen – mit seinem Rückgriff auf Petrarcas Einsamkeitssonett Solo et pensoso deutlich genug. Solche Subjektivität ist in Rilkes Dinggedichten absichtsvoll eliminiert. In unsere Reihe von romantischen Raumphantasien des Sonetts passt seine Römische Fontäne besonders gut. Rainer Maria Rilke: Römische Fontäne. Borghese (1906) Zwei Becken, eins das andre übersteigend aus einem alten runden Marmorrand, und aus dem oberen Wasser leis sich neigend zum Wasser, welches unten wartend stand, dem leise redenden entgegenschweigend und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand, ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend wie einen unbekannten Gegenstand; sich selber ruhig in der schönen Schale verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis, nur manchmal träumerisch und tropfenweis sich niederlassend an den Moosbehängen zum letzten Spiegel, der sein Becken leis von unten lächeln macht mit Übergängen.36

–––––––— 36

Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 1: Gedichte. Erster Teil. Frankfurt am Main 1955. S. 529.

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Rilke löst sich durch seine Auseinandersetzung mit der französischen Sonetttradition vom Schlegelschen Formdiktat. Er schreibt hier ein formvollendetes Sonett, das gegen Schlegel durchweg opponiert: so mit den kreuzgereimten Quartetten, die nach Schlegel zwingend umarmend hätten sein müssen, mit den alternierenden Reimgeschlechtern und den verhaltenen Enjambements, was Schlegel beides zu französisch und deshalb zu ‚unpoetisch‘ war, mit dem fehlerhaften Terzettreimschema, bei dem der c-Reim ‚Schale‘ ungereimt bleibt, dafür aber der d-Reim dreimal wiederkehrt: Cdd EdE. Das ungereimte Wort ‚Schale‘ evoziert unüberhörbar Goethes Bild der ‚weiten Schale‘ für die Form des Sonetts. Das tut insgesamt auch das Motiv des Wasserlaufs, das zugleich mannigfache Traditionen der Gattung herbeizitiert, von Ronsards A une fontaine bis zu Opitzens bereits erwähntem Brunnensonett. Mit der Römischen Fontäne wählt Rilke ein Kunstobjekt als Kunstsymbol. Bei seiner Beschreibung des im Gegensatz zum Goetheschen Bild des Stromlaufs statischen Objekts des Brunnens kommt der vieldimensionalen Räumlichkeit die entscheidende Bedeutung zu. „Zwei Becken, eins das andere übersteigend / aus einem alten runden Marmorrand“ (V. 1f.) ist von Beginn an ein Bild der Sonettform und ihrer zweigeteilten Gestalt. Es verweist dabei zugleich semantisch auf deren lange poetische Tradition, auf das ‚Alte‘, aus dem es hervorgeht. Jeden Abschnitt des Rilkeschen Sonetts konstituiert eine doppelte Raumbewegung: Dem sich leise neigenden Wasser des oberen Beckens (V. 3) antwortet das unten stehende im ersten Quartett (V. 4), dem im zweiten wiederum die Spiegelung des ‚Himmels‘ als ein ‚Oben‘ korrespondiert (V. 7). Das erste Terzett ergreift dann die Dimension der ‚Breite‘ im Bild der ‚Wasserkreise‘ (V. 10), die nach außen streben, sich dort wiederum abwärts „niederlassend an den Moosbehängen / zum letzten Spiegel“ (V. 12f.). Dieser Spiegelcharakter des unteren Beckens greift wiederum erneut die Bewegung nach oben auf und bindet die Terzette an die Quartette zurück. Auch der ‚Spiegel‘ verweist wieder auf Mächtiges Überraschen und damit auf die Überbietung der dort entworfenen Raumphantasie des Sonetts. Rilkes Sonett ist ebenfalls integrativ und geht in der Raumgestaltung seines Objekts vollständig auf. Mehr Räumlichkeit in einem Sonett scheint kaum möglich. Eine Grenze der Raumphantasie der Form scheint erreicht. Gleichwohl gibt es bei Rilke eine ganze Reihe solcher faszinierender Umsetzungen lyrischer Räumlichkeit.

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Thomas Borgstedt

Der ironische Raum Eine neue, über das bisher Vorgestellte hinausgehende Dimension der Raumgestaltung im Sonett stellt schließlich die visuelle Sonettkunst des 20. Jahrhunderts dar, von der eingangs die Rede war, die aber nur noch mittelbar zum vorliegenden Thema gehört. Ich will deshalb mit einer späten Replik auf unsere Reihe von Wassersonetten schließen, die von Robert Gernhardt stammt, und die weit weniger Beachtung erfahren hat, als sein berühmtes Sonettenschmäh-Sonett.37 Gemeint ist sein Gedicht Wortschwall aus der Sammlung Weiche Ziele: Robert Gernhardt: Wortschwall (1994) Erst tropft es Wort für Wort. Dann eint ein Fließen Solch Tropfen in noch ziellos vagen Sätzen, Die frei mäandernd durst’ge Ganglien netzen, Aus welchen wuchernde Metaphern sprießen Und wild erblühn. Und sich verwelkend schließen, Nun Teil der Wortflut, wenn auch nur in Fetzen, Das will vermengt zur Sprachbarriere hetzen, Um sich von Satz zu Absatz zu ergießen, Bis tief ins Tal. Dort füllen Wortkaskaden Ganz ausgewaschne, sinnentleerte Becken, In welchen doch seit alters Dichter baden. Daß dies Bad sinnlos ist, kann die nicht schrecken: Ein Wortschwall reicht, um die maladen Waden Mit frischer Schreit- sprich Schreiblust zu begnaden.38

Auch das ist ein Spottsonett über das Sonettieren, doch es badet sehr virtuos in der aufgerufenen Tradition der fluvialen Sonett-Sonettistik. Dabei wendet Gernhardt die Bildlichkeit wieder explizit auf die Sprache zurück und spricht eben vom metaphorischen Fließen der Worte. Der Ausdruck „Wort“ kommt in allen vier Abschnitten vor (V. 1, 6, 9, 13), dazu „Satz“ (V. 8) oder „Sätze[]“ (V. 2), „Metaphern“ (V. 4) und die „Schreiblust“ (V. 14). Der Sonetteinschnitt wird als „Sprachbarriere“ (V. 7) thematisiert, worin deutlich der Bezug zu Goethes Dammsonett zum Ausdruck kommt. Aber auch Rilke wurde fleißig integriert. Die Opposition der erblühenden und sich verwelkend wieder schließenden Metaphern sowie die Rede von den „ausgewaschne[n], sinnentleerte[n] Becken“ (in denen Dichter baden, –––––––— 37

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Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs mit dem Eröffnungsvers: „Sonette find ich sowas von beschissen“ (aus: Wörtersee, 1981). In: Robert Gernhardt: Gedichte 1954–1997. Vermehrte Ausgabe, Zürich 1999. S. 116f. Robert Gernhardt: Gedichte 1954–1997(wie Anm. 37). S. 412.

Der Raum des romantischen Sonetts

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V. 10f.), verweist unverkennbar auf Rilke. Gernhardt hat unseren Weg offenbar bei seinem Wortschwall-Gedicht auch abgeschritten und hat die Motivik ins explizit Poetologische zurückgeholt. Die Raumphantasie zersetzt sich allerdings. Bis auf die zentrale Formulierung „Bis tief ins Tal“ am Einschnitt zu den Terzetten (V. 9) werden die räumlichen Verhältnisse kaum explizit thematisiert. Sie sind lediglich in der Reminiszenz an die Vorgänger enthalten. Gernhardts Sonett wendet sich zurück ins Argumentative, in die Darstellung einer Rede. Die Bildlichkeit vermag das Gedicht nicht mehr zu tragen, sie wird vielmehr zum Gegenstand der Erörterung. Das Sonett schließt auf einer Invektive gegen die schöngeistigen Dichter, deren wundersame Raumgebilde sich als bloßer sinnentleerter Wortschwall entlarven. Die umfassende und integrative Raumphantasie des Sonetts erweist sich mithin als eine sehr bestimmte Tradition und als eine bestimmte Möglichkeit der Sonettdichtung, die sich gattungsgeschichtlich keinesfalls als dominant zeigt. Sie ist dennoch in der Schlegelschen Sonettkonzeption angelegt, die die tektonischen Elemente des Sonetts in den Vordergrund gerückt hat. Der größere Teil der romantischen Sonettistik bewegt sich demgegenüber gleichwohl im Rahmen des Argumentativen und Dialektischen der sonettistischen Rede. Raum wird dem oft unter- und eingeordnet. Dass der Raum des Sonetts ins Zentrum einer Bildphantasie rückt und emphatisch dargestellt wird, bleibt jener Traditionslinie vorbehalten, die diese Bildphantasie mit selbstreferentiellen, poetologischen Bezügen ausstattet. Sie gelangt zu einem Höhepunkt in der neoromantischen Dingsonettistik Rainer Maria Rilkes. Eine logische Fortsetzung findet sie in der visuellen Sonettkunst des 20. Jahrhunderts. Ihr frühes Meisterstück aber ist das Eröffnungsgedicht des Goetheschen Sonettzyklus.

Ralf Junkerjürgen

Raum und Raumkonzepte im Theater Calderóns Raumvorstellungen haben sich seit der Entdeckung Amerikas als so brüchig erwiesen, dass wir ihnen kaum mehr trauen. Zu oft wurden sie erweitert, sei es durch die schrittweise Kartierung der Welt, sei es durch das Eindringen in Luft-, Meer- und Welträume. Die Ausweitung hat sich dabei als zentrale Maßeinheit des mobilen Fortschritts erwiesen, der danach beurteilt wird, wer als erster wie tief in unbekannte Räume vorstößt. Raumgrenzen existieren daher nur noch in der technischen Praxis, kaum aber mehr in der menschlichen Vorstellung, bzw. sind mit der Frage nach der Unendlichkeit des Universums in unerfahrbare Fernen verschoben worden. Weitgehend ungeachtet dieser allgemeinen Expansion in die Grenzenlosigkeit sind lokale Räume weiterhin anhand von Grenzziehungen ausgemacht worden, wobei sich solche Verhandlungen in den letzten zweihundert Jahren auch in Spanien vor allem um Fragen der Moral und der Identität drehten. Als symbolisches Feld leisten die Künste einen entscheidenden Beitrag zu solchen Raumentwürfen, unter denen Literatur und Film aufgrund ihres chronotopischen Ordnungsprinzips eine herausragende Stellung einnehmen. So wurde der Stadt-Land-Gegensatz mal konservativ im Sinne einer moralischen Überlegenheit des Landes (Fernán Caballero, La Gaviota 1849) oder mal progressiv im Sinne einer Fortschrittlichkeit der Stadt (Benito Pérez Galdós, Doña Perfecta, 1876) ausgedeutet. Wenig später waren es Vertreter der sogenannten Generation von 1898, die wie Unamuno in der kastilischen Landschaft die Ursache des spanischen Wesens erkennen wollten. Mit Pérez Galdós entstand außerdem der Madrid-Roman, ein Großstadtpanorama, das die Literatur des 20. Jahrhunderts zur Mythenquelle und zum Erfahrungsort moderner Unübersichtlichkeit weiterentwickelte, wofür der Nobelpreisträger Camilo José Cela schon im Titel seines Hauptwerks La Colmena (1951) die Metapher des Bienenkorbes verwendete.1 Gemeinsam scheint solchen kosmologischen und lokalen Raumvorstellungen zu sein, dass sie uns durch ihren historisch erfahrenen Wandel als verhandelbar und damit mobil erscheinen. An dem Gefühl der Unsicherheit, das damit verbunden ist, lässt sich erspüren, wie weit sich unsere Vorstellungen von denjenigen des spanischen Siglo de oro entfernt haben. Denn der kosmologische und der lokale Raum waren im 17. Jahrhundert noch ebenso statisch wie zweifach strukturiert. Aufgrund der dualistischen Anlage der Raumvorstellungen misstraute man zwar auch im Barock den lokalen Räumen, aber nur insofern als sie wie alles –––––––— 1

Zur Madrid-Literatur siehe weiterführend Dieter Ingenschay: Vom (Über-)Leben und Hinterfragen des ‚madrileñismo‘. Postdiktatoriale ,Nachbilder‘ der spanischen Kapitale bei Francisco Umbral und Luis Antonio de Villena. In: Katja Carrillo Zeiter und Berit Callsen (Hg.): Berlin – Madrid. Postdiktatoriale Großstadtliteratur. Berlin 2011. S. 51–65. Hier S. 52ff.

Aurora 70/71 (2010/11). S. 101–112

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Ralf Junkerjürgen

Diesseitige unter dem Verdacht des Scheinbaren standen und lediglich trügerisches Abbild sein mochten. Auch in das Theater von Pedro Calderón de la Barca sind solche Raumkonzeptionen eingeschrieben. Nicht zuletzt, weil er neben Lope de Vega als der bedeutendste Dramatiker des Goldenen Zeitalters gilt, das viele Literaturgeschichten mit seinem Tod 1681 enden lassen, können seine Stücke als exemplarisch angesehen werden, haben sie doch das literarische Bild des 17. Jahrhunderts entscheidend geformt. Nachdem im Jahre 1623 sein erstes Stück aufgeführt wurde, sollte Calderón fast 60 Jahre lang das Theaterleben Spaniens mitbestimmen, nicht zuletzt weil er sich die Gunst des Theaterliebhabers König Philipp IV. erwerben konnte, der ihn 1637 für seine Verdienste zum Santiago-Ritter ernannte. Die kulturwissenschaftlich inspirierte intensive Auseinandersetzung mit Raumkonzeptionen in den letzten zwei Jahrzehnten hat eine Fülle von semantischen Raumanalysen in den Künsten hervorgebracht. Allerdings stand das Theater bisher weniger im Fokus der Forschung als die Narrativik, was wohl auch damit zusammenhängen dürfte, dass der Raum in Theaterstücken einen „doppelten Boden“ hat, weil der semantische Raum sich in zwei Stufen realisiert, einmal als Konzept des Autors im Text und zweitens als Konzept des Regisseurs in der Inszenierung. Die Inszenierung wird dabei zur konkreten Realisierung einer Vorlage, die nicht primär für die Lektüre geschrieben wurde. Calderón ist sich dieser Problematik durchaus bewusst, wie wir dem Prolog zur ersten Druckausgabe seiner autos sacramentales aus dem Jahre 1677 entnehmen können, der übrigens seine einzige theatertheoretische Schrift darstellt. Dort weist er gerade auf die räumlichen Leerstellen bei der Lektüre hin: Parecerán tibios algunos trozos; respecto de que el papel no puede dar de si ni lo sonoro de música ni lo aparatoso de las tramoyas, y si ya no es que el que lea haga en su imaginación composición de lugares.2 Einige Abschnitte werden fade erscheinen in der Hinsicht, dass das Papier von sich aus weder den Klang der Musik noch die Pracht des Bühnenbilds wiedergeben kann, es sei denn der Leser stellt sich vor, wie die Örtlichkeiten zusammengesetzt sind. (Üb. R.J.)

In der Tat waren die autos sacramentales als visuelle Spektakel angelegt, wie weiter unten noch ausgeführt werden soll, so dass eine Analyse des Raumkonzepts immer eine inszenatorische Ebene mitzubedenken hat, was nicht ganz einfach ist angesichts der Tatsache, dass Calderón seinen Stücken in der Regel keine Regieanweisungen beifügte.3 –––––––— 2 3

Zit. n. Alexander A. Parker: Los autos sacramentales de Calderón de la Barca. Barcelona 1983. S. 21. Manfred Tietz merkt in diesem Zusammenhang zu den autos sacramentales an: „Sie auf ihre bloße Textkomponente zu reduzieren und diesen ,Lesetext‘ dann außerhalb des ganzen Theaterlebens als eigenständige theologische oder existentiell philosophische Darstellungen zu analysieren, ist deshalb so problematisch, weil sie als theatergerechte und publikumsbezogene Illustrationen allgemeiner Lehren konzipiert wurden.“ (Pedro Calderón de la Barca: El gran teatro del mundo. In: Volker Roloff und Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.): Das spanische Theater vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1988. S. 179–200. Hier S. 196).

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Außerdem steht der Raum bei Calderón, und nicht nur bei ihm, in Abhängigkeit zur Gattung, und zwar in doppelter Hinsicht: Erstens weil in jeder, der von Calderón bedienten Gattung thematisch bestimmte Raumvorstellungen inhärent waren, zweitens weil die Gattungen an verschiedenen Theater- bzw. Bühnentypen aufgeführt wurden. Die Gattungsabhängigkeit des Raumes impliziert, dass die dramatische Formensprache im Siglo de oro eine ziemlich große Homogenität aufwies, zunächst, weil sie nicht nach Originalität, sondern nach kunstreicher Erfüllung der Konventionen beurteilt wurde. Dementsprechend sind die autos sacramentales in der Regel Auftragsarbeiten gewesen. Calderón hat daher häufig gar nicht selbst Stoffe erfunden, sondern ältere Vorlagen aktualisierend bearbeitet, ein Verfahren, das er als refundición bezeichnete, wobei er mitunter weite Teile übernahm. Was die sprachliche Gestaltung anbetrifft, so ist Calderón dem sogenannten conceptismo zuzurechnen, einer rhetorisch anspruchsvollen Ästhetik, die auf einem ludischen Umgang mit Klang und Semantik basiert und auf Wortwitze und Gedankenspiele abzielt. Die poetische Funktion des Wortes tritt dabei häufig vor ihre referentielle, was sich natürlich auch auf die Raumgestaltung auswirkt, die in solchen Momenten in der rhetorischen Wirkung aufgehoben zu sein scheint. Ein weiterer Grund für die große Homogenität der Gattungen war, dass die von der Stadt betriebenen Bühnen Geld einspielen sollten, und da die Städte Spaniens verhältnismäßig klein waren, konnte ein Stück nicht häufiger als fünf bis sechs Tage lang aufgeführt werden. Das Ensemble hatte somit ständig Abwechslung zu bieten und führte im Jahr an die 40 Stücke auf, von denen etwa 10 neu im Repertoire waren. Der Bedarf an Theaterstücken war dementsprechend hoch. Man schätzt, dass im Siglo de oro ca. 10.000 bis 30.000 Stücke entstanden sind.4 Wiederholbare Gattungsmuster wurden somit zugleich zu Voraussetzung und Resultat dieser literatursoziologischen Bedingungen. Im Folgenden sollen die Raumkonzepte Calderóns exemplarisch aufgezeigt werden, wobei Raumkonstanten zum Tragen kommen, die wir heute als typisch barock ansehen würden: erstens der Raum als täuschenden Raum, der stellvertretend für die Eitelkeit der Welt steht, damit verbunden zweitens die Verwischung der Raumgrenzen bzw. der suggerierte nahtlose Übergang eines semantischen Raums in einen realen, was in den Aufführungen in den Palastbühnen umgesetzt wurde, und drittens die christliche Kosmologie, die Gegenstand der meisten autos sacramentales ist. Gerade an der Raumgestaltung, die neben Zeit- und Figurenkonzeption die makrostrukturellen und damit auch die ideologischen Grundlagen eines Textes festsetzt, lässt sich Calderóns konservative Affirmation und Apologie der „feudal-monarchische[n] Gesellschaft […] als Instrument göttlicher Gnade“5 deutlich nachvollziehen, wofür er später aus marxistisch orientierter Perspektive mitunter scharf kritisiert wurde. –––––––— 4 5

Vgl. Tietz: El gran teatro del mundo (wie Anm. 3). S. 179. Manfred Engelbert: Calderón de la Barca. In: Klaus Pörtl (Hg.): Das spanische Theater. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Darmstadt 1985. S. 240–279. Hier S. 260.

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Ralf Junkerjürgen

Die Umgehung der „Ehren“räume in La dama duende Die ca. 120 comedias stammen vor allem aus Calderóns erster Schaffensphase, wobei die Gattung einerseits die sogenannten Mantel-und-Degen-Komödie, deren Vorgaben Lopes Calderón weiterentwickelte, bezeichnet und andererseits auch ernstere comedias meint, wie das berühmte La vida es sueño / Das Leben ist ein Traum, denn das spanische comedia ist mehrdeutiger als das deutsche Wort Komödie und bezieht sich auch allgemein auf Theaterstücke. Bei der comedia hatte Calderón sich auf die sogenannte corral-Bühne einzustellen, ein festes Theater für ca. 2000 Zuschauer, für das kein eigenes Theatergebäude, sondern ein Hof zwischen zwei Häusern genutzt wurde, der bis dahin als Wirtschaftshof (corral) gedient hatte. Eine Bedachung gab es nicht, bei Regenwetter fiel die Vorstellung aus, Schatten spendete ein Sonnensegel. Um Brandgefahren auszuschließen und zum sittlichen Schutz der Frauen musste jede Vorstellung bei Sonnenuntergang beendet sein. Was die Bühne anging, so besaß sie zwar keinen Vorhang im vorderen Teil, dafür aber einen im hinteren, und verfügte über gewisse technische, und das heißt auch räumliche Möglichkeiten; die spektakulärste davon war der sogenannte pescante, ein Hebegerät, mit dem man in den beliebten Heiligendramen Schauspieler durch die Luft fliegen lassen konnte.6 Eine Aufführung im corral-Theater ist somit nicht mit einem bürgerlichen Bildungserlebnis vergleichbar, in dem sich die Zuschauer andächtig bei abgedunkeltem Raum in ein Stück vertiefen. Erstens herrschte, wie gesagt, helllichter Tag, zweitens wurde im Theater laut geredet und dazwischen gerufen, vor allem im Stehbereich vor der Bühne, in dem sich die jungen Männer aufhielten. Auch die Abfolge der Akte wurde regelmäßig durch Zwischenspiele unterbrochen. Die raum-zeitliche Gestaltung der Aufführung war also durch eine starke Diskontinuität gekennzeichnet, die wir eher mit einem Variété-Theater als mit klassischen Theaterstücken assoziieren würden. Das corral-Theater diente der Unterhaltung der sich im 17. Jahrhundert entwickelnden Freizeitgesellschaft Spaniens und war also keine moralische Anstalt im Sinne Lessings, was nicht bedeutet, dass die Stücke unpolitisch gewesen wären, vielmehr verherrlichten sie die bestehenden Ordnungen von Monarchie und Kirche. Als Grundthema der comedia kann die erotische Liebe gelten, die als gefährliche Leidenschaft die soziale Ordnung bedroht, am Ende jedoch durch Heirat kanalisiert und zu einem für damalige Vorstellungen glücklichen Ende geführt wird, was im Folgenden am Beispiel von Calderóns idealtypischem Stück La dama duende / Die Dame Kobold (1629) veranschaulicht werden soll. Was den Stoff angeht, so orientierte sich Calderón an einer heute verlorenen Vorlage von Tirso de Molina. Erzählt wird von dem jungen Don Manuel, der mit seinem Diener nach Madrid kommt, wo er bei Juan, einem alten Freund, übernachten will. Auf dem Weg dorthin trifft er auf –––––––— 6

Für ein close-reading der Beziehung zwischen Stück und Bühnenraum siehe exemplarisch J.E. Varey: Space and Time in the Staging of Calderon’s ‚El alcalde de Zalamea‘. In: Margaret A. Rees (Hg.): Staging in the Spanish Theatre. Leeds 1984. S. 11–25.

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eine verhüllte Dame, die ihn um Schutz vor einem Verfolger bittet. Was Manuel nicht weiß, ist, dass sie, Ángela mit Namen, die verwitwete Schwester Juans ist. Im Haus ihres Bruders hat sie eine rigorose Trauer einzuhalten. Obwohl sie in ihrem Zimmer hermetisch abgeschottet wird, gelingt es ihr immer wieder, durch eine Geheimtür im Wandschrank verschleiert das Haus zu verlassen. Auf diese Art und Weise dringt sie auch in das Zimmer des Gastes Manuel ein, um ihm Briefe zu hinterlegen. Der Diener Manuels kann das alles nicht begreifen und erklärt es sich damit, dass wohl ein Kobold in dem Haus sein Unwesen treiben müsse. Nach einigem Hin und Her entdeckt Manuel schließlich die Geheimtür, aber nicht nur er, auch der zweite Bruder der Witwe, der nun glaubt, sein Gast habe seine Schwester nachts besucht und damit die Ehre des Hauses verletzt. Bevor ein Duell ausgetragen werden kann, hält Manuel jedoch um die Hand der Witwe an und löst somit den Konflikt für alle zufriedenstellend auf. Einerseits organisiert sich der Raum in dieser Komödie nach den Verhaltensvorgaben für die Geschlechter, die auf einer Spannung von Innen und Außen basieren. Die Welt der Männer ist öffentlich, diejenige der Frauen privat. Für die Witwe gelten nun besonders strenge Raumvorgaben, sie kann nur verschleiert aus dem Hause und muss eine List anwenden, um überhaupt auf die Straße zu kommen. Durch die geheime Tür im Wandschrank bricht sie die Raumgrenze auf und überschreitet damit, wie Lotman es formuliert hat, zugleich eine semantische Grenze.7 Es ist eben diese Grenzüberschreitung, die für die komischen Verwicklungen der comedia sorgt und zugleich die barocke Spannung zwischen engaño und desengaño veranschaulicht. Im Lichte der Symbollehre Freuds scheint es zwar wenig originell, das Haus als Symbol für die Frau zu nehmen,8 eine solche Lesart veranschaulicht jedoch die erwähnte unterschwellige erotische Spannung der comedia, da die Geheimtür auch einen Zugang zum Körper Ángelas symbolisiert, der schlussendlich im Sakrament der Ehe gesellschaftlich eröffnet wird. Die geschlechtsspezifische Ordnung des Raums spiegelt somit das zentrale soziale Organisationsprinzip der spanischen Gesellschaft des Siglo de oro wider: den heute nur noch mit Mühe nachvollziehbaren Wert der Ehre (honra). Sie bestimmte über den öffentlichen Status einer Person und wurde demgemäß öffentlich repräsentiert und verhandelt. Männliche Ehre hing bei Adligen zentral vom weiblichen Sexualverhalten ab, weil nur die eheliche Treue der Frau die Abstammung garantieren konnte. Frauen wurde daher keine sexuelle Freiheit –––––––— 7 8

Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972. S. 311–329. Vgl. auch José Amezcua: Notas sobre el espacio en algunas obras de Calderón. In: Luciano García Lorenzo (Hg.): Calderón. Volumen III. Anejos de la Revista „Segismundo“ 6. Madrid 1983. S. 1533–1543. Hier S. 1536. Die konkrete und symbolische Bindung der Frau an das Haus ist ein durchgängiger Topos in der spanischen Literatur, der sich nicht nur in anderen Stücken Calderóns, darunter z. B. der Alcalde de Zalamea / Der Bürgermeister von Zalamea, findet, sondern sogar noch in Federico García Lorcas La casa de Bernarda Alba / Bernarda Albas Haus aus dem Jahre 1936, das über die Figurenkonstellation aus unterschiedlich alten Frauen ihre lebenslange Bindung an das Haus inszeniert. Vgl. dazu Ralf Junkerjürgen: Figurenkonstellation als Lebensalter-Darstellung in ‚La casa de Bernarda Alba‘. In: Elisabeth und Joachim Leeker (Hg.): Text – Interpretation – Vergleich. Festschrift für Manfred Lentzen zum 65. Geburtstag. Berlin 2005. S. 513–523.

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Ralf Junkerjürgen

zugesprochen. Kinder aus nicht standesgemäßen Verbindungen hätten das System der Kastenzugehörigkeit destabilisiert und ließen Ehebruch oder voreheliche Geschlechtlichkeit als Angriffe auf den Ordnungskern erscheinen.9 Zum Selbsterhalt hatte die adlige Oberschicht den Frauen damit die Endogamie vorgeschrieben; ein Verstoß dagegen konnte mit dem Tode bestraft werden, auch der bloße Verdacht reichte bereits aus, was Calderón in El médico de su honra dramatisch umsetzte. Interessant ist nun, dass Calderón dies in La dama duende nicht einfach abbildet, sondern provokativ bricht, indem er mit der räumlichen Grenzüberschreitung und dem möglichen Verstoß gegen die familiäre Ehre die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung einleitet. Denn indem Ángela ihr Zimmer unerlaubt verlässt, erlangt sie, was die Gesellschaft letztlich verteidigt: einen neuen standesgemäßen Ehepartner. Es erscheint somit durchaus legitim, mit weiblicher List die Raumgrenzen zu umgehen, wenn es zu einem guten Ende führt. Dieses Aufweichen des Ehrenkodex im Zeichen der Pragmatik passt im übrigen durchaus zum christlichen Rationalismus, der das Stück sonst ausmacht und sich schon im Titel über abergläubische Vorstellungen wie diejenigen des Dieners lustig macht, der meint, es müsse ein Kobold im Haus herumspuken. Wie sehr werkimmanente Raumkonzepte sich bei den Aufführungen selbst widerspiegelten, veranschaulicht die Tatsache, dass die geschlechtsspezifische Raumaufteilung natürlich auch für den Theaterraum galt, wo Männer und Frauen strikt getrennt saßen. Calderón gelingt mit diesem Stück eine quasi paradoxe Inszenierung der sozial getrennten geschlechtsspezifischen Räume, die überwunden werden, ohne dass die soziale Ordnung außer Kraft gesetzt würde. Dass ein solches Ende aber letztlich nur eine fragwürdige Harmonie herstellt, liegt auf der Hand.10

Stürme den Turm, befriede den Palast – Spiegelungen theologischer und machtpolitischer Positionen in La vida es sueño Auch in seinem heute bekanntesten Stück, La vida es sueño / Das Leben ist ein Traum, scheint Calderón die Täuschung, den engaño, zum Hauptthema zu machen und erneut in einem dualistisch angelegten Raumkonzept zu inszenieren. Thronerbe Segismundo wächst aufgrund der Horoskopgläubigkeit seines Vaters Basilio als Gefangener in einem Turm in der Wildnis auf, ohne zu wissen, dass es außerhalb noch eine Welt gibt. Als sich die Frage nach der Thronfolge stellt, will König Basilio seinem Sohn eine Chance geben, sich zu bewähren und lässt ihn unter dem Einfluss einer Betäubung in den Palast bringen. Die Befürchtungen des –––––––— 9

10

Vgl. dazu Pere Juan i Tous: Pedro Calderón de la Barca, El médico de su honra. In: Roloff und WentzlaffEggebert (Hg.): Das spanische Theater vom Mittelalter bis zur Gegenwart (wie Anm. 3). S. 163–178. Hier S. 165 ff. Vgl. Engelbert: Calderón de la Barca (wie Anm. 5). S. 265.

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Vaters scheinen sich jedoch zu bestätigen: Der Sohn erweist sich schon nach kurzer Zeit als unbeherrscht in Sachen Gewalt und Erotik und wird daraufhin wieder betäubt in den Turm zurückgebracht, wo er seine Erlebnisse im Palast für einen bloßen Traum hält. Bei einem Aufstand gegen Basilio wird Segismundo schließlich befreit und kann den Vater besiegen, dem er allerdings als Zeichen seiner Einsicht die Krone belässt. Der Soldat, der den Aufstand angezettelt hat, wird in den Turm gesperrt. Traum und Wirklichkeit werden hier anhand von zwei Orten, Turm und Palast, kontrastiert, die verschiedene Bedeutungsebenen abrufen: Ganz allgemein steht der Turm im Gebirge für Wildheit und Unbeherrschtheit, der Palast hingegen für die Tugenden eines Fürsten. Wenn man allerdings bedenkt, dass das Theater Calderóns theologisch dem Tridentiner Konzil und der Gegenreformation verpflichtet ist, lässt sich die räumliche Opposition noch stärker konkretisieren. Calderón vertrat die optimistische Variante des liberum arbitrium und ging davon aus, dass jeder Mensch die göttliche Gnade bekommen könne, wenn er sich darum bemühte. Während König Basilio in seinem Vertrauen auf das Horoskop anscheinend die Prädestinationslehre vertritt, zeigt Segismundos Entwicklung hingegen, dass es eine freie Wahl gibt. Die Räume lassen sich als Symbole beider Positionen verstehen: der monolithische Turm als Ort der Unfreiheit, der keine Optionen lässt; der Palast hingegen als Raum der Freiheit, wo sich die katholische Ethik des Fürsten beweisen kann und er im Sinne des obrar bien seine Rolle zu erfüllen hat.11 Aus marxistischer Perspektive musste die Opposition von Turm und Palast Assoziationen mit Metaphern des Klassenkampfes wachrufen. Pier Paolo Pasolini hat sich in seinem Stück Calderón (1973) unter dem Eindruck der 68er-Revolution von La vida es sueño inspirieren lassen und die Übernahme des Verhaltenskodex durch Segismundo vor seiner Thronnachfolge als Form der Gleichschaltung gedeutet, welche die Macht innerhalb der feudalen Elite halten sollte. Calderón erscheint damit als Verteidiger eines feudalen Machtsystems der Ungleichheit, das unter dem Druck des wachsenden Kapitalismus mehr und mehr infrage gestellt wurde und gerade deshalb umso mehr an seinen distinktiven Merkmalen – also Abstammung und Ehre – festhielt.12

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12

Gegen eine solch vereindeutigende Lektüre wehrt sich Bernhard Teuber, der anhand von fiktionsironischen Momenten die These aufstellt, dass Calderón eindeutige Bedeutungszuweisungen dekonstruiere, weil er die vermeintlich kritisierte Semiotik der Gestirne zumindest im Gewand der Fiktion bewahre. (Calderón de la Barca, La vida es sueño. In: Roloff und Wentzlaff-Eggebert [Hg.]: Das spanische Theater vom Mittelalter bis zur Gegenwart [wie Anm. 3]. S. 146–162. Hier S. 155 u. 158.) Vgl. auch Engelbert: Calderón de la Barca (wie Anm. 5). S. 202. Für weiteres zu Pasolinis Calderón-Lektüre siehe Ralf Junkerjürgen: Pier Paolo Pasolini, ‚Calderón‘. In: Manfred Lentzen (Hg.): Italienisches Theater des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen. Berlin 2008. S. 326–342. Hier S. 336f.

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Ralf Junkerjürgen

Grenzverwischungen: Schaffung von Raumkontinua zwischen Fiktion und Realität Das barocke Motiv der Spannung zwischen engaño und desengaño lässt sich auch an der wiederholten Inszenierungsstrategie der Grenzverwischung zwischen Fiktion und Realität erkennen, die unmerkliche Übergänge entstehen ließ. Bei den Festen am Hofe wurde nicht selten der Garten Teil der Aufführungen von comedias mitológicas, also mythologischen Dramen, die man als wahre Gesamtkunstwerke mit Musik, Gesang und prachtvollen Kulissen inszenierte. Darunter befanden sich Stoffe wie Eco y Narciso, Teile der Odyssee (El mayor encanto, el amor) oder Achilles-Stoffe (La púrpura de la rosa; El monstruo de los jardines). Der häufigste Aufführungsort war der von Gärten umgebenene Palacio del Buen Retiro. Spanien stand hier unter dem Einfluss Italiens, was sich konkret an dem Florentiner Cosme Lotti zeigen lässt, der von König Philipp IV. als Gestalter und Architekt sowohl der Gärten als auch der Theater angestellt wurde. Bei den königlichen Festen verwandelte sich der Garten in einen Raum der Inszenierung, nicht nur weil konkret Gartentheater aufgebaut wurden, sondern weil z. B. in der Sankt Johannisnacht im Jahre 1631 gleich mehrere gräfliche Gärten miteinander verbunden wurden und so einen umfassenden höfischen Raum konstituierten. Angesichts der hohen Repräsentationsfunktion des Gartens überrascht es nicht, dass Calderón ihn regelmäßig als szenischen Raum berücksichtigt. So ist der Garten bei ihm Raum amouröser Begegnungen oder auch Ort des meditativen Rückzugs, wie z. B. in El acaso y el terror (II, 721–2).13 Realer und fiktiver Raum überlappten sich dabei und dienten als semantischer und wirklicher Raum der Verherrlichung des Adels. Ein solches Raumkontinuum hat Arellano auch am Beispiel der autos sacramentales aufgezeigt, deren Bühne auf Karren durch Madrid gefahren wurde, um an zentralen Stationen anzuhalten und aus der Topographie der Hauptstadt einen grundlegenden Teil der Inszenierung zu machen.14 Die Stadt selbst verwandelte sich damit in das mystische Szenarium des Fronleichnamsspiels und ließ die empirische Welt als Ausdruck der göttlichen Wirklichkeit, also bspw. den königlichen Palast als himmlisches Jerusalem erscheinen. Es entstand somit ein Kontinuum aus empirischem, szenischem und mystischem Raum, in dem Madrid sich in eine civitas dei verwandelte und die Topographie gemäß der mittelalterlichen Hermeneutik vom mehrfachen Schriftsinn eine allegorische Bedeutung annahm. Ein solch grundlegendes Raumverständnis lässt sich auch an der textimmanenten Raumkonzeption der autos sacramentales zeigen.

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Ausführlicher zu diesem Aspekt siehe José Lara Garrido: Texto y espacio escénico (El motivo del jardín en el teatro de Calderón). In: Lorenzo (Hg.): Calderón (wie Anm. 8). S. 939–954. Ignacio Arellano: El espacio historial y místico en los autos de Calderón: La topografía transfigurada. In: Ders. und Enrica Cancelliere (Hg.): La dramaturgia de Calderón: Técnicas y estructuras. Pamplona 2006. S. 41–65.

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Christliche Kosmologie statt Empirie: Raumentwürfe im Fronleichnamsspiel Nachdem Calderón 1651 zum Priester geweiht wurde, hat er aus Amtsrücksichten nur noch Fronleichnamsspiele (autos sacramentales), Hoftheater und Zwischenspiele verfasst. Der auto sacramental (abgeleitet von lat. actus im Sinne einer Theateraufführung) war bekanntlich diejenige Gattung, von der für Eichendorff die größte Faszination ausging. Es handelte sich um allegorische Stücke von ca. 1500 Versen Länge, in denen dogmatische Sachverhalte veranschaulicht werden sollten und der Glaube, die Anmut oder die Natur als Figuren auftraten, um einem theologisch wenig gebildeten Publikum die Heilsgeschichte und die Eucharistie näher zu bringen. Calderón sah die autos sacramentales daher als in Verse gefasste Predigten an und versuchte, Fragen der Theologie in Schauspiel umzuformen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie für das hauptsächlich illiterate Publikum sprachlich leicht verständlich gewesen wären. Calderón folgte, wie erwähnt, der eher verdunkelnden Ästhetik des conceptismo. Die Raumvorstellungen des auto sacramental orientieren sich grundsätzlich an den christlichen Chronotopoi vom ewigen Jenseits und endlichem Diesseits, die jeweils in Himmel und Erde verortet wurden und allseits präsent waren, auch wenn sie z. B. in dem über viele Jahrhunderte hinweg kursierenden Katechismus von Gaspar Astete aus dem Jahre 1599 etwas feiner gegliedert wurden und sich die Hölle im Inneren der Erde noch in vier Bereiche teilte, dem Infierno, dem Purgatorium, dem Limbus für Kinder und dem Limbus der Gerechten.15 Der auto sacramental war in einen festen rituellen Ablauf eingebunden. Am Fronleichnamsnachmittag wurden zunächst zwei autos sacramentales vor dem König sowie den staatlichen und kirchlichen Autoritäten gespielt und danach vor einfachem Publikum wiederholt. Dies war möglich, weil man die sogenannte carro-Bühne verwendete, die sich aus den mittelalterlichen Prozessionszügen entwickelt hatte und aus maximal vier Karren mit insgesamt 18 m Breite und 7 m Tiefe bestand. Auf jedem Karren befanden sich bespielbare Aufbauten: Türme, Erd- und Weltkugeln, vor deren Perspektivmalerei die Schauspieler agierten. Indem die autos sacramentales die christliche Kosmologie abbilden, lässt sich aus ihnen ein grundlegendes Raumverständnis des Siglo de oro ablesen. Die Entdeckungen Keplers und Galileis wurden in Spanien ignoriert, so dass Calderóns Weltbild weiterhin geozentrisch blieb. Auch Korrekturen geographischer Irrtümer interessierten ihn nicht, so lässt er den Rhein durch Italien und Thüringen fließen, Babylon liegt bei ihm am Nil, die Hauptstadt Polens am Meer. All das spielt keine Rolle, weil die empirische Welt grundsätzlich zweitrangig ist und ganz gemäß theologischer Hermeneutik vor allem als Symbol gedeutet wird. Die von Montaigne im 16. Jahrhundert in den Essais zelebrierte Subjektivität oder auch die im Don Quijote wenig später inszenierte Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und subjek-

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Vgl. Catecismos de Astete y Ripalda. Edición crítica preparada por Luis Resines. Madrid 1987. S. 118f.

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tiver Vorstellung bzw. die damit eingeleitete Überordnung des Wirklichen über Phantasie existieren für Calderón nicht.16 Das Große Welttheater (El Gran teatro del mundo, wohl 1633/35 oder 1649)17 soll dies kurz veranschaulichen. Das allegorische Stück deutet das Leben als Theaterrolle, die einem vom autor, mit dem zugleich Gott, Dramatiker und Theaterdirektor gemeint sind, zugewiesen wird. Im irdischen Leben hat jeder seine Rolle so gut zu spielen (obrar bien), dass er von Gott in den Himmel aufgenommen werden kann. Soziale Unterschiede werden von Calderón eingeebnet: Denn es sei gleichgültig, ob jemand als König oder Bettler lebe, weil beide von Gott an ihrer Rolle gemessen würden. Für Calderón ist der König außerdem viel größeren Versuchungen ausgesetzt als der Bettler und hat damit eine weitaus schwerere Rolle zu erfüllen. Wie der Theaterdirektor schaut Gott von der Himmelskugel aus zu, ob die Menschen auf der Erdkugel gemäß christlicher Ethik handeln. Das Leben der exemplarischen Figuren, darunter der König, der Reiche, der Bauer, der Arme und ein Kind, wird von Gott aus der Ferne beobachtet und beurteilt, bis sie bei ihrem Tod von seiner Entscheidung erfahren, wo sie das ewige Leben verbringen werden. Auch hier liegt wieder eine duale Struktur zugrunde; war es in der comedia die Spannung zwischen Innen und Außen, zwischen Täuschung und Enttäuschung, im mythologischen Drama die Überschreitung der Grenzen zwischen Fiktion und Realität, so wird jetzt die Dualität als kosmologische Urstruktur erkennbar, wobei der Raum nicht mehr von einer spezifischen Zeit-Wirklichkeit getrennt werden kann: In der Himmelskugel herrscht ewiges Leben, auf der Erdkugel hingegen Vergänglichkeit. Da die jeweilige Zeit-Wirklichkeit auf der Bühne zwar genannt, aber nicht unmittelbar nachgespielt werden kann, macht Calderón sie anschaulich, indem er sie verräumlicht. Zunächst einmal metaphorisch, indem Geburt und Tod als zwei Türen zum irdischen Dasein bezeichnet werden (V. 240). Dann auch ganz konkret durch eine mise en abyme, in der das Theater des Daseins als Theaterstück dargeboten wird. Dazu öffnet sich die Himmelskugel, die auf einem der Karren aufgebaut ist, und man sieht Gott als Betrachter von einem Thron aus auf die Menschen schauen, während sich auf einem anderen Karren die Weltkugel öffnet, an deren Seiten je eine Tür angebracht ist, eine davon mit dem Bild einer Wiege bemalt, die andere mit demjenigen eines Sarges (V. 627).18 So kann Calderón auch das Leben selbst im Fronleichnamsspiel als Weg von der einen Tür zur anderen verräumlichen, wobei man immer nur vorwärts auf den Sarg zuschreiten kann (V. 991). Wer einmal durch die zweite Tür gegangen ist, für den ist in keiner Hinsicht mehr Platz in der Weltkugel, denn alles, was war, werde vergessen („El mundo lo que fue pone en olvido“, V. 1274). Damit sind beide –––––––— 16 17

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Vgl. Hugo Friedrich: Der fremde Calderón. Freiburg i. Br. 1955. S. 18. Die adjektivische Bestimmung ,groß‘ ist hier nicht im räumlichen oder metaphorischen Sinne gemeint, sondern offensichtlich nur hinzugefügt worden, damit der Titel einen Achtsilbler ergab (Tietz: El gran teatro del mundo [wie Anm. 3]. S. 199). Diese Vorgabe findet sich übrigens in einer der wenigen Regieanweisungen des Stücks.

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Räume auch eindeutig bewertet. Die Weltkugel ist lediglich ein Raum der Prüfung, dessen Eigenschaften genausowenig wie das Leben selbst letztlich eine Bedeutung haben. Da aber meldet sich die Schönheit zu Wort und fragt, warum Gott den Raum der Weltkugel denn so schön gemacht habe: ¿Para qué hizo Dios, en fin / montes, valles, cielo, sol / si no han de verlo los ojos? / Ya parece, y con razón, / ingratitud no gozar / las maravillas de Dios. (V. 705–710) Warum schuf Gott denn Berge, Täler, Himmel und Sonne, wenn die Augen sie nicht sehen sollten? Es scheint doch wahrlich undankbar zu sein, die Wunder Gottes nicht zu genießen. (Üb. R.J.)

Genießen dürfe man sie auch, antwortet die Verschwiegenheit, aber nur, um sie zu bewundern. Die Eigenschaften des irdischen Raumes haben somit in Hinsicht auf die Himmelskugel sehr wohl eine Bedeutung: Sie verweisen auf Gott und auf die Freuden des Paradieses. Die Weltkugel ist daher nur als Raum der Abbildung und des Verweises von Interesse, nicht aber als empirischer Raum an sich von Bedeutung. Mit dem Tod der Figuren schließt sich die Weltkugel wieder, sie müssen nun vor Gott antreten, der ihnen einen neuen Platz zuweist: die ewige Glückseligkeit, die ewige Verdammnis oder die Läuterung im Purgatorium.

Die Eichendorffschen Aneignungen des barocken Raumes Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Raumdarstellung des Theaters von Calderón aufgrund der Aufführungsbedingungen im 17. Jahrhundert in einem besonders engen Verhältnis zur Inszenierung gestanden haben dürften, während im Text selbst lediglich die räumlichen Grundkonzeptionen eingeschrieben sind, die sich sowohl in soziologischer als auch religiöser Hinsicht insgesamt als statisch erweisen. Wenn man vor diesem Hintergrund die Raumgestaltung bei Eichendorff betrachtet, wird man als Übereinstimmung dazu wohl an die symbolische Verweisfunktion des Raumes denken. Allerdings scheint der sinnliche Raum bei dem deutschen Romantiker eine größere Selbstständigkeit zu besitzen, welche die Protagonisten wahrnehmen und verstehen wollen. Die durch die Welt ziehenden Figuren Eichendorffs treffen immer wieder auf Örtlichkeiten, deren Faszination sie sich nicht entziehen können, so dass das Raumerleben in seinem Wandel in den Vordergrund gerät. Die Landschaftsbeschreibungen Eichendorffs zeichnen sich durch Dynamik aus, weil sie nicht still stehen, sondern sich im Auge des Betrachters ständig verändern, sei es auch nur durch den Wandel der Lichtverhältnisse oder durch metaphorische Überhöhung.19 Die Wahrneh–––––––— 19

Cornelia Zumbusch: Der Raum der Seele. Topographien des Unbewussten in Joseph von Eichendorffs ‚Eine Meerfahrt‘. In: Inka Mülder-Bach und Gerhard Neumann (Hg.): Räume der Romantik. Würzburg 2007. S. 197– 216. Hier S. 213.

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mung der Welt bleibt an die Perspektive der Figur gebunden, ohne dass der Raum in eine Dichotomie aus Innen und Außen gespalten würde. Der Raum erweist sich vielmehr als Gefühlsraum,20 der sich als Projektion seelischer Zustände deuten lässt, in denen sich „die Psyche gleichsam nach Außen hineinsieht“.21 Calderóns Landschaften hingegen bleiben der „allegorisch-didaktischen Gesamtkonzeption […] strikt untergeordnet“ und dienen ausschließlich der Evokation des Jenseits, ohne dass ihnen ein lyrischer Eigen- oder Erlebniswert zukommt.22 Diese Verschiebung lässt sich, wie Christoph Rodiek gezeigt hat, auch an Eichendorffs Übersetzungen beobachten. Obwohl der Romantiker sich durchaus an das Original hält, schafft er durch poetisierende Ausschmückungen aus der dienenden Rhetorik der Vorlage eine für ihn typische Stimmungslyrik.23 Eichendorffs evokative Bildersprache bringt Bewegung in die Statik des barocken Raums bei Calderón und lässt sie einer dynamischen Naturauffassung weichen.

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David E. Wellbery: Sinnraum und Raumsinn: Eine Anmerkung zur Erzählkunst von Brentano und Eichendorff. In: Mülder-Bach und Neumann (Hg.): Räume der Romantik (wie Anm. 19). S. 103–116. Hier S. 111–114. Zumbusch: Der Raum der Seele (wie Anm. 19). S. 197. Christoph Rodiek: ‚Gottestrunkene Natur‘ und ‚sehnsüchtig träumende Dinge‘. Eichendorff als Übersetzer Calderóns. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 86 (1992). S. 445–452. Hier S. 448. Ebd. S. 449.

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„[A]lle diese Abscheulichkeiten, und nichts zu sehen, als rundum den Himmel“1 Narrative Konstruktionen des urbanen Raumes in Heinrich von Kleists Briefen aus Paris Gotthold Ephraim Lessing verfasst 1766 einen der einflussreichsten literaturtheoretischen Texte des 18. Jahrhunderts. Er nennt sich Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Sein Ziel ist bekanntlich, die grundlegenden künstlerischen Unterschiede zwischen bildender Kunst und Literatur herauszuarbeiten. Lessing schreibt: Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben im Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können nebeneinander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile aufeinander folgen.2

Was Lessing mit dieser etwas merkwürdigen Syntax des Nebeneinander und Aufeinander zum Ausdruck bringen will, ist dieses: Dichtung zeigt sich für die Darstellung zeitlicher Veränderungen zuständig, also für Handlungen, die eine Veränderung der Körper in der linear voranschreitenden Zeit markieren. Zum Beispiel: „Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen’ / Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben’ / Und alle Menschen gehen ihre Wege“3 – iterative Handlungsmuster, sprachlich in singulärer Form markiert, als gemaltes Bild oder geformte Skulptur nicht auszudrücken. Bildende Kunst agiert dagegen im Raume, sie fokussiert auf die angehaltene Geste, auf den im Raum eingefrorenen, festgehaltenen Augenblick – bei Lessing: der Moment des Kampfes, von dem wir – würden wir nur dieses Bild kennen und nicht den an ihn geknüpften sprachlichen Mythos – nicht sagen könnten, ob er gewonnen oder verloren ist. Weniger essayistisch formuliert: Poesie ordnet Worte „auf einander“ folgend (in der Zeit), Malerei ordnet Farben und Formen „nebeneinander“ – im Raume. Diese Überlegun–––––––— 1

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Heinrich von Kleist: Brief an Adolfine von Werdeck, 28./29. Juli 1801. In: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. Bd. II. München 2001. S. 678. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Lessing. Werke. Hg. von Wilfried Barner. Bd. 5/2. Frankfurt am Main 1990. S. 1766f. Hugo von Hofmannsthal: Ballade des äußeren Lebens. In: Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von Rudolf Hirsch. Bd. I. Frankfurt am Main 1984. S. 44.

Aurora 70/71 (2010/11). S. 113–126

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gen Lessings – auch wenn sie aus heutiger neurophysiologischer Perspektive fraglich sind – werden literaturgeschichtlich unglaublich folgenreich. Noch 1969 beginnt der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette seinen Aufsatz La littérature et l‘espace (Die Literatur und der Raum) mit der These, „dass es paradox erscheinen mag, in Bezug auf die Literatur überhaupt vom Raum zu sprechen“.4 Michel Foucault, dessen Heterotopie-Begriff für die literarische Beschäftigung mit Raumtheorien aktuell äußerst einflussreich ist, konstatiert in Le langage de l’espace (Die Sprache des Raumes) lakonisch: „Jahrhundertelang richtete sich das Schreiben nach der Zeit“.5 Und Hartmut Böhme, einer der führenden Vertreter des so genannten topographical turn, wird für das 19. und 20. Jahrhundert den Geisteswissenschaften – und damit auch der Literaturwissenschaft – eine Raumvergessenheit bescheinigen und in toto beklagen, dass der „Raum wie ein unreiner Stiefbruder der Königin Zeit behandelt wurde“.6 Richtet man den Blick etwas nüchterner auf die aktuelle Forschungslandschaft, lassen sich zwei Dinge konstatieren: Erstens, der topographical und spatial turn in den Geisteswissenschaften ist sehr wohl eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, welche zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihren vorläufigen Höhepunkt in der öffentlichen Aufmerksamkeit erreicht. Um nur einige Konzepte zu nennen, die zu zentralen Einflussgrößen aktueller Forschung geworden sind: Ernst Cassirers 1930 gehaltener Vortrag Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in welchem Cassirer den Raum als nichts weniger denn als erkenntnistheoretischen und ästhetischen Grundpfeiler definiert.7 Weiterhin Michail Bachtin, dessen ebenfalls in den 1930er Jahren entwickelter Begriff des Chronotopos zu einem Standardinstrument in der Darstellung raum-zeitlicher Korrelativität in epischen Texten von der Antike bis ins 19. Jahrhundert geworden ist.8 Dann Jurij Lotman als Vertreter einer topologisch-kultursemiotischen Raumtheorie, deren Hauptaugenmerk primär auf dem versuchten Nachweis von sich wiederholenden räumlichen Codes zur Beschreibung nicht-räumlicher Sachverhalte eingesetzt wird.9 Dies funktioniert bei Lotman durch die räumliche Modellierung von eigentlich nicht-räumlichen Begriffen, die sich dann oft als antagonistische Begriffspaare (z. B. nah/fern, offen/geschlossen usw.) in der Literatur finden. –––––––— 4

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Bsp. entnommen: Sylvia Sasse: Poetischer Raum. Chronotopos und Geopoetik. In: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Stephan Günzel. Stuttgart 2010. S. 294. Michel Foucault: Die Sprache des Raumes. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Bd. I. 1954–1969. Frankfurt am Main 2001. S. 533. Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hg. von Hartmut Böhme. Stuttgart 2005. S. XII. Vgl. Ernst Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. (1931) In: Ders.: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933. Hamburg 1985. Michail Bachtin: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. In: Michail Bachtin: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Berlin/Weimar 1986. S. 262–464. Vgl. Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972.

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Kursorisch seien noch genannt: Gaston Bachelards Poetik des Raumes, die er selbst als eine Art Seelentopographie bezeichnet, als „Studium der Örtlichkeiten unseres inneren Lebens“ im „Theater der Vergangenheit“;10 Joseph Hillis Miller, der in seinen Topographies eine Art von Archiv der Bedeutung von Orten und Landschaften in Literatur und Philosophie anlegt.11 Schließlich Michel Foucault, dessen am 7. Dezember 1966 gehaltener Radiovortrag, 1987 im Todesjahr Foucaults unter dem Titel Von anderen Räumen12 verschriftlicht, den Terminus der Heterotopie als eine Art „Gegenort“ zu sozial etablierten Räumen für die Raumforschung interessant machte. Als letzten in dieser illustren Reihe sei noch Michel de Certeau und seine 1980 erschienene Schrift Arts de faire (Die Kunst des Handelns)13 genannt, die den Raum nicht „mehr als Ursache oder Grund, von der oder dem die Ereignisse oder deren Erzählung ihren Ausgang nehmen“ betrachtet. Der Raum wird bei Certeau vielmehr selbst zu „einer Art Text, dessen Zeichen oder Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern sind“.14 Angesichts einer solchen Fülle an Theoriemodellierungen müssen Vorentscheidungen bei der Methodenwahl getroffen werden. Mein Vorhaben ist folgendes: Ich werde Versatzstücke aus unterschiedlichen Raumtheorien (eine Heterotopien-Spielart Foucaults), die so genannten „Abweichungsheterotopien“,15 weiterhin Überlegungen des amerikanischen Großstadtsoziologen Richard Sennett,16 des Soziologen Georg Simmel17 und schließlich Überlegungen zum urbanen Raum aus Alain Corbins berühmter kulturwissenschaftlicher Studie Pesthauch und Blütenduft18 miteinander kombinieren, um die physischen und psychischen Erfahrungen romantischer Individuen innerhalb urbaner Räumer – genauer die Großstadt Paris um 1800 – sichtbar zu machen. Als Ausgangspunkt für meine Textanalysen dienen mir dabei wesentlich: Heinrich von Kleists 1801 an die Verlobte Wilhelmine von Zenge verfassten Briefe aus Paris. Meine literaturwissenschaftliche Exkursion durch diese teils imaginierten, teils real existierenden und fiktiv transformierten Räume wird sich strukturell an den Schnittstellen folgender Räume entlang bewegen: Straßen – Friedhöfe – Arkaden – und – am Ende – ein fiktiver Bauernhof auf dem Lande in der Schweiz. –––––––— 10

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Gaston Bachelard: La Poétique de l’espace (Poetik des Raumes). Original 1957. Deutsche Übersetzung. Frankfurt am Main 1975. S. 40. John Hillis Miller: Topographies. Stanford 1995. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Bd. IV. 1980–1988. Frankfurt am Main 2005. S. 931–942. Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988. Vgl. Sigrid Weigel: Zum „topographical turn“. In: KulturPoetik. Bd. II (2002). S. 151–165. Zitat: S. 160. Foucault: Von anderen Räumen (wie Anm. 12). S. 937. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Berlin 2008. Vgl. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Georg Simmel. Werke. Bd. VII. Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Frankfurt am Main 1995. S. 116–131. Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Berlin 1984.

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Am 10. Juli 1801 erreicht der 23-jährige Heinrich von Kleist zusammen mit seiner Schwester Ulrike und einem Diener Paris. Die Gruppe war am 15. April von Berlin aus aufgebrochen, hatte in Dresden und Leipzig Zwischenstation gemacht, von Mainz aus eine Schiffstour nach Bonn unternommen, und war dann per Kutsche über Mannheim, Heidelberg und Straßburg nach fast dreimonatiger Reise an der Seinemetropole angelangt. Drei Monate für die Durchquerung des geographischen Raums von Berlin nach Paris. Das aus heutiger Perspektive anmutende Schneckentempo muss im späten 18. Jahrhundert mit anderen Wahrnehmungsmentalitäten abgeglichen werden. Als Klopstock 1750 von Halberstadt nach Magdeburg reist, erscheint ihm die Reisegeschwindigkeit von sechs preußischen Meilen (45 Kilometer) in sechs Stunden so bemerkenswert, dass er die Fahrt mit einem Rennen der antiken Olympischen Spiele vergleicht.19 Klopstock fuhr in einem leichten Reisewagen mit vier Pferden, Kleist in einer Kutsche mit zweien, wovon einmal eines scheute und den Dichter fast vom Leben in den Tod befördert hätte. Aber dies ist eine andere Geschichte. Kleist wird bis Mitte November 1801 in dieser Stadt bleiben und von dort aus knapp ein Dutzend Briefe an Freunde und Bekannte, vor allem an die in Berlin verbliebene Verlobte Wilhelmine von Zenge schicken. Die Kleist-Forschung hat früh den Aufenthalt in Paris als zentralen Moment in der Entwicklung des jungen Kleist zum Dichter erkoren.20 Frühe Entwürfe zu Kleists erstem Drama, Die Familie Schroffenstein, fallen mit hoher Wahrscheinlichkeit in diesen Zeitraum.21 In Paris bricht Kleist zudem endgültig mit dem Plan, eine Gelehrtenexistenz einzuschlagen. Berühmter Vorbote dieses Scheiterns ist eine im Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge beschworene Erschütterung der Erkenntnis durch Kant-Lektüre (so genannte Kant-Krise): Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich – […] Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr.22

Schließlich wird Kleist nach viermonatigem Großstadtaufenthalt den – aus seiner Perspektive – genialen Plan fassen, sich am Thuner See ein Landgut zu kaufen, um dort mit der Verlobten eine bäuerliche Existenz zu führen. Fatalerweise hält die adlige Wilhelmine von Zen–––––––— 19

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Vgl. David Blackbourn: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München 2007. S. 69. Vgl. etwa: Sabine Doering: Heinrich von Kleist. Stuttgart 1996. S. 15. Vgl. Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist. Stuttgart 2002. S. 143. Kleist: Brief an Wilhelmine von Zenge. 22. März 1801 (wie Anm. 1). S. 634.

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ge, sozialisiert in den Salons von Berlin, wenig vom grünen Häuschen und von Kleists Lebenskonzept, „ein Feld zu bebauen, einen Baum zu pflanzen, und ein Kind zu zeugen.“23 Kleist muss nun auch sein Ziel, Familienvater und Bauer zu werden, aufgeben und löst die Verbindung zu Wilhelmine von Zenge im Mai 1802 offiziell auf. Dazu am Ende Genaueres. Der Keim all dessen – so meine These – wird im urbanen Raume von Paris gelegt. Damit zurück zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen, zurück in den Juli 1801. Was sieht Kleist, welche räumliche Sphäre tut sich vor seinen Augen auf, als er im Sommer 1801 Paris betritt? Im Brief vom 16. August 1801 an Louise von Zenge, die Schwester seiner Verlobten, begierig nach Neuigkeit aus der Weltstadt, gibt Kleist darüber Auskunft und dekonstruiert dabei den Mythos Paris bedingungslos: Denken Sie sich in der Mitte zwischen drei Hügeln, auf einem Flächenraum von ohngefähr einer Quadratmeile, einen Haufen von übereinandergeschobenen Häusern, welche schmal in die Höhe wachsen, gleichsam den Boden zu vervielfachen, denken Sie sich alle diese Häuser durchgängig von jener blassen, matten Modefarbe, welche man weder gelb noch grau nennen kann, und unter ihnen einige schöne, edle, aber einzeln in der Stadt zerstreut, denken Sie sich enge, krumme, stinkende Straßen, in welchen oft an einem Tage Kot mit Staub und Staub mit Kot abwechseln, denken Sie sich endlich einen Strom, der, wie mancher fremde Jüngling, rein und klar in diese Stadt tritt, aber schmutzig und mit tausend Unrat geschwängert, sie verläßt, und der in fast grader Linie sie durchschneidet, als wollte er den ekelhaften Ort, in welchen er sich verirrte, schnell auf dem kürzesten Wege durcheilen – denken Sie sich alle diese Züge in einem Bilde, und Sie haben ohngefähr das Bild von einer Stadt, deren Aufenthalt Ihnen so reizend scheint.24

Jenes Paris, welches Kleist in jener Zeit betritt, beherbergt nach einer Zählung von 1802 etwa 650 000 Einwohner. Es ist – nach London – die zweitgrößte Stadt des Abendlands. Alle anderen europäischen Städte – nehmen wir mit Berlin, Dresden, Würzburg jene, die Kleist aus eigener Erfahrung kennt – folgen erst in weitem Abstand. Und es ist eine Metropole, die vor einer ersten großen Welle der Bevölkerungsexplosion steht. Der amerikanische Stadtsoziologe Richard Sennett vermerkt, dass sich die Zahl der Bewohner von Paris zwischen 1801 und 1841 nahezu verdoppelt (von 547 756 auf 953 261).25 Es ist offenkundig, dass eine solch wachsende Anzahl von Menschen auf weitgehend gleichbleibendem Raume eine Erfahrung von Enge und verdichteter Bewegungssphäre generieren, von der auch die Kleistsche Wahrnehmung besetzt wird. Die Ballung von Menschen auf einem nach modernen Maßstäben winzigen Raum, „[d]ichtgedrängt standen die Häuser an nicht mehr als drei oder vier Meter breiten Straßen, dazwischen plötzlich Lücken mit weiten, offenen Flächen“26, führt zu einem weiteren von Kleist wahrgenommenen Effekt. Es handelt sich um jene olfaktorische Revolution, die der Historiker Alain Corbin kausal an den Prozess der –––––––— 23 24 25 26

Kleist: Brief an Wilhelmine von Zenge. 10. Oktober 1801 (wie Anm. 1). S. 694. Kleist: Brief an Louise von Zenge. 16. August 1801 (wie Anm. 1). S. 685. Vgl. Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens (wie Anm. 16). S. 173. Ebd. S. 107.

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Urbanisierung und der daran gekoppelten Verengung des sozialen Raums bindet. Für Corbin – und die aktuelle Forschung folgt ihm darin27 – ist der im späten 18. Jahrhundert verstärkt wahrnehmbare Wandel der Geruchsempfindung und Empfindlichkeit wesentlich eine soziale Konstruktion. Corbin belegt am Beispiel der Stadtgeschichte von Paris bündig, wie die Toleranzschwelle gegenüber Übelriechendem innerhalb der Metropole ab dem späten 18. Jahrhundert durch die mittels räumlicher Enge erzwungene gesteigerte körperliche Nähe drastisch zu sinken beginnt. Eine neue Hygienepolitik entsteht. Angeführt wird der „Kampf der Desodorierung“28 von Jean-Noel Hallé, Inhaber des 1794 geschaffenen Lehrstuhls für Hygiene in Paris, auf dessen Memoiren Corbin in Pesthauch und Blütenduft mehrfach verweist. Entscheidend bei dieser Hygienepolitik wird „die Analyse des engen, beschränkten Umfeldes, in dem sich das Alltagsleben abspielt“ und hier vor allem „der Dunstkreis, die Atmosphäre, welche den Körper umgibt.“29 Als zentrale Gefahr gilt fortan die „entartete, verdorbene Luft, die Nähe des Übelriechenden“, das im Zuge menschlicher und tierischer Ausscheidungen und Verwesungen freigesetzte „Luftmiasma“.30 Die hygienischen Sanierungsmaßnahmen führen ab 1804 zur Entwicklung neuer Kanalisationssysteme, welche die Ausschwemmung des Unrats aus der Stadt und eine systematische Entwässerung gewährleisten sollten. 1781 kommt es zu Protesten der Bürger gegen die Sammelgruben von Montfaucon, jenem Pariser Stadtteil, in dem der Gestank durch Sickergruben und Abdeckereien am größten war.31 Louis-Sebastien Mercier wird in seinem berühmten Tableau de Paris (1781) die Metropole als ein „Amphitheater von Latrinen“ beschreiben, „die, eine über der anderen, ihren Platz gleich neben den Treppen, den Türen, den Küchen haben und allseitig den schlimmsten Gestank verbreiten.“32 Zu jener Zeit, in welcher Kleist sich in der Stadt aufhielt, galt noch ein Edikt Franz I. (1494–1547), das vorgesehen hatte, im Gründungsbereich der Gebäude Sickergruben anzulegen, für deren Entleerungen speziell eine Gilde gegründet wurde, deren Aufgabe darin bestand, die Fäkalien zu den Festungsgräben und Abfalldepots zu befördern.33 Leider kippten viele Kloakenentleerer, um sich den Weg zum Schindanger zu sparen, die Tonnen einfach in den Rinnstein. Auch die Walkmühlen und Weißgerbereien tragen ihren „Teil dazu bei, den Harngestank zu mehren. Die Fassaden der Pariser Häuser sind vom Urin zersetzt“.34 Pecunia non olet hatte der römische Kaiser Vespasian einst seinen –––––––— 27

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Vgl. etwa: Jürgen Raab: Soziologie des Geruchs. Über die soziale Konstruktion olfaktorischer Wahrnehmung. Konstanz 2001. Corbin: Pesthauch und Blütenduft (wie Anm. 18). S. 86. Ebd. S. 33. Ebd. S. 34. Vgl. ebd. S. 37. Louis-Sebastien Mercier: Tableau de Paris. 12 Bände. Amsterdam 1782–1788. Bd. XI. S. 54. Vgl. Jürgen Gottschalk: Die Kanalisation der Metropole von Paris. http://www.math.uni-hamburg.de/s pag/ ign/exk/pdf/p-kanal.pdf. Corbin: Pesthauch und Blütenduft (wie Anm. 18). S. 41.

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Sohn Titus gemaßregelt, weil dieser damals die Steuer auf Latrinen für nicht angemessen hielt. Urin und Maulbeerblätter waren damals in den Gerbereien wichtige Stoffe bei der Enthaarung der Tierhäute.35 Patrick Süskinds Roman Das Parfum spielt exakt in diesem Milieu, in den 1730er Jahren, also knapp 70 Jahre bevor Kleist die Stadt betritt, welche laut Corbin nicht nur das Zentrum der Künste, Wissenschaft und Mode, sondern auch des Gestanks bildet.36 Süskinds Roman, der sich bis in den Duktus hinein bei den Darstellungen von Mercier und Corbin bedient, setzt mit folgender naturalistischer Schilderung ein: Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Städten ein für uns moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen nach Mist, es stanken die Hinterhöfe nach Urin, es stanken die Treppenhäuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Küchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett; die ungelüfteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem stechend süßen Geruch der Nachttöpfe. Aus den Kaminen stank der Schwefel, aus den Gerbereien stanken die ätzenden Laugen, aus den Schlachthöfen stank das geronnene Blut […]. Es stanken die Flüsse, es stanken die Plätze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brücken und in den Palästen […]. Denn der zersetzenden Aktivität der Bakterien war im 18. Jahrhundert noch keine Grenze gesetzt, und so gab es keine menschliche Tätigkeit, keine aufbauende und keine zerstörende, keine Äußerung des aufkeimenden oder verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen wäre.37

Die Furcht vor den Gerüchen des Andern, vor „sozialen Ausdünstungen“38 wächst. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Vorstellung, dass üble Gerüche und Krankheiten erregende Miasmen durch den Atem übertragen werden können. Um diesen Erregern das Handwerk zu legen, muss Übelriechendes verbannt und kontrolliert werden. Wichtigster Imperativ ist dabei ein Vorgang, den Corbin als „Auseinanderrücken“39 bezeichnet. Räumliche Trennung der Körper soll Gestank eliminieren. Die Angst vor der Übertragung des Fäulnisprozesses des fremden und des eigenen Körpers führt zu einer Privatisierung des Unrats. Man beginnt, Toiletten alleine zu benutzen, ein Luxus, der zunächst dem Adel vorbehalten bleibt.40 Eine neue Räumlichkeit des Körpers entsteht. Das Recht auf Privatsphäre schlägt sich auch bei den Toten nieder: Im Zuge neuer Hygienepolitik kommt die Forderung nach einer Verlegung der Friedhöfe an den Stadtrand auf. Auch die Tendenz zu Einzelgräbern, eine Erscheinung, die sich erst im 19. Jahrhundert auf breiter Basis durchsetzen wird, erscheint in dieser Phase. Sterben und Tod werden – primär aus Angst vor Verwesungsgeruch – privatisiert. Friedhöfe mit besagten Einzelgräbern geraten auf diese Weise laut Foucault zu so genannten Abweichungsheterotopien, „Orte[n], an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom –––––––— 35 36 37 38 39 40

Vgl. „Geld von der Sonnenbank“. In: Süddeutsche Zeitung. 22. September 2010. S. 1. Vgl. Corbin: Pesthauch und Blütenduft (wie Anm. 18). S. 42. Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Zürich 1994. S. 5f. Corbin: Pesthauch und Blütenduft (wie Anm. 18). S. 53. Ebd. S. 136. Vgl. ebd. S. 116.

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Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht“.41 Ich zitiere den entscheidenden Passus aus Foucaults Vortrag Von anderen Räumen: Jedenfalls hatte ab dem 19. Jahrhundert jeder ein Anrecht auf eine eigene kleine Kiste für seine ganz persönliche Zersetzung. Andererseits begann man erst im 19. Jahrhundert, die Friedhöfe an den Stadtrand zu verlegen. Zusammen mit dieser Individualisierung des Todes und der Aneignung des Friedhofs durch das Bürgertum geriet der Tod in den Geruch einer „Krankheit“. Man nahm an, die Toten brächten den Lebenden Krankheiten, die Anwesenheit und Nähe der Toten gleich neben den Häusern, neben der Kirche, fast schon mitten auf der Straße, sorge für die Ausbreitung des Todes. Das große Thema der von den Friedhöfen ausgehenden und durch Ansteckung verbreiteten Krankheit findet sich bis Ende des 18. Jahrhunderts. Und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts beginnt man, die Friedhöfe an die Außengrenzen der Stadt zu verlegen. Die Friedhöfe sind nun nicht mehr der heilige und unsterbliche Geist der Stadt, sondern die „andere Stadt“, in der jede Familie ihre dunkle Bleibe besitzt.42

Kleist steht bei seinem Paris-Aufenthalt exakt an der Schwelle der von Foucault beschriebenen Prozesse räumlich-sozialen Wandels, ausgelöst durch die beschriebene olfaktorische Revolution. Und diese Prozesse sind derartig virulent, dass sich die eben skizzierte Spur in seinen Briefen niederschlägt. Im bereits zitierten Brief vom 16. August 1801 findet sich eine – von der Forschung meines Wissens nicht beachtete – zentrale Passage. Kleist schreibt: Auch ist es etwas ganz Gewöhnliches, einen toten Körper in der Seine oder auf der Straße zu finden. Ein solcher wird dann in einem an dem Pont St. Michel dazu bestimmten Gewölbe geworfen, wo immer ein ganzer Haufe übereinander liegt, damit die Anverwandten, wenn ein Mitglied aus ihrer Mitte fehlt, hinkommen und es finden mögen.43

Es leuchtet nun auf den ersten Blick ganz und gar nicht ein, wie und weshalb eine Seinebrücke als improvisierte Leichenhalle fungieren sollte. Kleist sitzt hier mit großer Wahrscheinlichkeit jedoch keiner Großstadtlegende auf, denn die „Pont Saint-Michel“ war zu jener Zeit die letzte Brücke in Paris, auf der sich Häuser befanden. 1808, also nur sieben Jahre nachdem Kleist von diesen Begebenheiten berichtet, wurden diese Häuser endgültig abgerissen. In einem davon könnten sich beschriebene Räumlichkeiten befunden haben.44 Worum es Kleist mit der Beschreibung einer solchen Abweichungsheterotopie geht, ist – so meine These – abweichend zu Foucault keine Kritik an sozial etablierten Machtstrukturen. Kleist zielt vielmehr in seiner Darstellung eines abweichenden sozialen Raumes auf die Schilderung eigener innerer Befindlichkeit mittels räumlicher Projektion. Nicht an sozialdemokratischer, sondern an individueller Verbesserung, an der Durchführung eines eigenen privaten Tugendplans ist ihm gelegen. Dies soll durch ein weiteres Motiv der Kleistschen Briefe deutlich gemacht werden. –––––––— 41 42 43 44

Foucault: Von anderen Räumen (wie Anm. 12). S. 937. Ebd. S. 938. Kleist: Brief an Louis von Zenge. 16. August 1801 (wie Anm. 1). S. 686. Die geringe Breite und das hohe Alter der Brücke brachten die Stadtverwaltung 1855 schließlich dazu, Pont St. Michel neu bauen zu lassen.

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Ähnlich wie in Pierre de Marivaux’ Roman Le paysan parvenu (1735), dessen Lektüre Kleists Paris-Bild neben Rousseaus La nouvelle Heloise (1761) am stärksten literarisch vorgeprägt hat, gewinnt Kleist im urbanen Raum der Stadt den beherrschenden Eindruck, Paris gründe „auf dem Zusammenstrom von Fremden.“45 Dies ist wörtlich zu verstehen: Richard Sennett hat darauf verwiesen, dass Paris – ebenso wie London – seinen Bevölkerungsstand im Wesentlichen durch Zuwanderer wahrte, die „wenigstens zwei Tagereisen von der Stadt entfernt gelebt hatten“, die „jung und alleinstehend“ waren und ihre ländliche Existenz aufgaben, „um ihr Los zu bessern“.46 Dieses Profil kann nicht verwundern, in einer „Welt des frühen Todes“47, wie sie der Historiker David Blackbourn genannt hat, in einer Welt bevölkert von Witwen und Waisen. Die Hälfte aller Kinder starb vor dem zehnten Lebensjahr, nur jeder Zehnte erreicht das sechzigste Lebensjahr, und, so Blackbourn weiter: Wölfe durchstreiften die Wälder und Sümpfe […] während in den schmutzigen und ungesunden Städten so viele Einwohner umkamen, dass ein ständiger Zustrom vom umliegenden Land nötig war, um ein Schrumpfen der Stadtbevölkerung zu verhindern.48

Kleist erlebt Paris nun in der Tat als Ansammlung von Fremden. Sennett unterscheidet in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens zwei maßgebliche Typologien des Fremden49: der Fremde als Außenseiter und der Fremde als Unbekannter. Der Fremde als Außenseiter tritt laut Sennett „in einer Umgebung auf, in der sich die Menschen ihrer eigenen Identität so bewußt sind, daß sie Regeln über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit aufstellen können“.50 In einer zweiten – und für den Fall Kleist relevanten Variante von Fremdheit ist der/das Fremde gleichbedeutend mit der/das Unbekannte. Sennett schreibt: In diesem Sinne kann jemand einen anderen als „fremd“ erleben, auch wenn er selbst über Regeln für seine eigene Identität verfügt […]. Der Fremde als Unbekannter kann jedoch auch die Wahrnehmung von Menschen beherrschen, die über ihre eigene Identität im unklaren sind, die ihr traditionelles Selbstbild verlieren oder einer neuen gesellschaftlichen Gruppe angehören, die als solche noch kein deutliches Merkmal besitzt.51

Mit der Großstadt Paris betritt Kleist einen Ort, in welchem die Strukturen, die dem öffentlichen Leben bislang zu Grunde lagen, neu verhandelt werden müssen. Die damit verbun–––––––— 45 46 47 48 49 50

51

Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens (wie Anm. 16). S. 105. Ebd. S. 104. Blackbourn: Die Eroberung der Natur (wie Anm. 19). S. 33. Ebd. S. 33. Vgl. Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens (wie Anm. 16). S. 99. Ebd. S. 99. Sennett nennt als Beispiel italienische Einwanderer in New York, welche Chinesen, die in ihre Nachbarschaft ziehen, als Fremde betrachten, jedoch auf Grund von Hautfarbe, Sprache, Essgewohnheiten usw. einzuordnen vermögen. Ebd. S. 99f.

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dene Orientierungsunsicherheit für das Verhalten in der Öffentlichkeit steht bei stetiger Verknappung des öffentlichen Raumes für Kleist in engem Zusammenhang mit der immer dringlicher werdenden Frage nach der eigenen Identität. Angesichts der wachsenden Körperströme in den verengten Straßen und auf den öffentlichen Plätzen und der Flut der daran gekoppelten anonymisierten Begegnungen gerät bei Kleist das eigene Ich zunehmend auf den Prüfstand, wird es gedrängt, eine mehr oder weniger klare Vorstellung von sich selbst zu modellieren. Ein Brief an die Freundin Karoline von Schlieben, gerade eine Woche nach der Ankunft in Paris von Kleist verfasst, vermerkt: Wenn ich das Fenster öffne, so sehe ich nichts, als die blasse, matte, fade Stadt, mit ihren hohen, grauen Schieferdächern und ihren ungestalteten Schornsteinen, ein wenig von den Spitzen der Tuilerieen, und lauter Menschen, die man vergißt, wenn sie um die Ecke sind. Noch kenne ich wenige von ihnen, ich liebe noch keinen, und weiß nicht, ob ich einen lieben werde. Denn in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein. Schauspieler sind sie, die einander wechselseitig betrügen, und dabei tun, als ob sie es nicht merkten. Man geht kalt aneinander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist, als ihresgleichen; ehe man eine Erscheinung gefaßt hat, ist sie von zehn andern verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier so unbrauchbar, wie eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan.52

Diese Passage stellt eines der ersten Zeugnisse eines Phänomens dar, welche der Soziologe Georg Simmel fast exakt 100 Jahre später in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben mit der Rede von der „Steigerung des Nervenlebens“53 auf eine bündige Formel gebracht hat. Laut Simmel gehört ständige Reizüberflutung, ein „rasche[r] und ununterbrochene[r] Wechsel äußerer und innerer Eindrücke“,54 zu den unabdingbaren Gegebenheiten urbanen Lebens. Dieses städtische theatrum mundi – wie Sennett es nennt – ist bei Kleist ausschließlich negativ besetzt. Er koppelt die wahrgenommene Reizüberflutung – und dies ist entscheidend und für die Mentalität der Epoche vollkommen untypisch – durchgängig an die Wahrnehmung moralischen Verfalls.55 Belegen lässt sich dies wiederum an einem anderen sozial aufgeladenen Raum den Kleist besucht, nämlich das Palais Royal, jener Pariser Stadtpalast im 1. Arrondissement, 150 Meter nördlich des Louvre. Näher betrachtet handelt es sich um jene etwa 60 Häuser mit Arkadengängen, die in den Jahren 1781 bis 1784 rund um den Palastgarten errichtet wurden. Sie beherbergten Wohnungen, Läden, Gastronomiebetriebe und Vergnügungseinrichtungen wie etwa die berüchtigten Spielhallen (wurden 1838 geschlossen). Die Anlage war öffentlich zugänglich und die Pariser Bevölkerung nutzte sie –––––––— 52 53 54 55

Kleist: Brief an Karoline von Schlieben vom 18. Juli 1801 (wie Anm. 1). S. 661f. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (wie Anm. 17). S. 116. Ebd. S. 116. Vgl. hierzu die nicht publizierte Magisterarbeit von Stefan Dressler: „Nichts als die blasse, matte, fade Stadt…“. Zur Ästhetisierung des Urbanen in Kleists Briefen aus Paris.

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weidlich. Paris-Besucher wie Ernst Moritz (1798), Friedrich Schulz (1791) und Joachim Heinrich Campe (1789) widmen den Arkadengängen in ihren Briefen lange Passagen. Sie inspirieren Autoren wie letztgenannten Campe in seinen Briefe[n] aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben zu innerhalb der Epoche populär gewordenen „Menschen-gemählden“. Die rhetorische Stoßrichtig ist eindeutig: Laut Campe ist es „die Menschennatur, die Menschheit selbst, die sich […] im Palais Royal versammelt findet“56: Hier sieht man Greise und Jünglinge, Matronen und Mädchen, Weltleute, und Priester, ehrbare Frauen und feile Buhlerinnen, reiche Prasser und hungrige Künstler, speculative Erwerber und thörigte Verschwender, Enthaltsame und Wollüstlinge, Kluge und Dumme, Weise und Narren. – Einen an des Andern Seite sitzend, stehend oder herumlaufend, in der allermannigfaltigsten, buntesten, sonderbarsten und tolerantesten Vermischung57.

Worum es Campe hier geht, und eine ähnliche Tonart lässt sich später – auch nach Abklingen aktueller Revolutionseuphorie – noch bei Arndt und Schulz finden, ist ein Moment, das Heinz Brüggemann mit einem glücklichen Ausdruck als die „egalitären Momente der sozialen Raumerfahrung“58 bezeichnet hat. Die kontrastive Beschreibung der Menschenmenge Campes dokumentiert, wie Standesunterschiede, Gegensätze des Lebensalters, des Charakters und der Profession in den Arkadengängen des Palais Royal für eine Nacht lang aufgehoben sind. Die radikalen ökonomischen und sozialen Gefälle der Flaneure und Nachtschwärmer sind im Topos einer prekären Garten-Idylle und den daraus resultierenden Affekten der Selbstvergessenheit suspendiert. Es kommt zu einer räumlichen Segregration, zur partiellen Entmischung der innerhalb der einzelnen Stadtviertel normalerweise weitgehend voneinander getrennt existierenden sozialen Gruppen. Ein im Sinne der zeitgenössischen Revolutionsbewegungen durchaus willkommener Effekt. Wie anders nun liest sich der Besuch eben dieses Palais Royal in den Briefen Heinrich von Kleists, nur wenige Jahre später: Auf dem Rückwege [vom Louvre] gehe ich durch das Palais royal, wo man ganz Paris kennen lernen kann, mit allen seinen Greueln und sogenannten Freuden – Es ist kein sinnliches Bedürfnis, das hier nicht bis zum Ekel befriedigt, keine Tugend, die hier nicht mit Frechheit verspottet, keine Infamie, die hier nicht nach Prinzipien begangen würde – Noch schrecklicher ist der Anblick des Platzes an der Halle au bléd59, wo auch der letzte Zügel gesunken ist – Dann ist es Abend, dann habe ich ein brennendes Be-

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Vgl. Heinz Brüggemann: „Aber schickt keinen Poeten nach London!“ Großstadt und literarische Wahrnehmung im 18. und 19. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg 1985. S. 85. Joachim Heinrich Campe: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben. Reprographischer Druck der Ausgabe. Braunschweig 1790. Hg. von Hans-Wolf Jäger. Hildesheim 1977. S. 73f. Brüggemann: „Aber schickt keinen Poeten nach London!“ (wie Anm. 57). S. 84. Berühmte Pariser Getreidemarkthalle, ringförmiges Gebäude, durchdrungen von 25 Arkaden, auf dem Gelände des ehemaligen Schlosses von Soisson, nahe dem Seine-Ufer. Der offene Innenhof schadete der Getreidespeicherung. 1782/83 wurde sie von den Architekten Jacques-Guillaume Legrand und Jacques

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dürfnis, das alles aus den Augen zu verlieren, alle diese Dächer und Schornsteine und alle diese Abscheulichkeiten, und nichts zu sehen, als rundum den Himmel – aber gibt es einen Ort in dieser Stadt, wo man ihrer nicht gewahr würde?60

„(…) es ar als erdrückte ihn die Stadtluft“61 – Eichendorffs Credo im Roman Ahnung und Gegenwart (1812) findet in Kleists Großstadtbriefen einen frühen Befürworter. Die Stadt erzeugt bei ihm klaustrophobisch dimensionierte räumliche Enge, sie ist ein Ort des Gestanks und möglicher Krankheitsansteckung, und sie ist schließlich eine Hölle der Anonymität und des Lasters. Mit der Radikalität und Einseitigkeit seiner Diagnose weicht Kleist – wie gezeigt – von einem Großteil der Zeitgenossen ab, die in Paris – bei allen bekannten Schwierigkeiten, die geschilderte Segregationsprozesse mit sich bringen – wesentlich eine Metropole der Kultur, der Geselligkeit, des kreativen Austauschs und der Möglichkeit sozialen Aufstiegs wahrnahmen. Kleist ist in diesem Diskurs – wie so häufig – eine vereinzelte seismographische Stimme, wenn auch kein Solitär. Seine Briefe aus Paris etablieren den Rhythmus einer Stadt- und Raumwahrnehmung, welche erst 100 Jahre später in den erwähnten soziologischen Diagnosen Simmels oder – literarisch gesehen – in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) oder aber in der expressionistischen Lyrik bei Georg Heym, Jakob van Hoddis, Ernst Blass und vielen anderen ihren vielstimmigen Ausdruck finden werden. Dennoch sind Kleists Briefe aus Paris mehr als die zu vernachlässigenden Schreckgespenster eines pathologischen Einzelgängers. Ingrid Oesterle hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Kleist sich partiell mit seiner Großstadtkritik sehr wohl in den „literarischen Briefdiskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts“62 einschreibt. Ludwig Tiecks Briefroman William Lovell (1795/96) und Goethes extrem einflussreicher Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) sind hier als wichtigste intertextuelle Einflussgrößen zu nennen. Was diese Texte wesentlich miteinander verbindet, ist zum einen die Propagierung eines Art „Gegenraum[s]“63 oder auch Kompensationsraums zum kontaminierten Topos der Stadt. Dieser Gegenraum mündet in zahllosen Texten romantischer Literatur in Raumdar–––––––—

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Molinos durch eine 38 Meter hohe Kuppel überdacht, allerdings schon 1802 durch einen Brand zerstört. Der Wiederaufbau (1806–1811) wurde von François-Joseph Bélanger und François Brunet durchgeführt. Kleist: Brief an Adolfine von Werdeck. 29. Juli 1801 (wie Anm. 1). S. 677f. Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. (= Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer. Fortgeführt und herausgegeben von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann [fortan: HKA]). Bd. III: Ahnung und Gegenwart. Hg. von Christiane Briegleb und Clemens Rauschenberg. Stuttgart 1984. S. 192. Ingrid Oesterle: Werther in Paris? Heinrich von Kleist Briefe über Paris. In: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Hg. von Dirk Grathoff. Opladen 1988. S. 97–116. Zitat: S. 99. Vgl. weiterhin: Gerhart Pickerodt: Zwischen Erfahrung und Konstruktion. Kleists Bildentwürfe in den Pariser Briefen des Jahres 1801. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 38 (1994). S. 89–116 sowie: Dressler (wie Anm. 56). Die Stadt in der europäischen Romantik. Hg. von Gerhart von Graevenitz. Würzburg 2000. S. 7.

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stellungen „idyllische[r], dämonische[r] und bukolische[r]“64 Landschaften. Bei Eichendorff – dies ist bekannt und kann hier nur erwähnt werden – wird der Wald, die „grüne Abgeschiedenheit“ zum poetischen Gegenzentrum jener lärmenden Städte, in deren Getriebe das Leben der meisten für Eichendorff nur „eine immerwährende Geschäftsreise vom Buttermarkt zum Käsemarkt“65 ist. Zum anderen wird ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Rousseau, Goethes Werther), „der äußere Raum […] [zunehmend] zur [inneren] Seelenlandschaft“66, zum Ausdrucksträger der Befindlichkeiten des romantischen Subjekts. Hier – darauf hat Joachim Ritter in der Forschung früh verwiesen – erreicht die Mentalitätsgeschichte der Landschaftswahrnehmung eine neue Stufe der Ästhetisierung, die ihre Anfänge vielleicht mit Petrarcas Bericht über seine Besteigung des Mont Ventoux im Jahre 1335 nimmt.67 Kleist schreibt sich – und damit komme ich ans Ende – in der von mir geschilderten Phase der Briefproduktion – in diese Bewegung mit ein. Er verlässt Paris im November 1801 nach vier Monaten resigniert und betritt – als unmittelbare Reaktion auf die Erlebnisse in der urbanen Metropole – im Februar/März 1802 besagten „Gegenraum“. Kleist reist in die Schweiz und möchte sich von seinem Erbe dort am Thuner See ein Landgut kaufen. Dieser Plan ist in der Endphase des Paris-Aufenthalts gereift, wie die letzten Briefe an die Verlobte Wilhelmine von Zenge unzweifelhaft belegen. Kleist schreibt: Weißt Du, was die alten Männer tun, wenn sie 50 Jahre lang um Reichtümer und Ehrenstellen gebuhlt haben? Sie lassen sich auf einen Herd nieder, und bebauen ein Feld. Dann, und dann erst, nennen sie sich weise. – Sage mir, könnte man nicht klüger sein, als sie, und früher dahin gehen, wohin man am Ende doch soll? – Unter den persischen Magiern gab es ein religiöses Gesetz: ein Mensch könne nichts der Gottheit Wohlgefälligeres tun, als dieses, ein Feld zu bebauen, einen Baum zu pflanzen, und ein Kind zu zeugen.68

Hier findet sich in Reinkultur jenes um 1800 entstehende Konzept vom Kompensationsraum Natur, die einen Gegenentwurf zur städtischen Sphäre – in diesem Falle: die bäuerliche Existenz – bereithält. Kleist beschwört die sich zierende Verlobte geradezu, ihm in diesem Gegenentwurf zu folgen. Im nächsten Briefe heißt es: Sind die Vergnügungen des Stadtlebens nicht auch flache Freuden für Dich? […] Höre mich einmal an, oder vielmehr beantworte mir diese eine Frage: Welches ist das höchste Bedürfnis des Weibes? Ich müßte mich sehr irren, wenn Du anders antworten könntest, als: die Liebe ihres Mannes. Und nun sage mir, ob irgend eine Lage alle Genüsse der Liebe so erhöhen, ob irgend ein Verhältnis zwei Herzen so fähig ma-

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Ebd. HKA III (wie Anm. 61). S. 38. Vgl. Carsten Lange: Architekturen der Psyche. Raumdarstellung in der Literatur der Romantik. Würzburg 2007. S. 12. Vgl. Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. (1963). In: Joachim Ritter: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt am Main 1974. S. 141–163. Kleist: Brief an Wilhelmine von Zenge. 10. Oktober 1801 (wie Anm. 1). S. 694.

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chen kann, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen, als ein stilles Landleben? – Glaubst Du daß sich die Leute in der Stadt lieben?69

Es zeigt sich jene Antinomie, auf die Wolf Lepenies in anderem Kontext – nämlich bei der Entstehung der bürgerlichen Melancholie im Deutschland des 18. Jahrhunderts im Vergleich zu Frankreich – gestoßen ist. Der Kompensationsraum Natur ist von vorneherein mit einem Ausweichen in die Innerlichkeit, in den suggerierten Schutzraum Familie, parallelisiert. In Lepenies Studie Melancholie und Gesellschaft heißt es dazu: „Ist der Weg in die [äußere] Aktion versperrt, bleibt als Alternative […] noch Natur.“70 Etwas respektloser ausgedrückt: „Der Franzose […] flieht in den Salon oder zettelt eine Revolution an, der Deutsche geht ins Grüne.“71 Man tut Kleist – so denke ich – jedoch Unrecht, reduziert man seinen Entschluss auf Familien- und Landleben, auf reinen Eskapismus und Antriebsschwäche. Denn als sich entpuppt, dass die 21-jährige Wilhelmine weder Bäuerin, noch weise, noch Mutter, noch Landbewohnerin werden will, verabschiedet sich Kleist ohne Zögern von diesem Lebensplan72 und entwirft einen neuen. Er löst im Mai 1802 die Verlobung auf, mietet sich mutterseelenallein auf der Delosea-Insel ein Haus und erschließt in der ländlichen Idylle der Schweiz neue Außenräume für sich. Auch diese Räume werden bei ihm zu Innenräumen literarisch umgruppiert. Im Brief an Heinrich Zschokke aus Thun vom 1. Februar 1801 heißt es: Wenn Sie mir einmal […] die Freude Ihres Besuchs schenken werden, so geben Sie wohl acht auf ein Haus an der Straße, an dem folgender Vers steht: „Ich komme, ich weiß nicht, von wo? Ich bin, ich weiß nicht, was? Ich fahre, ich weiß nicht, wohin? Mich wundert, daß ich so fröhlich bin“.73

Und Kleist ergänzt: „Der Vers gefällt mir ungemein, und ich kann ihn nicht ohne Freude denken, wenn ich spazieren gehe“.74 Damit tritt endgültig die Raumerfahrung von Landschaft und Haus in jene Seinsposition, die einst ein Gott und danach ein menschliches Gegenüber hätte einnehmen sollen. August Langen hat dies in einer bündigen Formulierung zum Ausdruck gebracht, mit der ich schließe: „Wie einst die Seele und der Gott, so stehen sich nun Mensch und Landschaft einander gegenüber wie geöffnete Spiegel“.75

–––––––— 69 70 71 72 73 74 75

Kleist: Brief an Wilhelmine von Zenge.27. Oktober 1801. Ebd. S. 697. Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt am Main 1969. S. 100. Friedmar Apel: Deutscher Geist und deutsche Landschaft. Eine Topographie. München 1998. S. 18. Vgl. Kleist: Brief an Heinrich Zschokke. 1. Februar 1802 (wie Anm. 1). S. 717. Ebd. S. 717. Ebd. August Langen: Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftserfahrung des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 70 (1948/49). S. 255.

Volkmar Stein

Bericht über den 20. Kongress der Eichendorff-Gesellschaft vom 7. bis 9. Oktober 2010 in Regensburg Dass die Eichendorff-Gesellschaft auch ihren 20. und, wie sich am Ende bewahrheitete, letzten Kongress wieder in Regensburg veranstaltete, war der organisatorischen Unterstützung durch das Germanistische Seminar der Universität zu verdanken, dem die Präsidentin, Prof. Dr. Ursula Regener, angehört. Im Namen der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften begrüßte deren Forschungsdekan Prof. Dr. Christian Wolff die Teilnehmer am frühen Nachmittag im Thon-Dittmer-Palais. In seiner kurzen Ansprache gab er zu verstehen, dass die Zeit freier, sozusagen entspannter Forschung fürs Erste vorbei ist. Die Universität muss sich damit abfinden, dass Begriffe aus der ökonomischen Sphäre auf sie übertragen werden, sich um „Profilschärfung“ bemühen, „Themenverbünde von bundesweiter Strahlkraft“ finden und organisieren. Dann war es an der Präsidentin, auch ihrerseits die Teilnehmer zu begrüßen und an das Kongressthema heranzuführen. Mit multimedialer Unterstützung (wie fast alle folgenden Referenten) nahm sie einige Balladen wie Bürgers Lenore, Goethes Fischer, eben dessen Erlkönig und Eichendorffs Waldgespräch in den Blick, um „über den Raum mehr Disziplin in die Interpretation zu bringen“ – zum Beispiel durch die Herausarbeitung der Raumopposition der Sphären „Land“ und „Wasser“ in Goethes Fischer. Inzwischen war, von anderen wichtigen Terminen kommend, auch Bürgermeister Joachim Wolbergs eingetroffen. In seinem Grußwort nannte er Regensburg ein „romantisches Kleinod“, dankte der Gesellschaft dafür, dass sie erneut an diesen Ort gekommen sei, und wünschte einen „spannenden Kongress“. Der Vorstand hatte beschlossen, die Eichendorff-Medaille in diesem Jahr an Prof. Dr. Hermann Korte (Siegen) zu verleihen. Bevor dies geschah, würdigte die Präsidentin sein bisheriges Werk, in dem er „gegen eine feste hermeneutische Front der Literaturwissenschaft opponiert“ und Das Ende der Morgenröte angesagt habe. Auch als Autor der weit verbreiteten rororo-Monographie verdiene er die Ehre der Eichendorff-Medaille. In seiner Dankesansprache zeigte sich der Geehrte überrascht, da er sich selbst als einen Außenseiter der Eichendorff-Forschung empfunden habe. Das Echo auf sein erstes größeres Projekt, eben Das Ende der Morgenröte, sei eher kritisch gewesen. Aber wer sich einmal in Eichendorff festgelesen habe, werde nicht mehr von ihm lassen. In seinem, Kortes, Fall sei es die Taugenichts-Lektüre der Schulzeit gewesen. Die wichtigsten wissenschaftlichen Impulse habe er von Alewyn, Seidlin und Koopmann empfangen. Er gehe der Spannung zwischen „Gemütserregungskunst“ und komplexer Textpartitur nach, und Eichendorffs Modernität sei ihm ein wichtiges Thema. Die Medaille ermuntere ihn, sich weiter mit Eichendorff zu beschäftigen. Aurora 70/71 (2010/11). S. 127–138

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Anschließend hielt Korte den ersten Vortrag des Kongresses zum Thema Der junge Herr Publikum. Eichendorffs Tagebuch als theatergeschichtliche Quelle. Zunächst unterstrich er den Anteil des Zuschauers am Zustandekommen theatralischer Kunst; er sei also nicht bloß in wirkungsgeschichtlicher Perspektive von Interesse. Es gelte, sich von der Fixierung auf das Drama als Text zu lösen und „den Zuschauer zu entdecken“. Das geschehe im Wiener Institut für Publikumsforschung, dessen Arbeit sich allerdings bisher auf die späten 1970er Jahre beschränkt habe. Zu Eichendorff nannte Korte vor allem folgende Tatsachen: In seinem Tagebuch von 1801 bis 1812 sind keineswegs alle Lektüren, aber alle Theaterbesuche erwähnt. Seine Notate erscheinen in vierfacher Variation: als Kurznotiz, die sich auf den Titel des Stücks beschränkt, als Schauspielernotiz, welche die Namen der Akteure (aber kaum die der Autoren) festhält, schon früh (seit 1802) auch als Geschmacksurteil, das sich auf die Schauspielkunst bezieht und eine differenzierte Beobachtungskunst verrät, und schließlich als Publikumsbetrachtung, die den Beifall und vor allem natürlich besondere Skandale registriert. Werkdeutungen gibt es nicht, der junge Herr im Publikum erwartet Vergnügen und Zerstreuung und befindet sich damit durchaus in Übereinstimmung mit dem Geist des 18. Jahrhunderts. Die Gelehrten begründen das Ziel „Ergötzung“ sozialhygienisch: Das Theater dient der Wiedergewinnung der Gesundheit. „Deutungshoheit“ über das Theater hat demnach zunächst die Polizei- und Kameralwissenschaft, wie sie in Justis Handbuch von 1761 dargestellt ist. Die Komödie zählt zu den erlaubten Vergnügungen. Gottsched und Sonnenfels freilich sind anderer Meinung; die Oper lehnten sie völlig ab. Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie will ein anderes Publikum als das reale, dem er „unrechtes Klatschen und Zischen“ vorwirft. Eichendorffs Eintragungen bestätigen manche von Lessings Vorwürfen, ohne das damit beschriebene Publikumsverhalten zu missbilligen. Er registriert „Brüllen“, mit dem das Publikum nicht einfach auf das Stück reagieren, sondern es durch ein anderes ersetzen will. Es gibt sogar provozierte Skandale und Abwehrmaßnahmen dagegen – Studenten werden zu bestimmten Stücken nicht zugelassen. Eichendorff sitzt gern im Parterre – hier und nicht in den Logen entscheidet das Publikum über das Stück oder die Inszenierung und nimmt damit Einfluss auf den Spielplan und die Besetzung. Das Parterre ist also „aktiver Mitspieler“, wie Eichendorff in Krieg den Philistern Jahrzehnte später unmittelbar vorführt. Versdramen sind beim Publikum schwer durchzusetzen, Shakespeare wird kaum gespielt, viel dagegen Iffland und vor allem Kotzebue. Dann setzt ein Disziplinierungsprozess ein, dessen Endprodukt der ruhige, sich auf seinem Platz nicht rührende Zuschauer ist. Erst auf diesem Hintergrund gewinnt der Text des Stückes an Bedeutung. Schließlich stellte Korte die Frage, was Eichendorff den „Iffländereien“ und „Kotzebueaden“ seiner Jugend verdanke. Auf „spezifische Einflüsse“ konnte er nicht verweisen, wohl aber auf die zahlreichen komödiantischen Situationen und „Konfusionen“ des Erzählwerks, die Technik der Beobachtung aus der Zuschauerperspektive – und die Idee des Welttheaters, der Verwandlung der Welt in eine Bühne.

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In der Diskussion wies Otto Eberhardt auf Eichendorffs Erlebnis des Leopoldstädter Theaters in Wien hin. Dort seien immer nur Possen gespielt und Romeo und Julia als Parodie gegeben worden. Wolfgang Bunzel warnte davor, das Theaterpublikum ohne Einschränkung als ein bloß sehendes und nicht lesendes zu verstehen. Die Gebildeten hätten die Texte durchaus gekannt. Dagegen wandte Korte ein, dass die Texte erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Regel gedruckt worden seien. Von manchen Stücken, die im Berliner Theater aufgeführt worden seien, seien die Texte heute gar nicht mehr vorhanden. Auf Helmut Koopmanns Frage, was denn die Wanderbühnen vor allem in Schlesien gespielt hätten, antwortete Korte, im Repertoire habe es keinen Unterschied zu den festen Häusern gegeben, allerdings hätten die Wanderbühnen die gleichen Stücke teilweise noch als Marionettentheater gegeben. Nach einer kleinen Kaffeepause sprach Prof. Dr. Helmut Koopmann (Augsburg). Sein Thema war Konstruierte Wirklichkeiten. Zu Eichendorffs Lyrik. Er erinnerte an das landläufige Eichendorff-Bild, das ihn als romantischen Sänger des Waldesgrüns, des Fernwehs, der Sehnsucht, des nutzlosen Lebens darstellt; ein Bild, das Thomas Mann 1916 befestigt habe. Dieses Bild sei aber revisionsbedürftig. Eichendorff sei auch ein politischer Dichter in den unruhigen Zeiten nach der Französischen Revolution, den Freiheitskriegen. Auch wenn seine eigenen militärischen Erfahrungen „kümmerlich“ gewesen seien, habe er doch im Strom der Vaterländerei mitgeschwommen. Daraus und von den „Altdeutschen“ habe er sich jedoch schnell befreit, sei zum Dissidenten geworden und habe die Satire als Waffe eingesetzt. Um 1840 sei er noch einmal zur politischen Lyrik zurückgekehrt und so etwas wie ein Untergangsprophet geworden. Koopmann zitierte aus Eichendorffs Rezension der Memoiren des Fürsten von Schwarzenberg: „Hinter diesen letzten Trümmern einer tausendjährigen Kultur lauert freilich die Anarchie, die Barbarei, und der Kommunismus; der Proletarier hat an der willkommenen Bresche, wie zur Probe, schon die Sturmleiter angelegt.“ Das schrieb er 1847, als sich der Bund der Kommunisten gründete! Andererseits aber seien auch die schönsten romantischen Gedichte – anders als zum Beispiel Goethes Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! – keine Erlebnisgedichte. An Eichendorffs Gedicht Der alte Garten demonstrierte Koopmann, dass hier die Zeiten „ineinander verwirbelt“ werden und die Realien einen „mehrfachen Sinn“ bekommen. Das „als ob“ reicht aus, um der Wirklichkeit einen doppelten Boden zu geben. Die Landschaften ähneln einander, sie entstehen „synthetisch“, durch Montage – und die ist ein Kunstprinzip der Moderne! Koopmann selbst montierte Verszeilen aus zwölf Eichendorff-Gedichten zu einem neuen, aber durchaus „echt“ wirkenden Gedicht. Eichendorff nehme den Symbolismus vorweg, der in seinem Todesjahr 1857 in Baudelaires Fleurs du mal und dort besonders im Sonett Correspondances dichterisch Gestalt annahm und 1886 im Figaro als Manifest des Symbolismus programmatisch formuliert wurde. Wie Baudelaire, von dem er nichts wusste, spiele Eichendorff mit dem Material. Wie Baudelaire und Mallarmé (und wie vor ihnen sonst niemand) bediene Eichendorff sich der „bewegten Bilder“. Auch die Landschaft sei in unendlicher Bewegung. Diese erstaunliche Nähe Eichendorffs zum Symbolismus erklärte Koopmann, indem er den Dichter einerseits in die Nähe Heines und der

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anakreontischen Tradition – und in die Tradition des Kirchenlieds, das voller Symbole sei, rückte. An der wirklichen Natur sei Eichendorff wenig gelegen. Den Kontinuitätsbruch der Zeit um 1800 habe er intensiver als andere Romantiker erfahren. Nicht nur die Zeit, auch die Räume seien ihm fremd geworden – Fremde sei eine immer wiederkehrende Erfahrung, etwa in der 2. Strophe des Irren Spielmanns. In seinem Zweifel an der Stellung des Dichters sah Koopmann Eichendorff etwa in der Mitte zwischen Schiller und Hofmannsthal. Im aufgeklärten 18. Jahrhundert gab es weder im geographischen noch im temporären Sinn Fremde; Romantiker wie Eichendorff haben sie wieder entdeckt, und der Taugenichts ist nur die heitere Variante der Suche nach der verlorenen Heimat. In der Diskussion stellte Jürgen Daiber dem Bild der mit hoher Bewusstheit konstruierten formelhaften Eichendorffschen Landschaft die Version von Joachim Ritter gegenüber: Die romantische Landschaft ist Seelenlandschaft; innere Prozesse werden über Landschaftsdarstellung verhandelt – aber unbewusst oder unterbewusst. Er fragte, ob Eichendorffs Landschaftsdarstellung nicht in der Tat unbewusste Selbstvergewisserung sei, und er fragte weiter, ob die Entdeckung, dass das Ich nicht mehr Herr sei im eigenen Hause, nicht schon von Eichendorff stamme. Darauf antwortete der Referent salomonisch, das eine schließe das andere nicht aus. Es könne durchaus sein, dass Eichendorff „montiere“ und dabei auch Unbewusstes ins Spiel komme. Dass Fremde bei Eichendorff mehr als bei anderen Autoren ein Thema sei, hänge mit Autobiographischem zusammen, sei aber auch eine religiöse Erfahrung. – Gegen den für Eichendorff erhobenen Anspruch der Modernität wandte Otto Eberhardt ein, dass der Dichter selbst sich und sein Leben unter die Formel „zu spät“ stellt, sich also eher in Bezug zur Vergangenheit setzt, wobei an den Barock zu denken wäre. Auch damit war Koopmann nicht zu beeindrucken: Das „zu spät“ sei Eichendorffs Eigenerfahrung; die andere Betrachtung werde dadurch nicht ausgeschlossen. Eichendorff benutze Formeln aus dem Barock, evoziere damit aber nicht den dort gemeinten Sinn. Je dynamischer einer die Welt erfahre, um so mehr suche er Halt. Die Wirklichkeit sei nicht mehr greifbar und könne nur noch im „als ob“ erlebt werden. – Auch Wolfgang Bunzel zweifelte daran, dass man Eichendorff zum Vorläufer des Symbolismus machen könne. Symbolismus sei ein „L’art pour l’art“-Konzept, das Eichendorff widerspreche. Er vermute bei Eichendorff eher Originalitätsverweigerung, Verweigerung in Bezug auf die Zwänge der Autonomie-Ästhetik. Das wäre dann eine Parallele zur Reaktionsweise Clemens Brentanos: auch er versuche den Kunstzwängen der Autonomie-Ästhetik zu entgehen, indem er in die Religion flüchte – was allerdings „nicht richtig funktioniere“. Ohne sich auf Bunzels Widerspruch einzulassen, stimmte Koopmann ihm darin zu, dass Brentano nicht weit von Eichendorff entfernt sei. Für „alle diese Dichter“ gebe es eine Zeitsignatur – weg von der Realität, hin zum Wort. Brentanos Vorstellung von der Poetik sei „sehr artistisch“. Nach diesen diffizilen Erörterungen setzten die Kongressteilnehmer ihr Gespräch beim Abendessen im Regensburger „Hofbräuhaus“ fort, und eine „Erlebnisstadtführung“ schloss sich an.

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Der Freitagmorgen begann mit einem Vortrag von Privatdozent Dr. Wolfgang Bunzel (Frankfurt am Main) „Im Rheingau, wo jetzt Rüdesheim liegt…“ Zur Topographie von Clemens Brentanos ‚Mährchen vom Rhein‘. Die temporale Unbestimmtheit und geographische Konkretion an seinem Beginn lasse bereits das ästhetische Programm des Erzählzyklus erkennen – das Geschehen in der Örtlichkeit, im Erfahrungsraum der Rezipienten zu verankern. Bunzel bezog sich hier auf Michail Bachtins Lehre vom Chronotopos, die einen erkennbaren Zusammenhang zwischen dem Ort und dem Zeitverlauf einer Erzählung postuliert. Eine mythische Erzählung solle die Vor- und Ursprungsgeschichte der Gegenwart enthüllen, die Realität solle auf das Wunderbare hin durchlässig gemacht werden. In den Rheinmärchen spielt das Hauptgeschehen zwischen dem Rheingau, dem Raum des Müllers, und Trier. Der Rheingau scheint zunächst eine naturhafte Idylle zu sein, in die aber bald märchenhafte Elemente eindringen: Der Müller rettet die Königstochter, erhält aber nicht die dafür ausgesetzte Belohnung, nämlich Königstochter samt Reich. Im Schwarzwald beendet der Müller die Verwünschung der Mondschäfer-Dynastie, der Dynastie seiner eigenen Ahnen, die nicht sterben dürfen, indem er sich für sie aufopfert. Er kann nun wieder in die lebendige Rheinlandschaft zurückkehren und als König Fürsorge tragen. Er ist nicht nur am Rhein erzeugt, sondern von einem Wassermann aufgezogen. Brentano erweitert die Bergwerksund Wassersymbolik um die Elemente Luft und Feuer zu einer kosmogonischen. Während in der Romantik sonst neben der Philisterwelt ein Traum- und Zauberreich existiert, zu dem aber nur „poetische Menschen“ Zugang haben, ist in den Rheinmärchen die Sphäre des Wunderbaren als koexistent mit dem Alltagsraum gedacht. Der Rhein, anfangs nur natürliche Flusslandschaft, wird zur Region eines idealen Staatswesens in einem imaginären Mittelalter mit Radlauf als König von Mainz. Brentano vermischt in irritierender Weise die Gattungen des Märchens, der Sage, des historischen Romans und erfüllt eigenwillig und partiell die Forderungen der Frühromantik nach „progressiver Universalpoesie“ (Athenäumsfragment 116): Er vermischt Poesie und Prosa, er vermischt die Gattungen Märchen, Sage und Roman; durch Anknüpfung des märchenhaften Geschehens an die topographisch realisierbare Geschichte verbindet er Poesie und Leben. „Progressiv“ ist die Narration insofern, als sie nicht nur unabgeschlossen, sondern unabschließbar ist: Die Binnenerzählungen können sich endlos fortsetzen. Aber mit Philosophie und Rhetorik wird die Poesie hier nicht „in Berührung gesetzt“, Genialität und Kritik werden nicht „bald gemischt“, „bald verschmolzen“. Und was von Schlegels Programm erfüllt wird, geschieht nicht im Roman, sondern im Märchen. Bunzel sah hier raumsymbolisch einen Gegenentwurf zum „biblischen Mythos vom Sündenfall“. Auch im Märchen werden Verbote übertreten, aber mit Liebe, Pietät, Selbstlosigkeit lassen sich die Vergehen der Vorväter sühnen. Indem er von sich absieht, kann der Mensch sich selbst erlösen. „Das Paradies ist überall, die Rheingegend lediglich topographisches Anschauungsbeispiel. Ein Jenseits von Eden gibt es bei Brentano nicht.“ In der Diskussion wurde die Frage gestellt, ob das Muster des Chronotopos geeignet sei, Brentanos Märchen zu erhellen, in dem es doch weniger um das Verhältnis von Raum und Zeit als um das von Faktizität und Fiktionalität gehe. Bachtin erhebe den Anspruch, mit

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Hilfe dieses Begriffs eine Geschichte des europäischen Romans zu entwickeln. Ob das überhaupt möglich sei, sei durchaus fraglich, aber über den Gattungscharakter lasse sich Genaueres sagen. Bunzel gab zu, dass er sich „von einem bestimmten Punkt an“ nicht mehr an Bachtin orientiere. – Jürgen Daiber fragte nach den Quellen von Brentanos Bergwerksmetaphorik, und er fragte weiter, ob mit diesem Motiv eine Kritik an Industrialisierungsprozessen verbunden sei. Bunzel setzte die Kenntnis der Bergwerkstexte von Novalis bei Brentano voraus, die der „Theoretiker“ Steffens und Werner lasse sich anhand des vorhandenen Auktionskatalogs von Brentanos Bibliothek zu überprüfen. Technikkritische Akzente seien in den Rheinmärchen nicht festzustellen, in anderen Texten Brentanos aber durchaus. – Thomas Borgstedt fragte nach Brentanos Auseinandersetzung mit der Subjektphilosophie. Der Weg vom Roman zum Märchen ermögliche eine Subjektivierung des Erzählens. Im Godwi aber äußere Brentano sich spöttisch über die Subjektphilosophie der Frühromantik, womit er wohl Vorbehalte gegenüber „protestantischem Denken“ äußere. Das bejahte Bunzel, wies aber auf Widersprüche in Brentano selbst hin. Er übertrage die Verantwortung für das Erzählen dem Ich-Erzähler, was dem Märchentypus nicht gemäß sei. – Hermann Korte schrieb die außertextliche Referenz auf die Orte Mainz und Trier dem „Raffinement des Erzählens“ zu. Eine Re-Poetisierung lasse sich auch in anderen Texten der Rhein-Literatur bei Campe und Nicolai beobachten. Brentanos Rheinmärchen seien nach dem Jahr 1803 entstanden, in dem Trier und Mainz ihre politische Funktion verloren. Das Thema von Privatdozent Dr. Thomas Borgstedt (München) war Der Raum des romantischen Sonetts. Vom Raum im Gedicht und vom Raum des Gedichts wollte er sprechen. Die feste Zahl von Zeilen und die feste Gliederung machen das Sonett einzigartig; bei den sangbaren Gedichtformen lässt sich immer noch eine Strophe anfügen. Ein Sonett ist auch ein graphisches Objekt. Es kann als solches optisch wahrgenommen werden, ohne dass man eine einzige Zeile liest – was in der experimentellen Poesie des 20. Jahrhunderts aufgenommen wird. Für die „Karriere“ des modernen Sonetts erklärte Borgstedt in erster Linie August Wilhelm Schlegel in den Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (III) für verantwortlich. Der Raum im Gedicht jedoch sei in Bezug auf das Sonett eher vernachlässigbar. Die Raumimagination trete hier zurück, vor allem verglichen mit erzählenden Gedichten (Balladen). Zu fragen sei eher, wie Raum in mimetischer Rede zum Ausdruck komme. Als Beispiele aus der Frühromantik nannte er die Gemäldesonette Schlegels, z. B. Jo von Correggio, mit denen der Autor Gemälde sprachlich reflektiv ergänzen will. Die Quartette beschreiben den Bildgegenstand und bringen die räumlichen Verhältnisse zum Ausdruck, die Terzette bieten eine mythologische Ergänzung. – Die Gemäldesonette in Brentanos Godwi sind wichtigen weiblichen Figuren zugeordnet. In Mariens Bild folgt Brentano der Tradition der Beschreibung weiblicher Schönheit vom Kopf bis zum Schoß und fügt am Schluss des Sonetts („Marie würde Mutter Gottes scheinen“) eine reflektiv-imaginäre Dimension hinzu. – Eichendorff entwerfe antagonistische Landschaften: das Land der Poesie und das des profanen Alltags. In seinem Sonett Der Wegelagerer (1839) ist das erste Quartett dem Land der Philister, das zweite dem freien Wald gewidmet, die Terzette der gewaltsamen Imagi-

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nation der „armen Schönheit“. Das Sonett bleibe diskursiv – ein gängiges Verfahren romantischer Landschaftsphilosophie. Schon seit dem Mittelalter gebe es im Sonett Selbstreferenz, also Sonett-Sonette. Einen Vorgriff auf die visuellen Sonette der Moderne stelle der satirische Klingklingel-Almanach von Jens Baggesen dar. Borgstedt rückte aber auch das Eröffnungsgedicht von Goethes Sonetten-Zyklus von 1807 (Mächtiges Überraschen) in diese Tradition. Lange sei es gelesen worden als Gedicht über dämonische Elementarkräfte der Natur oder über die Liebe. Aber es sei auch ein Gedicht über die Sonettform. Das Sonett, meinte er, sei „Form gewordener Ausdruck des Einbruchs der Natur und der Liebe“. Das Gedicht zitiere die Landschaft nicht nur, sondern führe sie auf, habe einen performativen Charakter. In Rilkes Dinggedichten werde die Entsubjektivierung noch über Goethe hinaus geführt. Die Römische Fontäne (1906) nannte Borgstedt ein „formvollendetes Sonett“, dessen eigenwilliges Reimschema gegen Schlegel opponiere. Ein Kunstobjekt werde hier zum Kunstsymbol. Mit den „zwei Becken“ und ihrer doppelten Raumbewegung sei ein herrliches Bild der Sonettgestalt gefunden. Mehr Raumgestaltung im Sonett sei kaum möglich. In der Diskussion erklärte Borgstedt, schon seit dem 13. Jahrhundert gebe es eine Auseinandersetzung mit dem Sonett, bei den Italienern allerdings in einer kombinatorischen Orientierung. A. W. Schlegel sei der erste, der das Sonett theoretisch fixiere. Es spiele auch in der Moderne noch eine so große Rolle, weil es für das Gedicht an sich, die Form schlechthin stehe. Während Ursula Regener die Abgeschlossenheit des Sonetts als „Unmusikalität“ bezeichnet hatte, wiesen andere Teilnehmer darauf hin, dass schon im Begriff „Sonett“ das Klingen offenbar als wesentliches Element angesehen wird und dass sich Tieck und Brentano in ihren Sonetten an Klanglichkeit orientieren. Rilke habe an einer „Verflüssigung“ der Form gearbeitet. Andere Beiträge gingen auf Eichendorffs Sonette und den Wandel seiner Einstellung zum Sonett ein. In Heidelberg habe er viele Sonette in Loebens Stil geschrieben, in Ahnung und Gegenwart aber, offensichtlich satirisch, einen Dichter „von mehr schmachtendem Aussehen“ „einen Haufen Sonette mit einer Art von priesterlicher Feierlichkeit“ vorlesen lassen, und 1839 habe er sich der Form mit politischen Inhalten wieder genähert. Borgstedt wies noch einmal auf den „Sonettenkrieg“ zwischen den Romantikern und den Leuten um Voß hin. Goethe habe vor allem mit seinen eigenen Sonetten von 1807 versucht, die Form aus dem Parteienstreit herauszuholen, aber es sei doch ein gewisser Überdruss an dieser Gedichtform entstanden, auch bei Tieck. Im späteren 19. Jahrhundert hingegen gebe es innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraums kaum einen Dichter, der keine Sonette geschrieben habe; er nannte Baudelaire, Mallarmé und aus dem 20. Jahrhundert die Expressionisten und Weinheber, der die Steigerung zum Zyklischen betrieben habe.

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Am Freitagnachmittag hielten fünf junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Kurzvorträge, mit denen sie sich um den Oskar-Seidlin-Preis beworben hatten. Dr. Vera Bachmann, kürzlich in München mit einer Arbeit Wie tief sind stille Wasser? promoviert, sprach zum Thema „Von Regensburg her…“ Zur Funktion außertextueller Referenzen bei Eichendorff. Im Sinne der Literaturgeographie fragte sie, warum der Dichter am Anfang von Ahnung und Gegenwart die Stadt Regensburg namentlich erwähnt, während er sonst kaum real existierende Orte benennt, der weitere Weg Friedrichs auf der Landkarte nicht zu verfolgen ist und der erzählte Raum als „dynamisches Feld von Lagebeziehungen“ zu beschreiben ist, „weniger Topographie als Topologie“. Sie vertrat die These, „Regensburg“ meine gar nicht den konkreten Ort. Die Nennung des Namens erfülle eine doppelte Funktion. Einmal sei es die Stadt des Volksliedes „Als wir jüngst in Regensburg waren, sind wir über den Strudel gefahren“. Wie das Volkslied behandle der Roman – in der Figur der Rosa – das Motiv der gefallenen Jungfrau. In seiner ältesten Fassung beginne das Lied „Als wir jüngst von Regensburg kamen“, und das entspreche der Ausgangskonstellation von Ahnung und Gegenwart. „Regensburg“ sei Ausgangspunkt von Donaufahrten über den gefährlichen Strudel, also ein kulturell vermittelter Ort. Zweitens aber sei Regensburg auch eine „geopolitische Chiffre“, Sitz des „immerwährenden Reichstags“, aber seit 1806 nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, wie Eichendorff ein Jahr später in seinem Tagebuch notierte, „öde und leer“. Mit der Anspielung auf das Volkslied weise der Erzähler auf die Romanhandlung voraus, mit der Chiffre des untergegangenen Reiches zurück in die Zeit vor der erzählten Zeit. Melanie Lörke, Promotionsstipendiatin in Berlin, hatte ihrem Vortrag den Titel Hinaus in die weite Welt? De- und Reterritorialisierungsprozesse bei Eichendorff am Beispiel des „Taugenichts“ gegeben. Die Mühle des Vaters, auf deren Schwelle der Taugenichts anfangs sitzt, bezeichnete sie mit einem Terminus der Geophilosophie von Deleuze und Guattari als „gekerbten Raum“, den Raum des Reisens in die Welt, zu dem der Taugenichts nun aufbricht, als „glatten Raum“. Der Raum des Sesshaften, eine „geordnete Textur“, und der des Nomaden, das Anti-Gewebe des Filzes, stehen einander gegenüber. Übergänge und Anverwandlungen sind jedoch möglich. Das Meer, „der glatte Raum par excellence“, wird vom Menschen kartiert, mit einem Netz von Längen- und Breitengraden überzogen. Und wird so auch zu einem Raum mit Grenzen und Einteilungen. Überhaupt ist das frühe 19. Jahrhundert eine Zeit zunehmender Territorialisierung. Der Taugenichts bewegt sich zunächst ziellos im „glatten Raum“, aber als die beiden schönen Damen in der Kutsche ihn fragen, wohin er wolle, nennt er aufs Geratewohl „Wien“ als Ziel, weil er sich schämt, sich zu seinem Nomadentum zu bekennen. Er wird mitgenommen und reist nun in viel zu hoher Geschwindigkeit auf den gekerbten Raum einer Stadt zu. Am Schloss der Gräfin angekommen, wird er zum Gärtner und Zöllner, also zum „Kerber“ schlechthin und zum Grenzwächter. Er wird re-territorialisiert, unterläuft diesen Vorgang aber immer wieder durch Grenzüberschreitung und Aufgabe des sesshaften Status. In der Einsamkeit aber sehnt er sich zurück in den gekerbten Raum. Am Ende ist „alles gut“, weil der Taugenichts auf der Schwelle verweilen darf.

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Zwischen Stübchen und Schlund. Konsequenzen einer Privilegierung der Kategorie Raum gegenüber der Zeit für die Interpretation von Joseph von Eichendorffs „Die zwei Gesellen“ – dies war das Thema von Martin Rehfeldt M.A., der in Bamberg u. a. an einer Promotion über Helmut Krausser arbeitet. Den spatial turn verstand er „lediglich als Akzentverschiebung innerhalb des Großparadigmas der Interpretation“ – Raum soll ernst genommen werden. Rehfeldt untersuchte die im Gedicht genannten Räume darauf hin, ob sie konkret vorstellbar, in der realen Welt zu verorten seien – und kam zu dem nicht geradezu überraschenden Ergebnis, dass schon die erste Strophe, die „realistisch“ zu beginnen scheint, bald nur in metaphorischer Lesart noch einen Sinn ergibt, die dritte Strophe hingegen, dem sesshaft gewordenen Gesellen gewidmet, „geradezu als Bildbeschreibung“ zu lesen ist, während sich in der vierten „nicht ohne Weiteres ein entsprechendes Bild imaginieren“ lässt – der „farbig klingende Schlund“ erscheint als „nicht real“. Anders als der zweite Geselle erkennt die in der letzten Strophe erscheinende „Sprechinstanz“ des Gedichts, das lyrische Ich, die Situation im „Strudel“ noch rechtzeitig und kann sich zu Gott wenden. Markus Setzler M.A., in Frankfurt am Main mit einer Dissertation über Franz Kafka beschäftigt, sprach über (Reise-)Bewegungen und (Schiff-)Brüche in (T-)Raumgärten und Schlössern bei Eichendorff. Sein Bezugstext war die Meerfahrt, sein theoretischer Gewährsmann Michel de Certeau. Dieser unterscheidet lieu, den Ort, an dem statische Elemente gemäß einer carte einander zugeordnet sind, und espace, den Raum, der von beweglichen Elementen erfüllt ist. Eichendorffs Reisende, so Setzlers vorweggenommene Diagnose, „befinden sich … auf einem parcours und suchen dort (wie der Leser) durch Grenzüberschreitungen nach kartierbaren Punkten auf einer carte, um sich als Subjekt im Raum topografisch zu verorten.“ Dass Antonio vom Mastkorb aus Land an einer Stelle entdeckt, wo sich laut Karte nur Wasser befinden sollte, erregt den Kapitän Alvarez, den Interpreten Markus Setzler aber noch mehr: Der Schiffsmannschaft, meint er, werde auf der Reise ein neuer Orientierungspunkt gegeben, „der nicht nur Gegebenes repräsentiert, sondern durch die Topografie das Territorium überhaupt erst definiert“. Die Entdeckung des Landes sei „der Bruch mit der bisherigen räumlichen Anordnung“. Dass Antonio später beim Anblick einer Ruinenlandschaft seine Schreibtafel zückt, um Inschriften und Bilderzeichen zu kopieren, macht ihn zum „Raum-Medium“. Doch Alvarez erklärt dem Studenten auch, ein Weltentdecker müsse „den Kompaß in den Füßen haben“, den Raum durch körperliche Bewegung ergründen. Die Reisebewegung liest Setzler „als Suche nach einem Platz des Individuums in der Welt“. Auf „Positionsverwirrungen“ folgen „Raumordnungsverfahren“ Den Reigen der Kurzvorträge beschloss Dr. Natalia Žarska, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Breslau. Der Zobtenberg-Garten und Eichendorffs frühe Raum-Konzepte waren ihr Thema. Sie untersuchte die Tagebucheintragungen über den Ausflug von Breslau nach Zobten und zurück, den Eichendorff mit seinem Bruder Wilhelm und Freunden vom 21. bis 23. Mai 1804 unternahm. Dabei ging sie, anders als die einschlägige Forschung, von der Möglichkeit aus, dass es sich bei diesen Aufzeichnungen nicht um bloße „mimetische Protokolle“, sondern um „bewusst konstruierte Symbolsysteme“ handle, Eichendorff ein „dichterisches Raumkonzept“ entwickle. Sie skizzierte Geogra-

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phie und Geschichte des Zobtenberges – schon in vorgeschichtlicher Zeit Kultstätte, in christlicher Zeit als Wallfahrtsort und als „Nabel Schlesiens“ sakralisiert, in der Aufklärungsepoche nüchtern vermessen und zum Gegenstand von Reisehandbüchern gemacht. Eichendorffs „Raumkonstruktion“ sah sie zunächst in der Zahlensymbolik manifestiert: In drei Dreiergruppen, am Fuß des Berges zu einer 10-Personen-Gruppe erweitert, breche man für drei Tage auf, geleitet von drei Bergführern. Damit werde die christliche Symbolik, u. a. der Dreifaltigkeit und der Zehn Gebote aufgenommen. Eichendorff ordne den Raum des „berühmten Zobtenberges“ in eine dunkle und eine lichte Sphäre, die in seinem späteren Werk als Gottesferne und Gottesnähe oft wiederkehre – die Wälder auf dem Anstieg, die Lichtung auf dem Gipfel. Aber die von Eichendorff konstruierte symbolische Landschaft sei zwar christlicher Prägung, jedoch auf die Sensibilität seiner Zeitgenossen hin empfunden. Die „überholte konventionelle Repräsentation“ durch Kreuze, Kreuzigungsgruppen und Wallfahrten spielen keine Rolle mehr, sondern der Christ in der aufgeklärten Welt setze sich in Bewegung, nutze seine Sinne, schaue sich nach Zeichen, Hieroglyphen, Bildrätseln in der Natur um. Die Wallfahrt werde als Wanderung, die Kommunion „als gemeinsames an der Treppe der Kirche zu sich genommenes Frühstück aus der Sphäre des senilen Rituals wieder in das normale Leben versetzt“. Eine Aussprache über die fünf anregenden und vielfach zum Widerspruch reizenden Vorträge war weder vorgesehen noch möglich. Der Vorstand zog sich sofort zurück – als Jury und danach zur Beratung anderer Angelegenheiten der Gesellschaft. Das gemeinsame Abendessen und die solistische Aufführung des Taugenichts durch Fritz Barth im Café des Historischen Museums am Dachauplatz ließen den Tag gesellig und heiter ausklingen. Eigentlich sollte dort auch der Oskar-Seidlin-Preis verliehen werden; aber die Lokalität wurde dafür als nicht geeignet befunden, und so vertagte man dies im Einvernehmen mit den Kandidaten auf den Samstagmorgen. Da teilte Dr. Volkmar Stein mit, die Jury habe einmütig entschieden, den Oskar-SeidlinPreis 2010 an Dr. Vera Bachmann zu verleihen; die Präsidentin überreichte ihr die Urkunde und allen Kandidaten eine Eichendorff-Medaille. Den ersten Vortrag des letzten Kongresstages hielt Prof. Dr. Ralf Junkerjürgen (Regensburg) über Raum und Raumkonzept im Theater Calderóns. Er unterschied gattungsspezifische Raumkonstanten von solchen, die der Epoche des Barock in Spanien gemeinsam waren. Der Theaterraum der comedia ist in der Regel der corál, der unüberdachte Wirtschaftsinnenhof zwischen zwei Gebäuden, und gespielt werden darf nur bei Tageslicht. Männer und Frauen sitzen getrennt. Die Aufführung des Stücks wird nach jedem Akt unterbrochen durch ein Zwischenspiel, meist aus dem Gaunerleben – das Theater ist eine Art VarietéTheater, keineswegs als „moralische Anstalt“, sondern zur Unterhaltung gedacht. Den Raum in der Mantel-und-Degen-Komödie Dame Kobold charakterisierte Junkerjürgen als „täuschenden Raum“. Die Geheimtür als unsichtbarer Übergang vom Außenraum der Männer zum Innenraum der Frauen, hier der von ihren Brüdern bewachten Witwe. Die Frauen bedienen sich der List, was im Stück durchaus legitimiert wird.

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Der Übergang vom realen zum fiktiven Raum stellte Junkerjürgen am Motiv des Gartens dar. 1631 wurden mehrere gräfliche Gärten miteinander verbunden, um einen riesigen Festraum zu schaffen, der zugleich semantischer und realer Raum war. Die autos sacramentales waren allegorische Stücke zur Heilsgeschichte und zur Eucharistie, die das wenig gebildete Publikum theologisch belehren sollten. Sie wurden auf fahrbaren Bühnen gespielt: Mehrere transportierbare Karren wurden am jeweiligen Aufführungsort zusammengeschoben und ergaben eine Spielfläche von etwa 18 x 7 Metern. Wegen der hohen Kosten wurden die Aufführungen 1765, im Zeitalter der Aufklärung, verboten. Im Großen Welttheater (1633 oder 1649 entstanden) weist ein autór, der zugleich Theaterdirektor und Gott ist, den Menschen ihre Rollen zu, und schaut nach, ob sie ihre Sache gut oder schlecht machen. Das Leben wird verräumlicht – es spielt sich in der Erdenkugel und in der Himmelskugel ab. Die Welt ist der Raum der Prüfung. Von der einen Tür führt der Weg zur anderen, und einen Rückweg gibt es nicht. In der kurzen Diskussion fragte Jürgen Daiber, wieso der Referent den Raum in der Dame Kobold durch die Zwischenspiele abgewertet sehe. Junkerjürgen erläuterte, durch den ständigen Wechsel werde der „semantische Raum“ durchbrochen, die Illusion gestört. Thomas Borgstedt fragte, ob die Zwischenspiele wirklich ohne Zusammenhang mit der Handlung des Hauptstückes seien. Junkerjürgen entgegnete, man könne wohl hier und da Zusammenhänge feststellen, aber intendiert seien sie nicht – was sich schon daraus ergebe, dass bestimmte offenbar besonders publikumswirksame Zwischenspiele immer wieder verwendet worden seien. Prof. Dr. Jürgen Daiber (Regensburg), der den letzten Vortrag hielt, hatte sich ein anderes Thema als das ausgedruckte überlegt: „Dann ist es Abend, dann habe ich ein brennendes Bedürfnis, das alles aus den Augen zu verlieren, alle diese Dächer und Schornsteine und alle diese Abscheulichkeiten, und nichts zu sehen, als rundum den Himmel“. Narrative Konstruktionen des urbanen Raums in Heinrich von Kleists Briefen aus Paris. Eingangs stellte er die Frage, ob es nicht paradox sei, in bezug auf Literatur überhaupt vom Raum zu sprechen, da die Dichtung, wie von Lessing betont, doch für die Darstellung zeitlicher Veränderungen zuständig sei. Der spatial turn sei ein Kind der Forschungslandschaft des 20. Jahrhunderts. Sein eigenes Ziel sei es, die Erfahrungen der Romantiker in urbanen Räumen zu untersuchen. Die Kleistforschung sehe den Parisaufenthalt des Dichters als zentralen Punkt seiner Entwicklung an – zwischen der „Kantkrise“ und dem Entschluss, eine bäuerliche Existenz zu führen. Die Briefe, die Kleist aus Paris schreibt, dekonstruieren den Mythos dieser Stadt. Kleist nimmt vor allem Negatives wahr – Gestank, Verbrechen, Isolation. Daiber wies auf die „olfaktorische Revolution“ des späten 18. Jahrhunderts hin, die drastisch sinkende Toleranzschwelle gegenüber Gerüchen; Merciers Tableau de Paris beschreibt die Stadt als Amphitheater des Gestanks. Für Kleists Parisaufenthalt negierte Daiber, dass der Dichter hier „Erfahrung“ im eigentlichen Sinne mache. Seine These: Kleist zielt primär auf die Schilderung seiner eigenen inneren Befindlichkeit mittels räumlicher Projektion. Er erlebt die Stadt als eine Ansammlung von Fremden. Bei ihm – wie bei Eichendorff – erdrückt Stadtluft. Darum propagiert er

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einen Gegenraum, es zieht ihn in die grüne Abgeschiedenheit. In Thun will er Bauer werden – aber die Verlobte nicht. In der Aussprache unterstrich Jürgen Daiber, dass Kleist in seiner Kritik an Paris kein Solitär sei, sondern auf Mercier und anderen fuße, diese Kritik aber in einen stark moralischen Diskurs drehe. Wolfgang Bunzel meinte, die Großstadtwahrnehmungen des 18. Jahrhunderts, etwa bei Lichtenberg, seien ganz ähnlich. Etwa gleichzeitig mit Kleist seien auch Schlegel und Arnim in Paris, und auch sie kämen mit einem Wahrnehmungsraster an, das sie anschließend bestätigt fänden. Ganz mochte sich der Referent dem nicht anschließen; das Olfaktorische zum Beispiel fehle bei Schlegel und Arnim. Kleist nehme vorhandene Topoi auf, sei aber viel moderner. Am Ende des Kongresses stand die Mitgliederversammlung. Die amtierende Präsidentin hatte durchaus Positives zu vermelden – die (mittlerweise abgeschlossene) Überführung der Eichendorffiana aus Hösel zum Freien Deutschen Hochstift, die Neuordnung der Finanzen. Nicht zu lösen war aber die fällige Neuwahl des Vorstandes. Für die Nachfolge von Prof. Dr. Ursula Regener, die vier Jahre als Präsidentin amtiert hatte, fand sich kein Kandidat. Diese Situation hatte sich bereits abgezeichnet und war in der Einladung als Möglichkeit genannt. Darum beschloss die Mitgliederversammlung mit 12 Stimmen bei einer Enthaltung, also mit mehr als der erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit, die Eichendorff-Gesellschaft aufzulösen. Das Vermögen geht an das Freie Deutsche Hochstift, das Sondervermögen der Seidlin-Stiftung soll weiterhin für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses verwendet werden. Ein Gesprächsforum der an Eichendorff Interessierten soll in Frankfurt eröffnet werden. Der 20. Kongress war also der letzte der Eichendorff-Gesellschaft.

Ursula Regener

Laudatio auf Prof. Dr. Hermann Korte anlässlich der Verleihung der Eichendorff-Medaille Hermann Korte verbindet mit Eichendorff, dass er multitaskingfähig ist, d. h. – gut romantisch – in mehreren Welten zuhause ist bzw. herumwandert. Das Bild eines Taugenichts gibt seine Vita dennoch nicht her. Geboren 1949 und aufgewachsen in Meppen (Emsland) studierte er nach Abitur und Zivildienst von 1969 – 1972 zunächst an der Westf. Wilhelms-Universität Münster und von 1972 – 1975 an der Ruhr- Universität Bochum die Fächer Germanistik, Geschichte, Soziologie, die er mit dem M.A. und Staatsexamen abschloss. Dem doppelten Abschluss folgten zweispurig das Referendariat und 1979 die Promotion mit einer Dissertation zum Thema Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus (bei Paul Gerhard Klussmann). Als Studienrat an wechselnden Gelsenkirchener Gymnasien und Fachleiter für Deutsch am Studienseminar stieg Hermann Korte bis 2001 auf der Laufbahnleiter bis zum Oberstudiendirektor und Schulleiter des Leibniz-Gymnasiums Gelsenkirchen. Im Nebenamt war er im universitären Bereich tätig, und zwar zunächst am Germanistischen Institut der Universität Münster, wo er vom Wintersemester 1981/82 bis 1992 Lehrbeauftragter war. Von 1993 bis 2001 lehrte er an der Universität Essen, wo er sich 1996 im Fachbereich Literatur- und Sprachwissenschaften habilitierte und bis zu seiner Ernennung an der Siegener Universität als Privatdozent tätig war. An der Universität Siegen arbeitet Hermann Korte seit 2001 (Fachbereich Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaften). Seit 2003 ist er Gastprofessor an der Universität Ljubljana/Slowenien; seit 2006 arbeitet er als Betreuer am interuniversitären Promotionskolleg Literarische Wertung und Kanon (Universität Göttingen) mit (projektiert bis 2010). Hermann Korte ist Redakteur der Zeitschrift Text und Kritik sowie Fachberater für neuere deutsche Literatur (1500 bis zur Gegenwart) in der Redaktion des Kindler Literatur Lexikons (3., völlig überarbeitete Auflage). Er ist Alleinherausgeber der Reihe Siegener Schriften zur Kanonforschung (Lang) und aktuelle literatur und kunst (LIT Verlag Münster) sowie Mitherausgeber der Reihe Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte (Lang) und Deutschsprachige Gegenwartsliteratur (Vandenhoek & Ruprecht). Seit Mai 2010 ist er Vorstandsmitglied der Gottfried Benn Gesellschaft, zudem Mitherausgeber des Benn-Forums. Trotz dieses immensen Lebenspensums, das Hermann Korte nicht zuletzt als Pragmatiker ausweist, hat ihn eine Art romantischer Ader nie verlassen. Die Pictura auf seiner Website verrät kaum, mit wie viel historisch-kritischer Energie Hermann Korte im Rahmen seiner Münsteraner Universitätsjahre – gemäß der „ruinösen“ Benjaminschen Romantik-Definition – zum Abbau teils andächtig sprachverliebter, teils Aurora 70/71 (2010/11). S. 139–140

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handfest nationalistischer Romantikbilder beigetragen und sich damit gegen eine damals noch feste Front hermeneutisch-ästhetizistischer Literarturwissenschaft gestellt hat. Das Bild, das er dabei vom Sockel stürzte, war vielleicht nicht zufällig eines von Eichendorff. Hier hatte Hermann Korte nicht nur eine im Mondscheinduft und Waldesluft festgefahrene Forschungsdiskussion gefunden, die seinen intellektuellen Widerstand herausforderte. Er scheint in Eichendorff auch einen Ahnen gefunden zu haben, der sich in vielleicht vergleichbarer Weise immer wieder neu (aber weniger erfolgreich) administrativen Aufgaben gestellt hat und der – wie zur Erinnerung, dass es immer auch Alternativen gibt – einen Taugenichts gestaltet hat. Wie auch immer, Hermann Korte revolutionierte das Eichendorff-Bild durch eine systematische Entromantisierung, verkündete das Ende der Morgenröte und ließ dieser Publikation von 1987 neben nennenswerten Aufsätzen und Lexikonartikeln seine rororo-Monographie Joseph von Eichendorff folgen. Beide Publikationen konfrontieren den Leser ganz bewusst mit dem Zeitgenossen und Beamten Eichendorff und nicht mit dem zeitenthobenen Lyriker. Damit öffnete er der Eichendorff-Forschung Wege, die sie zumindest bis ins Jubiläumsjahr 2006 geführt haben. Es würde kaum verwundern, wenn es Hermann Korte angesichts solcher Einmütigkeit irgendwann einmal zum Widerspruch triebe. Möglicherweise trägt sogar unser Kongress-Thema zum wieder intensiveren Blick auf den Text bei (natürlich diesmal ohne seine Bedingungen zu vergessen.) Wir sind der Überzeugung: Dafür verdient Hermann Korte alle Ehre und überreichen ihm hiermit die Eichendorff-Medaille.

DIE EICHENDORFF-GESELLSCHAFT VERLEIHT ANLÄSSLICH IHRES 20. INTERNATIONALEN KONGRESSES VOM 7. BIS 9. OKTOBER 2010 IN REGENSBURG HERRN PROF. DR. HERMANN KORTE DIE EICHENDORFF-MEDAILLE.

Ursula Regener

Eichendorff-Autographen im Freien Deutschen Hochstift Eine Handschriften-Inventur1

Eichendorff-Autographen in neuen Räumen Seit Detlef Haberlands Verzeichnung des in der Obhut der Eichendorff-Gesellschaft befindlichen Autographenbestandes2 ist eigentlich kein Dokument mehr am dort vermerkten Platz. Bedingt durch die Verlagerung dieses Bestandes ins Freie Deutsche Hochstift, Frankfurt am Main, haben sich sogar die Signaturen geändert. Es ist also höchste Zeit die aktuellen Standorte mitzuteilen. Der Vollständigkeit halber führt dieser Beitrag auch die alten Signaturen des Ratinger Archivs und der sogenannten Neisser Listen mit auf und ergänzt diese Angaben – soweit möglich – um Blattbeschreibungen. Zur Geschichte der Verteilung der Eichendorff-Autographen Nach allem, was man heute weiß,3 verteilte sich Eichendorffs handschriftlicher Nachlass zunächst auf seine Kinder Therese von Besserer-Dahlfingen, geb. von Eichendorff, Hermann von Eichendorff und Rudolf von Eichendorff. Therese von Besserer-Dahlfingens 251 Blätter umfassender Anteil gelangte über einen Dresdener Antiquar vor 1880 an die Königliche Bibliothek in Berlin (heute Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz), wo er von Helga Döhn inventarisert wurde.4 Hermann von Eichendorff, nachdem er einige Entwurfsblätter an Autographenliebhaber verschenkt hatte, gab seinen Anteil an seinen Sohn Carl weiter, der seinen Hauptwohnsitz in –––––––— 1

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Für Ihre Mithilfe bei dieser Inventur habe ich Dr. Renate Moering, Dr. Konrad Heumann und Bettina Zimmermann, M.A. vom Freien Deutschen Hochstift sehr zu danken. Joseph von Eichendorff. Handschriften und Dokumente im Besitz der Eichendorf-Gesellschaft, Ratingen-Hösel. Katalog von Detlef Haberland. Trier 1992. (= Ausstellungskataloge Trierer Bibliotheken Nr. 23. Hg. von der Universitätsbibliothek und der Stadtbibliothek Trier). Die umfassendste Darstellung der Wege, die Eichendorffs Nachlass nahm, bietet Sibylle von Steinsdorff: Zur Veröffentlichung nicht geeignet… Die Überlieferungsgeschichte des handschriftlichen Nachlasses Joseph von Eichendorffs. In: Aurora 54 (1994). S. 36–52. Der Nachlaß Joseph von Eichendorff. Bearbeitet von Helga Döhn. Deutsche Staatsbibliothek Berlin 1971. (Handschrifteninventare der Deutschen Staatsbibliothek. Hg. von Hans-Erich Teitge. 2). Über das Auftauchen des Konvoluts berichtet Heinrich Meisner: Gedichte aus dem Nachlasse des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Hg. von Heinrich Meisner. Mit einem Jugendbildnisse des Dichters. Leipzig 1888. Hier: Vorwort.

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Wiesbaden hatte und seinen Lebensabend in Altenbeuern verbrachte.5 Carl von Eichendorff, selbst ein engagierter Eichendorff-Forscher, übereignete seinen Nachlass der von ihm 1931 mitinitiierten Deutschen Eichendorff-Stiftung, die ihn 1935 in dem in Eichendorffs Neisser Sterbehaus eröffneten Eichendorff-Museum unterbrachte.6 Rudolfs Anteil, den sogenannten Sedlnitzer Fund,7 übernahm dessen Sohn Hartwig von Eichendorff, der ihn – bis auf Geschenke an Autographensammler und einen Rest, den seine Gemahlin mitnahm und der in Gauernitz oder Dresden verscholl, – über Carl ebenfalls dem Eichendorff-Museum in Neisse überließ. Karl Willi Moser, der Kustos des Neisser Eichendorff-Museums, erstellte und veröffentlichte die ersten Inventarlisten des von ihm sogenannten Wiesbadener Nachlasses (Sigle H nach Hermann von Eichendorff) und des Sedlnitzer Fundes (Sigle S).8 1944 wurden noch vor der Zerstörung des Eichendoff-Museums die dort liegenden Autographen zunächst nach Schloss Johannesberg in Jauernig, später nach Thomasdorf gebracht, galten jahrelang als verschollen, tauchten nach und nach wieder auf und gelangten als Tagebuchschenkung ins Goethe- und Schiller-Archiv nach Weimar, als Erwerbungen des Landes Württemberg in das von Willibald Köhler und der Deutschen Eichendorff-Stiftung 1954 gegründete Eichendorff-Museum in Wangen, als Überlassungen an die Bundesrepublik zur Eichendorff-Gesellschaft in Ratingen-Hösel, wo sie als Dauerleihgaben archiviert wurden, oder als Erwerbungen aus Privatbesitz in die Eichendorff-Gesellschaft oder das Freie Deutsche Hochstift nach Frankfurt. Das Fankfurter Goethehaus ist deshalb der Ort, wo sich die von der EichendorffGesellschaft verwahrten Bestände nun auch befinden. Die folgende Katalogisierung der –––––––— 5 6

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Franz Ranegger: Erinnerungen an Karl Freiherrn von Eichendorff. In: Aurora 5 (1935). S. 103–110. Carls Frau Antonie von Eichendorff hatte allerdings einen von Ewald Reinhard verzeichneten Restteil behalten und 1937 an die Deutsche Eichendorff-Stiftung übergeben. (Ewald Reinhard: Verzeichnis des literarischen Nachlasses des Dichters Joseph Freiherr von Eichendorff. Von den Freifrauen Antonie von Eichendorff (Schwester Hedwigis, Kloster Fraueninsel), Hermine und Anna von Eichendorff, München, der Deutschen EichendorffStiftung übereignet im Mai 1937.) Dieser Nachlass gelangte in das 1954 von Willibald Köhler als Ersatz für das kriegszerstörte Neisser Eichendorff-Museum gegründete Eichendorff-Museum am Atzenberg, das 1988 in die Wangener Altstadt verlegt wurde. Anna Bönisch: Die Auffindung der Handschriften des Dichters Joseph von Eichendorff im Sedlnitzer Schlosse. In: Nachrichten-Blatt der Eichendorff-Gesellschaft. Nr. 9. Würzburg Dezember 1983. S. 1–7. Karl Willi Moser: Die Eichendorff-Handschriftensammlungen. In: Neisser Heimatblatt (1980). Nr. 152. S. 13f.; Nr. 153. S. 8; Nr. 154. S. 18. Beim Wiesbadener Nachlass handelte es sich um 4 Mappen mit ursprünglich insgesamt 111 Autographen: Mappe I: H 1–20; Mappe II: H 21–40; Mappe III: H 41–70; Mappe IV: H 71–111. H 60–70, 72–73, 75; 77–89, 92–97, 100–104 sind über Antonie von Eichendorff in das Deutsche Eichendorff-Museum nach Wangen gelangt (s. Ewald Reinhards Liste, Anm. 6). H 21, 40–50, 52, 56, 59– 68, 72–74, 77–110 sind heute verschollen, aber es existieren Beschreibungen. H 21–29 sind von Hilda Schulhoff: Eichendorffs Jugendgedichte aus seiner Schulzeit. Prag 1915 (Prager Deutsche Studien 23). S. 3–13, beschrieben worden. Der Sedlnitzer Fund umfasste ebenfalls vier Mappen mit ursprünglich insgesamt 62 Autographen: Mappe I: S 0–36 (unterbrochen, S 8–11, 16 fehlen); Mappe II: S 18–37 (unterbrochen, S 26 fehlt); Mappe III: S 38–58; Mappe IV: S 59–62.

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Eichendorff-Autographen im Freien Deutschen Hochstift

dort gesammelten Eichendorff-Autographen (292) führt zunächst die FDH-Signatur, dann gegebenenfalls alte Signaturen wie die EG- und die Neisser-Listen-Signatur, Blatt- und Inhaltsbeschreibungen und vorhandene Faksimiles auf.9 Zur Binnendifferenzierung wurden die Blätter nach Gattungen wie folgt aufgelistet: Briefe von Joseph von Eichendorff (chronologisch aufgeführt nach Verfassern) Briefe an Joseph von Eichendorff (chronologisch sortiert) Zeugnisse und Urkunden Amtliche Schriften Eichendorffs Versepen Dramen Prosa Eichendorffs Tagebücher Oktober 1809 bis März 1812 Gedichte aus der sogenannten Handschrift Loeben (Eichendorff Autographen aus Loebens Nachlass) Gedichte auf Einzelblättern Übersetzungen Diverse Eichendorffiana Fremde Gedichte Fremde Briefe

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Briefe von Joseph von Eichendorff (chronologisch aufgeführt nach Verfassern) 28880 (DLB 1990/124E): Brief. – Inhalt: JvE an , Prag, 26.10.1794 19519: Brief. – Inhalt: JvE an Rudolf v. E., Königsberg, 8.10.1824 19525: Brief. – Inhalt: JvE an Hermann von E., Berlin, nach 1840 28748 (DLB 1986/1E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn Hermann von Eichendorff, Wien 09.02.1847 28749 (DLB 1986/2E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE, Dresden, 22.11.1848 28750 (DLB 1986/3E – Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE, Berlin, 17.10.1851 28751 (DLB 1986/4E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE, Berlin, 29.03.1854 28752 (DLB 1986/5E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE, Berlin 10.11.1855 28881 (DLB 1990/125E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE, Köthen, 27.09.1855 28882 (DLB 1990/126E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE. Neisse, 10.12.1855 28883 (DLB 1990/127E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE. Neisse, 23.02.1856 28884 (DLB 1990/128E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE und Clara vE. Neisse, 09./11.04.1856 28885 (DLB 1990/129E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE. Neisse, 29.09.1856 19523: Brief. – Inhalt: JvE an Hermann von E., Neiße, 19.1.1857, Fragment 28886 (DLB 1990/130E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE. Neisse, 23.02.1857 –––––––— 9

Verwendete Abkürzungen: DLB = Dauerleihgabe Bundesrepublik; EG = Eichendorff-Gesellschaft; FDH = Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt am Main; HKA = Historisch-kritische EichendorffAusgabe.

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Ursula Regener

28887 (DLB 1990/131E): Brief. – Inhalt: JvE an den Sohn HvE. Neisse, 07.08.1857 28893 (DLB 1990/137E): Brief. – Inhalt: JvE an die Tochter Therese Besserer von Dahlfingen. Johannesberg, 14.09.1847 (recte 1857) 28753 (DLB 1986/6E): Brief. – Inhalt: JvE an die Tochter Therese Besserer von Dahlfingen. Berlin, 3./4.11.1855 28888 (DLB 1990/132E): Brief. – Inhalt: JvE an die Tochter Therese Besserer von Dahlfingen. Berlin, 10.11.1855 28754 (DLB 1986/7E): Brief. – Inhalt: JvE an die Tochter Therese Besserer von Dahlfingen. Berlin, 7.8.1856 28889 (DLB 1990/133E): Brief. – Inhalt: JvE an die Tochter Therese Besserer von Dahlfingen. Johannesberg, 16.08.1856 29356: Brieffragment mit Umschlag. – Inhalt: JvE an Therese Besserer von Dahlfingen, , Briefanfang, anbei eh. Umschlag an Jegor von Sivers, Planhof/Livland 15853: Brief. – Inhalt: JvE an Therese Besserer von Dahlfingen, , Mittelteil, beiliegend Brief von Therese Besserer von Dahlfingen an einer JvE-Verehrerin vom 28.2.1882 28890 (DLB 1990/134E): Brief. – Inhalt: JvE an die Tochter Therese Besserer von Dahlfingen. Johannesberg, undat. (10.08.1857) 28891 (DLB 1990/135E): Brief. – Inhalt: JvE an die Tochter Therese Besserer von Dahlfingen. Johannesberg, 21.08.1857 19524: Brief. – Inhalt: JvE an Therese Besserer von Dahlfingen, Joannesberg, 28892 (DLB 1990/136E): Brief. – Inhalt: JvE an die Tochter Therese Besserer von Dahlfingen. Johannesberg, 05.09.1857 13246: Brief. – Inhalt: JvE an Markus Simion (?), o. O., o. D. 19517: Brief. – Inhalt: JvE an Joseph Sonntag, Breslau, 6.11.1801 19518: 2 Briefe. – Inhalt: JvE an Joseph Sonntag, Breslau, 26.4.1803 19025: Brief. – Inhalt: JvE an geh. Oberregierungsrat aus Königsberg, 2.2.1825 15737: Brief. – Inhalt: JvE an Julius Eduard Hitzig, Königsberg, 8.10.1825 19520: Brief. – Inhalt: JvE an Theodor von Schön, Berlin, 16.3.1826, Entwurf 15866: Brief. – Inhalt: JvE an Wilhelm Häring, Königsberg, 19.7.1827 30337: Brief. – Inhalt: Eichendorff-Brief an Philipsborn vom 5. Mai 1832, in dem es um Eichendorffs berufliche Zukunft geht 13935: Brief. – Inhalt: JvE an Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha, Berlin, ; Entwurf 15348: Brief. – Inhalt: JvE an Arnold Ruge, Berlin, 17.9.1840 13936: Brief. – Inhalt: JvE an Eduard Boas, Danzig, 18.2.1845 19521: Brief. – Inhalt: JvE an Markus Simion, Wien, 8.2.1847 16691: Brief. – Inhalt: JvE an Karl Herloßsohn, Berlin, 1.4.1848 30459 (EG 1982/1): Brief. – Inhalt: JvE an Heinrich Brockhaus, Berlin 6. Okt. 1851 30460 (EG 1982/2): Brief. – Inhalt: JvE an Franz Lorinser, Neisse, 29.3.1857 15349: Brief. – Inhalt: JvE an die Verleger Voigt und Günther, Berlin, 29.3.1855 28919 (DLB 1999/1E): Brief. – Inhalt: JvE an Joseph Hubert Reinkens, 28.12.1855

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Eichendorff-Autographen im Freien Deutschen Hochstift

19522: Briefentwurf von fremder Hand. – Inhalt: JvE an Ferdinand Schöningh,

29224: Brief. – Inhalt: JvE an Friedrich Wilhelm Grimme, Neiße, 9.7.1857 Briefe an Joseph von Eichendorff (chronologisch sortiert) 28859 (DLB 1990/103E): Brief. – Inhalt: Joseph Görres an JvE und WvE. O. O. (Heidelberg), undat. (wohl April 1808) 19540–551 und 19553: Brief. – Inhalt: Otto Heinrich Graf von Loeben an JvE, 13 Briefe, 1809–1816 28852 (DLB 1990/96E): Brief. – Inhalt: Friedrich de la Motte Fouqué an JvE. Nennhausen, 26.11.1814. 28854 (DLB 1990/98E): Brief. – Inhalt: Friedrich de la Motte Fouqué an JvE. Nennhausen, 29.06.1816. 28855 (DLB 1990/99E): Brief. – Inhalt: Friedrich de la Motte Fouqué an JvE. Nennhausen, 10.04.1817. 28856 (DLB 1990/100E): Brief. – Inhalt: Friedrich de la Motte Fouqué an JvE. Nennhausen, 31.12.1817. 28786 (DLB 1990/30E): Brief. – Inhalt: Schreiben des Innen- und Finanzministeriums an JvE. Berlin, 24.11.1819 28787 (DLB 1990/31E): Brief. – Inhalt: Schreiben des Präsidiums der Kgl. Regierung in Breslau an JvE, 21.12.1819 28829 (DLB 1990/73E): Brief. – Inhalt: Adam Müller an JvE. O. O. (Wien), 16.05.1820 28788 (DLB 1990/32E): Brief. – Inhalt: Karl von Altenstein an JvE. Berlin, 22.12.1820 19554–59: Brief. – Inhalt: Friedrich Wilhelm IV an JvE, 6 Briefe 1830–1842 28834 (DLB 1990/78E): Brief. – Inhalt: Wilhelm Ludewig an JvE. O. O (Königsberg), 24.02.1821 [recte 1831] 28830 (DLB 1990/74E): Brief. – Inhalt: Friedrich Wilhelm Schubert an JvE. Königsberg, 12.05.1835 28832 (DLB 1990/76E): Brief. – Inhalt: Arnold Ruge an JvE. Halle, 07.09.1840 28839 (DLB 1990/83E): Brief. – Inhalt: Heinrich Brockhaus an JvE. Leipzig, 19.10.1835 28840 (DLB 1990/84E): Brief. – Inhalt: Heinrich Brockhaus an JvE. Leipzig, 16.02.1841 28841 (DLB 1990/85E): Brief. – Inhalt: Ferdinand Schöning an JvE. Paderborn, 17.01.1854 28842 (DLB 1990/86E): Brief. – Inhalt: Ferdinand Schöning an JvE. Paderborn, 03.07.1854 28833 (DLB 1990/77E): Brief. – Inhalt: August Ludwig Busch an JvE. Königsberg, 24.11.1854 28858 (DLB 1990/102E): Brief. – Inhalt: Franz Lorinser an JvE. Breslau, 26.06.1855. 28850 (DLB 1990/94E): Brief. – Inhalt: August Gottlob Liebeskind an JvE. Leipzig, 23.10.1855 28831 (DLB 1990/75E): Brief. – Inhalt: Berthold Rumpelt an JvE. Breslau, 05.12.1855

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Ursula Regener

28835 (DLB 1990/79E): Brief. – Inhalt: Joseph Hubert Reinkens an JvE. Breslau, (26.12.) 1855 28843 (DLB 1990/87E): Brief. – Inhalt: Ferdinand Schöning an JvE. Paderborn, 05.05.1856 28844 (DLB 1990/88E): Brief. – Inhalt: Verlagsvertrag zwischen JvE und Schöning. Paderborn, 01.06.1856 28845 (DLB 1990/89E): Brief. – Inhalt: Ferdinand Schöning an JvE. Paderborn, 20.09.1856 28848 (DLB 1990/92E): Brief. – Inhalt: Heinrich Brockhaus an Ferdinand Schöning. o. O., undat. (vor dem 18.10.1856) 28846 (DLB 1990/90E): Brief. – Inhalt: Ferdinand Schöning an JvE. Paderborn, 18.10.1856 28847 (DLB 1990/91E): Brief. – Inhalt: Ferdinand Schöning an JvE. Paderborn, 27.10.1856 28849 (DLB 1990/93E): Brief. – Inhalt: Ferdinand Schöning an JvE. Paderborn, 23.12.1856 28853 (DLB 1990/97E): Brief. – Inhalt: Caroline de la Motte Fouqué geb, von Briest an JvE. o. O., undatiert. 28857 (DLB 1990/101E): Brief. – Inhalt: Franz Lorinser an JvE. Breslau, 25.03.1857. Zeugnisse und Urkunden 28757 28758 28759 28760 30325 28767 28877 28791 28770 28789 28790 28761 28763 28771 28769 28772 28762 28773

(DLB 1990/1E): Schulzeugnis 30.03.1803 (DLB 1990/2E): Schulzeugnis 14.08.1802 (DLB 1990/3E): Schulzeugnis 14.04.1802 (DLB 1990/4E): Immatrikulationsbescheinigung der Universität Halle, 02.05.1805 (Phil. Fakultät) (DLB 1990/126/1E): Immatrikulationsbescheinigung der Universität Halle. 03.05.1805 (Phil. Fakultät) (DLB 1990/11E): Seminartestate für JvE. Halle, 21.06.(?) 1805 (DLB 1990/121E): Testat der juristischen Fakultät für JvE, Halle, 14.09.1806 (DLB 1990/35E): Führungszeugnis für JvE und WvE. Ratibor, 02.04.1807 (DLB 1990/14E): Immatrikulationsurkunde für JvE. Heidelberg, 19.05.1807 (DLB 1990/33E): Reisepass für JvE. Heidelberg, 15.07.1807 (DLB 1990/34E): Reisepass für Wilhelm von E. Heidelberg, 15.07.1807 (DLB 1990/5E): Führungszeugnis für JvE. Halle, 14.09.1807 (DLB 1990/7E): Vorlesungstestat für JvE. Heidelberg, 22.09.1807 (DLB 1990/15E): Vorlesungstestat für WvE. Heidelberg, 22.09.1807 (DLB 1990/13E): Vorlesungstestat für JvE. Heidelberg, 11.05.1808 (DLB 1990/16E): Vorlesungstestat für WvE. Heidelberg 11.05.1808 (DLB 1990/6E): Vorlesungs- und Seminartestat für JvE und WvE. Heidelberg, 04.11.1810 (DLB 1990/17E): Gesuch u. a. von JvE und WvE. Wien, 23.11.1810

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28774 28764 28768 28765 28766 28775 28776 28778 28792 28777 28779 28781 28782 28780 28783 28784 28785 28836 28875 28876 28874 28851 28793 28794

Eichendorff-Autographen im Freien Deutschen Hochstift

(DLB 1990/18E): Immatrikulationsbescheinigung für JvE. Wien, 29.11.1810 (DLB 1990/8E): Vorlesungstestat für JvE. Heidelberg, 01.12.1810 (DLB 1990/12E): Vorlesungstestat für JvE. Heidelberg, 07.12.1810 (DLB 1990/9E): Vorlesungstestat für JvE. Heidelberg, 10.12.1810 (DLB 1990/10E): Vorlesungstestat für JvE. Heidelberg, 10.12.1810 (DLB 1990/19E): Immatrikulationsbescheinigung für JvE. Wien, 22.04.1811 (DLB 1990/20E): 6 Testate für JvE, 1811/12 (DLB 1990/22E): Bescheid der Zulassung zum Examen für JvE. Berlin, 07.12.1812 (DLB 1990/36E): Aufenthaltsbescheinigung von Adam Müller für JvE. Wien, 04.04.1813 (DLB 1990/21E): Referendarzeugnis für JvE. Breslau, 24.10.1818 (DLB 1990/23E): Schreiben der Königlichen Ober-Examinations-Commission an JvE. Berlin, 30.06.1819 (DLB 1990/25E): Gutachten von Johann Heinrich Schmedding. Berlin, 15.10.1819 (DLB 1990/26E): Examenszeugnis für JvE. Berlin, 16.10.1819 (DLB 1990/24E): Schreiben der Königlichen Ober-Examinations-Commission an JvE. Berlin, 16.10.1819 (DLB 1990/27E): Schreiben der Königlichen Ober-Examinations-Commission an JvE. Berlin, 11.09.1819 (DLB 1990/28E): Schreiben des Präsidiums der Kgl. Regierung in Breslau an JvE. Breslau, 04.11.1819 (DLB 1990/29E): Schreiben des Innen- und Finanzministeriums an das Königliche Regierungspräsidium in Breslau. Berlin, 24.11.1819 (DLB 1990/80E): Gutachten von Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, 13.01.1824 mit Brief von Julius Eduard Hitzig an JvE. O. O. (Berlin), undat. (DLB 1990/119E): Urkunde der Ernennung zum Geh. Regierungsrat preuß.König Friedrich Wilhelm IV für JvE. Berlin, 12.01.1841 (DLB 1990/120E): Urkunde der Entlassung aus dem Staatsdienst vom preuß. König Friedrich Wilhelm IV für JvE, Sanssouci 30.06.1844 (DLB 1990/118a-bE): Maximilianordenspatent für JvE, München, 28.11.1853 (DLB 1990/95E): Bescheinigung: N. Gutmann an JvE. Berlin, 01.11.1855 (DLB 1990/37E): Todesanzeige JvE. Neisse, nach 26.11.1857 (DLB 1990/38E): Todesanzeige JvE. Neisse u. a., 28.11.1857

Amtliche Schriften Eichendorffs 29314: Hausarbeit zum Zweiten juristischen Staatsexamen: „Ueber die Folgen von der Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und der Klöster in Deutschland“ 28825 (DLB 1990/69E): Reinschrift von „Allgemeine Grundsätze zum Entwurf eines Preßgesetzes“, undat. (vermutl. 1831) 28826 (DLB 1990/70E): Entwurf zu „Entwurf eines Gesetzes über die Presse […]“, undat. (vermutlich Anfang 1832) 29315: „Die konstitutionelle Preßgesetzgebung in Deutschland“

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Ursula Regener

28827 (DLB 1990/71E): Entwurf „Regulativ“, undat. (Frühjahr 1832) 28828 (DLB 1990/72E): Entwurf „Votum des Ministers der geistlichen Angelgenheiten“, Berlin undat. (1833) 29316: Landtagsrede für Theodor von Schön 29593: Ordnung der sämtlichen Städte der preußischen Monarchie Versepen 22181: 4 ineinandergelegte Doppelblätter, 34,2 x 21,2 cm, glattes, vergilbtes Papier mit Wasserflecken, am unteren Rand unsauber abgeschnitten, 16 beschriebene und eigenhändig paginierte Seiten. – Inhalt: „Lucius“. Die Reinschrift endet mit „Mauern, Felsen fühl’ ich wanken“ (HKA I/3 271). 28902 (DLB 1992/8E – S 36): 1 Blatt, ca. 17,2 x 21,4 cm, beidseitig mit Tinte beschrieben, fast alle Strophen mit rotem Strich durchgestrichen. – Inhalt: kompletter 5. Teil des Versepos „Lucius“, sowie die ersten sechs Strophen des 6. Teils. – S. 1: Ad. 5: „Es schmückten Julien“ (8 Strophen). – S. 2: Noch Ad. 5: „Er sprach von einem tiefen Meer von Sehnen“ (9.–14. Strophe); Ad. 6: „Es schweifte Lucius“ (Strophe 1–6). 28820 (DLB 1990/64E – S 37): 1 Blatt, ca. 21,4 x 34,5 cm, beidseitig mit Tinte beschrieben, alte Faltung, randseitig oben geknickt, Papier gebräunt, Streichungen mit rotem Stift. – Inhalt: S. 1: zweispaltig beschrieben. linke Spalte: Entwürfe in Prosa zum 10. und 11. Gesang von „Lucius“. Ausführungen der 18. und 19. Strophe des 11. Gesanges. – S. 2: zweispaltig beschrieben. Strophe 6–20 des letzten (11.) Gesangs von „Lucius“ in relativ sauberer Ausführung unter der Überschrift noch ad. XI. Unter 20. der Vermerk: Und die Vöglein [in den] |hoch in| Lüften p. p. (HKA I/3 272) /:S. meine Gedichte pag: 340 bis zu Ende:/ (HKA I/1 308). 28821 (DLB 1990/65E – S 59): 1 Blatt, ca. 21,8 x 28,4 cm, beidseitig mit Tinte beschrieben, alte Faltung randseitig oben geknickt, stockfleckig, eine rote Durchstreichung auf der Vorderseite. – Inhalt: S. 1: Entwurf „Johannes von Gott“. – S. 2 „Zum Auswanderer“. Dramen 28822 (DLB 1990/66E – S 60): 14 Blätter. – Inhalt: Entwürfe zu „Johann von Werth“ (Anfang des 1. Aufzuges und geschichtliche Aufzeichnungen). 28823 (DLB 1990/67E – S 61): 9 Blätter. – Inhalt: Vorarbeiten und Entwurf zur Tragödie „Bernhard von Weimar“. 19513 (H 73): Abgerissene Hälfte eines Foliobogens, einmal gefaltet. – Inhalt: Entwurf zu einem Drama „Konradin“, Incipit: „Sie entwindet sich seinen Umarmungen“ 20194: 1 Doppelblatt, Quart.Entwurf zu einem Drama „Konradin“, Incipit: „Von dieses Augenblickes heitrer Stirne“ 19514 (H 74): Notizen und Entwürfe sowie Reinschrift der 1. Szene zu einem Drama „Hermann und Thusnelda“. 2 Bogen. 16 Seiten (S. 11/12 drei Viertel abgeschnitten.

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Eichendorff-Autographen im Freien Deutschen Hochstift

Ein Teil verschollen. 3 Doppelblätter, 12 S. (pag. 1–8 u. 13–16), 8°. Das Gedicht „Die deutsche Jungfrau“ (HKA I/1 394) auf S. 16 in einem ersten Entwurf (in Reinschrift im verschollenen Teil); Rest eines Doppelblatts: 4 S., 8°. Prosa 28518: Märchen (Beginn: „3tes Märchen“) 28014,1 (H 51): Einzelblatt, beidseitig beschrieben. – Inhalt: Sonett: „Gruß des Genius“ (HKA I/3 308). Entwurf zur „Zauberei im Herbste“, Erkennungsszene und Notizen – Entwurf: „Sie empfängt ihn nun ganz verwandelt...“ (vgl. Weschta, S. 89f.) 28014,2 (H 52): Einzelblatt, einseitig beschrieben, unregelmäßig abgerissen. – Inhalt: „Alles fortgeritten“, „Lied des Ritters“ (HKA I/3 308). „Er geht auf die Jagd“ (vgl. Weschta, S. 89f.) 28014,8 (H 53): Einzelblatt, beidseitig beschrieben. – Inhalt: „Die Zauberei im Herbste“ 28014,4-7 (H 54): letzte sichere Bearbeitungsstufe von Eichendorffs Hand.„Die Zauberei im Herbste“ 28014,9 (H 55): Reinschrift von fremder Hand. – Inhalt: „Die Zauberei im Herbste“ 24643 und 28909a-f (letztere DLB 1992/15a-fE – H 57): 10 Doppelblätter, paginiert 2. bis 40. – S. 1–16: FDH Hs-24643 – S. 17–40: FDH Hs-28909: 5 Doppelblätter, 17,3 x 21,9 cm, paginiert 17. bis 40., darin: S. 19: „Frau Venus“ (HKA I/1 239). – S. 30: „Still in Luft“; „Viel lieber wollt’ ich“ (HKA I/3 251). – S. 38: „Vergangen ist die finstre Nacht“ (HKA I/3 251). – Inhalt: Nach dem handschriftlichen Inhaltsverzeichnis der Neisser Autographen handelt es sich um die älteste Fassung des „Marmorbildes“: „Das Marmorbild. / Ein Schatten=Spiel. / Oder eine Novelle“. 20428a: Doppelblatt: 17,5 cm x 21,9 cm; einfach gefaltet; starkes, ursprünglich graues Papier, nachgedunkelt mit bräunlichen Flecken; Wasserzeichen nicht eindeutig identifizierbar. Paginiert von 41 bis 44 – Inhalt: Fragment zu „Das Marmorbild“. Das Gedicht „Der Umkehrende. 2.“ (HKA I/1 313) auf S. 43. 28913 (DLB 1995/1aE): 1 Doppelblatt, Quart, 4 S. beschrieben – Inhalt: „Schatten-Spiel.“, von fremder Hand: „Aus einem Entwurfe zur Novelle: ›Das Marmorbild.‹ 1817“ 28014: Novelle: „Der Boden war von Krystall…“ („Das Marmorbild“) 19511: Entwurf „Novelle für das Frauentaschenbuch“, Abschrift eines Briefes von Fouqué an E. 24643(4) (DLB 1992/15a-fE – H 57 Teil I): 4 Doppelblätter, einmal gefaltet, ineinandergelegt: 18 cm x 21,6 cm, grünliches geripptes Papier, braunfleckig, Wasserzeichen: Bogen 1 u. 3: Ornament, Bogen 2 u. 4: N Reinhardt (in Hohlbuchstaben), Seite 13 bis 16 unten abgerissen, darin: – S. 7: „Der irre Spielmann“ (HKA I/1 52). – Inhalt: „Das Marmorbild. / Ein Schatten=Spiel. / Oder eine Novelle“. (S. 1-16) 28909