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German Pages 201 [204] Year 2010
Aurora Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft Band 68/69
2008/2009
Herausgegeben von Jrgen Daiber, Eckhard Grunewald, Gunnar Och und Ursula Regener
De Gruyter
ISBN 978-3-484-33066-5 e-ISBN 978-3-484-33068-9 ISSN 0341-1230 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin / New York Druck: Hubert Co. GmbH Co. KG, Gçttingen
¥ Gedruckt auf surefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Editorial
Auch dieser 68/69. Band unseres Jahrbuchs Aurora ist als Doppelband zu betrachten. Immer noch leidet die Eichendorff-Gesellschaft an der ausgefallenen Bezuschussung des Bundes und an einem gewissen Mitgliederschwund, so dass das Jahrbuch zur Zeit nur alle zwei Jahre finanzierbar ist und damit in den Turnus unserer Kongresse gerät. Die Herausgeber
Inhalt
Ursula Regener Mythos – Kult – Ritual. Postrevolutionäre Konzepte zur Erneuerung der rituellen Kultur
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Thomas Martinec Musik als Mythos der Ursprünglichkeit in der romantischen Poetologie
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Rainer Emig Von unmythischen Mythen und einem unerhabenen Erhabenen. Ironische Rituale der Selbstinszenierung in Byrons Childe Harold's Pilgrimage, Manfred und Don Juan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Clemens Heydenreich „… und damit gut!“ Wilhelm Buschs Märchen Der Schmetterling als Trümmerfeld der Taugenichts-Romantik ..........................................
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Boris Hoge Das zerbrochene Ringlein. Eduard von Keyserling und Joseph von Eichendorff
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Sabine Doering „Durch das Fenster“. Gottesdienst und Liturgie in Hölderlins Lyrik
Christian Klein Eichendorff und „Flower-Power“. Der Taugenichts als Kultbuch der Hippie-Bewegung?
Birte Lipinski Pygmalion gespiegelt. Mythos und Künstlerimagination in Eichendorffs Das Marmorbild Thomas Petraschka Die „indirecte Darstellung des Ewigen“. Fetischistische Mechanismen in der Dichtung Eichendorffs
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VIII
Inhalt
Ruth Neubauer-Petzoldt Von Bräuten, Holunderbäumen und Hieroglyphen. Mythos, Ritual und Raum in der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Carsten Lange Schleier, Schwelle, Zeremonie. Übergangsriten in Eichendorffs Das Marmorbild
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Volkmar Stein Bericht über den 19. Internationalen Kongress der Eichendorff-Gesellschaft vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Regensburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ursula Regener Verleihung der Eichendorff-Medaille 2008 an Günther Schiwy. Laudatio
Miszelle Ernst Kiehl Annotationen zu Herkunft und Verbreitung mittelalterlicher Eichendorff-Geschlechter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ursula Regener
Mythos – Kult – Ritual Postrevolutionäre Konzepte zur Erneuerung der rituellen Kultur Franzosen und Russen gehört das Land, Das Meer gehört den Britten, Wir aber besitzen im Luftreich’ des Traums Die Herrschaft unbestritten. Hier üben wir die Hegemonie, Hier sind wir unzerstückelt; Die andern Völker haben sich Auf platter Erde entwickelt. – – 1
Vorüberlegungen Was Heine im Kontext von Deutschland. Ein Wintermärchen mit dem „Luftreich des Traums“, in dem die Deutschen sich eingerichtet haben, meint, ist unschwer zu erkennen: das Phänomen eines durch durch Mythen am Leben erhaltenen National- bzw. Reichsbewusstsein, dem zum Zeitpunkt der Niederschrift des Wintermärchens 1844 – also zwischen dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 1806 und der Kaiserkrönung Wilhelms I. 1871 – keine politische Realität entspricht.2
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Heinrich Heine: Deutschland ein Wintermärchen. [Caput VII]: In: Ders. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut herausgegeben von Manfred Windfuhr. Bd. 4: Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Deutschland. Ein Wintermärchen. Bearbeitet von Winfried Woesler. Hamburg 1985. S. 89–157. Hier S. 106 Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. 2. Aufl. Berlin 2009. S. 15–18: „In politischen Mythen wird das Selbstbewusstsein eines politischen Verbandes zum Ausdruck gebracht, beziehungsweise dieses Selbstbewusstsein speist sich aus ihnen. […] Politische Mythen haben in allen europäischen Nationen eine wichtige Rolle gespielt, Deutschland allerdings war ein regelrechtes Dorado der politischen Mythographie. Das hängt mit der poltischen Deutungshoheit des Bildungsbürgertums und mit der verspäteten Staatsbildung zusammen. Bis 1871 waren Mythen und Symbole die einzige Repräsentation der Nation. […] Mit der Reichsgründung von 1871 kamen mythenfundierte Symbolik und politisch administrative Struktur zusammen. […] Mit der Bismark’schen Reichsgründung war nur die eine Hälfte des politischen Projekts des Bürgertums realisiert worden, die Verbindung von Staat und Nation, nicht jedoch die andere, nämlich die Übernahme der politischen Führung.“
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 1–18.
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Ursula Regener
Vorliegender Beitrag will der Frage nachgehen, durch welche Stadien diese Kompensation gegangen ist, um sich so nachhaltig zu verfestigen. Im Titel des Beitrags deuten sich die dabei zu untersuchenden Aspekte bereits an: Kult (worunter auch Idolisierungen oder Bemühungen um eine griffige Symbolik fallen) und Ritual werden verstanden als wichtige Verstärkungen des wortbasierten Mythos.3 Was für den Mythos im Stadium der Mündlichkeit gilt, gilt dabei auch für die prinzipiell performativen Formen wie Kult und Ritual: es sind in der Regel „keine passiven repetitiven Bräuche, sondern handlungsorientierende Praxisformen, bei denen den jeweils Handelnden ein Spielraum kultureller Interpretation, Innovation und Veränderung bleibt“.4 Die Rezeption und Tradierung der jeweiligen, das Nationalbewusstsein grundierenden Mythen wird in Frankreich und Deutschkand empfindlich durch die Französische Revolution gestört. Während in Frankreich per Dekret Ersatzmythen und Rituale verordnet werden, die die Tradition brechen sollen, erarbeiten sich die deutschen Romantiker die Lizenz zum Mythos neu, indem sie dessen gemeinschaftsbildenden Qualitäten theoretisch profilieren.
Prärevolutionäre Mythendiskussion Die narrativen Grundlagen einer einstmals sagenhaft-vitalen deutschen Nationalmythologie rückten seit dem 17. Jahrhundert in den Blickpunkt. Folgt man Benjamin Hederich, der 1724 sein Gründliches mythologisches Lexicon veröffentlichte, so bedurfte die Beschäftigung mit anderen Vorstellungswelten als der christlichen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in dem die una sancta catholica et apostolica ecclesia das geistliche Klima bestimmte, einer Rechtfertigung.5 Hierfür verweist er die mythischen Bestandteile in die Schranken des Vernunftgebrauchs. Auf dem Titelblatt erklärt sich Hederich zu Inhalt und Intention. Die „fabelhafte, als wahrscheinliche und eigentliche Geschichte der alten römischen, griechischen und ägyptischen Götter und Göttinnen“ sollte „zu besserm Verständnisse der schönen Künste und Wissenschaften nicht nur für Studierende, sondern auch viele Künstler und
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Vgl. Ebd. S. 21: „Die Arbeit des Mythos an der Wir/Sie-Unterscheidung erfolgt […] durch narrative Variation, ikonische Verdichtung und rituelle Inszenierung.“ Doris Bachmann-Medick: Einleitung. In: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Hg. von Ders. Frankfurt am Main 1996. S. 7–64. Hier S. 27. Die im Zitat vermittelte Erkenntnis ist wegweisend für den „performative turn“ in den Kunst- und Kulturwissenschaften, der seit den 90er Jahren zu beobachten ist. Kaiser Theodosius I. hatte 380 das Christentum per Gesetz zur Staatsreligion im Weströmischen Reich erklärt und die heidnischen Götterkulte (391/92) verboten. Diese Bestimmungen wurden bei der Übertragung der Kaiserkrone von den Römern auf die Franken (Karl der Große, 800) und von den Franken auf die ostfränkischen „Deutschen“ (Otto I., 962) beibehalten.
Mythos – Kult – Ritual
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Liebhaber der alten Kunstwerke“ dargelegt werden.6 Damit wird diesen Mythologien der Status eines selbstständigen Bildungskomplexes zugeschrieben, die alten Götter so neutralisiert, dass ihre Konkurrenz zum christlichen Weltbild im Unscheinbaren verschwindet. Wenn der „Vorbericht“ betont, wie wichtig Kenntnisse in diesem Bereich der Universalhistorie für „Gelehrte, […] Künstler und alle polite Leut“ sind, so behauptet er zugleich ein Wissensranking, in dem der Rezeption der antiken Mythologien (noch) Vorrang gegenüber dem Wissen um weitere Nationalmythologien oder Zivilreligionen eingeräumt wird. Doch gibt es seit dem 17. Jahrhundert besonders in der protestantischen deutschen Literaturszene vermehrt Stimmen wie die des Martin Opitz, der im 3. Kapitel seines Buchs von der Deutschen Poeterey mit Berufung auf Tacitus Germania und in bewusster Abkehr von der Dominanz antiker Vorbilder in der neulateinischen Dichtung auf die eigentlichen Quellen der deutschen Dichtkunst aufmerksam macht: Die Vornemsten Griechen sind in Egypten / Indien vnd Franckreich gereiset / die weißheit zue erlernen. Vnd / vber diß das wir so viel Vorneme Poeten / so heutiges tages bey vns erzogen worden / vnter augen können stellen / erwehnet Tacitus von den Deutschen in dem buche das er von jhnen geschrieben / das ob wol weder Mann noch Weib vnter jhnen zue seiner zeit den freyen künsten ob zue liegen pflegeten / faßeten sie doch alles was sie im gedächtniß behalten wolten in gewisse reimen vnd getichte. Wie er denn in einem andern orte saget / das sie viel von des Arminius seinen thaten zue singen pflegeten. Welches sie vieleichte den Frantzosen nachgethan haben / bey denen / wie Strabo im fünfften buche anzeiget / Dreyerley Leute waren / die man in sonderlichen ehren hielt: Bardi, Vates vnnd Druiden. Die Barden sungen Lobgetichte vnnd waren Poeten; Die Vates opfferten vnd betrachteten die Natur aller dinge; Die Druiden pflegten vber die Natürliche Wissenschaft auch von den gueten sitten zue vnterrichten. […]
Hierbei vergisst er nicht, den demgegenüber wieder eigenen Nationalcharakter der nordischen Literatur zu erwähnen: Das ich der meinung bin / die Deutschen haben eben dieses im gebrauche gehabt / bestetiget mich / vber das was Tacitus meldet / auch der alten Cimbrer oder Dänen ebenmäßiger gebrauch / die von
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Benjamin Hederichs ehemal. Rect. zu Großenhayn, gründliches mythologisches Lexicon, worinnen so wohl die fabelhafte, als wahrscheinliche und eigentliche Geschichte der alten römischen, griechischen und ägyptischen Götter und Göttinnen, und was dahin gehöret, nebst ihren eigentlichen Bildungen bey den Alten, physikalischen und moralischen Deutungen zusammen getragen, und mit einem Anhange dazu dienlicher genealogischer Tabellen versehen worden. Zu besserm Verständnisse der schönen Künste und Wissenschaften nicht nur für Studierende, sondern auch viele Künstler und Liebhaber der alten Kunstwerke, sorgfältigst durchgesehen, ansehnlich vermehret und verbessert von Johann Joachim von Schwaben, öffentl. Lehrer der Weltweish. und fr. Künste zu Leipzig, des gr. Fürstencoll. Colleg. daselbst, und der Universitätsbibliothek Aufseher. Leipzig: Gleditsch. 1770.
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Ursula Regener jhren Helden schöne und geistreiche Lieder ertichtet haben / deren nicht wenig von alten jahren her in Dennemarck noch verhanden sind / vnd von vielen gesungen werden.7
Nicht zuletzt angeregt durch Hypothesen zur geographisch-klimatischen Bedingtheit gesellschaftlicher Phänomene wie der von Montesquieu in seinem 1748 erschienen De L’esprit des Loix unterbreiteten Klimatheorie, der zufolge das Klima die Menschen, ihre Politik und ihre Kultur beeinflusst,8 entwickelt sich – gegen den Widerstand der heilsgeschichtlich argumen-
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Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poetery. Breslau 1624 [Nach der Edition von Wilhelm Braune neu hg. von Richard Alewyn, Tübingen 1963]. S. 14-15. Eine weitere Quelle wäre der Gallierexkurs in Caesars De bello gallico VI 11–20. Vgl. auch: Wolf Gerhard Schmidt: ‚Homer des Nordens‘ und ‚Mutter der Romantik‘. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Bd. I: James Macphersons Ossian, zeitgenössische Diskurse und die Frühphase der deutschen Rezeption. Berlin, New York 2003. S. 435–438 und Klaus Böldl: Der Mythos der Edda. Nordische Mythologie zwischen europäischer Aufklärung und nationaler Romantik. Tübingen und Basel 2000. S. 12–24. „Wenn es wahr ist, daß der Charakter des Geistes und die Leidenschaften des Herzens in den verschiedenen Klimaten außerordentlich verschieden sind, dann müssen die Gesetze auf die Unterschiedlichkeit dieser Charaktere Bezug haben.“ (Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de: Vom Geist der Gesetze. Hg. und übersetzt von Ernst Forsthoff, photomechanischer Nachdruck der Erstauflage 1951. 2 Bde. 1. Aufl. Tübingen 1992 [1748]: Bd. I: Vierzehntes Buch: Von den Gesetzen in ihrer Beziehung zur Natur des Klimas. Kap. 1: Allgemeiner Gedanke. S. 310). Im 2. Kapitel führt er aus, „[w]ie sehr die Menschen in den unterschiedlichen Klimaten verschieden sind“. Dabei habe kalte Luft die besseren Auswirkungen auf Körper und Geist. Ebd. S. 310–314) – Vgl. dazu: Dr. Stephan Günzel: Geographie der Aufklärung. Klimapolitik von Montesquieu zu Kant. In: Aufklärung und Kritik 2/2004. S. 66–91 und Böldl (wie Anm. 7). S. 27–30. – Montesquieus Klimatheorem ist die Grundlage für Paul Henri Mallet: Introduction à L'histoire du Danemarc où l'on traite de la religion, des moeurs, des lois, et des usages des anciens Danois. Kopenhagen. 1755 (deutsche Übersetzung: Herrn Prof. Mallets Geschichte von Dänemark. Aus dem Französischen übersetzt. Mit einer Vorrede Herrn Gottfried Schützens. Erster Theil. Einleitung zur Geschichte Dänemark, enthält die Ueberbleibsel aus der Mythologie und Dichtkunst der alten nordischen Völker. Rostock, Greifswald 1765. – Ewald Friedrich von Hertzberg: Abhandlung worin man die Ursachen der Überlegenheit der Teutschen über die Römer zu entwickeln, und zu beweisen sucht, daß der Norden des alten Teutschlands zwischen dem Rhein und der Weichsel und vorzüglich die gegenwärtige preussische Monarchie das Stammland der heroischen Nationen gewesen sey, welche in der berühmten VölkerWanderung das römische Reich zerstöret und die Haupt-Staaten des heutigen Europa begründet und bevölkert haben. Abgelesen in der öffentlichen Versammlung der Akademie der Wissenschaften und schönen Künste in Berlin, den 27. Januar 1780 (Berlin o. J.) S. 24 vertritt ebenfalls mit Bezug auf die Klimatheorie die Auffassung, „dass den nördliche Völkern, besonder de[n] Teutschen vor […] den südlichen Völkern […] Superiorität zukommen“. – Auch Herder setzt sich mit der Klimatheorie auseinander, wenn er der nordischen Mythologie „eigenen Geist roher, kühner Dichtung, starker, reiner und treuer Gefühle“ zuschreibt (Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784–1791]. Bd. 1 und 2. Hg. von Heinz Stolpe. Berlin und Weimar 1965. Bd. 2. S. 277). Wichtiger als das Klima ist für Herder allerdings der Gedanke einer prinzipiellen Einheit des Menschengeschlechts: „Die genetische Kraft ist die Mutter aller Bildungen auf der Erde, der das Klima feindlich oder freundlich nur zuwirket“ (Ebd. S. 266, Hervorhebung U. R.). „Die Sinnlichkeit unsres Geschlechts verändert sich mit Bildungen und Klimaten; überall aber ist ein menschlicher Gebrauch der Sinne das, was zur Humanität führet“ (Ebd. S. 282).
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tierenden theologischen Geschichtsauffassung und parallel zum Zerfallsprozess des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation im 18. Jahrhundert ein verstärktes Interesse an nationalen Verschiedenheiten. Dass das Studium und der Vergleich der Nationalmythen hierbei wichtige Aspekte waren, erhellt aus dem Opitz-Zitat. Diese Einsichten gehen Hand in Hand mit den wichtigen Editionen nordischer Nationalmythen des 18. Jahrhunderts: des deutschen Nibelungenliedes 9, der altnordischen Edda 10. Dazu zählt auch das 1760 von Hugh Blair unter dem Titel Fragments of Ancient Poetry herausgegebene vermeintliche keltische Nationalepos Ossian 11. Dass dessen Verfasser ein Hauslehrer namens James Macpherson war, der den Mangel an handschriftlichen Funden durch eigene Erfindungen ausglich, vermochte die Faszination, die der nordische Mythos auch in Deutschland auslöste, kaum einzuschränken. Die hier vermittelten politischen Vorstellungen eines freiheitsliebenden Heldentums prägen nicht nur die Konzepte für eine deutsche Nation,12 sondern müssen diese – wie eingangs erwähnt – bis 1871 kompensieren. Sie werden vor allem in den literarischen Bearbeitungen des Arminius (Hermann)-Stoffes transportiert, der die Befreiung Germaniens von der römischen Fremdherrschaft feiert.13 Die stofflichen Interessen der Romantiker können
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1757 hatte Bodmer mit den Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger, „Kriemhilds Rache“ aus dem Nibelungenlied herausgegeben und 1758/1759 zusammen mit Breitinger die Sammlung von Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend (Zürich 1758/59) folgen lassen. Den ersten vollständigen Abdruck des Nibelungenliedes brachte Chr. H. Myller in der von ihm herausgegebenen Sammlung deutscher Gedichte aus dem 14. bis 16. Jahrhundert. Mallet (wie Anm. 8) mit der ersten Edda-Übertragung ins Französische und Ders.: Edda, ou Monumens De la Mythologie & de la Poésie des anciens peuples du Nord. Trosième Èdition Revué, corrigée et considerablement augmentée. Genève 1787. Diskutiert durch Herder (Rez. Herrn Prof. Mallets Geschichte von Däönemark. 1766) und Gerstenberg (Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur. Schleswig, Leipzig 1766), englische Übersetzung von Thomas Percy 1770, deutsche Übertragung von Edda-Liedern durch Friedrich David Gräter unter dem Titel Nordische Blumen (Leipzig 1789). Die Reihe der Übertragungen ins Deutsche beginnt 1762 (Schmidt [wie Anm. 7]. Bd. 2. S. 1152–1175). Vgl. Schmidt (wie Anm. 7). S. 438–439, der hier revolutionäre Implikationen sieht: „Die Aufwertung von mittelalterlicher Dichtung und nordischer Mythologie hat eine doppelte Funktion. Der ästhetischen Abkehr von der mit Antike und Klassizismus assoziierten Regelpoesie entspricht die poltische von Adel und Hof. Dies gilt insbesondere für die Dichter des Göttinger Hain und des Sturm und Drang. Legitimationsinstanzen sind in erster Linie Shakespeare, Ossian und Klopstock. So schreibt Johann Georg Jacobi 1774 in einer Rezension zu [Klopstocks] Hermann und die Fürsten: die Gesänge der Barden seien „majestätisch einfältig, wie der Eichenwald, in welchem der Geist der Freyheit auf die ausgezogenen Waffen überwundener Tyrannen schaut“. (Johann Georg Jacobi: [Rezension zu] Drey Bardengesänge aus Klopstocks Hermann und die Fürsten. S. 41) Wichtige Literarisierungen des Stoffes sind: Daniel Caspar von Lohenstein: Großmütiger Feldherr Arminius (Roman, 1689–90); Johann Elias Schlegel: Hermann. Ein Trauerspiel (1743); Justus Möser: Arminius. Ein Trauerspiel (1749); Christoph Martin Wieland: Hermann (Epenfragment, 1751, Erstdruck 1882); Friedrich Gottlieb Klopstock: Hermann und Thusnelda (Ode, 1752), Hermanns Schlacht, Hermann und die Fürsten, Hermanns Tod (Drei Barditen, 1769, 1784 und 1787). Vgl. insgesamt dazu Marco Puschner: Antisemitismus im
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an diese Suche nach Nachweisen einer deutschen Kulturgeschichte anknüpfen.14 Die narrativen Grundlagen für eine deutsche Mythologie sind damit gefunden, in der Folge wird es verstärkt um Fragen der Ikonographie, Inszenierung und Ritualisierung gehen, wie sie im postrevolutionären Frankreich mit besonderer Konsequenz Beachtung gefunden haben. Ein Blick in dessen Geschichte ist auch deshalb notwendig, da die von der Revolution beeindruckten deutschen Romantiker nicht bruchlos an die mythische Selbstverständigung des 18. Jahrunderts anknüpften, sondern die französischen Vorgaben einem umfassenden Reflexionsprozess unterzogen.
Idee und Umsetzung einer Zivilreligion im revolutionären Frankreich Die Entwicklung einer Zivilreligion im revolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts wird theoretisch vorbereitet durch Jean-Jacques Rousseaus politische Abhandlung Du Contrat social ou Principes du droit politique (Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes. 1762). Im 8. „Von der bürgerlichen Religion“ überschriebenen Kapitel des 4. Buches heißt es, nachdem Rousseau die institutionalisierte Religionsausübung als dem Gesellschaftsvertrag entgegenstehende Sozialkonstruktion diskutiert hat: Es gibt daher ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein. […] Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl und bestimmt ausgedrückt sein ohne Erklärungen und Erläuterungen. Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze, das sind die positiven Dogmen. Was die negativen Dogmen anbelangt, so beschränke ich sie auf ein einziges: die Intoleranz, sie gehört jenen Kulten [persönliches Christentum, Theokratie, Priesterreligion] an, die wir ausgeschlossen haben.15
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Kontext der Politischen Romantik. Konstruktionen des „Deutschen“ und des „Jüdischen“ bei Arnim, Brentano und Saul Ascher. Tübingen 2008. S. 35–58. 1807 legte Friedrich von Hagen eine populäre neuhochdeutsche Bearbeitung des Nibelungenliedes vor, der er 1810 die Publikation des ersten vollständigen mittelhochdeutschen Textes folgen ließ. – 1812 edierten Jacob und Wilhelm Grimm das Hildebrandslied und das Wessobrunner Gebet. – 1813 gab Joseph Görres den Lohengrin heraus, usw. – Hermann, der Cherusker (Heinrich von Kleist: Hermannsschlacht, 1808), Martin Luther (Zacharias Werner: Martin Luther oder: Die Weihe der Kraft, 1806) und Siegfried aus der Nibelungensage (Friedrich de la Motte-Fouqué: Der gehörnte Siegfried in der Schmiede 1803, Dramen-Trilogie Der Held des Nordens 1808–10) werden zu wichtigen Identifikationsfiguren. Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechtes. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt und hg. von Hans Brockard. Stuttgart 1977. S. 151. (Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social; ou, Principes du droit politique. Par J. J. Rousseau, citoyen de Geneve. Edition sans cartons, à laquelle on a ajoûté une lettre de l’auteur au seul ami qui lui reste dans le monde. Ed. sans cartons, à laquelle on a ajoûté une lettre de l’auteur au seul ami qui-lui reste dans le monde. Amsterdam 1762. S. 355–357: Chapitre VIII: De
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Im Bewusstsein und aus der Erfahrung, dass das kultisch-rituelle Erleben erheblich zur Bildung von Gemeinschaften beiträgt, wurden im Zuge der Säkularisierung und Entchristianisierung in Frankreich ab 1790 Revolutionskulte eingeführt. Dazu gehörten: – die Verehrung von Revolutionsmärtyrern wie Marat,16 – der am 5. Oktober 1793 beschlossene Revolutionskalender mit der Ausrufung der Republik als Beginn der neuen Zeitrechnung, poetischen Monatsnamen, Dekaden statt Wochen und revolutionären statt kirchlichen Feiertagen,17 – der am 10. November 1793 erstmals zelebrierte Kult der Vernunft, dem die Kirchen des Landes – allen voran Notre Dame – geweiht wurden,18 – der Kult des höchsten Wesens, der am 8. Juni 1794 das einen Monat zuvor vom Konvent erlassene Dekret „Das französische Volk erkennt die Existenz eines Höchsten Wesens und die Unsterblichkeit der Seele an“ feierlich umsetzte19. Dem Bestreben um eine revolutionsangemessene Reedukation der Bevölkerung dienten außerdem einfache und dennoch traditionsgesättigte Symbole der politischen Verständigung: Allegorien wie die französische Freiheitsgöttin Marianne oder der aus der antiken Mythologie entnommene Herkules stehen für die Kraft des republikanischen Volkes. Aus der altrömischen Republik entliehene Zeichen wie die Jakobiner-Mütze und das Rutenbündel repräsentieren die revolutionäre Gesinnung. Aus der aktuellen Revolutionserfahrung wurden der Freiheitsbaum, der 14. Juli, die Bastille, die Kokarde und die Marseillaise in den symbolischen Kanon integriert. Das Tragen schlichter, die Standesunterschiede bewusst nivellierender schwarzer Röcke wurde zur politisch aussagekräftigen Mode. Sansculotten waren an ihren langen Hosen, den Jakobinermützen und offenen Haaren erkennbar.20
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la Religion civile: „Il y a donc une profession de foi purement civile dont il appartient au souverain de fixer les articles, non pas précisément comme dogmes de religion, mais comme sentiments de sociabilité, sans lesquels il est impossible d'être bon citoyen ni sujet fidèle. […] Les dogmes de la religion civile doivent être simples, en petit nombre, énoncés avec précision sans explications ni commentaires. L'existence de la divinité puissante, intelligente, bienfaisante, prévoyante et pourvoyante, la vie à venir, le bonheur des justes, le châtiment des méchants, la sainteté du contrat social et des lois, voilà les dogmes positifs. Quant aux dogmes négatifs, je les borne à un seul; c'est l'intolérance: elle rentre dans les cultes que nous avons exclus.“) Walter Markov und Albert Soboul: 1789. Die Große Revolution der Franzosen. Leipzig 1989. S. 310–311. http://www.lzkv.de/frk.htm – http://www.familysearch.org (Stand 17.2.2009). – Emmet Kennedy: A Cultural History of the French Revolution. New York 1989. S. 350 und Mona Ozouf: Festivals and the French Revolution. Massachusetts, London 1988. S. 120. – Durch ein Dekret Kaiser Napoleons vom 9. September 1805 lief der französische Revolutionskalender mit 31. Dezember 1805 aus. Ozouf (wie Anm. 17). S. 97–98. – Markov/Soboul (wie Anm. 16). S. 313. Markov/Soboul (wie Anm. 16). S. 243. – Hans Maier: Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie. Freiburg, Basel, Wien 1988. S. 275. – Ozouf (wie Anm. 17). S. 111. Lynn Hunt: Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur. Frankfurt/Main 1989. – Iconographie et image de la Révolution française. Hg. von Claudette Hould. Montréal 1990. – Sabine Büttner: V. Symbole der Revolution. Aus: Die Französische Revolution – eine Online-
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Auffällig hieran ist die Anschlussbereitschaft an die antike Überlieferung und die in ihrer Mythologie bereitgestellte Motivik, die ja als eine das Ancien Régime mit bestimmende Kultur hätte abgelehnt werden können. Sie ist allerdings durch Hinweise auf die antike Polis und deren nach den Erosionen des Kaiserreichs den europäischen Gedanken tragendenes republikanisches Ideal nachzuvollziehen, das durch den Rückgriff auf die Mythologeme emotional verstärkt wird. In der pokstrevolutioären Phase zeigte sich aber, dass die Revolutionskulte den religiösen Bedarf eines Großteils der Bevölkerung nicht ersetzen konnten.
Romantische Legierungen Romantische Staatsidee Weniger kult- und ritualbewusst als das postrevolutionäre Frankreich, knüpft die frühromantische Religionsphilosophie sowohl an den theokratischen Universalismus als auch an die allgemein (europäisch/weltbürgerlich) republikanisch definierte Revolutions-Idee und an den Spinozismus des 18. Jahrhunderts an.21 Das Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus (1796) kündigt die Wende von der aufgeklärt-mechanischen, nach einer Verfassung strebenden zu einer organisch-mythenbasierten Staatsauffassung an, die sozialutopischen Charalter hat.22 Dass dabei auf deutscher Seite Distanznahmen zur Auffassung des französischen Imperialismus im Spiel waren, liegt auf der Hand.23
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Einführung: Politische Kultur. In: historicum.net. URL: http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/505/. (Stand vom 17.2.2009). Vgl. Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates. München 1908. S. 58–75. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter (†) und Karlfried Gründer. Bd. 1–13. Darmstadt 1971–2007. Stichwort „Organismus“ (Bd. 6. Sp. 1330–1358. Hier Sp. 1340: „Die Wiederentdeckung der Organismus-Konzeption von Staat und Gesellschaft erfolgt im Zuge der Kritik an der Gesellschaftsvertrag-Konzeption Rousseaus und ihrer Realisierung durch die französische Revolution. Die Priorität gehört hier J. G. Fichte: ‚In dem organischen Körper erhält jeder Teil immerfort das Ganze, und wird, indem er es erhält, dadurch selbst erhalten: ebenso verhält sich der Bürger zum Staat.‘“) Vgl. auch Stichwort „Staatsmaschine“ (Bd. 10. Sp. 63–66). – Zitat aus: Johann Gottlieb Fichte: Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796). In: Ders.: Fichtes sämmtliche Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. 8. Bde. Berlin 1845/46. Bd. 3. S. 1–385. Hier. 209. Fichte hatte bereits 1793 mit seinen Schriften Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten und Beitrag zur Berichtigung der Urteile über die französische Revolution Revolutionsplädoyers vorgelegt, die die Legitimität des Staates von der Anerkennung des Ichs und seinem Sittengesetz abhängig machen und die 1794 zur Grundlage seiner Wissenschaftslehre werden. Vgl. Klaus Peter: Einleitung. In: Die politische Romantik in Deutschland. Hg. von Dems. Stuttgart 1985. S. 9–73. Hier S. 16–19. Zu den Sozialutopien, die hier Pate gestanden haben mögen, zählen Augustinus Civitas Dei und Thomas von Aquin De regno. Vgl. Puschner (wie Anm. 13). S. 153.
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Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk: Die Idee der Menschheit voran – will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. Ihr seht von selbst, daß hier alle die Ideen, vom ewigen Frieden u.s.w. nur untergeordnete Ideen einer höhern Idee sind. Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen, und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung – bis auf die Haut entblößen. […]24
Zwei Jahre später überführt Novalis die Grundidee dieses an sich freiheitlich-republikanischen Postulats umstandslos in ein Plädoyer für die Monarchie, indem er den staatenbildenden Faktor des Gemeinschaftsgefühls herauskristallisiert. Durch seine 1798 im Juni- und Juli-Heft des zweiten Bandes der Jahrbücher der Preußischen Monarchie unter der Regierung von Friedrich Wilhelm III. abgedruckte Fragmentensammlung Glaube und Liebe oder Der König und die Königin betont er in einer Art Dreisprung von der Idee über die Symbolik zur Ritualisierung die Vorzüge einer durch Symbole und Kleidung sichtbaren corporate identity und demonstriert die mythische Sinn- und Vorbildhaftigkeit des Königs(paares)25: 15. Ein wahrhaftes Königspaar ist für den ganzen Menschen, was eine Constitution für den bloßen Verstand ist. Man kann sich für eine Constitution nur, wie für einen Buchstaben interessiren. Ist das Zeichen nicht ein schönes Bild, oder ein Gesang, so ist Anhänglichkeit an Zeichen, die verkehrteste aller Neigungen. – Was ist ein Gesetz, wenn es nicht Ausdruck des Willens einer geliebten, achtungswehrten Person ist? Bedarf der mystische Souverain nicht, wie jede Idee, eines Symbols, und welches Symbol ist würdiger und passender, als ein liebenswürdiger treflicher Mensch? […] 19. Ein großer Fehler unserer Staaten ist es, daß man den Staat zu wenig sieht. Überall sollte der Staat sichtbar, jeder Mensch, als Bürger characterisirt seyn. Ließen sich nicht Abzeichen und Uniformen durchaus einführen? Wer so etwas für geringfügig hält, kennt eine wesentliche Eigenthümlichkeit unsrer Natur nicht. […] 30. Jede gebildete Frau und jede sorgfältige Mutter sollte das Bild der Königin, in ihrem oder ihrer Töchter Wohnzimmer haben. Welche schöne kräftige Erinnerung an das Urbild, das jede zu erreichen sich vorgesetzt hätte. Ähnlichkeit mit der Königin würde der Karakterzug der Neupreußischen Frauen, ihr Nationalzug. Ein liebenswürdiges Wesen unter tausendfachen Gestalten. Mit jeder Trauung ließe sich leicht eine bedeutungsvolle Huldigungszeremonie der Königin einführen; und so sollte man mit dem König und der Königin das gewöhnliche Leben veredeln, wie sonst die Alten es mit ihren Göttern thaten. Dort entstand ächte Religiosität durch diese unaufhörliche Mischung der Götterwelt in das Leben.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel / Friedrich Wilhelm Joseph Schelling /Friedrich Hölderlin: [Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus]. In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Kleine Stuttgarter Ausgabe. Band 1–6. Herausgegeben von Friedrich Beissner. Stuttgart: 1946–1962. Bd. 4. S. 309–311. Hier S. 309. Dabei kann er an Schiller anknüpfen, der in Die Götter Griechenlandes die emotionalen Vorteile einer Weltsicht beschreibt, in der unmittelbare Kontakte zu den Göttern, sprich den Oberen möglich sind. (Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Hg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Weimar 1943 ff., Bd. 1. S. 190–195 bzw. Bd. 2,I. S. 363–367.
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Ursula Regener So könnte hier durch diese beständige Verwebung des königlichen Paars in das häusliche und öffentliche Leben, ächter Patriotism entstehen.26
1808 baut Adam Müller diese familiär-organische Staatsauffassung in seinen Elemente[n] der Staatskunst zu einer Theorie aus,27 der sich u. a. auf je verschiedene Weise auch Görres28 und Friedrich Schlegel anschließen werden29 und die in der Diktion Arndts30 und Friedrich Ludwig Jahns31 die nationalistische Färbung erhält.
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Novalis: Glauben und Liebe oder Der König und die Königin. In: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd. 1–4: Stuttgart 1960–1977. Bd. 2. S. 481–498. Hier S. 487, 489, 493. Adam Heinrich Müller, Ritter von Nitterdorf: Die Elemente der Staatskunst. Oeffentliche Vorlesungen, vor Sr. Durchlaucht dem Prinzen Bernhard von Sachsen-Weimar und einer Versammlung von Staatsmännern und Diplomaten, im Winter von 1808 auf 1809, zu Dresden, gehalten. Bd. 1 Berlin 1809. 2. Vorlesung: Dass die politischen Systeme aus todten Begriffen erbauete sind, während die lebendige Idee darin herrschen sollte (S. 35–69): „Der Mensch ist nicht zu denken außerhalb des Staates“ (S. 40) „Der Staat ist nicht eine bloße Manufaktur, Meierei, Assekuranz-Anstalt, oder merkantilische Sozietät; er ist die innige Verbindung der gesamten physischen und geistigen Bedürfnisse, des gesamten physischen und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation, zu einem großen energischen, unendlich bewegten und lebendigen Ganzen.“ (S. 51) „Der Staat ist die Totalität der menschlichen Angelegenheiten, ihre Verbindung zu einem lebendigen Ganzen. (S. 66) – Zur „romantischen Vorstellung von der ‚deutschen Nation‘“ s. auch Puschner (wie Anm. 13). S. 59–146. Joseph Görres vertritt in seiner Abrechnung mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses (Teutschland und die Revolution. Koblenz 1819. In: Ders. Politische Schriften 1817–1822. Hg. von Günther Wohlers. Köln 1929. S. 35–143.) die Idee einer „Verknüpfung des demokratischen und monarchischen Elements“ (S. 115) durch die Rückbesinnung auf das altgermanische Kaisertum, das nun intern durch eine liberale Verfassung, Kammern für Stadt und Land, auf Besitz gegründetes Wahlrecht und Trennung von Staat und Kirche reguliert werden soll, wobei dem (Verdienst-)Adel die Kontrolle darüber obliegt, dass die Balance zwischen Monarchie und Demokratie erhalten bleibt. Eine religiöse Fundierung des Staates bezweifelt er angesichts der zerstörten Religiosität, erhofft sie aber für die Zukunft (S. 135). In seiner späteren Schrift: Europa und die Revolution (Stuttgart 1821. Ebd. S. 145–285) beklagt er mit ungleich größerem rhetorischen Aufwand den europäischen Abfall vom Christentum. (Vgl. hierzu: Wolfgang Frühwald: Erläuterungen. In: Joseph Görres: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald. Freiburg, Basel, Wien 1978. Bd. 2. S. 763–890. Hier S. 835–854). 1810/11 führt Schlegel in seinen Vorlesungen Über die neuere Geschichte die Idee eines gewaltfreien übernationalen europäischen Kaisertums gegen Napoleon aus (In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe. München, Paderborn, Wien, Zürich 1958 ff. Bd. 7. S. 125–407). 1820 und 1823 veröffentlicht er in der von ihm herausgegebenen konservativen Zeitschrift Concordia unter dem Titel Signatur des Zeitalters eine auf mehrere Hefte verteilte dreiteilige historisch-politische Abhandlung, die dem katholischen ständestaatlichen Staatsideal Vorschub leistet. (Ebd. S. 483–596. Hier S. 534–553 und 586–596). Ernst Moritz Arndt, der seinem Franzosenhass in Flugblättern wie Das preußische Volk und Heer (1813), Über Volkshass und über den Gebrauch einer fremden Sprache (1813), Über das Verhältnis Englands und Frankreichs zu Europa (1813) und Noch ein Wort über die Franzosen und über uns (1814) Luft macht, bringt seine expansiven Vorstellungen im Kriegslied Des Deutschen Vaterland (1811) auf den Punkt: „Was ist des Deutschen Vaterland? / So nenne mir das große Land! / So weit die deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel
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Die „neue Mythologie“ Das Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus postuliert konsequenterweise auch eine „Mythologie der Vernunft“ und damit die in der Romantik vielbeschworene neue Mythologie: Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse, und umgekehrt: ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.32
Dabei hebt der immer noch nicht eindeutigen Verfasser vor allem auf die Notwendigkeit einer sinnlichen Vermittlung rationaler Gegenstände ab und schlägt ein weiteres Thema an, dass die Romantiker beschäftigen wird: das der neuen Religion. Die „neue Religion“ Als Friedrich Schlegel vor der Jahrhundertwende noch vorschwebt, Prophet dieser „neuen Religion“ zu sein, hält er in seinen Ideen (1798) zunächst die konfessionslose Basis aller Religiosität fest: [13] Nur derjenige kann ein Künstler sein, welcher eine eigne Religion, eine originelle Ansicht des Unendlichen hat.
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Lieder singt, / Das soll es sein! / Das, wackrer Deutscher, nenne dein!“ (In: Ders.: Werke. Hg. von August Lesson. Bd. 1. Gedichte. Berlin 1912. S. 126 f. Erstdruck in: Ders.: Lieder für Teutsche. 1813). Dabei kann er sich auf die Wortbedeutung des germanischen Wortes thioda („Volk“) stützen. Das Adjektiv „deutsch“ bedeutete demnach ursprünglich „zum Volk gehörig“ und grenzte die Sprachgemeinschaft der germanischen Stämme ein. Vgl. Peter Brandt: Die Befreiungskriege von 1813–1815 in der deutschen Geschichte. In: Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup. Hg. von Michael Grüttner, Rüdiger Hachtmann und Heinz Gerhard Haupt. Frankfurt am Main u. a. 1999. S. 17–57. Hier S. 37. [Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus] (wie Anm. 24). S. 310 f. Hierzu: Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm“ des deutschen Idealismus. Hg. von Christoph Jamme und Hans Schneider. Frankfurt a. M. 1988.
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Ursula Regener [14] Die Religion ist nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Menschheit, sondern das Zentrum aller übrigen, überall das Erste und Höchste, das schlechthin Ursprüngliche.33
Schlegels antiklerikales Postulat des individuellen Glaubenswegs wird durch Schleiermachers in den Reden Über die Religion (1799) vertretene Philosophie einer Gefühlsreligion – „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ – noch verstärkt: [Die Religion] ist kein Sklavendienst und keine Gefangenschaft; auch hier sollt Ihr Euch selbst angehören, ja dies ist sogar die einzige Bedingung, unter welcher Ihr ihrer teilhaftig werden könnt. [ ... ] Ihr habt recht, die dürftigen Nachbeter zu verachten, die ihre Religion ganz von einem Andern ableiten und an einer toten Schrift hängen, auf sie schwören und aus ihr beweisen. Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion [ ... ] Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte. 34
Ähnlich bindet Novalis in seiner 1799 gehaltenen Vorlesung Die Christenheit oder Europa Religion eigentlich nicht an kirchliche Institutionen, sondern setzt auf einen „unsterblichen“ oder „heiligen Sinn“, ein anthropologisch verankertes Religionsgefühl, das er als Garant einer im Mittelalter angelegten europäischen Friedensutopie betrachtet. Sein im Wortsinn von „ächtkatholisch“ allumfassend gemeintes christliches Ideal wurde von den Zeitgenossen als Apologie der römisch-katholischen Kirche verstandenen, was einen Abdruck im Athenäum verhinderte.35 Damit ist die „neue Religion“ ein pantheistisch, pietistisch durchdrungener republikanischer Katholizismus (im Wortsinn), der in seiner altdeutschen Vorstellungswelt an die vorrevolutionäre antifeudale Mythenrezeption anknüpft, aber nicht national gefasst ist.36 Der inhärente Mittelalterenthusiasmus transportiert sowohl das „kosmopolitsche Ideal“ als auch „den neuen nationalen Gemeinschaftsmythos“.37 Republikanismus und Mittelalterenthusiasmus In seinem auf Kants Schrift Zum ewigen Frieden replizierenden Versuch über den Begriff des Republikanismus, der 1796 im 7. Stück der zusammen mit Johann Friedrich Reichardt herausgegebenen republikanischer Wochenschrift Deutschland erschien, verweist Friedrich Schlegel bei seiner Analyse des Republikanismus noch auf die hierin vorbildhafte Antike und verfolgt (auch auf der Suche nach einem politischen Erbe des übernationalen Kaiser-
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Friedrich Schlegel: Ideen. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. (wie Anm. 29). Bd. 2. S. 257. (Erstdruck in: Athenäum. Berlin. 3. Bd. 1. Stück. 1798). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Hamburg 1958. S. 30 und 67. (Zweite Rede: Über das Wesen der Religion). Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Ders.: Schriften (wie Anm. 26). Bd. 3. S. 507–525. Hier S. 508 f. Friedrich Schlegel verwirft diese Weltanschauung 1808 im Zuge seiner Konversion und bekennt sich fortan zu den römisch-katholischen Vorgaben. Puschner (wie Anm. 13). S. 47
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reichs) ganz im postrevolutionär-föderativen Sinn die „Idee einer Weltrepublik“.38 Doch führt die gleichzeitige Orientierung am Mittelalter (resp. in der Begrifflichkeit der Zeit: der Renaissance) und damit am Altdeutschen langsam aber sicher zum bekannten Paradigmenwechsel, der zum Träger auch der politischen Vorstellungen dieser Generation werden soll. Vorläufig geht die Idee des Mittelalters aber sowohl Verbindungen zu der der Weltrepublik als auch zu der des Deutschtums ein.39 Nachdem Schlegel in seiner Schrift Über das Studium der griechischen Poesie (1797) die Verwischung des deutschen Nationalcharakters ausgerechnet im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation beklagt, [s]owohl die Italiänische als die Französische und Englische Manier hatte ihre goldne Zeit, wo sie den Geschmack des ganzen übrigen gebildeten Europa despotisch beherrschte. Nur Deutschland hat bis jetzt den vielseitigsten fremden Einfluß ohne Rückwirkung erfahren. Durch diese Gemeinschaft wird die grelle Härte des ursprünglichen Nationalcharakters immer mehr verwischt, und endlich fast gar vertilgt. An seine Stelle tritt ein allgemeiner Europäischer Charakter,40
weist er im 1800 erschienenen Gespräch über die Poesie das „Mittelalter“ wortgemäß als „Zwischenwelt der Bildung“ und Zeit eines – unter dem Dach des Kaiserreichs – literarisch außerordentlich fruchtbaren internationalen Kulturtransfers aus, aus dem Dante, Petrarca und Boccaccio dann die Literatur der Renaissance kreierten. Mit den Germaniern strömte ein unverdorbener Felsenquell von neuem Heldengesang über Europa, und als die wilde Kraft der gotischen Dichtung durch Einwirkung der Araber mit einem Nachhall von den reizenden Wundermärchen des Orients zusammentraf, blühte an der südlichen Küste gegen das Mittelmeer ein fröhliches Gewerbe von Erfindern lieblicher Gesänge und seltsamer Geschichten, und bald in dieser bald in jener Gestalt verbreitete sich mit der heiligen lateinischen Legende auch die weltliche Romanze, von Liebe und von Waffen singend. Die katholische Hierarchie war unterdessen ausgewachsen; die Jurisprudenz und die Theologie zeigte manchen Rückweg zum Altertum.41
Die ersten aus der romantischen Dichtergeneration, die sich intensiv mit dem Mittelalter befassten und deren Begeisterung sich in ihren poetischen Werken niederschlug, waren Heinrich Wackenroder und sein Freund Ludwig Tieck. Auch ihre Entwürfe grundiert noch der durch das Kaiserreichsgebilde mit geprägte, übernational-europäische Gedanke. Wackenroder/Tieck beschreiben das Mittelalter als eine Epoche natürlicher christlicher
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Friedrich Schlegel: Versuch über den Begriff des Republikanismus. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 29). 1. Abt. Bd. 7. S. 11-25. Hier S. 14 und 13 (Erstdruck in: Deutschland. Bd. 3. 7. Stück. Berlin 1796). Mit dieser Idee widerlegt er Kants These von der Monarchie als Bedingung des Friedens. Vgl. Klaus Peter (wie Anm. 22). S. 22. Vgl. hierzu Volker Kronenberg: Politische Romantik. In. Ders.: Patriotismus in Deutschland: Perspektiven für eine weltoffene Nation. Wiesbaden 2006. S. 116–131. Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 29). 1. Abt. Bd. 1. S. 217–367. Hier S. 226. Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (wie Anm. 29). 1. Abt. Bd. 2. S. 284–351. Hier S. 296 f. (Erstdruck in: Athenäum. Berlin. 3. Bd. 1.-2. Stück. 1800).
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Frömmigkeit und ernsten, schlichten Wesens, die sich konzentriert in der „vaterländischen“ Kunst Albrecht Dürers zeige. Ein Vorabdruck des von Wackenroder verfassten Beitrags über Dürer aus den Herzensergießungen erschien 1796 anonym im gleichen Band der oben erwähnten Zeitschrift Deutschland,42 deren Motto Kants Zum ewigen Frieden zitiert. Der prorevolutionäre und proeuropäische Aspekt ist per Publikationsort angezeigt. Der 1797 erschienene Roman von Willhelm Heinrich Wackenroder wurde nach dem frühen Tod seines Verfassers (1798) zu einem Kultbuch. Kreation der altdeutschen Mode Führt man sich die Bilder dieser ausdrücklich an Vasaris Vite43 angelehnten Malergenealogie aus dem italienischen Renaissance-„Heldenalter der Kunst“44 (Francesco Francia, Raffael de Urbino, Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer, Michelangelo Buonarotti), deren Kunstfertigkeit als auf dem jeweiligen Vorgänger aufsattelndes und insofern gemeinsames Streben nach der idealen Darstellung gekennzeichnet wird, vor Augen, so ergeben sich als hervorstechende Merkmale des propagierten altdeutschen Ideals: Schlichtheit und Ehrfürchtigkeit, Ernsthaftigkeit des Ausdrucks, vertikale Ausrichtung mit hoher emotionaler Wirksamkeit. Insbesondere an den Bildern Albrecht Dürers (aber auch an denen Raffaels) wird das altdeutsche Ideal abgelesen. Als Albrecht den Pinsel führte, da war der Deutsche auf dem Völkerschauplatz unsers Weltteils noch ein eigentümlicher und ausgezeichneter Charakter von festem Bestand; und seinen Bildern ist nicht nur in Gesichtsbildung und im ganzen Äußeren, sondern auch im inneren Geiste, dieses ernsthafte, gerade und kräftige Wesen des deutschen Charakters treu und deutlich eingeprägt. […] Dennoch aber fiel es mir, als ich in meinen jüngern Jahren die ersten Gemälde vom Raffael sowohl als von dir, mein geliebter Dürer, in einer herrlichen Bildergalerie sah, wunderbar in den Sinn, wie unter allen andern Malern, die ich kannte, diese beiden eine ganz besonders nahe Verwandtschaft zu meinem Herzen hätten. Bei beiden gefiel es mir so sehr, daß sie so einfach und grade, ohne die zierlichen Umschweife anderer Maler, uns die Menschheit in voller Seele so klar und deutlich vor Augen stellen.45
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Ehrengedächtnis unseres ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers von einem kunstliebende Klosterbruder. In: Deutschland (wie Anm. 38). S. 59–73. Der Kunsthistoriker Giorgio Vasari (Le Vite de' piú eccellenti pittori scultori ed architettori da Cimabue insino a' tempi nostri. Florenz, Torrentino, 1550 [Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten. Hg. von Alessandro Nova mit Sabine Feser, Matteo Burioni und Katja Lemelsen. Berlin 2004 ff.] prägte nicht nur den Begriff Renaiccance, sondern beschrieb auch als erster den mittelalterlichen Stil. Verglichen mit der antiken Ästhetik sei dieser „gotico“ (gotisch) im italienischen Wortsinn von „fremdartig, barbarisch, wirr“. Außerdem prägte Vasari den Ausdruck Renaissance. Wilhelm Wackenroder: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. In: Ders.: Werke und Briefe. Hg. von Gerda Heinrich. Berlin und München 1984. S. 139–247. Hier S. 149 Ebd. S. 187 f.
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Es ist naheliegend, dass der Co-Autor Ludwig Tieck an den Herzensergießungen-Erfolg anknüpfte und nicht nur mit seinem Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) an der „altdeutschen Geschichte“ weiterschrieb. In der Kunstgeschichte greifen ab 1809 die Lukasbrüder (Nazarener) das Ideal auf und versuchen der Renaissance sowohl im ritualisierten Leben (klösterliche Lebensgemeinschaft) als auch in der Malerei (Imitation des genannten Malstils) zur Wiedergeburt zu verhelfen. Ihr Motivarsenal verbindet ein wahres (empfindsam-subjektives) Christentum mit klassischer Schönheit und deutscher Innigkeit.46 Berücksichtigt man die verwandtschaftlichen Beziehungen (der Mitbruder Philipp Veit war als Sohn Dorothea Schlegels aus erster Ehe Stiefsohn Friedrich Schlegels), so erklären sich die nach der politischen Kapitulation des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation vor dem napoleonischen im Mai 1806 verstärkt zu verzeichnenden Konversionen zum Katholizismus auch als Konsequenzen aus einem sich aus der Defensive heraus profilierenden und nach philosophischer Stringenz strebenden Nationalbewusstsein. Vom Republikanismus zum Nationalismus – Die Politisierung der altdeutschen Orientierung Zur Politisierung und nationalen Vereinnahmung des altdeutschen Ideals tragen aber erst die sich formierenden Burschenschaften und die Befreiungskriege entscheidend bei. Die nationale Bewegung greift auf die bereits etablierten Identifikationsmerkmale zurück und richtet sich zunächst antinapoleonisch, dann gegen die Restauration aus. Erste Pläne zur Gründung einer deutschen Burschenschaft, die die studentischen Sonderverbindungen im Sinne eines nationalen und antinapoleonisch gesinnten Studententums ablösen sollte, wurden im Zuge des sich formierenden Widerstands gegen die französische Expansion bereits um 1810 bei Jacob Friedrich Fries und Friedrich Ludwig Jahn in Auftrag gegeben. Angesteckt von deren Identifikationspotential ließen sich viele Studierende von der Freikorps-Bewegung affizieren und schlossen sich z. B. dem bekannten Königlich Preußischen Lützowschen Freikorps an, das sich im Februar 1813 institutionalisierte. Die Lützowsche Uniform war bekanntermaßen schwarz mit roten Biesen und goldenen Knöpfen und verlieh den Lützowschen Jägern somit ein altdeutsches Ansehen. Am 1. November 1814, ein Jahr nach der Völkerschlacht bei Leipzig, gründete sich die erste „Teutonia“ in Halle. Auf u. a. in Görres Rheinischem Merkur veröffentlichtem Betreiben Ernst Moritz Arndts folgten burschenschaftsähnliche Vereinigungen in Gießen, Heidelberg und Marburg, bevor im Juni 1815 in Jena ehemalige Kriegsteilnehmer und Landsmannschaften ihre individuellen und regionalen Interessen zugunsten der Verantwortung für die Nation aufgaben und sich zur Gründung ersten deutschen Burschenschaft (Urburschenschaft) entschlossen. Die identitätsstiftenden Symbole aus den Befreiungskriegen wie die alt-
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Jutta Assel und Georg Jäger: Friedrich Overbeck: Der Triumph der Religion in den Künsten. Teil I. In: http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=766
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deutsche Tracht (bestehend aus einem langen geschlossenen Rock mit weit geöffnetem Hemdkragen, weit geschnittenen Hosen und einem großen, samtenen Barett) und Haartracht (lange Haare und Bartwuchs) und die Erkennungsfarben schwarz-rot-gold wurden zum „Signum der nationalen und demokratischen Einheitsbewegung“, die ihre Ziele im schließlich realisierten „Deutschen Bund“ nicht wiederfand und schließlich ins aggressiv Extreme driftete.47 *** Zeichnet man die Phasen nach, die in Deutschland bei der Etablierung eines nationalen Selbstbewusstseins durchlaufen werden, ergibt sich ein buntes, in der politischen Ausrichtung schwankendes Bild. Im Grunde verweisen die für das gewünschte Image präferierten Mythen (Arminius, Kyffhäuser), (Vor-)Bilder (Renaissancekünstler, Mittelalter, Natur) und Symbole (altdeutsche Tracht) auf die Ordnung des ideal vorgestellten Heiligen Römischen Reichs deutscher Nationen, in dem die religiöse Einheit die emotionale Grundlage für das Gemeinwesen bildet und dessen Multinationalität (mit germanischer Dominanz) den Gedanken einer freiheitlichen und friedlichen „Weltrepublik“ besser realisiert als das nachrevolutionäre Frankreich. Erst unter dem Druck der napoleonische Okkupation und der Metternischen Restauration verschiebt sich die weltrepublikanische Ansatz auf die deutschnationale Bewegung im engeren Sinne. Diese kann ihre Formation, nachdem sie auf eine mythologisch und rituell bereits etablierte Corporate Identity zurückgreift, um so zügiger vollziehen.
Zum Schluss: Eichendorffs „schwarze Ritter“ Eichendorff, der 1807/08 im „Eleusischen Bund“ um Loeben die Schlagseiten rituellen Gehabes erlebte und der 1813/14 selbst sein Glück bei den Lützowschen Jägern suchte und nicht fand, präsentiert in seinem 1815 erschienenen Roman Ahnung und Gegenwart Figuren, die die altdeutsche Mode ohne die entsprechende Gesinnung tragen, z. B. auf einem Maskenball in der Residenz: Es war ein Ritter in schwarzer, altdeutscher Tracht, die so genau und streng gehalten war, daß man glaubte, irgend ein altes Bild sey aus seinem Rahmen ins Leben hinausgetreten. Die Gestalt war hoch
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Ausführlich dargestellt auf den Seiten: http://www.burschenschaftsgeschichte.de; http://www.burschenschaft.de/geschichte. – Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990. 3. Aufl. München 1996. S. 71–74. – Kronenberg (wie Anm. 39). S. 122–131. – Zitat: Michael Behnen: Deutschland unter Napoleon. Restauration und Vormärz. In: Martin Vogt (Hg.): Deutsche Geschichte. Stuttgart 1987. S. 349–402. S. 357 f.
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und schlank, sein Wams reich mit Gold, der Hut mit hohen Federn geschmückt, die ganze Pracht doch so uralt, fremd und fast gespenstisch, daß jedem unheimlich zu Muthe ward, an dem er vorüberstreifte.
Schon zu einem Zeitpunkt, da die altdeutsche Mode auf die politische Szene übergreift, verrät die Maskerade dem Erzähler ein überlebtes inhaltsloses Gehabe: Kurz vor Friedrichs Wiedersehen mit seinem Bruder Rudolph landen er und Leontin auf einem altertümlichen Schloss, dessen Bewohner mit dem für Eichendorff typischen Bewusstsein des Unzeitgemäßen, Zuspätgekommenen ausgestattet ist: Ein junger Mensch, der sich inzwischen mit einem Lichte eingefunden hatte, bat sie, ihm zu folgen, und führte sie stillschweigend über verschiedene Wendeltreppen und einen langen Bogengang in ein großes, gothischgewölbtes Gemach mit zwey Himmelbetten, ein Paar großen, altmodischen Stühlen und einem ungeheueren runden Tische in der Mitte. Sie bemerkten mit Verwunderung, daß er ein ledernes Reiterwamms trug und seine ganze Tracht überhaupt altdeutsch sey. Seine blonden Haare hatte er über der Stirne gescheitelt und in schönen Locken über die Schultern herabhängend. Er setzte das Licht auf den Tisch und fragte sie, wann sie wieder weiter zu ziehen gedächten? Ach, fügte er hinzu, ohne erst ihre Antwort abzuwarten, ach, könnt' ich mitzieh’n! – Und wer hält Euch denn hier? fragte Leontin. – Es ist meine eigne Unwürdigkeit, entgegnete jener wieder, wohl fehlt mir noch viel zu der ehrenfesten Gesinnung, zu der Andacht und der beständigen Begeisterung, um der Welt wieder einmal Luft zum Himmel zu hauen. Ich bin geringe und noch kein Ritter, aber ich hoffe es durch fleissige Tugendübung mit Gottes Gnade zu werden und gegen die Heyden hinauszuzieh’n. Denn die Welt wimmelt wieder von Heyden. Die Burgen sind geschleift, die Wälder ausgehauen, alle Wunder haben Abschied genommen, und die Erde schämt sich recht in ihrer fahlen, leeren Nacktheit vor dem Kruzifixe, wo noch eines einsam auf dem Felde steht; aber die Heyden handthieren und gehen hochmüthig vorüber und schämen sich nicht. – Er sprach dieß mit einer wirklich rührenden Demuth, doch selbst in der steigenden Begeisterung, in die er sich bey den letzten Worten hineingesprochen hatte, blieb etwas modern fades in seinen Zügen zurück. […] Unterdeß hatte sich der Ritter nachlässig in einen Stuhl geworfen, zog eine Lorgnette unter dem Wamms hervor, betrachtete die beyden Grafen flüchtig und sagte, seine letzten Worte wohlgefällig wiederholend: „aber die Heyden gehen vorüber und schämen sich nicht“ -. Recht gut gesagt, nicht wahr, recht gut? – Beyde sahen ihn erstaunt an. – Er lorgnirte sie von neuem. Aber ihr seyd doch recht einfältig, fuhr er darauf lachend fort, daß ihr das alles eigentlich so für baaren Ernst nehmt! Ihr seyd wohl noch niemals in Berlin gewesen? Seht, ich möchte wohl eigentlich ein Ritter seyn, aber, aufrichtig gesprochen, das ist doch im Grunde alles närrisches Zeug, welcher gescheide Mensch wird im Ernste an so etwas glauben!48
Das könnte fast von Heine stammen.
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Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer. Fortgeführt und herausgegeben von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Bd. 3: Ahnung und Gegenwart. Hg. von Christiane Briegleb und Clemens Rauschenberg. 1984. 2. Buch. 11. Kap. S. 122 f. – 3. Buch. 21. Kap. S. 281. Trotzdem handelt der Roman von einem echten Ritter: Graf Friedrich. „Er war größer als die andern, und zeichnete sich durch ein einfaches, freyes, fast altritterliches Ansehen aus.“ (Ebd. 1. Buch. 1. Kap. S. 3. Hervorhebung U. R.)
Thomas Martinec
Musik als Mythos und Medium in der frühromantischen Poetologie „Wir haben keine Mythologie.“ Mit dieser emphatischen Bestandsdiagnose beschreibt Friedrich Schlegel alias Ludoviko im Gespräch über die Poesie den Ausgangspunkt für ein literarisches Programm, das zentrale Züge der frühromantischen Poetologie insgesamt aufweist.1 Der gegenwärtigen Literatur wird der Verlust ihres eigentlichen Kerns vorgehalten, das Wesentliche wird in ihrem antiken Ursprung entdeckt und der literarischen Zukunft als Aufgabe anbefohlen. Dabei hält man sich nicht mit Einzelproblemen auf, sondern zielt unversehens auf die Dichtung im Ganzen. Es geht um alles oder nichts: „Ich gehe gleich zum Ziel. Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie.“ So weit Bestandsaufnahme und Rückbesinnung, denen das Programm auf dem Fuße folgt: „Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.“ Wenn Ludoviko versucht, in seiner Rede über die Mythologie der Literatur zu „einem festen Halt [...], einem mütterlichen Boden, einem Himmel, einer lebendigen Luft“, kurz: zu einem neuen „Mittelpunkt“ zu verhelfen, dann verfolgt er damit ein Interesse, das sich in auffallend ähnlicher Weise auch auf einem anderen Gebiet der frühromantischen Poetologie als wirksam erweist. Dort nämlich, wo man über Musik nachdenkt. Auch ihr werden mythische Qualitäten zugeschrieben: Sie erscheint als die ultimative Kunst, die ebenso in den verborgensten Tiefen der menschlichen Seele wie in den höchsten Höhen der Transzendenz beheimatet ist; sie wird zugleich als Ursprung und Ziel der Poesie verstanden und erhält damit allumfassende Qualität. Alles in allem zeichnet sich die Musik durch sämtliche Züge aus, die Friedrich Schlegel für seine „neue Mythologie“ beansprucht. Diese muss „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden“, das neu-mythologische Kunstwerk ist „ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie“: „Und ist nicht dieser milde Widerschein der Gottheit im Menschen die eigentliche Seele, der zündende Funken aller Poesie?“2 Gelesen vor dem Hintergrund von Schlegels Diagnose einer fehlenden Mythologie, posaunt es die poetologische Auseinandersetzung mit der Musik dem Leser geradezu entgegen: Wir haben keine Musik! –––––––— 1
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Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. 1. Abt. Bd. 2. Hg. von Hans Eichner. Paderborn 1967. S. 284–351. Hier S. 312, wie auch die folgenden Zitate. Ebd. S. 318.
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 19–37.
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Die mythische Qualität der Musik ist allerdings nur eine Seite des Musik-Begriffs in der Poetologie um 1800.3 Sie wird ergänzt und gestützt durch einen realen Aspekt der Musik, der als solcher keinerlei mythische Qualität besitzt, sich jedoch dazu eignet, die Poesie am Mythos der Musik teilhaben zu lassen: Durch Rhythmus und Klang konstituiert die Musik hier die hörbare Seite der poetischen Sprache; jenseits aller mythischen Zuschreibungen werden Poesie und Musik also auch über ihre mediale Schnittstelle miteinander in Verbindung gesetzt. Da dies auf der Grundlage einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition geschieht, soll durch eine Skizze dieser Tradition das Neuartige am Musik-Begriff in der frühromantischen Poetologie sichtbar gemacht werden. Es liegt darin, dass, vorbereitet durch Lessings medial reflektierten Mimesis-Begriff im Laokoon, die musikalischen Qualitäten des sprachlichen Mediums um 1800 herangezogen werden, um der Poesie Zutritt zum prinzipiell nicht-mimetischen Bereich der Musik zu verschaffen.
I. Musikbegeisterung als Sprachkritik Wackenroders und Tiecks Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders und Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst gelten gemeinhin als Initialzündung der romantischen Bewegung in Deutschland – nicht nur auf literarischem Gebiet. Carl Dahlhaus hat in einer richtungweisenden Studie gezeigt, dass die hier angestellten Musikbetrachtungen wesentlich dazu beigetragen haben, die Idee der absoluten Musik im 19. Jahrhundert zu formieren.4 Demnach haben Wackenroder und Tieck weniger eine bereits existierende musikalische Praxis reflektiert als vielmehr die ästhetischen Grundlagen für eine neuartige Musik geschaffen. So wichtig Dahlhaus’ Ansatz für die historische Erforschung der Vorstellung von einer absoluten Musik einerseits auch ist, so wenig zeigt er sich imstande, die literarischen Implikationen von Wackenroders und Tiecks Musikbetrachtungen zu erschließen. Dies zu leisten war das erklärte Ziel von Christine Lubkoll, die in der Einleitung zu ihrer Studie über Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800 klarstellt, dass es Entwürfen dieser Art stets
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Vgl. vor allem Christine Lubkoll: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg im Breisgau 1995. Lubkoll liest den „Mythos des Musikalischen“ als „Bewältigungsform einer unlösbaren poetologischen Aporie: des Versuchs, Grenzen des Sagbaren sprachlich zu überschreiten bzw. das Vergebliche dieser Anstrengung poetisch zu überspielen“ (S. 12 f.). Auf der operationalen Basis eines an Lévi-Strauss und Blumenberg anknüpfenden Mythos-Begriffs untersucht Lubkoll eine Reihe von literarischen Texten, die um 1800 an einem Mythos arbeiteten, der „die Suche nach einer unmittelbaren poetischen Sprachform“ (Ebd. S. 19) zu gestalten sucht. Vgl. Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik. Kassel u. a. 1978. Kritisch gesehen von Alexandra KertzWelzel: Die Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik und Gefühl bei Wackenroder/Tieck und die Musikästhetik der Romantik. St. Ingbert 2001. Hier v. a. S. 9–11.
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um eine Problematisierung des dichterischen Mediums als Zeichensystem [geht]; Phantasien des Musikalischen stehen im Dienste einer umfassenden poetologischen Selbstreflexion. Der Ausflug in die benachbarte, fremde, konkurrierende Welt der Töne erscheint als Form der Sprachkritik und Sprachutopie; im Lichte des Musikalischen erfolgt eine jeweils krisenhafte Neubestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Sprache.5
Aus der hier skizzierten Perspektive betrachtet, sticht sowohl in den Herzensergießungen als auch in den Phantasien über die Kunst eine Gewichtung von Musik und Sprache ins Auge, die geradezu provokativ zu Gunsten der Musik und zu Ungunsten der Sprache ausfällt. So steht der grenzenlosen Begeisterung für die Musik vielfach eine vernichtende Kritik an der Sprache gegenüber, etwa wenn Wackenroder die Wirkung der Musik zu profilieren sucht, indem er sie gegen die Machtlosigkeit der Sprache abgrenzt: Wenn alle die inneren Schwingungen unsrer Herzensfibern, – die zitternden der Freude, die stürmenden des Entzückens, die hochklopfenden Pulse verzehrender Anbetung, – wenn alle die Sprache der Worte, als das Grab der innern Herzenswuth, mit einem Ausruf zersprengen: – dann gehen sie unter fremdem Himmel, in den Schwingungen holdseliger Harfensaiten, wie in einem jenseitigen Leben in verklärter Schönheit hervor, und feyern als Engelgestalten ihre Auferstehung.6
Im Rahmen einer so polaren Wertung erscheint die Musik nicht als eine von mehreren Künsten, sondern als die Kunst schlechthin. Sie ist einzigartig, außergewöhnlich und paradigmatisch. Literatur und Musik sind nicht einfach benachbarte Schwesternkünste, sondern diese wird jener als Leitkunst vorangestellt, denn sie vermag zu leisten, wovon die Literatur nur träumen kann.7 Musik, nicht die Literatur, ist die „wunderbarste“ (Phantasien. 207) der Künste und erfüllt so die Aufgabe jeglicher Kunst: [Es] redet die klingende, beseelte Instrumentenwelt die alte Sprache, die unser Geist auch ehemals verstand und künftig sich wieder darin einlernen wird, und nun horcht unsre ganze innigste Seele, mit allen Erinnerungen, mit allen Lebenskräften darauf hin, sie weiß recht gut, was es ist, das dort in holdseligster Anmuth ihr entgegenkömmt, aber irrdisch und körperlich befangen, sucht sie mit Gedanken und Worten, mit diesen gröberen Organen, diese feineren, reineren Gedanken aufzubewahren und festzuhalten, und auf diese Weise kann es ihr freylich nicht gelingen (Phantasien. 234).
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Lubkoll: Mythos Musik (wie Anm. 3). S. 9 f. (Hervorhebung Lubkoll). Mit Blick auf die vorangegangene Forschung vgl. Martin Bollacher: Wackenroder und die Kunstauffassung der frühen Romantik. Darmstadt 1983. S. 121–137; Dirk Kemper: Wackenroder-Forschung 1981–1991. Ein kritischer Überblick. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993). Sonderheft. S. 2–50. Hier S. 39–42. Zu den sprachkritischen Implikation von Wackenroders und Tiecks Musikbetrachtungen vgl. die wichtige Arbeit von Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel. Zur Sprachskepsis in der deutschen Literatur um 1800. Tübingen 2005. S. 240–251. Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst. In: Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Silvio Vietta, Richard Littlejohns. Bd. 1. Hg. von Silvio Vietta. Heidelberg 1991. S. 147–252. Hier S. 219 (Hervorhebung Wackenroder/ Tieck). Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe mit Kurztitel und Seitenangabe im Text nachgewiesen. Zu den Konsequenzen dieser Hierarchisierung für die Wortsprache vgl. Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 246–251.
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Würde man der Musikbewunderung in den Herzensergießungen und in den Phantasien über die Kunst naiv Glauben schenken, so müsste man sich freilich fragen, weshalb Wackenroder und Tieck das Schreiben nicht eingestellt und zur Musik gewechselt haben. Der pragmatische Verweis auf die unterschiedlichen Begabungsanforderungen von Dichtkunst und Musik zählt an dieser Stelle nicht, denn in Zeiten einer Ästhetik, die das Übertreten von Grenzen nicht nur zwischen literarischen Gattungen, sondern auch zwischen ganzen Disziplinen wie Literatur, Philosophie und Mathematik hin zu einer Universalpoesie fordert, ja in Zeiten einer Universalgelehrtheit, in denen August Wilhelm Schlegel über die Poesie Vorlesungen hält ebenso wie über Skulptur, Architektur, Malerei, Musik und Tanzkunst, müssen sich Autoren, die der Musik so emphatisch huldigen wie Wackenroder und Tieck durchaus fragen lassen, weshalb sie noch weiterhin mit Worten umgehen, anstatt sich der Tonkunst zu widmen. Eine solche Frage aber würde den literarischen Charakter verkennen, den Wackenroders und Tiecks Musikbetrachtungen trotz aller Sprachschelte aufweisen. Immerhin werden hier keine musiktheoretischen Abhandlungen, sondern durchweg fiktionale Texte vorgelegt. Das erste Hauptstück aus Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger ist die fiktive Erinnerung eines ebenso fiktiven Charakters, des „kunstliebenden Klosterbruders“: „[I]ch will mich daran laben, der Geschichte deines Geistes, von Anfang an, so wie du mir oftmals in schönen Stunden sehr ausführlich davon erzählt hast, und so wie ich selbst dich innerlich kennen gelernt habe, in meinen Gedanken nachzugehen und denen, die Freude daran haben, deine Geschichte erzählen.“8 Das zweite Hauptstück besteht zu einem Großteil aus einem fiktiven Brief Berglingers an den Klosterbruder, der diesen wiederum zu allerlei Reflexionen anregt. Die musikalischen Betrachtungen in den Phantasien über die Kunst erscheinen dann als Anhang einiger musikalischer Aufsätze von Joseph Berglinger (Phantasien. 197). Auch hier also ist die Musikbetrachtung Gegenstand eines fiktionalen Textes: Musik wird gewissermaßen in den Armen der Dichtkunst besungen. Am augenfälligsten erscheint das literarische Medium der musikalischen Untersuchung in dem wohl bekanntesten der Musik-Aufsätze, den Tönen. Dieser Aufsatz enthält nämlich nicht nur Reflexionen, sondern auch mehrere Gedichte.9 Eines davon steht ausgerechnet an jener Stelle, an der die unbedingte Wirkmacht musikalischer Töne gefeiert wird. Obwohl Berglinger ausdrücklich betont, „daß hier Worte noch weniger wie bey allen übrigen Werken der Kunst genügen“ (Ebd. 237), fühlt er sich dennoch veranlasst, die Wirkung der –––––––— 8
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Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. In: Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1. S. 51–145. Hier S. 130. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe mit Kurztitel und Seitenangabe im Text nachgewiesen. Der Aufsatz Die Töne wird in der Forschung gemeinhin Tieck zugeschrieben. Uwe Schweikert findet in Tiecks Lyrik überdies eine Umsetzung des ästhetischen Programms, das in den Herzensergießungen entfaltet wird: In Tiecks Gedichten, so seine These, „wird Poesie zur Musik“. Uwe Schweikert: „Musik ist Dichtkunst“. Poetik des Musikalischen bei Wackenroder und Tieck. In: Claudia Christophersen, Ursula HudsonWiedenmann (Hg.) in Zusammenarbeit mit Brigitte Schillbach: Romantik und Exil. Festschrift für Konrad Feilchenfeldt. Würzburg 2004. S. 55–67. Hier S. 56.
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Töne in Form eines Gedichts zu feiern. Das Ergebnis ist weithin bekannt, und soll an dieser Stelle nur erinnert werden: „Liebe denkt in süßen Tönen“ (Ebd. 238).10 An anderer Stelle taucht die Unmöglichkeit, Musik durch Worte zu fassen, als ein Sonderfall des prinzipiellen Unvermögens der Sprache auf: „Welche Worte aber soll ich fassen und ergreifen, um die Kraft kund zu machen, die die himmlische Musik mit ihren vollen Tönen, mit ihren liebreizenden Anklängen über unser Herz erzeigt?“ (Ebd. 229). Diese Frage erweist sich jedoch als rhetorisch, als praeteritio, denn was ihr folgt, ist eine höchst eloquente Darstellung der musikalischen Kraft.11 Innerhalb des hier skizzierten fiktionalen Rahmens ist unschwer zu erkennen, dass es sich bei den angestellten Musikbetrachtungen im Grunde um Überlegungen zur poetischen Sprache handelt; dass die Musik also bei aller Emphase primär als ästhetisches Mittel zum literarischen Zweck eingesetzt wird. Diese Mittel-Zweck-Relation äußert sich auf mehrfache Weise. Zunächst fällt auf, dass die Musik beinahe ausnahmslos in Abgrenzung gegen die Sprache der Worte bestimmt wird. So heißt es etwa über den Strom der Gefühle: „Die Sprache zählt und nennt und beschreibt seine Verwandlungen in fremdem Stoff; – die Tonkunst strömt ihn uns selber vor“ (Ebd. 220). Auch die auffallende Schärfe, mit der die Sprache im Zuge dieser kontrastiven Musikbetrachtung etwa als „Sprachgeschnatter“ und „Gewirr von Buchstaben“ (Ebd. 206) attackiert wird, deutet darauf hin, dass es hier letztlich um Sprachreflexion geht, denn für eine Bestimmung der Musik wäre solch plakative Sprachverspottung keineswegs erforderlich. Die vielfältigen Abgrenzungen der Musik gegen die Sprache laufen letztlich alle darauf hinaus, dass die Musik insgesamt als die „reichere Sprache“ gegenüber der „ärmern“ erscheint (Ebd. 219). Wird die Musik einerseits gegen die Sprache der Worte abgesetzt, so wird sie andererseits selbst als Sprache profiliert. Berglinger waren „[m]anche Stellen in der Musik [...] so klar und eindringlich, daß die Töne ihm Worte zu seyn schienen (Herzensergießungen. 133; Hervorhebung Wackenroder/Tieck). In den Phantasien über die Kunst erscheint die Musik als „Sprache der Engel“ (207) und „Sprache, die kein Mensch je geredet hat“ (208), sie ist „bedeutenste und bestimmteste Sprache“ (214) oder „Seelenton einer Sprache, die die Himmelsgeister reden“ (234) und gilt „als dunklere und feinere Sprache“ (238). Dem auffallenden Interesse an der Sprachlichkeit der Musik bzw. der Unmusikalität der Sprache entspricht dann auch das nicht minder auffallende Desinteresse an bzw. die ausdrückliche Abwertung von der rein technischen Seite der Musik. In ihr findet man „nichts, als ein elendes Gewebe von Zahlenproportionen, hand–––––––— 10
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Bereits über den jungen Berglinger heißt es: „In dieser Zeit, da sein Blut, von den immer auf denselben Fleck gehefteten Vorstellungen bedrängt, oft in heftiger Wallung war, schrieb er mehrere kleine Gedichte nieder, die seinen Zustand, oder das Lob der Tonkunst schilderten, und die er mit großer Freude, auf seine kindisch-gefühlvolle Weise in Musik setzte, ohne die Regeln zu kennen“ (Herzensergießungen. 136). Dieselbe Figur findet man in Die Töne, wenn es heißt: „O, wie soll ich Dich genug preisen, Du himmlische Kunst! Ich fühle, daß hier Worte noch weniger wie bey allen übrigen Werken der Kunst genügen, ich möchte alle Bilderpracht, allen Stolz und kühnen Schwung der Sprache zusammenfassen, um recht vom Herzen loszusprechen, was mein innerstes Gefühl mir sagt“ (Phantasien. 237) – und genau das macht Berglinger dann auch ebenso unerschrocken wie eindrucksvoll.
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greiflich dargestellt auf gebohrtem Holz, auf Gestellen von Darmsaiten und Messingdrath“ (Phantasien. 206). Selbst der Musiker Berglinger findet an der technischen Seite seiner Kunst wenig Gefallen, bezeichnet sich als „mühselige Mechanik“ und beklagt sich darüber, „[d]aß ich, statt frey zu fliegen, erst lernen mußte, in dem unbehülflichen Gerüst und Käfig der Kunstgrammatik herum zu klettern!“ (Herzensergießungen. 139) Die Fiktionalisierung aller musikalischen Überlegungen, die Bestimmung der Musik in Abgrenzung gegen die Sprache der Worte und die Profilierung der Musik als eine andersartige Sprache – all das macht deutlich, dass sowohl in den Herzensergießungen als auch in den Phantasien über die Kunst ein originär poetologisches Interesse an der Musik besteht. Die Musik wird gefeiert, um die Sprache zu stimulieren, und die Sprache wird attackiert in dem Vertrauen auf ihre eigentliche Kraft. Das Lob der Musik ebenso wie die Klage über die Sprache führen eben nicht zum Verstummen, sondern sie bilden letztlich den Stimulus für ein neues Schreiben.
II. Die Medialität der Mimesis und das Verhältnis der Sprache zur Musik Welche Inhalte aber bietet der Mythos Musik für ein neuartiges poetologisches Programm? Was sind die Qualitäten der Musik, an denen sich die Sprache orientieren soll? Wodurch erhält die Musik ihren Status nicht nur als Schwester-, sondern als Leitkunst für die Poesie? Man wird sich einer Antwort auf diese Fragen am besten über den Gegenstandsbereich der Musik nähern. Bei Wackenroder und Tieck zeigt die Musik einen intensiven Bezug zu Transzendenz und Gefühl. Einer göttlichen Bestimmung gemäß will Berglinger, dass seine Seele „im üppigem Übermuthe dahertanzen, und zum Himmel, als zu ihrem Ursprunge, hinaufjauchzen sollte“ (Herzensergießungen. 131). Musik erscheint als Religion: Einer der Aufsätze aus den Phantasien über die Kunst trägt den Titel Die Wunder der Tonkunst; hier taucht Berglinger sein Haupt „in dem heiligen, kühlenden Quell der Töne unter“, um die „heilende Göttin“ zu erfahren (205), und an anderer Stelle ruft er die Töne an: […]„errettet mich aus diesem schmerzlichen irrdischen Streben nach Worten, wickelt mich ein mit euren tausendfachen Strahlen in eure glänzende Wolken, und hebt mich hinauf in die alte Umarmung des alliebenden Himmels!“ (Ebd. 223).12 –––––––— 12
Schon im ersten der musikalischen Aufsätze von Joseph Berglinger wird die erlösende Kraft der Musik geschildert: Ein wunderbares morgenländisches Märchen von einem nackten Heiligen (Phantasien. S. 201–204) erzählt die Geschichte eines indischen Einsiedlers, der jahrelang vom Rad der Zeit gequält wird. In dieser ausweglosen Lage ist es die Musik, die Erlösung bringt: „Mit dem ersten Tone der Musik und des Gesanges war dem nackten Heiligen das sausende Rad der Zeit verschwunden“ (Ebd. 204). Hanna Stegbauer bringt in einer umsichtigen Interpretation das Problem des „nackten Heiligen“ mit der „Umsetzung der Zeit in Musik“ in Verbindung. Hanna Stegbauer: Die Akustik der Seele. Zum Einfluss der Literatur auf die Entstehung der romantischen Instrumentalmusik und ihrer Semantik. Göttingen 2006. S. 104–111. Hier S. 107.
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Hand in Hand mit dem Bezug zur Transzendenz geht die Nähe der Musik zum menschlichen Gefühl.13 Dies gilt sowohl für den Ausdruck von Gefühlen als auch für die Wirkung auf die Gefühle. Berglinger konstatiert eine „unerklärliche Sympathie“ zwischen den Tönen und „den einzelnen Fibern des menschlichen Herzens [...], wodurch die Tonkunst ein reichhaltiges und bildsames Maschinenwerk zur Abschilderung menschlicher Empfindungen geworden ist“ (Phantasien. 217). Musik ist in der Lage, „eine herrliche, empfindungsvolle Poesie [zu] reden“ (Ebd. 218), und genießt eine Vorzugsstellung unter den Künsten, „weil sie menschliche Gefühle auf eine übermenschliche Art schildert, weil sie uns alle Bewegungen unsers Gemüths unkörperlich, in goldne Wolken luftiger Harmonieen eingekleidet, über unserm Haupte zeigt“ (Ebd. 207).14 So gut sich die Musik dazu eignet, Gefühle auszudrücken, so gut eignet sie sich auch dazu, Gefühle zu erregen. Musik ist die Sprache, „die jeden bis in die innersten Nerven ergreift“ (Ebd. 208), wodurch sie zu intensiver Wirkung gelangt: „In dem Spiegel der Töne lernt das menschliche Herz sich selber kennen; sie sind es, wodurch wir das Gefühl fühlen lernen; sie geben vielen in verborgenen Winkeln des Gemüths träumenden Geistern, lebendes Bewußtseyn, und bereichern mit ganz neuen zauberischen Geistern des Gefühls unser Inneres“ (Ebd. 220; Hervorhebung Tieck). Schon über den jungen Berglinger heißt es, „die Musik durchdrang seine Nerven mit leisen Schauern“ (Herzensergießungen. 132) und „bey manchen Stellen der Musik endlich schien ein besonderer Lichtstrahl in seine Seele zu fallen“ (Ebd.).15 So groß das Interesse an Transzendenz und Gefühl in der Romantik einerseits auch ist, als so schwierig erweist sich die Aufgabe einer sprachlichen Mimesis in diesen Bereichen. Sprache ist nämlich insbesondere im 18. Jahrhundert immer auch ein Organ der Vernunft und als solches nicht in der Lage, Transzendenz und Gefühl als Sphären, die der Vernunft unzugänglich sind, in befriedigender Weise abzubilden. Bei der Musik ist das anders: Sie gilt gewissermaßen als vernunftfreies Medium, das gerade wegen seiner „referenzlosen Klanglichkeit“16 fasziniert. So wird immer wieder auf die Dunkelheit der Musik hingewiesen: –––––––— 13
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Zur Aufwertung des Gefühls durch Wackenroder vgl. vor allem Kertz-Welzel: Transzendenz der Gefühle. S. 114–122. In der unmittelbaren Nähe zum Gefühl scheint überdies der eigentliche Vorzug der Musik gegenüber den Worten zu liegen. So fragt Berglinger: „Aber was streb’ ich Thörichter, die Worte zu Tönen zu zerschmelzen? Es ist immer nicht, wie ich’s fühle. Kommt ihr Töne“ (Phantasien. 223). Im Fahrwasser der romantischen Philisterkritik setzen Wackenroder und Tieck die gefühlvolle Musiksprache nachdrücklich gegen alles Alltägliche ab. Zeit seines Lebens quält Berglinger „[d]iese bittere Mißhelligkeit zwischen seinen angebohrnen ätherischen Enthusiasmus, und dem irdischen Antheil an dem Leben eines jeden Menschen, der jeden täglich aus seinen Schwärmereyen mit Gewalt herabziehet“ (Herzensergießungen. 133). Vom „Kampf zwischen seinem ätherischen Enthusiasmus und dem niedrigen Elend dieser Erde“ ist auch gegen Ende der Lebensbeschreibung die Rede (Ebd. 144). Zur Opposition von Musik und Philistertum vgl. auch Ebd. S. 135 f. und S. 140 f. Barbara Naumann: Musikalisches Ideen-Instrument. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik. Stuttgart 1990. S. 3. Carl Dahlhaus weist mit Nachdruck darauf hin, dass der von Wackenroder und Tieck maßgeblich mitbegründete „Gemeinplatz, daß Musik eine Empfindungssprache sei“, nicht für die „klassische Musikästhetik“ gelte, da diese vielmehr „von der Vorstellung einer musikalischen Logik und
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Musik zeichnet sich durch „furchtbare, orakelmäßig-zweydeutige Dunkelheit“ (Phantasien. 223) aus; sie ist die „dunklere und feinere Sprache“ (Ebd. 238) und „die dunkelste von allen Künsten“ (Ebd. 241). Doch mit der Dunkelheit allein kann der Vorzug der Musik gegenüber der Sprache nicht begründet werden, denn die Abwesenheit eines Lichtes der Vernunft bürgt noch nicht für den Zugang zu Sphären, die der Vernunft verschlossen bleiben. Neben der Bestimmung ex negativo bedarf es daher eines positiven Spezifikums, das den Status der Musik zu begründen vermag. Dieses Spezifikum liegt in der medialen Beschaffenheit der Musik. In dem Aufsatz Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst, und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik versucht Berglinger dem Wesen der Musik auf den Grund zu gehen, indem er deren genealogischen Ursprung untersucht. Diesen stellt er sich folgendermaßen vor: „Der Schall oder Ton war ursprünglich ein grober Stoff, in welchem die wilden Nationen ihre unförmlichen Affecten auszudrücken strebten, indem sie, wenn ihr Inneres erschüttert war, auch die umgebenden Lüfte mit Geschrey und Trommelschlag erschütterten, gleichsam um die äußere Welt mit ihrer inneren Gemüthsempörung in’s Gleichgewicht zu setzen“ (Phantasien. 216). Was Tieck hier als „Stoff“ bezeichnet, entspricht im Grunde der medialen Seite der Musik: „Schall oder Ton“ sind die Signifikanten jener Sprache, die es zu profilieren gilt. Als Klangphänomene beziehen sie sich auf bestimmte Signifikate, hier: Affekte. Entscheidend ist dabei, dass Signifikat und Signifikant in keinem arbiträren, sondern in einem natürlichen, motivierten Verhältnis zueinander stehen. Affekte werden ausgedrückt, indem die Außenwelt in eine Erschütterung versetzt wird, die der inneren Erschütterung entspricht. Die innere Erschütterung ist der Affekt, die äußere der Ton; zwischen beiden besteht ein Gleichgewicht. Noch einmal die entscheidende Passage: Menschen drücken ihre Affekte musikalisch aus, „indem sie, wenn ihr Inneres erschüttert war, auch die umgebenden Lüfte mit Geschrei und Trommelschlag erschütterten, gleichsam um die äußere Welt mit ihrer inneren Gemütsempörung ins Gleichgewicht zu setzen“. Wackenroders und Tiecks Musikkonzeption widersetzt sich dem strukturalistischen Zugriff auf das sprachliche Zeichen, den später Ferdinand de Saussure etabliert hat.17 Dort zeichnet sich das Verhältnis von Signifikat und Signifikant bekanntermaßen durch Arbitrarität aus: Ob die Vorstellung eines Baumes durch die Lautfolge „Baum“, „arbor“ oder „tree“ codiert wird, ergibt sich aus lautgeschichtlichen Entwicklungen, aber nicht aus –––––––—
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eines tönenden Diskurses ausging“; Dahlhaus ist daher bemüht, für diese Ästhetik „den Begriff des musikalischen Gedankens – als zentrale Kategorie der klassischen Interpretation des Sprachcharakters der Musik – in den Vordergrund zu rücken.“ Carl Dahlhaus: Sprache und Tonsprache. In: Gerald Chapple (Hg.): The Romantic Tradition. German Literature and Music in the Nineteenth Century. New York/London 1992. S. 1– 21. Hier S. 4 und 6. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin u. a. 2001 (Übersetzung der französischen Originalausgabe von 1916). Ebenso abzugrenzen ist die von Wackenroder und Tieck geäußerte Vorstellung gegen die Selbstreferentialität des sprachlichen Zeichens: Das musikalische Zeichen verweist nicht auf sich selbst, sondern es entspricht in seiner klanglichen Medialität (Luftschwingung) dem Gegenstand selbst (Seelenschwingung).
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der codierten Vorstellung. Mit Blick auf das Signifikat erscheint der Signifikant also als nicht motiviert. Bei Wackenroder und Tieck hingegen besteht ein motivierter Zusammenhang zwischen der musikalischen Schwingung (Signifikant) und der seelischen Schwingung (Signifikat).18 Dieses Verhältnis von Innen- und Außenwelt erfährt zwar durch die weitere Entwicklung der Musik und hier insbesondere durch die Harmonielehre „eine verfeinerte Mannigfaltigkeit“ (Phantasien. 216), das Grundprinzip aber bleibt unverändert: Das Dunkle und Unbeschreibliche aber, welches in der Wirkung des Tons verborgen liegt, und welches bey keiner andern Kunst zu finden ist, hat durch das System eine wunderbare Bedeutsamkeit gewonnen. Es hat sich zwischen den einzelnen mathematischen Tonverhältnissen und in den einzelnen Fibern des menschlichen Herzens eine unerklärliche Sympathie [!] offenbart, wodurch die Tonkunst ein reichhaltiges und bildsames Maschinenwerk zur Abschilderung menschlicher Empfindungen geworden ist. (Ebd. 216 f.)19
Nicht allzu lange, bevor Wackenroder und Tieck das Verhältnis der Tonkunst zu ihrem Gegenstand über die mediale Beschaffenheit des Signifikanten bestimmten, hatte Lessing ein ähnliches Verfahren angewendet, um die Literatur gegen die bildende Kunst abzugrenzen. 1788 erschien postum die erweiterte Neuauflage seines erstmals 1766 veröffentlichten Laokoon: Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Auch wenn es hier nicht um das Verhältnis der Poesie zur Musik geht, arbeitet Lessing den Frühromantikern vor, insofern auch er den Gegenstandsbereich einer Kunst durch deren mediale Beschaffenheit abgrenzt. Da, wo Wackenroder und Tieck „eine unerklärliche Sympathie“ zwischen Musik und Affekten ausmachen, fordert Lessing, dass „die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen“.20 Das Medium der Poesie sind „artikulierte Töne in der Zeit“; aus diesem Grund sind die eigentlichen Gegenstände der Poesie, „Gegenstände [...], die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen“, also „Handlungen“. Das Medium der Malerei sind „Figuren und Farben in dem Raume“; aus diesem Grund sind die eigentlichen Gegenstände der Malerei „Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren“, also „Körper“: „So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen.“ –––––––— 18
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Dass der Affekt auf Schwingungen der Seele beruht, ist eine in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts weit verbreitete Vorstellung. Vgl. vor allem Jean Baptiste Du Bos: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey. Aus dem Französischen des Herrn Abtes Du Bos, Eines der Vierziger und beständigen Secretärs der französischen Akademie. 3 Teile. Kopenhagen 1760/1761. S. 34–42. Die Funktion der Sympathie für den Sprachstatus der Musik untersucht Barbara Naumann: Musikalisches Ideen-Instrument (wie Anm. 16). S. 53–58. Alle Zitate dieses Absatzes: Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 5/2. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990. S. 13–321. Hier S. 116.
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Lessings mediale Begründung lenkte die Mimesis-Diskussion in eine neue Richtung. So sehr die Abgrenzung der Poesie gegenüber der Malerei im Laokoon einerseits der aristotelischen Mimesis verpflichtet ist, insofern sie nämlich die beiden Künste mit Blick auf die jeweils nachzuahmenden Gegenstände voneinander unterscheidet, so unaristotelisch wird diese Abgrenzung hier begründet. Denn die mediale Dimension der Mimesis spielt bei Aristoteles keine nennenswerte Rolle. Er erklärt zwar, dass sich die Gattungen der Dichtkunst unterscheiden, „entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen“,21 Mittel und Gegenstände aber werden dabei nicht wie bei Lessing in das Verhältnis einer medialen Analogie gesetzt. Die Poetik bietet hierfür auch keinen Raum, denn es geht ihr ja nicht primär um das Verhältnis der Poesie zu anderen Künsten, sondern um eine Ausdifferenzierung innerhalb der Poesie; und die dabei zutage tretenden Gattungen bedienen sich nun einmal allesamt desselben Mediums: der Sprache. Lessings Laokoon hinterließ deutliche Spuren in der frühromantischen Poetologie – nicht nur bei Wackenroder und Tieck. August Wilhelm Schlegel etwa unterscheidet in seiner Berliner Vorlesung zur Uebersicht und Eintheilung der schönen Künste zwei Kunstgattungen: „solche die simultan und die successiv darstellen“.22 Raum und Zeit werden dabei als zwei Formen der Anschauung verstanden: „So wie der Raum die Form der äußern Anschauung so ist es die Zeit für den innern Sinn, dessen Gegenstand alles wird, was wir auf unsern Zustand beziehen“23. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung werden nun Gesichtssinn, bildende Kunst, die „klarsten Anschauungen“ und die „Erkenntnis“ als Adressat der simultanen Kunst zugewiesen, während analog hierzu das Gehör, die Musik, die „innigsten“ Anschauungen und als Adressat die „Empfindung“ im Bereich der sukzessiven Kunst liegen.24 Unter Anwendung der von Lessing etablierten medialen Kategorie wird die Poesie an die Seite der Musik gestellt: „[S]o giebt es außer der Musik noch eine, die zwar nicht bloß für das Gehör, aber durch das Gehör wirkt, die Poesie. Das Werkzeug der Poesie ist die Wortsprache, eine Sammlung hörbarer Zeichen für unsre Vorstellungen.“25 Die Hörbarkeit der Poesie ist dabei konstitutiv für die Möglichkeit, „innigste“ Anschauungen mitzuteilen, „denn eben die Übertragung von allem zu Bezeichnenden in Hörbares, zeigt an, daß es durch unsern innern Sinn hindurch gegangen ist, unsre Existenz bestimmt hat“26. Da die Sprache über ihre darstellende Funktion aber auch Vorstellungen von Körpern in der Einbildungskraft hervorruft, ist sie „eine Combination des innern und äußern Sinnes“ –––––––— 21 22
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Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994. 1447a. August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. In: Ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hg. von Ernst Behler in Zusammenarbeit mit Frank Jolles. Bd. 1. Hg. von Ernst Behler. Paderborn 1989. S. 179–781. Hier S. 267. Ebd. Ebd. S. 269. Ebd. (Hervorhebung Schlegel). Ebd.
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und somit die „grenzenloseste aller Künste“.27 Hierin zeigt sich eine wichtige Erweiterung gegenüber dem Laokoon: Die mediale Dimension der Künste ist zwar maßgeblich, doch sie geht nicht auf Kosten der begrifflichen Qualität der Sprache, die ja bei aller Sukzessivität ihres klanglichen Mediums immer auch Vorstellungen von Simultaneität erwecken kann. So erklärt Schlegel ausdrücklich: „[D]ie Poesie kann ihre Wirkung nicht durch das unmittelbar Hörbare der Wortsprache erreichen (denn die Wirksamkeit des Hörbaren als solchen gehört in das Reich der Musik) ihr Wesen muß also in der nicht hörbaren Beschaffenheit der Wörter, kurz in ihrer Bedeutung, ihrem geistigen Gehalt liegen.“28 Dennoch bleibt die Poesie auf der Schnittstelle von bildenden Künsten und Musik „in einer näheren Beziehung“ zur Musik, denn: „Die Poesie stellt successiv dar, sie will also die Zeit erfüllen.“29 Mit der Medialisierung der Mimesis hat Lessing jenen Weg geebnet, den die poetologische Musikbetrachtung um 1800 beschreitet: Die einzigartige Nähe der Musik zu ihren Gegenständen wird hier nämlich über die mediale Beschaffenheit der Musik bzw. über das analoge Verhältnis von Signifikant und Signifikat konstituiert. Freilich wird Lessings Ansatz dabei zu einer Vorstellung weiterentwickelt, die mit dem Laokoon nicht mehr zu vereinbaren ist. Bei allem Interesse an der medialen Dimension der Mimesis wäre Lessing niemals auf die Idee gekommen, die Grenze zwischen den beiden Seiten der ästhetischen Darstellung aufzuheben: „[A]rtikulierte Töne in der Zeit“ sind immer noch etwas grundsätzlich anderes als die „Handlungen“, die sie nachahmen; dasselbe gilt für „Figuren und Farben in dem Raume“ und die „Körper“. Die Mimesis bleibt damit in Kraft. Das Insistieren auf der Mimesis als ästhetischem Grundprinzip hält Lessing konsequenterweise auch davon ab, durch die medialen Unterschiede zwischen Poesie und Malerei eine Hierarchie der beiden Künste zu begründen, in der sich die eine an der anderen zu orientieren hätte. Es ging ihm ja gerade darum, jeder der beiden Künste einen eigenen Gegenstandsbereich zuzuweisen, um die Literatur gegen jene weit verbreitete Auffassung zu verwahren, die auf die Horazsche „ut-pictura-poesis“-Formel zurückläuft und die Poesie als „eine redende Malerei“ auffasst.30 –––––––— 27 28 29
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Ebd. S. 270. Ebd. S. 273. Ebd. S. 270, wo der Zusammenhang von Poesie und Musik überdies noch ausführlicher dargestellt wird: „Nur dadurch wird der Hörer aus der Wirklichkeit entrückt, und in eine imaginative Zeitreihe versetzt, dass er in der Rede selbst eine gesetzmäßige Eintheilung der Successionen, ein Zeitmaß wahrnimmt; und daher die wunderbare Erscheinung daß die Sprache grade in ihrer freyesten Erscheinung, als bloßes Spiel gebraucht, sich des sonst in ihr herrschenden Charakters der Willkühr freywillig entäußert, und einem ihrem Inhalte scheinbar fremden Gesetze unterwirft. Dieses Gesetz ist das Zeitmaß, der Takt, der Rhythmus, welchen die Poesie in ihrem Ursprunge mit der Musik gemein hat [...]. Was nach der bey der weiteren Entwickelung beyder erfolgenden Scheidung dieser Künste in der Form der Poesie zurückbleibt, ist das Sylbenmaß“. Lessing: Laokoon (wie Anm. 20) S. 14. Vgl. Horaz: Ars Poetica/Die Dichtkunst. Hg. und übers. von Eckart Schäfer. Stuttgart 1994. V. 361.
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Wackenroder und Tieck verabschieden in ihren Musikabhandlungen beide Postulate des Laokoon, also sowohl die mimetische Qualität als auch die grundsätzliche Gleichwertigkeit der Künste: Musik interessiert hier in erster Linie als diejenige Kunst, für die das mimetische Prinzip nicht gilt, und genau hierdurch erhält sie den Status der Leitkunst: „Ja diese Töne [...] sind von einer durchaus verschiedenen Natur, sie ahmen nicht nach, sie verschönern nicht, sondern sie sind eine abgesonderte Welt für sich selbst“ (Phantasien. 236). Im Gegensatz zur Sprache ist die Musik nicht darauf angewiesen, Gefühle und Transzendenz zu bezeichnen, sondern sie kann Gefühl und Transzendenz letztlich sein, weil in ihr die beiden Seiten des sprachlichen Zeichens aufgrund ihrer medialen Beschaffenheit zusammenfallen; sie verfügt über einen „Grundstoff, der schon an sich mit so himmlischen Geiste geschwängert [ist]“ (Phantasien. 217). Letztlich ist Musik Schwingung der Seele, sie ist Sprache der Engel. Hierin unterscheidet sie sich grundlegend von der Sprache der Worte: „Und eben so ist es mit dem geheimnißvollen Strome in den Tiefen des menschlichen Gemüthes beschaffen. Die Sprache zählt und nennt und beschreibt seine Verwandlungen, in fremdem Stoff; – die Tonkunst strömt ihn uns selber vor“ (Ebd. 220).31
III. Rhythmus und Klang als Ursprung und Wesen der Poesie Der Mythos Musik ist zu begreifen als Vorstellung von einer allumfassenden Sprache, die zum Wesentlichen der Dinge bis hin zur Transzendenz vorzudringen vermag und dem Menschen hierdurch Erlösung und Erfüllung bietet. Auf diese Weise führt Musik zu jenem „Mittelpunkt“, den sich Friedrich Schlegel im Gespräch über die Poesie von der neuen Mythologie verspricht. In einem poetologischen Kontext führt dies freilich zu einem offenkundigen Problem: Der hier entwickelte Mythos handelt von der Musik, nicht von der Literatur. Wie aber ist er für die Literatur um 1800 fruchtbar zu machen? Eine Antwort auf diese Frage klingt, genau genommen, auch schon im Laokoon an, wenn Lessing nämlich die mediale Seite der Poesie durch „artikulierte Töne in der Zeit“ beschreibt. So wie im Laokoon Poesie und Malerei aus medialen Gründen gegeneinander abgegrenzt werden, so stehen Poesie und Musik in den Herzensergießungen und in den Phantasien über die –––––––— 31
Die Entkräftung des mimetischen Prinzips äußert sich ebenso deutlich im direkten Vergleich einer musikalischen mit einer literarischen Gattung: „Diese Symphonien können ein so buntes, mannigfaltiges, verworrenes und schön entwickeltes Drama darstellen, wie es uns der Dichter nimmermehr geben kann; denn sie enthüllen in räthselhafter Sprache das Räthselhafteste, sie hängen von keinen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit ab, sie brauchen sich an keine Geschichte und an keine Charakter zu schließen, sie bleiben in ihrer rein-poetischen Welt“ (Phantasien. 244). Der Identität von Ton und Gefühl entspricht die Identität von Seele und Musik im Ganzen. So bildet sich Berglinger durch den wiederholten Musikgenuss „auf eine so eigene Weise aus, daß sein Inneres ganz und gar zu Musik ward“ (Herzensergießungen. 132), nach einem musikalischen Initiationserlebnis denkt er sich, „dein ganzes Leben muß eine Musik seyn“ (Ebd. 133. Hervorhebung Wackenroder/Tieck), und kurz darauf erläutert der Klosterbruder diesen Zustand mit den Worten: „Seine ewig bewegliche Seele war ganz ein Spiel der Töne“ (Ebd. 133).
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Kunst ebenso wie in den Vorlesungen von A. W. Schlegel aus denselben medialen Gründen sehr dicht beieinander: Beide arbeiten mit Rhythmus und Ton. Hieran ändert selbst die nicht-hörbare, vernunftbasierte Dimension der Wortsprache nichts, denn sie stellt eben nur einen Teil der Sprache dar, die darüber hinaus immer auch musikalisch ist. Das „Wesen“ und die „Wunder“ der Töne erstrecken sich damit ebenso auf die Sprache der Worte. Die deutlichste Formulierung für die mediale Überschneidung von Musik und Poesie findet man in Friedrich Schlegels Überlegungen zu den Organen der griechischen Poesie. Unter dem Stichwort „Deduction des Rhythmus“ heißt es dort über die Poesie: Ihr Zeichen, die Rede, ist außer ihrer Bedeutung auch etwas Wirkliches in der Zeit, eine Bewegung, die Stimme werden kann [Anm. Schlegel: außer ihrer allegorischen, intellektuellen Existenz hat sie auch eine physische]. – Die menschliche Stimme ist das beste Organ der Melodie und drückt auch den Rhythmus gut aus. – Das Werkzeug der Poesie also zugleich ein Organ der Musik. Ihre Vereinigung, oder musikalische Poesie ist also etwas Mögliches.32
Das poetologische Interesse an dem, was man musikalische Seite der Sprache nennen könnte, blickt um 1800 auf eine ebenso lange wie komplexe Tradition zurück. In dieser Tradition, die hier freilich nur in groben Umrissen skizziert werden kann, liegen wichtige Voraussetzungen für die musikalische Mythenbildung der Frühromantiker. Von zentraler Bedeutung für das Interesse an der Musikalität der Sprache ist die antike Rhetorik. Wenn Aristoteles im ersten Kapitel des dritten Buches seiner Rhetorik die „Kunst des mündlichen Vortrags“ untersucht, zeigt er sich zwar skeptisch gegenüber dem Einsatz von „Lautstärke, Tonfall und Rhythmus“,33 der Grund für seine Skepsis spricht jedoch dafür, dass sich Aristoteles der starken Wirkung dieser akustischen Mittel bereits bewusst ist: „Das Recht fordert [...], daß nur mit Hilfe von Tatsachen gestritten wird, so daß alles übrige, was über die Beweisführung hinausgeht, überflüssig ist. Jedoch vermag es gleichwohl viel [...] wegen der Verderbtheit des Zuhörers.“34 Während Aristoteles die Wirkung musikalischer Mittel in der Rede gewissermaßen als notwendiges Übel in Kauf nimmt, steht die lateinische Rhetorik dieser Wirkungsweise durchaus affirmativ gegenüber. So liest man in Ciceros De oratore: „Dabei soll sich niemand darüber wundern, wie denn das laienhafte breite Publikum beim Hören solche Dinge wahrnimmt. Denn überall und ganz besonders hier zeigt sich die Wirkung der Natur in ihrer großen, ja unglaublichen Bedeutung.“35 Die Voraussetzungen für ein „Urteil über Worte, Rhythmen oder Töne“, so fährt Cicero fort, „sind dem allgemeinen Empfinden eingeprägt, und niemand sollte nach dem Willen der Natur ganz frei von ihnen –––––––— 32
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Friedrich Schlegel: Von den Organen der griechischen Poesie. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. 2. Abt., Bd. 11. Hg. von Ernst Behler. Paderborn 1958. S. 218–225. Hier S. 220 (Hervorhebung Schlegel). Vgl. auch zur Schrift, Ebd. S. 222. Aristoteles: Rhetorik. Hg. u. übers. v. Franz G. Sieveke. 5. unveränderte Auflage. München 1995. 1403b. Ebd. 1404a. Marcus Tullius Cicero: De oratore/Über den Redner. Hg. u. übers. v. Harald Merklin. 3. bibliograph. ergänzte Ausg. Stuttgart 1997. S. 569.
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sein. So machen nicht nur Worte in kunstgerechter Stellung, sondern auch Rhythmen und Töne auf alle Leute Eindruck.“36 Am deutlichsten zeigt sich die hohe Sensibilität für die musikalische Seite der Rede in den ausführlichen Anweisungen zur „compositio“, also der „Wortfügung“. Quintilian behandelt sie in der Elocutio nach der Figurenlehre, denn: „Wenn [...] Rhythmen und Weisen gleichsam ohne Worte solche Macht besitzen, so ist diese in der Rede am allerstärksten, und ebenso, wie es einen großen Unterschied macht, mit welchen Worten der gleiche Gedanke ausgedrückt wird, so auch, in welcher Fügung die gleichen Worte [...] verwendet werden.“37 Quintilian untersucht dezidiert drei Mittel der Wortfügung: Anordnung, Wortverbindung und Rhythmus, der insgesamt die größte Aufmerksamkeit erfährt. Grundlage der Untersuchung ist dabei stets der akustische Eindruck des Mittels. So heißt es etwa über das „Zusammenstoßen der Vokale“: „[W]enn dies geschieht, klafft die Rede auseinander, stockt und quält sich gleichsam ab.“38 Über die verschiedenen Rhythmen heißt es: „Mischen sich die Kürzen mit bestimmten Längen, läuft der Rhythmus, folgen sie sich ununterbrochen, so hüpft er. Straff ist der Rhythmus, der von Kürzen zu Längen sich hebt, gelockerter der, der von Längen zu Kürzen sich senkt.“39 Die rhetorische Auseinandersetzung mit der Musikalität der Rede hat sich stets auch auf die Poetik ausgewirkt. Ein solcher Zusammenhang ist dermaßen offensichtlich, dass er keiner weiteren Begründung bedarf: Poetik und Rhetorik liegen von der Sache her so dicht beieinander, dass ein Austausch gar nicht ausbleiben kann. Und warum sollte für den Klang der Rede nicht gelten, was für die officia oratoris, die Stillagen, die virtutes dicendi, die Stände-Klausel, die Figurenlehre und weitere rhetorische Zusammenhänge gilt? Sie alle zeigen deutliche Spuren in poetologischen Zusammenhängen. In der Antike hatte bereits Dionysos von Halicarnassos die klangliche Gestaltung literarischer Texte mit den Mitteln der rhetorischen „compositio“ untersucht.40 Und auch in der deutschen Poetik der Frühneuzeit bis hin zu Gottsched findet man immer wieder Überlegungen zur klanglichen Gestaltung der Poesie. Martin Opitz etwa überlegt im Buch von der deutschen Poeterey, „wie wir nemlich die buchstaben / syllaben vnd wörter aneinander fügen sollen“,41 Harsdörffer –––––––— 36
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Ebd. Das hier signalisierte Interesse an der klanglichen Seite der Rede äußert sich in einer beeindruckenden Fülle von Anweisungen zur stimmlichen Gestaltung des Vortrags (Pronuntiatio): „So soll der Jähzorn klingen, scharf, erregt, mit vielen Unterbrechungen“, liest man bei Cicero (S. 583), und: „Wieder anders tönt die Kraft, energisch, schwungvoll, drohend, mit Ungestüm und ernstlichem Nachdruck [...]. Anders auch der Klang der Freude, fließend, sanft und zart, vergnügt und entspannt“ (S. 585) usw. Marcus Fabius Quintilian: Institutionis oratoriae libri XII/Ausbildung des Redners.12 Bücher. Hg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. 3. Aufl. Darmstadt 1995. Bd. 2. S. 371. Ebd. S. 379. Ebd. S. 405. Vgl. auch Quintilians Ausführungen im Rahmen der Pronuntiatio, Ebd. S. 609–681. Dionysius of Halicarnassus: On literary composition [= De compositione verborum]. Hg. u. übers. v. William Rhys Roberts. London 1910. Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey. In: Ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. 2. Teil 1. Stuttgart 1978. S. 331–416. Hier S. 378.
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erörtert im Poetischen Trichter, „warum die Reimen das Ohr belustigen“,42 von Birken weist gleich im ersten Teil seiner Teutschen Rede- bind- und Dicht-Kunst darauf hin, die Wörter „müßen auch wol-lautig zusammen gesetzt werden: und hierüber muß das Gehör zu urtheilen wissen“,43 und Gottsched schreibt immerhin ein ganzes Hauptstück seiner Critischen Dichtkunst „[v]on dem Wohlklange der poetischen Schreibart, dem verschiedenen Sylbenmaaße und den Reimen“44. Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tauchen immer wieder Überlegungen zur musikalischen Qualität literarischer Texte auf. In der Allgemeinen Theorie der schönen Künste verhandelt Sulzer unter den Lemmata „Accent“, „Rhythmus“ und „Ton“ neben der Musik (und ggf. dem Tanz) auch die „redenden Künste“.45 Herder fragt im Briefwechsel über Ossian: „Nehmen Sie doch Eins der alten Lieder [...] und entkleiden Sies von allem Lyrischen des Wohlklanges, des Reims, der Wortsetzung, des dunkeln Ganges der Melodie: lassen Sie ihm bloß den Sinn, so so, und auf solche und solche Weise in eine andre Sprache übertragen; ists nicht, als wenn Sie die Noten in einer Melodie von Pergolese, oder die Lettern auf einer Blattseite umwürfen? wo bliebe der Sinn der Seite?“46. In der berühmten Passage aus der Vorrede zum zweiten Teil der Volkslieder erklärt Herder: „Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde: seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck: Weise nennen könnte.“47 Karl Philipp Moritz untersucht in seinem Versuch einer deutschen Prosodie die Frage, wie man in einer Sprache dichtet, die „eine vortreffliche Sprache für den Verstand, aber nicht für das Ohr“ sei:48 „Allein unser immerwährendes gewaltsames Streben, den Hauptgedanken durch das bedeutendste Wort, und in diesem Worte wieder durch die bedeutendste Silbe auszudrücken, verdirbt alles, sobald es auf Harmonie und Wohlklang ankömmt.“49 Die hier angeführten Quellen belegen schlaglichtartig, dass sich die Rhetorik des Klangs nachhaltig auf die neuzeitliche Poetik ausgewirkt hat. Die Frühromantiker betraten also keineswegs Neuland; Musik lag bereits in der Luft. Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere äußert sich in einem nachhaltigen Wandel, den der rhetorisch–––––––— 42
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Georg Philipp Harsdoerffer: Poetischer Trichter. 3 Teile. Nürnberg 1648–1653. ND Darmstadt 1969. 3. Teil. S. 79. Siegmund von Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst. Nürnberg 1679. ND Hildesheim/New York 1973. S. 3. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Vierte sehr vermehrte Auflage. Leipzig 1751. ND Darmstadt 1962. 1. Teil, 12. Hauptstück. S. 377–416. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Leipzig (Bd. 1) 1771, (Bd. 2) 1774. Johann Gottfried Herder: Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. In: Ders.: Werke in 10 Bänden. Hg. von Günter Arnold u. a. Bd. 2. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1993. S. 447–497. Hier S. 449 (Hervorhebung Herder). Johann Gottfried Herder: Vorrede zu Volkslieder. Zweiter Teil. In: Ders.: Werke in 10 Bänden. Bd. 3. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1990. S. 229–248. Hier S. 246 (Hervorhebung Herder). Karl Philipp Moritz: Versuch einer deutschen Prosodie. In: Ders.: Werke. Hg. von Horst Günther. Frankfurt am Main 1981. 3. Bd. S. 471–577. Hier S. 476. Ebd. S. 480.
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poetologische Klang-Diskurs insbesondere in der Aufklärung durchlaufen hat. Das für die antike Rhetorik so charakteristische Interesse an der klanglichen Dimension der Rede hat sich keineswegs ungebrochen bis in die Frühromantik gehalten. Dies zeigt sich bereits in der Rhetorik selbst. Gottsched behandelt im 15. Kapitel der Ausführlichen Redekunst zwar noch die „Schreibart“, aber die steht ganz klar unter dem Primat der Gedanken, die für wichtiger gehalten werden als die bloßen Worte; so steht und fällt für ihn die Stimmigkeit der Rede mit der Stimmigkeit der Gedanken.50 Wie sehr sich die „Schreibart“ aus den Gesetzen der Logik und wie wenig sie sich aus musikalischen Überlegungen ergibt, zeigt sich in Gottscheds Bestimmung der „Periode“: In der antiken Rhetorik als Einheit in der Wortfügung, im Klang und im Rhythmus konzipiert, erscheinen „Perioden“ bei Gottsched in Analogie zu philosophischen „Schlußreden“ als „ganze Aussprüche von gewissen Dingen“,51 deren Aufgabe darin besteht, zwei Begriffe entweder miteinander zu verbinden oder voneinander zu trennen. Entsprechend unverbindlich fallen dann auch die Angaben zum „Wohlklang“ aus. Nachdem er zunächst eingeführt wird als etwas, „davon es auch schwer fällt, einen recht deutlichen Begriff zu machen“,52 beendet Gottsched den Paragraphen über den „Wohlklang“ mit dem Hinweis: „Doch muß solches nicht nach einer beständigen Regel, nach Art der Poeten geschehen, sondern auf eine allezeit veränderte Art. Diese aber muß mehr durch das Gehör selbst, als nach gewissen Regeln beurtheilet werden; obgleich Cicero sich deswegen viel Mühe gegeben hat.“53 Es drängt sich der Eindruck auf, dass das antike Interesse an der musikalischen Seite der Rede bei Gottsched gewissermaßen als Hülle tradiert wird, die aber keinen vitalen Kern mehr enthält: Die Rede operiert mit den Mitteln der Vernunft, und so ist es „gewiß, daß die ganze Überredung auf den Gründen beruhe“.54 Die Ohren aber sind kein Organ der Vernunft; eine gewisse Belustigung wird ihnen zugestanden, darüber hinaus aber haben sie keine Funktion mehr. Der poetologische Reflex auf die hier angedeutete Vernachlässigung von Musikalität zeigt sich in einer Tendenz, die man als Entmusikalisierung der Musik bezeichnen könnte. Dabei werden musikalische Begriffe bemüht, um etwas zu beschreiben, was mit hörbarer Tonkunst nichts mehr zu tun hat. Einige Passagen aus Herders Vorrede zum zweiten Teil der Volkslieder geben diese Tendenz zu erkennen, etwa wenn vom „melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung“ und vom „Ohr der Seele“ die Rede ist, oder wenn die „poetische Modulation“ untersucht wird und es dann heißt, dass „der Geist des Liedes“ die „Gemüter zum Chor regt“.55 So musikalisch die hier gewählte Terminologie („melodisch“, „Modulation“, „Lied“, „Chor“) auch wirken mag, so wenig hat das, was sie beschreibt, mit Musik zu tun: Melodisch ist der Gang der „Leidenschaft oder Empfindung“, nicht der Gang –––––––— 50
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Vgl. Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Leipzig 1736. ND Hildesheim/New York 1973. S. 226 und S. 229. Ebd. S. 230. Ebd. S. 336 f. Ebd. S. 337. Ebd. S. 37. Alle Zitate, Herder: Vorrede zu Volkslieder, Zweiter Teil (wie Anm. 47). S. 246 f. (Hervorhebung Herder).
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der Töne, die Modulation ist eine „poetische“, nicht eine musikalische, und der Chor wird gebildet durch „Gemüther“, nicht durch Stimmen; all das wird wahrgenommen nicht etwa durch das menschliche Ohr als Sinnesorgan für akustische Reize, sondern durch das „Ohr der Seele“.56 Vor dem Hintergrund dieser ambivalenten Tradition, zu der neben dem poetologischen Interesse an der Musik auch deren nicht-musikalische Funktionalisierung gehört, könnte man es als Verdienst der frühromantischen Poetologie bezeichnen, dass sie durch ihr mediales Interesse die Musik wieder als Tonkunst in die literarische Diskussion gebracht hat. Ausschlaggebend hierfür ist die Suche nach dem Ursprung bzw. der „Wurzel der Poesie“,57 denn dort findet man die klanglich-musikalische Seite der Sprache. Diese Suche entspricht dem Programm einer „Naturgeschichte der Kunst“, die A. W. Schlegels Jenaer Vorlesungen über philosophische Kunstlehre (1798/99) ebenso zugrundeliegt wie seinen Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801–04): „Naturgeschichte der Kunst ist eine Darlegung ihres nothwendigen Ursprunges und ihrer ersten Fortschritte aus den allgemeinen menschlichen Anlagen, und den Umständen, welche beym Erwachen des frühesten Menschengeschlechtes zu einiger geistigen Bildung eintreten mußten.“58 Aus diesem Anspruch ergibt sich geradezu zwangsläufig ein Interesse an der musikalischen Qualität poetischer Sprache, denn, so Schlegel weiter: „Sie [= die Naturgeschichte] kann folglich nur bey solchen Künsten Statt finden, deren Medium oder Werkzeug der Darstellung ein dem Menschen natürliches ist [...]. Die natürlichen Medien der Kunst sind Handlungen, wodurch der Mensch sein Inneres äußerlich offenbart, und dergleichen giebt es keine andre als Worte, Töne und Gebehrden.“59 Wenngleich die Töne hier noch in erster Linie der Musik zugeordnet werden, während Worte zur Poesie, Gebärden zur Tanzkunst zählen, so führt das Interesse an den natürlichen Medien der Künste doch auch dazu, dass bei der Poesie erneut die musikalische Qualität des sprachlichen Mediums in das Blickfeld rückt. Dies geschieht im zweiten Schritt der Entwicklung der Naturpoesie, der den ersten Schritt, die „Elementarpoesie in der Gestalt der Ursprache“ ablöst durch die „Absonderung der poetischen Successionen [...] durch ein äußeres Gesetz der Form, nämlich den Rhythmus“.60 –––––––— 56
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Zum Problem des Musikalischen bei Herder vgl. Alexander J. Cvetko: „durch Gesänge lehrten sie…“. Johann Gottfried Herder und die Erziehung durch die Musik. Mythos – Ideologie – Rezeption. Frankfurt am Main 2006. S. 29–37. A. W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (wie Anm. 22). S. 393. Ebd. S. 391. Der historische Ansatz erfüllt zugleich einen programmatischen Anspruch, denn, so Schlegel, „indem man erklärt, wie die Kunst wurde, zeigt man zugleich auf das einleuchtendste, was sie sein soll“. August Wilhelm Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795). In: Ders.: Kritische Schriften und Briefe. Hg. von Edgar Lohner. Bd. 1. Stuttgart 1962. S. 141–180. Hier S. 147. A. W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (wie Anm. 22). S. 392. Ebd. S. 393 (Hervorhebung Schlegel). Im dritten Schritt folgt dann die Mythologie als „Bindung und Zusammenfassung der poetischen Elemente zu einer Ansicht des Weltganzen“, die jedoch rein inhaltlicher Art ist und daher in medialer Hinsicht vernachlässigt werden darf.
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Worin aber besteht genau die Funktion des Rhythmus?61 Wieso ist er so entscheidend für Schlegels Vorstellungen von Poesie? Das entscheidende Kriterium der „Ursprache“ als Medium der „Elementarpoesie“ ist ihre natürliche Semiotik. Indem sie „aus natürlichen Zeichen“62 besteht, ahmt sie durch die Artikulation von Lauten nach, wobei eine „unmittelbare und eigentliche Ähnlichkeit“ freilich „nur mit dem Hörbaren“ erreicht werden kann, während alle anderen sinnlichen Eindrücke durch „vermittelte Ähnlichkeiten“ bezeichnet werden.63 Eine solche Sprache ist unmittelbarer Ausdruck des Inneren, sie ist „articulirter Schrey“.64 Im Laufe der Zeit aber entwickelt sich die natürliche Sprache immer mehr zu einer bildhaften Sprache, in der der sprachliche Laut einen Eindruck nicht mehr unmittelbar artikuliert, sondern lediglich abbildet. Der Übergang von dem einen Sprachstadium zum anderen vollzieht sich über die Metapher: Sie ist ein „Bezeichnen durch Vergleichung“, nicht mehr durch Artikulation, und ermöglicht genau hierdurch die sprachliche Darstellung von „unsinnlichen Anschauungen“.65 Indem die Sprache nun „aus einer Einheit lebendiger Bezeichnung in eine Sammlung willkührlicher conventioneller Zeichen verwandelt“ wird, büßt sie ihren natürlichen ausdrucksstarken Status ein, weil sie aufhört, „darstellend zu seyn“,66 und verflacht zum reinen Instrument im gedanklichen Prozess der Semiotik. Genau an dieser Stelle setzt der zweite Entwicklungsschritt in Schlegels naturgeschichtlichem Poesiekonzept an. Die Sprache besinnt sich auf sich selbst, verlegt den äußeren Zweck, dem sie als bloßes Mittel diente, in sich hinein und restituiert hierdurch ihre „darstellende Anlage“:67 „Dabey unterwirft sich die Rede nun in der Wahl und Zusammenfügung entweder dem herrschenden Sprachgebrauch, so entsteht schöne Prosa, oder sie giebt sich selbst das Gesetz, so entsteht Kunstpoesie. Diese aus dem eignen Wesen hergenommene Gesetzgebung der letzten, erstreckt sich auch auf das Hörbare in der Succession, und heißt in Ansehung desselben Sylbenmaß“.68 Die Sprache bringt sich gewissermaßen über ihre mediale Beschaffenheit als Sukzession von Tönen selbst in Erinnerung und gewinnt hierdurch zumindest einen Teil ihrer ursprünglichen Kraft wieder, jener Kraft also, die sie als „Ursprache“ in der „Elementarpoesie“ hatte; sie bedeutet nicht mehr nur, –––––––— 61
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Zur Bedeutung des musikalischen Rhythmus in Schlegels Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache vgl. Stegbauer: Akustik der Seele (wie Anm. 12). S. 133–137; zum Problem des Rhythmus in der Sprache bei A. W. Schlegel, F. Schlegel und Schiller vgl. ferner Naumann: Musikalisches Ideen-Instrument (wie Anm. 16). S. 140–148. A. W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 399. Ebd. S. 400 f. Ebd. S. 400. Beide Zitate ebd. S. 402. Beide Zitate ebd. S. 404. Ebd. Ebd. S. 405 (Hervorhebung Schlegel). Bereits in seinen Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache hatte Schlegel gezeigt, „daß das Silbenmaß keineswegs ein äußerlicher Zierat, sondern innig in das Wesen der Poesie verwebt ist“ (S. 147).
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sondern drückt kraft ihrer Hörbarkeit zugleich aus. Und diesen Ausdruck teilt sie mit der Musik, denn er geschieht maßgeblich über Rhythmus und Klang.69 Hier nun erscheint die Musik keineswegs mehr nur als Mythos, sondern sie ist zugleich eine durchweg reale Dimension der Poesie. Musik dient zwar dazu, der Poesie im Rahmen der eingangs untersuchten Sprachkritik den Weg zu einem neuen „Mittelpunkt“ zu weisen, sie markiert aber nicht nur ein letztlich unerreichbares Ziel, sondern ruft der Sprache zudem deren ureigene mediale Natur in Erinnerung. Kraft dieser Natur, die ebenso durch Klang und Rhythmus konstituiert wird wie die der Musik, kann der Wortsprache gelingen, was ihr in Form des Mythos Musik vorgehalten wird. Die mediale Schnittstelle von Musik und Sprache bezeichnet damit zugleich die Schnittstelle von musikalischem Mythos und Ästhetik der poetischen Sprache. In diesem Sinne erscheint die „Sehnsucht der Sprache nach der Musik“70 in der frühromantischen Poetologie letztlich als eine Sehnsucht der Sprache nach sich selbst.
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Schlegels Vorstellung vom musikalischen Wesen der Poesie äußert sich nicht zuletzt im Aufbau seiner Vorlesung. Wenn in der poetologischen Tradition musikalische Aspekte der Sprache untersucht wurden, so geschah dies in der Regel an hinterster Stelle; dasselbe gilt im Übrigen auch für die rhetorische Tradition. Im Buch von der deutsche Poeterey etwa werden Ausführungen zu musikalischen Aspekten nur noch vom Schlusskapitel gefolgt: „Das VI. Capitel. Von der zuebereitung vnd ziehr der worte“ – „Das VII. Capitel: Von den reimen / jhren wörtern vnd arten der getichte.“ – „Das VIII. Capitel. Beschluß dieses buches.“ Gottsched stellt das Hauptstück „Von dem Wohlklange der poetischen Schreibart, dem verschiedenen Sylbenmaaße und den Reimen“ an das Ende des ersten, allgemeinen Teils seiner Critischen Dichtkunst. Gegen ein solches Vorgehen setzt Schlegel den Aufbau seiner Vorlesung expressis verbis ab: „Die in den gewöhnlichen Poetiken hergebrachte Methode ist eine ganz andre. Da wird von der Diction und dem Versbau, als dem letzten der Ausführung, erst am Schlusse gehandelt. Man nimmt an, sowohl die gefoderte Bildlichkeit des Ausdrucks, als der Wohlklang der Verse sey ein bloßer Zierrath, ein Raffinement der müßigen und nach Genuß lüsternen Fantasie oder Sinnlichkeit; beydes wird der schon fertigen Poesie wie eine fremde Äußerlichkeit umgehängt, wodurch sie denn unausbleiblich zu einem bloß grammatischen und rhetorischen Exercitium herabgewürdigt wird, wie man sie auch in der Wirklichkeit leider so oft ausübt. Durch unsre genetische Erklärung hingegen, werden wir zu der Einsicht gelangen, wie der Gebrauch dieser Mittel aus dem Wesen der Poesie von innen hervorgeht, und dadurch mit Nothwendigkeit bestimmt wird“ (S. 393 f.). Barbara Naumann: Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik. Texte zur musikalischen Poetik um 1800. Stuttgart 1994.
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„Durch das Fenster“ Gottesdienst und Liturgie in Hölderlins Lyrik I. „Statt offner Gemeine sing’ ich Gesang“ (I, 334)1 „Statt offner Gemeine sing’ ich Gesang.“ Dieses selbstbewusste Bekenntnis findet sich gleich am Beginn einer für Hölderlin singulären lyrischen Form, einem Wechselgesang, gewidmet Der Mutter Erde, wie der Titel lautet, und vorgetragen von den fiktiven Brüdern Ottmar, Hom und Tello. Hölderlin verfasste diesen hymnischen Preisgesang, der deutliche Anklänge an die Dichtungen des angeblichen Ossian erkennen lässt, vermutlich im Jahr 1801, zu Beginn der Zeit seiner großen Hymnendichtung. Hölderlin wurde in diesem Jahr 31 Jahre alt, und es war ihm wie auch seinen Angehörigen seit langem deutlich, dass er den Beruf des Geistlichen, auf den er von Kindheit an vorbereitet worden war, niemals ergreifen würde. Pfarrer also wollte der württembergische Klosterschüler, der spätere Theologiestudent und schließlich der Hauslehrer Friedrich Hölderlin nicht werden; gepredigt hat er offenbar noch seltener als Eduard Mörike, der große Predigtverweigerer aus der nachfolgenden Tübinger Theologengeneration; und doch ist Hölderlins gesamtes dichterisches Werk durchzogen von Spuren seiner theologischen Bildung. Über die Religiosität und Spiritualität Hölderlins ist seit Beginn der philologisch-philosophischen Beschäftigung mit seinem Werk intensiv nachgedacht worden; erst jüngst ist eine neue umfangreiche Studie über Hölderlins Weg zur poetischen Religion2 erschienen. Insbesondere Hölderlins Begeisterung für die griechische Antike, seine dichterische Beschwörung der antiken Halbgötter und ihre synkretistische Parallelsetzung mit Christus, wie es etwa in der Hymne Der Einzige geschieht, wurde intensiv untersucht. Zu Recht hat man diese unorthodoxe Verschmelzung von christlichen Vorstellungen mit dem Glauben an anthropomorphe Gottheiten als Hölderlins spezifischen, poetisch-ästhetischen Beitrag zu einer „neuen Mythologie“ gewertet. Ihr Konzept ist in dem oft zitierten Dokument in der Handschrift Hegels skizziert, das unter dem Namen Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus bekannt wurde und das aus den engen Gesprächszusammenhängen der Tübinger Stiftler Hegel, Schelling und Hölderlin entstanden war. In diesem Systemprogramm findet sich denn auch das berühmte Plädoyer für eine –––––––— 1
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Alle Zitate von Gedichten Hölderlins richten sich im Folgenden nach: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp, 3 Bde. München 1992. Reiner Strunk: Echo des Himmels. Hölderlins Weg zur poetischen Religion. Eine Einführung. Stuttgart 2007.
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 39–51.
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„Mythologie der Vernunft“, das in deutlicher Nähe zu den Bestrebungen der Frühromantik steht, eine neue Religion zu erschaffen. Zugleich verteidigt diese kleine Programmschrift die Rolle der Poesie als „Lehrerin der Menschheit“ und fordert in diesem Zusammenhang eine „sinnliche Religion“, denn – und nun zitiere ich wörtlich – „Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ists, was wir bedürfen!“3 Man merkt es diesen Zeilen an: Es sind enthusiastische junge Menschen, die dieses Programm formuliert haben, und es sind gebildete junge Männer, die in ihrer umfassenden theologischen Ausbildung am Tübinger Stift selbstverständlich die passenden religionswissenschaftlichen Begriffe für ihre umstürzenden Ideen gelernt haben. Wie aber kann der so vehement eingeforderte „Polytheismus der Einbildungskraft und der Herzen“ aussehen? Auf Hölderlins Verschmelzung von antiker Götterwelt und christlichen Glaubensinhalten wurde bereits hingewiesen. Im Folgenden möchte ich mich auf einen anderen Aspekt konzentrieren, auf die Spuren nämlich, die Hölderlins enge Vertrautheit mit dem christlich-protestantischen Gottesdienst in seiner Lyrik hinterlassen hat. Dabei vernachlässige ich, wie angedeutet, sowohl die Frage nach Hölderlins eigener Frömmigkeit als auch die Suche nach einer grundsätzlich liturgischen Struktur seiner Dichtung, wie sie unlängst am Beispiel seiner Elegiendichtung im Vergleich mit Augustin vollzogen wurde.4 Stattdessen widmet sich meine Spurensuche konkreteren Zeugnissen: den direkten Verweisen auf den sonntäglichen protestantischen Gottesdienst und seinen liturgischen Vollzug, die sich durch Hölderlins gesamte Lyrik ziehen. Man darf dabei nicht erwarten, auf eine strukturierte, gar zielgerichtete Entwicklung zu stoßen, denn dafür ist Hölderlins Lyrik in ihren Formen und Themen glücklicherweise zu vielfältig; gleichwohl lassen sich in einzelnen Werkstufen bestimmte prägende Muster erkennen. Zu den wiederkehrenden strukturellen Elementen von Hölderlins gottesdienstlichen Verweisen gehört zunächst das spannungsvolle Verhältnis von einzelnem Priester und kollektiver Gemeinde, wobei Hölderlin die Rolle des Priesters höchst unterschiedlich einschätzt: Bekannt ist zum einen seine hochgestimmte Selbststilisierung zum Dichter-Seher in der Nachfolge des antiken poeta vates;5 zu lesen ist aber auch, etwa in den EmpedoklesFragmenten, die heftige Warnung vor den falschen Priestern, die das unmündige Volk verführen; und schließlich lassen sich auch deutliche Anklänge an die lutherische Vorstellung vom Priestertum aller Gläubigen finden. Weiter gehört zu den strukturellen Zitaten des christlichen Gottesdienstes in Hölderlins Lyrik die Konstitution eines sakralen Raumes, –––––––— 3
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Zitiert nach: Hölderlin. Werke und Briefe. Hg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1969. S. 648. Karl Hardecker: In Einsamkeit mein Sprachgesell. Fundamentalliturgische Untersuchungen zur erfahrungsbildenden Funktion von Ostervigil und Elegie bei Augustinus und bei Hölderlin. Münster 2005. Zu Hölderlins verschiedenen Selbstentwürfen als Dichter vgl. die Studie von Gerhard Kurz: Der deutsche Schriftsteller Friedrich Hölderlin. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hg. von Thomas Roberg. Darmstadt 2003. S. 67–88.
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der entweder durch besonders kunstvolle Architektur gebildet wird – wobei erneut Bezüge zu Ossians Dichtung deutlich werden, insbesondere bei den vielen Hallen, in die sich der Sänger der Tübinger Hymnen imaginiert6 – oder durch ein besonderes Arrangement natürlicher Landschaftselemente, die sich zu einer sakralen Kulisse formieren. Schließlich zitiert Hölderlin häufig spezifisch liturgische Sprech- und Redeformen. Neben der Grundform der Predigt, also der Ermahnung der Gemeinde und der Verkündigung von Heilswahrheiten, sind dies vor allem das Gebet, das sich an eine Gottheit richtet, Segensformeln und schließlich der kollektive Lobgesang der Gemeinde. Gerade in der protestantischen Tradition kommt dem Gemeindelied ja als Instrument der Verkündigung wie der Gemeinschaftsstiftung seit Luthers Tagen eine herausgehobene Bedeutung zu. Das führt zurück zu dem Eingangszitat aus dem Gesang Der Mutter Erde, dessen erster Wortführer Ottmar sich selbstbewusst an die Stelle des im Gottesdienst versammelten Kollektivs setzt: „Statt offner Gemeinde sing’ ich Gesang“. Die seltsam tautologische Formulierung „Gesang singen“ illustriert, wie sehr es Hölderlin hier allein auf die Artikulationsform des Gesangs ankommt und nicht auf einen spezifischen Inhalt. Die Form der gemeinsamen Äußerung – die harmonische Vielstimmigkeit innerhalb eines Chores – wird dabei wichtiger als der Inhalt des Austausches. Noch einmal: „Statt offner Gemeine sing’ ich Gesang“. Was sich in diesen Versen offenbart, ist auch eine generationentypische Erfahrung der um 1770 geborenen deutschen Intellektuellen: So vertraut diese jungen Leute mit der christlichen Religion und ihren Ritualen auf der einen Seite noch sind, so sehr haben sie auf der anderen Seite auch die aufgeklärten Ideen der Zeit studiert und vor allem die große politische Emanzipation verfolgt, die zu den revolutionären Ereignissen des Jahres 1789 in Frankreich führten. Sie haben eine Relativierung des vertrauten Weltbildes und der tradierten Religion durch die aufgeklärten Studien und die intensivierte Begegnung mit anderen Kulturen und ihren Weltanschauungen erlebt; und sie haben schließlich auch erfahren, wie die Entdeckung und Ausbildung der Subjektphilosophie zu einer radikalen Subjektivierung des Religionsverständnisses führte. Erinnert sei hier nur an Friedrich Schleiermachers subjektivistische Definition von „Religion“ in seiner Glaubenslehre (1821) als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“. Mit dieser berühmt gewordenen Definition setzte Schleiermacher in scharfer Abgrenzung gegenüber der lutherischen Orthodoxie und ihrer Nachfolger die religiös-spirituelle Gefühlserfahrung an die Stelle vermeintlich objektiver Heilsgewissheiten und dogmatischer Axiome. „Statt offner Gemeine sing’ ich Gesang“: Hier klingt auch das enorme Selbstbewusstsein des einzelnen Sängers an, der nicht mehr der Rückversicherung durch das Kollektiv seiner Glaubensbrüder und -schwestern, aber auch nicht der Autorität des Geistlichen bedarf, um sich zum Verkünder einer göttlichen bzw. zumindest übermenschlichen Heilsbotschaft zu machen. Betrachtet man den Verlauf von Hölderlins gesamter Lebens- und Schaffenszeit, wird deutlich, wie bedrückend für ihn zunehmend die selbstdefinierte Rolle des Mittlers –––––––— 6
Vgl. I, 95, Vs. 26; I, 103, Vs. 59; I, 117, Vs. 5. Zu Hölderlins Bezugnahmen auf Ossian vgl. Howard Gaskill: Hölderlin und Ossian. In: Hölderlin-Jahrbuch 1990–1991. S. 100–130.
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zwischen Menschlichem und Göttlichem wurde, deren Verantwortung ihn immer mehr verunsicherte. Wo aber liegen die Wurzeln für Hölderlins dichterische Variationen des protestantischen Gottesdienstes, mit dessen liturgischen Formen der Spross einer angesehenen Familie der sogenannten Württembergischen „Ehrbarkeit“ von Kindheit an vertraut war?
II. „Sprechen will ich, wie dein Luther spricht“ (I, 21) Hölderlin entdeckte bekanntlich früh die Sprache als dichterisches Ausdrucksmedium und begann bereits als Klosterschüler, seine Gedichte zu sammeln und zu archivieren; das sogenannte Marbacher Quartheft, auf das zurückzukommen sein wird, bezeugt eindrucksvoll das dichterische Talent des jungen Mannes wie die Breite seiner literarischen Vorbilder, denen er in Ton und Thematik nachstrebt. Biblische Zitate und Verweise auf die christliche Religion nehmen dabei eine gewichtige Rolle ein. Bereits das mutmaßlich älteste uns bekannte Gedicht Hölderlins, das unvollständig überlieferte Dankgedicht an die Lehrer des vierzehnjährigen Schülers stellt in einer rhetorischen Frage – ein häufiges Stilmittel des jungen Hölderlin7 – den künftigen Pfarrberuf ins Zentrum. Diese Berufswahl steht hier ebenso außer Frage wie die Bereitschaft des Jugendlichen, die von Kirche, Schule und Familie vorgegebenen Ordnungsprinzipien als selbstverständlich zu akzeptieren: Uns würdigte einst euer Weißheit Wille, Der Kirche Dienst auch uns zu weih’n, Wer Brüder säumt, daß er die Schuld des Danks erfülle, Die wir uns solcher Gnade freun? (I, 9)
Diese Verse, die allenfalls mit einem kaum spürbaren Hauch von widerständiger Ironie gegenüber dem strengen Reglement in der Klosterschule versehen sind, stellen den kollektiven Bildungsweg der Knaben vor, die gerade das strenge württembergische Landexamen bestanden haben und nun als die begabtesten Schüler ihres Jahrgangs, ungeachtet der finanziellen Möglichkeiten ihrer Familien, eine exzellente Ausbildung erhalten. Dieses Verfahren der Auswahl und Unterstützung talentierter Schüler unterscheidet sich freilich von unseren heutigen Maßnahmen der Begabtenförderung, die die Entfaltung individueller Neigungen und Talente in den Vordergrund stellen. Statt dessen lag es der württembergischen Regierung vor allem daran, eine loyale und staatstreue Führungsschicht in Militär, Kirche und Verwaltung heranzubilden, deren Mitglieder schon früh durch die gemeinsame Erziehung in Internatsschulen und weiterführenden Ausbildungsstätten in engem Austausch standen – zu denken ist neben dem Tübinger Stift an die berühmte Karlsschule, die Schiller besuchte. Der Schüler Fritz nun, wie Hölderlin sich in dieser Zeit gern nannte, nimmt in den zitierten –––––––— 7
Vgl. Sabine Doering: Aber was ist diß? Formen und Funktionen der Frage in Hölderlins dichterischem Werk. Göttingen 1992. Besonders S. 61–67.
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Versen den vorgezeichneten Berufsweg scheinbar mühelos an – als Dankesschuld bezeichnet er hier das Streben nach dem vorgegebenem Pfarrberuf. Was in dieser Formulierung auch mitschwingt, ist die Verbindung von äußerer Fürsorge und innerer moralischer Verpflichtung, wie sie typischerweise im protestantischen Milieu und besonders häufig in pietistisch geprägter Umgebung anzutreffen ist – eine Verbindung, die für Hölderlins Verhältnis zu seiner Mutter bis in die Jahre seiner psychischen Erkrankung hinein bestimmend werden sollte. Im Jahr 1784 war von solchen Entwicklungen allerdings noch wenig zu spüren; der aufgeweckte Schüler Fritz jedenfalls unternahm es gern und scheinbar mühelos, die Glaubenswahrheiten des Katechismus in Verse zu fassen, biblische Zitate dichterisch zu transformieren und in seinen Gedichten auch die vertrauten Formen der Alltagsfrömmigkeit zu schildern. Der uns manchmal recht schlicht anmutende Ton dieser Jugendgedichte spiegelt dabei auch die Vertrautheit, die die religiösen Formen zu dieser Zeit für Hölderlin und seine Mitschüler noch hatten. In geradezu verblüffender Selbstverständlichkeit etwa fasst Hölderlin in zwei Paarreimen das Gottes- und Menschenbild seiner Umgebung zusammen: Herr! was bist du, was Menschenkinder? Jehova du, wir schwache Sünder, Und Engel sinds die, Herr, dir dienen, Wo ewger Lohn, wo Seeligkeiten, krönen. (I, 10)
Diese Beispiele mögen genügen, um die religiöse Konformität der Jugendgedichte Hölderlins zu illustrieren. Allerdings – und das erscheint mir im Blick auf Hölderlins spätere Entwicklung bemerkenswert – finden sich in dieser Zeit bereits deutliche Versuche des ehrgeizigen Schülers, sich selbstbewusst seiner literarischen Vorbilder zu vergewissern. Neben die bekannte Orientierung an den dichterischen Heroen seiner Zeit („Ists schwacher Schwung nach Pindars Flug? ists / Kämpfendes Streben nach Klopstoksgröße?“ [I, 44], lautet die Selbstbefragung in der Ode Mein Vorsatz) tritt die ebenso selbstbewusste Orientierung des Klosterschülers an dem protestantischen Geisteshelden schlechthin.8 Das bereits erwähnte Marbacher Quartheft, in das Hölderlin mit Schönschrift seine fertigen Gedichte eintrug, beginnt mit vielstrophigen Gedicht Die Meinige. 1786, mit dem der Sechzehnjährige seiner lebenden wie verstorbenen Angehörigen gedenkt. Die erste Strophe eröffnet mit der frommen Anrufung „Herr der Welten!“ (I, 21) – eine Stilfigur, die gleichermaßen dem liturgischen Gebetsruf wie dem aus der antiken Rhetorik bekannten Musenanruf entspricht. In der zweiten Strophe formuliert nun der fromme Beter sein eigenes Selbstverständnis, und dabei legt er ein beträchtliches Selbstbewusstsein an den Tag: „Sprechen will ich, wie dein Luther spricht“ (I, 21). Zwar räumt der folgende Vers pflichtschuldig die Vermessenheit dieses Wunsches ein: „Bin ich gleich vor dir ein Wurm, ein Sünder –“. Die wiederum folgenden Verse entfalten jedoch eine interessante Form der –––––––— 8
Neben Luther bezeugt Hölderlin in seiner frühen Lyrik mehrfach seine Verehrung für einen anderen protestantischen Helden, für den schwedischen König Gustav Adolf; vgl. dazu insbesondere das ihm gewidmete Gedicht Gustav Adolf. 1789. (I, 68–70).
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lutherischen Rechtfertigungslehre: „Floß ja auch für mich das Blut von Golgatha – / O! ich glaube! Guter! Vater deiner Kinder! / Glaubend, glaubend trett’ ich deinem Trone nah.“ (I, 21). Aus dem pointierten „Für mich“, das die Einsetzungsworte des christlichen Abendmahls variiert, und der Betonung des individuellen Glaubens – eine Adaption des lutherischen „sola fide“ –, folgt im Argumentationsrahmen des Gedichts also deutlich die Berechtigung des Sprechers, für sich in der Verkündigung der Heilsgewissheit die Rolle Luthers beanspruchen zu dürfen. Der selbstbewusste jugendliche Dichter nutzt mithin den vertrauten dogmatischen Rahmen – den Glauben an die Heilswirkung von Christi Kreuzestod für jeden Christen, ungeachtet seiner Verdienste, und, ganz lutherisch, die Rechtfertigung des Einzelnen allein aus dem Glauben –, um aus diesen Prämissen die nunmehr undogmatische Folgerung zu ziehen, sich die Rolle Luthers zutrauen und zuschreiben zu dürfen: „Sprechen will ich, wie dein Luther spricht“. Hier, am Beginn seiner ersten Gedichtsammlung, artikuliert sich zum ersten Mal Hölderlins großes dichterisches Selbstbewusstsein, das die Rolle des weltlichen Dichters mit der des religiösen Lehrers verschmelzen lässt. Während Hölderlins Tübinger Studienzeit wird dieses dichterische Selbstverständnis weitere prägnante Konturen entwickeln; und weiterhin wird dabei die Prägung durch die protestantische Frömmigkeit erkennbar bleiben.
III. „Unser Priestertum ist Freude, / Unser Tempel die Natur“ (I, 141) Die sogenannten Tübinger Hymnen der Jahre 1790–93 sind in ihrer Thematik eng in die philosophisch-politischen Debatten von Hölderlins Studienzeit eingebunden; ihr gleichförmiger Aufbau und das anhaltend große Pathos, das sich an Schillers Gedankenlyrik orientiert, haben schon zu Hölderlins Lebzeiten Befremden hervorgerufen. Erst in jüngerer Zeit hat man die strukturelle Selbständigkeit und die rhetorisch-ästhetische Leistung dieser Gedichte angemessener gewürdigt.9 Adressiert sind diese Gedichte, die nach dem Vorbild Schillers vorwiegend aus achtzeiligen trochäischen Reimstrophen aufgebaut sind, jeweils an die Personifikation einer Tugend, die zur Göttin erklärt und verehrt wird. Aufgrund dieser Adressierung bezeichnete Wilhelm Dilthey die Tübinger Hymnen folgenreich als „Hymnen an die Ideale der Menschheit“, was allerdings übersieht, dass Hölderlin die angeredeten Größen – Tugend, Freiheit, Harmonie, Menschheit, Schönheit, Freundschaft, Jugend, Kühnheit – nicht allein als abstrakte Ideale verehrt, sondern ihnen tatsächlich den Status übermenschlicher, sinnlich erfahrbarer Gottheiten zuerkennt, dass er also umsetzt, was im bereits zitierten Ältesten Systemprogramm als „Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst“ bezeichnet wird. Damit demonstriert Hölderlin hier erstmals in größerem Umfang das mythenschaffende Vermögen des dichterischen Worts, denn trotz der Anlehnung an –––––––— 9
Dazu vor allem: Martin Vöhler: „Danken möcht’ ich, aber wofür?“ Zur Tradition und Komposition von Hölderlins Hymnik. München 1997.
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antike Vorstellungen gehören die hier angeredeten bzw. angesungenen Mächte nicht in das Pantheon der griechischen Mythologie. Den Tübinger Hymnen liegt ein forcierter Geschichtsoptimismus zugrunde; sie formulieren in immer neuen Anläufen die Zuversicht, dass der Sänger eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten stiften könne, die die gemeinsame Zuversicht auf eine bessere Zukunft eint. Häufig greift Hölderlin dabei auf Formen der liturgischen Feier zurück, die ihm aus der christlichen Tradition vertraut sind, die er nun allerdings, unbekümmert um Fragen der reinen Lehre, mit Elementen unterschiedlicher Religionen vermischt. So entwirft beispielsweise die Hymne an die Unsterblicheit eine kultische Feier, die germanische neben antike Elemente stellt: Wann im Heiligtume alter Eichen Männer um der Königin Altar Sich die Bruderhand zum Bunde reichen, Zu dem Bunde freudiger Gefahr; Wenn entzükt von ihren Götterküssen Jeglicher, des schönsten Lorbeers werth, Lieb’ und Lorbeer ohne Gram zu missen Zu dem Heil des Vaterlandes schwört. (I, 97)
Zweifellos ist die pathetische Evokation eines vaterländischen Bündnisses, das im Schutze alter Eichen geschlossen wird, weniger der unmittelbaren Lebenserfahrung des Tübinger Studenten Hölderlin geschuldet als seiner ausgiebigen Lektüre von Klopstocks Oden und der ossianischen Schriften; mit der Erwähnung des Lorbeers kommen Reminiszenzen an die klassische Antike hinzu. Gleichwohl bewahrten diese offensichtlichen literarischen Traditionslinien Hölderlins Gedichte bekanntlich nicht davor, in späteren Zeiten in den Dienst nationaler und nationalistischer Interessen gestellt zu werden. Im Zusammenhang mit der Suche nach Spuren des christlichen Gottesdienstes sei allerdings ein anderer Aspekt hervorgehoben, die Beschreibung der liturgischen Feier nämlich, die Hölderlin hier entwirft: Im „Heiligtume alter Eichen“ trifft sich die brüderliche Gemeinschaft, und sie versammelt sich um einen Altar, der der „Königin“ geweiht ist – damit ist in diesem Fall die Göttin der Unsterblichkeit gemeint, an die diese Hymne adressiert ist. Auffällig ist hier zunächst die Beschreibung der Natur als Sakralraum, treffen sich die gleichgestimmten „Brüder“ doch im „Heiligtume alter Eichen“. Zweifellos knüpft Hölderlin dabei an seine Kenntnisse der germanischen Religion an, zu deren Kultstätten kunstvoll angelegte Haine gehörten; zugleich aber erprobt er hier eine Denkfigur, die in seinen späteren Gedichten noch häufig – und dort in deutlich originellerer Form – anzutreffen ist, die Überblendung von Natur und Architektur in sakraler Perspektive. Nur am Rande sei daran erinnert, wie intensiv die Dichter der jüngeren romantischen Generation später den Wald als Heiligtum beschreiben werden. Bedeutsam an den zitierten Versen Hölderlins ist aber auch die Konzentration der versammelten Männer um den Altar – so wie es Hölderlin aus der Praxis des christlichen Gottesdienstes, insbesondere der Feier des Abendmahles kannte. Auf die interessante
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Geschlechterdichotomie – namenlose „Männer“ feiern die ebenso namenlose „Königin“ – kann hier nur kurz hingewiesen werden. Schließlich: Die hier versammelte Gemeinde kommt ohne Oberhaupt aus, vielmehr reichen sich die offenbar im Kreis versammelten „Männer“ die „Bruderhand“ zum Bund. Hölderlin mag bei dieser Szene auch an die Idealisierung der schweizerischen Eidgenossenschaft auf dem Rütli gedacht haben, deren er in dieser Zeit in seinem Hexametergedicht Kanton Schweiz gedenkt;10 er mag aber auch die Vorstellung der Gemeinschaft aller Gläubigen vor Augen gehabt haben, die im christlichen Glaubensbekenntnis genannt wird. An anderer Stelle kennen die Tübinger Hymnen durchaus die Instanz des Priesters, allerdings in spezifischer Ausgestaltung, was angesichts von Hölderlins kreativem Umgang mit der religiösen Überlieferung, dem „Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst“, nun kaum noch überrascht. Mehrfach nämlich verwendet Hölderlin in den Tübinger Hymnen – und nur hier – das Abstraktum „Priestertum“. So heißt es emphatisch in der Hymne an die Muse: „Hör’ es, Erd’ und Himmel! wir geloben, / Ewig Priestertum der Königin!“ (I,107). In der Hymne an die Liebe stehen im hämmernd trochäischen Rhythmus die Verse, mit denen ich diesen Abschnitt meiner Überlegungen überschrieben habe: „Unser Priestertum ist Freude, / Unser Tempel die Natur“ (I, 141). Hier findet sich übrigens wieder die bereits erläuterte Imagination eines sakralen Naturraums; zugleich wird Hölderlins Nähe zu Rousseaus Vorstellungswelt deutlich, der ja die Rückkehr zur Natur als Mittel der politisch-gesellschaftlichen Erneuerung gefordert hatte. Die Vorstellung eines „Priesters“, auch die eines „falschen Priesters“, ist dem Lyriker Hölderlin auch in anderen Werkstufen vertraut; darauf wird zurückzukommen sein. Das Abstraktum „Priestertum“ allerdings findet sich, wie bereits erwähnt, ausschließlich in der hier betrachteten Gruppe der Tübinger Hymnen, die in vielfältiger Variation frohgemut den Bund gleichgesinnter Jünglinge beschwören. Der auffällige Wortgebrauch spiegelt einmal mehr deutlich Hölderlins protestantische Prägung, gehört doch zu Luthers reformatorischen Grundüberzeugungen die Lehre vom Priestertum aller Gläubigen, was ja unter anderem dazu geführt hat, dass die protestantische Kirche kein Sakrament der Priesterweihe kennt. Mit der auffälligen, wiederholten Erwähnung des „Priestertums“ in seinen Hymnen verleiht Hölderlin der protestantischen Lehre vom Priestertum aller Gläubigen nun eine neue Auslegung, die die Vorstellung einer kollektiven Glaubensgemeinschaft mit politischen Bundesideen verknüpft: „Unser Priestertum ist Freude, / Unser Tempel die Natur“. Der Kontrast zu der gebots- wie verbotsreichen Erziehung in Klosterschule und Stift ist in diesem lauthals verkündeten „Priestertum der Freude“ offensichtlich, wenn auch Hölderlins idealistische Gestimmtheit dieser Jahre fern ist von der Vorstellung einer hedonistischen, „kommoden Religion“, wie sie später Georg Büchner am Ende seines Lustspiels Leonce und Lena einfordert. –––––––— 10
I, 134 ff. Vgl. dazu Sabine Doering: „Dorthin wende den Blik“. Landschaftsdichtung und politisches Bekenntnis in Hölderlins „Kanton Schweiz“. In: Hölderlin-Jahrbuch 29 (1994–1995). S. 204–215.
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Entscheidender ist hier indes die Vorstellung des allgemeinen Priestertums, das auf der Gleichwertigkeit und -rangigkeit aller Glaubens- bzw. Bundesgenossen aufbaut und das Hölderlins republikanischen Vorstellungen während seiner Tübinger Studienzeit entspricht. Doch lassen sich diese demokratisch-egalitären Vorstellungen eines priesterlichen Bundes nur schwer mit Hölderlins wachsendem dichterischen Selbstbewusstsein und seinen Versuchen vereinbaren, sich in der Nachfolge antiker Vorbilder selbst zum poeta vates zu stilisieren. Sein lyrisches Œuvre der folgenden Zeit spiegelt diese Problematik und sein Ringen um das angemessene Selbstverständnis als Dichter, was sich auch in den sich wandelnden Bezugnahmen auf die christliche Tradition niederschlägt.
IV. „wie sängen / Sonst wir jedem den eignen Gott?“ (I, 241) In seinen Oden und Elegien und vor allem den freirhythmischen Gesängen, die zwischen 1800 und 1806 entstanden, entfernt sich Hölderlin immer stärker von den literarischen Vorbildern, denen seine Jugendlyrik noch stark verpflichtet war; entsprechend vielfältig sind auch seine zunehmend lockeren und oft provozierend undogmatischen Bezugnahmen auf die christliche Religion. Selbst die große Elegie Brod und Wein geht ja nur zum geringen Teil auf das christliche Sakrament des Abendmahls ein, auf das ihr Titel verweist, sondern schildert insbesondere das kulturschaffende Wirken des Gottes Dionysos, den Hölderlin immer wieder in eigenwilliger Auslegung der antiken Überlieferung auf seinem Weg vom fernen Indien nach Griechenland beschreibt, von wo aus er wiederum segensreich auf das abendländische Hesperien wirken soll. In dieser schöpferischen Anverwandlung antiker Mythologie spiegelt sich bekanntlich Hölderlins eigene Variante der alten Überzeugung „ex oriente lux“. Seit Mitte der 1790er Jahre umkreist Hölderlin in seiner Lyrik immer wieder die Frage nach Aufgabe und Berufung des Dichters; oft zeugen Überarbeitungen und Neufassungen von seiner anhaltenden Suche nach dem angemessenen Ausdruck. Zu den mehrfach überarbeiteten Gedichten gehört die Ode Muth des Dichters bzw. Dichtermuth, in beiden Versionen eine Ermunterung an einen zaghaften oder eingeschüchterten Dichter, sich freudig und zuversichtlich der großen Aufgabe des Gesangs zu stellen. Mit geradezu paulinischer Zuversicht – man denke an das frohgemute Bekenntnis des Römerbriefs: „Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen“ (Rö 8,28) wird der Sänger zu einem beherztem Auftreten ermuntert: „Was geschiehet es sei alles geseegnet dir, / Sei zum Besten gewandt! oder was könnte denn / Dich belaidigen, Herz! was / Da dich stören, wohin du sollst?“ (I,241). In beiden Fassungen des Gedichts richtet sich die zunächst im Singular formulierte Ermunterung dann an die „Dichter“ bzw. „Sänger des Volks“; Hölderlin hat hier offenbar eine größere Gruppe, ja einen Berufsstand vor Augen, dessen Angehörige zu verschiedenen Zeiten ihrer besonderen Aufgabe nachgehen. Die ältere Version betont stärker als die jüngere die Verkündigungsaufgabe der Dichter, von denen es heißt: „so gehn auch wir“.
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Sabine Doering Wir die Dichter des Volks jeglichen Lebenspfad, Böses kennen wir nicht, nimmer siehet den Tod Unser Auge, wie sängen Sonst wir jedem den eignen Gott? (I, 241)
Der Schlussvers dieser Strophe muss jedem bibelfesten Theologen als schiere Blasphemie erscheinen, widerspricht die Rede vom „eigenen Gott“ doch vehement dem ersten Gebot von Moses’ Gesetzestafel: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Hölderlin selbst mag die Kühnheit seiner Formulierung – „jedem den eigenen Gott singen“ – gespürt haben, denn sie erscheint nicht mehr in der überarbeiteten Version. Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten philosophischen und theologischen Entwicklungen der Jahre um 1800 erweist sich diese Beschreibung der dichterischen Aufgabe indes als besonders aufschlussreich, weil Hölderlin hier prägnant eine weitgehende Individualisierung bzw. Subjektivierung des Glaubens beschreibt, die sich von jeder kirchlichen Lehre entfernt und zugleich auch die Institution der Gemeinde in Frage stellt. Wo nämlich jeder seinem eigenen Gott huldigt, verliert die gleichgestimmte Zusammenkunft aller Gläubigen ihren Sinn, wie sie Hölderlin noch in den Tübinger Hymnen so trochäisch-frohgemut besungen hat; der Priester hingegen entbehrt die Bestätigung durch das kollektive Gegenüber der Gemeinde. Offenkundig hat Hölderlin die beunruhigende und verunsichernde Kraft einer so starken Subjektivierung des Glaubens selbst empfunden und ihr auf verschiedene Weise zu begegnen versucht. Dazu gehört zum einen die wiederholt formulierte Sehnsucht nach einer neuen Gemeinschaft, wie sie beispielsweise in der großen Hymne der Friedensfeier beschworen wird. Zum anderen zählt zu Hölderlins Reaktionen auf die Vorstellung einer völligen Individualisierung von Glauben und Verkündigung aber auch die starke Sorge um die Legitimation des eigenen Sprechens. Anders gewendet: Welche Instanz legitimiert den Auftritt des Dichter-Sehers, wenn dies keine gesellschaftlich-institutionellen Übereinkünfte mehr regeln und wenn auch die eigene innere Gewissheit, der „Dichtermuth“, erschüttert scheint? Hölderlin hat vielfältig über die Möglichkeiten einer unmittelbaren göttlichen Inspiration nachgedacht, die den modernen Sänger in die direkte Nachfolge der biblischen Propheten und antiken Halbgötter und Seher stellen würde – für ihn eine ebenso verlockende wie auch bedrohliche Vorstellung. Denn „Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch“ (I, 378), lautet die resignative Erkenntnis in der Schlussstrophe von Brod und Wein. Noch radikaler formuliert Hölderlin die Gefahr zu großer Gottesnähe in dem Fragment Wie wenn am Feiertage bzw. Wie wenn der Landmann. Denn hier schildert er in Anspielung auf den antiken Semele-Mythos – die Mutter des Dionysos verbrannte noch während ihrer Schwangerschaft, weil sie ihren Liebhaber Zeus in seiner wahren, göttlichen Gestalt zu sehen begehrte – die Vermessenheit der Dichter, die mit „entblößtem Haupt“ unter „Gottes Gewittern“ zu stehen versuchen, also die unmittelbare Gegenwart des Göttlichen auszuhalten scheinen. Das Fragment endet mit der Beschreibung einer umfassenden Demütigung des Sprechers/Sängers durch die Götter, denen er sich zu nahen versucht hat: und sag ich gleich, ich wäre genaht, die Himmlischen zu schauen, sie selbst sie werfen
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mich, tief unter die Lebenden alle, Den falschen Priester hinab, daß ich, aus Nächten herauf, Das warnend ängstige Lied Den Unerfahrenen singe. (I, 261)
Beschrieben wird hier die Herabwürdigung eines Dichters, der von den Göttern, die er verkündigen wollte, als „falscher Priester“ entlarvt und zurückgestoßen wird, so dass er nun, in erstaunlicher Analogie zum alttestamentlichen Sänger des 130. Psalms, sein Lied nunmehr aus dem Dunkel „herauf“, „de profundis“, singen muss. Dass Hölderlin den Gedichtentwurf nach den zitierten Versen abgebrochen hat, veranschaulicht die existenzielle Bedeutung, mit welcher für ihn die dort geschilderte Erfahrung des eigenen Ungenügens und der Zurückweisung verbunden gewesen sein muss. Denn zwar mag die dichterische Anverwandlung antiker Mythen, wie etwa in dem Feiertags-Fragment Ovids Schilderung von Semeles Untergang, vielen von Hölderlins Zeitgenossen als reizvolles, doch letztlich unverbindliches Spiel mit gelehrtem Bildungsgut erschienen sein; man denke nur an Schillers virtuose kulturkritische Beschwörung der Götter Griechenlands. Für Hölderlin jedoch stand mit der Aneignung antiker Göttergestalten stets sein eigenes dichterisches Selbstverständnis auf dem Spiel, um das er in den Jahren bis zu seiner Einlieferung in das Autenriethsche Klinikum im Jahr 1806 beständig rang. Der enttäuschenden Erfahrung, von den „Himmlischen“ als „falscher Priester“ bestraft zu werden, versuchte Hölderlin in immer neuen Anläufen zu begegnen und im dichterischen Wort Modelle einer neuen Glaubensgemeinschaft zu stiften, die der gefährlichen Nähe des Göttlichen standzuhalten vermögen. Ein möglicher Weg bestand für ihn darin, den vorübergehenden Verlust der Gemeinde selbstbewusst auszuhalten und die Rolle als einsamer Verkünder göttlicher Wahrheiten anzunehmen, wie es am Anfang dieser Überlegungen am Beispiel des Gesangs Der Mutter Erde vorgestellt wurde: „Statt offner Gemeine sing’ ich Gesang“.
V. „der altgebaute, / Seeliggewohnte Saal“ (I, 361) Hölderlins utopische Sehnsucht nach einer vielstimmigen Gemeinschaft blieb dennoch bestehen; in seiner großen Hymne Friedensfeier, auf die ich nun am Schluss meiner Überlegungen eingehen möchte, hat er ihr eindrücklich Ausdruck verliehen. Vorstufen dieser Hymne waren der Hölderlin-Forschung seit langem bekannt; der sensationelle Fund der Reinschrift in London im Jahre 1954 ermöglichte aber allererst eine ausführliche Analyse der Hymne, was denn ja auch schnell zu großen Kontroversen geführt hat, insbesondere bei der Frage, wer als der gefeierte „Fürst des Festes“ zu verstehen sei. Darauf soll hier nicht eingegangen werden, vielmehr wird der sakrale Rahmen im Zentrum stehen, den Hölderlin hier für seine utopische Friedensfeier entwirft. Der äußere Anlass des Gedichtes war der vergleichsweise folgenlose Frieden von Lunéville des Jahres 1801; für Hölderlin gab dieses politische Ereignis denn auch nur den
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Sabine Doering
Anstoß für den Entwurf einer großartigen Friedensutopie. Der Dichter war sich des Außergewöhnlichen seines Vorhabens durchaus bewusst; davon zeugt die Vorrede des Gedichtes, das mit einem erstaunlichen Appell an die Leser beginnt: „Ich bitte dieses Blatt nur gutmüthig zu lesen. So wird es sicher nicht unfaßlich, noch weniger anstößig seyn“ (I, 361). Anschließend rechtfertigt er sich noch deutlicher: „Sollten aber dennoch einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich ihnen gestehen: ich kann nicht anders“ (I, 361). Der selbstbewusste Gestus hat ein berühmtes Vorbild. Mit der Anspielung auf die Rede des Reformators vor dem Wormser Reichstag löst der 31-jährige Dichter ein, was der halb so alte Schüler programmatisch formuliert hatte: „Sprechen will ich, wie dein Luther spricht.“ Wir können heute natürlich nur darüber spekulieren, ob Hölderlin sich bei der Niederschrift der Friedensfeier dieses frühen Bekenntnisses bewusst war. Was aber macht das Proprium dieser dichterischen Rede aus, für die Hölderlin sich am Beginn so ausführlich rechtfertigt? Ich werde mich auf zwei Aspekte konzentrieren, die ich in den bisherigen Überlegungen schon kurz vorgestellt habe. Das eine ist die Schaffung eines umfassenden sakralen Raums, das andere die Stiftung einer neuen Gemeinde durch das Medium des gemeinsamen Gesangs. Die Friedensfeier setzt mit einem umfassenden Satzgefüge ein, das eine weitläufige Landschaft in einen gottesdienstlichen Raum verwandelt: Der himmlischen, still wiederklingenden, Der ruhigwandelnden Töne voll, Und gelüftet ist der altgebaute, Seeliggewohnte Saal; um grüne Teppiche duftet Die Freudenwolk’ und weithinglänzend stehn, Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche, Wohlangeordnet, eine prächtige Reihe, Zur Seite da und dort aufsteigend über dem Geebneten Boden die Tische. (I, 361)
Entworfen wird hier die Kulisse für einen großen Erntedank- und Abendmahlsgottesdienst, mit prachtvollen Kelchen auf „wohlgeordneten“ Tischen und der Darbietung einer üppigen Ernte. Die Kühnheit dieses Bildes liegt darin, dass Hölderlin die Grenzen artifizieller Architektur sprengt und – ähnlich wie in der Elegie Brod und Wein11 – das gesamte Landschaftspanorama als sakralen Raum gestaltet. Diesem Wunschbild eines universalen Dankgottesdienstes, der keine Trennung von profaner und sakraler Sphäre mehr kennt, entspricht die bereits eingangs erwähnte Utopie einer gleichgestimmten Gemeinde, die die gesamte Menschheit umfasst. Im Fortgang der Hymne findet Hölderlin eindrückliche Bilder für den alten Traum, die babylonische Sprachverwirrung und damit das grundsätzliche Missverstehen zwischen den Menschen aufheben zu können: „Schiksaalgesez ist diß, daß Alle sich erfahren, / Daß, wenn die Stille kehrt, auch eine Sprache sei“ (I, 364). Wenig später folgt –––––––— 11
„Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge / Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut“ (I, 374).
„Durch das Fenster“. Gottesdienst und Liturgie in Hölderlins Lyrik
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dann die Utopie einer umfassenden Harmonie, die sich jenseits der Sprache formiert: „Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.“ (I, 364) Mit dieser Utopie eines umfassenden Menschheitsgesangs zum Lobe der Himmlischen löst der Dichter Hölderlin auf eine umfassende Weise das ein, was der Klosterschüler in konventionellen Formulierungen seinen Lehrern versprochen hatte, nämlich „der Kirche Dienst auch uns zu weih’n“ – nur dass es nicht mehr die württembergische Landeskirche war, in deren Dienst sich Hölderlin jetzt stellen wollte. Sein Bestreben, neue Inhalte und Formen für die vertrauten Strukturen des Gottesdienstes zu finden und die Rolle des Sänger-Priesters im Übergang der Kulturen zwischen Antike und Abendland, zwischen Hellas und Hesperien, selbstbewusst ausfüllen zu können, war vielfältigen Anfechtungen unterworfen. Den hochgestimmten utopischen Erwartungen stehen zahlreiche Erfahrungen der Einsamkeit, der Anmaßung und der Götterferne gegenüber. Bis zu seinen späten Dichtungsentwürfen bezog sich Hölderlin indes immer wieder auf die vertrauten Formen des lutherischen Gottesdienstes. In dem Fragment Dem Fürsten aus dem Homburger Folioheft findet sich die knappe Zeile: „Predigten durch das Fenster“ (I, 403). Erneut sucht hier ein Priester seine Gemeinde. Hölderlins anhaltende Hoffnung war, dass sein dichterisches Wort nicht ungehört verklingen möge.
Rainer Emig
Von unmythischen Mythen und einem unerhabenen Erhabenen Ironische Rituale der Selbstinszenierung in Byrons Childe Harold’s Pilgrimage, Manfred und Don Juan1 Der Ausgangspunkt für meine Untersuchung der Haltung von Byrons Werken zu den Komplexen von Mythos und Ritual ist ein zentrales romantisches Konzept: das Erhabene. Theorien des Erhabenen gehen bekannterweise auf Longinus zurück, der fünf Aspekte des Erhabenen unterscheidet: Die ersten beiden sind die Fähigkeit zu großen Entwürfen sowie kraftvolle und inspirierte Leidenschaft; die verbleibenden drei beziehen sich auf künstlerischen Stil.2 In großen Künstlern verbinden sich diese Charakteristika, sodass letztlich das Erhabene zum Ausdruck einer großen Seele wird.3 In John Dennis’ The Advancement and Reformation of Poetry von 1701 und The Grounds of Criticism in Poetry von 1704 ist diese Definition bereits verwässert zu „an Imitation of Nature, by a pathetick and numerous Speech“ und zur Erzeugung von Leidenschaft zum Zwecke der Belehrung. Dies ist die Version, in der Longinus wahrscheinlich Wordsworth erreicht hat.4 Heute betrachten wir als deutlichsten englischen Ausdruck des romantischen Erhabenen Edmund Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful von 1757. Dort wird das Erhabene, in den Worten von Aiden Day, zu „an experience of power that exceeds the quantifiable and the usable“.5 Burke selbst schreibt: I know of nothing sublime which is not some modification of power. And this [...] rises [...] from terror, the common stock of every thing that is sublime. [...] pleasure follows the will; and therefore we are generally affected with it by many things of a force greatly inferior to our own. But pain is always inflicted by a power in some way superior, because we never submit to pain willingly. So that strength, violence, pain and terror, are ideas that rush in upon the mind together.6
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Ich verdanke Diego Saglia (Universität Parma) die Idee zu diesem Vortrag und Hinweise auf Illustrationen in Byrons Schriften. Longinius or Longinus ist der durch einen Abschreibefehler übermittelte Name des Autors des Traktats Peri Hupsous [Über das Erhabene], das vermutlich im 1. Jahrhundert entstand. M. H. Abrams: The Mirror and the Lamp: Romantic Theory and Critical Tradition. Oxford 1953. S. 73. Ebd. S. 74–76. Weitere einflussreiche Theoretiker des Erhabenen im 18. Jahrhundert waren Joseph Addison, Lord Shaftesbury, John Beatty und William Hogarth. Vgl. Jean Raimond und J. R. Watson (Hg.): A Handbook to English Romanticism. New York 1992. S. 270. Aidan Day: Romanticism, New Critical Idiom. London/New York 1996. S. 183. Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful. Hg. von Adam Phillips. Oxford/New York 1990. S. 59–60.
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 53–65.
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Das romantische Konzept des Erhabenen beruht demnach auf der Annahme einer Verbindung zwischen menschlicher Wahrnehmung und einem postulierten Absoluten. Das Erkennen des Erhabenen, hier jetzt schon in der Natur und nicht mehr im Göttlichen, garantiert daher auch den erhabenen Status des menschlichen Subjekts. Trotzdem bleibt das Erhabene ambivalent, da es auch mit Macht und Terror verknüpft ist. Seine existenzielle Verunsicherung wird jedoch sublimiert, wenn es – trotz der existenziellen Verunsicherung seines Terrors – gleichzeitig Sinn und Bedeutung in objektive Wirklichkeit projiziert und damit den Menschen vom Unterworfenen zum Schöpfer macht, allerdings zum Schöpfer einer sekundären Wirklichkeit, der ästhetischen in der Kunst. Das künstlerische Medium, das es ermöglicht, dieser Verbindung von Subjekt, Objektwelt und Absolutem gerecht zu werden, ist das Symbol.7 Das Symbol ist ein Zeichen, das scheinbar in der Lage ist, seine Zeichenhaftigkeit zu transzendieren und so über sich hinaus zu reichen. Lassen sich diese zentralen romantischen Konzepte in Byrons Lyrik finden? In Childe Harold’s Pilgrimage (1812–1818) erwartet der Leser einen Protagonisten auf der Suche nach Wissen durch die Begegnung mit erhabenen Kräften, nicht nur der Natur, sondern auch der Geschichte und des Krieges. Doch bereits im ersten Canto präsentiert der Text einen Helden, der weit von Longinus’ Ausdruck einer großen Seele entfernt ist. Es zeigt ein literarisches Konstrukt und ein recht hohles dazu: III Childe Harold was he hight: – but whence his name And lineage long, it suits me not to say; Suffice it, that perchance they were of fame, And had been glorious in another day:8
Der Erzähler des Textes spielt mit uns. Er hält Informationen zurück, lässt Dinge im Unklaren und in einem späteren Vers über die „honeyed lies of rhyme“ erzeugt er gar Zweifel an der Wahrhaftigkeit literarischer Repräsentation.9 Der so in Childe Harold’s Pilgrimage entworfene Held steht in klarem Kontrast zur Offenheit, die die große Seele für die Berührung mit den überwältigenden Kräften des Erhabenen benötigt. Diese Begegnung muss vor allem eines sein: nämlich direkt. In Byron hingegen liegt die Betonung auf Herkunft, auf der Vergangenheit. In der Tat ist Childe Harolds ererbte Größe mit „glorious in another day“ klar
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Die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Einbildungskraft stammt aus Kapitel 13 von Coleridges Biographia Literaria. Dort unterscheidet er auch zwischen Einbildungskraft und der minderwertigen fancy. Siehe Lilian Furst (Hg.): European Romanticism: Self-Definition – An Anthology. London 1980. S. 89–90. George Gordon Lord Byron: Poetical Works. Hg. von Frederick Page. Überarbeitete Auflage. Oxford/ New York 1970, 11904. S. 181. Alle weiteren Seitenverweise finden sich im Text. Dies könnte auch ein Echo des Helden der Schauerliteratur sein, der traditionell von obskurer Herkunft ist.
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als anachronistisch gekennzeichnet, und somit als doppelt indirekt.10 Doch damit nicht genug, verkleinert ihn Byrons Gedicht noch weiter: IV Childe Harold bask’d him in the noontide sun, Disporting there like any other fly; Nor deem’d before his little day was done One blast might chill him into misery. But long ere scarce a third of his pass’d by, Worse than adversity the Childe befell; He felt the fulness of satiety: (181)
Der Vergleich mit einer Fliege und der Verweis auf „his little day“ und Leiden, das durch die Banalität eines bloßen Windhauchs verursacht wird, besonders aber seine bereits zum Textbeginn vorliegende Übersättigung, reduzieren den Protagonisten, anstatt ihn zu titanischer Größe zu erheben.11 Die Pilgerfahrt des Gedichttitels ist ebenso ironisch. Anstatt sich auf die Suche nach Läuterung zu machen, driftet Byrons Pilger ziellos. Kein Wunder, dass er im Verlauf seiner Pilgerfahrt weder weiser noch ein besserer Mensch wird. Die bewusst archaische Sprache des Gedichts konspiriert hier mit einer Strophenform, die von Spenser übernommen ist, und deren Struktur und Reimschema The Fairie Queene (1590/1596)12 imitieren, um so eine Parodie des im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert modischen chivalric revival zu erzeugen.13 Byrons Gedicht benutzt die ritterliche Suche („Childe“ ist ein altertümelnder Begriff für „Ritter“, aber eben auch ein Homonym für „Kind“) für idiosynkratische und weltliche Ziele. Diese parodistische Haltung färbt auch Childe Harolds mögliche Begegnungen mit dem Erhabenen in Gestalt der rohen Kräfte der Natur. Burke beschreibt diesen Prototyp des Erhabenen wie folgt: An ox is a creature of vast strength; but he is an innocent creature, extremely serviceable, and not at all dangerous; for which reason the idea of an ox is by no means grand. A bull is strong, too; but his strength is of another kind; often very destructive, seldom (at least among us) of any use in our business; the idea of a bull is therefore great, and it has frequently a place in sublime descriptions, and elevating comparisons.14
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Dieser erhabene Held kann als gesteigerte Version des Schauerroman-Helden gesehen werden. Beispiele sind Goethes Faust, Schillers Karl Mohr etc. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in Byrons ausgeformten Helden, wie Lara oder Conrad in The Corsair. Doch Childe Harold’s Pilgrimage ist stärker selbstentlarvend. Ein neunter Vers mit zwölf Silben rundet acht Verse mit je zehn ab. Das Reim-Schema ist ababbcbcc. James Thomson (1700–1748), Autor von Tancred and Sigismunda, und James Beattie (1735–1803), Autor von The Minstrel, sind die Gründerväter dieses Revivals. Sir Walter Scott (1771–1832) ist sein später und bekanntester Vertreter. Burke: Philosophical Enquiry. S. 60.
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Rainer Emig
Als jedoch Childe Harold im ersten Canto einen Stierkampf besucht, werden unsere Erwartungen erneut enttäuscht. Das Ritual von Männlichkeit und Triumph über die Natur wird in kleinen banalen Details wiedergegeben, nicht in erhebenden Beschreibungen. Der Stierkämpfer erscheint „In costly sheen and gaudy cloak array’d“, und das, was zum erhabenen Symbol von Naturkraft werden könnte, der Stier nämlich, hat seinen ersten Auftritt als „lord of lowing herds“, wohl erhoben zum Gebieter, und doch gleich wieder ironisch reduziert auf den Gebrauchswert der Herde, den das Erhabene laut Burke nicht besitzen darf. Das Gleiche gilt für den Stierkampf selbst. Er ist zweifellos hochdramatisch, doch ist er auch erhaben? Hier ist sein Finale: LXXVIII Foil’d, bleeding, breathless, furious to the last, Full in the centre stands the bull at bay, Mid wounds, and clinging darts, and lances brast, And foes disabled in the brutal fray; And now the Matadores around him play, Shake the red cloak and poise the ready brand: Once more through all he bursts his thundering way – Vain rage! the mantle quits the conynge hand, Wraps his fierce eye – ’tis past – he sinks upon the sand! LXXIX [...] The decorated car appears – on high The corse is piled – sweet sight for vulgar eyes – Four steeds that spurn the rein, as swift as shy, Hurl the dark bulk along, scarce seen in dashing by. (192)
Wieder wird die Szene von kleinen Details bestimmt. Ein erhabener Moment könnte wohl durch den letzten Angriff des Stiers erzeugt werden: „Once more through all he bursts his thundering way –“; Donner ist schließlich ein typisch erhabenes Phänomen. Doch diese Möglichkeit wird sofort untergraben durch die Wertung des Erzählers: „Vain rage!“. Der Stier, der uns als bloßer Teil einer Herde begegnet war, wird am Ende des Kampfes zu einem Klumpen Fleisch, einem Kadaver, einer dunklen Masse. Sollte das Publikum ein erhabenes Drama erwartet haben, so bekommt es stattdessen seine zur Ware reduzierte Version, ein grausames, aber lediglich pittoreskes Spektakel. Das Erhabene erzeugt Schrecken und das Schöne Freude, doch das Pittoreske schafft lediglich Neugierde; und die Neugierigen in dieser Szene sind die vulgäre Menge, die mit ihren Eintrittskarten ein „sweet sight for vulgar eyes“ erstanden hat.15 –––––––— 15
Suzy Halimi unterscheidet das Pittoreske vom Erhabenen auf folgende Weise: „It has no necessary connection with dimension, infinity or uniformity“. Der Begriff erscheint in Verbindung mit „romantic“ in Smolletts The Expedition of Humphry Clinker (1771). Die zeitgenössischen Theoretiker des Pittoresken waren William Gilpin (1724–1804), Uvedale Price (1747–1829) und Richard Payne Knight (1750–1824),
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Wenn Byrons frühe Lyrik sich weigert, in Bezug auf das Subjekt und die Natur das Erhabene ins Spiel zu bringen, wie behandelt sie dann das Absolute, Mythos und Religion? Der zweite Canto von Childe Harold’s Pilgrimage zeigt den Protagonisten in Griechenland, dem locus classicus der Begegnung mit kultureller Größe. Doch als Childe Harold die Ruinen der Vergangenheit erblickt, schafft er es nicht, diese mit dem Pathos des Erhabenen zu erfüllen. Trotz seiner philhellenischen Lobeshymnen bleiben die Ruinen bloße Überbleibsel. Statt Pathos bekommt der Leser sein Gegenteil, Enttäuschung: III Look on this spot – a nation’s sepulchre! Abode of gods, whose shrines no longer burn. Even gods must yield – religions take their turn: ’Twas Jove’s – ’tis Mahomet’s – and other creeds Will rise with other years, till man shall learn Vainly his incense soars, his victim bleeds Poor child of Doubt and Death, whose hope is built on reeds. (195)
Das, was zu einer erhabenen Begegnung mit den Göttern auf geweihtem Grund hätte werden können, stellt sich stattdessen als traurige Mahnung an die Vergänglichkeit von Religion heraus, schlimmer noch, als Erinnerung an den Preis, den die Menschheit für ihre Sehnsucht nach dem Absoluten zahlen muss. Weit entfernt davon, erhaben zu sein, wird das Absolute hier zum Spielzeug eines enttäuschten Kindes, kurzum zum Aberglauben. Das, was ins Transzendente erhoben werden sollte, menschliche Hoffnung nämlich, landet in der folgenden Strophe im Staub. „Bound to the earth, he lifts his eye to heaven“ beginnt sie, nur um dann zu schlussfolgern: „Regard and weigh yon dust before it flies: / That little urn saith more than thousand homilies“ (195). Bei genauerer Betrachtung stellt sich der Byron’sche Held als bloße Leerformel heraus, die vielleicht gar nicht so weit von T. S. Eliots moderner Variante, Prufrock, entfernt ist. Die potenziell erhabene Begegnung mit der Natur erzeugt lediglich materialistische Details und den Hinweis auf die Vermarktung von Erfahrung. Schließlich enthüllen die Manifestationen der menschlichen Sehnsucht nach dem Absoluten diese als Aberglauben. Das Ergebnis dieses gescheiterten Versuchs einer Berührung mit dem Erhabenen ist die Erinnerung an den Preis des Absoluten – in Bildern von Opfern und Blutvergießen – und die strenge Mahnung „Is’t not enough, unhappy thing! to know / Thou art?“ Konsequenterweise ist das strukturelle Mittel, das Byrons Lyrik zur Schaffung ihrer betont unerhabenen Poetik benutzt, sehr verschieden vom traditionellen Werkzeug erhabener Kunst, dem Symbol. Byrons Texte untergraben mögliche Symbole, wie den Stier des Stierkampfs oder die Urne in den Strophen über Griechenland, und verwandeln sie in eine sprachliche Figur, die ihre Materialität hervorhebt und nicht vorgibt, über ihren Status als –––––––— die häufig als „the picturesque school“ bezeichnet werden. Jean Raimond und J. R. Watson (Hg.): Handbook to English Romanticism. Basingstoke 1992. S. 214.
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Zeichen hinauszureichen. Die dominante sprachliche Figur in Byrons früher Lyrik ist die Allegorie.16 Wenn man dies erkennt, wird klar, warum Childe Harold’s Pilgrimage trotz seiner Ablehnung des Pittoresken trotzdem Konventionen des Schauerromans gebraucht.17 Im Genre des Schauerromans ist das Erhabene bereits zur materialistischen Reifizierung reduziert. Sein Grauen ist naturalisiert und nicht wirklich übernatürlich. Childe Harold findet sich in der Tat in typischen Szenarien der Schauerliteratur wieder, zum Beispiel im zweiten Canto: VI Look on its broken arch, its ruin’d wall, Its chambers desolate, and portals foul: Yes, this was once Ambition’s airy hall, The dome of Thought, the palace of the Soul: Behold through each lack-lustre, eyeless hole, The gay recess of Wisdom and of Wit, And Passion’s host, that never brook’d control: Can all saint, sage, or sophist ever writ, People this lonely tower, this tenement refit? (195)
Doch obgleich Byrons Held die für den Schauerroman typischen Ruinen ganz konventionell als moralische Botschaft zu lesen weiß, lauern in ihnen keine Gothic horrors. Stattdessen beherbergen sie ausgewachsene Allegorien: Ambition, Thought, Soul, Wisdom, Wit und Passion (alle im Text durch Großbuchstaben hervorgehoben). Der Leser erfährt weiter, dass diese Allegorien sich nicht mehr auf ein ewiges Sinnsystem beziehen. Sie sind nur noch Text – genau wie der „saint, sage, or sophist ever writ“ [meine Hervorhebung]. Das Epigramm, das Childe Harold’s Pilgrimage vorangeht, beginnt deshalb auch bezeichnend mit der Behauptung „L’univers est une espèce de livre“ [Das Universum ist eine Art von Buch] (179). Paul de Man gebraucht diese Unterscheidung von Symbol und Allegorie in seinem einflussreichen Aufsatz The Rhetoric of Temporality (1969). Mit Bezug auf Gadamers Wahrheit und Methode beschreibt er dort, warum die orthodoxe Romantik das Symbol privilegiert: [...] the valorization of symbol at the expense of allegory coincide[s] with the growth of an aesthetics that refuses to distinguish between experience and the representation of this experience. The poetic language of genius is capable of transcending this distinction and can thus transform all individual experience directly into general truth.18
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Der Stierkampf wird dann zur Allegorie der spanischen Kultur, der Napoleonischen Kriege, etc. Eine weitere mögliche Referenz ist die Lyrik der Ruinen und Friedhöfe, wie sie von Thomas Gray (1716–1771), dem Autor von Elegy Written in a Country Churchyard (1751), und Edward Young (1683– 1765), dem Autor von The Complaint, or Night Thought on Life, Death and Immortality (1742–1745), verkörpert wird. Paul de Man: The Rhetoric of Temporality. In: Blindness and Insight: Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. 2. Auflage. London 1986, 11971. S. 187–228. Hier S. 188.
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Dies entspricht dem, was ich zu Beginn dieses Aufsatzes Unmittelbarkeit genannt habe – und was genau das Element darstellt, das dem Byronschen Helden und seinen Erfahrungen abgeht.19 Anstatt den Spalt zwischen Erfahrung und ihrer Darstellung zu überbrücken, erweitern ihn Byrons Texte, indem sie beständig vermuten, dass auch scheinbar unmittelbare Erfahrung vermittelt ist. Erfahrung ist in Byron immer bereits textuell. Intertextualität regiert – und nicht Transzendenz und das Erhabene. Die Allegorie ist die rhetorische Figur, die diese anti-erhabene Ästhetik verkörpert. In de Mans Worten: Whereas the symbol postulates the possibility of an identity or identification, allegory designates primarily a distance in relation to its own origin, and, renouncing the nostalgia and the desire to coincide, it establishes its language in the void of this temporal difference. In so doing, it prevents the self from an illusory identification with the non-self, which is now fully, though painfully, recognized as non-self.20
Das ist der Punkt, an dem die Allegorie es sowohl der Ethik wie der Geschichtlichkeit ermöglicht, in die Kunst einzutreten. Im Erkennen der Alterität des Nicht-Selbst verhindert sie einen ungezügelten Subjektivismus und die ideologisch wie ethisch problematische Vereinnahmung des Anderen. In ihrer Betonung von Distanz entfernt sie Texte aus der Ahistorizität ihrer eigenen Schöpfungsmythen und unterwirft sie kritischer und historischer Befragung. Das Insistieren der Allegorie auf Materialität widersetzt sich der romantischen Tendenz, materielle Ursprünge hinter dem Erhabenen zu verbergen. All dies bedeutet nun aber nicht, dass Byron alle anderen Romantiker hinter sich lässt und quasi Transzendenz transzendiert. Er ist weder ein reiner Poet des Anti-Erhabenen (das Paradox dieser Konstruktion wird bereits im Begriff deutlich), noch sind andere Romantiker reine Symbolisten. In Canto 3 von Childe Harold’s Pilgrimage finden sich in der Tat Echos des symbolischen Erhabenen. Diese werden meist biographisch durch Shelleys Einfluss erklärt, der Byron überredete, erneut Wordsworth zu lesen. In Canto 3 findet sich sogar die Kommunikation zwischen Natur und dem Protagonisten: „The desert, forest, cavern, breaker’s foam, / Were unto him companionship; they spake / A mutual language“ (Strophe 13; S. 211). Doch was genau hat die Natur zu sagen? Erstaunlicherweise verbleibt selbst im potenziell erhabenen Moment der Zusammenkunft eine Distanz, und die Natur bleibt sprachlos: XLV He who ascends to mountain-tops, shall find The loftiest peaks most wrapt in clouds and snow; He who surpasses or subdues mankind, Must look down on the hate of those below.
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Hier befinde ich mich im Widerspruch zu Jerome J. McGann, dessen Insistieren auf Byrons Ideal of immediacy mir widersprüchlich erscheint. Laut McGann versucht Byron aus der Textlichkeit auszubrechen, während seine Ideale textuell bleiben. Vgl. The Romantic Ideology: A Critical Investigation. Chicago/London 1983. S. 123–130. de Man: The Rhetoric of Temporality (wie Anm. 18). S. 207.
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Rainer Emig Though high above the sun of glory glow, And far beneath the earth and ocean spread, Round him are icy rocks, and loudly blow Contending tempests on his naked head, And thus reward the toils which to those summits led. (215)
Anstatt Unmittelbarkeit treffen wir auf den bedeutungslosen Lärm des Sturms. Am Himmel ist die Sonne, doch nicht als Symbol von Einheit, sondern als Allegorie der Macht, die keineswegs die Unterdrückung überstrahlt, die nötig ist, um an diese erhabene Position zu gelangen, und den Hass, den dies bei den Unterdrückten erzeugt. Der Blick ist wieder auf das Hier und Jetzt gerichtet, auf materielle und ideologische Lebensbedingungen, und nicht auf abgehobene Ideale. Das Subjekt möchte diese Bindungen hinter sich lassen, doch es schafft dies nur in der Fiktion, in Fiktionen des Selbst, die hohl bleiben müssen. VI ’Tis to create, and in creating live A being more intense, that we endow With form our fancy, gaining as we give The life we image, even as I do now. (210)
Was ich vorhin Leerformel genannt hatte, stellt sich nun als Homunkulus heraus, als Variante von Frankensteins Monster. Byrons Version des romantischen Subjekts kommuniziert nur mit sich selbst, nicht mit einem externen Absoluten; und was der Austausch erzeugt, ist eine negative Version des Genies und der Einbildungskraft. Es ist daher kein Zufall, dass die fancy, die Coleridge so abwertet, genau der Begriff ist, den Byron für sein Modell der Schöpfung gebraucht. Doch vielleicht beschäftigen wir uns lediglich mit einer Besonderheit des frühen Byron und sollten Harold Blooms und Lionel Trillings Wertung folgen, nach der der einzig lesenswerte Byron der der späten Satiren und des Manfred ist.21 Wie verhalten sich Manfred und Don Juan zum romantischen Erhabenen? Akt I Szene II des Manfred (1817) präsentiert uns in der Tat ein prototypisches erhabenes Szenario: „The Mountain of the Jungfrau. – Time, Morning. – MANFRED alone upon the Cliffs“ (393). Manfred, eine Byron’sche Version des Faust, ist ein Außenseiter, der von inzestuösem Verlangen nach seiner Schwester gepeinigt wird. Die Bergszene zeigt ihn bei einem erfolglosen Selbstmordversuch. Aber sie zeigt ihn nicht in der Kommunikation mit den erhabenen Kräften der Natur. Im Gegenteil: Gerade die Schönheit der Natur ist es, die ihn ausschließt; die Weisheit des Universums bleibt ihm verschlossen:22 [...] My Mother Earth! And thou fresh breaking Day, and you, ye Mountains,
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22
Harold Bloom und Lionel Trilling (Hg.): Romantic Poetry and Prose. The Oxford Anthology of English Literature. New York/London/Toronto 1973. S. 286. McGann: The Romantic Ideology (wie Anm. 19). S. 131.
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Why are ye beautiful? I cannot love ye. And thou, the bright eye of the universe, That openest over all, and unto all Art a delight – thou shin’st not an my heart. (393)
Dies ist sehr verschieden von Wordsworths Intimations Ode und Coleridges Dejection: An Ode, die beide die verlorene Verbindung mit dem Erhabenen beklagen, nachdem sie sie zuerst etabliert haben! Der Grund für das Versagen der erhabenen Vereinigung liegt genau in der Andersheit des Nicht-Selbst, hier der Natur, und in der gerade nicht erhabenen Natur des Menschen, dessen Substanz zumindest zum Teil als materiell gedacht wird: How beautiful is all this visible world! How glorious in its action and itself! But we, who name ourselves its sovereigns, we, Half dust, half deity, alike unfit To sink or soar, with our mix’d essence make A conflict of its elements, and breathe The breath of degradation and of pride, Contending with low wants and lofty will, Till our mortality predominates […]. (393)
Körperliches Begehren und abstrakter Wille sind beide der Zeit unterworfen, und selbst innerhalb der ihm zugestandenen Zeitspanne ist das Subjekt nur souverän durch einen Akt der Selbstbenennung, das heißt durch Autofiktion und Selbstbetrug – kurz: als Allegorie und nicht als zeitloses Symbol. Jerome McGann nennt dies die „great truth of the Romantic work“: „there is no escape, [...] only revelation (in a wholly secular sense)“.23 In Don Juan (1819–1824) erreicht die allegorische Leerformel des Byron’schen Helden ihre Perfektion. Was in Manfred noch implizit war, die Intertextualität des Helden als Referenz an den Faust-Mythos (am bedeutendsten ausgearbeitet durch Marlowe 1604/16 und Goethe 1808), wird nun zum expliziten Gebrauch eines Klischees. Byrons unvollendetes Epos präsentiert einen Protagonisten, dessen tatsächliche wie metaphorische Schiffbrüche ihn von einer Frau zur nächsten treiben. Die Satire in Don Juan ist so offensichtlich wie die erzählerischen Echos von Childe Harolds ebenso chaotischer Pilgerfahrt. In Don Juan findet sich weder das Erhabene noch Symbolik. Die Traditionen, in denen der Text steht, sind der spöttische Klassizismus eines Pope und italienische Satiren des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts.24 Jede potenziell erhabene Situation wird sorgfältig durch drastischen Materialismus unterminiert, was William Hazlitt zum Kommentar bewegte, nach der „intoxication“ käme in Byron „the splashing of the soda-water“.25 In –––––––— 23 24
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Ebd. Francesco Berni (1496/7–1535) und Luigi Pulci (1432–1484) werden gewöhnlich als Einflüsse betrachtet. Margaret Drabble (Hg.): The Oxford Companion to English Literature. Überarbeitete Ausgabe. Oxford/New York 1995. S. 285.
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Canto 1 findet in der Tat eine regelrechte Dekonstruktion des Erhabenen avant la lettre statt, zuerst in Bezug auf Liebe: XCII He thought about himself, and the whole earth, Of man the wonderful, and of the stars, And how the deuce they ever could have birth; And then he thought of earthquakes, and of wars, How many miles the moon might have in girth, Of air-balloons, and of the many bars To perfect knowledge of the boundless skies; – And then he thought of Donna Julia’s eyes. (647)
Das hohle Subjekt kommt zuerst in der Liste, und Heißluftballons und vollständiges physikalisches Wissen nehmen ungefähr die gleiche Position ein wie die Augen der Geliebten. Die folgende Strophe ist eine offene Attacke gegen das Erhabene und die idealistische Philosophie, die mit ihm verknüpft ist: XCIII In thoughts like these true wisdom may discern Longings sublime, and aspirations high, Which some are born with, but the most part learn To plague themselves withal, they know not why: ‘Twas strange that one so young should thus concern His brain about the action of the sky; If you think ‘twas philosophy that this did, I can’t help thinking puberty assisted. (647)
Erhabenes Streben, so behauptet die Strophe, ist keineswegs angeboren, wie es zum Beispiel Wordworths Intimations Ode und Tintern Abbey behaupten. Für Byron ist es erlernt und deshalb so intertextuell wie die Helden und die Szenarien seiner Werke. Erhabenes Streben richtet sich nicht auf ein äußerliches Absolutes, sondern ist das Resultat von physiologischen und psychologischen Trieben, wie die Knüttelverse am Ende der Strophe vermuten. Die beständige Betonung der Materialität der Existenz führt in Don Juan selbst zu einer Reduktion von allegorischer Repräsentation. In Strophe 180 von Canto 1 zum Beispiel befindet sich Don Alfonso, Donna Julias eifersüchtiger Gatte, in einer potenziell allegorischen Position: He stood like Adam lingering near his garden, With useless penitence perplex’d and haunted, Beseeching she no further would refuse, When, lo! he stumbled o’er a pair of shoes. (657)
Die Tücke des Objekts erinnert uns daran, dass die Objektwelt die Basis aller Motivationen der Byronschen Charaktere und Handlungen bildet. Es gibt kein Entkommen in das Jenseits des Symbolischen, lediglich die Betonung von menschlichen Handlungen und Wünschen als erdgebunden. Dies erlaubt Byrons Texten sogar, sich über Textproduktion selbst lustig zu machen – anstatt sie als Ausfluss von Genie zu präsentieren. In Strophe 74 von Canto 2
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zum Beispiel werden Lose gezogen, um zu ermitteln, wer nach einem Schiffbruch geschlachtet und von seinen Kameraden verspeist werden wird: At length the lots were torn up, and prepared, But of materials that must shock the Muse – Having no paper, for the want of better, They took by force from Juan Julia’s letter. (669)
Der Text wird so selbst zum bloßen Material, zum Objekt. In ähnlicher Weise macht sich Don Juan über die intertextuellen Strategien von Byrons Lyrik lustig. Am Schluss von Canto 16 hat der Schauerroman einen späten Gastauftritt in Gestalt eines gespenstischen Mönchs. Doch als Don Juan seine Hand nach der Erscheinung ausstreckt, „Wonder upon wonder! / It press’d upon a hard but glowing bust“ (857), berührt er eine Frauenbrust. Diese körperliche Reduktion des Erhabenen ist in der Tat pubertär. Die bereits allegorisierten Überbleibsel des Erhabenen in der Schauerliteratur erhalten so einen weiteren Tritt, und der Rest ist Farce. Was sagt uns all dies über die Romantik? Ist Byron lediglich ein deplazierter Neoklassizist unter den erhabeneren Romantikern? Das könnte man annehmen, läse man Thomas Weiskels The Romantic Sublime, worin Byron genau ein Nebensatz zugestanden wird.26 Im Gegensatz dazu würde ich behaupten, dass Byron uns hilft, ein zweites ästhetisches und intellektuelles Prinzip innerhalb der englischen Romantik zu identifizieren, das allegorische, das sonst zu leicht vom Erhabenen verdeckt wird. Die Spannung zwischen diesen Konzepten wirft ein anderes Licht selbst auf die scheinbar orthodoxere Romantik eines Coleridge und Wordsworth. Schließlich folgt selbst auf die berühmte Kurzformel romantischer Poetik in Wordsworths Preface zu den Lyrical Ballads, „For all good poetry is the spontaneous overflow of powerful feelings“, der Widerspruch: and though this be true, Poems to which any value can be attached were never produced on any variety of subjects but by a man who, being possessed of more than usual organic sensibility, had also thought long and deeply. For our continued influxes of feeling are modified and directed by our thoughts, which are indeed the representatives of all our past feelings.27
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Thomas Weiskel: The Romantic Sublime: Studies in the Structure and Psychology of Transcendence. Baltimore/London 1976. S. 121. Der Byron-Verweis bezieht sich in der Tat lediglich auf sogenannte „phallic anxieties“. Byron spielt ebenfalls kaum eine Rolle in M. H. Abrams’ Mirror and the Lamp und Natural Supernaturalism: Tradition and Revolution in Romantic Literature (New York 1971), was Anne Mellor zu einem Angriff auf Abrams in English Romantic Irony (Cambridge, Mass./London 1980. S. 5–6) bewegt. Mellor gesteht Byron ein zentrales Kapitel mit dem Titel Byron: Half Dust, Half Deity (S. 31–76) zu. Trotzdem versucht sie dennoch, ein vereinheitlichendes Bestreben in Byrons Schriften nachzuweisen – durch recht zweifelhafte biographische Verweise auf Liebe als Mittel der Überwindung (S. 38). Ein ähnlicher Widerspruch charakterisiert Ronald Paulsons Breaking and Remaking: Aesthetic Practice in England, 1700–1820 (New Brunswick/ London 1989), das Byrons Ikonoklasmus mit aristokratischer Nostalgie nach Geschlossenheit identifiziert (besonders in Kapitel 3, S. 94–146). Furst: European Romanticism (wie Anm. 7). S. 13.
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Wie Marilyn Butler bemerkt, bezieht sich Wordsworth hier auf die Prinzipien des Intellekts und des moralischen Empfindens. Sie betont ebenfalls, dass der zentrale Begriff „spontaneous“ etwas anderes meinte als seine heutige Bedeutung, nämlich „voluntary“, „of one’s own free will“, selbstbestimmt also.28 Menschlicher Wille, Reflexion, Erinnerung und Wiederholung sind die Gegengewichte zur scheinbar spontanen Schöpfung der Einbildungskraft. In der gleichen Weise fordert die Allegorie als immer schon intertextuelle rhetorische Figur die scheinbare Zeitlosigkeit des Symbols und seine Synthese von Subjekt und Objekt heraus. Bereits in ihrer Konstitution trägt die Romantik daher einen produktiven Widerspruch in sich.29 Dieser Widerspruch zeigt sich selbst in den zentralen Werken der Epoche, zum Beispiel in Tintern Abbey, wo er in der merkwürdigen Abwesenheit des zentralen Objekts des Texts ersichtlich wird und in der doppelten Distanzierung des Gedichts als Erinnerung und Komposition versus Niederschrift. Er erhält ebenfalls eine Ausprägung in Shelleys Ozymandias und vielen von Keats’ mythologisch inspirierten Gedichten, zum Beispiel Ode to Psyche. Der Bruch zwischen vorgespiegelter symbolischer Einheit, die über das Ritual zum Mythos führt, und allegorischer Distanz setzt sich in den Werken der literarischen Moderne fort. In Yeats, dem selbsternannten letzten Romantiker, ist er verantwortlich für das Versagen von Symbolen für ewige Kunstwerke, etwa in seinen Byzantium-Gedichten. Selbst in Eliot, der die Romantiker ablehnt, untergräbt er die problematischen Versuche symbolischer Transzendenz im Spätwerk, besonders in Four Quartets, durch die aus dem Frühwerk übernommene allegorische Fragmentierung.30 Es ist daher doppelt wichtig, der allegorischen Tradition gerecht zu werden, nicht allein um die Romantik als vielgestaltig und nicht als monolithisches Unterfangen zu verstehen, sondern um die an sie anschließenden Probleme zeitgenössischer Ästhetik zu begreifen. Die jüngste Renaissance des Erhabenen in Philosophie und Theorie ignoriert ebenso häufig, dass das Erhabene nur eine der dominanten Traditionen ist, die aus der Romantik stammen. In Philosophen wie Jean-François Lyotard und Wolfgang Welsch führt die Überzeugung, dass die Postmoderne das Erhabene auferstehen lässt, häufig zur Gefahr romantischer Blindheit. Das „Geschieht es?“, das Lyotard die Avantgarde fragen lässt, wäre dann lediglich eine Neuauflage des romantischen Verlangens nach dem erhabenen Moment.31 Das allegorische Prinzip erinnert uns im Gegensatz dazu daran, dass neben der –––––––— 28
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Marilyn Butler: Romantics, Rebels and Reactionaries: English Literature and its Background 1760-1830. Oxford/ New York 1981. S. 60. McGann: The Romantic Ideology (wie Anm. 19. S. 2) identifiziert Heinrich Heine als einen Vertreter dieser Widersprüche. Dies vermutet Maud Ellmann, wenn sie den klassischen Modernisten vorwirft „to kick out last year’s words in favour of the year’s before“; Vorwort zu Rainer Emig: Modernism in Poetry: Motivations, Structures and Limits. Studies in Twentieth-Century Literature. London/New York 1995. S. vii. In The Sublime and the Avant-garde schreibt er: „the avant-garde is not concerned with what happens to the ‚subjectȧ, but with ‚Does it happen?ȧ, with privation. This is the sense in which it still belongs to the aes-
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Frage „Geschieht es?“ die ironische Behauptungen „Es ist schon geschehen!“ bzw. „Es ist schon darüber geschrieben worden“ stehen. Zusammen erinnern uns die widersprüchlichen Figuren des Symbols und der Allegorie an die Möglichkeit, die ungelöste Frage nach der Einbildungskraft sowohl durch essenzialistische Postulate anzugehen wie durch Intertextualität, Ironie, Wiederholung und selbst Klischee. Einbildungskraft wäre dann nicht bloß Schöpfung oder Vermittlung, sondern in der Tat Lesen und Wiederlesen. Sekundäre Einbildungskraft in Gestalt künstlerischer Produktion würde primäre Einbildungskraft herausfordern, anstatt ihr bloß zu folgen. Vielleicht ist dies der beste Grund, Byrons Schriften heute noch zu schätzen: Sie führen ästhetische Kategorien wie literarische Periodisierungen an ihre Grenzen. Ihre Herausforderungen erinnern uns an den vormodernen Postmodernismus der Romantik, aber sie verweisen auch auf die gesunden Effekte des postmodernen Insistierens auf Pluralität, Widerspruch und Offenheit. Sie zeigen, dass das Aufbrechen monolithischer Modelle wie Ritual und Mythos durch Wiederlesen scheinbar vergangene Traditionen für die Gegenwart fruchtbar erhält.
–––––––— thetics of the sublime“; Jean-François Lyotard: The Loytard Reader. Hg. von Andrew Benjamin. Oxford 1989. S. 208. Wolfgang Welschs Beitrag zu dieser Debatte ist der Aufsatz Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen. In: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990. S. 114–156. Eine ähnliche Frage ist implizit in Karl Heinz Bohrers Schriften, besonders in Das absolute Präsens: Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt am Main 1994.
Clemens Heydenreich
„…und damit gut!“ Wilhelm Buschs Märchen Der Schmetterling als Trümmerfeld der Taugenichts-Romantik Noch immer geh ich rauchend, den Schopenhauer in der einen, den Darwin in der anderen Tasche, […] an’s Meer, wo vielleicht das Schiff liegt, welches, wie man sagt, nach den seeligen Inseln segelt. ‚Die Heiligen sind schon dort‘, sagt Schopenhauer. Da aber der Wille untheilbar ist, so hätten sie mich nothgedrungen mitnehmen müßen, und ich wäre schon ‚dort, wo ich nicht bin‘. Darwin sagt: ‚Es giebt eine Entwicklung‘. Nehmen wir an von minus X über Null zu plus X. Dann säße der Mensch auf N° 0, während der Affe etwa auf -1 herumkletterte. Der Fortschritt von -1 bis 0 ist ersichtlich: die Erkenntniß, daß diese Welt ein Irrthum, dämmert auf. […] Drüben, am andern Ufer des Stroms, steht der heilige Augustinus. Er nickt mir ernsthaft zu: Hier liegt das Boot des Glaubens; Gnade ist Fährmann; wer dringend ruft, wird herüber geholt. – Aber ich kann nicht rufen; meine Seele ist heiser; ich habe eine philosophische Erkältung.1
So fasste Wilhelm Busch im Jahre 1880 die Aporien seiner Weltsicht zusammen. Bezüglich Darwins und Schopenhauers, aus deren Thesen sich der religiöse Freigeist ein misanthropisches Menschenbild auf Basis augustinischer Erlösungsskepsis zurechtgelegt hatte, setzte er später, im Jahre 1894, in einem kurzen autobiografischen Text hinzu: „Ihre Schlüssel passen ja zu vielen Türen in dem verwunschenen Schloß dieser Welt; aber kein ‚hiesiger‘ Schlüssel, so scheint’s, und wär’s der Asketenschlüssel, paßt je zur Ausgangstür.“2 1894, da war Busch 62 Jahre alt und hatte sich bereits seit zehn Jahren zurückgezogen aus jener Kunst, die er ein Vierteljahrhundert lang etabliert und perfektioniert hatte: der des Zeichnens und Reimens humoristischer Bildergeschichten. Sie hatte ihn so wohlhabend gemacht, dass er sich fortan ohne Profitzwang auf die „klassischen“ künstlerischen Felder seiner Neigung zurückziehen konnte: auf die Malerei und die Text-Literatur. Seine ersten Darwin- und Schopenhauer-Studien hatte Busch in den mittleren 1850er Jahren betrieben: einer Zwischenzeit, die der bereits über 20-jährige protestantische Krämersohn beschäftigungslos bei seinen Eltern im niedersächsischen Wiedensahl verlebte, zu deren Leidwesen er vorher nicht nur ein Maschinenbaustudium abgebrochen hatte, sondern dann auch noch zwei Ausbildungen zum akademischen Maler. Bevor er zu einem letzten –––––––— 1
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Wilhelm Busch: [Brief Nr. 501. An Hermann Levi.] In: Ders.: Sämtliche Briefe. Kommentierte Ausgabe in zwei Bänden. Band I: Briefe 1841 bis 1892. Hg. von Friedrich Bohne. Hannover 1968. S. 214 f. Wilhelm Busch: Von mir über mich. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Friedrich Bohne. Bd. 4. Wiesbaden 1960. S. 210.
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 67–78.
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Malereistudium aufbrach, das er ebenfalls nicht beenden sollte, sammelte er einige Monate lang niedersächsische Volksmärchen. Die Sammlung Ut ôler Welt blieb zu seinen Lebzeiten unpubliziert. Im bereits oben erwähnten Jahr 1894 jedoch veröffentlichte Busch eine 95 Seiten starke Erzählung, Der Schmetterling betitelt, die ihrerseits in märchenhafter Kulisse spielt. Ihre Basiserzählung3 beginnt mit den Worten: „Ich heiße Peter. Ich bin geboren anno dazumal, als man die Fräuleins Mamsellchen nannte und die Gänse noch Adelheid hießen, auf einem einsamen Bauerngehöfte, gleich links von der Welt und dann rechts um die Ecke“.4 Zur Handlung in Kürze: Peter, ein verkrachter Schneiderlehrling, läuft von zu Hause aus in die Irre, indem er mit seinem Fangnetz einem Schmetterling folgt, der sich ihm immer wieder entzieht. Sieben Tage lang schwankt er so zwischen Heimweh und Jagdtrieb. Dann aber gerät er, Schutz suchend vor einem Gewitter, in einer Zweighütte in die Arme eines Mädchens. Das erweist sich als Hexe, stiehlt ihm ein Medaillon, mit dem ihm auch alle Erinnerung an die Heimat schwindet, und wird künftig in wechselnden Figurationen wieder auftauchen, stets markiert durch drei Attribute: schlangengraue Kleider, blitzende Zähne und Kopfschmuck aus Geldmünzen. Von nun an strebt Peter nicht mehr nach Hause, sondern nach Wohlstand, um sein „Blitzmädel“ (WB 32) zu gewinnen, denn, so hat er erfahren: „Lucindili heißt sie, Wer kein Geld hat, den beißt sie“ (WB 43). Doch ob er sich hierzu ehrlich als Flickschneider verdingt oder auf Abwege gerät: Stets bleiben ihm zwei Nebenbuhler bei der Geldbeschaffung ein Stück voraus – der völlig amoralische „JägerNazi“ (ein verkrachter katholischer Mönch!) und der alte Herr Schlumann, der einen Goldesel besitzt. So vergehen in Dörfern, Wäldern und Gebirgen mehrere Wochen, bis Peter der Hexe wieder begegnet und von ihr in einen Pudel verwandelt wird. Einen Monat lang dient er ihr in masochistischer Behaglichkeit, dann gewinnt er bei der Rückverwandlung sein Medaillon und seinen Heimkehrwillen wieder: „Was hatte ich gefunden heraußen in dieser verlockenden Welt, als Schmerz und Enttäuschung; wie tief, durch meine unsteten Begierden, war ich gesunken!“ (WB 75) Nach dieser Einsicht und vor seiner Heimkehr jedoch durchlebt er noch einen siebenjährigen Zauberschlaf und dann eine Bildvision, in der bunte Schmetterlinge einer Überzahl an schwarzen Vögeln zum Opfer fallen: „Für jede angenehme Erwartung“, so löst man ihm diese Allegorie auf, „gibt’s mindestens drei unangenehme Möglichkeiten“ (WB 80). Ein weiteres Tableau zeigt ihm die Geliebte an der –––––––— 3
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Die thematische Eingrenzung meines Beitrags erzwingt es, hier einen Aspekt außen vor zu lassen, auf den eine noch ausstehende gründliche Analyse des Schmetterling wird eingehen müssen: die doppelte Rahmung der Basiserzählung nämlich. Sie kommt im engeren Sinne durch retrospektive Betrachtungen der Erzählerstimme aus ihrer Gegenwart heraus zustande, im weiteren Sinne aber auch noch durch den bislang kaum gewürdigten Schlusszusatz eines fiktiven Redakteurs, dessen Wertung des Erzählten mit der Wertung des Erzählers selbst in polyphonen Konflikt tritt und somit den Leser just zum Ausgang des Textes mit einer irritierenden Unbestimmtheitsstelle konfrontiert. Wilhelm Busch: Der Schmetterling. Mit zwanzig Zeichnungen. München 1894. S. 2. Fortan im laufenden Text zitiert mit „WB“ und der jeweiligen Seitenzahl.
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Seite des „Fürsten dieser Welt“ und diesen umgeben von Lakaien, die als hohle Figurationen moralischer Grundsätze mit Stichworten wie „Treu und Redlichkeit“ oder „wahr, gut, schön“ beschriftet sind. Desillusioniert, gealtert und physisch entstellt durch zahlreiche Kämpfe mit menschlichen und numinosen Gegnern, kehrt Peter schließlich in sein Vaterhaus zurück, wo er sich den neuen Besitzern nicht zu erkennen gibt, jedoch als dienstbarer Geist aufgenommen wird – und wo er seine schriftliche Konfession ablegt, was den Bogen des Textes schließt. Was der Ich-Erzähler in jener eingangs scheinbar so überdeutlich als „ôle Welt“ volksliterarischer Fiktion codierten Kulisse durchlebt, ist eine Geschichte von Auszug, Irrfahrt und Heimkehr, an die die bislang erst wenigen Publikationen, die sich ihr widmen, verschiedene literarische Kon-, Prä- und Subtexte angelegt haben: Homers Odyssee, den Picaroroman allgemein und speziell Cervantes’ Don Quixote, den klassischen Bildungs- und Entwicklungsroman. Diese Lesarten leuchten ebenso ein wie die autobiografische: Sie sieht im Schmetterling, der geradezu anthologisch Selbstzitate aus Buschs Bildergeschichten bündelt, eine symbolistische Lebens-Konfession des Autors, den die protestantische Arbeitsund Gewissensethik geprägt hat und der sich die Irrwege seiner eigenen Künstlerkarriere nie so ganz verziehen haben soll. Neben aller Diversität der Lesarten aber hat bislang fast jeder Sekundärautor das Postulat aufgegriffen, Buschs Schmetterling lasse sich auf eine bestimmte prätextuelle Folie beziehen: den Taugenichts von Joseph von Eichendorff. Diesen Bezug sehen Peter Marxer 1967, Wolfgang Teichmann 1971, Gert Ueding 1977, Jürgen Lieskounig 1991, Henning HermannTrentepohl 2007, Gudrun Schury 2007.5 Doch so unbeirrt sie diese Vermutung auch tradieren: einen Versuch, ihr in einer genaueren Analyse nachzugehen, hat bislang niemand unternommen.6 –––––––— 5
6
Peter Marxer: Wilhelm Busch als Dichter. Zürich 1967. Wolfgang Teichmann: Satirische Abrechnung mit der spätbürgerlichen Kultur. Wilhelm-Busch-Jahrbuch. Hannover 1971. Gert Ueding: Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature. Frankfurt am Main 1977. Jürgen Lieskounig: Die Odyssee eines späten Taugenichts. In: Wirkendes Wort 41/3 (1991). S. 405–416. Henning Hermann-Trentepohl: „One long argument...“ Wilhelm Buschs Darwin-Lektüren. ZDP 126 (2007). S. 304–321. Gudrun Schury: Ich wollt, ich wär ein Eskimo. Das Leben des Wilhelm Busch. Berlin 2007. Als Gründe hierfür vermute ich zweierlei: Erstens mögen die frühesten Setzungen innerhalb dieser Traditionsreihe aus eher apologetischem denn analytischem Interesse geboren sein. In Zeiten, da man Wilhelm Busch noch stärker als heute zwar als Bildergeschichten-Autor konsensuell wertschätzte, ihn als Autor „rein literarischer“ Texte aber weit abseits des Kanons verortete, mag ein – wenn auch vages – Postulat seiner Vergleichbarkeit mit einem der schlechthin (wenn man so sagen darf) kanonisiertesten Texte neuerer deutscher Erzählliteratur probat erschienen sein, um ein randständiges und unterschätztes Interessensgebiet zu adeln. Und zweitens: Seit dann Ueding 1977 angab, bereits Marxer 1967 habe einen „detaillierten Vergleich zwischen Eichendorffs Novelle und Buschs Märchen“ gezogen (Ueding, S. 409, Anm. 88), scheinen alle Späteren sich von dieser Aufgabe so wohltuend entlastet gefühlt zu haben, dass keiner von ihnen bei Marxer auch nur nachgeschlagen hat. Festzustellen wäre dort nämlich gewesen, dass Marxer sich der Erzählung zwar ausführlich widmet, jedoch mit dem Ziel, sie als Gattungsparodie
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Auch ich kann eine solche Lektüre hier bei weitem nicht so ausführlich leisten, wie es angemessen wäre. Ich möchte jedoch zumindest pars pro toto zu zeigen versuchen, dass eine solche Lektüre Buschs Text als in höherem Maße „ambitioniert, zeitkritisch und anspielungsreich“7 erweist, als Volkmar App ihn allerjüngst einschätzte. Denn in ihrem Lichte wird deutlich, dass Der Schmetterling zentrale Themenkomplexe seines Prätextes aufgreift, hierbei aber ihre Bedeutsamkeit für den Kontext der katholischen, sentimentalischen Taugenichts-Romantik dekonstruiert und sie dergestalt neu auflädt, dass sie die (eingangs zitathaft illustrierte) skeptische Äquidistanz Buschs zu präromantischen, romantischen wie postromantischen Optimismen aller Art besonders klar konturieren. Ich wähle hier die Themenkomplexe: Welt (Diesseits/Jenseits), Natur, Gott, Liebe, Arbeitsleben und Künstlertum. Der Plot des Schmetterling erscheint zwar nicht im Detail, wohl aber im groben Grundraster durchaus analog zu dem des Taugenichts: Auch bei Busch verlässt ein mutterloser, jugendlicher Landbursche sein Vaterhaus, in dem er sich vor praktischen Arbeiten stets gedrückt hat, und geht in die Welt hinein. Dort irrt er eher passiv als aktiv umher und erlebt scheinbar unverbundene Aventüren, deren episodischer Rhythmus sich aus eingeschobenen Phasen des Schlafs ergibt.8 Sie locken ihn – allem Heimweh zum Trotz – immer weiter fort, wobei seine ersten Reisemotive immer stärker überlagert werden von der Liebe zu einem Mädchen, das unerreichbar scheint und das er doch zu gewinnen hofft. Bei alledem überlässt er sich der Führung durch übernatürliche Mächte. Doch bleibt sein Kontakt zu diesen eher intuitiv: Bis zur finalen Erkenntnis, dass tatsächlich sie es gewesen sind, die sein Geschick bestimmten, ist sein Kontaktmedium zum Numinosen ein Gegenstand, den er stets bei sich trägt und der zugleich das poetologische Typen-Attribut ist, das ihn als eine Künstlerfigur ausweist.
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des Kunstmärchens auszuweisen; Eichendorffs Taugenichts erwähnt er nur kurz und indirekt. Vgl. Marxer: Busch als Dichter (wie Anm. 6). S. 41–60. App spricht dem Schmetterling diese Eigenschaften zwar nicht generell ab, sondern in Relation zu Eduards Traum, Buschs anderem großen Prosa-Alterstext. (Volkmar App: Der „unbekannte“ Wilhelm Busch. Zum 100. Todestag. ZfG/NF XVIII (3/2008). S. 621–624. Hier S. 623.) Und in der Tat wirkt Eduards Traum durch eine surrealistische Textorganisation sowie durch eigenständige Motive, die auf Probleme naturwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen verweisen, im Direktvergleich „moderner“. Doch möchte ich hier zeigen, dass im Schmetterling gerade der „epigonale“ Rückgriff auf überlebt scheinende Muster literarischer Sinnstiftung Effekte von erstaunlicher Modernität erzeugt. Was Rodewald vom Stellenwert des Schlafens für Eichendorffs Helden sagt – es gehöre „zu den heftigsten ‚Aktionen‘, zu denen [er] fähig ist“, und habe „Überbrückungsfunktion, es ermöglicht eine rapide Veränderung der Situation“ (Dierk Rodewald: Der „Taugenichts“ und das Erzählen. Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973). S. 231–259. Hier S. 239) –, das gilt für Buschs Peter noch weitaus häufiger und stärker: „Ich lehnte mich an den Baumstamm und entschlief augenblicklich, ja, ich kann wohl sagen, noch eher. Überhaupt, schlafen, das konnt ich ohne jede Mühwaltung“ (WB 7).
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Diese – wie gesagt – grob gerasterten Analogien nimmt der Leser nicht erst in rückblickender Draufsicht wahr, sondern punktuell bereits im Lektüreverlauf: und zwar verstetigt durch die Narrationsweise. Denn Busch bedient sich genau jenes so simplen wie vertrackten Perspektivenspiels, das auch Eichendorff im Taugenichts anwendet, wie erst Rodewald9 und später Petersen10 analysiert haben: Erzählt wird einerseits in Ich-Form, aus der Retrospektive eines längeren Zeitabstandes und (mit Genette zu sprechen) autodiegetisch, also von einer Stimme, die sich mit dem Protagonisten identisch erklärt. Die aber erzählt andererseits streng intern fokalisiert, beschränkt ihren Horizont also willentlich auf den „naiven“, personalen Blick dessen, der seine eigene unmittelbare Zukunft noch nicht kennt. Bei Eichendorff hält dieser verstetigte naive Blick bekanntlich in genuin romantischer Manier die Zukunft in der Schwebe, so dass „das Leben als Verheißung, Daseinserweiterung, Zukunftsraum“11 erscheint. Als etwa die „schöne gnädige Frau“ den Blumenstrauß des Helden entgegennimmt, da wird diesem „so unruhig und fröhlich [zu Muthe], ohne daß ich wußte warum, als stünde mir ein großes Glück oder sonst etwas Außerordentliches bevor“.12 Auch Buschs Helden streifen „angenehme[.] Vorahnungen“ (WB 11) bereits im zweiten von 19 Kapiteln, das den dritten Tag seiner Reise schildert: „Ich befand mich in der heitersten Laune; ich wußte es, eine innere Stimme sagte es mir: Dir wird heute noch besonders was Gutes passieren.“ (WB 11) Hier spricht der pseudo-naive Erzähler ohne jedes romantische „als ob“ im Indikativ der Gewissheit, und der akut gemeinte Zukunftsraum ist begrenzt: „heute“. Umso unmittelbarer erfährt der Leser, inwieweit die Ahnung eingelöst wird: sie wird es gar nicht. Der Held (dessen Umgang mit Mitmenschen wiederholt eine Ethik des Mitleids und der Ehrlichkeit erkennen lässt) schenkt einem Bettler den Großteil seiner schmalen Barschaft – doch erntet diese Großherzigkeit keinen Dank, sondern hämischen Spott, und in dem folgenden Raufhändel verliert er einen Schneidezahn. Eine Szene mit Schlüsselfunktion für die Lesererwartung: Denn fortan muss sie stets damit rechnen, dass ein variiertes Thema in Buschs Text die Desillusionierung angenehmer Vorahnungen bleiben wird (also ganz konträr zum Taugenichts) – und dass (dies wiederum analog zum Taugenichts) der intern fokalisierte, „naive“ Blick der Erzählstimme es auch weiterhin ihm, dem Leser, überlassen wird, Entwicklungen zu antizipieren, in die der Held blind hineinläuft. Einschlägige Signale an den Leser hat der Text da sogar bereits vorgeschaltet. Denn am Vortag ist Peter einem Blinden begegnet. Was der ihm zu sagen hatte, muss man zwar nicht, –––––––— 9 10 11 12
Vgl. Rodewald: Taugenichts (wie Anm. 8). S. 237 f. Vgl. Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart 1993. S. 101–106. Petersen: Erzählsysteme (wie Anm. 10). S. 104. Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Band V/1: Erzählungen. Erster Teil: Text. Hg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen 1998. S. 83– 197. Hier S. 100. Fortan im laufenden Text zitiert mit „HKA“ und Seitenzahl.
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aber kann man heuristisch fruchtbarerweise an jenen Worten messen, mit denen der Maler Eckbrecht dem Taugenichts seinen vermessenen Künstleranspruch formuliert: „Wir Genie’s […] schreiten […] in unsern Siebenmeilenstiefeln, die wir bald mit auf die Welt bringen, grade auf die Ewigkeit los“ (HKA 168). Der Blinde hingegen zu Peter: „[…] ich bin rundherum blind.“ „Schon lange?“ fragte ich theilnahmsvoll. „Fast neunundfünfzig Jahr; nächsten Donnerstag ist mein dreiundfünfzigster Geburtstag.“ „Was? Schon sechs Jahre vor Eurer Geburt?“ „Sogar sieben, richtig gerechnet. Ich wollte schon damals gern in die Welt hinein, tappte im Dunkeln nach der Thür, fiel mit dem Gesicht auf die Hörner des Stiefelknechts, und das Unglück war geschehen.“ (WB 9)
„In die Welt hinein“ zu wollen: Diese Formel begegnet hier in Buschs Text zum einzigen Mal. Im Taugenichts steht sie für das erwartungsfrohe Vertrauen des Helden in „Gottes freie Welt“ (HKA 93), in der Diesseits und Jenseits dynamisch durchwirkt sind, bei gleichzeitiger Absage an die statische Mühlenbewegung des philiströsen, sich selbst genügenden Zweckdaseins. Busch appliziert sie konträr: Von einem Jenseits-Innenraum aus gedacht, der dunkel, aber offenbar bürgerlich möbliert ist und den die Seele beim Eintritt ins Leben verlässt, steht sie für einen nicht nur jugendlichen, sondern quasi sogar präinfantilen Übermut, der sich umgehend rächt durch eine Desillusionierung bereits vor Antritt der Lebensreise: An einem teuflischen Gerät, das dort den heimkehrenden Seelen aus ihren (Siebenmeilen?-)Stiefeln helfen soll, scheitert bereits der Aufbruch. Peter könnte es sich gesagt sein lassen, aber er versteht es nicht. Anders als der Leser, denn der – und hier landen wir am Anfang der Erzählung – ist auch da bereits vorgewarnt. „Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüthe“ (HKA 86), heißt es beim Aufbruch des Taugenichts in die weite Welt. Diese Formel markiert den harmonischen Akkord von Arbeitsscheu und Gottvertrauen, der den Helden ausmacht, an passender Stelle: Zur Philisterwelt in Kontrast setzt sie ihn, weil es eben kein Sonn-, sondern ein Werktag ist, an dem er aufbricht, und mit Gott in Verbindung setzt sie ihn, indem sie überleitet zu jenem berühmten Lied von Gottes Gunst, das sein freies Schweifen zum Gottesdienst und ihn selbst zum vogelgleichen Sprachrohr der Gott preisenden Natur macht. Ganz anders die Aufbruchsszene bei Busch: „Als der Sommer kam, als die Welt eng wurde von Laub und Blüthen, machte ich mir ein Netz und jagte nach Schmetterlingen. […] Eines Sonntagmorgens, während die andern zur Messe waren, macht ich mich hübsch und ging aus der Hinterthür, das Netz in der Hand, den Frack voller Pflaumen“ (WB 5). Keine gottselige, sondern eine denkbar gottferne Form des Müßiggangs also ist es, die Peters Aufbruch motiviert: Nicht mit einem offensiven Bekenntnis gegenüber einem allzu irdischen Vater auf den Lippen bricht er auf, sondern verstohlen durch die Hintertür eines ohnehin leeren Hauses. Und den himmlischen Vater lässt Buschs Taugenichts nicht etwa „walten“ (HKA 86), sondern vielmehr einen guten Mann sein. Der Topos der geschwänzten Messe alludiert ein weiteres literarisches Muster über die von der Sekundärliteratur bislang herausgearbeiteten hinaus: nämlich das der Heiligenlegende. Eine Reise, die so beginnt, ist in der Legende stets eine Aberration, die mit der Konversion hin
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zum rechten Weg endet. Und noch eine literarische Reminiszenz stützt die Prognose des Lesers, dass sich prekäre Situationen ergeben werden, und möglicherweise solche, in denen sich der Freiheitsanspruch des Helden an verfahrenen Liebeskonstellationen wundstößt: Jener Sonntagsstaat, den Peter profanem Treiben widmet, besteht aus blauem Frack und gelben Hosen.13 Die Räume jener weiten Welt, die Eichendorffs Taugenichts durchmisst, sind vereinzelt mit topografischen und chronologischen Eckdaten durchsetzt. Sie erden den fiktionalen Raum in einem Mitteleuropa der 1820er Jahre14 und sorgen so beim Leser für eine Grundfolie der Vertrautheit, auf der sich einzelne märchenhafte Handlungselemente dann umso wirkungsvoller entfalten können. Und sie sorgen dafür, dass die semantische Besetzung sowohl des Gesamtraums als Raum der Gottsuche als auch einzelner Stationen als Orten der Anfechtung oder der Heilserwartung stets unaufdringlich vonstatten geht. Auch die von Peter durchstreifte Welt spannt von Anfang an eine Grundfolie der Vertrautheit auf. Hier aber liegt dies nicht an historischen Realien, die nur sparsam eingestreut werden und auf eine Zeit um die Wende zum 19. Jahrhundert hindeuten: Peter trägt „Nankinghose“ (WB 3), man trinkt „Cichorienkaffee“ (WB 17), und als Schauplatz wird von „einem christlichen Reiche deutscher Nation“ (WB 69) gesprochen. Vielmehr ordnen sich diese Realien einem als fiktional markierten Erzählraum ein, der – diametral anders als bei Eichendorff – Vertrautheit beim Leser dadurch stiftet, dass er gänzlich Literaturzitat ist: ein Kulissenraum aus Märchenelementen, durchlaufen von einem Erzähler, dem vieles Märchennotorische darin vital neu ist, was dem Leser allenfalls als Rekombination bekannter Ding-Requisiten, Motive, Topoi oder ganzer Teilhandlungen neu sein kann. Und die Welt ist keine „weite“, sondern erklärtermaßen „eng“. Dem entspricht, dass ihre Naturphänomene oft metaphorisch verdinglicht daherkommen: Eine graue Wolke steht am Horizont „wie ein Sack voll Bohnen“ (WB 30), der Mond gleicht „dem Eierkuchen in der Pfanne“ (WB 35), und es donnert, „als wäre das Weltall von der Treppe gefallen“ (WB 31). In einem Welt-Raum aber, der als möblierter Innenraum erscheint, da ist (man denke an den entgötterten Ding-Kosmos, in dem das Märchen der Großmutter in Büchners Woyzeck die Tragödie vom Verlust kindlichen Urvertrauens situiert) für christliche Transzendenz kein Platz. Wohl aber für Dämonisches: Wo Eichendorffs Taugenichts situationenweise gleichsam traumwandlerisch von Gott spricht – nämlich stets in redensartlichen Phrasen, die dem Leser aber gleichwohl eine Präsenz Gottes im Text be- wie erzeugen – da phrasiert Peter intuitiv immer dann vom „Teufel“ oder „Satan“, wenn ihm eine Figuration Lucindes –––––––— 13
14
Vgl. u. a. WB 3 und WB 5. Dass Buschs Held im Werther-Look unterwegs ist, würdigt die Sekundärliteratur bislang ebenso wenig wie die Tatsache, dass die von ihm ersehnte, aber vergebene Frau den literarisch vorgeprägten Namen „Lucinde“ trägt. Vgl. die Verweise auf den „seeligen“ E. T. A. Hoffmann (HKA 162), der 1822 starb, sowie auf Carl Maria von Webers 1821 uraufgeführte Oper Der Freischütz (HKA 190).
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erscheint. Bei Busch ist der Begriff „Welt“ im manichäischen Sinne zu verstehen, als der Ort, den der „Fürst[.] dieser Welt“ (WB 82) regiert – doch hat der nicht einmal mehr, wie noch im Manichäismus, einen außerweltlichen Widerpart zu fürchten. Denn auch außerhalb des Diesseits ist ja nichts weiter nachgewiesen als ein gehörnter Stiefelknecht. Und wer auch immer es ist, der die Hexe vom Himmel hoch mit einem Blitz bewirft, der muss sich von ihr verspotten lassen: „Ätsch! Fehlgeschossen! Hier saß ich“ (WB 31). Der Begriff „Gott“ taucht binnen 95 Textseiten nur einmal auf, und zwar in der Figurenrede eines Bauern, der einen Pferdehandel feiert: Als ihm Peter – arglos und rein rhetorisch – beispringt, dieser Handel sei doch gewiss ehrlich abgelaufen, da ist der Bauer bestürzt: „Gott erhalte jedem ehrlichen Christenmenschen seinen gesunden Verstand. Seh ich wirklich so dumm aus?“ Sogleich versöhnt gibt er sich dann aber, als Peter hieraus erkennt, es mit einem „Halunken“ zu tun zu haben: „Gelt ja? Ich bin ein Teufelskerl“ (WB 13 f.) . Eine Welt, in der „Christenmensch“ und „Teufelskerl“ in eins fallen und ein vormaliger Mönch die amoralischste Gestalt unter vielen ist: Wiederum bemüht Busch hier einen Märchen-Topos, den der „verkehrten Welt“ nämlich. Den allerdings bezieht er – anders als viele Märchen – nicht auf die physische und physikalische Welt der Dinge, sondern ausschließlich auf die Sphäre jener Ethik, die der naive Held hartnäckig für gültig hält. Was stattdessen gilt in dieser Welt, das macht ein unscheinbares Wort deutlich. „Ein verdächtiges Vieh!“ äußert Peter misstrauisch, als er Lucinde erstmals – noch ohne sie als Mädchen zu kennen – in Gestalt einer gekrönten Schlange sieht, die ihm der Jäger-Nazi hinhält. „‚Es beißt wohl auch?‘ ‚Mich nie. Gelt, Cindili!‘ sprach er“ (WB 7). Der assonantische Anspielungswert der Interjektion „gelt“ darf als umso bewusster eingesetzt gelten, als diese dialektale Wendung dem süddeutschen (katholischen!) Raum entspringt und in Buschs Heimat so ungebräuchlich war wie ist.15 Ausgerechnet zwei zentrale Interessensgegenstände romantischer Philologie also – das Volksmärchen und die Volkssprache – zieht Busch als Kronzeugen heran für ein Naturmodell, das radikal enttranszendentalisiert, dafür aber monetarisiert ist. Aus der Volkspoesie, die im romantischen Verständnis ein vergangenes Goldenes Zeitalter naturwüchsiger, frommer Kunst nachklingen lässt, zitiert Busch just den Gold ausscheidenden Esel und die Gold hortende gekrönte Schlange herbei (die unter ihrem niederdeutschen Namen „Snakenkönig“ auch in Buschs Märchensammlung Ut ôler Welt ihre Auftritte hat). Über dämonische Gestalten in den Kunstmärchen Brentanos schreibt Joseph von Eichendorff: „[…] alle diese, an sich heidnischen und untereinander feindlichen Kräfte sind zu heiterer, harmloser Schönheit bewältigt durch eine gewaltigere Kraft, durch eben jenes religiöse Grundgefühl, das […] wie der unsichtbare Hauch eines Sonntagsmorgens das Ganze durchweht und von einem Unterschiede zwischen Diesseits und Jenseits nichts mehr –––––––— 15
In der privaten Umgangssprache seiner Briefkorrespondenz gebrauchte Busch sie ausschließlich im Kontakt mit Freunden, die aus Süddeutschland stammten oder dort lebten.
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weiß“.16 Just dieser entscheidenden vertikalen Bindung und Harmonisierung ist Buschs Märchenwelt entledigt: Naturwüchsig ist hier einzig der horizontale und auf der darwinistischen Feindschaft der Kräfte basierende Kreislauf des Geldes. Und an dieser Stelle erhalten auch die zeithistorischen Realien ihre Funktion: Wären Nankinghose und Zichorienkaffee nicht, dann könnte der Leser die im Märchenraum geschilderten Zustände als unhistorische begreifen. Die Realien machen deutlich, dass sie vielmehr als überhistorisch zu werten sind: Sie sind Ausdruck keiner Stufe in welcher kulturhistorischen Finalität auch immer – keiner romantisch gedachten Trias, keiner aufklärerisch gedachten Aszendenz –, sondern stehen im Kreislauf des Immergleichen. Und auch für diesen und nicht nur fürs Hexische stehen ja konventionell sowohl die Schlange als auch der Schmetterling. Das selbe Schicksal wie die romantische Naturkonzeption ereilt in Buschs Text auch den Komplex der „hohen Minne“. Den Taugenichts, Eichendorffs „neuen Troubadour“, bewahrt seine kindliche Keuschheit vor dem Einsickern sinnlicher Versuchung in die Minne, weshalb unangefochten auch sie zur vertikalen Bindung der Figur an ihre Erlösungshoffnung beitragen kann. Wo aber aus der „schönen gnädigen Frau“ ein „Blitzmädel“ wird und aus dem gottgefälligen Sang als Mittel zur Überbrückung der Distanz die klingende Münze, da hat auch die unerfüllte Liebesbeziehung ihren religiösen Aspekt verloren. Buschs Held erreicht die Nähe der Geliebten bereits nach zwei Dritteln des Textes. Doch gewinnt diese Nähe – erreicht auf monetärem Wege und zum Schaden des Mannes – einen busch-typischen Hautgout: Der Name Lucindes, des „Blitzmädels“, konnotiert eben nicht nur dessen luziferische Lichtnatur, sondern auch Friedrich Schlegels Skandalroman. Und mithin nicht nur dessen exhibitionistische Feier des Eros, sondern durchaus auch sein Postulat einer Neulegitimation der bürgerlichen Institution „Ehe“ durch die reine Liebe als Motiv, sie einzugehen. Dass Peter seiner Angebeteten zu nahe kommt, büßt er mit Knechtschaft in einem Hundekörper. Das ist nicht unkompatibel mit Eichendorffs Ansicht, dass „eine dem ‚Daimon‘, ihrer inneren Neigung und Begehrlichkeit folgende Subjektivität zur Verzerrung, ja zur Auflösung der Persönlichkeit führen müsse“.17 Doch hinzu fügt sich, dass Busch diesen „Daimon“ auch in der Ehe walten sah. Denn wie Ulrich Mihr plausibel entwickelt hat, galt zwar jedwedes menschliche Heischen nach Triebabfuhr dem protestantisch grundierten Schopenhauerianer Busch als wenn auch sündhaft, so doch naturgegeben – doch sah er Versuche, dieses Heischen durch kulturelle Überformung zu
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Joseph von Eichendorff: Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald u. a. Band 6: Schriften zur Literaturgeschichte. Hg. von Hartwig Schulz. Frankfurt am Main 1990. S. 61–281. Hier S. 188. Andreas Döhler: Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Bernd Leistner (Hg.): Deutsche Erzählprosa aus der frühen Restaurationszeit. Studien zu ausgewählten Texten. Tübingen 1995. S. 204–232. Hier S. 217.
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legitimieren, als prinzipiell verlogen und verächtlich an. So auch die Domestikation des Sexualtriebs im geregelten Eheleben.18 Wo aber Gefahr ist, da wächst zumindest in diesem Text selbst bei Busch das Rettende. Während der Wochen seines Hundedaseins im und ums Hexenhaus nämlich, da Peter unter anderem als Pantoffelbote, Zughund und „Wärmflasche“ fungiert und so in die DingSphäre hinüberschnuppert, häufen sich im Text verdächtig jene Vokabeln, die bei Eichendorff Philistrosität anzeigen: Von „Behagen“ und „Gemütlichkeit“ ist die Rede, und es fällt gar der Satz: „So selig und zufrieden war ich noch nie“ (WB 72). Man könnte auch so sagen: Da blickt just derselbe, dessen Schifflein am Grunde liegt, zugleich behaglich ins Feld hinaus. Der Moment, in dem Peter als Pudel in den Spiegel blickt, ist einer der ganz wenigen im Text, in dem das Erzählpräteritum ins Präsens umkippt und somit Erzähl- und erzählte Gegenwart zur Deckung kommen: „Ich – muß ich mich noch so nennen, nach Dem, was vorgegangen? Oder darf ich Er sagen zu mir? Leider nein! So gern ich auch möchte“ (WB 64). Hier deutet sich bereits an, worin Peter am Ende des Textes seinen modus vivendi finden wird: in dem masochistischen Glück, die selbstverschuldete Auslöschung seines Ich – mit wie viel Scham sie auch einhergeht – so weit zu treiben wie möglich. Bildet der Taugenichts als in Eichendorffs Werk eher rare Ausnahme einen Figurentypus, den glückliche Winde hindurchsegeln lassen zwischen der bürgerlichen Skylla und der künstlerischen Charybdis menschlicher Selbstüberschätzung (nämlich philiströser Selbstgenügsamkeit hier, hybridem Genialitätsanspruch da), so führt Peter diese Gegensätze am Schluss auf eigene Weise zusammen. Da bleibt ihm, wo dem Taugenichts ein roter Faden durch Gottes Führung erkennbar wird, nur die Erkenntnis, dass nicht nur auf keinen Gott als Weglenker Verlass ist, sondern zudem weder auf zukunftsgerichtete Hoffnungen noch auf tradierte moralische Prinzipien. Und just hier findet auch endlich ein letztes wichtiges Taugenichts-Thema seinen Platz bei Busch: die Kunst. In sein Vaterhaus zurückgekehrt, konvertiert Peter, der einstige Taugenichts, zum Taugewas: „Ich wollte arbeiten; ich wollte geduldig ausessen, was ich mir eingebrockt hatte“ (WB 92). Die Dienstbarkeit, in die der freiwillig namenlos Gewordene sich begibt, ist die eines Flickschneiders, der die Zweckmäßigkeit verschlissener Gewebe wiederherstellt. „Durch reichhaltige Übung steigerte sich meine Geschicklichkeit nicht bloß in der Wiederherstellung des Alten und Verfallenen, sondern ich schuf auch Neues nach eigener Maßgabe aus dem Vollen und Ganzen heraus. […] Und so leb ich denn allhier als ein stilles, geduldetes, nutzbares Haustier“ (WB 92 f.). Die Schlussvignette, die Busch dem Text hintanstellt, zeigt Stopfkissen und Tintenfass einträchtig nebeneinander. Gemeinsam also leiten sie in die Erzählgegenwart über: die schriftliche Beichte und eine Handwerkskunst, die aus dem Defizitären, dem Schadhaften entsteht und die zugleich selbstgenügsame Arbeit ist. Nicht eine freie, transzendental beseelte Außenwelt lockt hier –––––––— 18
Vgl. Ulrich Mihr: Wilhelm Busch: Der Protestant, der trotzdem lacht. Philosophischer Protestantismus als Grundlage des literarischen Werks. Tübingen 1983. S. 47–60.
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mit „unausgeschöpften Erlebnismöglichkeiten“19 als gebotener Fluchtraum vor der Gefahr philiströser Selbstvergottung – vielmehr gestattet es der Innenraum radikaler Selbstbescheidung als ein Freiraum, der beengenden, materialistischen Außenwelt zu entfliehen. Ob Peters „Asketenschlüssel“ auch zur „Ausgangsthür“ des Lebens passt, bleibt dahingestellt – doch zumindest schließt er dem Asketen einen Beichtstuhl aus geduldigem Papier auf. Die Lebensreise Wilhelm Meisters erreicht ihr vorläufiges Ziel, als Wilhelm einen hinreichenden Grad von Charakterbildung entwickelt hat, um retrospektiv zu erkennen, dass sein bisheriger Weg in didaktischer Absicht fremdgesteuert gewesen ist und ihm Lehren auf einen künftigen Weg mitgibt, dessen Ziel er selbst zu finden hat. Dieses hehre „Telos“ begegnet in Eichendorffs Taugenichts auf parodistischer Schwundstufe, als dem Helden aufgedeckt wird, dass er Held eines Romans gewesen sei: jedoch eines Romans, der ihm, dem Märchentypus, keine Charakterentwicklung als Pensum auferlegt – sondern ihm vielmehr „die Einsicht in die Entbehrlichkeit eines individuellen Orientierungsmodells“20 gewährt. Wilhelm Buschs Der Schmetterling nutzt seinen Prätext Taugenichts – hinter den bei Eichendorff erreichten Grad an Ironie zurückfallend – als Folie oder besser: als Symmetrieachse, die ihm ein bereits durch sie ironisch gebrochenes Erzählmuster spiegelverkehrt neu zu nutzen gestattet: den Bildungs- und Künstlerroman nämlich. Busch skizziert einen antiidealistischen Bildungsroman: den Roman eines Künstlers, der jenen Platz in der Welt, an dem Pflicht und Neigung für ihn in eins fallen, nicht dadurch findet, dass er seine Individualität ausbaut, sondern dadurch, dass er sie auslöscht. „Da heißt’s ritschratsch! und damit gut“ (WB 84), sagt der Bauer, auf dessen Karren Peter heimwärts und der Amputation seines verletzten Fußes entgegenfährt. Die Phrase „und damit gut!“ wiederholt er noch zweimal. Nicht „alles, alles“ löst sich also in Wohlgefallen auf – doch ist alle Defizienz auch noch zu etwas gut. Selbst eine neu erworbene, an Eichendorffs Helden erinnernde musikalische Kunstfertigkeit, die im „Flöten“ und „Pfeifen“ nämlich, verdankt Peter jener Lücke, die sein ausgeschlagener Zahn hinterlassen hat. Jener attributive Gegenstand des Kontakts zum Numinosen, der bei Busch die Geige des Taugenichts substituiert, ist in Peters Vorleben das Einzige gewesen, das er durch freiwillige Arbeit hervorgebracht hat: sein Schmetterlingsnetz, ein Mittel also, um sich der Welt zu bemeistern. Gereift stellt Peter fest, dass eine Textur dies nicht vermag: „jedes Warum […] ist nur der Zipfel eines Fadens, der in den dicken Knäuel der Unendlichkeit ausläuft“ (WB 1). In seinen Bildergeschichten verhandelt Busch zeitgenössische Fragestellungen auf originäre Weise, als zwar nicht Begründer einer neuen Kunst, aber als entscheidender Ausweiter ihres Instrumentariums. In seiner Malerei wie in seiner Textliteratur wirkt er auf den ersten Blick wenig originell. Tatsächlich aber ist er es auf ganz eigene Weise: Hartnäckig –––––––— 19
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Eberhard Lämmert: Eichendorffs Wandel unter den Deutschen. In: Hans Steffen: Die deutsche Romantik. Göttingen 1967. S. 219–252. Hier S. 224. Döhler: Eichendorff, Taugenichts (wie Anm. 17). S. 222.
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unbeeinflussbar durch kurrente ästhetische Strömungen (in der Malerei: durch Impressionismus oder Jugendstil, im Erzählerischen: durch den Realismus) rekombiniert er Zeichenarsenale und Verfahren längst überlebter Strömungen und lässt sie so die Fragen seiner Gegenwart aufwerfen, denen sie in Reinkultur nicht gerecht werden könnten. Im Schmetterling reflektiert er sogar noch den möglichen Vorwurf der Epigonalität mit – das Bild vom ausbessernden Flickschneider nimmt ihn selbstironisch vorweg und wehrt ihn zugleich ab. In einem Brief von 1899 nennt Busch die 1820er Jahre – das Jahrzehnt des Taugenichts also – eine Zeit, „als sich der unruhige Kranke (die Menschheit) von der rationalistischen Seite auf die mystische, romantische, mittelalterliche, katholische geworfen hatte.“21 Kaum schonungsloser als in diesem radikal antifinalistischen, zyklischen Bild ließe sich Buschs eingangs erwähnte Aporie zwischen zwei konträren weltanschaulichen Optimismen ausdrücken – dem der Aufklärung und des Idealismus einerseits, dem der transzendentalen Erlösungshoffnung andererseits. Dem Erkenntnisskeptiker, der am Vorabend der Jahrhundertwende auf sie zurückblickt, erscheinen sie als zwei Haltungen desselben bettlägerigen Körpers, die diesem stets nur durch ihr Abwechseln Linderung verschaffen können – und niemals endgültig. Im Schmetterling verwebt Busch flickschneidernd ein Erzählmuster aus der rationalistischen mit einem aus der romantischen Schule – so dass beide einander wechselseitig destruieren und in Frage stellen. Mithin verhandelt er auch hier anhand von Techniken, mit denen er seiner Zeit hinterherzuhinken scheint, ein Thema, mit dem er seiner Zeit voraus ist: die Identitätskrise des Subjekts im 20. Jahrhundert.
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Wilhelm Busch: [Brief 1230. An Grete Meyer.] In: Ders.: Sämtliche Briefe. Kommentierte Ausgabe in zwei Bänden. Band II: Briefe 1893 bis 1908. Hg. von Friedrich Bohne. Hannover 1969. S. 144.
Boris Hoge
Das zerbrochene Ringlein Eduard von Keyserling und Joseph von Eichendorff
I. „Eichendorffs liebenswürdiger Taugenichts“1 ist „nicht mehr und nicht weniger als eine Verkörperung des deutschen Gemüths, die liebenswürdige Type [...] einer ganzen Nation“, schreibt Theodor Fontane an Paul Heyse.2 Georg Brandes bezeichnet Eichendorffs berühmtesten Protagonisten als den „drolligste[n], unbeholfenste[n] und kindlichste[n] Bursch[en], den man sich denken kann“.3 Hermann Hesse betont „die heitere, lebensfördernde Magie“ Eichendorffscher Prosa4, während für Thomas Mann die Taugenichts-Novelle nichts ist „als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, [...] törichte Seligkeit, so daß einem die Ohren klingen und der Kopf summt vor poetischer Verzauberung und Verwirrung“.5 Hugo von Hofmannsthal schließlich hebt in Bezug auf Eichendorff „das Beglänzte, Traumüberhangene, das Schweifende, mit Lust Unmündige“ hervor, das allerdings „ein Maß in sich haben muß“, da es sonst „leer und abstoßend“ wird.6 Was die meisten loben, Hofmannsthal bereits mit vorsichtiger Skepsis unterlegt, verschärft sich bei Ricarda Huch dann zu offener Ablehnung:
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Theodor Fontane: Willibald Alexis [1872]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Walter Keitel. Aufsätze. Kritiken. Erinnerungen. 1. Bd.: Aufsätze und Aufzeichnungen. Hg. von Jürgen Kolbe. München 1969. S. 407– 462. Hier S. 437. Theodor Fontane: Brief an Paul Heyse, 6. Januar 1857. In: Ders.: Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Abteilung IV: Briefe. Bd. 1: 1833–1860. Hg. von Otto Drude und Helmuth Nürnberger. München 1976. S. 554–556. Hier S. 555. Georg Brandes: Die romantische Schule in Deutschland. Übersetzt und eingeleitet von Adolf Strodtmann. Einzig autorisierte deutsche Ausgabe. Neunte durchgesehene Auflage. Mit Generalregister. Berlin 1909. S. 239. Hermann Hesse: Einleitung. In: Eichendorff. Gedichte und Novellen. Ausgewählt und eingeleitet von Hermann Hesse. Zürich 1945. S. 7–12. Hier S. 11. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen [1918]. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. XII: Reden und Aufsätze 4. Frankfurt am Main 1990. S. 9–589. Hier S. 376. Hugo von Hofmannsthal: Deutsche Erzähler [1912]. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bd. 8: Reden und Aufsätze I. 1891–1913. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main 1979. S. 425–431. Hier S. 426.
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 79–88.
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Boris Hoge Zum eigentlichen ‚Verdichten‘ fehlte es ihm an Geist und Tiefe; er begnügte sich damit, eine romantische Stimmung, wie sie eben kam, in sinnigen, reizvollen Tönen festzuhalten. / Weniger einmütige und in dichterischer Hinsicht weniger oberflächliche Naturen fanden ihre Ausdrucksmittel nicht so leicht und strebten über die Grenzen der gegebenen Poesie hinaus.7
Den zitierten Kritikern ist, mag ihr Urteil nun positiv oder negativ ausfallen, eines gemein: Sie alle haben, indem sie das Einheitsstiftende, Harmonisch-Idyllische und Gefühlsbeladene oder -überladene hervorheben, Teil an einer Vereinseitigung, Vereinfachung und Verharmlosung Eichendorffs, welche sich bis heute, wenn auch nicht gerade in der EichendorffForschung, so doch in einer breiteren Öffentlichkeit, hartnäckig fortzusetzen pflegt. So werben Verlage nach wie vor für die „Ikone des ‚romantischen‘ Deutschen“, indem sie das „musisch-freie[ ] Leben“ und die „urdeutsche[ ] Italiensehnsucht“ jenes „träumerischfidel[en]“ Taugenichts8 anpreisen oder den Text insgesamt als „ein idyllisches Manifest heiterer Lebensoffenheit und eine beinahe märchenhafte Novelle vom Einklang des Menschen mit sich selbst und der Natur“9 bezeichnen. Eichendorff wird unterschätzt. Dabei ist es ganz gleich, ob man seine Texte als idyllische Fluchtpunkte hochschätzt oder als einer zerrissenen modernen oder post-modernen Gegenwart mit Problemen ganz anderer Qualität unangemessen verwirft. Doch gehen wir zurück zur vorletzten Jahrhundertwende und werfen einen Blick auf einen Dichter, welcher zweifellos aus dem besagten Stimmen-Einklang herausragt, jedoch bislang kaum in einem romantischen Kontext genannt worden ist: Eduard von Keyserling (1855–1918). Seit Thomas Manns folgenreichem Nachruf aus dem Jahre 191810 wurde Keyserling nicht selten als der „Fontane in Moll“11 in enge Beziehung zu seinem vermeintlichen märkischen Vorbild und Pendant gesetzt.12 Als Leser und bemerkenswerter Rezipient Eichendorffs indessen wurde er bislang, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnt.13 Einzig –––––––— 7
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Ricarda Huch: Die Romantik [1899/1902]. In: Dies.: Gesammelte Werke. Bd. 6: Literaturgeschichte und Literaturkritik. Hg. von Wilhelm Emrich. Köln/Berlin 1969. S. 17–646. Hier S. 560. http://www.reclam.de/detail/978-3-15-010640-2. (Abgerufen am 29.8.2008.) http://www.parlandoverlag.de. (Abgerufen am 3.9.2008.) Thomas Mann: Zum Tode Eduard Keyserlings. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. X: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt am Main 1990. S. 413–417. Die Wendung geht laut Gerhart Haug auf Josef Hofmiller zurück. Vgl. Gerhart Haug: Ein Fontane in Moll. Zum Schaffen Eduard von Keyserlings. In: Welt und Wort 13 (1958). S. 331 f. Zuletzt wiederaufgegriffen wurde sie von Tilmann Krause in: Die Welt (9.1.1999). Als Beispiele seien hier genannt: Richard A. Koc: The German Gesellschaftsroman at the turn of the century. A comparison of the works of Theodor Fontane and Eduard von Keyserling. Bern/Frankfurt am Main 1982 (Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 542) sowie Gabriele Radecke: Das Motiv des Duells bei Theodor Fontane und Eduard von Keyserling. In: „Die Décadence ist da“: Theodor Fontane und die Literatur der Jahrhundertwende. Beiträge zur Frühjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft vom 24. bis 26. Mai 2001 in München. Hg. von Gabriele Radecke. Würzburg 2002. S. 61–77. S. u. a. Rainer Gruenter: Schlossgeschichten Eduard von Keyserlings. In: Eduard von Keyserling: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt am Main 1973. S. VII–XX. Hier S. X; Angela Sendlinger: Lebenspathos und „Décadence“ um 1900: Studien zur Dialektik der Décadence und der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyser-
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Maria-Stephanie Kemmerling hat, zwei Jahrzehnte ist es nun her, beiden Autoren eine vergleichende Untersuchung gewidmet, in deren Zentrum allerdings eher biographische Parallelen als rezeptionsgeschichtliche Aspekte stehen.14 Ihr Aufsatz ist dabei, dies ist leider zu konstatieren, in der Forschung nicht sehr folgenreich gewesen und wurde nicht zum Ausgangspunkt einer schon damals längst gebotenen literarhistorischen Neuverortung des baltischen Dichters. Keyserling hat Fontane gelesen, kein Zweifel. Doch er hat, was mir wichtiger erscheint, auch die Romantiker gelesen und allen voran Joseph von Eichendorff. Außerliterarische Äußerungen werden sich bei Keyserling dazu schwerlich finden: Seine Schwester hat bekanntlich auf Wunsch des Bruders den gesamten Nachlass gewissenhaft vernichtet. Doch seine Eichendorff-Lektüre, welche sich keineswegs auf ein paar Gedichte, den Taugenichts oder das Marmorbild beschränkt, sondern sich auf das Gesamtwerk des Romantikers erstreckt, findet wie keine andere Niederschlag in seinen Romanen. Neben einem wörtlichen Zitat sind die sprachlichen, motivischen und thematischen Spuren derart zahlreich und evident, dass nicht mehr von zufälligen Parallelen, sondern von gezielten Anspielungen und Bezugnahmen gesprochen werden muss. Diese nun weisen Keyserling aus als äußerst sensiblen wie scharfsinnigen Eichendorff-Leser und -Interpreten, welcher die Modernität des Romantikers in seiner Tragweite erfasst hat und sich damit von den gängigen Eichendorff-Bildern seiner Zeitgenossen und Nachfahren in bemerkenswerter Weise absetzt. Eine Beschäftigung mit dem Eichendorff-Interpreten Keyserling verspricht daher nicht nur Aufschluss über dessen eigenes Werk. Sie stellt überdies einen Beitrag dar zur Wirkungsgeschichte Eichendorffs, und nicht zuletzt vermag sie zu einer wiederholten, unter vielleicht neuen Vorzeichen stehenden Lektüre der Eichendorff’schen Originaltexte zu ermutigen. Im Folgenden nun gilt es, Keyserlings Sicht auf Eichendorff nachzuspüren. Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt dabei auf dem Roman Fürstinnen. Zur weiteren Festigung der gewonnenen Ergebnisse sollen jedoch abschließend einige wenige Zitate auch aus anderen Texten Keyserlings sowie die betreffenden Parallelstellen bei Eichendorff aufgeführt und einander gegenübergestellt werden.
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14
lings und Georg Simmels. Frankfurt am Main/Berlin/New York u. a. 1994. S. 214 (Reihe I, Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1441); Franziska Ehinger: Gesang und Stimme im Erzählwerk von Gottfried Keller, Eduard von Keyserling und Thomas Mann. Würzburg 2004. S. 80. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft. Bd. 516.) Maria-Stephanie Kemmerling: Die Momente des „Zu spät“ – Eichendorff und Eduard von Keyserling. In: Eichendorffs Modernität. Akten des internationalen Eichendorff-Symposions, 6.–8. Oktober 1988. Hg. von Michael Kessler und Helmut Koopmann. Tübingen 1989. S. 53–62.
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II. In dem 1915 erschienenen Roman Fürstinnen15 finden sich vier Verse eines EichendorffGedichtes: In einem kühlen Grunde Da rauscht ein Mühlenrad, Mein Liebchen ist verschwunden, Das dort gewohnet hat. (Fü. 790)
Auf den ersten Blick scheint das von Keyserling anzitierte Gedicht nicht eben spektakulär: Eine Liebe ist zu Ende, die Geliebte verschwunden; zurück bleibt der verlassene Geliebte. Dennoch lässt Keyserling die Verse an exponierter Stelle, genau in der Mitte des Romans erklingen. In der Tat bildet es den Dreh- und Angelpunkt, das eigentliche Zentrum, von dem aus sich die inhaltliche wie motivische Struktur des Gesamttextes ergibt. Am Ende, so muss es sein, scheitern alle Beziehungen im Roman: die zwischen den Adoleszenten Prinzessin Marie und Felix von Dühnen sowie den Alternden Fürstin Adelheid und Graf Streith. Das Scheitern jedoch, obschon von Beginn an angelegt, nimmt genau mit dem Gedicht seinen unumkehrbaren Lauf. Die Gründe und Umstände lassen dabei aufmerken. Nur vordergründig nämlich sind es die gesellschaftlichen Hindernisse (eine Prinzessin bzw. Fürstin ehelicht keinen Grafen); es ist die übersteigerte Ich-Sucht der Beteiligten, von und aus der sie sich nicht befreien können und welche ein Zusammenkommen verunmöglicht: Für Felix ist Prinzessin Marie schließlich nicht mehr als ein Ferien-Flirt, während sie ihrerseits nicht nur Liebesbriefe an diesen schreibt, welche sie freilich nicht absendet, sondern im Schreibtisch sorgfältig verschwinden lässt, sondern zudem seine Antwortbriefe an sie in narzisstischer und autoerotischer Manier gleich mitverfasst (vgl. Fü. 839). Graf Streith wendet sich entsprechend der im Wald lebenden, im Text selbst als „Melusine“ (Fü. 825) bezeichneten achtzehnjährigen Britta von Syrman zu und von der eben nicht mehr jungen Fürstin Adelheid ab. Das unabänderliche Bei-sich-selbst-Sein als Grund der Unmöglichkeit jeder zwischenmenschlichen Beziehung gelangt bereits kurz vor dem Lied-Zitat zur Darstellung, während des Abends nämlich, welchen die Adligen gemeinsam im Freien bei Nachtigallengesang verbringen. Die Reaktion der Gesellschaft auf das Einsetzen des Vogelgesangs ist von höchster Emotionalität und Erschütterung geprägt: Man zeigt sich tief bewegt, nimmt „weiche, nachdenkliche Stellungen an“, bedeckt „die Augen mit der Hand“ (Fü. 787), beginnt zu weinen (vgl. Fü. 788) oder wird einfach „ohnmächtig“ (Fü. 790). Der Gesang spiegelt dabei die psychische Konstitution der Anwesenden wider. Zwar erklingt ein ganzer Chor von Stimmen, doch, so heißt es im Text, „jede dieser vielen Stimmen behielt doch ihre Einsamkeit, erzählte für sich ihre kleine leidenschaftliche Geschichte“ (Fü. 787 f.). Es geht um die Grunderfahrung Einsamkeit, an welche die Anwesenden hier schmerzlich erinnert werden, deren Gründe im alleinigen, subjektivistischen Erzählen der eigenen, „kleine[n]“, mithin belanglosen und dennoch absolut gesetzten Lebensgeschichte zu finden sind. –––––––— 15
Eduard von Keyserling: Fürstinnen. In: Ders.: Harmonie. Romane und Erzählungen. Mit einem Nachwort des Herausgebers Reinhard Bröker. München 1998. S. 725–855. (Fortan: Fü mit Seitenangabe im Text.)
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Das wenig später einsetzende Eichendorff-Lied treibt diesen Sachverhalt auf die Spitze: Geradezu unheimlich mutet es an, wenn nach dem allgemeinen Aufbruch allein noch die Stimmen der Pfarrerstöchter „vom Feldwege her“ zu hören sind, welche, den Gesang der Nachtigallen aufgreifend, Eichendorffs „Volkslied“16 „in die Mainacht hinaussingen“ (Fü. 790) und damit den verhängnisvollen Fortgang der Geschichte vorwegnehmen. Denn ihr Gesang zeugt von einem Mehrwissen, welches ihnen als relativ unbeteiligte Nebenfiguren eigentlich nicht zukommt. Zwar handelt es sich um die Töchter des Pfarrers, weshalb ihr Gesang als Warnung an die Adresse der sündhaften und egozentrischen Gemeindeglieder verstanden werden kann. Darüber hinaus jedoch scheint es, als spräche aus ihnen eine im Volkslied enthaltene, überindividuelle und stets gültige Wahrheit der Einsamkeit des Einzelnen, seines Gefangenseins in sich selbst. Gerade dadurch, dass die Pfarrerstöchter hier – anders offenbar als die Nachtigallen – das Lied ohne jede Anteilnahme singen und so zum entpersonalisierten Sprachrohr des Menschseins und seines Vereinzeltseins selbst werden, erhält diese Szene eine bedrückende Schwere und nimmt nicht umsonst die zentrale Stellung innerhalb des Romans ein. Das Hauptthema desselben – die menschliche Isolation und Ohnmacht – ist damit benannt und wird in der Folge anhand der die Handlung bestimmenden Liebeskonstellationen nur mehr exemplifiziert. An dieser Stelle nun lassen sich Aussagen treffen über Keyserlings Interpretation des Gedichtes, das er nicht widerlegt, von dem er sich nicht ironisch distanziert, sondern welches er als Quintessenz seines Romans zitiert. Es handelt sich bei den vier Versen um die erste Strophe des um 1810 entstandenen17, 1813 erstmals unter dem Titel Lied veröffentlichten und in den 1815 erschienenen Roman Ahnung und Gegenwart aufgenommenen Gedichts Das zerbrochene Ringlein18, welches nach Johannes Klein „eines der beliebtesten Lieder Eichendorffs“ darstellt19 und, so auch Claus-Ulrich Bielefeld, wohl wie „kein anderes deutsches Gedicht [...] so sehr Volksgut“20 geworden ist und demnach bereits zur erzählten Zeit von Fürstinnen als zeit- und personenübergreifende Wahrheit rezipiert worden sein dürfte. Es sei hier in voller Länge und originalem Wortlaut zitiert: –––––––— 16
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Claus-Ulrich Bielefeld: Joseph von Eichendorff: Lied. Eine Hymne des deutschen Bürgertums. In: Frankfurter Anthologie. 24. Bd. Gedichte und Interpretationen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt am Main 2001. S. 45– 48. Hier S. 46. Vgl. Wolfgang Kron: Zur Überlieferung und Entstehung von Eichendorffs Romanze ‚Das zerbrochene Ringlein‘. In: Ansichten zu Eichendorff. Beiträge der Forschung 1958 bis 1988. Für die Eichendorff-Gesellschaft hg. von Alfred Riemen. Sigmaringen 1988. S. 54–66. Hier S. 62. Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Band III. Hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Stuttgart 1984. S. 251 f. (fortan: HKA III mit Seitenangabe im Text); sowie Ders.: Das zerbrochene Ringlein. In: Ders.: Sämtliche Werke. HistorischKritische Ausgabe. Band I/1: Gedichte. Erster Teil. Hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Stuttgart 1993. S. 371. Johannes Klein: Geschichte der deutschen Lyrik. Von Luther bis zum Ausgang des zweiten Weltkrieges. Wiesbaden 1957. S. 465. Bielefeld: Eichendorff: Lied (wie Anm. 16). S. 46.
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Boris Hoge In einem kühlen Grunde Da geht ein Mühlenrad, Mein’ Liebste ist verschwunden, Die dort gewohnet hat. Sie hat mir Treu’ versprochen, Gab mir ein’n Ring dabei, Sie hat die Treu’ gebrochen, Mein Ringlein sprang entzwei. Ich möcht’ als Spielmann reisen Weit in die Welt hinaus, Und singen meine Weisen Und gehn von Haus zu Haus. Ich möcht’ als Reiter fliegen, Wohl in die blut’ge Schlacht, Um stille Feuer liegen Im Feld bei dunkler Nacht. Hör’ ich das Mühlrad gehen, Ich weiß nicht, was ich will – Ich möcht’ am liebsten sterben, Da wär’s auf einmal still.
Bereits die erste Strophe führt dem Leser den Grundkonflikt des Gedichts deutlich vor Augen: Das „Mühlrad“ in einem „kühlen Grunde“ dreht sich immerfort, während die Geliebte längst „verschwunden“ ist. Die zweite Strophe präzisiert diesen Sachverhalt: Die „Liebste“ ist die Treuebrecherin, das lyrische Ich der einsam Zurückgelassene. Schmerz und Einsamkeit versucht es in der dritten und vierten Strophe auf imaginierten Reisen und Kriegszügen zu entkommen, doch auch sie gewähren bestenfalls einen kurzen Rausch, ein vorübergehendes Überdecken des Leids. Schließlich bleibt es doch bei den eigenen, schmerzlichen Erfahrungen, wenn es, gleich den Nachtigallen in Fürstinnen, nur seine eigenen „Weisen“ singt oder in dunklen Nächten am Feuer liegt. Am Ende – dies zeigt die fünfte und letzte Strophe, indem sie an die erste anknüpft – vermag das Ich den Kreis qualvoller Erinnerungen nicht zu durchbrechen: Wieder und wieder hört es „das Mühlrad gehen“. Dabei jedoch dreht sich das Rad nicht nur in der äußeren Realität, sondern, indem es die Gedanken an Treuebruch und Einsamkeit stets von neuem aktualisiert, ebenso im Kopf des Ich.21 Es ist demnach ein inneres Mühlrad, welches nicht aufhört zu mahlen, ein innerer –––––––— 21
Darauf weist auch Bielefeld hin. Vgl. ebd. S. 47. Die Wendung vom „Mühlrad im Kopfe“ findet sich auch in Eichendorffs Roman Dichter und ihre Gesellen (1834), in Goethes Faust (1808) oder in Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814). Vgl. Joseph von Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Band IV. Text und Kommentar. Hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Tübingen 2001. S. 1–299. Hier S. 273; Johann Wolfgang von Goethe:
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Zirkel selbstzerstörerischen Leidens, in welchem das Ich gefangen ist. Das Motiv des Kreisens22 veranschaulicht somit das Gefangensein des einsamen, völlig auf sich selbst zurückgeworfenen Ich in Schmerz, Trauer, Sehnsucht und somit in sich selbst. Der Ring als Symbol der Verbundenheit und gleichsam der „Umschlossenheit“ zweier Liebender in Liebe und Treue ist zerbrochen und wird ersetzt durch den Kreis des eigenen Innern. Der Tod scheint der einzige Weg zu sein, das Ich von sich selbst zu befreien und die von ihm ersehnte Stille zu erlangen. Zum Kreis-Motiv tritt nun das nicht weniger bedeutsame und mit diesem in enger Verbindung stehende Motiv des „Grundes“ hinzu. Paola Meyer ist völlig zuzustimmen, wenn sie konstatiert, dass der Grund bei Eichendorff stets „ein Ort der Gefahr“23 sei, also alles andere als ein Ort harmonisch-erfüllter Liebe. Somit erscheint jedoch das vom lyrischen Ich beweinte Liebesglück an eben diesem Ort von vorn herein in einem überaus zweifelhaften Licht. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass das Gedicht zwar zuerst separat erschien, jedoch in Ahnung und Gegenwart seinen festen Platz hat und vermutlich auch in dessen Kontext entstanden ist.24 Tatsächlich ist hier die Geliebte, die einst in der Mühle wohnte, zu identifizieren: Es ist Erwine, welche im zweiten Kapitel des Romans den spät in der Nacht in einer „Waldmühle“ tief im „Tale“, im „Grunde“ also, um Unterkunft bittenden Grafen Friedrich in sein Schlafgemach führt. Diese Mühle nun mit seinen Gestalten ist in der Tat nicht gerade anheimelnd; vielmehr erweist sie sich als Ort der Unzucht und Gewalt, Verrohung und Sünde. Erwine, welche „nur im Hemde war und den Busen fast ganz bloß hatte“ (HKA III 15) präsentiert sich als lüstern und schamlos. Bemerkenswert ist nun die Tatsache, dass gerade sie, die Friedrich seit jener Nacht in fanatischer Liebe Verfallene, schließlich im zwanzigsten Kapitel nahe jener Mühle das Lied erklingen lässt. Die Mühle wird dabei innerhalb und außerhalb des Liedes zum Schauplatz des Wahnsinns und der Selbstbezogenheit. Denn Erwine imaginiert hier, verkleidet als Erwin, –––––––—
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Faust. Der Tragödie erster Teil. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 3: Dramatische Dichtungen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München 2000. S. 20–145. Hier S. 63, sowie Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Anmerkungen von Dagmar Walach. Stuttgart 1993. S. 22. Vgl. zu diesem Motiv bei Eichendorff auch Hans Jürg Lüthi: Dichtung und Dichter bei Joseph von Eichendorff. Bern/München 1966. S. 188, sowie den Aufsatz von Hartmut Marhold: Motiv und Struktur des Kreises in Eichendorffs Novelle ‚Das Marmorbildȧ. In: Aurora 47 (1987). S. 101–125. Paola Mayer: Die unheimliche Landschaft: Ein Aspekt von Eichendorffs lyrischer Dichtung. In: Athenäum 5 (1995). S. 169–196. Hier S. 185. Vgl. etwa das Gedicht Der stille Grund (1837). In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Band I/1. Gedichte. Erster Teil. Hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Stuttgart 1993. S. 361 f. Diese Frage ist, wie bei etlichen Liedeinlagen Eichendorffs, nicht mit Sicherheit zu klären. Vgl. Kron: Ringlein (wie Anm. 17). S. 64, sowie Oskar Seidlin: Der alte Garten. In: Ders.: Versuche über Eichendorff. Göttingen 1965. S. 74–98. Hier S. 74. Hermann Kunisch jedoch plädiert für eine Interpretation des Gedichts in Zusammenhang mit dem Roman. Vgl. Hermann Kunisch: Freiheit und Bann – Heimat und Fremde. In: Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie. Hg. von Paul Stöcklein. 2., ergänzte Auflage. Darmstadt 1966. S. 131–164. Hier S. 152.
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aus der Perspektive des Geliebten, Friedrichs also, eine Liebe, die es tatsächlich nie gegeben hat und macht sich selbstzerstörerisch zur Treuebrecherin, was ihre egozentrische Verirrung vollends zum Ausdruck bringt. Kurz darauf ist sie tot. Hermann Kunisch bemerkt sehr richtig, dass gerade im Kontext des Romans das Lied eine „fast gespenstische Färbung“ erhält.25 Die Mühle im „Grunde“, um zurück auf das Gedicht zu kommen, erweist sich also nicht als Ort der Liebe, sondern von vorn herein des wilden und egoistischen Begehrens sowie der Selbstzerstörung und korrespondiert somit mit den bisherigen Erläuterungen zum Motiv des Kreisens. Hierdurch jedoch erscheint nicht allein die Untreue der Geliebten im Gedicht, sondern womöglich in noch höherem Maße die psychische Konstitution des lyrischen Ich selbst als äußerst problematisch, wodurch die Frage nach den Gründen für die Trennung beider Liebender – sofern es einen Bund zwischen ihnen überhaupt je gegeben hat – neu aufgeworfen wird, da sie offenbar nicht so leicht zu beantworten ist, wie die zweite Strophe bei oberflächlicher Lektüre zunächst zu vermuten Anlass gibt. Diese Beobachtung jedoch verweist in frappierender Weise auf Fürstinnen. So lässt sich zwischen dem Zerbrochenen Ringlein, Ahnung und Gegenwart sowie Keyserlings Roman nicht nur eine starke thematische Nähe, sondern darüber hinaus ein enges Beziehungsgeflecht beobachten: Die Nachtigallen etwa, welche bei Keyserling „ihr Lied in den Abend hinausrief[en]“, finden sich bereits in Eichendorffs Roman, wo sie u. a. „aus den Tälern durch den Wind heraufklagten“ (HKA III 256 f.)26. Die Ersetzung des Bildes vom zerbrochenen Ring menschlicher Beziehungen durch das des narzisstischen Kreisens in sich findet sich auch bei Keyserling im Bild des Kreises wieder, welches den gesamten Roman leitmotivisch durchzieht: So sieht Marie am mittäglichen Teich – „ein großes, rundes Loch mit tintenschwarzem Wasser“ (Fü. 801) – ihrem Liebesabenteuer entgegen, während sich im Garten des Grafen Streith ein von Narzissen umgebener Springbrunnen befindet: Das kleine Wasserbecken aber, in dessen Mitte ein Triton aus einer Muschel einen dünnen Wasserstrahl in die Luft blies, umgab ein dichter Kranz weißer Narzissen. (Fü. 806)
Beide, Teich und Wasserbecken, verweisen an dieser Stelle freilich noch auf einen weiteren Text Eichendorffs: Das Marmorbild (1819) mit seinem „Weiher“ und den „Springbrunnen“ der Venus.27 Zuletzt ist es in Fürstinnen wie im Gedicht allein der Tod, welcher den Kreis des zerstörerischen Narzissmus zu durchbrechen vermag: Erst angesichts „der Stimme der Unendlichkeit“, des Todes, einer „unendliche[n] Weite“ (Fü. 853), äußert er [Streith] der Fürstin gegenüber die demütige Einsicht, „daß es gar nicht für uns ist, daß wir leben.“ Der Roman Fürstinnen, so wird schließlich deutlich, nimmt vielfach Bezug auf Eichendorff als einen Dichter nicht der Harmonie und Einheit, sondern des Bruchs und der Einsamkeit als fatale Folgen eines fortschreitenden Subjektivismus. Keyserlings Protagonisten –––––––— 25 26 27
Kunisch: Freiheit (wie Anm. 24). S. 152. Vgl. auch HKA III S. 44 und 200. Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Band V/1 Erzählungen. Erster Teil. Hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Tübingen 1998. S. 29–82. Hier S. 45 u. 50. (Fortan: HKA V/1 mit Seitenangabe im Text.)
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erleben keinen befreienden Morgen; stattdessen irren sie nachts durch schwüle Gärten und verlieren sich, jeder Orientierung verlustig gehend, in seinen Tiefen als Sinnbild für die Innenwelt eigener Begehren und Triebwünsche.
III. Fürstinnen stellt damit keinen Einzelfall dar; ähnliche Bezugnahmen finden sich in fast allen Romanen Keyserlings, was nun abschließend anhand nur einiger Belegstellen gezeigt werden soll. So steht Karl Erdmann in Am Südhang (1911)28 nachts am Fenster und hält es drinnen vor Erregung und Begehren schließlich nicht mehr aus: Die Nacht war schwül, und Karl Erdmann konnte sich nicht entschließen, sich niederzulegen. Er stand am geöffneten Fenster seines Schlafzimmers und schaute in den Garten hinab, und in das tiefe Dunkel fuhr zuweilen das Wetterleuchten wie eine plötzliche Erregung. [...] So beschloß er [...] hinunterzugehen. (AS. 610 f.)
Im Marmorbild heißt es entsprechend: Er sprang von seinem Bett und öffnete das Fenster. [...] Auch da draußen war es überall in den Bäumen und Strömen noch [...], als sänge die ganze Gegend leise, gleich den Sirenen, die er im Schlummer gehört. Da konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er [...] verließ das Zimmer und ging leise durch das ruhige Haus hinab. (HKA V/1 43)
Auch Keyserlings „Wetterleuchten“, Bild der Erregung sowie der bevorstehenden, gewaltsamen Entladung, findet sich vielfach bei Eichendorff, etwa in Die Entführung (1839)29: [...] sie aber konnte lange nicht einschlafen, denn die Nacht war so schwül, [...] und das Wetter leuchtete immerfort von fern über dem dunkeln Garten. (HKA V/1 351 f.)
Das Aufsuchen von Gärten führt bei beiden Autoren zumeist nicht zur Entgrenzung ins Überindividuelle, also zur Natur- und All-Einheit, sondern zu willkürlicher Wahrnehmung und subjektivistischer Introversion der Blickrichtung, damit jedoch zugleich zur stets sich vermehrenden Desorientierung und zum Verlust des Kontakts zur Außenwelt. Die Folge ist das Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins in einer Weite, in der aufzugehen nicht gelingt. In Wellen (1911)30 heißt es: [...], aber Doralice glaubte diese unendliche Weite zu fühlen, wie sie die dunkle Tiefe unter sich zu fühlen
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Eduard von Keyserling: Am Südhang. In: Ders.: Harmonie. Romane und Erzählungen. Mit einem Nachwort des Herausgebers Reinhard Bröker. München 1998. S. 597–650. (Fortan: AS mit Seitenangabe im Text.) Joseph von Eichendorff: Die Entführung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Band V/1. Erzählungen. Erster Teil. Hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Tübingen 1998. S. 329– 376. (Fortan: HKA V/1 mit Seitenangabe im Text.) Eduard von Keyserling: Wellen. In: Ders.: Harmonie. Romane und Erzählungen. Mit einem Nachwort des Herausgebers Reinhard Bröker. München 1998. S. 369–475. (Fortan: We mit Seitenangabe im Text.)
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Boris Hoge meinte, und beide, die Tiefe und die Weite, legten sich bedrückend auf sie, wie etwas, das ihr den Atem benahm, sie ängstigte, das ihr die Empfindung des Verlorenseins und der Einsamkeit gab. (We. 412 f.)
Und im Taugenichts (1826)31 entsprechend: Da kam mir die Welt auf einmal so entsetzlich weit und groß vor, und ich so ganz allein darin, daß ich aus Herzensgrunde hätte weinen mögen. (HKA V/1 120)
Ein bitteres wie bedrückendes Fazit findet sich schließlich in Dumala (1907)32 respektive Ahnung und Gegenwart: Was wissen wir, was verstehen wir von dem, was in anderen vorgeht! Wie können wir urteilen! [...] Wie die Pakete im Güterwagen, so stehen die Menschen nebeneinander. [...] Was drin ist, weiß keines von dem andern. (Du. 294) Da steht auch jeder mit seinen besonderen, eignen Empfindungen, Gedanken, Ansichten und Wünschen neben dem anderen [...], es weiß ja doch am Ende keiner, was er selber ist oder was der andere eigentlich meynt und haben will [...]. (HKA III 291 f.)
Eichendorffs erlösendes wie befreiendes Gebet „Herr Gott, laß mich nicht verlorengehen in der Welt!“ (HKA V/1 72) findet sich bei Keyserling nicht. Seine Figuren sind in der Tat in der Welt – da in sich – Verlorene; seine Roman-Welt ist die moderne Welt des ‚zerbrochenen Ringes‘. Doch vergessen werden sollte dabei nicht, dass auch Eichendorffs Helden ihre wirren „Traumblüthen“ (HKA V/1 54) nie endgültig abzuschütteln vermögen, dass ihnen die Klarheit der „Morgenröthe“ (HKA V/1 76) stets von neuem zu erlangen und zu verlieren auferlegt ist, womit Eichendorffs Texte kein bisschen weniger modern und von aktueller Brisanz sind als die Keyserlings. Und Keyserling hat dies, so meine ich, im Gegensatz zu vielen erkannt und ihm in seinem Werk und durch sein Werk Ausdruck verliehen.
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Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Band V/1. Erzählungen. Erster Teil. Hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Tübingen 1998. S. 83–197 (Fortan: HKA V/1 mit Seitenangabe im Text.) Eduard von Keyserling: Dumala. In: Ders.: Harmonie. Romane und Erzählungen. Mit einem Nachwort des Herausgebers Reinhard Bröker. München 1998. S. 227–305. (Fortan: Du mit Seitenangabe im Text.)
Christian Klein
Eichendorff und „Flower Power“ Der Taugenichts als Kultbuch der Hippie-Bewegung? „Wär’ ich ein Buch im Leben, würdest du mein Leser sein? […] Ein Buch, das du von Neuem liest, in dem du dich oft selbst beschrieben siehst. Wirst du versteh’n, was ich sagen will, und nur zwischen den Zeilen steht, Was kein Satz verrät. Ein Buch, das mit dir weint und lacht, das dein Begleiter ist bei Tag und Nacht, mit dir träumt und mit dir wacht. Das Buch, das du manchmal hasst und liebst, das du mit mir schriebst, es wird mit dir enden.“ (Daliah Lavi: Wär’ ich ein Buch. Text: Miriam Frances, 1971)
Was haben Rudi Carrell, Heino, Roy Black und die oben zitierte Daliah Lavi gemein? Und was teilen sie mit Jägermeister und Rolex, dem Oktoberfest und dem Trabi, Derrick, Star Trek, Asterix oder Aldi? Ihren Kultstatus – zumindest wenn man einschlägigen Samplern und Kompendien folgen darf.1 Und in der Tat: Heutzutage scheint fast alles „kultfähig“ bzw. „kultig“2, sofern sich bestimmte Interessengruppen davon für ihr Produkt einen Imagegewinn versprechen. „‚[K]ultig!‘“, so heißt es etwa auf der Website der gleichnamigen Werbeagentur, „ist ein Schlagwort für Kreativität, Individualität, Originalität, freche Lösungen und vor allem Qualität. Immer öfter taucht ‚kultig‘ im modernen deutschen Sprachgebrauch auf und steht dabei speziell für Bodenständiges sowie Langlebiges mit Kultcharakter.“3 Der Kult ist endgültig dort angekommen, wo nach Ansicht von Pessimisten letztlich jede Reliquie konsequenterweise landet: auf den Schreibtischen der Werbestrategen. Aus dem Begriff zur Bezeichnung spezifisch spiritueller bzw. religiöser Erlebens- und Handlungsweisen ist ein beliebig einsetzbares Label geworden. Ob als Grund oder Resultat der Omnipräsenz des Begriffs im Alltag – fest steht, dass sich hier ein gewisser Mangel an termino–––––––— 1
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Vgl. Klaus Schmeh: Der Kultfaktor. Vom Marketing zum Mythos. 42 Erfolgsstorys von Jägermeister bis Rolex. Frankfurt am Main 2004 bzw. Das ist Kult. Die deutschen Schlager. 3 Audio-CDs 1998. Das Adjektiv findet sich seit einiger Zeit auch im Duden und bedeutet „Kultstatus habend“; vgl. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 23. Aufl. Mannheim 2004. S. 582. http://www.kultig.at/agentur.htm (letzter Zugriff: 15.09.2008).
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 89–102.
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logischer Verbindlichkeit und distinktiver Relevanz abzeichnet. Gleichzeitig sorgt die Allgegenwart des „Kultigen“ dafür, dass jeder intuitiv zu wissen meint, welche Eigenschaften denn ein Film, ein Buch oder ein anderes Produkt aufweisen müsse, um dieses Prädikat zugeschrieben bekommen zu können. Vielleicht liegt in dieser Kombination von indifferenter Terminologie und intuitiver Applikation ein Grund dafür, dass in den Literaturwissenschaften das Phänomen Kultbuch bislang weitgehend ignoriert wurde.4 Die wenigen Arbeiten, die sich ihm überhaupt annehmen, bleiben zudem vielfach äußerst vage und stellen eher Behauptungen auf, als dass sie operationalisierbare Definitionen und Analysen liefern würden. Bevor hier der Blick auf Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts gerichtet wird, gilt es also zunächst (in angebrachter Kürze) das Phänomen Kultbuch an sich etwas näher zu bestimmen. Dabei wird einerseits auf die Spezifika der Kultbuch-Rezeption eingegangen, andererseits werden bestimmte Faktoren benannt, die die Rezeption eines Werkes als Kultbuch begünstigen können (spezifische Erzähltechniken und Leseraktivierung). Im zweiten Teil soll untersucht werden, inwieweit jene KultbuchDispositionen im Taugenichts zum Tragen kommen, bevor im dritten Teil analysiert wird, ob man im Hinblick auf die Taugenichts-Rezeption der 1960er und 1970er Jahre sinnvollerweise davon sprechen kann, dass Eichendorffs Novelle ein Kultbuch für Anhänger der HippieBewegung gewesen ist. Denn auch wenn verschiedentlich konstatiert wird, dass der Taugenichts der erste Hippie in der deutschen Literatur sei,5 bleibt doch zu fragen, ob diese Feststellung auf mehr fußt als auf sehr oberflächlichen Parallelisierungen im Hinblick auf (vermeintlich geschilderte bzw. politisch erwünschte) Lebenseinstellungen und Handlungsoptionen.
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Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kultbuch ist sehr übersichtlich: Neben zwei Aufsätzen (Heiko Christians: „Werthers Brüder“ oder Was ist ein Kultbuch? In: Wirkendes Wort. 55. Jg. Heft 1 (April 2005). S. 15–27 und Martina Wagner-Egelhaaf: Kultbuch und Buchkult. Die Ästhetik des Ichs in Rilkes „Cornet“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. 107. Jg. Heft 4 (1988). S. 541–556) widmet sich lediglich ein Sammelband, der aus einer Ringvorlesung hervorgegangen ist, dem Thema (Rudolf Freiburg, Markus May und Roland Spiller (Hg.): Kultbücher. Würzburg 2004). Im Hinblick auf Eichendorff wäre allein Gunnar Ochs Aufsatz: Der „Taugenichts“ und seine Leser. Anmerkungen zur Rezeption eines Kultbuches. (In: Anne Bohnenkamp und Ursula Regener (Hg.): Eichendorff wieder finden. Joseph von Eichendorff 1788–1857. Frankfurt am Main 2007. S. 87–95) zu nennen. Vgl. etwa jüngst: N.N.: Ein Adliger und die erste Hippie-Dichtung. Vor 150 Jahren starb Joseph von Eichendorff: Sein „Taugenichts“ wurde weltberühmt. In: Neue Ruhr Zeitung vom 26.11.2007.
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Kultbücher – Rezeption und Dispositionen Kein Kultbuch ohne Kult – d. h. entscheidend für die Definition ist die Rezeption. Geht man vom (quasi-)religiösen Ursprung des Begriffs aus,6 so handelt es sich beim Kult um die Verehrung eines spezifischen Gegenstandes (in diesem Fall also: eines bestimmten Buches) durch eine Gruppe von Menschen. Möglicherweise manifestiert sich die besondere Wertschätzung auch in spezifischen Ritualen.7 Die Gruppe der Kult-Anhänger – hier „Community“8 genannt – misst dem Buch eine zentrale Bedeutung für das eigene Leben bei. Die Art der Rezeption ließe sich, in Anlehnung an die Überlegungen Erich Schöns zur Entwicklung literarischer Rezeptionskompetenz bei Kindern und Jugendlichen, als Sonderform der identifikatorischen Lektüre, nämlich als „empathische Rezeption“ bezeichnen: Man empfindet beim Lesen die Emotionen, die die dargestellte Figur fühlt.9 Dieses Rezeptionsmuster wirkt stark an der Identitätsbildung mit, indem Erfahrungen und Affekte anderer nachempfunden werden.10 Die Tatsache, dass ein Buch empathisch rezipiert wird, ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Bestimmung eines Buches als Kultbuch. Denn nicht jedes Buch, das (von einer Gruppe) empathisch rezipiert wird, ist ein Kultbuch. Zum Kultbuch wird ein empathisch rezipiertes Buch erst dann, wenn die durch das Lektüreerlebnis eingetretene Veränderung vom Leser ursächlich mit dem Buch in Beziehung gebracht und die individuelle Wirkungsmacht des Textes generalisiert wird: Das Buch wird zur allgemeingültigen Folie, durch die fortan Welt wahrgenommen und gedeutet wird („Lebenshilfe“, „Welterklärung“). Der Text wird darüber hinaus zum Leitfaden des eigenen Handelns und die durch das Lektüreerlebnis hervorgerufenen Veränderungen finden eine lebenspraktische Umsetzung. Eine der populärsten Thesen im Hinblick auf Kultbücher lautet, dass diese nicht planbar seien. Auch wenn dieser These im Kern zuzustimmen ist, führt die damit verbundene Annahme in die Irre, es ließen sich keine Parameter umreißen, die es wahrscheinlicher –––––––— 6
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Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Kult. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Basel 1976. Band 4, Sp. 1300–1309. Vgl. Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996. S. 58 ff. Der Begriff „Community“ wird hier deshalb gewählt, weil er im Vergleich zu den Termini „Gemeinschaft“ oder „Gemeinde“ weniger stark mit Vorannahmen besetzt ist. Außerdem setzt die Zugehörigkeit zu einer „Community“ weder die emotionale Bindung zur Gruppe („Wir-Gefühl“) voraus (Gemeinschaft) noch das explizite Glaubensbekenntnis (Gemeinde). Mitglied der „Community“ ist man vielmehr einfach aufgrund gemeinsamer Erfahrungen. Vgl. zum Folgenden: Erich Schön: Die Entwicklung literarischer Rezeptionskompetenz. In: Siegener Periodicum zur internationalen empirischen Literaturwissenschaft. Band 9 (1990), Heft 2. S. 229–276. Hier geht es darum, die Emotionen anderer nachzuvollziehen und selbst zu empfinden: „Bei der Empathie wird nicht nur phantasiehaft die umgebende Welt ‚vertauscht‘; Empathie bedeutet auch die Fähigkeit zu einem kontrolliert gehandhabten flexiblen Umgang mit den Grenzen eigener und fremder Identität. Dieser ‚introjektive‘ Anpassungsmodus erlaubt es, ‚Fremdes‘ in die eigene Identität aufzunehmen.“ (Schön: Rezeptionskompetenz [wie Anm. 9]. S. 261).
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machten, dass ein Buch von einer Gruppe in der oben beschriebenen Weise rezipiert wird. Es gibt vielmehr eine Reihe von Eigenschaften, die ein Titel mitbringen muss, um überhaupt Kultbuch werden zu können. Hierzu zählen (1) eine besondere Art der narrativen Vermittlung, (2) eine besondere Form der Interaktion zwischen Leser und Text und (3) im Text manifeste spezifische Denkmuster und Wahrnehmungsweisen.11 Um diese verschiedenen (sich teilweise überschneidenden) Dimensionen in den Blick zu bekommen, bietet sich ein Zugriff an, der (1) ein narratologisches, (2) ein wirkungsästhetisches und (3) ein diskursanalytisches Instrumentarium zum Einsatz bringt. Wenn es für die Analyse zunächst notwendig ist, die hier angeführten Dimensionen des Phänomens Kultbuch zu differenzieren, so sollen sie doch am Ende wieder zusammengeführt werden. (1) Das vermeintlich unvermittelte Erzählen Kultbücher werden identifikatorisch rezipiert.12 Der Leser bezieht das erzählte Geschehen unmittelbar auf sich. Dies setzt eine narrative Vermittlung voraus, die das Erzählte möglichst unmittelbar präsentiert. Legt man erzähltheoretische Kategorien nach Genette an,13 so sind hier vor allem drei Faktoren relevant: Auf der Ebene des Modus (erstens) die Frage nach der Distanz (wie mittelbar wird das Erzählte präsentiert?) sowie (zweitens) die Stellung des Erzählers zum Geschehen. Ferner wäre (drittens) die Frage nach der Fokalisierung (aus welcher Sicht wird erzählt?) zu berücksichtigen. Während im Hinblick auf (erstens) die Frage nach der Distanz jeweils im Einzelfall zu untersuchen ist, inwieweit solche Präsentationsformen vorzufinden sind, die eine unmittelbare Nähe zum erzählten Geschehen evozieren – etwa die zitierte oder die transponierte (Gedanken-)Rede –, lässt sich die Frage nach (zweitens) der Stellung des Erzählers zum Geschehen allgemein halten, denn in den Fällen von Kultbüchern haben wir es zumeist mit homodiegetischen, oft sogar mit autodiegetischen Erzählungen zu tun, Erzählungen also, in denen der Erzähler Teil des erzählten Geschehens bzw. sogar dessen Hauptfigur ist und entsprechend die erste Person vorherrscht (wenngleich sich die Rollen von erlebendem und erzählendem Ich differenzieren lassen). Auch (drittens) die Frage nach der Fokalisierung lässt sich eher pauschal beantworten, denn vor allem Texte, in denen eine interne Fokalisierung vorherrscht (d. h. die Sicht auf eine der Figuren beschränkt ist), erwecken den Anschein von Unmittelbarkeit.
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Isolierbare inhaltliche Motive können m. E. indes nicht zu den Kultbuch-Dispositionen zählen; vgl. abweichend Och: Taugenichts (wie Anm. 4). S. 87 f. Dies wird zwar in einigen der wenigen Untersuchungen zu Kultbüchern auch konstatiert (vgl. WagnerEgelhaaf 1988 (wie Anm. 4). S. 542 oder Och: Taugenichts [wie Anm. 4]. S. 88), aber nicht näher erklärt oder hergeleitet. Vgl. zum Folgenden: Gérard Genette: Die Erzählung. München 1994.
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(2) Leseraktivierung Erst semantische Unbestimmtheit (anschließend an die Überlegungen Roman Ingardens und Wolfgang Isers) gewährt den für die empathische Rezeption notwendigen Anteil des Lesers an Mitvollzug und Produktion der Bedeutung des literarischen Geschehens, denn Unbestimmtheit reguliert, so Iser, „die graduelle Beteiligung des Lesers am Vollzug der Textintention“.14 Ein hoher Grad an semantischer Unbestimmtheit fordert den Leser nachgerade dazu auf, besonders nachhaltig an der Sinnkonstitution des literarischen Geschehens mitzuwirken. Durch (a) Unbestimmtheitsstellen („wo man auf Grund der im Werk auftretenden Sätze von einem bestimmten Gegenstand […] nicht sagen kann, ob er eine bestimmte Eigenschaft besitzt oder nicht“15), (b) Leerstellen (die zur Zusammenführung verschiedener Textelemente anhalten) und (c) Negationen wird der Leser aufgefordert, (a) zu komplettieren, (b) zu kombinieren oder (c) sich zu positionieren. Ein hoher Grad an literarischer Unbestimmtheit führt dazu, dass der Leser einerseits besonders stark in das Geschehen involviert und bei der Lektüre aktiv ist, dass der Text andererseits aber ein hohes Maß an Offenheit mit sich bringt, das verschiedene Deutungen seitens des Lesers ermöglicht (plurale Sinnstiftungsangebote). (3) Die Ordnung der Welt Während die Frage nach der narrativen Vermittlung auf eine genaue Analyse der formalen Beschaffenheit eines Textes hinausläuft, der Aspekt der Text-Leser-Interaktion bereits einen Bogen zu inhaltlichen Fragen schlägt (insbesondere im Hinblick auf Negationen), konzentriert sich die hier als dritte Kultbuch-Disposition zu verhandelnde Kategorie (wiewohl ausgehend von der Materialität des Textes) vor allem auf die Strukturierung und Präsentation von Inhalten. Denn mit der Frage nach präsenten Diskursen rücken die jeweiligen Denkund Sprechkontexte in den Mittelpunkt, in denen ein spezifischer Text zu verorten ist. Offenbar bringen Kultbücher auch inhaltlich etwas zur Sprache, das die Rezipienten – ggf. auch Jahrhunderte später noch – anzugehen scheint. Gleichzeitig erlaubt es die diskursanalytische Herangehensweise, Rezeptionsphänomene in den Blick zu nehmen, die jenseits individueller Lektüreerlebnisse liegen (auf die die Wirkungsästhetik abhebt) – und Kultbücher als kollektive Rezeptionserscheinungen zu verstehen.
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Wolfgang Iser: Die Apellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975. S. 228–252. Hier S. 243. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968. S. 49.
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Kultbuch-Dispositionen des Taugenichts „Das Rad an meines Vaters Mühle“, so setzt bekanntlich die Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts ein, braußte und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Thürschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen, mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: ‚Du Taugenichts! da sonnst Du Dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann Dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Thüre, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb Dir selber Dein Brodt.‘ – ‚Nun‘, sagte ich, ‚wenn ich ein Taugenichts bin, so ist’s gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen. ‘16
Der Text führt in medias res und lässt eine Reihe der Erzähltechniken erkennen, die den Eindruck eines möglichst unmittelbaren Erzählens evozieren: Erstens finden wir direkte Figuren-Rede (als Unterform der zitierten Rede), eine Form der Redepräsentation im dramatischen Modus also, die dem Leser den Eindruck möglichst geringer Distanz vermittelt. Überhaupt finden wir bei der Präsentation von Rede im Taugenichts besonders oft zitierte Rede, sodass man als Leser den Eindruck erhält, die Figuren kämen (jenseits der InquitFormeln) ungefiltert zu Wort; ein Beispiel: „Kennen denn Ew. Hochwürden den Bräutigam?“ fragte ich ganz verwirrt. – „Nein“, erwiederte der alte Herr, „aber er soll ein luftiger Vogel sein.“ – „O ja“, sagte ich hastig, „ein Vogel, der aus jedem Käfig ausreißt, sobald er nur kann […].“17).
Neben der direkten Figurenrede bei der Wiedergabe von gesprochenen Worten wird auch die Form des Gedankenzitats bei nicht laut artikulierter Rede eingesetzt: „‚Sie weiß nur nicht, dass ic h es bin‘, dachte ich“.18 Zweitens erkennen wir in der Anfangs-Passage des Taugenichts einen Ich-Erzähler, der offensichtlich Teil der Handlung ist (und, wie sich im Laufe des Textes herausstellt, sogar die Hauptfigur), d. h. es liegt eine autodiegetische Erzählung vor. Ob es sich bei der Novelle um eine „typische“ Ich-Erzählung handelt oder nicht,19 fest steht, dass – ungeachtet der zeitlichen Distanz zwischen Erleben und Erzählen, –––––––— 16
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Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Begr. v. Wilhelm Kosch und August Sauer, fortgeführt v. Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Tübingen 1998. Band V/1: Erzählungen. Erster Teil. Text. Hg. von Karl Konrad Polheim. S. 83–197. Hier S. 85. Eichendorff: Taugenichts (wie Anm. 16). S. 183. Ebd. S. 153 (Hervorhebung im Orig.). So meint Benno von Wiese, die Novelle sei eine „typische Ich-Erzählung“, was Dierk Rodewald dezidiert verneint; vgl. Benno von Wiese: Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Ders.: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Düsseldorf 1964. Band 1. S. 79–96. Hier S. 81. Sowie Dierk Rode-
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die sich sprachlich ganz grundsätzlich im Gebrauch des Präteritums manifestiert –, das erlebende Ich im Vordergrund steht.20 Das Erzählerbewusstsein deckt sich in diesem Falle weitgehend mit dem Figurenbewusstsein,21 Reflexionen zum eigenen Erleben oder auch spezifische Markierungen der Distanz zwischen Erlebens- und Erzählvorgang kommen vor, sind aber die Ausnahme (dies verstärkt den Eindruck der Unmittelbarkeit).22 Aktuelle Forschungen haben im Übrigen darauf hingewiesen, dass distanzerzeugende Reflexionsmomente die emotionale Einbeziehung des Lesers keineswegs konterkarieren, sondern sogar steigern können.23 Schließlich können wir – drittens – schon hier die interne Fokalisierung erkennen, d. h. der Leser erfährt das Geschehen aus Sicht des Ich-Erzählers (Hauptfigur) und ist an dessen Wahrnehmung gebunden. Eichendorff nutzt die mit der internen Fokalisierung einhergehenden erzählerischen Möglichkeiten konsequent, woraus die Novelle einen großen Teil ihres Reizes bezieht. Jürgen Petersen hat darauf hingewiesen, dass die Nachhaltigkeit, mit der die Wahrnehmungsperspektive hier durchgehalten wird, der Erzählform (der retrospektiven Ich-Erzählung) fast zu widersprechen scheint.24 So ist der Leser im Verlauf der Novelle immer wieder den Fehleinschätzungen des Ich-Erzählers ausgeliefert und – da er an den Erlebnishorizont des Taugenichts gebunden ist – ebenso wie dieser verwirrt bzw. kann bestimmte Situationen nicht auflösen. Gleichzeitig finden sich verschiedene Sequenzen, in denen der Leser von den Merkwürdigkeiten und den Reaktionen des Taugenichts selbst irritiert wird. Ausgangspunkt aller Konfusionen ist bekanntermaßen eine Zufallsbegegnung und Fehleinschätzung: Der Taugenichts wandert musizierend auf der Landstraße, als ein „köstlicher Reisewagen“ dicht an ihn heranfährt: „und zwei vornehme Damen steckten die Köpfe aus dem Wagen und hörten mir zu. Die eine war besonders schön und jünger als die andere […]“.25 Der Taugenichts hält Aurelie, die junge Schöne, für eine Adlige und weiß nicht, dass sie tatsächlich nur die Tochter des Portiers ist. Die Aussichtslosigkeit seiner –––––––— 20 21
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wald: Der „Taugenichts“ und das Erzählen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973). S. 231–259. Hier S. 232 ff. Darauf weist auch Gunnar Och hin (vgl. Och: Taugenichts [wie Anm. 4]. S. 88). Dorrit Cohn spricht in diesem Falle von „consonance“; vgl. Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978. Insb. S. 145 ff. Seltene Reflexionseinschübe wären etwa: „Es waren noch mehr sehr hübsche, gutgesetzte, nützliche Lehren, ich habe nur seitdem fast alles wieder vergessen.“ (Eichendorff: Taugenichts [wie Anm. 16]. S. 89), „und ach das alles ist schon lange her“ (Eichendorff: Taugenichts [wie Anm. 16]. S. 92) oder: „Ich weiß nicht – wie er so erzählte – ging es mir recht durch’s Herz“ (Eichendorff: Taugenichts [wie Anm. 16]. S. 177). Vgl. Katja Mellmann: Das Buch als Freund – der Freund als Zeugnis. Zur Entstehung eines neuen Paradigmas für Literaturrezeption und persönliche Beziehungen, mit einer Hypothese zur Erstrezeption von Goethes „Werther“. In: Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 105). S. 201–240. Hier S. 228 f. Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart/Weimar 1993. S. 101. Eichendorff: Taugenichts (wie Anm. 16). S. 86 f.
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Liebe ist eine Folge seiner Fehleinschätzung, der auch der Leser erliegen muss. Man könnte in diesem Falle narratologisch präzisierend auch von mimetisch teilweise unzuverlässigem Erzählen sprechen,26 da eine Aussage, die Informationen über die erzählte Welt liefert, nicht zutreffend ist (denn die Konfusionen auslösende Klassifikation Aureliens als „vornehme“ Dame, ist eben im Rahmen der Fiktion sachlich falsch). Inwieweit unzuverlässiges Erzählen als entscheidendes Struktur-Element der Novelle zu gelten hat, wäre im Rahmen einer noch ausstehenden separaten Analyse zu beantworten. Festzuhalten ist, dass im Verlauf der Novelle reihenweise Situationen folgen, in denen der Taugenichts Handlungen falsch beschreibt und interpretiert oder Personen verwechselt. Der Leser, so Jürgen Petersen, „kann und soll sich nicht auf das Gesagte und Geschilderte verlassen, sondern ständig in einem Zustand der Schwebe gehalten werden, so daß er ein über das andere Mal begreifen muß, daß das, was er eben noch für wahr hielt, bloßer Schein war und das Gegenteil richtig ist.“27 Aus der internen Fokalisierung, so ließe sich anschließend an Petersens Beschreibung der analytische Bogen zwischen Narratologie und Wirkungsästhetik schlagen, aus der Bindung an die Wahrnehmung des Taugenichts resultieren zahlreiche semantische Unbestimmtheitsstellen. Literarische Texte gehen, folgt man Wolfgang Iser, weder in der Lebens-, noch in der Erfahrungswelt der Leser vollkommen auf – die Differenz markiert einen spezifischen Grad an Unbestimmtheit. Diese Unbestimmtheit versucht der Leser im Lektüreakt in Deckung zu bringen mit seinen Erfahrungen und der von ihm gekannten Realität.28 Dabei ist der Leser permanent damit beschäftigt, Leerstellen zu füllen, d. h. verschiedene Textelemente miteinander zu kombinieren. Der Leser nutzt so den Auslegungsspielraum, den der Text anbietet, und erschafft auf diese Weise seinen ganz eigenen Text (freilich im Rahmen der angelegten Möglichkeiten), wobei „der Leser die von ihm komponierte Intention nicht nur für wahrscheinlich, sondern auch für real halten [wird]“.29 Erst so kann überhaupt der Eindruck entstehen, ein Text halte passgenaue Sinnangebote und Orientierungshilfen für spezifisch individuelle Probleme und Lebensfragen parat.30 Dass die Lektüre des Taugenichts den Leser aktiviert, wurde verschiedentlich en passant konstatiert, etwa wenn Alexander von Bormann meint, der Leser sei „bereit, sich für einen guten Ausgang zu engagieren“.31 Und Dierk Rodewald stellt beiläufig fest: „Je weniger Aufschluß den Figuren gegeben wird, je stärker –––––––— 26
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Vgl. Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 7. Aufl. München 2007. S. 100– 103. Petersen: Erzählsysteme (wie Anm. 24). S. 103. Iser: Apellstruktur (wie Anm. 14). S. 233. Ebd. S. 236. „Die Leerstellen machen den Text adaptierfähig und ermöglichen es dem Leser, die Fremderfahrung der Texte im Lesen zu einer privaten zu machen.“ (Iser: Apellstruktur [wie Anm. 14]. S. 249.) Alexander von Bormann: Polemische Idyllen: Der romantische Taugenichts. Poetische Adoleszenz in Deutschland, Rußland, den Niederlanden und Amerika. In: Ders. (Hg.): Ungleichzeitigkeiten der europäischen Romantik. Würzburg 2006. S. 295–314. Hier S. 299.
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sie in ihren Mißverständnissen befangen bleiben, desto mehr Arbeit ist an den Leser delegiert“.32 Eichendorffs Erzählung ist, so lässt sich präzisieren, durchzogen von Unbestimmtheits- und Leerstellen, was sich bereits in der zitierten Eingangsszene zeigt: Weder wird das setting genauer beschrieben, noch der Vater näher charakterisiert. Der Leser muss sich seine eigene Vorstellung von der Umgebung machen, in der der Taugenichts aufgewachsen ist, ebenso von der bis dahin wichtigsten Bezugsperson, dem Vater (denn die Mutter ist, wie der Leser später erfährt, verstorben). Das wäre noch nicht weiter verwunderlich, ist der Vater doch im Handlungsgefüge nur eine Nebenfigur. Dass sich der Taugenichts selbst aber auch nicht näher vorstellt, sondern den Leser weitgehend ohne personenbezogene Informationen lässt, ist (besonders für eine Ich-Erzählung) hingegen eher ungewöhnlich. Aber auch auf der Ebene der Handlungselemente ist der Leser stets aktiv in die Sinnkonstitution involviert. So muss er ständig Textelemente zueinander in Beziehung setzen und zu klären versuchen, in welchem Verhältnis etwa Figuren oder Situationen stehen. Dass es sich bei diesen vom Leser hergestellten Beziehungen tatsächlich um die Nutzung des vom Text zur Verfügung gestellten Auslegungsspielraums, mithin um das Füllen von Leerstellen handelt, lässt sich daran erkennen, dass die Zweitlektüre des Taugenichts einen anderen Eindruck beim Leser hinterlässt als die Erstlektüre, da der Leser nun um die wahren Identitäten weiß und Verwechslungen oder Fehleinschätzungen erkennt.33 Die Erzählung vom Taugenichts ist also einerseits geprägt von narrativen Techniken, die die Illusion einer unmittelbaren Nähe zu den geschilderten Ereignissen evozieren. Ungeachtet der sprachlich markierten zeitlichen Distanz zum Geschehen hat der Leser den Eindruck, dem Ich-Erzähler bei seinen Erlebnissen quasi über die Schulter zu sehen. Aus der Beschränkung der Wahrnehmungsperspektive auf den Ich-Erzähler resultiert andererseits der hohe Grad an Leseraktivierung, den der Text erreicht. Der Leser wird gleichsam in den Text gezogen, verwandelt sich diesen an und ist so gezwungen, sich zu den Geschehnissen zu verhalten. Inwieweit diese persönlichen Formen der Text-Leser-Kommunikation begünstigt werden durch spezifische, im Text präsente Denkkonzepte und Weltvorstellungen, lässt sich nur in der Betrachtung zeitgebundener Rezeption klären.
„Und es war alles, alles gut!“ Anhänger der Hippie-Bewegung und Taugenichts-Lektüren Als sich ab Mitte der 1960er Jahre Jugendliche auf die Suche nach einem Lebenssinn jenseits von Geld und Karriere machen und dabei jene Subkultur etablieren, die sie als „Flower –––––––— 32 33
Rodewald: Taugenichts (wie Anm. 19). S. 242 f. „Das Wissen, das nun den Text überschattet, gewärtigt Kombinierbarkeiten, die in der Erstlektüre dem Blick noch verschlossen waren.“ (Iser: Apellstruktur [wie Anm. 14]. S. 236.)
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People“ oder Hippies bekannt macht,34 kommt bestimmten Liedern und Büchern eine identitätsstiftende Bedeutung zu. Martin Hollender hat in seiner Studie zur ideologischen Instrumentalisierung Eichendorffs darauf hingewiesen, dass Eichendorff in Zeiten der gesellschaftspolitischen Modernisierungsschübe seit den 1960er Jahren den tonangebenden Links-Progressiven wahlweise als verschmockter „Heile-Welt-Dichter“ oder reaktionärer Spießer galt.35 Die Kritik entlud sich dabei vornehmlich an der vermeintlich rückständigen gesellschaftspolitischen Ausrichtung Eichendorffs und ignorierte fast durchgehend die starke affektiv-emotionale Anziehungskraft, die von den Texten ausging und der mit rationalen Einreden nicht beizukommen war.36 Einzig die Taugenichts-Novelle konnte auch inhaltlich vor den kritischen Augen der intellektuellen Öffentlichkeit bestehen; entsprechend konstatiert Hollender für diese Rezeptionsphase: „[D]er seit Generationen populistisch vermittelte Taugenichts feiert neue aktualisierte Urständ in Form eines Vorläufers der gegenwärtig aktuellen Hippies und ‚Aussteiger‘.“37 Es finden sich zwar vereinzelt kritische Töne im Hinblick auf die Taugenichts-Begeisterung der Jugend, weil, so etwa Jost Hermand 1969, durch „Sympathie mit dem Asozialen“ die eigentlichen Probleme der spätkapitalistischen Gesellschaft nicht zu lösen seien.38 Letztlich scheint die Frage, ob die Begeisterung der Hippies für den Taugenichts auf einer verengten Interpretation oder ideologisch falschen Lektüre beruht, allerdings unerheblich (zumal aktuelle Positionen davon ausgehen, dass selbst die durch und durch intellektualistisch-politisierte „68er-Bewegung“ im Romantischen wurzelt)39: Der Taugenichts wird als Initial-Text der Hippie-Bewegung gelesen,40 die Novelle von den „Flower People“ selbst als Leitfaden auf dem Weg zum guten Leben rezipiert und die Figur des Taugenichts als Urahn ihrer Bewegung betrachtet.41 In diesem Sinne –––––––— 34
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Die „Hippie-Ära“ wird hier für die Zeit von Mitte der 1960er bis Ende der 1970er bestimmt (mit einem Höhepunkt im August 1969: „Woodstock Festival“); sie endet mit Aufkommen der Punks als dominanter jugendlicher Protestkultur. Martin Hollender: Die politische und ideologische Vereinnahmung Joseph von Eichendorffs. Einhundert Jahre Rezeptionsgeschichte in der Publizistik (1888–1988). Frankfurt am Main u. a. 1997. S. 287 ff. Exemplarisch im Hinblick auf den Taugenichts hier die Ergebnisse von Eggert, Berg und Rutschky, die aufgrund von eher ideologischen Vorannahmen eine distanzierte Lesehaltung von Schülern erwarten und dann von der affektiv-emotionalen Lektürepraxis, die der Text provoziert, überrascht sind; vgl. Hartmut Eggert, Hans-Christoph Berg und Michael Rutschky: Literaturrezeption von Schülern als Problem der Literaturdidaktik. In: Wilhelm Dehn (Hg.): Ästhetische Erfahrung und literarisches Lernen. Frankfurt am Main 1974. S. 267–298. Hier S. 268 ff. Hollender: Vereinnahmung (wie Anm. 35). S. 289. Vgl. Jost Hermand: Der „neuromantische“ Seelenvagabund. In: Wolfgang Paulsen (Hg.): Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur. Die Vorträge des Zweiten Kolloquiums in Amherst/Massachusetts. Heidelberg 1969. S. 95–115. Hier S. 114. Vgl. Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. München 2007. S. 382–392. Eine Reihe von Belegen findet sich bei Hollender: Vereinnahmung (wie Anm. 35). S. 290 ff. Dabei kann es bei der retrospektiven Analyse zeitgebundener Rezeptionsphänomene schlechterdings kaum darum gehen, quantifizierbare Ergebnisse dafür zu liefern, inwieweit ein generalisierend-empa-
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streicht Harry Heussler 1977 am Schluss seiner Abhandlung zu Rock und Romantik heraus, dass man dem Beispiel des Taugenichts folgen solle, um als Lebenskünstler die Gegensätze des modernen Lebens zu überwinden.42 Und noch in der Ende der 1970er Jahre entstandenen Erzählung Alles wegen Eichendorff von Werner Dürrson findet diese Form der für den eigenen Lebensweg Appellcharakter besitzenden Lektüre literarischen Niederschlag, wenn sich der jugendliche Protagonist vom Taugenichts inspiriert per Anhalter auf die Suche nach dem sinnvollen Leben macht: „Da griff ich eines Morgens statt der Schultasche nach dem Schlafsack […], nahm meine Gitarre und zog einfach los.“43 Denn, so fragt sich der Protagonist: „wozu lernen, lesen, was man nicht ernst nehmen soll“?44 Offensichtlich werden hier die durch die Lektüre verstärkten Wünsche und Bedürfnisse in der Praxis umgesetzt. Auch in Gesprächen mit Zeitzeugen, die im Vorfeld der hier vorliegenden Untersuchung durchgeführt wurden, fallen im Hinblick auf den Taugenichts häufig Formulierungen, denen zufolge das Buch einem die Augen geöffnet habe und nach der Lektüre nichts mehr gewesen sei wie zuvor, was auf eine empathische Rezeption hinweist.45 Das Wahrnehmung verändernde Leseerlebnis wird hier generalisiert und ursächlich mit der Lektüre in Verbindung gebracht. Besonders bezeichnend für die nachhaltige Bedeutung der Novelle seit den späten 1960er Jahren ist der Umstand, dass zwei der drei Taugenichts-Verfilmungen aus den 1970er Jahren stammen: eine 1972/73 realisierte DEFA-Produktion und der 1977 abgeschlossene, von Bernd Eichinger produzierte Film von Bernhard Sinkel (mit Musik von Hans-Werner Henze), an dem seit 1970 gearbeitet wurde.46 Offensichtlich gingen die Regisseure und Produk-
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thisches Lektüreverhalten im oben beschriebenen Sinne vorherrschte. Ausschlaggebend kann sinnvollerweise allein sein, ob sich Belege aus unterschiedlichen Quellen finden lassen, die entsprechende Rückschlüsse nahelegen. Harry Heussler: Rock und Romantik. Was Joseph von Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ mit den Hippies zu tun hat. Zürich 1977. S. 77. Werner Dürrson: Alles wegen Eichendorff. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Hg. von Volker Demuth. Band 4: Kleist für Fortgeschrittene. Erzählungen. Mit einem Nachw. von Manfred Durzak. Bühl-Moos 1992. S. 82–87. Hier S. 83. Dürrson: Rock und Romantik (wie Anm. 43). S. 82. Vgl. neun Interviews, die der Verf. im Jahr 2007 mit Zeitzeugen in Hamburg und Berlin geführt hat. Von den neun Interviewten, die sich selbst als Anhänger der Hippie-Bewegung charakterisieren, hatten sieben in den 1970ern den Taugenichts gelesen, fünf gaben an, dass der Text wichtig für sie gewesen sei und vier (also mehr als ein Drittel) meinten, die Novelle habe ihr damaliges Lebensgefühl zum Ausdruck gebracht und den eigenen Lebensweg geprägt. Vgl. Aus dem Leben eines Taugenichts, 1972/73 (Drehbuch: Wera und Claus Küchenmeister, Regie: Celino Bleiweiß) sowie Der Taugenichts, 1977 (Drehbuch [1970/71]: Alf Brustellin, Bernhard Sinkel, Regie: Bernhard Sinkel).
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tionsfirmen davon aus, dass der Taugenichts gerade in den 1970ern den Leuten etwas zu sagen habe.47 Was zeichnet den Taugenichts vor anderen Büchern aus, dass junge Leute in den 1960er und 1970er Jahren – also knapp 150 Jahre nach der Erstveröffentlichung – noch Antworten auf konkrete Lebensfragen darin finden? Denn die spezifische narrative Vermittlung und die Text-Leser-Beziehung, die eine empathische Rezeption forcieren, machen ja nur einen Teil des identifikatorischen Potenzials eines Textes aus. Hinzu kommen Wertesysteme und Lebenseinstellungen, die anschlussfähig an die Normen und Ideale der Leser sein müssen, sodass man ein als subjektiv richtig erkanntes Lebenskonzept im Text artikuliert findet. In der Tat scheint sich das Lebensgefühl des Taugenichts mit dem der Hippies zu großen Teilen gedeckt zu haben.48 In diesem Sinne kommt Harry Heussler in seiner Arbeit zu dem Fazit, „dass der Hippie in Religions-, Natur-, Kunst- und Lebensverständnis gemeinsame Züge zum Taugenichts“ aufweise. Sowohl Taugenichts als auch Hippie hätten einen eher spielerischen Zugang zum Dasein und strebten ein spontanes und intuitives Leben jenseits des Philistertums an.49 Die Erzählung ruft mithin Diskurse auf, die auch für das Selbstverständnis der Hippies zentral sind, und stellt auf diese Weise eine Art überzeitliche Verbundenheit her, die durch die Erzählstrategien vertieft und intensiviert wird. Dabei kommt dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft eine besondere Rolle zu – sei es im Hinblick auf Inklusions-Exklusions-Parameter (Außenseiter, Einsamkeit) oder bezogen auf die Dichotomie von individuell gestaltetem, sinnerfülltem Leben (als Künstler oder, diesem in der Lebensauffassung verwandt, Student) und omnipräsentem Verwertungs- und Nützlichkeitsdenken. In jener Szene, in der der Taugenichts nach einem langen Marsch wieder auf Menschen trifft und seiner Freude durch Musizieren Ausdruck verleiht, wird einerseits die Funktion der Musik als Ausdruck unmittelbarer Emotionalität deutlich und andererseits die Abwehr spießbürgerlicher Berechnung und materialistischer Denkweise: Einer von ihnen, der sich schon für was Rechtes hielt, haspelte lange in seiner Westentasche, damit es die andern sehen sollten, und brachte endlich ein kleines Silberstück heraus, das er mir in die Hand drücken wollte. Mich ärgerte das, wenn ich gleich dazumal kein Geld in der Tasche hatte. Ich sagte ihm, er sollte nur seine Pfennige behalten, ich spielte nur so aus Freude, weil ich wieder bei Menschen wäre.50
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Bernhard Sinkel ging nach eigener Aussage davon aus, dass sich die Zuschauer ebenso wie er problemlos in der Figur wieder erkennen könnten; vgl. Sabine Westenberger-Mayer: Eichendorffs „Taugenichts“. Eine Verfilmung und ihre Textgrundlage. Mainz 1989. S. 6. Auch Eggert, Berg und Rutschky weisen darauf hin, dass der Taugenichts Themen verhandele, die Mitte der 1970er Jahre besonders anschlussfähig gewesen seien; vgl. Eggert, Berg und Rutschky (wie Anm. 36). S. 271 f. Heussler: Rock und Romantik (wie Anm. 42). S. 77. Eichendorff: Taugenichts (wie Anm. 16). S. 116 f.
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Indem der Text diese Diskurse aufruft und zu einer sich davon absetzenden Identifikation einlädt,51 stiftet er eine (virtuelle) Gemeinschaft – zwischen dem Taugenichts und dem Leser, zwischen dem Leser und anderen potenziellen Lesern. Denn der Leser erkennt, dass er offensichtlich nicht allein mit seinen Empfindungen ist, durchlebt der Taugenichts doch ähnlich Gefühlslagen wie er selbst. Wenn es in der Novelle heißt: „Alles ist so fröhlich, um dich kümmert sich kein Mensch. – Und so geht es mir überall und immer“,52 dann ist schon im Prozess der Lektüre, die offensichtlich das Gegenteil beweist, ein gewisser Trost angelegt.53 Gleichzeitig erkennt der Leser, dass ebenso wie er mit dem Taugenichts auch andere Menschen mit ihm mitleiden, ihn verstehen können müssen (projizierte Leser-LeserBeziehung). Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Diversifizierung und zunehmender Isolation ist das Gefühl, zu einer Gruppe zu zählen, die sich über gemeinsames Erleben und Empfinden definiert, besonders wichtig. Da es sich dabei eher um ein emotionales „Aufgehobensein“ im Text handelt und nicht um ein intellektuelles, zielt die Kritik, die affektive Begeisterung der Hippies für den Taugenichts beruhe auf einer Vulgärlektüre, am Kern der Sache vorbei.54 Alexander von Bormann betont darüber hinaus auch das politische Potenzial, das der Gemeinschaft stiftenden Funktion der Lektüre inhärent sein könne (wobei er den Typus der Taugenichts-Erzählungen als Genre und Eichendorffs Text als Prototyp im Auge hat): Zum Kampf fordert der Taugenichtsroman nirgends auf. Was von ihm ausgehen kann, ist für den jugendlichen Leser das Verständnis seiner als privat erfahrenen Probleme als typisch. Und der Widerstand der Taugenichtse dagegen, sich ‚zu durchschnittlichen Arbeitsameisen nivellieren‘ zu lassen […] kann sich beim jugendlichen Leser in kritisches Bewußtsein umsetzen […].55
Neben den anschlussfähigen Diskursen begünstigt sicher ferner die Präsenz der Musik im Text eine identifikatorische Lektüre, denn auch für das Lebensgefühl der Hippies spielte die Musik bekanntermaßen eine zentrale Rolle. Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, dass vor allem in Epochen, die stark von Rationalisierungstendenzen und entsprechenden Gegenbewegungen geprägt waren (Empfindsamkeit, Romantik), eine besonders enge Verbindung zwischen Musikalität und Emotionalität bestand, das eine gleichsam als Chiffre für das andere galt. Die positive Konnotation der Musik hatte Auswirkungen auf die Literatur, die gleichsam musikalisch strukturiert wurde, um so die Menschen unmittelbar zu berühren.56 Wiewohl man die Hippie-Bewegung sicher nicht als „zweite Romantik“ bezeichnen kann, ist doch auch hier eine ähnliche Korrelation von Musikalität und Emotionalität festzustellen. Wenn die Hippies ihr Lebensgefühl zu großen Teilen in der Musik auslebten bzw. –––––––— 51
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Die Suche nach identitätsstiftenden Antworten in der Lektüre ist gerade in der Adoleszenz von Relevanz, vgl. von Bormann: Polemische Idyllen (wie Anm. 31). Eichendorff: Taugenichts (wie Anm. 16). S. 105. Vgl. Mellmann: Buch als Freund (wie Anm. 23). S. 218. Vgl. etwa Hollender: Vereinnahmung (wie Anm. 35). S. 290. von Bormann: Polemische Idyllen (wie Anm. 31). S. 313. Vgl. Mellmann: Buch als Freund (wie Anm. 23). 2006. S. 209.
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artikuliert fanden, besaß ein Protagonist wie der Taugenichts, der sein Empfinden musikalisch ausdrückt, sicher ein ungleich höheres Identifikationspotenzial. Konstatiert man, dass gerade die vom Taugenichts gesungenen Passagen seine Gefühle und seine Lebensauffassung verdichtet zum Ausdruck bringen, dann ist umso bemerkenswerter, wie stark sich die inhaltlichen Aussagen einiger Hippie-Hymnen mit denen der Lieder des Taugenichts decken.57 Darüber hinaus – und hier ist an die narratologischen Beobachtungen anzuschließen – haben die eingestreuten gesungenen Passagen im Hinblick auf das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit den Effekt, dass zeitdeckend und damit szenisch erzählt wird. In der Nachbildung natürlicher Sukzession wird so größtmögliche Wirklichkeitsnähe erreicht.58 Der Leser ist auch hier wieder an den Horizont des erlebenden Ichs gebunden und begleitet quasi simultan das Geschehen, was den Eindruck des unmittelbaren Erzählens verstärkt. Um bei der Musik zu bleiben: Wo im eingangs zitierten Lied vom „Buch im Leben“ gesungen wird, das „dein Begleiter ist bei Tag und Nacht“, könnte man eine treffende Metapher für die Rolle sehen, die Kultbücher für ihre Leser spielen. Und wenn es weiter heißt, ob man das Buch stets von neuem lese, ob man verstehe, was das Buch zwischen den Zeilen verrate, und dass man sich gleichermaßen beschrieben finde, wie man es selbst mitschreibe, dann scheinen hier verschiedene Kultbuch-Parameter gebündelt zu werden: die spezifische Text-Leser-Interaktion, das identifikatorische und affektive Potenzial („das Buch, das du manchmal hasst und liebst“) sowie die aus der Lektüre abgeleitete Lebenspraxis. Dass das Buch mit dem Tod seines Lesers ende, wie es im Lied heißt, ist nur konsequent, denn schließlich erscheinen Buch und Leben zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. In diesem Sinne kann auch der Taugenichts als Kultbuch der HippieBewegung bewertet werden, das man ohne Bedenken im gleichen Atemzuge mit Hesses Siddhartha oder dem Steppenwolf nennen darf. Auch bei der Parallelisierung der Hippies mit dem Taugenichts handelt es sich eben nicht um ein Rezeptionsphänomen, das sich (wie verschiedentlich moniert) an Oberflächlichkeiten orientierte, sondern um eine affektivemotionale Identifikation aufgrund empfundener Wesensverwandtschaften, die sich in lektüre-geleiteter Lebenspraxis niederschlug. – „Wär’ ich ein Buch im Leben, würdest du mein Leser sein?“ Hätte der Taugenichts das so manchen Hippie gefragt, die Antwort hätte wohl nicht lange auf sich warten lassen: Dein Leser sein? Aber ich lebe doch längst mit dir!
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Vgl. etwa Wem Gott will rechte Gunst erweisen und Woodstock (1969) von Joni Mitchell. Vgl. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. 8. Aufl. Stuttgart 1991. S. 87. Wenn Lämmert schreibt, dass für die Gliederung des Geschehensverlaufs in szenischer Darstellung Ortsveränderungen oder Neuauftritte von Personen verantwortlich sind (S. 92), so trifft das zumeist auch auf die jeweilige Gestaltung der Lied-Anschlüsse im Taugenichts zu.
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Pygmalion gespiegelt Mythos und Künstlerimagination in Eichendorffs Das Marmorbild „Dichter sind doch immer Narzisse“,1 behauptet August Wilhelm Schlegel 1798 im ersten Band des Athenaeum. Dem widerspricht Dorothea Schlegel: „Die Dichter Narzisse? – Nicht alle. Der wahre göttliche Dichter ist Pygmalion. Dieser vergöttert das Werk seiner Kunst und belebt es durch seine Liebe; jener sieht nur sein Bild darin und ist in sich selbst verliebt.“2 In dieser Einschätzung stehen zwei mythologische Figuren und mit ihnen zwei Künstlerbilder sehr nahe beieinander. In polarer Anordnung werden die guten, pygmalionischen Dichter als wahre Künstler von den problematischen – weil selbstverliebten – Narzissen klar unterschieden. Bei einem genaueren Blick auf die literarischen sowie kunsttheoretischen Schriften seit Mitte des 18. Jahrhunderts zeigt sich jedoch, dass diese Teilung so keinen Bestand hat. Im Gegenteil entwickelt sich zu dieser Zeit ein Künstlerbild, das Elemente des Mythos von Pygmalion und des Mythos von Narziss überblendet und damit untrennbar macht. Die Utopie einer Kunst, die ‚schöpferisch‘ ein lebendiges Wesen erschafft, ist nur noch als Imagination des Künstlers denkbar. Pygmalion tritt immer weniger als Bildhauer und immer stärker als bewundernder Rezipient (s)eines Kunstwerks auf. Gleichzeitig wird die liebende Kunstbetrachtung eines Narziss als Sinnbild der absoluten Versenkung der Künstlerseele in sich selbst positiv besetzt.3 Der Rezipient als eigentlicher –––––––— 1
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August Wilhelm Schlegel in: Athenaeum. Ersten Bandes Zweites Stück. Fragmente. 1798. Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Hg. u. mit einem Nachwort versehen von Bernhard Sorg. Bd. 1.2. Dortmund 1989. S. 34. Dorothea Schlegel: Tagebuch 1798–1802. Notiz Nummer 51. Dorothea Schlegel, Johannes Veit, Philipp Veit: Briefwechsel. Hg. von Johann Michael Raich. Bd. 1. Mainz 1881. S. 95. Bis ins 18. Jahrhundert hinein vor allem in warnenden und moralisierenden Kontexten gegen die Selbstverliebtheit literarisch verwendet, wird Narziss im Zuge des neuen Subjektbegriffs um 1800 zum Inbegriff des romantischen Künstlers und somit stark aufgewertet. Vgl. Almut-Barbara Renger: Narcissus – „Selbsterkenntnis“ und „Liebe als Passion“. Gedankengänge zu einem Mythos. In: Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace. Hg. von Almut-Barbara Renger. Stuttgart/Weimar 2002. S. 1–12. Vgl. hier S. 3. Die dabei entscheidende Neuinterpretation ist nach Renger die von Narziss als dem Idealbild des romantischen Dichters, der sich von der Welt, von der sich „industrialisierenden und dadurch banalisierenden Gesellschaft“ abwende, um sich mit der „eigenen Persönlichkeit“ aber auch mit „Traum, Kult und Mythos“ zu beschäftigen. Almut-Barbara Renger (Hg.): Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jacques Lacan. Leipzig 1999. Hier und im Folgenden S. 18.
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 103–119.
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oder zumindest kongenialer Künstler belebt auch in der Rolle des Narziss sein Werk. Beide Mythen und ihre Implikationen beginnen, sich zu überschneiden. Nun ist der Narzissmythos, wie er erstmals bei Ovid in schriftlicher Form bekannt wird, ein Stoff, der einen prekären Aspekt birgt. Narziss als ‚Idealbild‘ des Dichters impliziert über die Vorläufer und das Potenzial des Mythos immer auch eine unheimliche Gefahr. Eine solche Gefahr geben die Varianten des Pygmalionmythos bis dahin nicht vor. Doch durch die Kombination mit den Mythemen des Narzissstoffs wird auch dieser ‚etablierte‘ Künstlermythos immer öfter ins Unheimliche gewendet. Beide Entwicklungen werden durch dieselben Kunstphilosophien und Wahrnehmungstheorien – vor allem die Ausführungen Winckelmanns, Moritz’, Herders und Fichtes – und deren Popularisierung möglich. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwieweit sie die Überblendung der Künstlerbilder von Narziss und Pygmalion auf kunsttheoretischer und poetologischer Ebene vorantreiben. Zunächst aber erfolgt ein Blick auf den fiktionalen, literarischen Text. Dort treffen sich Varianten beider Mythen im Motiv der Statuenliebe und, weiter gefasst, im Motiv des belebten Kunstwerks. Joseph von Eichendorffs Marmorbild ist nur eines der Beispiele, an dem sich die Fusion der Stoffe und ihrer Implikationen beobachten lässt.
Zwischen Pygmalion und Narziss: Florios Belebung des Marmorbilds Es wird niemanden wundern, in einem Text über Das Marmorbild etwas über Pygmalion zu lesen, wenngleich Elisabeth Frenzels Stoff-Lexikon der Literatur4 die Erzählung unter dem Begriff der „Statuenverlobung“, nicht aber unter „Pygmalion“ aufnimmt und Annegret Dinter in ihrer Rezeptionsgeschichte des Pygmalionstoffs eindringlich vor einer „Ausweitung“ oder gar „Aufweichung“5 der Motivik warnt. In der neueren Forschung hingegen ist die Lesart, die Geschichte um den jungen Dichter Florio als Pygmalionmythos zu verstehen, verbreiteter.6 Zwar ist Florio kein Bildhauer. Doch neben der Liebe zu einem Standbild finden sich in den Varianten des Pygmalionmythos eine ganze Reihe von Themenkomplexen angelegt, die in Eichendorffs Erzählung wieder auftauchen: Die Opposition der Kunstfrau zur lebendigen, menschlichen Frau ist den Texten eingeschrieben. Die Zeichen für die –––––––— 4
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Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 9. überarbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart 1998. S. 749 und 659–661. Annegret Dinter: Der Pygmalionstoff in der europäischen Literatur. Rezeptionsgeschichte einer Ovid-Fabel. Heidelberg 1979. S. 115. Dinter erklärt die Statuenliebe zur einzigen Parallele der beiden Erzählungen, die nicht ausreiche, um das Marmorbild zum Teil der Pygmalionrezeption zu machen. Grund dafür ist die ausschließliche Orientierung an der Variante nach Ovid sowie eine insgesamt eher ablehnende Betrachtung der Pygmalionvarianten, die den Stoff negativ werten. Vgl. S. 117. Vgl. bei Britta Herrmann: Anthropoplastiken als Denkfiguren in Wissenschaft und Kunst. In: Aurora 64 (2004). S. 83–102. Hier v. a. S. 92 f. Und Claudia Weiser: Pygmalion. Vom Künstler und Erzieher zum pathologischen Fall. Eine stoffgeschichtliche Untersuchung. Frankfurt am Main 1998. Insbesondere S. 115–125.
Pygmalion gespiegelt. Mythos und Künstlerimagination in Eichendorffs „Das Marmorbild“
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Künstlichkeit oder Lebendigkeit des Körpers ähneln einander in den sehr verbreiteten Metamorphosen Ovids und im Marmorbild bis ins Detail.7 Andere Varianten des Mythos lassen Pygmalion auf ein fertiges aber unbelebtes Liebesobjekt treffen. Titus Flavius Clemens verweist in seiner Mahnrede an die Heiden genau wie Anobius auf ein nicht überliefertes Werk Philostephanos’.8 Dort verliebt sich Pygmalion in eine Venusstatue, so wie es im Marmorbild der Fall ist. Man kann davon ausgehen, dass Eichendorff die frühen Fassungen kannte, denn sie werden im Gründlichen Mythologischen Lexikon Benjamin Hederichs aufgeführt. Dort rangieren sie noch vor dem Stoff Ovids als erster Eintrag zum Stichwort „Pygmalion“: ein König in Cypern […] verliebte sich in eine schöne Bildsäule der Venus daselbst, und begegnete ihr nicht anders, als wenn sie lebendig wäre. Er ließ sie von ihrem Platze wegnehmen und in sein Bette legen, weil er sie zur Gemahlinn haben wollte […]. Andere machen ihn zu einem Bildhauer […].9
Florio ist also zunächst Kunstrezipient und wird erst in der Belebung der Venus zum Künstler. Sein Kunstideal darf er direkt zu Beginn der Erzählung äußern und wird sofort von Fortunato mit einer heiteren Invektive auf das Dichterbild bedacht: Geschäfte, so gibt Florio auf des Fremden Frage hin zu, habe er eigentlich gar keine. „Gar keine Geschäfte? Nun, so seyd Ihr sicherlich ein Poet!“ spottet Fortunato.10 Der Nachwuchsdichter skizziert in Anlehnung an die alten Meister sein Kunstideal: Er lobt die Lebendigkeit der Werke, „wie da alles wirklich da ist und leibt und lebt“ (HKA V/1 31). Ziel ist also nicht nur die Nachahmung der Wirklichkeit, sondern die Schöpfung einer eigenen belebten Welt – zudem einer Welt, welche die Realität übertrifft. Das in der Pygmalionerzählung des Ovid formulierte Ideal klingt hier an: „Du möchtest glauben, sie lebe, wolle sich bewegen […]. So vollkommen verbirgt sich im Kunstwerk die Kunst!“11 Dass Florio die Belebung des Marmorbildes für möglich hält und nach einem ersten Schrecken auch nicht weiter hinterfragt, sondern sie als besonderes Geschenk ansieht, zeigt sich nach der Begegnung im Garten: –––––––— 7 8
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Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Darstellung der Hautfarbe und Körperwärme. Die von Arnobius und Titus Flavius Clemens zitierte Stoffvorlage ist unbekannt; man geht davon aus, dass Philostephanos Erzählungen der griechischen Antike gesammelt hat, die sich um die Insel Zypern ranken. Vgl. dazu Achim Aurnhammer und Dieter Martin: Mythos Pygmalion. Stuttgart 2003. S. 251. Benjamin Hederich: Gründliches Mythologisches Lexikon. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig, 1770. Darmstadt 1986. Sp. 2123. Schon in dieser ersten Äußerung des Sängers finden sich kritische Anklänge an das Bild des Dichters als selbstversunkener Narziss. Diese Motivebene wird im Folgenden genauer untersucht. Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild. In: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und Band V/1: Erzählungen. Erster Teil. Hg. von Konrad Polheim. Tübingen 1998. S. 29–82. Hier S. 31. Im Folgenden zitiert mit der Sigle HKA V/1 und Seitenzahl in Klammern im laufenden Text. Ovid (Publius Ovidus Naso): Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Michael von Albrecht. Bibliographisch ergänzte Auflage. Stuttgart 2003. Liber X. V. 250–252. S. 527.
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Ihm war so unbeschreiblich wohl. Das schöne Marmorbild war ja lebend geworden und von seinem Steine in den Frühling hinunter gestiegen, der stille Weiher plötzlich verwandelt zur unermeßlichen Landschaft, die Sterne darin zu Blumen und der ganze Frühling ein Bild der Schönen. (HKA V/1 53 f.)
Seine angstfreie und begeisterte Reaktion wird durch ein Kunstverständnis erklärbar, das die Verlebendigung des Werkes als höchste Stufe der Kunst ansieht und diese als die eigentliche schöpferische Leistung des Geistes deutet. Mit einer solchen Auffassung kann Florio nicht nur ohne Skepsis seine Liebe zum Marmorbild genießen, er kann sie sogar als Zeichen der Brillanz des eigenen Geistes und als Beweis für sein Künstlersein nehmen – eine weitere Motivation für die Statuenverehrung. Wie die Belebung des Venusbildes und dessen anschließende Wandlung ins Dämonische mit dem Pygmalionmythos als „Kritik an einem Kunstverständnis, das Mimesis als Ersetzung von Natur durch Kunst missversteht“, lesbar wird, zeigt Britta Herrmann und belegt den Protagonisten des Marmorbilds mit der Bezeichnung „Anti-Pygmalion“.12 Dieses ‚Anti‘ in der Künstlerdarstellung lässt sich konkreter im Bild des Narziss fassen. Gleich eine ganze Reihe von Handlungselementen und einzelnen Formulierungen stimmen mit der berühmten Variante Ovids überein. Allen voran ist das Wassermotiv zu nennen, das Volker Klotz als bewegte und bewegliche Antipode zum Stein deutet.13 Vor allem aber zeigt sich mit dem Wasser das Spiegelmotiv verknüpft: Als Florio die Venusstatue am Ufer eines Weihers entdeckt, wirkt es, als betrachte sie das „Bild der eigenen Schönheit, das der trunkene Wasserspiegel [...] widerstrahlte“ (HKA V/1 45). Florio wird also nicht direkt in die Rolle des Narziss gesetzt, das Motiv aber weist die zunächst idyllisch wirkende Szene als gefährlich aus. Im weiteren Verlauf der Erzählung treten Wasser- und Spiegelmotiv dann auf, wenn die Illusion perfekt ist. Als Florio die Venus auf dem Schloss besucht, fallen die Wasserstrahlen der vielen Springbrunnen (vgl. HKA V/1 67) Florio bereits im Schlossgarten ins Auge. Im Eingangsbereich liegt die Venus auf einem Ruhebett, ein neben ihr kniendes Mädchen hält „ihr einen reich verzierten Spiegel vor“ (HKA V/1 68), in dem sie sich fortwährend betrachtet, während sie mit Florio spricht (vgl. HKA V/1 69). Wenn der Protagonist im Venusbild seine „lang gesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte“ (HKA V/1 45) sieht, lagert er das Eigene in ein Gegenüber aus: Die Eigenliebe ist getarnt als Objektliebe. Das Ich muss als das Andere erscheinen. Unterstützt wird diese Trennung dadurch, dass Florio es – zumindest beim ersten Kontakt – durch eine Art brechendes Medium betrachtet. Das Ich wird medial verfremdet und ist deshalb nicht als solches zu erkennen. Ovids Narziss erlebt das Wasser als trennendes oder distanzierendes Medium, das aber erst die Beseelung möglich macht. So klagt er: „Kein weites Meer, kein Weg, keine Berge, keine Mauern mit verschlossenen Toren, nur ein wenig Wasser hält uns von einander fern!“ Der Erzähler kommentiert, „fast ein Nichts“ sei es, „was den Lieben-
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Herrmann: Anthropoplastiken (wie Anm. 6). S. 89 und 90. Vgl. Volker Klotz: Venus Maria. Auflebende Frauenstatuen in der Novellistik. Bielefeld 2000. S. 35 und 49.
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den im Wege steht“.14 Im Marmorbild wird dieses Spiel von Nähe, Distanz und medialer Brechung durch die Spiegelung der Venus im Wasser übernommen. In Momenten der perfekten Täuschung scheint Florio gar in den Wasserspiegel eingetaucht zu sein. Liebender Betrachter und gespiegeltes Gegenüber fallen dann in eins, Realität und Kunstwelt greifen ineinander. Florio nimmt die trennende Schwelle des Materials nicht mehr wahr. Hier sei auf eine alternative Fassung des Mythos von Narziss verwiesen, die Hederich angibt. Danach stürzt Narziss sich in die Quelle und stirbt: „Allein, da er doch keinen genugsamen Trost daher nehmen konnte, so vergieng er endlich vor Leiden, oder stürzete sich auch, nach einigen, selbst mit in den Brunnen und ersoff.“15 Das Versinken im Wasser gehört also zu den Inhalten des Narzissstoffes. Von den vielen Passagen, in denen Florio im Wasser versinkt oder versunken ist, seien hier nur zwei genannt. In Florios Traum tauchen Sirenen aus dem Wasser auf, „die alle aussahen wie das schöne Mädchen mit dem Blumenkranze“. Doch das Schiff, auf dem sich der Protagonist imaginiert, sinkt „immer tiefer und tiefer“ (HKA V/1 43): Florio entscheidet sich für das Wasser und den Tod – motivisch verknüpft mit der Statue am Weiher und der Verführung. Entsprechend geht später im Garten der Venus „der Strom der Tage mit leichten, klaren Wellen“ über ihn hinweg (HKA V/1 50). Als weitere Parallele fällt auf, dass sowohl Narziss als auch Florio in der Belebung ihres Gegenübers selbst zum Standbild werden: Narziss „bestaunt sich selbst und verharrt unbeweglich mit unveränderter Miene wie ein Standbild aus parischem Marmor“.16 Florio steht vor dem Venusbild „wie eingewurzelt“ (HKA V/1 45). Übereinstimmungen zwischen Marmorbild und der ovidschen Narzisserzählung finden sich besonders deutlich im Scheitern der Imagination. Bei Ovid trübt Narziss mit seinen Tränen das Wasser und „durch die Bewegung im See wurden die Umrisse unscharf“.17 Das Verschwinden des Bildes stürzt den Protagonisten in tiefe Verzweiflung. Ebenso geschieht es Florio: Der Spiegel, den der Weiher gebildet hatte, ist zerstört, als „ein stärkerer Wind den Weiher in trübe Wellen [kräuselt]“. Wenn das Kunstwerk aber nur durch Florios Blick und die im Wasserspiegel sinnbildlich dargestellte Eigenliebe belebt werden kann, so muss die Einbildung nun brechen: „[Das] Venusbild, so fürchterlich weiß und regungslos, sah ihn fast schreckhaft mit den steinernen Augenhöhlen aus der gränzenlosen Stille an. Ein nie gefühltes Grausen überfiel da den Jüngling“ (HKA V/1 46). Die Belebung des künstlichen Liebesobjekts erfolgt in beiden Fällen über den Blick des jungen Mannes. Ovid betont den „unersättlichen Blick“ des Narziss, der „an seinen eigenen Augen zugrunde [gehe]“.18 Auch Florio belebt das Venusbild über das Sehen; dieses doppelt sich motivisch, indem nicht nur der Blick des Protagonisten, sondern auch die Augen der Statue betont werden: –––––––— 14 15 16 17 18
Ovid: Liber III. V. 448–450 und V. 453. S. 155. Hederich: Mythologisches Lexikon (wie Anm. 9). Sp. 1687. Ovid: Liber III. V. 418 f. S. 153. Ebd. V. 475 f. S. 157. Ebd. V. 439 f. S. 155.
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Je länger er hinsah, je mehr schien es ihm, als schlüge es die seelenvollen Augen langsam auf, als wollten sich die Lippen bewegen zum Gruße, als blühe Leben wie ein lieblicher Gesang erwärmend durch die schönen Glieder herauf. (HKA V/1 45 f.)
Doch nur Florios verlangender Blick kann die Venus lebendig machen und halten. Als er die Augen „vor Blendung, Wehmut und Entzücken“ schließt und anschließend wieder öffnet, „schien auf einmal alles wie verwandelt“ (HKA V/1 46). Andere Sinne können die Belebung nicht derart perfekt simulieren, sie werden sogar explizit ausgeschlossen. Greift Narziss ins Wasser, um das Gegenüber zu ertasten, so findet er nichts vor; der Geliebte scheint zu sprechen, aber hören kann er ihn nicht. Es bleibt nur das Auge, welches die Illusion stützt. Während also im Pygmalionmythos der Beweis für die stoffliche Veränderung der Geliebten über den Tastsinn erbracht wird, wird für Narziss die Berührung ein Moment des Zweifels oder gar Auslöser für den endgültigen Bruch der Illusion: „Wie oft tauchte er, um den Hals, den er sah, zu erhaschen, die Arme mitten ins Wasser und konnte sich nicht darin ergreifen!“.19 Auch Florio, in der Haltung des Narziss, kann die geliebte Venus nicht berühren, während sie umgekehrt dazu durchaus in der Lage ist: Sie nimmt ihn beim Gang durch das Schloss „freundlich bei der Hand“ (HKA V/1 69), später streicht sie ihm die Haare aus der Stirn (vgl. HKA V/1 71). Augenfällig wird dieser Aspekt besonders im Vergleich mit dem Umgang zwischen Florio und Bianka: Diese kann der Protagonist beim Tanz in den Arm nehmen (vgl. HKA V/1 58) und sogar „auf die rothen, heißen Lippen“ küssen (HKA V/1 36). Zur lebendigen Frau besteht keine solche Schwelle der Materialität.20 Florios Einbildung kippt dann auch an der Berührung einer Statue ins Unheimliche, bevor sie bricht: Florio hatte indeß, im Schreck zurücktaumelnd, eines von den steinernen Bildern, die an der Wand herumstanden, angestoßen. In demselben Augenblicke begann dasselbe sich zu rühren, die Regung theilte sich den andern mit, und bald erhoben sich alle die Bilder mit furchtbarem Schweigen von ihrem Gestelle. (HKA V/1 73)
Dieser Einbruch des Dämonischen zeigt Florio die wahre Natur der Venus: nicht nur, dass die Geliebte als Marmorstatue nicht lebendig ist, sondern auch, dass er in der Belebung nur sich selbst geliebt hat. Denn im selben Augenblick, da Florio sie als Marmorbild erkennt, muss er eine weitere unheimliche Entdeckung machen: „[Alle] Ritter auf den Wandtapeten sahen auf einmal aus wie er und lachten ihn hämisch an“ (HKA V/1 73). Spätestens hier offenbart sich die Selbstspiegelung auf erschreckende Weise. –––––––— 19 20
Ebd. V. 428 f. S. 153. Maren Lorenz betont in ihrer Einführung in die Körpergeschichte, dass die „Wahrnehmung von Individualität über kulturell vermittelte körperliche Grenzsetzungen erfolgt“. Einfachstes Beispiel ist die Haut als Organ, das den Menschen in seiner Gesamtheit von der Umwelt trennt. Hier zeigt sich bereits, wie das Verständnis vom Ich als Gegensatz zum Anderen über den Körper definiert wird. Die Haut als Grenze markiert eigenen und fremden Körper. Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000. S. 26.
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Dass sich Pygmalion- und Narzissmythos im Marmorbild so eng verbunden zeigen, ist wenig verwunderlich, sieht man sich die berühmten Varianten Ovids im Vergleich an. Auch dort teilen sie weit mehr als nur die Motive der intensiven Liebe und der Verwandlung. In beiden Erzählungen werden auch die Frauen in der Umgebung der Protagonisten einer Verwandlung unterzogen: Die Propoetiden verwandeln sich im Pygmalionmythos zu Stein, ebenso die Nymphe Echo, nachdem sie von Narziss verschmäht wurde. Das Verlebendigen des unbelebten Liebesobjekts bedeutet im Gegenzug die Versteinerung der lebendigen Frau. Eine weitere offensichtliche Parallele ist die Liebe zum eigentlich unbelebten Gegenüber, zu einem Bild. Das Motiv der Wahrnehmung, auch der falschen oder irrtümlichen Wahrnehmung, ist hier angelegt. Gemeinsam ist beiden Stoffkomplexen außerdem die völlige Fixierung der Aufmerksamkeit und Leidenschaft auf das Gegenüber. In beiden Fällen hat die Liebe zum Objekt mit Isolation im räumlichen Sinne, aber auch sozialer Isolation zu tun. Wie bereits skizziert, betonen die Ovidschen Varianten beider Mythen das ‚Material‘ als Schwelle. Während bei Pygmalion die Belebung des Gegenübers sich gerade in der Veränderung der Haut als stofflicher Grenze bemerkbar macht, von Elfenbein über Wachs bis zur menschlichen Haut, muss Narziss an eben dieser Grenze scheitern. Damit geht auch eine Hierarchie in der Zuverlässigkeit der Sinne einher. Bei der isolierten Betrachtung einzelner Aspekte der Erzählungen als Mytheme im Sinne Lévi-Strauss’,21 fällt also auf, dass bestimmte Sinneinheiten sowohl dem Pygmalionmythos als auch dem Mythos von Narziss eingeschrieben sind. Die Nähe beider ist erzählerisch bereits angelegt, die Annäherung auf symbolischer Ebene erfolgt erst wesentlich später, zu einem Zeitpunkt, an dem beide Figuren in symbolischer Bedeutung in kunsttheoretischen und kulturphilosophischen Abhandlungen verwendet werden. Mit der Verwendung als Allegorien des Künstlertums kommt im 18. Jahrhundert somit eine Parallele hinzu.
Künstlerbilder – Versenkung, Liebe, Belebung in der theoretischen Diskussion Eine wesentliche Voraussetzung für das Zusammenfallen der beiden mythologischen Figuren in einem – wenngleich ambivalenten – Konzept von Künstlertum bildet Johann Joachim Winckelmanns Kunsttheorie, die den Betrachter in die Position des Künstlers erhebt. Die richtige Betrachtungshaltung ist hier von großer Wichtigkeit, um aus dem antiken Bruchstück qua liebender Imagination wieder ein Ganzes zu machen, es mit Leben zu füllen und in narrative Zusammenhänge zu setzen: Der erste Anblik wird dir vielleicht nichts, als einen verunstalteten Stein entdeken; vermagst du aber in – du dieses die Geheimnisse der Kunst einzudringen, so wirst du ein Wunder derselben erbliken, wen
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Vgl. Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I. Übersetzt von Hans Naumann. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1991 (dt. Erstauflage 1972).
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– wird dir Herkules wie mitten in allen seinen UnterWerk mit einem ruhigen Auge betrachtest. Alsden nehmungen erscheinen, und der Held und der Gott werden in diesem Stüke zugleich sichtbar werden.22
Die künstlerische Offenbarung, die hier in der Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom bereits anklingt, wird in der Beschreibung des Apollo um eine Anleitung zur richtigen Rezeption ergänzt: Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten, und versuche, ein Schöpfer einer himlischen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen […].23
Die Belebung des Kunstwerks wird durch den Vergleich zu Pygmalion als eigene und eigentliche künstlerische Leistung etabliert und in der Benennung des Rezipienten als „Schöpfer“ sprachlich gefasst. Die Möglichkeit, dem Künstler kongenial nachzufolgen, gerät so zur Offenbarung des eigenen Künstlertums.24 Dabei ist es nicht nur so, wie Oskar Bätschmann erklärt, dass die „Wiederherstellung und Belebung […] erotische Vorstellungen [hervorrufen]“.25 Vielmehr wird die Liebe gerade zur Basis der Belebung, wie der Vergleich mit Pygmalion nahelegt: Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. […] ich fühle mich weggerückt nach Delos und in die lykischen Haine, Orte, welche Apollo mit seiner Gegenwart beehrte, denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit. Wie ist es möglich, es zu malen und zu be-
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Johann Joachim Winckelmann: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. In: Johann Winckelmanns saemtliche Werke. Hg. von Joseph Eiselein. Neudr. d. Ausg. 1825–1835. Osnabrück 1965. Bd. 1. S. 226–233. Hier S. 227 f. Johann Joachim Winckelmann: Beschreibung des Apollo im Belvedere. In: Johann Winckelmanns saemtliche Werke. Hg. von Joseph Eiselein. Neudr. d. Ausg. 1825–1835. Osnabrück 1965. Bd. 6. S. 221–224. Hier S. 222. Das 18. und 19. Jahrhundert hatten bekanntermaßen Wege gefunden, diese Belebung im Geiste zumindest für die Betrachtung bildender Kunst einfacher zu gestalten. ‚Tableaux vivants‘, theatralische Darstellungen von Gemälden durch oft verkleidete Personen, die zu Bildern erstarren und wieder zum Leben erwachen, und die Besichtigung von Galerien bei Fackelschein sind als Praktiken zu werten, die Winckelmanns Ideal der Kunstbetrachtung trivialisieren und der Masse zugänglich machen. Letztere Technik kam um 1800 sehr in Mode. Auch Eichendorff nimmt diese Praxis der Verlebendigung durch die Beleuchtung in der Erzählung auf und betont damit einmal mehr die Wichtigkeit der visuellen Wahrnehmung. Im Marmorbild ist an zahlreichen Stellen zu beobachten, wie das Licht Florios Illusion stützt. Über die Lichtverhältnisse werden die Statuen im Schloss der Venus sexualisiert und bekommen lebendigen Charakter: Wenige Kerzen beleuchten die Standbilder, „über deren reizende Formen die schwankenden Lichter lüstern auf und nieder schweiften“ (HKA V/1 70). Nicht zufällig erwachen eben diese Statuen später zum Leben. Oskar Bätschmann: Belebung durch Bewunderung. Pygmalion als Modell der Kunstrezeption. In: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Hg. von Mathias Mayer und Gerhard Neumann. Freiburg im Breisgau 1997. S. 325–370. Hier S. 346 und 348.
Pygmalion gespiegelt. Mythos und Künstlerimagination in Eichendorffs „Das Marmorbild“
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schreiben! Die Kunst selbst müßte mir raten und die Hand leiten, die ersten Züge, welche ich hier entworfen habe, künftig auszuführen.26
Letztlich genießt der Kunstbetrachtende die Belebung als sein Werk; es ist „mein Bild“, das belebt scheint. Er bewundert damit seine eigene Leistung, sich selbst – nicht den eigentlichen Künstler. In der liebenden Betrachtung des belebten Kunstwerks rückt er damit der Haltung des Narziss näher. Karl Philipp Moritz nimmt die Forderung nach Innerlichkeit in der Betrachtungshaltung auf und verbindet sie in auffälliger Weise mit dem Spiegelmotiv. In seiner Abhandlung Ueber die bildende Nachahmung des Schönen entwirft er die Künstlerseele als idealisierenden Spiegel und diesen als Grundlage jeder schöpferischen Tätigkeit. ‚Spiegeln‘ und ‚Leben einhauchen‘ gehören dabei unmittelbar zusammen: So geht die um sich greifende, zerstörende Thatkraft, sich auf sich selber stützend, in die sanfte schaffende Bildungskraft, durch ein ruhiges Selbstgefühl, hinüber, und ergreift den leblosen Stoff, und haucht ihm Leben ein. Auf diese Weise bildete unter jedem Himmelsstrich die Natur das Schöne, sich in den reinsten Seelen in ihren ruhigsten Momenten spiegelnd.27
Doch Moritz weist bereits darauf hin, dass das im Inneren geschaffene Bild auch wieder in die Welt zurück gebracht werden muss. Der Künstler, durch die Kunst angeregt, verwandelt nicht nur Thier und Pflanze, durch Werden Wachsen und Genuß in sein innres Wesen; sondern faßt zugleich alles, was seiner Organisation sich unterordnet, durch die unter allen am hellsten geschliffne, spiegelnde Oberfläche seines Wesens, in den Umfang seines Daseyns auf, und stellt es, wenn sein Organ sich bildend in sich selbst vollendet, verschönert außer sich wieder dar.28
Christian Begemann führt aus, wie sich dieses Ideal einer Anregung durch fremde Werke um 1800 auch als Konzept in der Dichtung immer stärker verbreitet. Wenn er in den poetologischen Schriften der Romantik den Fremdtext als Ausgangsbasis für den dichterischen Prozess erkennt, das ‚Weiterdenken‘ des Kunstwerks, eine Art von produktiver Rezeption als die eigentliche Kunst nachweist, kommt das dem Bild der Kunstbetrachtung bei Winckelmann sehr nahe. An den poetologischen Aussagen Novalis’ sowie an Eichendorffs Ahnung und Gegenwart erläutert Begemann, dass als eigentliches Kunstwerk nicht das materiell greifbare Werk, sondern das innere Bild des Künstlers angesehen werde. Das Abbild dieser Imagination müsse immer hinter das nur gedachte Original zurückfallen. „Daher tritt das poetische Produkt als fixiertes Werk gegenüber seinem Entstehungsmoment in den Hintergrund: Es ist mehr die Haltung, die zählt, als ihr Ertrag.“29 Damit aber ist ein Künstlerbild angelegt, das (wie bei Winckelmann vorgedacht) das Betrachten, das Lesen, das Verlebendi–––––––— 26
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Winckelmann: Apollo (wie Anm. 23). S. 223. Der letzte Satz zeigt außerdem, wie hier die Kunstbetrachtung zur Basis der Kunstproduktion werden soll. Karl Philipp Moritz: Ueber die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig 1788. S. 36. Microfiche Gesamtausgabe in der Bibliothek der deutschen Literatur. München 1990–1994. Moritz: Nachahmung des Schönen (wie Anm. 27). S. 34. Christian Begemann: Eichendorffs Intertextualitäten. In: Aurora 65 (2005). S. 1–23. Hier S. 10.
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gen des unbelebten Abbilds auch für den Dichter zum zentralen Beweis seines Künstlertums macht. Der Weg ist geebnet, um das Versenken ins Eigene, wie es Narziss verkörpert, als Haltung des Künstlers anzusehen. Der liebende Betrachter wird zum Künstler, im Falle der anthropomorphen Kunstwerke zum Schöpfer.30 Der Diskurs um das Betrachten von Kunst rückt den Fokus auf Fragen der Wahrnehmung. Das Sehen, hier gedacht als Sinneswahrnehmung, aber auch als das innere Sehen, also die Einbildungskraft, muss von der reinen Rezeption ins Produktive gebracht werden. In Johann Gottlieb Fichtes Theorien zeigt sich diese Wendung des Wahrnehmens zur produktiven Tätigkeit. Er begreift das Sehen als einen Prozess der Weltaneignung. Und gesehen werde nicht nur im herkömmlichen Sinne. Auch die Tätigkeit der Einbildungskraft begreift er als ‚Anschauen‘. Damit ist Weltwahrnehmung kein passives Aufnehmen mehr, sondern wird zur aktiven Tätigkeit gewendet. Sie wird gleichzeitig subjektiv und damit unsicherer. Was das für Florios inneres und äußeres Sehen bedeutet, spielt das Marmorbild für die Kunstrezeption durch und wendet es radikal zur Fehlsicht. Fichte dagegen sieht diese subjektive Einbildung noch sehr positiv: Die productive Einbildungskraft sage ich erschafft den Stoff der Vorstellung, sie ist die einige Bildnerin deßen, was in unserm empirischen Bewußtseyn vorkommt, sie ist die Schöpferin dieses Bewußtseyns selbst.31
Basis für alle Einbildungskraft und damit den Geist, wie Fichte kurz darauf ausführt, ist das Gefühl. Die daraus hervorgehenden Ideen und Ideale bedürfen allerdings der Darstellung in der Welt und müssen, um mitteilbar zu werden, in die „Körperwelt“32 eintreten. Um den enthaltenen Geist aus der rein sinnlich wahrnehmbaren Welt anschließend wieder zu erfahren und ihn über diese zu erheben, bedarf es des kongenialen Rezipienten: „Seine Darstellung ist Darstellung des Geistes, lediglich für den, der selbst Geist hat. Für das leblose ist alles ohne Leben; für das geistlose alles ohne Geist.“ Die Verantwortung liegt folglich beim Rezipienten: „An dem Betrachter deßelben ist es, ihm aus sich selbst lebendigen Odem einzuhauchen.“ Die Verknüpfung mit dem Pygmalionmythos liegt nahe und erfolgt wenig später im bekannten Vergleich zwischen Handwerker und Künstler.33 Doch gleich mehrere –––––––— 30
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Zu den Implikationen dieses Bildes von Schöpfertum vgl. Britta Herrmann: Prometheus und Pygmalion als Übersetzer. Produktionsmythologeme zwischen Wissenschaft und Kunst im 18. Jahrhundert. In: Interesse für bedingtes Wissen. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen. Hg v. Caroline Welsh und Stefan Willer. München 2008. S. 109–129. Sie führt darin unter anderem aus, warum dieses Künstlerbild gerade in Konkurrenz zum ebenfalls ‚schöpferisch‘ tätigen Wissenschaftler entsteht und weiter ausgebaut wird (vgl. dazu v. a. S. 122–125). Johann Gottlieb Fichte: Über den Unterschied des Geistes u. des Buchstabens in der Philosophie (1794). In: Ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob. Bd. II/3. Nachgelassene Schriften 1793–1795. S. 316. Ebd. S. 319 f. Ebd. S. 321: „Pygmalion stellt das Meisterstük seines Meißels, dem er Leben, u. Odem, u. Wärme, u. Heben des Herzens, u. Wollen der Glieder mitgetheilt hat, hin vor die Augen des Volks: u. w a s v e r h i n d e r t u n s d i e F a b e l z u e r g ä n z e n , und seinem Werke noch überdies die magische Kraft zu ge-
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Aspekte seiner Theorie rücken diese in die Nähe der sich betrachtenden und liebenden Narzissfigur: das Gefühl als Basis, die Betonung der „Reflexion“34 des Ich sowie die Isolation in der Versenkung in das eigene Denken und Fühlen – und eben nicht in die ‚Körperwelt‘. Dies macht auch eine Aufwertung der Narzissfigur möglich. Walter Erhart hat den Narzissstoff durch das 19. Jahrhundert hindurch verfolgt und sieht darin „eine Art Urszene in der Entstehung moderner Individualität“.35 Renger attestiert Narziss den Aufstieg eines „in seiner Geltung […] von destruktiver Selbstliebe Heimgesuchte[n]“ hin zu einem „in kreativer Selbstbeobachtung Beglückten“.36 Das Sich-Versenken in die eigene Person wird Ausgangspunkt schöpferischen Potenzials. Denn die Spannung zwischen „Wesen und Abbild“ werde nun als künstlerisch fruchtbar wahrgenommen; sein Blick auf sich selbst erschließe dem Dichter „die Komplexität, den unendlichen Raum des eignen Ich“.37 Dabei werde die Berufung auf die Innerlichkeit auch als Schutz gegen die Zerrissenheit des Individuums gesehen. Ein Gegenbild, das auch Fichte entwirft, ohne Narziss aber zu nennen.38 Walter Erhart fasst die Entwicklung zusammen: Über viele Jahrhunderte ein warnendes Beispiel für Selbstbezogenheit und Eitelkeit, verwandelte sich Narziß in eine Figur höchster Produktivität: einerseits durch die Verdopplung und Expression des Selbst im künstlerischen Werk, andererseits durch die Referenz des Ich auf sich selbst als einer Ursprungsszene von Kunst und Kultur.39
Doch die Selbstreflexion setzt voraus, dass Ich und Abbild als solche erkannt werden. Bezieht man die von Winckelmann geforderte und im Narzissmythos angelegte liebende Betrachtung ein, wird das Bild besonders problematisch. Johann Gottfried Herder verwendet das Narzissmotiv 1796 und 1797 einmal theoretisch als Bild des Künstlers und Kunstbe–––––––—
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ben, tod zu bleiben für den, der nicht selbst des geistigen Lebens theilhaftig ist. Es kommt ein ehrlicher Handwerkmann, der den Meisel auch zu führen weiß, hört das Jauchzen der entzükten Kenner, […] faßt Zirkel, u. Lineal, mißt u. berechnet, die Verhältniße, geht hin, arbeitet, endet, u. meint Pygmalions Werk nachgemacht zu haben: u. der Mann hat Recht: das was für ihn Pygmalions Werk war, hat er allerdings nachgemacht.“ Die Belebung also trennt den Künstler vom Handwerker. Fichte deutet hier den Mythos bewusst (s. entsprechend Hervorhebung B. L.) so um, dass er die Belebung in die Wahrnehmung des „geistvollen“ Rezipienten, des Künstlers und Kenners legt. Ebd. S. 326. Walter Erhart: „Wundervolle Augenblicke“ – Narziß um 1900. In: Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace. Hg. von Almut-Barbara Renger. Stuttgart/Weimar 2002. S. 99–115. Hier S. 103. Renger: Mythos Narziß (wie Anm. 3). S. 276. Ebd. Nur am Rande genannt sei hier August Wilhelm Schlegel. Dieser lässt schon 1788 in seinem Gedicht An die Rhapsodin das lyrische Ich seine Dichtung als „Abbild meiner Seele“ beschreiben. Insofern ist die Kunst ein Spiegel des Künstlers, eine Beschäftigung mit dem eigenen Innenleben und die anschließende Darstellung dieser Reflexion in einer künstlerischen, besonders literarischen Form. Die Behauptung, alle Dichter seien Narzisse, entspricht diesem Dichtungsideal. In seinem Sonett Narcissus von 1800 setzt Schlegel diese Deutung des lyrischen Ich als Dichter bereits voraus. August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. Bd. 1. Poetische Werke. Hg. von Eduard Böcking. Hildesheim/New York 1971. S. 10 f. und 332. Erhart: Augenblicke (wie Anm. 35). S. 99.
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trachters, dann literarisch in seinem Fragment Selbst für den schöpferisch Tätigen. Er warnt in Letzterem eindringlich davor, in selbstbezogene Spiegelung und somit in „Eitelkeit“ und erbitternden „Stolz“ zu versinken, und stellt dieser Haltung des Narziss die Kraft der „Vernunft“ in Form eines „Selbst“ gegenüber.40 In seinen Briefen zu Beförderung der Humanität verurteilt er die selbstverliebte Rezeptionshaltung des Künstlers gegenüber den Meistern der klassischen Antike, indem er erklärt: wir [schauen] sie wie Narcisse an, denken daran, was Wir über Sie zu sagen haben, und bewundern unsre Gestalt in dem flüssigen Spiegel der alten heiligen Quelle. Statt an ihnen gehen zu lernen, verlieren manche durch sie den gesunden Gebrauch ihrer eignen Glieder.41
Diese Worte offenbaren bereits die Opposition zur romantischen Kunstbetrachtung und Produktion. So entwickelt auch Friedrich Schlegel in seinem Roman Lucinde zwar das Ideal des pygmalionischen Belebens der Kunst anstelle eines „prometheischen Schöpfungsakts“, einer „creatio ex nihilo“.42 Auch wird Narziss in seiner Idylle über den Müßiggang zum vegetierenden und damit in sich selbst versunkenen Dichter.43 Der Abschnitt zu den Metamorphosen, ebenfalls Teil des Lucinde-Romans, zeigt den Dichter über den Wasserspiegel geneigt, alles im Spiegel seiner Seele, durch seine Reflexion hindurch sehend. Doch diese Selbstreflexion müsse verbunden sein mit der „Liebe“ als Antriebskraft, damit die „Blüte der Schönheit“ nicht „fruchtlos [welke]“.44 Stefan Matuschek bezeichnet diese Deutung des Narzissthemas als „Pioniertat“45 Schlegels. Narziss werde zum „Genießer der Schönheit und ihrer Betrachtung“46 im Gegensatz zu seinem bisherigen Opferstatus. Die Selbstbespiegelung werde als eigener Wert behauptet, wenngleich dies an einigen Stellen ironisch eingeschränkt wird. Die Versenkung soll schließlich zu einem pygmalionischen Schaffensprozess führen. Das Metamorphosen-Kapitel Schlegels ordnet deshalb Narziss an den Anfang der Verwandlungsreihe zu den Entwicklungsstufen des Dichters, Pygmalion aber ans Ende. –––––––— 40
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Johann Gottfried Herder: Selbst. Ein Fragment. In: Ders.: Werke. Hg. von Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a. Bd. 3. Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1990. S. 830–834. Johann Gottfried Herder: Achte Sammlung. 92. Brief. In: Ders.: Werke. (wie Anm. 40). Bd. 7. Briefe zu Beförderung der Humanität. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt am Main 1991. S. 516–519. Hier S. 519. Ausführlich zum Bild des Pygmalion und zur Winckelmann-Rezeption in Herders Schriften vgl. Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der „Darstellung“ im 18. Jahrhundert. München 1998. Hier v. a. S. 67–76 und 93–98. Zusammenfassend bei Weiser: Pygmalion (wie Anm. 7). S. 72. Vgl. Friedrich Schlegel: Lucinde. In: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd. 5. Dichtungen. Hg. und eingeleitet v. Hans Eichner. München/Paderborn/Wien 1962. S. 25–29. Ebd. S. 59–61. Stefan Matuschek: „Was du hier siehest, edler Geist, bist du selbst.“ Narziß-Mythos und ästhetische Theorie bei Friedrich Schlegel und Herbert Marcuse. In: Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace. Hg. von Almut-Barbara Renger. Stuttgart/Weimar 2002. S. 79–97. Hier S. 81. Ebd. S. 95.
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Eine solche Trennung in Entwicklungsstufen allerdings ist angesichts der Überschneidungen zwischen den beiden Künstlerbildern kaum noch möglich. Versucht man die Trennung oder Überwindung des Narziss, wird die Belebung des Pygmalion auch in utopischer Ferne bleiben. Sie ist ja von der Selbstversenkung und Liebe des Narziss abhängig. Denn die reizvolle Verlebendigung des Objekts wird zum subjektiven Eindruck. Der Beweis des eigenen Genies, das künstlerische Schaffen und die Eigenliebe und damit künstlerische Isolation fallen zusammen. Ein Zirkelschluss wird sichtbar: Die Selbstherstellung als Künstler geschieht durch liebende Betrachtung des Kunstwerks, gleichzeitig ist das Künstler-Sein Voraussetzung für die erkennende, inspirierende und liebende Kunstbetrachtung. Das narzisstische47 und das pygmalionische Prinzip kommentieren sich dabei gegenseitig, ironisieren sich selbst und das Künstlerbild der Romantik. In ihrer Verbindung liegen künstlerischer Erfolg und dessen Scheitern erschreckend nah beieinander. So erklärt sich – auf Ebene des fiktionalen Textes gedacht – der Einbruch des Unheimlichen und das Scheitern der Statuenbelebung. Denn wenn Künstlerimagination und Liebesobjekt in eins fallen, dann herrscht nach dem Bruch der Illusion Leere nicht nur im geliebten Gegenüber. Die Leere liegt im Subjekt, führt zum Verlust der Selbstimagination als Künstler und damit zum IchVerlust. Dieses Aufscheinen des Unheimlichen zeigt sich vor allem in der literarischen Bearbeitung und Überblendung der Mythen von Pygmalion und Narziss.
Eine unheilvolle Verbindung: Narzisse und Pygmalione in der Literatur der Romantik Die Verbreitung dieser Legierung von Elementen des Narziss- und des Pygmalionmythos in der Literatur um 1800 zeigt sich bei einem Blick auf weitere Werke, die das Motiv der Statuenliebe aufnehmen, deutlich. Sie findet sich früh schon in Rousseaus berühmter lyrischer Szene Pygmalion angelegt, wo während Galatheas ‚Selbstentdeckung‘ über den Tastsinn eine Spiegelung in ihrem Schöpfer stattfindet und Bildhauer und Figur nicht mehr trennbar sind.48 –––––––— 47 48
Der Begriff ist hier nicht psychoanalytisch zu lesen. GALATHEA berührt sich und sagt: Ich. PYGMALION verzückt: Ich! GALATHEA berührt sich erneut: Ich bin’s. PYGMALION: Entzückendes Trugbild, das selbst mein Ohr täuscht, ah, entschwinde niemals meinen Sinnen! […] Sie berührt ihn mit der Hand; er erbebt, faßt diese Hand, führt sie an sein Herz und bedeckt sie mit glühenden Küssen. GALATHEA mit einem Seufzer: A h , w i e d e r i c h ! PYGMALION: Ja, teures und reizendes Wesen, ja, würdiges Meisterwerk meiner Hände, meines Herzens und das der Götter... du bist’s, einzig du: Ich gab dir mein ganzes Sein; nur noch durch dich will ich leben.“ (Hervorhebung B.L.)
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Wo das Motiv ins Unheimliche gewendet wird, wie bei E. T. A. Hoffmann gleich in mehreren Werken, zeigen sich die Mytheme des Pygmalion- und der Narzissmythos in ihrer Überblendung besonders stark. An dieser Stelle sei exemplarisch auf den Sandmann verwiesen, dessen Parallelen zum Pygmalionmythos Britta Herrmann49 darstellt. Als Motive aus dem Narzissmythos fallen vor allem das Okular als brechendes Medium bei der ersten Begegnung, die Materialgrenze, die immer wieder thematisiert wird, und natürlich die Spiegelung des Protagonisten im Gegenüber auf: „O du herrliche, himmlische Frau! – Du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe – Du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt“, so begeistert sich Nathanael für sein Gegenüber, für seine eigene Imagination und damit letztlich für die eigene Person.50 Ludwig Tieck lässt in Franz Sternbalds Wanderungen Ferdinand von seiner Liebe zu einem Bildnis erzählen, in dem er sich selbst wiederfindet: Sieh dieses Gemälde, das ich vor einigen Wochen fand, und das seitdem meinen Sinn so gänzlich umgewandelt hat. Mit ihm habe ich mein höchstes Glück, ja mich selber gefunden, denn ich lebte vorher ohne Seele, ich kannte mich und die Seligkeit der Welt nicht, denn ich wurde ohne alles Glück in der Welt fertig. […] Ich darf mein Auge nicht davon hinwegwenden, so befällt mich eine marternde Sehnsucht, und wenn ich nun daraufblicke, und diesen süßen Mund, und diese schönen Augen antreffe, so ergreift eine schreckliche Beklemmung mein Herz, so daß ich in unnützen Kämpfen, in Streben und Wünschen vergehe, und mein Leben sich verzehrt, wie du richtig gesagt hast.51
Die dämonische Wendung ist in den letzten Sätzen bereits angezeigt. Das Bild fordert die volle Versenkung und entzieht außerdem dem Liebenden die Lebendigkeit. Insofern zweifelt Leopold zurecht daran, dass Ferdinand sein Glück in diesem Bild finden wird, wenn er skeptisch fragt: „Glaubst du, daß sich dir zu Gefallen das Wunder des Pygmalion erneuern wird?“52 In Brentanos Godwi spiegelt sich das steinerne Bild der Mutter im Wasser, eine Anlehnung an Narziss, in der Claudia Weiser die Projektion eines nicht erreichbaren Lebens er-
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Jean-Jacques Rousseau: Pygmalion. Lyrische Szene. In: Ders.: Königin Grille und andere Kleinprosa. Hg. von Dietrich Leube. Frankfurt am Main 1978. S. 97 f. Vgl. Herrmann: Anthropoplastiken (wie Anm. 6). S. 92 ff. Zu erwähnen bleibt hier eine auffällige weil wörtliche Übereinstimmung zwischen Hederichs Eintrag zum Stichwort „Pygmalion“ und Hoffmanns Beschreibung Olimpias: In beiden Fällen wird die Statue als „schöne Bildsäule“ bezeichnet. Diese Übereinstimmung lässt vermuten, dass Hoffmann Hederichs Eintrag kannte und die Automatenbelebung im Sandmann bewusst an den Pygmalionmythos anlehnte. Hederich 1770. Sp. 2123. E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. In: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hrsg v. Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke. Bd. 3. Nachtstücke. Frankfurt am Main 1985. S. 11–49. Hier S. 34. Hoffmann: Sandmann (wie Anm. 49). S. 40. Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte (1798). In: Ludwig Tieck’s Schriften. Bd. 16. Berlin 1843. Unveränderter photomechanischer Nachdruck. Berlin 1966. S. 142 f. Tieck: Sternbalds Wanderungen (wie Anm. 51). S. 144.
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kennt.53 Heinrich Heines Liebender beugt sich in den Florentinischen Nächten über eine im Gras liegende Marmorstatue und nimmt dabei die ikonographisch tradierte Haltung des Narziss ein. Folglich muss er wie dieser an der Grenze des Materials scheitern.54 Friedrich Launs Gespenstergeschichte Die Wachsfigur spielt mit den Mythemen in besonderer Weise. Die Assoziation zu den Belebungsgeschichten dienen hier zur Spannungserzeugung und Irreführung des Lesers sowie seines Protagonisten. Launs lebendig gewordene Wachsfigur entpuppt sich schließlich als Frau aus Fleisch und Blut. Über den Vergleich zu Pygmalion und die Anspielungen auf den Narzissmythos aber wähnt der Leser zunächst eine Belebung nur in den Augen des Protagonisten Guido. In einem Wachsfigurenkabinett findet man diesen in völliger Versenkung und „tief verloren“ in das „Anschauen einer weiblichen Figur“, außerdem „bleich wie der Tod“.55 Er erklärt seinen Zustand wie folgt: Als ich das liebliche Gesicht anstaunte, so überraschte mich ganz plötzlich der Gedanke an Pygmalion und sein Glück bei Erfüllung des lang genährten Wunsches. Und drauf fing auch die Figur vor mir sich allmählich zu beleben an.56
Seine Suche nach dem Modell der Figur bleibt lange erfolglos. Ob es sich bei den Geschichten über eine mögliche Hinrichtung der jungen Frau um Dichtung oder Wahrheit handelt, bleibt offen. Entscheidend aber wird das erste Treffen der beiden an einem Teich, in dem Guido in seiner Jugend fast ertrunken wäre. Mein Auge ruht eine Zeitlang sinnend auf dem spiegelglatten Teiche. Der Kahn, aus dem ich einst fiel, steht noch befestigt am jenseitigen Ufer. Eine tiefe Schwermuth bemeistert sich meines Wesens. Wie
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Clemens Brentano: Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald und Detlev Lüders. Stuttgart/Berlin u. a. 1978. Bd. 16. Prosa I. Hg. von Werner Bellmann. S. 5–576. Hier v. a. die „Scene aus meinen Kinderjahren“. S. 167–174. Auch hier wird die Beschaffenheit der Oberfläche des Wasserspiegels thematisiert (S. 174); eine weitere Parallele bildet die Tatsache, dass auch Brentanos Protagonist in der Begegnung mit der Statue selbst erstarrt (vgl. S. 187). – Vgl. Weiser: Pygmalion (wie Anm. 7). S. 96. Hingewiesen wird hier auch noch einmal auf Godwis Fall ins Wasser, der ebenfalls mit dem Mythos von Narziss verknüpft ist und sich so auch im Marmorbild und in Launs Wachsfigur (s. Anm. 55) wiederfindet. „Ich hielt den Athem zurück als ich mich über sie hinbeugte, um die schönen Gesichtszüge zu betrachten; eine schauerliche Beängstigung stieß mich von ihr ab, eine knabenhafte Lüsternheit zog mich wieder zu ihr hin, mein Herz pochte, als wollte ich eine Mordthat begehen, und endlich küßte ich die schöne Göttinn mit einer Inbrunst, mit einer Zärtlichkeit, mit einer Verzweiflung, wie ich nie mehr geküßt habe in diesem Leben. Auch nie habe ich diese grauenhaft süße Empfindung vergessen können, die meine Seele durchflutete, als die beseligende Kälte jener Marmorlippen meinen Mund berührte ...“ (Heinrich Heine: Florentinische Nächte. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. Düsseldorfer Ausgabe. Bd. 5. Hamburg 1994. S. 197–250. Hier S. 202 f.) Friedrich Laun: Die Wachsfigur. In: Wunderbuch. Hg. von Johann August Apel und Friedrich Laun. Zweites Bändchen: Gespensterbuch. Leipzig 1816. S. 123–198. Nachdruck. Hg. von Thomas Bürger, Wolfgang Dittrich u. a. Hildesheim/Zürich/New York 2006. Hier S. 144. Ebd. S. 148.
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manches, denke ich, wäre dir erspart worden, wenn du damals den Schlaf in diesem Wasser gefunden hättest! Da staune, da erschrecke ich; denn die Umrisse jener Wachsfigur, keine andere, schwimmen vor mir auf der leuchtenden Fläche. Und gewaltig, wie eine Furie, überfällt mich die Frage vom Hineinstürzen in die Arme der Wellengestalt […].57
Wer so eingeführt wird, kann kein lebendes Wesen sein. Doch nachdem Marie zunächst als Geist enttarnt scheint, kommt es nach langen Phasen des Wachens am Teich, in denen wiederum ihr Bild im Wasser erscheint, zu einem Wiedersehen in ähnlicher Manier. Diesmal glaubt sogar der Protagonist selbst an eine Einbildung und zögert deshalb, seine Gattin zu berühren: „Doch nun erfaßte mich, trotz der Lieblichkeit des ganzen Wesens, der Schauer, daß dieses einer andern Welt angehöre, und ich zögerte meine Arme nach ihm auszustrecken.“58 Doch Maries wahres Dasein, ihr Menschsein, wird bewiesen, ihre Lebensgeschichte erklärt und es kann zum glücklichen Ende kommen. Die Popularität der Allianz von Pygmalion und Narziss in Verbindung mit dem Motiv der nur scheinbar belebten Statue zeigt sich darin, dass Laun auf die Assoziationen und Erwartungen seiner Leser vertrauen kann.
Ein ‚Happy End‘? Die fragliche Überwindung des Künstlerbildes im Marmorbild Wo die seltsame Belebung nur der Einbildung des Protagonisten entspringt, ist – im Gegensatz zu Launs Gespenstererzählung – meist eine poetologische Dimension angelegt. Und häufig muss der Protagonist an seiner Einbildungskraft scheitern, wie Hoffmanns Dichter Nathanael, der sich in den Tod stürzt. Während hier das Ideal vom belebten Kunstwerk über den Tod des Protagonisten als zerstörerisch und falsch entlarvt wird, bietet das Ende des Marmorbilds mit Fortunatos Kunst- und Künstlerbild scheinbar einen Lösungsweg an. Fortunato vertritt ein Kunstideal, das sich der christlichen Religion unterordnet und bei dem sich der Künstler nicht in Selbstliebe und Hybris verliert: „Glaubt mir, ein redlicher Dichter kann viel wagen, denn die Kunst, die ohne Stolz und Frevel, bespricht und bändigt die wilden Erdengeister, die aus der Tiefe nach uns langen“ (HKA V/1 80). Nun wäre es aber falsch, Eichendorffs Erzählung als eine naive Verteidigung des Christentums oder gar missionarische Schrift zu deuten. Gerhard Schulz erklärt, die Dichter der Romantik hätten sich zwar vielfach als Christen empfunden, doch letztlich ästhetisierten sie die Religion. Die Verwendung christlicher Bilder in der Romantik sei „an erster Stelle die Suche nach neuen Mythologien“,59 nach Bildern, in denen sich das Nicht-Sichtbare darstellen ließe. Die Venus lässt sich somit auch weniger durch das Christentum selbst bannen, als vielmehr durch ihre Zurückweisung ins Fiktionale. Fortunato erklärt sie zum Teil einer Sage,
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Ebd. S. 166 f. Ebd. S. 194 f. Gerhard Schulz: Romantik. Geschichte und Begriff. München 1996. S. 94.
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dargeboten in einem Lied (vgl. HKA V/1 76 f.).60 Er trennt damit die Welten von Leben und Kunst, von Wahrnehmung und Einbildung, die sich in Florios Erleben – aber eben auch in den Kunsttheorien seit Mitte des 18. Jahrhunderts – mit den Mythen von Pygmalion und Narziss verbunden haben. Auf diese Weise entkommt Florio dem Wahnsinn, doch diese Lösung funktioniert nur noch im ästhetischen Raum. Der glückliche Ausgang, den die Forschung dem Marmorbild gemeinhin attestiert, bleibt somit an der landschaftlichen Oberfläche der „überglänzten Auen“ (HKA V/1 82) stehen. Denn das scheinbar so gute Ende wird vorsichtig gebrochen, wenn Florio in einer Umkehrung seines bisherigen Verhaltens Bianka zum Kunstwerk werden lässt, zum „Engelsbild auf dem tiefblauen Grunde“ (HKA V/1 82), ikonographisch also zum Marienbild.61 Florio holt nicht mehr die Kunst ins Leben, doch er macht in seinem Blick auf Bianka als Madonnenfigur umgekehrt das Leben zur Kunst. Die Nähe beider Vorgehensweisen ist deutlich. Beide stehen sich so nahe wie die Gegenbilder von Pygmalion und Narziss, die in ihrer Überblendung gleichzeitig Reiz und Gefahr des Künstlerdaseins versinnbildlichen. Dorothea Schlegels eingangs zitierte Unterscheidung zwischen selbstverliebten, schlechten und die Kunst belebenden, guten Dichtern muss scheitern, wenn Narziss sein Gegenüber liebend belebt und Pygmalion sich im Wasser spiegelt.
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Auch diese Einbindung der Motivik in die fiktionale Welt oder ins Erzählen taucht nicht nur bei Eichendorff auf: Der Professor der ‚Poesie und Beredsamkeit‘ in Hoffmanns Sandmann spricht von Nathanaels Schicksal als einer Allegorie; in den Elixieren des Teufels finden sich die Motive im Testament des alten Malers. Auch bei Tieck findet sich die Statuenliebe als Geschichte in der Geschichte auf einer anderen diegetischen Ebene. Dem Leser entgeht außerdem nicht die gemischte Gefühlslage, in der sich Bianka am Ende der Erzählung befindet. Sie blickt Florio „statt aller Antwort selber wie fragend, mit ungewisser, noch halb zurückgehaltener Freude an“ (HKA V/1 82).
Thomas Petraschka
Die „indirecte Darstellung des Ewigen“ Fetischistische Mechanismen in der Dichtung Eichendorffs I. In den 1857 veröffentlichten biographischen Notaten Halle und Heidelberg findet sich gleich zu Beginn ein interessanter Passus, in dem sich Eichendorff wenig begeistert über die idealistische Philosophie in der Nachfolge Kants zeigt. Dort vermerkt er: Seine Schüler aber wollten klüger sein als der Meister, u. Alles aufklären; eine Art chinesischer Schönmalerei ohne allen Schatten, der doch das Bild erst wahrhaft lebendig macht. Sie setzten daher nun ihren lichtseligen Verstand ganz allgemein als alleinigen Weltbeherrscher ein; es sollte fortan nur noch einen Vernunftstaat, nur Vernunftreligion, Vernunftpoesie u. s: w: geben. Da jedoch jene zweite dunkle Provintz höchstunvernünftig mit ihrer Phantasie, mit ihrem Glauben, ihren Volksgefühlen u. Traditionen gegen dieses usurpirte Regiment zu rebelliren unternahm, so machten sie sich's bequem, indem sie das Geheimnißvolle u. Unerforschliche, das sich durch das ganze menschliche Dasein hindurchzieht, ohne weiteres als störend und überflüssig negierten.1
Inwiefern diese Kritik tatsächlich den deutschen Idealismus betrifft, sei dahingestellt,2 interessant und für den Kontext der folgenden Überlegungen relevant ist vor allem der Punkt selbst, über den sich Eichendorff so echauffiert: das Negieren des Geheimnisvollen und Unerforschlichen, das Programm einer Vernunftreligion und Vernunftpoesie. Viel sympathischer erscheint ihm da der „Meister“ selbst, Immanuel Kant, von dem er in beinahe ehrfurchtsvollem Ton berichtet:
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Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer, fortgeführt und hg. von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann. Regensburg 1962–1970, dann Stuttgart/Berlin/Köln/(Mainz): W. Kohlhammer, seit 1997 Tübingen: Max Niemeyer Verlag. (In der Folge zitiert als HKA). Bd. V/4: Erzählungen. Dritter Teil. Autobiographische Fragmente. Hg. von Dietmar Kunisch (1998). S. 139–181. Hier S. 139 f. (Hervorhebung im Original). Adorno etwa hält die Kritik für deplatziert und wirft Eichendorff in diesem Kontext vor, den Idealismus mit dem Rationalismus verwechselt zu haben: „[…] nicht zufällig hat er den deutschen Idealismus, nach Schlegels Wort, eine der großen Tendenzen des Zeitalters, mit dem Rationalismus verwechselt.“ (Theodor W. Adorno: Zum Gedächtnis Eichendorffs. In: Ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt am Main 1973. S. 105–145. Hier S. 133).
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 121–135.
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Kant hatte soeben die philosophische Arbeit seiner Vorgänger streng geordnet u., da er dieselbe in seiner großartigen Wahrheitsliebe für das Ganze als unzureichend erkannte, die Welt lieber sogleich in zwei Provinzen getheilt: in die durch menschliche Erfahrung wahrnembare, die er sich glorreich erobert, u. in die terra incognita des Unsichtbaren, die er mit der, nur dem Genie eigenen heiligen Scheu auf sich beruhen ließ. 3
Jene terra incognita der unsichtbaren Noumena ist für Eichendorff nicht mit Vernunft, und schon gar nicht mit Vernunftpoesie zu entdecken, hier steht es dem Philosophen besser an, sich in „heiliger Scheu“ zurückzuhalten und statt dessen dem zu widmen, was der menschlichen Erfahrung zugänglich ist. Für den Poeten gilt diese Einschränkung zunächst nicht. Eichendorff beschäftigt sich an mehreren Stellen explizit mit der Rolle der Dichtung und beantwortet in seiner Schrift Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands die grundsätzliche Frage, was denn Poesie überhaupt sei, wie folgt: Doch gewiß nicht bloße Schilderung oder Nachahmung der Gegenwart und Wirklichkeit. Ein solches Uebermalen der Natur verwischt vielmehr ihre geheimnißvollen Züge, gleich wie ja auch ein Landschaftsbild nur dadurch zum Kunstwerke wird, daß es die Hieroglyphenschrift, gleichsam das Lied ohne Worte, und den Geisterblick fühlbar macht, womit die verborgene Schönheit jeder bestimmten Gegend zu uns reden möchte.4
Das Denken Eichendorffs zeigt sich an diesem Punkt als zutiefst romantisch. Er lehnt nicht nur einen traditionell mimetischen Poesieentwurf ab, sein Ideal ist vielmehr sogar ausdrücklich eine „Darstellung des Ewigen“, die ihm wiederum nicht unmittelbar, aber immerhin „indirect“ möglich scheint: Aber eben so wenig darf die Poesie auch andererseits eine unmittelbare Darstellung der übersinnlichen Welt unternehmen wollen; denn diese entzieht sich, wie der Abgrund des gestirnten Himmels in unbestimmte Lichtnebel zerfliesend, in ihrer unermeßlichen Ferne und Höhe beständig der Kunst und ihren irdischen Organen; […] Die Poesie ist demnach vielmehr nur die indirecte, d. h. sinnliche Darstellung des Ewigen und immer und überall Bedeutenden, welches auch jederzeit das Schöne ist, das verhüllt das Irdische durchschimmert.5
Eichendorff steht hier in jener bis mindestens zu Platon zurückreichenden Tradition der Trennung von Poesie und Philosophie, die eine Spaltung der Erkenntniskategorien in einen mythisch-ekstatischen und einen rational-bewussten Pol impliziert. Gerade die Aufgabe der Darstellung einer dezidiert übersinnlichen Welt kann für Eichendorff offensichtlich nicht der Vernunft und deren Hauptanwältin Philosophie zufallen – irrationale Entitäten wie „Geisterblicke“, „Lieder ohne Worte“ und „unbestimmte Lichtnebel“ sind allein das Metier –––––––— 3 4
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HKA V/4 (wie Anm. 1). S. 139. HKA (wie Anm. 1). IX: Literarhistorische Schriften III: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. Hg. von Wolfram Mauser. 1970. S. 21. Ebd. S. 21 f.
Die „indirecte Darstellung des Ewigen“. Fetischistische Mechanismen in der Dichtung Eichendorffs
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der Poesie. Sein Anspruch ist eine „Poesie des Unendlichen, die das Irdische nur als Vorbereitung und Symbol des Ewigen darzustellen“ versucht, die stets „übersinnlich, wunderbar, mystisch, symbolisch“6 ist. Dadurch, dass das Ewige und Unendliche der Transzendenz aber als nicht sinnlich erfahrbar und ebenso wenig direkt poetisierbar charakterisiert ist, muss dessen literarische Umsetzung schon per definitionem strukturell aporetisch bleiben. Die Aufgabe der Poesie ist letztlich nicht weniger als eine Darstellung des Nicht-Darstellbaren. Eine Lektüre von Eichendorffs Werk als Versuch, diesen Anspruch einzulösen, fördert nun – so die These – Mechanismen zu Tage, die ihrem Wesen nach fetischistisch sind.
II. Die Struktur einer fetischistischen Relation zeichnet sich, folgt man Agamben, speziell dadurch aus, dass das dem Fetischisten inhärente Begehren „sein Objekt verneint und zugleich bejaht und dergestalt mit etwas in Beziehung zu treten vermag, das ansonsten weder hätte angeeignet noch genossen werden können.“7 Der Fetisch nimmt eine Stelle ein, die der Psychoanalytiker Wulff schon 1946 einen „leeren Platz“8 nennt und Hartmut Böhme als „Leerstelle, die auch eine Wunde, eine Abwesenheit, eine Negation, ein Loch, ein Mangel, ein Vakuum sein kann“9 bezeichnet. Wulff und Böhme sprechen hier beide die für einen Fetisch konstitutive Eigenschaft an, über sich selbst hinaus auf etwas nicht Gegenwärtiges, nicht direkt Zugängliches zu verweisen und damit selbst sozusagen die Materialisierung einer Abwesenheit zu sein. Eine eben solche Materialisierung einer Abwesenheit ist es, was auch Eichendorff im Medium seiner Dichtung zu versuchen scheint, wenn er die sinnliche Darstellung des Übersinnlichen, die indirekte Poetisierung des Nicht-Poetisierbaren zum Telos seines Schreibens erklärt. Um zeigen zu können, dass die hier angedeutete Analogie keineswegs bloß oberflächlich ist, sondern dass fetischistische Abläufe wesentlich die Tiefenstruktur von Eichendorffs Dichtung mitbestimmen, sollen zunächst einige Absätze angeschlossen werden, die eine erste Eingrenzung des semantisch überdeterminierten Begriffs versuchen.
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Ebd. S. 41. Giorgio Agamben: Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur. Zürich/Berlin 2005. S. 13. Vgl. Moshe Wulff: Fetishism and Object Choice in Early Childhood. In: The Psychoanalytic Quarterly (1946), Vol. XV. S. 450–471. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006. S. 448.
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Der Fetischismus ist ein Konzept, das im Lauf seiner grob 250-jährigen Theoriegeschichte wenig überraschend zum Teil grundsätzlich differierende Ausprägungen erhalten hat.10 Die Frustration aufgrund der daraus resultierenden begrifflichen Überfrachtung und konzeptuellen Divergenz formuliert 1969 der französische Soziologe und Anthropologe Marcel Mauss wohl am konsequentesten: „Was uns betrifft muss der Begriff ‚Fetisch‘ endgültig aus der Wissenschaft verschwinden. Er entspricht nichts außer einem riesigen Missverständnis.“11 Die Schwierigkeit einer umfassenden Grundlagentheorie des Fetischismus liegt, wie spätestens der 1970 von Jean-Bertrand Pontalis herausgegebene Band Objets du fétichisme12 endgültig klar macht, im Wesen des Fetischismus selbst begründet. Jede Generalisierung monokausaler Deutungen eines fetischistischen Verhältnisses steht selbst in dem latenten Verdacht, einem fetischistischen Mechanismus zum Opfer zu fallen.13 Der Rekurs auf einen unumstößlichen, übergeordnet theoretischen Rahmen ist dementsprechend über den Ein–––––––— 10
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Wann das Wort „Fetisch“ zum ersten Mal auftauchte, steht nicht vollkommen genau fest. Es entstand ursprünglich aus der Sprache der portugiesischen Seefahrer, die Ende des 15. Jahrhunderts begonnen hatten, die westafrikanische Küste zu kolonialisieren. Sie bezeichneten die Gegenstände aus Holz, Lehm, Knochen usw., die von der dort einheimischen Bevölkerung verehrt und gefürchtet wurden mit dem in ihrer eigenen Kultur geläufigen Begriff „feitiço“, dem das lateinische „factitius“ („künstlich hergestellt“) zu Grunde liegt. Genauere Angaben zur etymologischen Entstehung sowie zu der frühesten Verwendungsgeschichte des Begriffs finden sich bei Böhme: Fetischismus und Kultur (wie Anm. 10. V. a. S. 178 ff.), sowie bei Karl Heinz Kohl: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München 2003 (v. a. S. 14 ff.). Der Begriff „Fetischismus“ findet sich erstmals 1760 bei Charles de Brosses, weshalb ich an dieser Stelle von einer etwa 250-jährigen Theoriegeschichte spreche. Marcel Mauss: Oeuvre II. Paris 1969. S. 244 f.: „La notion de fétiche doit, quant a nous, disparaître définitivement de la science […] Elle ne correspond qu’à un immense malentendu“. (Übersetzung im Text T. P.) In deutscher Übersetzung erschienen als: Jean-Bertrand Pontalis: Objekte des Fetischismus. Frankfurt am Main 1972. Wesentlich auf die Polymorphie fetischistischer Theorien verweisen innerhalb des Sammelbandes in Ansätzen die Studien von Guy Rosolato (Der Fetischismus, dessen Objekt sich „entzieht“), und – noch eminenter – von Victor Smirnoff (Die fetischistische Transaktion). Hartmut Böhme wird nicht müde, auf speziell diesen Punkt hinzuweisen: „Solange man an der Erklärung dieses oder jenes Fetischs ,bastelt‘ (und man muss dies um der Singularität der Fälle wegen tun), ist man vom fetischistischen Mechanismus überwältigt: Indem das Partielle (die eine Deutung) an die Stelle des Ganzen (des Konglomerats) gesetzt wird, wiederholt man den Fetischismus, den man zu analysieren glaubt. Wie der Fetischist Fetische sammelt, so der Analytiker ihre Deutungen. Jede von ihnen bildet ein Monopol, wie der Fetischist sein Monopol bildet.“ Weiter zu diesem Kontext: „Eben dieses ‚Ganze‘, den Super-Signifikanten, die universale Theorie gibt es nicht. Und wenn sie herbeigezwungen wird, führt dies zu Theorie-Fetischen.“ (Böhme: Fetischismus und Kultur [wie Anm. 10]. S. 448.) – Böhmes Hinweis scheint mir korrekt, jedoch nur im Fall einer versuchten Generalisierung von Analyseergebnissen. Solange eine singuläre Deutung von dem Anspruch der allgemeinen Verbindlichkeit zurücktritt und erst gar keinen generellen theoretischen Rahmen begründen will, muss sie auch als konkret fallbezogen ernst genommen und allein in dem jeweiligen Kontext beurteilt werden.
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zelfall hinaus nicht ohne weiteres möglich. In der Folge sollen dementsprechend also auch jene wesentlich fetischistischen Mechanismen, die sich in Eichendorffs Dichtung nachweisen lassen, aus den jeweils grundlegenden Einzeltheorien entwickelt werden. Eine erste anschauliche und unbewusst bereits auch die problematische semantische Weichheit des Begriffs andeutende Antwort auf die Frage, was denn ein Fetisch sei, gibt 1760 der französische Aufklärer und Erfinder des Begriffs „Fetischismus“, Charles de Brosses: […] es ist ein Baum, ein Berg, das Meer, ein Stück Holz, ein Löwenschwanz, ein Kiesel, eine Muschel, Salz, ein Fisch, eine Pflanze, eine Blume, ein Tier einer bestimmten Gattung wie Kuh, Ziege, Elefant, Schaf, alles und jedes eigentlich, was es ähnliches gibt.14
Auch wenn de Brosses’ Fetischdefinition recht allgemein und letztlich unpräzise bleibt, wird doch ersichtlich, dass für ihn – wie für die Aufklärung nahezu generell – Fetischismus eine eher ethnologische Kategorie ist und dementsprechend streng an kultisch aufgeladene Objekte, an Fetische, Götzen, Amulette, Talismane, Totems usw. geknüpft. Ein derart rigider Konnex ist vor allem bei archaischen Formen des Fetischismus evident, wie man sie in der Aufklärung etwa bei schwarzafrikanischen Stämmen beobachtete. Im Verlauf der Theoriegeschichte weicht diese strenge Verknüpfung mit einem materialen Fetischobjekt zunehmend auf und der Fetischismus wird in anderen Disziplinen als Denkfigur erkannt, die in der Lage ist, auch abstraktere Relationen zu beschreiben.15 Einen der wirkungsmächtigsten Ansätze der Folgezeit entwickelt Karl Marx im Umkreis des mit Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis betitelten Abschnitts 4 des ersten Kapitels seines 1867 erstveröffentlichten opus magnum Das Kapital. Marx hat zunächst weder Bäume, Muscheln noch Löwenschwänze im Kopf, sondern verwendet den Begriff „Fetisch“ eher, um die seltsamen metaphysischen Mucken der Ware nachzuvollziehen: Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales [allgemein bekanntes] Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer [übersinnlicher] Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, daß sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch
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Charles de Brosses: Du Culte des Dieux Fétiches ou Parallèle de l’ancienne Religion de l’Egypte avec la Religion actuelle de la Nigritie. Westmead/Farnborough 1972. S. 18 f.: „c’est un arbre, une montagne, la mer, un morceau de bois, une queue de lion, un caillou, une coquille, du fel, un poiffon, une plante, une fleur, un animal d’une certain espéce, comme vache, chèvre, éléphant, mouton; enfin tout ce qu’on peut s’imaginer de pareil.“ (Übersetzung im Text aus Kohl: Die Macht der Dinge. [wie Anm. 11]. S. 72). Christine Weder macht in ihrer aktuellen Studie für diesen Erweiterungsprozess die Zeit um 1800 fest: „Die Zeit um 1800 zeichnet sich durch die Verallgemeinerung des Fetisch-Begriffs aus, wodurch dieser in Felder wie beispielsweise die Ästhetik übertragbar wird.“ (Christine Weder: Erschriebene Dinge. Fetisch, Amulett, Talisman um 1800. Freiburg/Berlin/Wien 2007. S. 13).
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seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes zum Beispiel wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding.16
Der Tisch aus Marx’ Beispiel gewinnt in Warenform eine über das ordinär sinnliche hinausgehende Dimension, eine sich selbst transzendierende Doppelgestalt, die, wie einleitend schon angedeutet, charakteristisch für einen Fetisch ist. Als materielles Produkt menschlicher Arbeitskraft definiert sich der Tisch über einen bestimmten Gebrauchswert (man kann etwa an ihm sitzen), welcher wiederum als Basis des Tauschwerts fungiert, den der Tisch qua Ware besitzt. Ein direkter Zusammenhang zwischen diesen beiden Wertformen ist für Marx nicht mehr nachvollziehbar: „Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen.“17 Die Ware zeigt sich ihrem Wesen nach als polymorph, sie ist gleichzeitig konkrete Dinglichkeit (als Träger eines Gebrauchswerts) und immaterielles Abstraktum (als Träger eines Tauschwerts) und wird dadurch zu einem „sinnlich-übersinnlichen Ding“ – zu einem Ding mit „Fetischcharakter“. Die Analogie zum Fetischismus liegt eben in der physisch-psychischen Doppelstruktur von Gebrauchswert und Tauschwert im Fall der Warenform sowie von herkömmlichem Gebrauch und magisch-kultischer Funktion im Fall des Fetischobjekts. Zudem liegt in beiden Fällen der symbolische Wert nicht in den Objekten selbst begründet, sondern wird erst durch einen Akt von fetischistischer Aufladung generiert. An sich trivialen, in Marx’ Terminologie „ordinär sinnlichen“ Dingen wie Tischen oder Löwenschwänzen werden die übersinnlichen Eigenschaften oder Bedeutungen, d. h. konkret die Eigenschaften, Ware zu sein oder sanktionsmächtige Gottgestalt, erst beigelegt, sie kommen ihnen per se in keinem Fall zu. Durch eine derartige Aufladung gewinnt die Relation zwischen Fetischist und Fetisch eine progressive Eigendynamik, der Fetisch verliert seine bloß passive Objektnatur und entzieht sich damit rationaler Kontrolle. Es entsteht ein invertiertes Machtverhältnis – der Fetischist ordnet sich dem Fetisch unter und subordiniert sich damit gleichzeitig einer Relation, die je nach dem von Hoffnung auf Wunscherfüllung, Gebet, Verklärung oder auch Zwanghaftigkeit, Abhängigkeit und Furcht näher bestimmt sein kann. Ein zweiter für die Theoriegeschichte generell und ebenso für den engeren Kontext der Studie entscheidender Ansatz stammt von Sigmund Freud. In dem 1927 in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse erschienenen Artikel Fetischismus erklärt Freud Fetischismus zum Symptom einer neurotischen Störung, die auftreten kann, sobald ein junger Knabe mit der Abwesenheit eines Phallus beim weiblichen Geschlecht konfrontiert wird. Die hieraus –––––––— 16
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Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Volksausgabe hg. von Karl Kautsky. Stuttgart 1921. S. 35 (Einfügungen in eckigen Klammern im Original). Ebd. S. 36.
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resultierende Kastrationsangst, die narzisstische Angst auch den eigenen Penis verlieren zu können, wird durch Zuschreibung phallischer Eigenschaften auf ein Ersatzobjekt verdrängt: „Um es klarer zu sagen, der Fetisch ist der Ersatz für den Phallus des Weibes (der Mutter), an den das Knäblein geglaubt hat und auf den es […] nicht verzichten will.“18 Der interessanteste Aspekt des kurzen Aufsatzes ist nun nicht in erster Linie die Gleichung „Fetisch = weiblicher Phallus“, sondern die Struktur der fetischistischen Projektion selbst. Es ist erneut die Wahrnehmung einer Nicht-Präsenz, die vom Knaben kompensiert werden muss. Durch die Weigerung, das erfahrene Vakuum als solches zu akzeptieren, wird ein beliebiges Ersatzobjekt mit ihm im eigentlichen Sinn nicht zukommenden, übersinnlichen Eigenschaften aufgeladen und damit als Füllmaterial für die Leerstelle qualifiziert. Es zeigt sich wiederum jene charakteristische Ambiguität des Fetischs, jene liminale Position zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem die auch Agamben in Bezug auf Freud anspricht: Von diesem Standpunkt aus betrachtet, konfrontiert uns der Fetisch mit dem Paradoxon eines ungreifbaren Objekts, das gerade in dieser seiner Ungreifbarkeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt. Als Präsenz ist das Fetischobjekt tatsächlich durchweg etwas Konkretes und sogar Faßbares; als Präsenz einer Abwesenheit aber ist es in ein und derselben Zeit immateriell und ungreifbar, da es unentwegt über sich hinaus auf etwas weist, dessen man real niemals habhaft werden kann.19
In diesem letzten Satzabschnitt ist geradezu überdeutlich ein Eindruck beschrieben, den auch die Lektüre Eichendorffs vermitteln kann. Seine Poesie scheint stets über sich selbst hinaus zu weisen auf etwas, dass nie real fassbar werden kann, sie entzieht sich sowohl inhaltlich als auch sprachlich bzw. strukturell dem konkreten Zugriff.
III. Dieses „Sich-Entziehen“ ist ein Topos, der sich nahezu durchgehend in Eichendorffs Dichtung wieder findet. An einem Lied Almas, der mysteriösen Venusfigur aus Eichendorffs Erzählung Eine Meerfahrt lässt sich dies exemplarisch zeigen: Bin ein Feuer hell, das lodert Von dem grünen Felsenkranz, Seewind ist mein Buhl’ und fodert Mich zum lust’gen Wirbeltanz, Kommt und wechselt unbeständig. Steigend wild, Neigend mild
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Sigmund Freud: Fetischismus. In: Pontalis: Objekte des Fetischismus. (wie Anm. 12). S. 25–31. Hier S. 26. Agamben: Stanzen (wie Anm. 7). S. 62.
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Meine schlanken Lohen wend’ ich, Komm’ nicht nah mir, ich verbrenn’ dich! Wo die wilden Bäche rauschen Und die hohen Palmen stehn, Wenn die Jäger heimlich lauschen, Viele Rehe einsam gehn. Bin ein Reh, flieg durch die Trümmer Ueber die Höh, Wo im Schnee Still die letzten Gipfel schimmern, Folg’ mir nicht, erjagst mich nimmer!20
Die mysteriöse Venusfigur Alma beschreibt sich selbst mittels einer dem bei Eichendorff stets zauberisch konnotierten Naturraum entlehnten Metaphorik und unterstreicht damit ihren Charakter als Antipode zu Antonio, dem Studenten und Vertreter der Wissenschaft, dem sie ihr Lied vorsingt. So ist bereits in der Konstellation der Personen jener durchweg relevante Gegensatz zwischen Sinnlich-Erfahrbarem und Übersinnlichem angelegt. In „der Wildniß bläst der Sturm die Studierlampe aus“21, wird Antonio von Kapitän Alvarez mit einer für Eichendorffs Erzählungen nahezu universell gültigen Formel schon vorgewarnt, und im Lied Almas findet sich die Ungreifbarkeit der naturmythischen Dimension pointiert umgesetzt. Dieses mittels rational-bewusster Erkenntnis nicht vollständig zu begreifende Moment des Daseins entzieht sich der Vernunft, es ist „nimmer zu erjagen“ und so kategorial different, dass es potenziell vernichtend wirken kann – „Komm nicht nah mir, ich verbrenn’ dich!“ Eine entsprechende Suspendierung rationaler Strukturen gerade im von hintergründigen Verweisungszusammenhängen bestimmten Naturraum zeigt sich ebenfalls in Eichendorffs früher Märchennovelle Die Zauberei im Herbste. Dort wird die spezifische Rolle der poetisierten Natur bereits anhand der Situierung von Rahmen- und Binnenerzählung deutlich. Schon das erste Aufeinandertreffen des Ritters Ubaldo und des Einsiedlers Raimund trägt den in Eichendorffs theoretischen Überlegungen angesprochenen, für sein Poesieverständnis grundlegenden Konflikt zwischen mythisch-ekstatischem und rational-bewussten Erkenntnispol latent in sich. Ritter Ubaldo hat sich bei der Jagd verirrt und trifft inmitten unzugänglicher Wildnis den Klausner Raimund, der ihn nach einer kurzen Begrüßung zu seiner Wohnstatt bringt. Diese ist deutlich als religiöser, vom Menschen der Natur abgerungener Raum präsentiert: –––––––— 20
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Joseph von Eichendorff: Eine Meerfahrt. HKA (wie Anm. 1) V/1: Erzählungen. Erster Teil. Text. Hg. von Karl Konrad Polheim. 1998. S. 199–274. Hier S. 238 f. Ebd. S. 229.
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Sie kamen bald an einen hohen Fels, in dessen Fuß eine geräumige Höhle ausgehauen war. Ein großer Stein lag in der Mitte derselben, auf dem Stein stand ein hölzernes Kruzifix. […] Ubaldo band sein Pferd am Eingange an, während sein Wirt stillschweigend Wein und Brot brachte.22
Gerade in diesem hybriden Schwellenraum des noch nicht vollständig zivilisierten Kirchengebäudes wird die spezifische Rolle der Natur als fetischgleichem Mittler zwischen Ratio und Mystik deutlich, wie sich beispielhaft an dem Lied zeigt, das Raimund in der Nacht anstimmt: Gott! Inbrünstig möcht’ ich beten, Doch der Erde Bilder treten Immer zwischen dich und mich, Und ringsum der Wälder Sausen Füllt die Seele mir mit Grausen23
Wiederum entzieht sich die göttliche Transzendenz dem direkten Zugriff. Es sind konkrete Naturphänomene wie die Bilder der Erde und das Sausen der Wälder, die eine Kommunikation im Medium des Gebets vereiteln. Sie stören die rational-diskursive Struktur der Aussageabsicht und treten „zwischen“ Raimund und seinen transzendenten Adressaten. Die Schwellenposition der poetisierten Natur bewirkt eine Verschleierung der Aussage, auch für den lauschenden Ubaldo klingt Raimunds Gesang – wiederum unter der Einwirkung der Natur – vollkommen unverständlich: [Raimund] schien einige unvernehmliche Gebete herzumurmeln, die aber vielmehr wie verwirrte Zauberformeln klangen. Das Rauschen der Bäche von den nahen Bergen und das leise Sausen der Tannen sang seltsam mit darein […].24
Der direkte Zugang zum „Unendlichen“, eine direkte Kommunikation mit dem „Ewigen“ ist nicht möglich, eine Vermittlung über das Medium Natur bleibt unumgänglich. Der seinem Anspruch nach Klärung schaffende, vernunftgeleitete Diskurs der Rahmenhandlung – das Gespräch zwischen Ubaldo und Raimund – findet dementsprechend auch innerhalb der Schlossmauern statt, explizit abgegrenzt von der ungeordneten Wildnis der Natur. Die Binnenhandlung hingegen schildert Raimunds labyrinthischen Weg durch den mythischen Naturraum selbst, in dem eine bei Eichendorff immer wieder anzutreffende dämonische Venusgestalt, deren Schloss wiederum von einem Garten „wie ein Zauberring“25 umgeben ist, seinen Untergang bewirkt. Hier wimmelt es nachgerade vor Verweisen auf die magische Seite der Natur. Als Raimund in der Mitte eines bewaldeten Tals etwa den Weiher mit den badenden Mädchen entdeckt, heißt es, er sei „geblendet von –––––––— 22 23 24 25
Joseph von Eichendorff: Die Zauberei im Herbste. HKA V/1 (wie Anm. 20). S. 5–27. Hier S. 7. Ebd. S. 8. Ebd. S. 9. Ebd. S. 14.
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dem Zauber, der sich […] da eröffnete“,26 in einem anderen Waldstück fühlt er sich von „Gespenstern gejagt“, während der Mondschein „rings umher magisch den Kreis der nächsten Bäume und Blumen“27 beleuchtet, und auch Ubaldo weiß, dass „Zauberei […] in den nahen Wäldern wohnen“28 soll. Durch diese ständige Verbindung von Momenten wie Gespenstern, Magie und Zauberei und der Natur entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der grundsätzlich rational zu bewältigenden Seite des menschlichen Daseins, symbolisiert durch den aufklärerischen und enträtselnden Duktus des Gesprächs innerhalb der Schlossmauern, und der ständig latent zauberischen Binnenhandlung im Naturraum außerhalb. Es ist hier nicht wesentlich, wie sich diese hintergründig magischen Potenziale der Dinge äußern – charakteristischerweise tun sie dies gar nicht, niemand zaubert tatsächlich, nirgends sprechen die Bäume wie in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, nirgends legen Vögel Perlen und Edelsteine statt Eiern wie in Tiecks Der blonde Eckbert oder schildern Tiere ihre Lebensgeschichte wie in E. T. A. Hoffmanns Kater Murr –, sondern primär, dass überhaupt eine über sich selbst hinausweisende Dimension in den dinglichen Erscheinungen angelegt ist. Dass gerade der Versuch der diskursiven Aufarbeitung der unerklärten Rätsel der Binnenhandlung im Gespräch der beiden Protagonisten schließlich scheitert, und Raimund dem Wahnsinn verfallen zurück in die Wildnis des Waldes läuft, zeigt Eichendorffs grundsätzliche Skepsis gegenüber einer möglichen Aufklärbarkeit des Daseins durch Vernunfttätigkeit, die sich expressis verbis bereits in der eingangs zitierten Kritik am deutschen Idealismus findet. Die durch ihre Poetisierung fetischistisch aufgeladene Natur wird zum symbolischen Repräsentanten einer rational nicht fassbaren Dimension und erlangt einen handlungsrelevanten Status, der über eine bloß passive Rahmen-, Illustrations- oder metaphorische Entsprechungsfunktion hinausgeht. Im Extremfall erhält sie dem bei Marx angelegten, fetischistischen Mechanismus folgend eine letztlich unkontrollierbare Machtposition – auch die Figur des Raimund erliegt schließlich einem solchen Kontrollverlust, sie folgt am Ende der Novelle einem seltsamen Vogel und sonderbaren Waldhornklängen und irrt „im Wahnsinn verloren“29 macht- und willenlos in die Wildnis.
IV. Fetischistische Mechanismen finden sich neben diesen primär inhaltlichen Analogien aber bereits in der Struktur der Sprache Eichendorffs, im poetologischen Bauprinzip seiner Lite–––––––— 26 27 28 29
Ebd. S. 17. Ebd. S. 18. Ebd. S. 20. Ebd. S. 27.
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ratur selbst. Die Bildlichkeit seiner Dichtung ist wie die magische Verweisung der poetisierten Natur nicht mehr von einer exakten Vorstellung einholbar, sie wird nach Adorno „Gleichnis für ein Gestaltloses“30 und deutet über eine lineare Entsprechung von Signifikat und Signifikant hinaus. Metaphern, Metonymien und Vergleiche sind in erster Linie relevant als Tropen des Verschiebens und Verlagerns einer buchstäblichen Bedeutung, stilistische Funktionen wie etwa eine mögliche Erhöhung von Anschaulichkeit, Verdeutlichung eines abstrakten Eindrucks, subjektive Miteinbeziehung des Rezipienten usw. treten in den Hintergrund. Der fliehende Alonzo in der Meerfahrt etwa ist in der Lage zu klettern „wie ein Tiger“31, obwohl Tiger kaum für behändes Klettern stehen, und Sanchez erklärt, die Erde klinge während eines Gewitters „so hohl unter den Tritten, als ging ich über mein Grab“32, obwohl Waldboden während eines starken Regens keineswegs hohl klingt.33 Das Ziel tropischer Sprache scheint an Stellen wie diesen primär eine selbstzweckhafte bedeutungsverschiebende Symbolisierung zu sein, ohne dass eindeutig auflösbar sein muss, wofür ein Symbol steht oder wohin eine Bedeutung verschoben ist. Auf diese Weise erzeugt Eichendorff eben jenen indirekten Verweisungszusammenhang zum Ewigen und Unendlichen, den er in seinen poetologischen Schriften als grundlegendes Ziel festmacht. Auf vergleichbare Art wirkt die für Eichendorffs Naturdarstellungen charakteristische sprachliche Detailarmut und Unschärfe, die in der frühen Forschung oft als Ungenauigkeit oder Unanschaulichkeit bemängelt wurde.34 Obwohl seine Charaktere stets über grüne Wiesen wandern, auf blitzenden Flüssen fahren, durch dunkle Wälder schreiten und sich wesentliche Momente der Handlung in diesen Naturräumen abspielen, ist dies in den allermeisten Fällen alles, was Eichendorff zum jeweiligen setting sagt. Ein Beispiel aus Ahnung und Gegenwart, das durchaus auch aus einem anderen Text Eichendorffs stammen könnte: „Die Frühlingssonne schien warm über die dampfende Erde, Bäume, Gras und Blumen äugelten dazwischen mit blitzenden Tropfen, unzählige Lerchen schwirrten durch die laue Luft.“35 Dieser Beschreibung fehlt nahezu völlig Kontextbezug und Individualität, Eichendorff beschreibt weder wieso die Erde dampft (hat es möglicherweise erst geregnet?), noch welche Bäume, welches Gras, welche Blumen äugeln, oder auch zwischen wem oder was sie das –––––––— 30 31 32 33
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Adorno: Zum Gedächtnis Eichendorffs (wie Anm. 2). S. 119. HKA V/1 (wie Anm. 20). S. 216. Ebd. S. 222. Weitere Beispiele sowie eine ausführlichere Analyse der Struktur ähnlicher Vergleiche in Eichendorffs Eine Meerfahrt finden sich bei Klaus Köhnke: Hieroglyphenschrift. Untersuchungen zu Eichendorffs Erzählungen. Sigmaringen 1986. Kap. 5. Vgl. hierzu u. a. Richard Alewyn: Eine Landschaft Eichendorffs. In: Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie. Darmstadt 1966. S. 19–43. (v. a. S. 32 f.)s HKA (wie Anm. 1). III: Ahnung und Gegenwart. Hg. von Christiane Briegleb und Clemens Rauschenberg. 1984. S. 10.
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eigentlich tun. Ein anderes Beispiel, wenige Seiten später: „Die Sonne neigte sich schon und funkelte schräge durch die dunkeln Wipfel, die sich leiserauschend hin und her bewegten.“36 Wieso rauschen die Wipfel? Und sind es die Wipfel von Laub- oder Nadelbäumen? Und wieso sollen diese eben jetzt so besonders dunkel erscheinen, da doch gerade die Sonne durch sie hindurchfunkelt? Wiederum eine Sequenz, die weder detailliert, noch zwingend auf ihren Kontext gemünzt erscheint, und sich auch gerade deshalb wohl bis zur beinahe wörtlichen Entsprechung in diversen Texten Eichendorffs finden ließe. Die Wiesen sind grün, die Flüsse blitzen und die Wälder sind dunkel. Mit einem Wort Richard Alewyns gesprochen: „Immer wieder rauschen die Wälder, schlagen die Nachtigallen, plätschern die Brunnen, blitzen die Ströme. Immer wieder kommen Lichter oder Klänge aus der Ferne, von den Bergen, aus der Tiefe, zwischen den Wipfeln herüber oder durch das Fenster herein. Das geht bis zur scheinbaren formelhaften Erstarrung.“37 Eichendorff setzt um, was er in der Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands theoretisch formuliert – realistische „Schilderung oder Nachahmung der Gegenwart und Wirklichkeit“38 ist für ihn irrelevant und nicht Aufgabe der Poesie. Das Dargestellte ist nicht an sich, sondern nur als Symbol für das abwesende Unendliche entscheidend, es bleibt konsequenterweise schon der sprachlichen Struktur nach unbestimmt, unscharf und letztlich ersetzbar. Erneut ist es ein typisch fetischistischer Ablauf, der sich hier in Eichendorffs Schreiben findet. Dadurch, dass auch ein Fetisch im Freud’schen Sinn bloß Repräsentant einer Abwesenheit ist, ist er niemals einzigartig, er bleibt immer austausch- und ersetzbar. Erst qua Verkörperung dessen, auf das er verweist, ist er für den Fetischisten relevant, nicht an sich. Das Verlangen des Fetischisten wird nach Freud nicht von einem ganz bestimmten Kleidungsstück (etwa genau dem Wäschestück, das die Mutter des Knaben in der traumatischen Urszene auszieht, woraufhin dieser das Fehlen eines Phallus entdeckt) befriedigt, sondern von jedem beliebigen Wäschestück dieser Art – oder entsprechend jedem beliebigen Schuh, Strumpf, Frauenfuß usw. Unterstrichen wird dies augenfällig durch die Tendenz des Fetischisten, Fetischobjekte anzuhäufen, so viele Fetische wie möglich zu sammeln. Jeder weitere Fetisch enttäuscht den Fetischisten jedoch zwingend auf die immer gleiche Art und Weise, stets ist er nur Verweis auf die Abwesenheit von etwas anderem. –––––––— 36 37
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Ebd. S. 13. Richard Alewyn: Ein Wort über Eichendorff. In: Paul Stöcklein (Hg.): Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie. Darmstadt 1966. S. 7–18. Hier S. 10. Diese Einschätzung findet sich bereits in Werner Kohlschmidt: Die symbolische Formelhaftigkeit von Eichendorffs Prosastil. In: Ders.: Form und Innerlichkeit. Beiträge zur Geschichte und Wirkung der deutschen Klassik und Romantik. Bern 1955. S. 177–209, und wird auch in der neueren Forschung, etwa von Helmut Koopmann, vertreten. Vgl. hierzu Helmut Koopmann: Serielles in Eichendorffs Lyrik? In: Michael Keßler und Helmut Koopmann (Hg.): Eichendorffs Modernität. Akten des internationalen, interdisziplinären Eichendorff-Symposiums 6.–8. Oktober 1988. Tübingen 1989. S. 81–96. HKA IX (wie Anm. 4). S. 21.
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Auch durch unendliche Wiederholung ist dieses Wesensmerkmal nie zu überwinden – was bleibt, ist jene „stets unbefriedigte ahnungsreiche Sehnsucht und Perfectibilität“, die für Eichendorff eben das „eigentliche Wesen aller romantischen Kunst“ sein muss.39 Alewyn selbst gewinnt aus der Beobachtung formelhaft erstarrter Darstellungen bei Eichendorff eine etwas andere Konklusion, die bei einer genaueren Lesart eine weitere strukturelle Analogiebildung zu fetischistischen Modellen ermöglicht. Eichendorffs Landschaften bestünden letztlich in einer Art Sprachbewegung, der sich das entsprechende Subjekt unterzuordnen habe: So wie hier das Funkeln, das Singen und das Klingen, so haben sich an allen den unzähligen Stellen, wo es bei Eichendorff rauscht und singt, blitzt und strahlt, Klang und Licht von ihrer Quelle emanzipiert. Die Nachtigallen schlagen, die Wälder rauschen, die Winzer rufen, die Hunde bellen, der Mond scheint, der Strom glänzt, ein Ring blitzt, die Gegend leuchtet, Fackeln werfen Scheine, und fast stets bleibt das Subjekt selber unangreifbar und bedeutungslos und beinahe vertauschbar.40
Mit der Degradierung der Subjekte geht eine simultane Aufwertung der Verben einher, das Rauschen, Scheinen, Glänzen und Dunkeln wirkt beinahe emanzipiert von der Körperlichkeit ihrer dinglichen Bezugspunkte. Die poetisierte Darstellung der Realität bleibt damit stets ephemer und entzieht sich paradoxerweise trotz ihrer andauernden Präsenz jedes kontrollierenden oder ordnenden Zugriffs – sie bietet in dieser Tendenz zur Entstofflichung schlicht keinen Halt mehr an der Individualität einzelner unverwechselbarer Objekte. „Eichendorffs Dichtung läßt sich vertrauend treiben vom Strom der Sprache“41, beschreibt Adorno diesen Eindruck – und seine Metaphorik trifft den Sachverhalt hier sehr genau. Eichendorff überlässt sich bis zu einem gewissen Grad der Eigendynamik der Sprache, sie erscheint in seiner Dichtung nicht bloß als Werkzeug, das der Autor zur autoritären Bezeichnung dinglicher Signifikate handhabt, sondern als Ausgangspunkt für multiple, sich verzweigende Assoziationsketten. Aus der so typisch Eichendorff’schen Unterdeterminierung der poetischen Darstellung entsteht eine unterschwellige Polysemie, eine semantische Überdeterminierung der zur Darstellung verwendeten Sprache. Das grundlegend fetischistische Moment des „Sich-Entziehens“ findet sich dergestalt selbst in der Tiefenstruktur der poetischen Sprache wieder – es ist, als ob sich bei Eichendorff selbst die Signifikate den Signifikanten entzögen. Letztlich wird auf diese Weise die Poesie selbst zum Fetisch. Die von ihr erzeugten assoziativen Verweisketten sind so wenig kontrollierbar, dass sie ein den Autor beinahe entmachtendes Eigenleben gewinnt, das jener autonomen Zauberkraft der Fetische archaischer Kulturen genauso ähnelt wie dem Fetischcharakter, den Marx der Ware bzw. dem Geld zuspricht. –––––––— 39 40 41
Ebd. S. 42. Alewyn: Eine Landschaft Eichendorffs (wie Anm. 34). S. 32. Adorno: Zum Gedächtnis Eichendorffs (wie Anm. 2). S. 119 f.
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Thomas Petraschka
V. Die „indirecte Darstellung des Ewigen“ mittels einer „Poesie des Unendlichen“ – gerade für einen so tief im Glauben verwurzelten Katholiken wie Eichendorff ist dieser Anspruch mindestens potenziell ambivalent. „Dieses Ewige, Bedeutende ist aber eben die Religion“42, hält er im weiteren Kontext seiner Überlegungen über die Rolle der Poesie fest. In dieser Hinsicht ist die Dichtung als Darstellungsmedium des Ewigen zwingend immer auch mit der Religion, in Eichendorffs Fall speziell mit dem Christentum, verknüpft. Seit der biblischen Episode um das goldene Kalb sieht sich nun aber jede Darstellung des NichtDarstellbaren einem latenten Idolatrie-Vorwurf ausgesetzt: „Du sollst dir kein Gottesbild machen“ (2. Mos 20,4) diktiert der alttestamentarische Gott Moses in seine Steintafeln. Auch Eichendorff wehrt sich dementsprechend gegen eine poetische Durchdringung der Religion – genau dies sei der Punkt, an dem auch der sonst respektierte Novalis kritisiert werden müsse: Indem sie [Novalis’ Poesie] aber, darüber hinaus, die Religion selbst durchdringen und beseelend gestalten wollte, deckte sich plötzlich ihre gänzliche Unzulänglichkeit auf; denn, wie poetisch auch immerhin das Christenthum sei, sie mußte hier zuletzt auf einen übermenschlichen, positiven Inhalt stoßen, der nicht in ihr aufgehen konnte, weil er weder dem Verstande, noch der Phantasie, sondern nur dem Glauben zugänglich ist.43
Einerseits soll die Poesie stets alles „Irdische nur als Vorbereitung und Symbol des Ewigen darzustellen“44 suchen, andererseits darf und kann das Ewige als ein nur dem Glauben zugänglicher Inhalt niemals vermittels der Poesie tatsächlich dargestellt werden – Eichendorff ist nicht nur als Dichter, sondern ebenso als Gläubiger gefangen in einer Aporie. Er sitzt zwischen allen Stühlen, der romantische Radikalismus eines Novalis ist ihm ebenso unzugänglich wie der Vernunftrigorismus eines Immanuel Kant. Gerade auch deshalb scheint ein Denken wie das des Fetischismus, das gleichermaßen paradox ist, das zugleich verneint und bejaht und stets über sich selbst hinaus verweist, prädestiniert, um sein Schreiben zu begreifen. Das theoretisch formulierte Telos der Eichendorff’schen Poesie realisiert sich mittels fetischistischer Abläufe und erstreckt sich durch eben diese Mechanismen tief hinein in das dichterische Werk. Sowohl inhaltlich, sprachlich als auch strukturell lassen sich, wie oben gezeigt, Analogien plausibilisieren, die sich nicht zuletzt aus der aporetischen Situation des Dichters Eichendorff zwischen Ratio, Poesie und Religion erklären. Inwiefern sie bewusst oder unbewusst, sublimiert, verleugnet oder gewollt in die Struktur seiner Dichtung eingeschrieben sind, bleibt letztlich Spekulation – was feststeht ist, dass sich –––––––— 42 43 44
HKA IX (wie Anm. 4). S. 22. Ebd. S. 304 f. Ebd. S. 41.
Die „indirecte Darstellung des Ewigen“. Fetischistische Mechanismen in der Dichtung Eichendorffs
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das Werk selbst jeder linear-monokausalen Lesart widersetzt. Es hat vielmehr insgeheim Anteil an jener Dissoziation und Suspension systematischer Einheit, die schon Adorno in ihm ausmachte45 – noch das Bewahrende seiner Religiosität ist „weit genug, sein eigenes Gegenteil mit zu umfassen.“46 Vielleicht passt ja jener Satz, mit dem Eichendorff den Leontin aus seinem Roman Ahnung und Gegenwart beschreibt, besser auf ihn selbst, als er sich dessen bewusst gewesen sein mag: Er beherrschte nicht, wie der besonnene Dichter, das gewaltige Element der Poesie, der Glückliche wurde von ihr beherrscht.47
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Adorno: Zum Gedächtnis Eichendorffs (wie Anm. 2). S. 121. Ebd. S. 115. HKA III (wie Anm. 35). S. 83.
Ruth Neubauer-Petzoldt
Von Bräuten, Holunderbäumen und Hieroglyphen Mythos, Ritual und Raum in der Romantik All diese Lust, all dieses frohe Gelächter [antiker Götter] ist längst verschollen, und in den Ruinen der alten Tempel wohnen, nach der Meinung des Volkes, noch immer die altgriechischen Gottheiten, aber sie haben durch den Sieg Christi all ihre Macht verloren […]. Auf diesen Volksglauben beziehen sich nun die wunderbarsten Sagen, und neuere Poeten schöpften hier die Motive ihrer schönsten Dichtungen.1
– so beschreibt Heinrich Heine 1834/1836 in seinem Prosatext Elementargeister die ambivalente Rezeption und Lebendigkeit von Mythen und Märchen im kollektiven Gedächtnis und vor allem in der Literatur. Märchen und darüber hinaus Rituale erweisen sich als ‚Heimat‘ des mythischen Denkens,2 das sich einmal als Arbeit an einem konkreten überlieferten Mythos,3 einer ‚großen Erzählung‘ ausdrückt, aber auch als eine ‚Denkform‘,4 die zeitlose archetypische Erfahrungen des Menschen wie auch ein ‚magisches‘ Weltbild mit einschließt.5 Das Ritual lässt sich als eine Umsetzung des magischen Denkens in die Tat interpretieren, als aus dem Alltag herausgehobene, wiederholbare Handlung, die eine symbolische Funktion erhält – und trotz einer jeweils konkreten Verbundenheit mit einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wie der Mythos häufig eine zeitlose Bedeutung in sich trägt, die immer wieder aktualisiert werden kann. Es soll daher hier der Versuch unternommen werden, am Beispiel dreier romantischer Erzählungen, Ludwig Tiecks Der Runenberg6, entstanden 1802, Joseph von Eichendorffs Die Zauberei im Herbste. Ein Märchen7, ent–––––––— 1
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Heinrich Heine: Elementargeister. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. Düsseldorfer Ausgabe. Bd. 9, bearbeitet von Ariane Neuhaus-Koch. Hamburg 1987. S. 9–64. Hier S. 47. Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Darmstadt 91994. Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1996. Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen (wie Anm. 2). 1. Abschnitt: Der Mythos als Denkform. S. 39– 77. „Sie [die Märchen und Sagen] beschreiben nicht nur vergangene Zustände, sondern allgemeinmenschliche Konstanten, indem sie in Zentralthemen wie Liebe und Tod einführen, auf die ungebrochene Macht der Erotik verweisen und die Typologie der Geschlechter besser zu verstehen lehren“, so der Kommentar zu Heinrich Heines Elementargeister (wie Anm. 1). S. 329–356 und S. 458. Ludwig Tieck: Der Runenberg. In: Ders.: Phantasus. Hg. von Manfred Frank. Frankfurt am Main 1985. S. 184–208. Die Fassung des Phantasus ist von 1812. Joseph von Eichendorff: Die Zauberei im Herbste. Ein Märchen. In: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer, fortgeführt und
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 137–156.
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Ruth Neubauer-Petzoldt
standen 1808/09, und E. T. A. Hoffmanns Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit8 (1814), Ritual und Mythos von einem topologischen Standpunkt aus zu betrachten bzw. die Verschränkung von mythischem Denken, ritueller Handlung und jeweiligem Erzählort aufzuzeigen. Bestimmte Orte, wie die Schwelle oder Höhle, legen von ihrer symbolischen Bedeutung her den Anschluss an einen Mythos oder ein Ritual besonders nahe, doch zeigt die detaillierte Analyse dieser Textstellen, dass vor allem diese magisch-mythische Bedeutungsaufladung des Naturraums sich erst in einem symbolischen Kontext erschließen lässt und hier im Bild von der Natur als Braut und von der Braut als Naturwesen kulminiert. Für diesen Ansatz, der das Märchen, auch das Kunstmärchen als Teil des magischmythischen Denkens versteht, ist ein Mythosbegriff relevant, der über die Engführung als Rezeption antiker Mythen hinausgeht und stattdessen auch die romantische ‚neue Mythologie‘ und den Mythos als Denkgewohnheit berücksichtigt.9 Mythos, hohe und niedere Mythologie und Märchen, die einiges Personal an Geistern, Feen, Riesen und Dämonen teilen, sind Ergänzungen eines von Ratio und Logos, von Wissenschaft und rationaler Welterklärung geprägten Lebens, Erklärungen, die dennoch als mangelhaft erfahren werden. Gerade das Kunstmärchen, das immer auch als „eine Geschichte produktiver Volksmärchen-Deutung“10 gelesen werden kann, zeigt sich somit dem mythischen Denken verpflichtet, indem es Elemente des Volksglaubens, des ‚Aberglaubens‘, Figuren aus der populären mythischen und sagenhaften Überlieferung aufnimmt. Dabei sind zwei Arten der Rezeption, der ‚Arbeit am Mythos‘ zu unterscheiden: einmal die anspielungsreiche Aufnahme antiker Mythen und dann die Etablierung neuer Mythen und deren Funktionalisierung.11 –––––––—
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hg. von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann. Regensburg 1962–1970, dann Stuttgart/Berlin/ Köln/(Mainz): W. Kohlhammer, seit 1997 Tübingen: Max Niemeyer Verlag (HKA). Bd. V/1. Erzählungen. Erster Teil. Hg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen 1998. S. 5–27. E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf. In: Fantasiestücke in Callots Manier. Blätter aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten. Berlin/Weimar 1994. Erster Teil. S. 221–315. Vgl. Gerhard von Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987. Ruth NeubauerPetzoldt: Desillusionierte Sehnsucht und soziale Utopie. Der Umgang mit Dämonen, Märchen und Mythen bei Heinrich Heine, Georg Büchner und Bettina von Arnim. In: Wolfgang Bunzel, Uwe Lemm (Hg.): Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Bd. 19. Berlin 2007. S. 57–81. Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. München 1987. S. 9. Vgl. auch Lutz Röhrich: Märchen–Mythos–Sage. In: Antiker Mythos in unseren Märchen. Hg. von Wolfdietrich Siegmund. Kassel 1984 (= Veröffentlichungen der Europäischen Märchengesellschaft Bd. 6). S. 11–35. Märchen und Mythen teilen als Erzählformen des mythisches Denkens Funktionen, wie zum Beispiel als ätiologische, kosmogonische und anthropogonische Erzählungen, sie prägen das kollektive Gedächtnis einer Gruppe, dienen der Sinnstiftung, der Orientierung in einer als chaotisch erfahrenen Welt und illustrieren existenzielle Grunderfahrungen. Mythos und Ritual können auch im Zuge einer säkularisierten Welterfahrung als zeitlose und zu aktualisierende ‚Wahrheiten‘ an die Stelle religiöser Verbindlichkeiten treten. So begegnet etwa der Mythos vom Paradies und vom Sündenfall als ein ‚Urmythos‘, als rück-
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Gerade in Krisensituationen, wenn das Subjekt sich als gefährdet, als orientierungslos erfährt, die bisherigen sozialen Verbindlichkeiten sich aufzulösen beginnen, werden vertraute ‚große Erzählungen‘ zu anschaulichen, vieldeutigen, ‚wahren‘ und daher auch in säkularisierter Form transzendierenden Erklärungsmustern, zu einem Symbolsystem, so Cassirer, auf das zeitlos zurückgegriffen werden kann, das dann jedoch jeweils funktionalisiert und aktualisiert wird.12 „Denn der Mythus ist nicht wirklich besiegt und unterdrückt worden. Er ist immer da, versteckt im Dunkel und auf seine Stunde und Gelegenheit wartend.“13 Jeweils aktuelle Mythen sind Teil der großen mythischen Erzählungen, zumal sie immer wieder in Motiven und Strukturen auf die im kollektiven Gedächtnis fest verankerte verbale und nonverbale Überlieferung, auf archetypische Bilder zurückgreifen und als überzeitliche symbolische Formen das gesamte kulturelle Leben durchdringen und prägen.14 Michael Landmann stellt fest, dass „die Kunst als Bewahrerin von Magie und Mythos“ einer mythischen Weltsicht Ausdruck verleihen kann, ja „[w]ie die Kunst die Magie unbewußt als formales Moment weiterträgt, so den Mythos als bewußten Gehalt“ und damit ein Verlangen der Menschen befriedigt, das über den proklamierten ‚Tod der Götter‘ hinausgeht und Mythen in all ihrer Rätselhaftigkeit und Vieldeutigkeit lebendig hält.15 Auch wenn Lothar Pikulik in seiner Auseinandersetzung mit Landmanns Aufsatz differenziert, dass die romantische Auseinandersetzung mit antiken Mythen, vor allem dem VenusMythos, ambivalent, ja kritisch ausfällt, sieht er doch in Eichendorffs Märchennovelle Das Marmorbild eine „Verführung zum mythischen Glauben“16 und durch die „Wiederbelebung des Mythos in der Romantik [zugleich] die Emanzipation des Mythos“17 in einem ursprünglichen, nicht allegorisch-rationalen Sinne. Der Mythos übernimmt die „Verarbeitung der Schrecken des Unbekannten und der Übermächtigkeit“, so die Thesen Blumenbergs, durch eine „Vermenschlichung der Welt“,18 indem Geschichten erzählt und die furchterregende, irrationale Natur mit menschengestaltigen Göttern gleichgesetzt werden. In einem zweiten, abstrakteren Schritt kann in der –––––––— 12 13
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wärtsgewandte Utopie in den Kunstmärchen häufiger – und in den hier untersuchten Texten wird mit Atlantis, mit Anspielungen auf Goethes kanonisches Märchen (1795) dieser Zusammenhang deutlich. Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Form (wie Anm. 2). S. 28–35. Ernst Cassirer: Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens. Frankfurt am Main 1985 (erstmals 1949). S. 364. Vgl. Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Dies./Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main 1991. S. 13–35. Michael Landmann: „Tout finit par des Chansons“. Die Kunst als Bewahrerin von Magie und Mythos. In: Mythische Entwürfe. Hg. von Philipp Wolff-Windegg. Stuttgart 1975. S. 109–124. Hier S. 117. Lothar Pikulik: Die Mythisierung des Geschlechtstriebes in Eichendorffs „Marmorbild“. In: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt am Main (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts Bd. 36). S. 159–172. Hier S. 160. Ebd. S. 167. Blumenberg: Arbeit am Mythos (wie Anm. 3). S. 424.
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Literatur durch die Anthropomorphisierung und die Projektionen des Menschen und seiner Seelenzustände in die Natur diese sowohl zu einem Spielraum des Mythos wie auch zu einem Spiegel-Bild des Selbst und seiner jeweiligen Emotionen werden. Diese Reflexion von Psyche und Natur, von subjektivem Erleben und Naturerfahrung führen die Kunstmärchen der Romantik als poetisches Programm vor – und stellen es zugleich in einen zeitlos mythischen Rahmen; die Zeichen und Metaphern, die die Welt des Kunstmärchens vieldeutig und anspielungsreich durchdringen, weisen eine deutliche Analogie zum magischen Weltverständnis auf, in dem die Dinge und die Natur beseelt sind und der Mensch mittels magisch-rituellen Handlungen und Zauberworten versucht, Einfluss zu nehmen und seine Ohnmacht zu überwinden. Der Raum als kulturell codierter und symbolisch besetzter Raum und als Ort des Mythos und des Rituals gewinnt hier besondere Bedeutung. Nicht erst durch die Aufwertung in den Kulturwissenschaften in Folge des spatial turns19, sondern bereits bei Ernst Cassirer finden sich grundsätzliche Überlegungen in seinem Aufsatz Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum20. Er hebt besonders hervor, dass sich zwischen Mythos und Raum eine Analogie herstellen lässt, da beide Kategorien der Orientierung und Ordnung in Raum und Zeit dienen: Immer handelt es sich, allgemein gesprochen, darum, das Unbegrenzte zu begrenzen, das relativ Bestimmungslose zu bestimmen. Aber diese universelle Aufgabe der Bestimmung und Grenzsetzung kann sich nun unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten und nach verschiedenen Leit- und Visierlinien vollziehen. […] Und die gleiche Kraft der schöpferischen Einbildungskraft ist auch dem Mythos eigen […]. Denn auch der Mythos besitzt seine eigene Weise, das Chaos zu durchdringen, zu beleben und zu lichten.21
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Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Reinbek 2006. Zum spatial turn S. 284–328. Ich beziehe mich auf das hier skizzierte Raumverständnis: „Für den spatial turn wird nicht der territoriale Raum als Container oder Behälter maßgeblich, sondern Raum als gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung, eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation (etwa durch Codes, Zeichen, Karten)“. Hier S. 292. Siehe auch Jörg Dünne über semiotische Räume: „Dabei handelt es sich um Räume, die in den […] Medien [...] zum Gegenstand der medialen Praxis werden und somit eine zeichenhafte Bedeutung von Räumen konstituieren. Die Zeichenhaftigkeit von Räumen ist dabei medienspezifisch unterschiedlich (dominant ikonisch auf Bildern, dominant symbolisch in Texten); semiotische Räume können eine immanente Bedeutungsdimension aufbauen, die bspw. die Grundlage für den Entwurf fiktionaler Räume liefert […]. So konstituieren sich […] neue Semantiken räumlicher Distanz und Ordnung“; http://www.raumtheorie.lmu.de/Forschungsbericht4.pdf (05.01.2009). S. 1–11. Hier S. 2. Ernst Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. In: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006. S. 485–500. Erstmals veröffentlicht wurde der Aufsatz 1931. Ebd. S. 492 f.
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Diese Ordnungsfunktion wird auch der ästhetischen Gestaltung des Raumes zugemessen, so „daß der Raum seinen bestimmten Gehalt und eine eigentümliche Fügung erst von der ‚Sinnordnung‘ erhält, innerhalb deren er sich jeweilig gestaltet. Je nachdem er als mythische, als ästhetische oder als theoretische Ordnung gedacht wird, wandelt sich auch die ‚Form‘ des Raumes“22. Diese Oppositionen charakterisiert Cassirer als „magische Züge. Heiligkeit oder Unheiligkeit, Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit, Segen oder Fluch, Vertrautheit oder Fremdheit, Glücksverheißung oder drohende Gefahr – das sind die Merkmale, nach denen der Mythos die Orte im Raum gegeneinander absondert und nach denen er die Richtungen im Raum unterscheidet.“23 Diese antinomischen Kategorien korrespondieren häufig mit spezifischen rituellen Handlungen und lassen sich bis ins Detail in den romantischen Texten und ihrem dichten Gewebe aus mythischen Anspielungen, symbolischen Handlungen und Räumen nachvollziehen. Das Ritual, das als Handlung immer in Raum und Zeit verankert ist, stellt die Verbindung zwischen mythischem Denken und aktueller Verortung her. Durch das Ritual findet eine Neubewertung des Raumes, oft nur für eine begrenzte Zeit, statt, der dadurch einen sakralen Charakter erhält oder dessen Vertrautheit schwindet, indem sich die handelnde Person von einem Ritual ausgeschlossen sieht. Michel Serres zeigt auf, wie durch mythisch aufgeladene Orte (etwa Brücke, Kreuzung, Labyrinth) die literarische Handlung in einen mythischen Kontext gehoben wird, denn [i]n allen Fällen und ohne Rücksicht auf Klassifikationen geht es um Verbindung und Nicht-Verbindung, um den Raum und das Durchlaufen. Und das Wesentliche ist also nicht mehr diese oder jene Figur […], sondern das formale Invariante ist etwas wie ein Transport, eine Irrfahrt, eine Reise durch voneinander getrennte räumliche Mannigfaltigkeiten. Es ist die Irrfahrt des Odysseus und des Gilgamesch und die Topologie.24
Dieser Befund einer Lebens- und Irrfahrt gilt auch für die romantischen Helden, die auf der Suche nach einem Lebenssinn, nach der Verstehbarkeit der Zeichen und einem idealen, die Welt poetisierenden Zustand immer unterwegs sind und meist ohne konkretes Ziel durch eine von Gegensätzen beherrschte Landschaft ziehen: So schweift Christian in Der Runenberg durch das Gebirge, sucht und flieht Raimund die Nähe des Zauberfräuleins in Zauberei im Herbste und sind alle von Unrast und Ruhelosigkeit getrieben wie der immer eilige Held Anselmus, der den wohlgesetzten Bürgern im Goldnen Topf so unangenehm auffällt. Mythos, Ritual und Raum sind daher aufeinander bezogen und beinhalten die gleichen binären Oppositionen, die durch eine Grenze oder Schwelle voneinander geschieden sind: –––––––— 22 23 24
Ebd. S. 494. Ebd. S. 495. Michel Serres: Mythischer Diskurs und erfahrener Weg. In: Jean-Marie Benoist (Hg.): Identität. Ein interdisziplinäres Seminar unter der Leitung von Claude-Lévi Strauss. Stuttgart 1980. S. 22–36. Hier S. 26. Vgl. dazu auch Manfred Frank: Kaltes Herz, Unendliche Fahrt, Neue Mythologien. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne. Frankfurt am Main 1989.
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heilig – profan; gut – böse; innen – außen; oben – unten; nah – fern; vertraut – fremd; wissend – nichtwissend; Landschaft – Dorf/Stadt; Berg – Tal; Zivilisation – Wildnis etc. Die Funktion des Rituals wird meist als ordnungsstiftend gedeutet – jenseits der Diskussion, ob ein Mythos ein Ritual begründet hat oder nachträglich eine Erklärung anbot.25 In den romantischen Texten treten Ordnungen und gesellschaftliche Lebensentwürfe auf, die miteinander konkurrieren und die keine eindeutige Wertung bzw. Empfehlung für den Lebensweg des Protagonisten bieten, sondern sich vielmehr als ambivalent erweisen. In jedem Fall hat der Held einen Preis zu bezahlen. Es werden dabei Rituale als vertraute Muster und Handlungsmodelle eingesetzt – und an die Stelle ‚entmachteter‘, überholter Rituale treten in der Regel neue, die auf einer abstrakteren, oft mythisch verankerten Ebene dieselbe Funktion erfüllen – etwa als Rituale in der Bewältigung von Grenzerfahrungen, als Initiation in lebenszyklischen Ritualen (Geburt, Heirat, Tod), als Interaktionsrituale (Gastfreundschaft, Kommunikations- und Höflichkeitsregeln), Rituale der Macht bzw. Unterwerfung. Das Ritual26 zeichnet sich durch seine Formalisierung aus, es ist zeitlich und räumlich begrenzt, durch die Stilisierung von Handlungsabläufen, seine Wiederholbarkeit und durch die symbolische Überhöhung und ästhetische Inszenierung der Handlung erkennbar.27 Der Held des Märchens vom Goldnen Topf tritt bspw. zu Beginn der Erzählung, am Himmelfahrtstag in Erscheinung: Es handelt sich hier um die Feier von Christi Himmelfahrt im Frühjahr (Ende April bis Anfang Juni), zur Zeit der Blüte des Holunderbaums. An diesem symbolträchtigen Tag begegnet Anselmus zum ersten Mal seiner großen Liebe, der wandlungsfähigen Serpentina, die ihn schließlich ‚erhöht‘ und nach diversen Prüfungen in das Reich Atlantis, ein poetisches Himmelreich, führen wird. Ebenso zentral ist für die Märchennovelle Der Runenberg das Erntedankfest bzw. „Erntefest“ mit der Dankesfeier der Gemeinde in der Kirche für die glücklich eingebrachte Ernte, die den Übergang zwischen Sommer und Herbst bzw. Winter markiert – der Held tritt an diesem krisenhaften Wendepunkt, an diesem Tag in die Dorfgemeinschaft ein und verlässt sie Jahre später auch an diesem symbolträchtigen Datum –––––––— 25
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Vgl. dazu die Diskussionen der sog. Cambridge Ritualists, ob der Mythos nachträglich eine Begründung für ein bereits etabliertes Ritual liefert oder ob das Ritual aus dem Mythos folgt: Robert A. Segal (Hg.): The Myth and Ritual Theory. An Anthology. Malden/Mass. u. a. 1998. Vgl. Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998. Burckhard Dücker: Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft. Stuttgart 2006 (zur Definition S. 185–193). Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt am Main 2005. Es geht mir hier vor allem um das Ritual als Strukturelement und Motiv innerhalb des Textes – nicht als Rezeptionsphänomen oder als kultische Inszenierung von Literatur im Kontext des Literaturbetriebs o. ä.; vgl. Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996. Die Binnenerzählungen werden gerahmt durch das Ritual der Gastfreundschaft, das die Regeln vorgibt und aus der Erwartungshaltung der Gastgeber heraus, gleichsam als Gegengabe für seine Aufnahme erzählt der Gast, der Fremde im Runenberg, Raimund in Zauberei im Herbste oder Archivarius Lindhorst im Goldnen Topf in dem ihm fremden Haus seine Lebensgeschichte und löst so wenigstens einen Teil seiner geheimnisvollen Herkunft auf.
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des Übergangs, der daran erinnert, dass ein glückliches Schicksal nicht allein in den Händen der Menschen liegt. Der Herbst als die Zeit zwischen der Blüte des Sommers und dem Sterben des Winters ist, wie der Titel bereits ankündigt, für Eichendorffs Zauberei im Herbste die zentrale Jahreszeit des Umbruchs, der Krise – verbunden mit dem Ritual des festlichen Aufbruchs zu einem Kreuzzug und der nahen Hochzeit des Freundes mit der vom Helden selbst geliebten Braut. Religiöse und weltliche Rituale erweisen sich als zentrale Strukturmomente der Erzählungen, die hier vor allem die gesellschaftliche Isolation des Protagonisten verdeutlichen. Das Ritual stellt Sinnzusammenhänge her und erhält in den Texten eine vorausweisende bzw. einen Wendepunkt markierende Schlüsselfunktion zugewiesen. Kein Ritual kann ohne einen topischen Kontext stattfinden, aber auch die rituelle Handlung kann für einen Moment den Raum verändern. Ernst Cassirer unterscheidet daher innerhalb des mythischen Denksystems generell zwischen sakralen und profanen Räumen. Wobei der Übergang zwischen beiden, die Schwelle eine besondere Bedeutung erhält. Auch Bachtin betont in seiner Analyse des Chronotopos die „emotional-wertmäßige[r] Intensität“ der Schwelle: Dieser Chronotopos kann sich auch mit dem Motiv der Begegnung verbinden, seine wesentlichste Ergänzung aber ist der Chronotopos der Krise und des Wendepunkts im Leben. Allein das Wort „Schwelle“ hat ja schon im Redeleben (neben seiner realen Bedeutung) eine metaphorische Bedeutung erlangt und sich mit dem Moment des Wendepunkts im Leben, der Krise, der das Leben verändernden Entscheidungen verknüpft.28
Das Ritual wird hier als Teil eines imaginären, ja mythisch überhöhten Denk- und Ordnungssystems betrachtet, in dessen unmittelbaren Kontext auch der Raum gehört. Die Räume sind nicht statisch, sondern verändern sich, die Schauplätze in der Natur sind vom Wechsel der Jahreszeiten geprägt. Derselbe Ort kann in der Perspektive des Helden eine andere Bedeutung erhalten – so ist die Natur mal heimelig, lieblich, mal bedrohlich und tödlich; Anselmus erlebt im Goldnen Topf den Garten im Gewächshaus des Archivarius Lindhorst als überwältigenden synästhetischen Erfüllungsort aller exotischen Sehnsucht mit Lilien, Palmen und Scharen bunter Spottvögel. Dieser Schauplatz ist ein besonders wunderbarer Ort – zumal in Hoffmanns Erzählung keine romantischen Landschaftsbeschreibungen das Seelenleben spiegeln, sondern die Stadt und stadtnahe Orte der Natur, wie der in der Nähe von Gebäuden oder an Wegrändern wachsende Holunder, der Friedhof und eben das sehr moderne Gewächshaus, bieten magisch verzauberte Inseln im städtischen Betrieb. Dieser phantastische parkähnliche Garten innerhalb eines Gebäudes bietet bereits –––––––— 28
Michail M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt am Main 2008. S. 186. Michail Bachtin hat den Begriff des Chronotopos geprägt, der die zunächst statisch gedachten Räume dynamisiert, indem der Raum die chronologische Bewegung der Erzählung gliedert und dimensioniert und umgekehrt die Zeit den Raum als internes Orientierungssystem mit Sinn erfüllt. Dabei dominieren symbolhafte Orte, die eine konventionalisierte Funktion haben und in der Regel in Rituale eingebettet sind: die Schwelle, das Tor (Begegnung, Abschied), der Weg (Leben, Reise, Reifung), die Heimat, die Burg, der Wald.
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einen Ausblick auf den sagenumwobenen Ort Atlantis: Er erscheint ihm beim ersten Betreten als ‚Feengarten‘29, beim zweiten Besuch ist die Atmosphäre voller erotischsexueller Untertöne, die Blüten entpuppen sich als Insekten, die „sich mit ihren Saugrüsseln zu liebkosen schienen“30 – und die Spottvögel, die ironisch die mahnenden Worte der Philister zitieren, lassen eine Atmosphäre der Heiterkeit und selbstreflexiven Abgehobenheit vom bürgerlichen Alltag entstehen. Natur und Kultur gehen in diesem magischen Reich ineinander über, wenn eines der Palmenblätter sich als Pergamentrolle entpuppt, und „Anselmus wunderte sich nicht wenig über die seltsam verschlungenen Zeichen, und bei dem Anblick der vielen Pünktchen, Striche und Züge und Schnörkel, die bald Pflanzen, bald Moose, bald Tiergestalten darzustellen schienen, wollte ihm beinahe der Mut sinken, alles so genau nachmalen zu können.“31 Anselmus trifft hier auf eine Ursprache, eine Runenschrift, die von der Natur als dem Ursprung – menschlicher – Sprache erzählt und die er erst einmal nur durch genaue Nachahmung erlernt. In der dritten Schilderung erlebt er das Gewächshaus als einfachen Garten mit Topfpflanzen und Sperlingen, deren Gezwitscher er nun nicht mehr versteht – nach der desillusionierenden ‚Gehirnwäsche‘ durch die Punschgesellschaft. Solchermaßen entfremdet von der poetischen Welt passiert ihm der Fehler, einen Tintenfleck auf das Originalpergament fallen zu lassen, auf dem er nun keine Zeichen und Figuren mehr erkennen kann, sondern nur noch „sonderbare krause Züge und Schnörkel“32 – und zur Strafe landet er gefangen im Kristallfläschchen, seiner letzten Prüfung. Dieses Gewächshaus und in ganz analoger Weise auch der Zauberkreis und die Burg des Zauberfräuleins, auf die Raimund in Zauberei im Herbste ‚entführt‘ wird, sind Orte symbolträchtiger Verwandlung, deren immer schon im Entstehen angekündigtes Vergehen eine jeweils nur momenthafte, ja rauschhafte (um nicht philiströs zu sagen wahnhafte) Glückserfahrung möglich macht – und damit zu dem romantischen Gefühl schlechthin führt: der Sehnsucht und ihrer Schwester, der poetischen Imagination. Beide bedienen sich ritualisierter Zeichen und Sprachbilder und mythisch überhöhter Vor-Bilder. Als Raum, der wie kaum ein anderer mit rituellen Handlungen in Verbindung zu bringen ist, ist die Kirche zu nennen, der sakrale Raum schlechthin. Im Runenberg ist die Kirche der symbolische Mittelpunkt einer altüberlieferten, moralisch gefestigten Ordnung, um die sich das Dorf anordnet; sie bietet sittlich-moralische Orientierung und der Klang der Kirchenglocken und der Orgel, das Singen der Gemeinde während des sonntäglichen Gottesdienstes konkurriert mit dem Rauschen der Wälder und überdeckt schließlich für eine Zeit lang die sehnsüchtig-wilden Gefühle Christians nach der Begegnung mit dem Waldweib. In Zauberei im Herbste hat sich Raimund, der hier noch namenlose Protagonist, aus der menschlichen Gesellschaft zurückgezogen und sich als Ort der Buße einen vergleichbar –––––––— 29 30 31 32
Vgl. Hoffmann: Der goldne Topf (wie Anm. 8). 2. Vigilie. S. 262 f. Ebd. 8. Vigilie, S. 277. Ebd. 8. Vigilie, S. 279. Ebd. 9. Vigilie, S. 294.
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symbolischen Ort ritueller Besinnung geschaffen – er lebt als Einsiedler in einer Höhle: „Ein großer Stein lag in der Mitte derselben, auf dem Stein stand ein hölzernes Kruzifix.“33 Er hat sich also mit einfachen Mitteln einen sakralen Raum geschaffen, indem er religiöse Requisiten, Kreuz und Altarstein, zitiert. Schon der erste Satz in Der goldne Topf erwähnt ein religiöses Fest und kurze Zeit später die damit verbundenen Rituale, den Himmelfahrtstag und die Familien-Feiern im Gartenlokal. Damit wird eine der zentralen Funktionen des Rituals demonstriert, Gruppenzugehörigkeit herzustellen und zu stabilisieren – und in diesem Fall aufzuzeigen, dass Anselmus, der hastige Pechvogel, nicht dazugehört. Anselmus ist ein Außenseiter, dem die finanziellen Voraussetzungen wie auch die gesellschaftliche Stellung fehlen, um in der gutbürgerlichen Gesellschaft einen festen Platz einzunehmen; seine Position als Student ist viel versprechend, aber noch nicht etabliert, er wird von den Honoratioren eingeladen, aber gewisse Grenzen sind genau gezogen und werden bei Überschreitung – trotz gemeinsamer Punschseligkeit – mit Ausschluss bestraft. Anselmus’ erzwungener Verzicht, da er sein Geld für verschleuderte Äpfel (!) ausgeben musste und nun nicht „an der Glückseligkeit des Linkischen Paradieses teilnehmen“34 kann, enthält eine witzige Anspielung auf den durch sein Ungestüm erzeugten ‚Sündenfall‘, der ihn aus diesem gutbürgerlich familiären Paradies ausschließt, um ihm dann nach der Initiation durch Liebe und Poesie, Natur und Schrift und nach diversen Prüfungen und Treueproben ein neues Paradies in Atlantis zu eröffnen. Nicht zuletzt zeigt der Raum mit dem goldenen Topf, der wie ein Kultobjekt ausgestellt wird, sakrale Züge.35 Anselmus’ Begegnung mit Serpentina findet unter einem Holunderbaum statt, an die er sich immer wieder leitmotivisch erinnert: Dem Holunder werden im Volksglauben Heilkräfte und apotropäische Eigenschaften zugeschrieben, er soll vor Hexerei schützen und unter seinen Wurzeln liegt ein Schatz – oder wohnt ein Erdgott; die weißen Blüten und dunklen Früchte sollen erotisierende Eigenschaften haben.36 Der Holunder ist die passende Pflanze, um die Begegnung mit der zukünftigen Braut und mit dem Elementargeist Salamander Lindhorst und die Aussicht auf den Gewinn des goldenen Topfes einzuleiten. Es zeigt sich in diesem Text eine Verschränkung von weißer und schwarzer Magie, verkörpert durch Archivarius Lindhorst und seine Gegenspielerin das Apfelweib, die jeweils in diversen Gestalten, als Feuerbusch, als Teekanne oder Runkelrübe auftreten und in den magischen Räumen des Salamanders bzw. in Grenzbereichen des Alltäglichen, dem Hexenhaus und dem Friedhof verortet sind. So kann auf den ersten Seiten das Apfelweib die rätselhafte Verwünschung Anselmus’ aussprechen, „ins Kristall bald dein Fall“37, die als –––––––— 33 34 35 36
37
Eichendorff: Die Zauberei im Herbste (wie Anm. 7). S. 7. Hoffmann: Der goldne Topf (wie Anm. 8). S. 222. Vgl. ebd. S. 264. Vgl. Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin, Leipzig 1934. Bd. 4. Sp. 261–275. Hoffmann: Der goldne Topf (wie Anm. 8). S. 221.
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Strafe für den Fehler beim Kopieren von Archivarius Lindhort verhängt und von diesem sodann nach Bestehen der Treueprobe wieder aufgehoben wird. Auch ‚bewacht‘ das „bronzierte Äpfelweib“38 als Türklopfer den Zugang zum Haus des Archivarius. Nach diesen gesellschaftlich definierten Räumen, die jeweils mit Interaktionsritualen und mit magisch rituellen Handlungen verbunden sind, soll nun der paradigmatische romantische Raum schlechthin, die Natur, zu Wort kommen. Das Buch der Natur ist eine zentrale Metapher, die den Raum der Natur zeichenhaft überhöht. In diesem Buch, das die Bibel, wenn schon nicht ersetzt, so doch ergänzt, verbinden sich mit dem Ritual des Entzifferns der Zeichen, dem sinnstiftenden Lesen und der richtigen Auslegung der naturhaften Zeichen Natur und Sprache zu poetischen Zauberworten. Der Geisterfürst formuliert dies prophetisch, als er den Fluch über Salamander wegen seines Lilien-Brautraubes ausspricht: […] [w]enn die Sprache der Natur dem entarteten Geschlecht der Menschen nicht mehr verständlich sein, wenn die Elementargeister, in ihre Regionen gebannt, nur aus weiter Ferne in dumpfen Anklängen zu dem Menschen sprechen werden, wenn, dem harmonischen Kreise entrückt, nur ein unendliches Sehnen ihm die dunkle Kunde von dem wundervollen Reiche geben wird, das er sonst bewohnen durfte, als noch Glauben und Liebe in seinem Gemüte wohnten.39
Hans Blumenberg erklärt, „daß die Metaphorik von der Lesbarkeit der Natur eine Gegenprägung“40 zur aufklärerischen Verwissenschaftlichung und Verdinglichung der Natur ist, denn „[a]lles spricht von sich aus, wenn ihm nur das Gehör nicht verweigert wird“41. Diese Zwiesprache zwischen Ich und Gegenüber bedeutet, „in den Dingen nicht etwas von uns ganz und gar Verschiedenes zu sehen, sondern das, was in emphatischer Sprache ein uns verwandtes, verborgenes Du sei“, so Blumenberg.42 Die Entzauberung der Welt seit der Neuzeit hat eine neue Weltangst erzeugt, die durch eine allumfassende Metapher kompensiert werden soll und die den mythischen Kontext des Buchs der Bücher umdeutet in die Lesbarkeit der Natur, um das in allen Dingen schlafende Zauberwort zu wecken. Dieser Sinn der Welt liegt nicht offen zutage, sondern muss gesucht werden: Die romantischen Helden sind Suchende – sie erleben die Welt als brüchig und suchen die Magie der Poesie in der Natur, um die Differenz zwischen Ich und Welt zu überwinden. Die konkurrierenden Lebensmodelle im Runenberg stellen nicht eine Partei als die bestmögliche dar: So erweist sich die Dorfgemeinschaft als nicht wirklich tragfähig, wenn Elisabeth „die große Wirtschaft allein verwalten“ muss, nachdem Christian sie verlassen hat und ihr zweiter Ehemann sich als Alkoholiker erweist und die Familie in Armut endet.43 Christian ist zwar sehr gefährdet, den Versuchun–––––––— 38 39 40 41 42 43
Ebd. S. 227 und S. 236 (2. Vigilie). Ebd. S. 283. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main 1982. S. 247. Ebd. S. 234. Blumenberg bezieht sich hier vor allem auf Novalis. Ebd. S. 274. Hier in Auseinandersetzung mit Friedrich Schlegels Philosophie. Tieck: Der Runenberg (wie Anm. 6). S. 206.
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gen des Geldes zu erliegen, als er den von dem Fremden anvertrauten Betrag schließlich einsetzt und zu seinen Gunsten vermehrt; zugleich ist er aber der einzige, der die ‚Sprache der Natur‘ wahrnehmen kann und sich der nicht domestizierten Natur (auch in sich selbst) verbunden fühlt. Auffallend ist im Runenberg die herausgehobene Rolle des Buches als symbolischer Ort des Wissens, das den Helden an jeden Ort als geistiger Führer begleitet: Als er während seiner ersten Wanderung ins Gebirge zweifelt und erkennt, „daß er ihre [des Wassers/der Natur] Reden nicht verstehen konnte“, erinnert sich Christian voller Wehmut: „jetzt wünschte er sich die alten Bücher, die er sonst bei seinem Vater gesehen, und die er niemals lesen mögen“44: Sie werden zu Symbolen einer verlorenen Kindheit und zu Hütern der väterlichen Ordnung. Auch den Weg ins Gebirge motivierte zwar die Sehnsucht nach Neuem, nach Freiheit und Unabhängigkeit, doch „ich hatte in einem Buche Nachricht vom nächsten großen Gebirge gefunden, Abbildungen einiger Gegenden, und darnach richtete ich meinen Weg ein“45, so sein Bericht an den Fremden – das Buch wird auch hier zum selbstverständlichen Führer in eine unbekannte Gegend, zum Reisebegleiter. Christian ist hier Jäger, gewissermaßen in einer Frühform der Zivilisation unterwegs und durchstreift die Wildnis auf der Suche nach „eine[r] neue[n] Welt“46; er lehnte den zivilisatorisch weiterentwickelten Beruf des Gärtners ab, der ihm jedoch bei der Rückkehr in die Zivilisation wieder nützlich wird. Zum Schluss tritt er als ‚wilder Mann‘ auf und trägt einen ‚Dichterkranz‘, der die Nähe von Poesie und Natur und den gesellschaftsfernen Raum der Phantasie symbolisiert. Der Fremde ist ein ‚Spiegelbild‘, ein alter ego Christians, der später glaubt, in ihm ‚die Schöne‘ in verwandelter Gestalt zu erblicken: Wie dieser kam er als Gast, blieb und brach dann wieder auf, der Fremde erklärt: „[e]in wunderbares Schicksal und seltsame Erwartungen treiben mich in das nächste Gebirge hinein, ein zaubervolles Bild, dem ich nicht widerstehen kann, lockt mich“47 – genauso wird es Christian ergehen, als er mit Metaphern der Schrift und der Natur, die sich eng an die Beschreibung der Runentafel und der Landschaft anlehnen, versucht, seine Erfahrung der Krise, der Selbstentfremdung zu beschreiben: Ich kann auf lange Zeit, auf Jahre, die wahre Gestalt meines Innern vergessen, und gleichsam ein fremdes Leben mit Leichtigkeit führen: dann geht aber plötzlich wie ein neuer Mond das regierende Gestirn, welches ich selber bin, in meinem Herzen auf, und besiegt die fremde Macht. Ich könnte ganz froh sein, aber einmal, in einer seltsamen Nacht, ist mir durch die Hand ein geheimnisvolles Zeichen tief in mein Gemüt hineingeprägt; oft schläft und ruht die magische Figur […], aber dann quillt sie wie ein Gift plötzlich wieder hervor, und wegt sich in allen Linien.48
Christian rätselt, was ihm diese Arabesken seiner Gemütsverwirrung sagen wollen und erklärt sie mit der Sprache der Natur, die er nach der magischen Nacht im Runenberg ver–––––––— 44 45 46 47 48
Ebd. S. 184 f. Ebd. S. 188. Ebd. Ebd. S. 199. Ebd. S. 201 f.
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steht, als er gemäß dem Versprechen des Fremden „uralte Freunde dort und Herrlichkeiten, alles, was er am eifrigsten wünscht,“49 findet. Er kann Traum und Realität, Sein und Schein nicht mehr unterscheiden. Den letzten Stimulus gibt schließlich die erneute Begegnung mit dem Waldweib und das Wiederauftauchen der Runentafel – und er kehrt in den Wald zurück. Schon der Titel ruft ein mythisches Netzwerk auf: Der Runenberg initiiert das Motiv der Runentafel, der archaischen Schrift, die von uraltem, arkanem Wissen kündet und zugleich mit den Schätzen des Berges, Edelsteinen und Edelmetallen, verführt. In der Wortverbindung Runen, also altgermanische, meist in Steintafeln geritzte Zeichen, und Berg verbinden sich Kultur und Natur. Die Runen tauchen auch in der „Alrunenwurzel“ auf, die Christian auf den ersten Seiten findet: Deren Schrei beim Herausreißen „durchdrang sein innerstes Herz, er [der Ton] ergriff ihn, als wenn er unvermutet die Wunde berührt habe, an der der sterbende Leichnam der Natur in Schmerzen verscheiden wolle. [Der Ton ist so fürchterlich,] daß der Mensch vor ihrem Gewinsel wahnsinnig werden müsse“.50 Die Szene prägt das folgende Geschehen vor, denn Christian ist in einer Krisensituation, er hat sein altes Zuhause verlassen, aber kein Ziel, keine neue Heimat gefunden – und dann tritt plötzlich der Fremde, als dämonisch undurchschaubarer Verführer, auf, der immer wieder zum Katalysator des Geschehens wird. Die Alraune ist ein geheimnisvolles Zwitterwesen, eine Pflanze von menschenähnlicher Gestalt, der dämonische Kräfte zugeschrieben werden und die hier als antizipatorisches Naturmotiv eingesetzt wird: So soll, wer den Schrei der Alraune hört, eines qualvollen Todes sterben und die in diesem Nachtschattengewächs enthaltenen Alkaloide können Rauschzustände erzeugen. Doch wird die Alraune auch als magisches Verbindungsglied zwischen Mensch und Natur gesehen, so dass die Pflanze an dieser prominenten Stelle im Text symbolisch die Ambivalenz der Natur verkörpert und diese nicht nur als ‚Raum‘, sondern quasi personal auftritt und die Qual der unverstandenen Natur, wie auch stellvertretend Christians Qualen selbst herausschreit.51 In der Natur ist der Protagonist meist allein. Die Natur ist hier kein biologisch-realer oder idealer ‚Naturraum‘, sondern als Seelenraum ein Spiegel der seelisch-emotionalen Zustände des Protagonisten, so dass deshalb die Natur immer nur aus einer subjektiven Perspektive geschildert werden kann. Koschorke schreibt in seiner Geschichte des Horizonts: Die Landschaften des Unbewußten, wie sie etwa Tieck in seinen Märchenfiktionen gestaltet, die den Helden in einer der mythischen Erzählweise analogen Form symbolische Szenarien der eigenen Innen
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Ebd. S. 190. Ebd. S. 186. Vgl. Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin, Leipzig 1931/1932. Bd. 1. Sp. 312–324; vgl. auch Günter Butzer, Jürgen Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart 2008. S. 15 f.
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welt durchschreiten lassen, gehen als immanente Darstellungsformen auf das poetologische Absolutsetzen des Bildraumes zurück.52
Seelischer Innenraum und äußere Realität gehen ineinander über, so etwa, wenn der Fremde zu Christian im Runenberg sagt, „in einer Stunde kommt der Mond hinter den Bergen hervor, sein Licht wird dann wohl auch Eure Seele lichter machen“53. Ähnlich stellt sich auch die von der Poetisierung der Seele abhängige Gemütslage Anselmus’ und seine zwar subjektive, aber innerhalb der Erzählung objektiv geschilderte Wahrnehmung des Lindhorst’schen Gewächshauses dar. Ebenso vermischen sich auch für den Helden in Eichendorffs Märchen Sehnsucht, Waldhornklänge und eine erotisch verführerische Spätsommerstimmung: „Es wehte eine warme, fast schwüle Luft, als wollte der Sommer noch einmal wiederkehren. Ich schweifte daher träumend in den nahen Wald […]. So war ich in ein enges Tal gekommen […] und meine Augen senkten sich trunken und geblendet vor dem Zauber, der sich mir da eröffnete“54,
als er das Zauberfräulein heimlich beim Baden mit den Freundinnen beobachtet. Koschorke betont das „Stigma der romantischen Helden“, besonders bei Eichendorff, denen „ein unerklärtes Tabu verbietet, Glück als Gegenwart zu genießen“55: Raumbewegung ist in der Romantik immerwährender Aufbruch, sie kennt den Moment ihrer logischen Erfüllung, ihrer Ankunft nicht […], weil eben der Ort der Ankunft in den Endpunkt einer vom menschlichen Subjekt her gedachten Perspektive gerückt ist und weil sich so die Ferne immerfort erneuert, der es sich zu nähern scheint. Jenes „andere Land“, auf das sie hinfluchtet, schwächt sich dadurch zu einem selbstzweckhaften poetischen Stimulans ab, bis es schließlich, implizit schon bei E. T. A. Hoffmann […], in das Gebiet der Phantasmagorie überwiesen wird.56
Die Natur erweist sich als ambivalent, als keineswegs nur heiter oder von Mondschein und dem Klang der Waldhörner durchdrungen, sondern auch als gefährlich, ja dämonisch, als wandelbar und abgründig. Dasselbe gilt für die konkurrierenden Bereiche der menschlichen Existenz, die der Protagonist durchmisst: Sein Platz in der Gesellschaft, seine Beziehung zum anderen Geschlecht, als erfüllte Liebe oder selbstentfremdende Verführung, alle diese Beziehungssysteme erweisen sich als brüchig und abgründig – und nicht zuletzt auch das Reich der Phantasie, das alles durchdringen kann. Vor allem ist die Natur kein Raum, der sich dem Protagonisten selbstverständlich erschließt – so wie die Helden auch ihren emotionalen Verwicklungen und krisenhaften Geschlechterbeziehungen fast hilflos gegenüber stehen, sondern gerade hier wird ein poetischer ‚Katalysator‘ eingeführt – das ‚Buch‘, ob als Runentafel bei Tieck oder als Hieroglyphen-Pergament bei E. T. A. Hoffmann oder das den –––––––— 52
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Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt am Main 1990. S. 171. Tieck: Der Runenberg (wie Anm. 6). S. 186. Eichendorff: Die Zauberei im Herbste (wie Anm. 7). S. 17. Koschorke: Die Geschichte des Horizonts (wie Anm. 52). S. 213. Ebd. S. 186 f.
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Helden Raimund verfolgende Bild als „Knotenpunkt des textuellen Netzwerks“57, dessen Lesbarkeit zuerst unmöglich scheint, deren Bedeutung sich aber dann doch erschließt. So kann hier von einem über die einzelnen Texte hinausgehenden Ritual romantischer Poesie gesprochen werden, das zu einer synästhetischen medialen Verschmelzung von Natur und Schrift, von Kreatürlichem und Kunst, im Zeichen selbst führt und das in diesem mythisch überhöhten und selbstreflexiven ‚Buch der Natur‘ zu einer ursprünglichen, quasi natürlichen Sprache, zu absoluter Poesie und damit zu Sinn und Orientierung in der Welt verhilft. Das Ritual des Entzifferns, die poetische Klangmalerei des Liedes, das requisitenhafte Aufrufen jener Dinge, deren Wirkung als ‚Zauberwort‘ sich schon bewährt hat, Waldeinsamkeit, Mondschein, Waldhörner, Waldesrauschen, Morgenglanz, lassen diese stereotypen Chiffren nicht statisch und eindeutig verharren, sondern alles ist in Bewegung, ist Klang, Licht, Spiegelung, entsteht und vergeht im gleichen Moment. Es geht nicht mehr um die profane Wortbedeutung an sich, sondern darüber hinaus um den Dialog mit den Dingen, ja mit der Sprache selbst, denn [d]as Leben aber, […] mit seinen bunten Bildern, verhält sich zum Dichter wie ein unübersehbar weitläufiges Hyerogliphenbuch [!] von einer unbekannten, und lange untergegangenen Ursprache zum Leser. […] Aber die alten, wunderbaren Worte der Zeichen sind unbekannt und der Wind weht die Blätter des großen Buches so schnell und verworren durcheinander, daß einem die Augen übergeh’n“.58
Die konventionalisierten romantischen Topoi werden zu Beschwörungsformeln59, zu magischen Ingredienzien einer imaginativen Überformung von Sprache, die letztlich in den Abgrund einer phantastischen Welt führen kann, in der der Held verschwindet, die heroisiert, dämonisiert oder pathologisiert werden kann – je nachdem, ob sich am Ende Atlantis, Magie und Rausch oder das Reich des Wahnsinns als ‚Heimat‘, als gesellschaftsferne Zuflucht des Helden entpuppen. In der Lektüre des Buchs der Natur versucht der Held nicht zuletzt auch sich selbst, seine Unruhe, seine nie endende Suche als Teil dieser Welt zu verstehen. Das zweite zentrale Motiv ist das der Natur als Braut, in dem sich das Ritual der Hochzeit mit einer Metapher verbindet, die in zwei Richtungen poetisch und metaphorisch wirksam wird: die Natur als Braut und die Frau als Teil der Natur. Raum (Natur) und Mensch, menschliches Erleben und Handeln sind mit einem Ritual verknüpft und stellen –––––––— 57
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Claudia Öhlschläger: Die Macht der Bilder. Zur Poetologie des Imaginären in Joseph von Eichendorffs „Zauberei im Herbste“: http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/eichendorff/zauberei_oehlschlaeger. pdf (09.01.2009). S. 1–21. Hier S. 20. HKA (wie Anm. 7). III: Ahnung und Gegenwart. Hg. von Christiane Briegleb und Clemens Rauschenberg. 1984. S. 27. So auch die dreifache synästhetische Liebesformel Serpentinas in einer poetischen Verschränkung von Naturerfahrung und Liebeserklärung, die Anselmus jedoch erst noch verstehen lernen muss: „der Duft ist meine Sprache, wenn ihn die Liebe entzündet […] der Hauch ist meine Sprache, wenn ihn die Liebe entzündet […] Glut ist meine Sprache, wenn sie die Liebe entzündet“; Hoffmann: Der goldne Topf (wie Anm. 8). S. 226 f.
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mythische Anknüpfungen her: etwa mit dem Brautraub der Proserpina, der Braut als Naturwesen und der Martenehe, dem Motiv der herbstlichen Vergänglichkeit der Jugend, mit der Braut als totes Kunstwesen, um nur einige exemplarische Motive zu nennen. Die Hochzeit ist ein Übergangsritual und die Hochzeitsnacht folgt einem Ritual der Enthüllung und Vereinigung. Die Frauenfiguren werden mythisch überhöht und ihre mal verführerisch schöne, mal gefährlich verderbliche Seite wird betont, ob als Sirene oder Burgfräulein, als Venus oder Maria, als Lilith oder Frau Welt, als keusche Susanne oder tödliche Diana, als Waldweib oder Erdmutter Gaia, Schlange oder Lilie: So wie „das Bild von der Natur als Braut“60 sich vor den Augen des Helden ausbreitet und im herbstlichen Gewand in Eichendorffs Erzählung auftritt, ist die Frau die allegorische Verkörperung der Natur, der kreatürlichen Sexualität und verführerisch erotischen Körperlichkeit. Wie die Natur und die Bilder der Natur als Dauer im Wandel, der jahreszeitlichen Folge von Werden und Vergehen unterworfen sind, so ist auch die Geliebte einer spannungsvollen, ambivalenten Metamorphose unterworfen, mal dämonisch, mal lieblich, von der wollüstig strahlenden Nymphe wandelt sie sich zur leichenblassen, totenkalten Skulptur mit Basiliskenaugen61, so in Zauberei im Herbste. Im Runenberg wechselt sie sogar das Geschlecht, ist mal Mann, mal Frau, in der magisch erotischen Begegnung jedoch von einer „überirdischen Schönheit […] wie Marmor die glänzenden Formen des reinen Leibes“62 oder ein altes, hässliches Waldweib – so aus der Perspektive der Gesellschaft. Christian erlebt die Landschaft selbst als verführerischen Frauenkörper: „Sehe ich nicht schon Wälder wie schwarze Haare vor mir? Schauen nicht aus dem Bache die blitzenden Augen nach mir her? Schreiten die großen Glieder nicht aus den Bergen auf mich zu?“63 In Hoffmanns Erzählung verliebt sich Anselmus in „ein Paar herrliche dunkelblaue Augen“, begleitet von smaragdenen Lichtspielen, dem Klang von Kristallglöckchen, „Duft […] wie herrlicher Gesang“64, so tritt Serpentina mal als grünes Schlängelein, mal als „liebliches, herrliches Mädchen“ auf und „schlängelte sich geschickt durch, indem sie ihr flatterndes, wie in schillernden Farben glänzendes Gewand nach sich zog“65 – eine synästhetische Kunstfigur, mit der sich Anselmus letztlich nur in Atlantis, einem utopischen Ort, vereinen kann. Zugleich sind die wandlungsfähigen Natur-FrauenBilder eng verbunden mit mythischen Frauenfiguren: Serpentina ist eine Namensadaption von Proserpina und die Binnengeschichte von dem Raub der grünen Schlange, der Tochter –––––––— 60 61 62 63 64 65
Heinz Hillmann: Bildlichkeit der deutschen Romantik. Frankfurt am Main 1971. S. 297. Vgl. Eichendorff: Die Zauberei im Herbste (wie Anm. 7). S. 21. Tieck: Der Runenberg (wie Anm. 6). S. 192. Ebd. S. 197. Hoffmann: Der goldne Topf (wie Anm. 8). S. 226. Ebd. S. 280. Auch die Verwandlungsfähigkeit des Bewahrers dieser Mythen, Archivarius Lindhorst, sorgt immer wieder für Überraschungen und Irritationen des immer wieder an sich, seiner Liebe, seiner Zukunft, seiner Aufgabe zweifelnden Helden Anselmus, der daher immer wieder von Serpina bezirzt werden muss.
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der Lilie, durch Salamander Lindhorst, den Geisterfürst, erinnert in einer Reihe von Motiven an diesen Mythos: Diese Tat provozierte den Zorn des Herrschers von Atlantis, Phosphorus, der Lindhorst und seine drei Schlangentöchter verflucht – bis zu ihrer Erlösung durch die Liebe eines Jünglings.66 Kunst und Natur, Betrachtung und Phantasie amalgamieren hier zu Frauenfiguren, deren sexuelle Anziehungskraft mit Tod und Vergänglichkeit assoziiert wird und die zugleich eine mythische Überhöhung erfahren, die sie zeitlos und ‚irreal‘, aber zugleich auch in der Idealisierung repräsentativ und wahrhaftig werden lassen. Die Frauenfiguren erscheinen gleichsam als ‚Kippfiguren‘, wie in der bekannten optischen Täuschung, in der auf demselben Bild ein junges Mädchen oder eine alte Frau zu sehen sind: Das Waldweib im Runenberg erscheint als die Schöne, die Verführerin und alte Frau, Verfall und Tod symbolisierend und als (der) Fremde, das Fräulein in Zauberei im Herbste als Nymphe, narzisstische Venus und totenkalte Skulptur, Serpentina ist mal Schlange, mal Mädchen, mal Versprechen, mal Erfüllung. Die Rolle der Frau als Braut wird in allen Erzählungen ausgeformt: Diese Konfrontation mit dem Anderen, der Natur und der Frau kulminiert jeweils für den Helden in einer Art ‚Hochzeitsnacht‘, in der die sich ihm bräutlich darbietende Natur und die erotische weibliche Gestalt verschmelzen. Im Runenberg ist es die Entkleidungsszene: Der fallende Schleier, das allmähliche Entblößen des Leibes, der immer wieder durch die langen Locken das Spiel von Enthüllen und Verbergen präsentiert, diese kunstvoll erotische visuelle Darbietung des Körpers erinnert an die spannungsvolle Präsentation der Braut zwischen Keuschheit und Verführung. In Zauberei im Herbste findet eine Brautentführung statt, als Raimund sein Fräulein vor der verhängnisvollen Heirat mit seinem Freund durch einen Mord zu retten sucht. Die Beschreibung der ‚Hochzeitsnacht‘ und das lustvolle Zusammenleben in dieser ‚Martenehe‘ vom goldenen Herbst bis zu den beginnenden Winterstürmen endet mit jener grauenvolle Szene, als Raimund neben seiner windzerzausten versteinerten Geliebten aufwacht. Der goldne Topf ist die Geschichte einer Brautwerbung und einer Erlösung: jener von Anselmus aus den Fallstricken der bürgerlichen Existenz mit dem Ziel, Hofrat zu werden, und der des Schlangen-Mädchens Serpentina, das erlöst mit ihrem Bräutigam in das Zauberreich Atlantis ziehen kann. Ein wesentlicher Teil der mythische Struktur der Erzählungen als Probe bzw. als Initiation ist dabei das Tabu. Das Tabu ist die komplementäre, quasi ‚negative‘ Ergänzung zum Ritual, das Verbot, die Leerstelle, um die ein Ritual kreisen kann bzw. dessen Inhalt es ex negativo beschwört. Das Tabu des verbotenen, des geheimen Blicks – das heimliche Betrachten der nackten Frau, das Lesen in verbotenen, fremden Büchern, die Eroberung –––––––— 66
Die mythische Vorgeschichte mit denselben Protagonisten, dem Jüngling Phosphorus, Feuerlilie und dem Gegenspieler schwarzer Drache, wird als Märchen, als „orientalischer Schwulst“, so der nüchterne Befund des Registrator Heerbrand (ebd. S. 273), zu Beginn der dritten Vigilie erzählt als eine hymnische Liebesgeschichte, die die Liebesgeschichte von Salamander und von Anselmus vorgibt bzw. in jeder Generation variiert – und an Ovids Metamorphosen erinnert.
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des anderen Geschlechts, das Eindringen in das Arkanum, dies sind magische Höhepunkte in den Erzählungen: So als Christian in den Saal des alten Gemäuers der Runenburg blickt, dem Gesang lauscht und Zeuge der Geburt, des Auftritts einer Aphrodite aus Stein wird: [A]ls sie nach und nach alle Hüllen löste; nackt schritt sie endlich im Saale auf und nieder, und ihre schweren schwebenden Locken bildeten um sie her ein dunkel wogendes Meer, aus dem wie Marmor die glänzenden Formen des reinen Leibes abwechselnd hervor strahlten.67
Die Empfindungen des Helden werden als abgründig, als extrem wechselhaft, als rasende Folge von Bilder und Tönen, als „eine Welt von Schmerz und Hoffnung“68 beschrieben. Diese extreme Initiation, ist es „ein Traum oder ein plötzlicher Wahnsinn“69, fragt er sich anschließend, führt auf ihrem Höhepunkt zu einer Überschreitung der Grenze zwischen Christian und dieser magischen Parallelwelt, als „die Schöne das Fenster öffnet“ und ihm göttinnengleich verbunden mit den rituellen Worten „Nimm dieses zu meinem Angedenken!“ die magische Tafel überreicht.70 In der Szene wird durch das Ritual der Tafelübergabe ein religiös-magischer Kontext insinuiert, der an das letzte Abendmahl und an die Übergabe der Tafel mit den zehn Geboten an Moses erinnert. Christian wird in der Folge zwischen den Ansprüchen und Werten der dörflich-bürgerlichen Gesellschaft und der phantastischen Bergwelt, die all seine verborgenen Sehnsüchte verkörpert, zwischen der Erkenntnis der Vergänglichkeit allen Irdischen, die auch vor dem Körper der Geliebten nicht halt macht, und dem Wunsch nach Dauer und Ewigkeit, die die mythische Gestalt des Bergweibes so prachtvoll zu verkörpern scheint, zerrieben. Er wird einer Probe unterworfen, als ihm der Fremde das Geld in Verwahrung gibt, das ihn über die Maßen beschäftigt, und durch diese Pervertierung des Berggoldes ermöglicht, alle irdischen Chancen durch Reichtum auszuschöpfen. Die Grenze ist hier nicht nur zwischen Berg und Tal, Wildnis und Zivilisation gezogen, sondern Christian verfällt dem Wahn seiner Imagination, als er ewiges, statt immer nur zeitlich begrenztes Glück zu erringen sucht: „Wer die Erde so wie eine geliebte Braut an sich zu drücken vermöchte, daß sie ihm in Angst und Liebe gern ihr Kostbartes gönnte!“71 Doch befähigen seine mythischen Erfahrungen den Helden, die Sprache der Natur zu verstehen: „Seitdem verstehe ich erst die Seufzer und Klagen, die allenthalben in der ganzen Natur vernehmbar sind, wenn man nur darauf hören will […] Frage nur die Steine, du wirst erstaunen, wenn du sie reden hörst“72, und machen ihn zu einem Außenseiter der menschlichen Gesellschaft, die seine Wahrnehmungen der Natur als wahnsinnig empfinden muss. Eines der zentralen Rituale, das der Initiation, verbindet sich daher in diesen Erzählungen mit einer mythischen Grenzerfahrung, der Erfahrung des eigenen Todes. So charakterisiert –––––––— 67 68 69 70 71 72
Tieck: Der Runenberg (wie Anm. 6). S. 192. Ebd. Ebd. S. 193. Ebd. S. 192. Ebd. S. 205. Ebd. S. 202 f.
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sich Christian im Runenberg in der Schlussszene als „so gut wie gestorben“73 und bezeichnet damit seinen sozialen Tod, denn seine Frau sah sich ja bereits als Witwe und hat sich wiederverheiratet und das Dorf hat ihn wie einen Toten betrauert. Auch Raimund, der unglückliche Held aus Die Zauberei im Herbste erlebt durch die eigenhändige Ermordung seines vermeintlichen Konkurrenten, seines „Herzensbruder[s]“74, der gewissermaßen eine Stellvertreterrolle spielte, seinen eigenen Tod, der schon früh durch die die Novelle durchziehenden Vergänglichkeits- und Todesmotive, das Abschiedsfest, die bereits im Titel dominierende Jahreszeit des Herbstes angekündigt wird: Er ist dem verführerischen Bild des Burgfräuleins hörig und angestachelt durch ihre Worte: „Wir sehen uns nie wieder, wenn er nicht stirbt“75 – was in der Umkehrung auch die symbolische Bedeutung enthält: Wir sehen uns erst wieder, wenn du stirbst – begeht er, seiner „Sinne kaum mehr mächtig“ vor dem dramatischen Hintergrund der aufgipfelnden Felsenlandschaft und unter einem blutroten Mond den Mord: „[A]ls wäre mein ganzes voriges Leben unter diesen wirbelnden Wogen begraben und alles auf ewig vorbei“76. Er wird, als die wahnhafte Besessenheit seiner Liebe vorüber ist, auch in seinem sozialen Tod den realen vorwegnehmen – und dass die Rahmenerzählung und die Perspektive des Freundes Ubaldo diese Erlebnisse als ‚Zauberei‘, als wahnsinnige Einbildung, entlarven, ist für sein subjektives Erleben unerheblich. Im Goldnen Topf erlebt Anselmus an der Schwelle, jenem symbolträchtigen Ort des Übergangs, des Hauses von Archivarius Lindhorst eine grauenvolle und nahezu tödliche Konfrontation mit den Mächten der schwarzen Magie, denn ohne es zu wissen ist er zwischen die Fronten eines archaischen Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen weißer und schwarzer Magie, zwischen Apfelweib und Lindhorst, Salamander und Drache, ja zwischen Serapina und Veronika geraten. Den Studenten Anselmus ergriff ein Grausen, das im krampfhaften Fieberfrost durch alle Glieder bebte. […] „Töte mich, töte mich!“ wollte er schreien in der entsetzlichen Angst, aber sein Geschrei war nur ein dumpfes Röcheln. […] da zerriß ein schneidender Schmerz jählings die Pulsader des Lebens, und es vergingen ihm die Gedanken.77
Die poetische Sprache wird hier als magische Beschwörungsformel eingesetzt, als Ritual aus Worten und Melodie, so im Lied, um eine Welt auferstehen zu lassen, die in der ‚normalen‘ Sprache durch die Differenz zwischen Ding und Begriff auseinander zu fallen scheint. Der poetischen Sprache sowie der Sprache als ritualisiertes Sprechen im Zauberspruch wird damit eine besondere Macht zugewiesen, selbst schöpferisch wirken zu können, eine eigene Welt erschaffen zu können – etwa Atlantis, in dem schließlich Anselmus mit Serpentina lebt – –––––––— 73 74 75 76 77
Ebd. S. 208. Eichendorff: Die Zauberei im Herbste (wie Anm. 7) S. 19. Ebd. S. 16 und 18. Ebd. S. 19. Hoffmann: Der goldne Topf (wie Anm. 8). S. 236.
Von Bräuten, Wunderbäumen und Hieroglyphen. Mythos, Ritual und Raum in der Romantik
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oder die Wahnwelt des Waldweibs, eine Art Venusberg, ein Reich außerhalb rationaler bürgerlicher Vorstellung. In mythischen Grundkonstellationen und einer wirkmächtigen Farb- und Natursymbolik entstehen magisch anmutende Sprachkunstwerke über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe zwischen Mann und Frau, über die Suche nach Sinn und Erlösung. Die romantischen Autoren unternehmen einen Zirkelschluss des mythischen Denkens. Sie poetisieren den Mythos, mythische Motive und Strukturen und verbinden magisches, mythisches und religiöses Denken in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Christliche Motive, wie die Schlange, die Einsiedlerhöhle und religiöse Feste verbinden sich mit archaischen Ritualen zu einem Weltbild, in dem in der Natur wie im menschlichen Leben analoge Gesetzmäßigkeiten herrschen, in dem die Natur belebt ist, von dämonischen Wesen und Elementargeistern bevölkert sein kann und als Spiegel des meist krisengeschüttelten Seelenraumes dient. Dieser Synkretismus einer Mischung aus höherer und niederer Mythologie und christlicher Motive mündet in die Idee der Universalpoesie, die nicht nur Gattungsgrenzen auflöst, sondern auch Bildungsschranken überwindet, „Kunstpoesie und Naturpoesie“ mischt, „die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen“ will und alles umfaßt, „was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang“ – so in Friedrich Schlegels 116. Athenäums-Fragment.78 „An die Stelle des naiven Als-beseelt-Erlebens der Natur tritt das sentimentalische, das um seine eigene Illusionshaftigkeit weiß“79 – genau diese selbstreflexive Ambivalenz illustrieren die romantischen Texte, denn einerseits sind die Helden ganz in einem ‚Wahngebilde‘ magisch-mythischen Erlebens, einer dämonischen oder transzendierenden Liebe gefangen, andererseits treten der Erzähler oder alternative Perspektiven verkörpernde Figuren aus der Gesellschaft mit einem illusionslosen Blick neben den Helden und betrachten dessen Ausgrenzung aus der Gemeinschaft irritiert, mitfühlend oder sogar begehrlich. Die Frauenfiguren folgen mythischen Modellen: Als Venus, als dämonische Verführerin Lilith, als Melusine, Frau Welt, die Schönheit und Verfall verkörpert, als Urmutter Gaia, als keusche Maria, als Proserpina, die den Wechsel der Jahreszeiten und die Vergänglichkeit von Jugend und Schönheit mythisch überhöhen. Eingebettet und begleitet sind die Rituale des Erzählens und des sozialen Miteinanders in Figuren und Geschichten, die einen mythischen Echoraum aufrufen, ihre zeitlose Bedeutung übernehmen und durch das Buch der Natur, durch Runen und Hieroglyphen Antwort geben auf die kritische und krisenhafte Erfahrung der Welt im Anbruch der Moderne, in der alte Verbindlichkeiten und Ordnungsmuster ihre selbstverständliche Kraft verloren haben, aber Rituale, Feste und –––––––— 78
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Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe. München, Paderborn, Wien, Zürich 1958 ff. Bd. 2. S. 182. Landmann: „Tout finit par des Chansons“ (wie Anm. 15). S. 122.
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Bräuche, Rollenmuster wie Braut und Bräutigam, Jäger oder Einsiedler vertraut sind. Die Protagonisten werden in diesen Erzählungen auf die Probe gestellt, durchlaufen die Prüfung einer solchen mythischen Welterfahrung, der sie sich anfangs überlegen glauben, als könnten sie die Natur beherrschen und hätten die Macht über ihr eigenes Schicksal. Die romantischen Helden sind Suchende, die keine Heimat haben, weder in sich, noch in einer ständisch ritterlichen, einer dörflichen oder städtisch bürgerlichen Gemeinschaft. Sie durchmessen den Raum der Natur als Seelenraum, in dem sich ihre emotionale Bewegung als Wechsel der Jahres- und Tageszeiten und der Landschaft spiegelt. Sie suchen nach Glück und Liebe, nach Wissen und Erfüllung in der Tiefe des Runenbergs oder der Lektüre rätselhafter Zeichen, nach einem Sinn, der über eine momenthafte, ja rauschhafte Erfahrung hinausgeht, und finden ihn in einem Raum jenseits aller konkreten Verortung, in einem Sehnsuchtsort, im Mythos von Atlantis, in der magischen Gesellschaft des zauberhaften Waldweibs oder in der abgründigen Phantasie-Welt des Wahnsinns.
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Schleier, Schwelle, Zeremonie: Übergangsriten in Eichendorffs Das Marmorbild I. Eichendorffs Werk zelebriert, so scheint es, das spontane Handeln: der unvermittelte Aufbruch in die freie Natur; das ungeplante Schweifen auf Wegen, die sich dem Reisenden zufällig eröffnen; das Singen volksliedhafter Strophen, die dem Sänger gerade so in den Sinn kommen; das Verfolgen einer inneren Sehnsucht, die unbestimmt ist und oftmals kein konkretes Ziel kennt – oder nur ein Ziel, das sich mit der räumlichen wie auch emotionalen Bewegung stets aufs Neue verschiebt. Innerhalb dieser romantischen Spontaneität haben Rituale im Sinne vorgegebener, formalisierter Abläufe wenig Platz. Wo sie bei Eichendorff dennoch auftauchen, sind sie zumeist in ein schlechtes Licht gerückt. Rasch kommen einem all die Situationen in den Sinn, in denen die romantischen Hauptfiguren mit unangenehmen, oft grotesken gesellschaftlichen Ritualen konfrontiert werden. Das philisterhafte Beamtentum, besonders eindrücklich in Dichter und ihre Gesellen in der Wiederbegegnung des wandernden Fortunats mit dem im Schlafrock am Schreibtisch sitzenden Jugendfreund Walter ironisiert, erfährt die gleiche Geringschätzung wie die in Konventionen erstarrte Adelsgesellschaft, die – in der harmlosen Variante – in ihrer Mode und ihrem Habitus karikiert wird, in der düsteren Variante aber gar als eine in Staatsuniform gekleidete „geputzte Leiche“ in Erscheinung tritt, wie der alte Graf in der Novelle Schloß Dürande.1 Wie ein inhaltsleeres Ritual wirkt auch die (Wieder-)Beschwörung einer für Eichendorff längst überholten Aufklärung des 18. Jahrhunderts: Baron Pinkus, Repräsentant einer solchen veralteten Aufklärungsposition, tritt in der Satire Libertas und ihre Freier in der Kluft eines halb diabolischen, halb lächerlichen Totenbeschwörers auf. Was nicht frisch und frei ist bei Eichendorff, erhält von ihm rasch das Etikett des Gekünstelten, Gezwungenen und Unauthentischen. Das Heiraten beispielsweise scheitert nicht selten am dazugehörigen Ritual der Hochzeit: In der satirischen Erzählung Viel Lärmen um Nichts entflieht der Bräutigam Romano der Festgesellschaft, während der Geistliche in seiner Rede die Vorzüge der Ehe anpreist. Nicht anders reagiert der sprunghafte Dryander in Dichter und ihre Gesellen, als ihm ein Streich gespielt und –––––––— 1
Joseph von Eichendorff: Das Schloß Dürande. In: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer, fortgeführt und hg. von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann. Regensburg 1962–1970, dann Stuttgart/Berlin/Köln/ (Mainz): W. Kohlhammer, seit 1997 Tübingen: Max Niemeyer Verlag. (In Folgenden zitiert als HKA). Bd. V/1: Erzählungen. Erster Teil. Text. Hg. von Karl Konrad Polheim 1998. S. 308.
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vorgegaukelt wird, er müsse jetzt heiraten. Beim Anblick der gedeckten Festtafel, der „Vettern und Basen im festlichen Staate“2 und der jubelnden Dorfjugend flüchtet er Hals über Kopf, wie sollte es anders sein, in die Natur. Auch in den Gesprächen über die Dichtkunst, die Eichendorff in seine Geschichten einstreut, zieht bekanntlich der affektierte Gestus von Teegesellschaften und Halbliteraten beißenden Spott auf sich. Wie sehr die Verballhornung des wahrhaft Poetischen an die häuslichen Rituale des Spießbürgers gekoppelt sein kann, demonstriert beispielhaft der Aufenthalt Friedrichs bei einer Teegesellschaft in Ahnung und Gegenwart: „Friedrich’n kamen diese Poesierer in ihrer durchaus polirten, glänzenden, wohlerzogenen Weichlichkeit wie der fade, unerquickliche Theedampf, die zierliche Theekanne mit ihrem lodernden Spiritus auf dem Tische wie der Opferaltar dieser Musen vor.“3 Und nicht nur die Rezeption, sondern schon die Produktion von Literatur verläuft in falschen Bahnen, so der Tenor bei Eichendorff, wenn sie in schematisierte Abläufe eingezwängt wird. Diese Erkenntnis manifestiert sich in Ahnung und Gegenwart in dem stets mit mildem Spott bedachten Berufsdichter Faber, dem der Wind beim Schreiben die Blätter verweht. Diese Erfahrung muss noch Jahrzehnte später Fortunat in Dichter und ihre Gesellen machen: Jeden Morgen legt er sich am Fuß einer Apollostatue Stift und Papier zurecht, um Novellen niederzuschreiben, bis ihm eines Tages eine Böe die Blätter ein für alle Mal fortweht. Eine bedrohliche Facette gesellschaftlicher Zeremonien offenbart sich in den Maskenbällen und Festgelagen, die in Eichendorffs Prosa allenthalben abgehalten werden. Von ihnen geht eine dämonische Befremdlichkeit aus, weil die Identität der Teilnehmer und der Zweck des Treibens unklar bleiben: „Ihn schauderte mitten unter diesen Larven“4, heißt es, als Friedrich in Ahnung und Gegenwart das Maskenfest der Residenz betritt. Die Zuordnungen von Maske und dazugehöriger Person entgleiten Friedrich immer aufs Neue und ein verstörender Einblick in eine ordnungslose, moralisch fragwürdige Sphäre der Gesellschaft tut sich auf. In gewisser Weise sind diese Maskenbälle das Gegenstück zu den gerade vorgestellten Beispielen gesellschaftlicher Einengung, heben sie doch die verbindlichen Regeln sozialer Zugehörigkeiten und Umgangsformen kurzfristig auf. Doch auch diese vorübergehende ritualisierte Außerkraftsetzung gesellschaftlicher Normen, als die das Karnevaleske in der Ritualforschung häufig angesehen wird, hat bei Eichendorff einen unangenehmen Beigeschmack. Dieser nur kursorische Überblick zum Thema soll durch den Vergleich zweier Textstellen abgerundet werden, die durch ihre intertextuelle Beziehung einerseits die antirituelle Tendenz im Werk Eichendorffs bestätigen, andererseits aber auch eine weitere Bedeutungsschicht des Motivkomplexes Ritual/Kult/Mythos beleuchten und damit den Übergang zum Hauptthema, dem Venuskult als Übergangsritus im Marmorbild, leisten soll. –––––––— 2 3
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HKA (wie Anm. 1). IV: Dichter und ihre Gesellen. Hg. von Volkmar Stein. 2001. S. 130. HKA (wie Anm. 1). III: Ahnung und Gegenwart. Hg. von Christiane Briegleb und Clemens Rauschenberg. 1984. S. 146. Ebd. S. 122.
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Die vermutlich im Sommer 1832 entstandene, erst posthum veröffentlichte Satire Auch ich war in Arkadien sowie die wenig später (um 1835) verfasste Novelle Eine Meerfahrt beinhalten jeweils Darstellungen eines kultischen Geschehens, die sich sowohl in den Motiven als auch in der moralischen Bewertung gleichen. Die Satire5, die als unmittelbarer Reflex auf das Hambacher Fest 1832 entstanden ist, charakterisiert das Verhalten der national-liberalen Revolutionäre als ein albernes Ritual, in dem sich Elemente von Freimaurertum, Mysterienkult und Hexensabbat vermischen. Der Ich-Erzähler, der dem Revolutionsfest beiwohnt, wird mit einem „Freimaurer-Händedruck“6 begrüßt und muss feststellen, dass die „Bet-Pulte“7 statt mit Evangelienbüchern mit englischen und französischen Zeitungen, Revolutionsschriften also, bedeckt sind. Ein magischer Ritt auf einem Himmelsross bringt den Erzähler zum „Bloksberg“8, wo sich eine „Prozeßion weißgekleideter liberaler Mädchen“9, ein „Oberpriester im Talar eines ägyptischen Weisen“10, der eine Kerze vor sich her trägt, sowie weitere obskure Zeremonieteilnehmer versammeln. Das politische Fest mündet in einer Beschwörungsfeier, und die dunkle Vorahnung des Erzählers bestätigt sich: „Mir ward gantz unheimlich; ich sah unwillkürlich in meinen Taschenkalender und gewahrte mit Schauern, daß heute Walpurgis war.“11 „Es ist Walpurgis heut“12, diese Erkenntnis machen auch – wortgleich – Alvarez und Antonio zu Beginn der Novelle Eine Meerfahrt, als sie aus der Ferne das Ritualfest der Eingeborenen zu Ehren ihrer mysteriösen Königin beobachten. Kurz nach Betreten der Insel, die sie später die „Venusinsel“13 taufen, werden die Seeleute zu Zeugen einer heidnischen Zeremonie: Zu ihrem Entsetzen sahen sie dort einen wilden Haufen dunkler Männer, Windlichter in den Händen, abgemessen und lautlos im Kreise herumtanzen, während sie manchmal dazwischen bald mit ihren Schilden, bald mit den Fackeln zusammenschlugen, daß die sprühenden Funken sie wie ein Feuerregen umgaben. Inmitten dieses Kreises aber, auf einem Moosbette, lag eine junge schlanke Frauengestalt, den schönen Leib ganz bedeckt von ihren langen Locken, und Arme, Haupt und Brust mit funkelnden Spangen und wilden Blumen geschmückt, als ob sie schliefe, und so oft die Männer ihre Fackeln schüttelten, konnten sie deutlich das schöne Gesicht der Schlummernden erkennen.14
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Vgl. zum satirischen Gehalt des Textes Reinhold Wesemeier: Zur Gestaltung von Eichendorffs satirischer Novelle „Auch ich war in Arkadien“. In: Alfred Riemen (Hg.): Ansichten zu Eichendorff. Beiträge der Forschung 1958 bis 1988. Sigmaringen 1988. S. 104–118. Joseph von Eichendorff: Auch ich war in Arkadien! In: HKA (wie Anm. 1). V/3: Erzählungen. Zweiter Teil, Fragmente und Nachgelassenes. Hg. von Heinz-Peter Niewerth. 2006. S. 161. Ebd. S. 160. Ebd. S. 164. Ebd. S. 165. Ebd. S. 173. Ebd. S. 163. Joseph von Eichendorff: Eine Meerfahrt. In: HKA V/1 (wie Anm. 1). S. 209. Ebd. S. 237. Ebd. S. 209.
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Unübersehbar vermischt auch diese Schilderung eines – diesmal archaischen – Rituals unterschiedliche Motivtraditionen: Entstammt der Fackeltanz der Eingeborenen offenbar den Südsee-Diskursen der Zeit, erinnert die schlafende Schönheit auf dem Moosbett eher an eine Grimmsche Märchenprinzessin, deren Erweckung wiederum mit bestimmten Ritualhandlungen verknüpft zu sein pflegt. Alvarez’ Bemerkung „Vermaledeiter Hexensabath ist’s, [...] Frau Venus ist’s! [...]“15 fügt der Szene dann noch zwei weitere Bedeutungsnuancen zu.16 Der wortidentische Verweis auf die Walpurgisnacht, der in beiden Texten die Darstellung des Kultischen umrahmt, setzt die Satire auf das Hambacher Fest und die Novelle über die Venusinsel in eine enge Beziehung zueinander. Es zeigt sich, dass in beiden Fällen gleich mehrere Ritualtraditionen synkretistisch verwoben werden, so dass beide Szenen – unabhängig davon, ob sie zeitgenössische Revolutionstopoi verspotten oder einen primitiven Stammesritus ausgestalten – ein gewisses Interesse an kultischen Vorgängen überhaupt enthüllen. Neben der oben skizzierten abwertenden Haltung gegenüber rituellen Zwängen existiert in Eichendorffs Werk also durchaus auch ein narratives Interesse am Phänomen des Kults an sich. Ritual und Ritus kommen bei Eichendorff besonders dann motivische Bedeutung und strukturelle Funktion zu, wenn er die erzählte Welt nach märchenhaften oder mythischen Mustern modelliert. Exakter müsste man wohl von mythopoetischen Mustern sprechen, was in Erinnerung rufen soll, dass die romantische Schreibpraxis das mythische Erzählen nicht einfach zu wiederholen, zu kopieren versucht, sondern – wie programmatisch von Schlegel und anderen Theoretikern der Zeit gefordert – in neue Bedeutungszusammenhänge einbindet und dabei reflexiv bricht.17 Der Venuskult, der in unterschiedlichen Varianten und Ausprägungsgraden in zahlreichen Texten Eichendorffs begegnet, besitzt häufig eine strukturbildende, bisweilen sogar handlungsauslösende Erzählfunktion, so nicht nur in Eine Meerfahrt, sondern beispielsweise auch in Die Zauberei im Herbste und vor allem natürlich im Marmorbild. Insbesondere in dieser Novelle hat der Autor mit Ritualmotiven und kultischen Handlungselementen experimentiert. Mehr noch: Die gesamte Geschichte um die Hauptfigur Florio verläuft nach dem Muster eines Übergangsritus, der die moderne Sozialisation eines Adoleszenten und die vormoderne Praxis eines mythischen Einweihungsrituals ineinander blendet.
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Ebd. Auch das Marmorbild verbindet mehrmals aus Goethes Faust entnommene Walpurgis-Motive mit der Erscheinung der Venus. Vgl. Ulrich Gaier: „Wir alle sind, was wir gelesen...“: Eichendorffs „Marmorbild“. In: Clifford A. Bernd/Ingeborg Henderson/Winder McConnell (Ed.): Romanticism and Beyond. New York 1996. S. 165–195. Hier S. 176 ff. Vgl. hierzu grundlegend: Gerhard Schmidt-Henkel: Mythos und Dichtung. Zur Begriffs- und Stilgeschichte der deutschen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Bad Homburg 1967. S. 56 ff.
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II. Eine solche Lesart greift methodisch auf Ansätze der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturinterpretation zurück, die für ihre Anliegen den Begriff der rites de passage der Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Turner fruchtbar macht. Ohne diese Konzepte hier in aller Ausführlichkeit zu referieren, sei doch kurz erläutert, inwiefern sich der kulturwissenschaftliche Ritualbegriff nutzen lässt, um Motive und Strukturen im Marmorbild zu deuten, zumal der Begriff in den bisherigen Ausführungen zu Erscheinungsformen des Rituellen bei Eichendorff noch allgemein und weitläufig geblieben ist.18 Van Gennep hat in seinem bereits 1909 erschienenen Buch Übergangsriten ein universelles Drei-Phasen-Schema vorgestellt, das er aus dem Studium verschiedenster afrikanischer und asiatischer Kulturen ermittelt hat und das zusammenfasst, wie diese Kulturen die Sozialisation ihrer Individuen organisieren. Van Gennep begreift „Geburt, soziale Pubertät, Elternschaft, Aufstieg in eine höhere Klasse, Tätigkeitsspezialisierung“19 als soziale Ereignisse, bei denen die Überführung des betroffenen Individuums von einem alten in einen neuen Zustand reglementiert werden muss. Der Ablauf dessen gestaltet sich, trotz Variablen im Detail, prinzipiell immer gleich: „Übergangsriten erfolgen also, theoretisch zumindest, in drei Schritten: Trennungsriten kennzeichnen die Ablösungsphase, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten die Zwischenphase (die Schwellen- oder Umwandlungsphase) und Angliederungsriten die Integrationsphase.“20 In den 1960er Jahren und danach hat Victor Turner dieses Modell in mehrfacher Hinsicht erweitert. Zum einen hat er für den mittleren Abschnitt, für den Schwellenzustand, dem er eine herausgehobene Bedeutung zuspricht, wichtige Strukturmerkmale erarbeitet. Zum anderen zeigt Turner, dass auch in modernen Gesellschaften noch Übergangsriten walten und die Phasierung individueller Lebensabschnitte steuern, beispielsweise die Phasen der Adoleszenz, der Heirat oder des Eintritts ins Berufsleben.21 In dem Übergangsstadium, das Turner mit dem Begriff „Liminalität“ versieht, gibt es eine „Schwelle (limen), an der die Vergangenheit für kurze Zeit negiert, aufgehoben und beseitigt ist, die Zukunft aber noch nicht begonnen hat – einen Augenblick reiner Potentialität, in dem gleichsam alles im Gleichgewicht zittert.“22 Dieser vom Betroffenen als krisenhaft erlebte Zustand zwischen zwei Lebensstadien ist von magischen und mythischen Symbolhandlungen begleitet: Der Initiand wird mit der Götter- und Dämonenwelt konfrontiert, erlebt karnevaleske Ereignisse wie Maskenfeste und – speziell im Falle von Pubertätsriten – eine Einweihung in die Welt der Sexualität. Die Unterweisung in kulturellen Symboliken und Praktiken dient, so betont –––––––— 18
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Über unterschiedliche Ritualbegriffe und ihren Bezug zur Literatur informiert grundlegend Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996. Arnold van Gennep: Übergangsriten. Frankfurt am Main 1986. S. 15. Ebd. S. 21. Vgl. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt am Main 1989. S. 159 ff. Turner: Das Liminale und das Liminoide in Spiel, ‚Fluß‘ und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie. In: Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt am Main 1995. S. 28–94. Hier S. 69.
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Turner, auch dem Begreifen des der Gesellschaft zugrunde liegenden Weltbildes. Der Initiand erlernt mit den kulturellen Techniken auch kosmisches Weltwissen. Bei all dem wird er von Mentoren überwacht, die ihn in die bis dahin unbekannten Kulturtechniken einführen (Turner zählt dazu Geheimsprachen, Gesänge, Tänze und ähnliches).23 Zudem manifestiert sich das Zwischenstadium des Individuums zumeist auch in einer räumlichen Schwellensituation: „Der Übergang von einem sozialen Status zum anderen ist oft mit einem Raumwechsel, mit einer geographischen Ortsveränderung verbunden. Man öffnet zum Beispiel Türen oder überschreitet eine Schwelle, die zwei Sphären voneinander trennt [...]“.24 Vieles an dieser knappen Zusammenstellung aus van Genneps und Turners Büchern erinnert unmittelbar an Motive und Handlungssequenzen romantischer Texte. Generell erweist sich die klassisch-romantische Literatur mit ihrer Fülle von Bildungs-, Entwicklungsund Adoleszenzgeschichten als ein besonders reizvoller und ergiebiger Arbeitsbereich für die ritual studies. Rituale lassen sich so nicht nur in ihrer Motivik und Phänomenologie genauer konturieren, sondern vielfach auch als „Generatoren von Handlungs- und Erzählmustern“25 in Texten identifizieren. Dies gilt für den Sozialisationsprozess in Goethes Wilhelm Meister26 ebenso wie für die Märchennovellen von E. T. A. Hoffmann.27 Eichendorffs Texte wurden bisher noch nicht explizit auf solche Ritualstrukturen hin erkundet. Zwar spricht Hartmut Böhme in seinem wichtigen Aufsatz über die Psychodynamik der romantischen Venuskult-Novellen davon, dass die Sozialisation der Adoleszenten bei Tieck, Hoffmann und Eichendorff „im Muster der rites de passage und der Initiation“28 verläuft, er untersucht aber stärker die Bedeutung dieses Musters für die Visualisierung psychischer Prozesse als die Konstituierung des Musters selbst durch Ritualmotive und Darstellungen kultischer Elemente. Im Folgenden sollen deshalb die teils greifbaren, teils nur angedeuteten Ritualhandlungen im Marmorbild aufgespürt werden, um zu verdeutlichen, dass sich die Adoleszenzgeschichte Florios auf zwei Ebenen abspielt. Auf einer Ebene, man könnte sie die Sozialisations- oder Erziehungsebene nennen, muss der Heranwachsende erlernen, –––––––— 23 24 25
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Vgl. ebd. S. 37 ff. Ebd. S. 36. Gerhard Neumann: Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissenschaft. In: Gerhard Neumann/ Sigrid Weigel: Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000. S. 19–52. Hier S. 19; ähnlich Braungart: Ritual und Literatur (wie Anm. 18). S. 163 f. Vgl. Friedrich A. Kittler: Über die Sozialisation Wilhelm Meisters. In: Gerhard Kaiser/Friedrich A. Kittler: Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller. Göttingen 1978. S. 13–124; Michael Neumann: Roman und Ritus. „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Frankfurt am Main 1992. Vgl. Gerhard Neumann: Puppe und Automate. Inszenierte Kindheit in E. T. A. Hoffmanns Sozialisationsmärchen „Nußknacker und Mausekönig“. In: Günter Oesterle (Hg..): Jugend – ein romantisches Konzept? Würzburg 1997. S. 135–160; David E. Wellbery: Rites de passage: Zur Struktur des Erzählprozesses in E. T. A. Hoffmanns „Prinzessin Brambilla“. In: Gerhard Neumann (Hg..): ‚Hoffmanneske Geschichte‘. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Würzburg 2005. S. 317–335. Hartmut Böhme: Romantische Adoleszenzkrisen. Zur Psychodynamik der Venuskult-Novellen von Tieck, Eichendorff und E. T. A. Hoffmann. In: Klaus Bohnen/Sven-Aage Jørgensen/Friedrich Schmöe (Hg.): Literatur und Psychoanalyse. Kopenhagen/München 1981. S. 133–176. Hier S. 138.
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welche Formen des Begehrens, welche Artikulationsweisen von Gefühl und Phantasie gesellschaftlich akzeptabel sind und welche nicht. Zugespitzt: Er muss seine sexuelle Identität finden oder entwickeln. Parallel dazu wird auf einer zweiten Ebene, so die These, eben diese Sozialisation zu einer mythopoetischen Einweihungsgeschichte überhöht, die das vormoderne Erzählmuster „Begegnung mit der Urgöttin“ aktiviert. Es wird deutlich, dass diese Lesart ganz wesentlich davon bestimmt ist, wie man das Verhältnis zwischen den beiden Frauenfiguren Bianka und Venus einschätzt. Diese für die Gesamtdeutung der Novelle sicherlich zentrale Frage wurde in der Forschung immer wieder aufgeworfen. Dabei wurde die Venus häufig als Verkörperung einer heidnischen, phantasmatischen, schlicht ‚falschen‘ Sexualität gesehen, der Bianka als Repräsentantin einer keuschen, sozial akzeptablen, einer ‚richtigen‘ Sexualität diametral entgegensteht. Die Lobpreisung Marias, die in der Struktur der Novelle auf Seiten Biankas steht, und ihr Sieg über die heidnische Göttin, wie er im Schlussgedicht der Novelle gefeiert wird, scheinen zunächst zu bestätigen, dass Florios Geschichte als ein Entscheidungskampf zu lesen ist: Der Adoleszent soll die Verführungen durch den ungesteuerten Eros bezwingen, hinter sich lassen und fortan den rechten Lebensweg einschlagen, indem er sich mit der keuschen Bianka verheiratet. Andere Texte Eichendorffs, in denen Figurationen der Venus auftauchen (man denke beispielsweise an Gräfin Romana in Ahnung und Gegenwart), scheinen diese Generaldeutung der Venus zu untermauern. Ganz so eindeutig, geradezu didaktisch gestaltet sich der Einsatz des Venusmotivs aber dann doch nicht. Für das Marmorbild ist festzustellen, dass die Attributierung der beiden Frauenfiguren und ihre Beziehung zueinander vielschichtiger und ambivalenter sind, als es das strikte Kontrastschema darzustellen vermag. So überlagern sich im psychischen Erleben Florios beide Gestalten immer wieder.29 Bestimmte Attribute, die der einen Frau vorbehalten zu sein scheinen, tauchen wenig später im Kontext der anderen auf, so beispielsweise die Rose, die zunächst ein Geschenk Biankas an Florio ist, später aber die Venus und ihren Palast schmückt. Oder andersherum: Der Motivkomplex ‚griechisch/heidnisch‘, der eindeutig und allein der Sphäre der Venus zuzugehören scheint, dehnt sich auch auf Bianka aus, wenn sie sich auf dem Maskenfest als Griechin verkleidet. Diese Verschiebungen und Unsicherheiten in der semantischen Zuordnung tragen wesentlich zur Rätselhaftigkeit des Novellengeschehens bei. Auch die ikonographischen Traditionen, die in die Modellierung von Venus und Maria eingegangen sind, lösen die Polarität auf, haben sich doch beide Frauenbilder im Laufe des Mittelalters und der Renaissance „durch einen komplizierten Platz- und Attributentausch wechselseitig beerbt“30. Indem die Erzählung „ihre optischen Entwürfe auf der Grundlage der traditionellen und stets ambivalenten, das heißt zumindest zweideutigen ikonographi–––––––— 29
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Vgl. Lothar Pikulik: Die Mythisierung des Geschlechtstriebes in Eichendorffs „Das Marmorbild“. In: Euphorion 71 (1977). S. 128–140. Hier S. 132 ff. Waltraud Wiethölter: Die Schule der Venus. Ein diskursanalytischer Versuch zu Eichendorffs „Marmorbild“. In: Michael Kessler/Helmut Koopmann (Hg..): Eichendorffs Modernität. Tübingen 1989. S. 171–201. Hier S. 176.
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schen Zeichen zu einem Vexierbild zusammensetzt“31, konstruiert sie eher eine Nähe und Verwandtschaft der Frauenfiguren als ein Polaritätsprinzip. Hinzu kommt, dass in die Gestaltung der Venus verschiedene allegorische Figurationen eingegangen sind, deren Kombination wohl wiederum synkretistisch zu nennen ist. Die antike Liebesgöttin trägt bisweilen die Züge der Jagdgöttin Diana, wenn sie, wie mehrmals erwähnt, Jagdkleidung trägt, oder sie erscheint in der mittelalterlichen Tradition der „Frau Welt“-Allegorie.32 Indem sie außerdem mehrmals mit dem Requisit des Schleiers versehen wird (ein rituelles Objekt, auf das ich noch genauer zu sprechen komme), finden sich in ihr auch Anteile der altägyptischen Göttin Isis, die ihrerseits wiederum enge historische Bezüge zu Maria aufweist – die mythische Darstellung der Isis mit dem Horusknaben gilt als Präfiguration der heiligen Jungfrau mit dem Jesuskind.33 Auch Isis und Diana überkreuzen sich übrigens, denn schon in der Antike erhält die Naturgöttin das Attribut des Schleiers, und ab dem 16. Jahrhundert entsteht ein ikonographischer Topos, in dem die verschleierte Diana als Verkörperung der Naturgeheimnisse und Welträtsel fungiert.34 Das Motiv des verschleierten Bildes zu Sais, das durch Schillers Ballade und Novalis’ Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen in den Lehrlingen zu Sais zu literarischer Popularität gelangte, verleiht der Venusfigur in besonderer Weise den Status einer Allegorie kosmischer Natur- und Welterkenntnis. Die Venusfigur des Marmorbilds verkörpert damit, weit über die erotische Komponente hinaus, das Prinzip einer kosmischen Urgöttin: „[...] mythologisch steht hinter all den Göttinnen die große jungfräuliche Mutter in der Faszination ihrer Schönheit [...], der Fürsorge ihrer Mütterlichkeit und dem Schrecken ihrer Unberührbarkeit [...]“.35 Die Beziehung zwischen Bianka und Venus wäre also nicht als eine horizontale Gegensatzfigur, sondern als vertikale Spiegelungsfigur zu denken: Die konkrete, reale Begegnung mit Bianka wiederholt sich auf einer höheren, mythischen Ebene in der Begegnung mit der Venus. Die Einweisung des Adoleszenten in die gesellschaftliche Sphäre der Sexualität und Partnerschaft (die Bianka-Ebene) koppelt sich an die Konfrontation mit dem Prinzip des Weiblichen an sich, repräsentiert durch die Urgöttin (die Venus-Ebene).
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Ebd. Vgl. Barbara Becker-Cantarino: „Der schöne Leib wird Stein“. Zur Funktion der poetischen Bilder als Geschlechterdiskurs in Eichendorffs „Marmorbild“. In: Gerd Labroisse/Dick van Stekelenburg (Hg..): Das Sprach-Bild als textuelle Interaktion. Amsterdam/Atlanta 1999. S. 123–134. Hier S. 127. Vgl. Gaier: Eichendorffs „Marmorbild“ (wie Anm. 16). S. 170. Vgl. Burkhard Gladigow: Vom Naturgeheimnis zum Welträtsel. In: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg..): Schleier und Schwelle. Archäologie der literarischen Kommunikation. Bd. 3: Geheimnis und Neugierde. München 1999. S. 77–97. Hier S. 85 ff. Gaier: Eichendorffs „Marmorbild“ (wie Anm. 16). S. 170.
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III. Wie sind nun die Übergangsriten im Text konkret realisiert? Die Makrostruktur der Novelle markiert mit Florios Ankunft in Lucca zu Beginn und seiner Abreise am Ende recht eindeutig einen narrativen Rahmen, innerhalb dessen sich Florios Initiation abspielt. Florios Worte selbst bringen zum Ausdruck, inwiefern der Aufenthalt in Lucca als ein psychischer Entwicklungsabschnitt zu verstehen ist. Wie viele andere Erzählungen Eichendorffs inszeniert auch Das Marmorbild die Reifungsgeschichte als einen allegorischen Auszug in räumlich wie seelisch neue Bezirke.36 Im ersten Gespräch mit Fortunato bemerkt Florio: „Ich habe jetzt [...] das Reisen erwählt, und befinde mich wie aus einem Gefängniß erlöst, alle alten Wünsche und Freuden sind nun auf einmal in Freiheit gesetzt.“37 Dass diese „Wünsche“ und „Freuden“ erotische Erfahrungen implizieren, wird deutlich, wenn sich an Florios Aufbruchstimmung sogleich die Warnungen Fortunatos vor dem „Zauberberg“ (32), dem sagenhaften Berg der Venus also, koppeln. Damit ist von Anfang an das Thema der Novelle angeschlagen, wobei Fortunatos als Warnung gemeinte Rede in ihrer Vagheit bei seinem Zuhörer sicherlich nicht nur Besorgnis, sondern ebenso Neugierde auslöst.38 Hier wie an anderen Stellen agiert Fortunato als eine Art Lehrer, dessen Erziehungsabsichten aber nicht immer ganz eindeutig sind. Bei seiner Abreise aus Lucca, also nach den bestürzenden Ereignissen im Venuspalast, deutet dann wiederum Florio selbst seine Situation als erfolgreiche Bewältigung der Krise. Zu Bianka sagt er: „Ich bin wie neu geboren, es ist mir, als würde noch Alles gut werden, seit ich Euch wiedergefunden. Ich möchte niemals wieder scheiden, wenn Ihr es vergönnt.“ (82) Der Satz, der an die positive Schlussformulierung im Taugenichts erinnert, schließt den narrativen Rahmen. Innere Reifung und Erkenntnis, hier in das mythisch aufgeladene Bild von der Wiedergeburt gekleidet, scheinen erfolgreich verlaufen, die Verbindung mit Bianka als eigentliches Ziel der Persönlichkeitsentwicklung gesichert zu sein (ob das Ende der Novelle wirklich so geradlinig zu lesen ist oder nicht jenseits der Selbsteinschätzung Florios ein Rest Ungewissheit bleibt, soll später noch genauer überprüft werden). Im Aufbruchmotiv des Novellenbeginns und in Florios Bindung an Bianka am Schluss lassen sich die erste und die dritte Phase der rites de passage wiedererkennen: die Trennungs- und die Wiederangliederungsphase. Das Hauptinteresse der Erzählung aber gilt der dazwischen liegenden Handlung, also der liminalen Phase, die mit all ihren ambivalenten Erfahrungsprozessen, Krisen und Verwirrungen offenbar den eigentlichen Anstoß und Antrieb des Erzählens bilden. –––––––— 36
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Vgl. zu diesem Muster Gert Ueding: Auszugsräume. Geschehen von Ort zu Ort in Eichendorffs „Ahnung und Gegenwart“. In: Aurora 49 (1989). S. 59–76; zur Verräumlichung psychischer Zustände und Prozesse in der romantischen Literatur generell vgl. auch Carsten Lange: Architekturen der Psyche. Raumdarstellung in der Literatur der Romantik. Würzburg 2007. Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild. HKA V/1 (wie Anm. 1). S. 32. Seitenverweise aus diesem Text fortan in Klammern nach dem Zitat. Vgl. Wiethölter: Die Schule der Venus (wie Anm. 30). S. 172.
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Während dieser Schwellenphase durchläuft der Protagonist mehrere (auch räumlich abgegrenzte) Stationen, an die sich jeweils eigene Rituale knüpfen. Die erste dieser Stationen ist der Zeltplatz vor den Toren Luccas, wo Florio auf Bianka trifft und in einen Sängerwettstreit gerät. Hier wird schon, wie in späteren Situationen erneut, die Passivität des Jünglings deutlich: Selten handelt er aus eigenen Stücken, meist wird er von Fortunato, Donati oder auch der Venus gelenkt, geleitet und einer neuen Situation unvermittelt ausgesetzt: „Freundlich faßte er [= Fortunato] ihn bei beiden Händen und führte den Blöden, ungeachtet aller Gegenreden, wie einen lieblichen Gefangenen nach dem nahgelegenen offenen Zelte, wo sich die Gesellschaft nun versammelte und ein fröhliches Nachtmahl bereitet hatte.“ (34) Diese Geste wiederholt sich später in den Gemächern der Venus: „Da erhob sich die Dame von ihrem blumigen Sitze und faßte Florio’n freundlich bei der Hand, um ihn in das Innere ihres Schlosses zu führen, von dem er bewundernd gesprochen.“ (69) Auch das Eintreten in Pietros Villa, wo der Maskenball stattfindet, wird als Überquerung der „Schwelle des Hauses“ (57) semantisiert, und auch hier führt der Hausherr die Gäste an den Ort des Geschehens, den Festsaal. Dreimal also überschreitet Florio unter Aufsicht eines Mentors eine räumliche Grenze, dreimal wird er in eine zeremonielle Veranstaltung eingeführt und in allen drei Fällen wohnt er spezifischen Ritualhandlungen bei. Die Passivität, häufig auch Rat- und Orientierungslosigkeit Florios, die sich auch in seinen ziellosen Wanderungen und in zahlreichen Formulierungen wie „Florio wußte nicht, was er aus diesen Worten des Fremden machen sollte“ (32), niederschlägt, unterscheidet diese Figur von anderen Eichendorffschen Helden. Friedrich in Ahnung und Gegenwart etwa tritt, obwohl auch er ins Ungewisse auszieht, wesentlich selbstsicherer auf, und der Taugenichts, auch er ein Jüngling in der weiten Welt, nimmt alle Schwierigkeiten und Konfusionen stets humorvoll und leicht. Beide Figuren gewinnen ihre Handlungsstrategien zumeist aus eigenem Antrieb und reagieren viel abgeklärter auf die Herausforderungen der neu angeeigneten Lebensbereiche. Florio dagegen gleicht in seinem stark rezeptiven Verhalten eher Personen wie Christian in Tiecks Der Runenberg oder Bertha in Der blonde Eckbert, vielleicht auch Anselmus in Hoffmanns Goldnem Topf oder Nathanael in Der Sandmann – krisengeschüttelten Heranwachsenden, deren Geschichten darum kreisen, ob und wie eine Integration in die soziale Wirklichkeit gelingt oder scheitert. Die erste Zeremonie auf dem Zeltplatz dient der Initiation Florios in die Liebschaft mit Bianka. Die Festgesellschaft hat sich an einem runden Tisch versammelt und beginnt ihren Sangeswettbewerb. Die Regel lautet, „daß jeder in die Runde seinem Liebchen mit einem kleinen improvisirten Liedchen zutrinken solle“ (35). Als die Reihe an Florio kommt, macht er erneut, wie schon im Anfangs- und im Schlussgespräch der Novelle, auf seinen Zwischenzustand aufmerksam. Er thematisiert in seinem Lied die eigene Unsicherheit und verwendet das Motiv der Schwelle: Jeder nennet froh die Seine, Ich nur stehe hier alleine, Denn was früge wohl die Eine: Wen der Fremdling eben meine?
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Und so muß ich, wie im Strome dort die Welle, Ungehört verrauschen an des Frühlings Schwelle. (35)
Die letzte Zeile verweist offensichtlich nicht allein auf die Jahreszeit, in der die Handlung stattfindet, sondern nutzt die traditionelle Metaphorisierung der Lebensabschnitte durch Jahreszeiten, um einmal mehr die Ausgangslage Florios zu verdeutlichen. Florio besitzt offenbar, zumindest zu Beginn und am Ende der Novelle, ein Bewusstsein über seinen Zwischenstatus, das ihm aber während der turbulenten Erlebnisse zunehmend abhanden kommt und immer häufiger psychischen Extremzuständen weicht (dazu unten mehr). Bemerkenswert an dem Lied ist auch, wie es schon früh in der Novelle die Frage nach der Identität der gemeinten Frau aufwirft. Die gesamte Zeit geht es ja um die Frage, wer eben gemeint ist, wenn es, wie so häufig, sehr unbestimmt heißt: „die Griechin“ (61), „die wunderbare Schöne“ (62), „eine alte Bekannte“ (56) oder „zwei weibliche Gestalten“ (54). Ziel dieser Unbestimmtheiten ist offenbar nicht die Differenzierung der Frauenfiguren nach Kriterien wie „moralische Bewertung“ oder „Realitätsstatus“, sondern gerade ihre Vermischung und Verdichtung zum Prinzip des Weiblichen schlechthin. Der Beitrag Florios zum Spiel der Sänger erweist sich jedenfalls als erfolgreich, denn Bianka „neigte sich nun mit den schönen bittenden Augen so dringend herüber, daß sie es willig geschehen ließ, als er sie schnell auf die rothen heißen Lippen küßte. – ‚Bravo, Bravo‘ riefen mehrere Herren, ein muthwilliges aber argloses Lachen erschallte um den Tisch.“ (36) Was sich hier abspielt, trägt die Züge eines Sozialisationsrituals. Florio, der unvermittelt einem ihm unbekannten Rollenmuster ausgesetzt wird, reagiert zunächst verunsichert, macht dann aber alles richtig. Sein Verhalten erlangt die Zustimmung der ausgelassenen, leicht frivolen Männerrunde, die den Neuen nun als einen der Ihren akzeptiert. Florio hat das Ritual durchlaufen und damit das gesamte Zeremoniell zu einem gelungenen Abschluss gebracht: „So hatte ein Jeder der Glücklichen sein Liebchen in dem Kreise sich heiter erkohren.“ (36) Genau darum kreist dieser erste Abschnitt der Novelle: Gesang und Kuss leisten eine Einführung in die Welt gesellschaftlich geregelter Sexualität, eine Welt, in der es eben darum geht, dass ein jeder sein Liebchen finden, besingen und für sich gewinnen muss. Dem mythischen Initianden aber stehen größere Prüfungen bevor als nur die Einübung in das Liebeswerben. Dem Zeremoniell der Sängergesellschaft, der Tagwelt, der Sphäre Biankas, folgt unmittelbar die nächtliche Einweihung in die Welt der Venus. Florio, nach einem Alptraum erwacht, streift durch die Gegend und besingt die aufkeimende Liebe: Er mußte über sich selber lachen, da er am Ende nicht wußte, wem er das Ständchen brachte. Denn die reizende Kleine mit dem Blumenkranze war es lange nicht mehr, die er eigentlich meinte. Die Musik bei den Zelten, der Traum auf seinem Zimmer und sein, die Klänge und den Traum und die zierliche Erscheinung des Mädchens nachträumendes Herz hatte ihr Bild unmerklich und wundersam verwandelt in ein viel schöneres, größeres und herrlicheres, wie er es noch nirgend gesehen. (45)
Die Begegnung mit Bianka weitet sich nun in mythische Dimensionen aus. Das Urbild, das Florio in seinem Inneren erblickt, nimmt konkretere Gestalt an, wenn er zu dem See mit der Marmorstatue gelangt, die dort zum Leben erwacht. Der gesamte Vorgang ist als Offenba-
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rungsszene arrangiert: Florio steht regungslos, „wie eingewurzelt im Schauen“ (45), und vermag vor „Blendung, Wehmuth und Entzücken“ (46) die Augen nicht mehr zu öffnen. Ihm kommt das Bild „wie eine lang gesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor, wie eine Wunderblume, aus der Frühlingsdämmerung und träumerischen Stille seiner frühesten Jugend heraufgewachsen“ (45). Der romantische Topos der visionär erschauten Geliebten, der durch Tiecks Sternbald und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen etabliert und dann in den Texten Brentanos, E. T. A. Hoffmanns, Achim von Arnims und anderer fortgeschrieben wird, verbindet sich hier einerseits sicherlich mit dem Pygmalion-Mythos, ist aber auch als eine Offenbarungsszene gestaltet, wie sie aus zahlreichen (übrigens nicht nur abendländischen) Sagen, Mythen und Märchen bekannt ist. Die Blendung und die Regungslosigkeit eines Novizen im Angesicht der herabsteigenden oder sich enthüllenden Göttin bildet ein universelles Element in den Geschichten, die von der Weltenreise des mythischen Helden erzählen.39 Auch das Oszillieren zwischen anmutiger Schönheit und grausamer Kälte – nur einen Moment später kommt Florio das Venusbild „fürchterlich“ und „schreckhaft“ (46) vor – erscheint als ein typisches Merkmal der Urgöttin in solchen Geschichten und ist seit der Antike fester Bestandteil der Mysterienkulte. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass der romantische Adoleszent in diesem ersten Abschnitt der Novelle eine zweifache Initiation erfährt, einmal auf der gesellschaftlichen Ebene der Festgesellschaft Luccas, sodann auf der mythischen Ebene der Göttin.
IV. Im weiteren Handlungsverlauf steigert sich die emotionale Verunsicherung Florios. Es häufen sich Formulierungen, die den Krisenzustand des Betroffenen visualisieren: Florio verhält sich „wie ein Trunkener“ (53) oder ein „Fieberkranker“ (65). „Er wußte nun selbst nicht mehr, was er wollte, gleich einem Nachtwandler, der plötzlich bei seinem Namen gerufen wird“ (48), heißt es an anderer Stelle. Florio versucht, teils allein, teils unter der Führung von Donati, der sich als Verwandter der Venus zu erkennen gibt, die zum Leben erwachte Göttin wiederzufinden, muss aber immer wieder feststellen, dass sich der Aufenthaltsort der Frau nicht willentlich finden lässt. Die entrealisierte, märchenhafte Raumgestaltung der Novelle sorgt dafür, dass sich der Venuspalast in der gleichen Manier wie seine Herrin ganz von selbst offenbart. Bewusst und geplant vermag Florio den Palast nicht zu entdecken. Mehrmals beschreibt Eichendorff, wie der Protagonist das Hoheitsgebiet der Venus nicht zu erreichen vermag: „Ihr Palast, so wie der Garten, den er in jener Mittags–––––––— 39
Vgl. die Belege bei Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt am Main/Leipzig 1999. S. 106 ff. Es lässt sich darüber streiten, ob Campbells Projekt, einen universellen „Monomythos“ (S. 36) zu rekonstruieren, gelungen und überhaupt sinnvoll ist oder ob nicht doch zu viele Abweichungen, Sonderfälle usw. ausgeblendet werden. Sicherlich aber birgt Campbells Buch in seinen Einzelbeobachtungen Anregungen für die Untersuchung mythischer und ritueller Motive in der Literatur.
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stunde zufällig gefunden, war wie versunken, auch Donati ließ sich nicht erblicken“ (56), und: „Florio verwunderte sich, wie er bisher niemals den Garten wiederfinden konnte.“ (67) Auch die Ein- und Ausgänge dieses Gebiets changieren: „Sie [= Florio und Donati] waren unterdeß rasch fortgehend unvermerkt an das vergoldete Gitterthor des Gartens gekommen. Es war nicht dasselbe, durch welches Florio vorhin eingetreten. Verwundert sah er sich in der unbekannten Gegend um“ (53). Die Raumgestaltung wiederholt damit den Zwischenzustand der Hauptfigur: Seelische und räumliche Desorientierung laufen parallel.40 Diese Desorientierung kulminiert auf dem Maskenfest, das als weiterer Übergangsritus gelten kann.41 Musik, Tanz, Beleuchtung und Verkleidung bilden den Rahmen für ein Geschehen, das von Anfang an mit symbolischer Verweiskraft ausgestattet wird: „[...] viele waren maskirt und gaben unwillkührlich durch ihre wunderliche Erscheinung dem anmuthigen Spiele oft plötzlich eine tiefe fast schauerliche Bedeutung.“ (57) Verwechslung und Verwandlung beherrschen den Ort. Venus und Bianka, die beide anwesend sind, tragen das gleiche griechische Kostüm und setzen als „Doppelbild“ (59) die karnevaleske Identitätsdiffusion in Gang. Michail Bachtin hat in seiner Studie zum Karneval in der Literatur auf die „ambivalente Natur der karnevalistischen Gestalten“ aufmerksam gemacht: „Sehr bezeichnend für das karnevalistische Denken sind die Gestaltenpaare, die nach dem Kontrastprinzip (hoch und niedrig, dick und dünn) oder nach dem Prinzip der Identität (Doppelgänger, Zwillinge) ausgewählt werden.“42 Dabei konvergieren beide Frauen bis zur Ununterscheidbarkeit. Zwar lassen sie sich bei genauer Lektüre dadurch unterscheiden, dass die eine (Bianka) eine Larve trägt, die andere (Venus) dagegen einen Schleier; Florio aber wird in heillose Verwirrung gestürzt, die durch die Selbstmystifizierungen der Frauen noch gesteigert wird. Einmal heißt es: „Du kennst mich“ (58), ein andermal: „Ihr habt mich öfter gesehen“ (64). Und auch Fortunato trägt seinen Teil zu dieser fast schon als Mummenschanz zu bezeichnenden Veranstaltung bei: „Besonders hatte Fortunato sich diesen Abend mehreremal verkleidet und trieb fortwährend seltsam wechselnd sinnreichen Spuk [...]“ (60). Diese Verwirrspiele lassen Pietros Villa als einen liminalen Raum im Sinne Turners erscheinen. Erneut kann man zwischen zwei Ritualebenen unterscheiden. Auf der Ebene, die der Sängerwettstreit und der Kuss Biankas etabliert haben, setzt sich die Einweisung Florios in den gesellschaftlichen Umgang mit dem weiblichen Geschlecht fort: Der junge Mann muss sich in den Gepflogenheiten der Konversation und des Tanzes üben. Durch das Überreichen der Rose zu Beginn des Festes gibt Bianka ihrem Werber ein rituelles Erkennungszeichen, das die beiden später wieder zusammenführt. Als begleitende männliche Instanz fungiert diesmal vornehmlich der Gastgeber Pietro. Bei der Übergabe der Rose bemerkt Florio, „daß der Herr vom Hause dicht bei ihm stand, ihn prüfend ansah, aber schnell wegblickte, als Florio sich umwandte“ (57). Diese Verhaltensweise Pietros, der der –––––––— 40 41 42
Beispiele für „eigenaktive“ Schwellen und Grenzen in Mythen und Sagen ebd. S. 79 ff. Vgl. zur rituellen Maskierungsfunktion generell Turner: Das Ritual (wie Anm. 21). S. 164 ff. Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt am Main 1985. S. 53 [russ. Orig. 1965].
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Onkel Biankas ist, wiederholt und verschärft sich wenig später, denn Pietro „sah fortwährend so beobachtend aus, als läge hinter alle den feinen Redensarten irgend ein besonderer Anschlag auf der Lauer“ (61). Florio wundert sich über das Gebaren des Mannes, das er nicht deuten kann. Er ahnt nicht, dass Pietro den Besucher als potenziellen Ehemann seiner Nichte im Auge hat. Die zweimalige Betonung der Beobachtungssituation legt nahe, das Maskenfest zu einem gewissen Teil auch als rituellen Rahmen für die Partnerwahl zu verstehen. Florio ist in den Augen Pietros ein möglicher Kandidat für die Ehe mit seiner Nichte, muss sich dessen aber erst als würdig erweisen. Darüber hinaus hält das Fest aber auch eine erneute Offenbarung der Göttin bereit, die diesmal als Blick hinter den Schleier inszeniert wird. Das Gesicht der zweiten Griechin bedeckt „ein kurzer blüthenweißer Schleier, mit allerlei wunderlichen goldgestickten Figuren verziert“ (61). Das Textil verleiht der an sich schon rätselhaften Frau einmal mehr die Attribute einer universellen Geheimnisträgerin. Zweifellos besitzt der Schleier auch eine erotische Komponente. Eichendorff hebt sie später – bei Florios Besuch im Venuspalast – deutlich hervor: „Die schöne Führerin ließ sich hier auf mehrere am Boden liegende seidene Kissen nieder. Sie warf dabei, zierlich wechselnd, ihren weiten, blüthenweißen Schleier in die mannichfaltigsten Richtungen, immer schönere Formen bald enthüllend, bald lose verbergend“ (69). Darüber hinaus aber setzen die Figuren auf dem Schleier – ein scheinbar beiläufiges Detail – die romantische Idee von der Hieroglyphenschrift ins Bild43 und binden damit auch Fragen der ästhetischen Imagination an die Erscheinung der mythischen Göttin.44 Eichendorff entwirft das rituelle Objekt des Mysterienkults als einen spezifisch romantischen Schleier, der wie zahlreiche andere Geheimnismotive in der Romantik die Funktion hat, das Rätselhafte der Welt, das Wunderbare oder wie auch immer diese erweiterte Realitätsschicht in romantischen Texten bezeichnet wird, zu konstruieren. Das räumliche Äquivalent des Schleiers ist die Schwelle, die den Ort des Vertrauten von einer Sphäre des Unbekannten und Geheimnisvollen trennt,45 so auch im Marmorbild, wo nicht nur der Venuspalast (wie schon erwähnt) durch magische Grenzen geschützt ist, sondern das Motiv des Schleiers mehrmals explizit auf den Raum übertragen wird: „Die Vögel schwiegen schon, der Kreis der Hügel wurde nach und nach immer stiller, die Strahlen der Mittagssonne schillerten sengend über der ganzen Gegend draußen, die wie unter einem Schleier von Schwüle zu schlummern und zu träumen schien.“ (49) Auch in Fortunatos großem Abschlusslied heißt es: „Und unter’m duft’gen Schleier, / So oft der Lenz erwacht, / Webt in geheimer Feier, / Die alte Zaubermacht.“ (77) Mit den Analogien zwischen verschleierter Göttin, Natur und dem „Frühling“ des Adoleszenten im Sinne der erwachenden –––––––— 43 44
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Vgl. Pikulik: Mythisierung (wie Anm. 29). S. 135. Vgl. zur imaginativen Bedeutungsfacette des Schleiermotivs Patricia Oster: Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären. München 2002. S. 16 ff. Vgl. zu dieser Verwandtschaft der Motive Lothar Pikulik: Schwelle und Übergang. Zu einem Schlüsselmotiv der Romantik. In: Aurora 53 (1993). S. 13–24. Hier S. 20 f. Den Schleier im Kontext der romantischen Tiefensymbolik deutet Uwe C. Steiner: Verhüllungsgeschichten. Die Dichtung des Schleiers. München 2006. S. 194 ff.
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Sexualität webt Eichendorff ein dichtes semantisches Netz, in dem das Geheimnis der Göttin als das der Natur und der Sexualität erscheint und umgekehrt. Die rituelle Entschleierung findet noch auf dem Maskenfest statt. Die Erkenntnis des Ur-Weiblichen, der Natur und des Selbst, wie sie Novalis dem Tempelbesucher Hyazinth in seinem Märchen vergönnt, verweigert Eichendorff seinem Helden allerdings. Der Autor des Marmorbilds folgt einer Deutungstradition, für die das Lüften des Isis-Schleiers nicht zu einer substanziellen, inhaltlichen Erkenntnis führt, sondern allein eine intensive ambivalente Wirkung, einen „heiligen Schauer“ beim Betrachter heraufbeschwört, ohne dass klar wird, was sich eigentlich hinter dem Schleier verbirgt.46 Es wiederholt sich, was schon beim Erwachen der Statue am See eintrat: „Bei diesen Worten schlug sie den Schleier zurück, und Florio fuhr erschrocken zusammen.“ (62) Erneut ist nur ein bleiches, statuenhaftes Antlitz zu erblicken, und erneut fällt Florio, „festgebannt von Staunen, Freude und einem heimlichen Grauen“ (63), in die Starre eines geblendeten Novizen.
V. Ihren Höhepunkt und Abschluss finden die Abenteuer Florios bekanntlich im Palast der Venus, wo einmal mehr ein großes Fest stattfindet. Dies ist die dritte und letzte Etappe der Übergangsriten. Eichendorff beginnt diesen Abschnitt mit der ausführlichen Schilderung einer wiederum als kultisch zu bezeichnenden Schmückungsszene. Inmitten einer Schar singender Jungfrauen betrachtet sich die Venus, mit Rosen bekränzt, im Spiegel. Das räumliche Arrangement imitiert einen antiken Tempel und ist mit seinen Stufen und Säulen exakt auf die Zentralposition der Venus abgestimmt, wobei sich allerdings später mit den Tapetenbildern der Ritter, Karossen und Jagdfalken auch mittelalterliche Elemente in die Gestaltung des Palastes mischen. Es sind diese Bilder, begleitet von einem fernen Gesang, die Florio tief berühren und in einen erneuten, letzten Verwirrungszustand stürzen. Sowohl die Bilder als auch das Lied rufen in Florio Erinnerungen an seine Kindheit wach. Er entsinnt sich der Geschichten seines Vaters, der Stimmung im heimatlichen Garten und einer Ursehnsucht, die verschüttet war und nun wieder hervorbricht. Im Inneren des Heiligtums, so könnte man das mythische Geschehen zusammenfassen, erwartet den Besucher die Begegnung mit sich selbst, mit den verborgenen Schichten seiner Identität. Erst durch die Verunsicherungen und Krisen, denen der Initiand im Übergangsritus ausgesetzt ist, ja nur durch den vorübergehenden Verlust der eigenen Persönlichkeit, wie ihn die liminale Phase provoziert, wird der Adoleszent vollständig auf sich selbst zurückgeworfen und findet sich so erst eigentlich wieder.47 Damit bestätigt sich erneut, dass der Besuch im Venustempel (und die –––––––— 46
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Beispiele für diese Deutung des Sais-Mythos um 1800 bei Jan Assmann: Das verschleierte Bild zu Sais. Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe. Stuttgart/Leipzig 1999. S. 44 ff. Vgl. zum (symbolischen) Identitätsverlust als Element des Übergangsritus Turner: Das Liminale (wie Anm. 22). S. 37 ff.
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Begegnung mit der Göttin generell) nicht einfach als Verführung und Ablenkung vom rechten Weg zu deuten sind, sondern einen funktional sinnvollen, notwendigen Bestandteil des Weges selbst bilden. Erst das Durchleiden eines Extremzustands, so das mythische Erzählmuster, führt zur Wiedergeburt. „Herr Gott, laß mich nicht verloren gehen in der Welt!“ (72) ruft Florio in seiner Verzweiflung aus, während um ihn herum im Palast immer skurrilere Dinge geschehen. Ein drittes und letztes Mal enthüllt sich die Göttin nach demselben Muster wie schon zuvor (bleiches Antlitz, schreckliche Wirkung), woraufhin Florio nun endgültig die Flucht ergreift. Die Gestaltung der spukhaften Ereignisse, die sich während der Flucht aus dem Palast abspielen, sind, wie andere Passagen des Marmorbilds auch, von Happels barocker Erzählsammlung Größeste Denkwürdigkeiten der Welt inspiriert, einer Hauptquelle der Novelle. Über die obskuren Einzelheiten hinaus (Bilder und Statuen erwachen zum Leben und verfolgen Florio, ein Kerzenhalter verwandelt sich in einen Greifarm und ähnliches) lässt sich in Florios Flucht aber erneut ein mythologisches Erzählelement erkennen, das sich als „magische Flucht“ aus dem Heiligtum der Göttin und als „Rückkehr über die Schwelle“ bezeichnen lässt.48 „Mein Gott! wo bin ich denn so lange gewesen!“ (75) muss sich Florio fragen, nachdem er dem Bannkreis der Venus entkommen ist. Dass ihn seine Reise in ein Zwischenreich hinein- und wieder herausgeführt hat, verdeutlicht noch einmal die Rede Fortunatos im Angesicht der Ruine, als die sich der Venustempel am Ende erweist. Die zyklisch stets aufs Neue erwachende Venus enthüllt sich den „jungen sorglosen Gemüthern, die dann vom Leben abgeschieden, und doch auch noch nicht aufgenommen in den Frieden der Todten, zwischen wilder Lust und schrecklicher Reue, an Leib und Seele verloren, umherirren, und in der entsetzlichsten Täuschung sich selber verzehren“ (79).49 Räumlich wie seelisch muss Florio dieses Zwischenstadium durchleben, um anschließend wieder in die Gemeinschaft eingegliedert zu werden. Die Erläuterung Fortunatos rückt das persönliche Schicksal Florios in einen größeren Kontext. Florios Geschichte ist keine einzigartige Begebenheit, sondern sie wiederholt sich bei allen „jungen sorglosen Gemüthern“, die an der Schwelle zum Erwachsenenalter stehen. Der Übergangsritus des Initianden realisiert ein universelles, zyklisches Geschehen. Die konkrete Begegnung mit Bianka im Hier und Jetzt Luccas ist nur die individuelle Aktualisierung eines kosmischen Ereignisses. Sowohl in ihrer Grundstruktur aus Trennung, Initiation und Rückkehr als auch durch den Einsatz der Schwellen-, Schleier- und Zeremoniemotive entwirft das Marmorbild ein Erzählmodell, in dem soziale Übergangsrituale und mythische Übergangsriten miteinander verschmelzen. Abschließend sollen auch Probleme einer ritualwissenschaftlichen Lesart des Marmorbilds angesprochen werden. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob der Ritus im Falle Florios –––––––— 48 49
Campbell: Der Heros in tausend Gestalten (wie Anm. 39). S. 190 und 208. Turner hat für die Übergangsriten der Stammesgesellschaften konstatiert, dass die Novizen während der Zwischenphase häufig als Untote oder Geister angesehen werden. Vgl. Turner: Das Liminale (wie Anm. 22). S. 39.
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wirklich gelungen ist, eine Frage, die ein generelles Problem der Texte Eichendorffs berührt: Reifen Eichendorffs Helden überhaupt, entwickeln sie sich auf ein Ziel hin, oder sind es statische Figuren, die am Ende doch dieselbe Person sind wie schon am Anfang? Die Novelle vom Taugenichts beispielsweise simuliert immer wieder Szenen eines Entwicklungsromans, ohne dass der Protagonist am Ende ein anderer wäre als zu Beginn. Auch im Fall von Ahnung und Gegenwart kann man darüber streiten, ob die Lebensreise Friedrich neue Persönlichkeitsschichten, neues Weltwissen und eine neue Bestimmung offenbart oder ob nicht von Anfang an klar ist, dass Friedrich am Ende den Weg, als ein „Kämpfer Gottes“50 zu wirken, einschlagen wird. Peter von Matt behauptet sogar, dass Eichendorffs Texte in ihrer Tiefenstruktur allein die Vermeidung jeglicher Reifung beschreiben: Es ist also ganz entschieden und entscheidenderweise nicht so, daß der labyrinthische Gang ein Erziehungs- und Reifeprozeß wäre, ein rite de passage, eine schmerzhafte Initiation hinüber in die Zielgestalt eines arbeitsfähigen, schöpferisch-nützlichen Lebens. Aus der Alleinheitserfahrung im Mutterreich, bei der tausendstimmigen Göttin, gibt es keinen prozeßhaften Übergang, keinen Stufenweg hinauf zum Vatergott – nur den Sprung, die senkrechte Plötzlichkeit der alten mystischen Umkehr.51
In der Tat bleibt am Ende des Marmorbilds ein zwiespältiger Eindruck zurück. Dem Konzept der Reifung, das ja eine Progression impliziert, steht das Konzept der zyklischen Wiederkehr entgegen. Dies ist ein Konflikt, der – wie oben angedeutet – Eichendorffs Schreiben insgesamt zu prägen scheint. Ziel und Schlusspunkt der Initiation – die Verbindung mit Bianka am Ende der Novelle – kommen gegenüber dem narrativen Übergewicht der Verwirrspiele und Krisenhandlungen offenbar zu kurz und sicherlich ein wenig plötzlich. Auch die dreimalige Offenbarung der Venus wiederholt stets nur – mit zum Teil identischem Vokabular – den immergleichen Vorgang, bestehend aus Starre und Blendung, Lust und Schrecken. Und doch besitzt die Begegnung mit der Göttin und ihrem Reich eine Übergangsfunktion für Florio: Er weiß fortan um dieses Reich52, er hat ein kosmisch-erotisches Weltwissen erlangt und eben dadurch die Schwelle der Adoleszenz überschritten. Im narrativen wie semantischen Zentrum der Novelle steht dabei die Phase der Liminalität, der Übergangszustand des romantischen Adoleszenten.53 Diesem Zustand an sich gilt die Aufmerksamkeit des Schreibens, nicht einer realistischen, konsistenten und verbal ausformulierten Reifung. Dieser Befund trifft sicherlich in noch stärkerem Maße für diejenigen romanti–––––––— 50 51
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Eichendorff: Ahnung und Gegenwart (wie Anm. 3). S. 315. Peter von Matt: Der irrende Leib. Die Momente des Unwissens in Eichendorffs Lyrik. In: Aurora 49 (1989). S. 47– 57. Hier S. 56. So auch die Deutung von Wiethölter: Die Schule der Venus (wie Anm. 30). S. 182 f. Wellbery hat am Beispiel von Hoffmanns Prinzessin Brambilla veranschaulicht, dass die Fokussierung auf die liminale Phase die syntagmatische Struktur des Textes schwächt und das mythisch-paradigmatische Erzählen aufwertet. Der narrative Verlauf der Handlung – das „Vorankommen“ der Figur – tritt zugunsten mythischer Darstellungen – zyklischen Verläufen, Metamorphosen, Träumen, Verwirrungszuständen der Figur – zurück. Dieser Befund lässt sich auf das Marmorbild übertragen. Vgl. Wellbery: Rites de passage (wie Anm. 27). S. 320 f.
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Carsten Lange
schen Texte zu, die vom Scheitern der Sozialisation erzählen wie beispielsweise Tiecks Runenberg oder Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun. Er gilt aber auch für das Marmorbild, dessen Mythopoetik vielfältige Ritualmotive nutzt, um den psychischen Zwischenzustand der Figur zu visualisieren. Der Ausgangs- und der Endpunkt der Entwicklung verschwinden dabei hinter dem Schwebezustand, dem das eigentliche Interesse zukommt. Die Krise ist interessanter als ihre Lösung, das Erreichen eines räumlichen oder geistigen Ziels von geringerer Bedeutung als der Vorgang der Suche an sich.
Ursula Regener
Verleihung der Eichendorff-Medaille 2008 an Dr. Günther Schiwy Laudatio Als der Vorstand der Eichendorff-Gesellschaft sich im Sommer dieses Jahres entschied, dem Eichendorff-Biographen Dr. Günther Schiwy die Eichendorff-Medaille zu verleihen, konnte niemand ahnen, dass dieser die Ehrung nicht mehr würde mit erleben können und dass es für die Mitglieder der Eichendorff-Gesellschaft keine Gelegenheit geben würde, ihn persönlich kennen zu lernen. Um dem Verständnis seines Lebens und den Dingen und Menschen, die ihm wichtig waren, so nahe wie möglich zu kommen, zitiere ich aus einem Lebenslauf, an dem Günther Schiwy selbst mitgewirkt hat. Günther Schiwy wurde am 29.11.1932 in Lehrte bei Hannover geboren. Sein Vater stammte aus Ostpreußen, die Großeltern mütterlicherseits aus Westpreußen. Schiwys Liebe zu den Bergen versuchte er sich später dadurch zu erklären, dass die Vorfahren väterlicherseits vielleicht zu den Salzburger Protestanten gehört haben mögen, die 1731/32 zur Emigration gezwungen und teilweise in Ostpreußen angesiedelt wurden. Grabsteine von Verwandten entdeckten Günther und seine Frau Brigitte zusammen mit seiner Schwester und ihrem Mann noch 2001 in den Masuren. Günther Schiwy wuchs in einer konfessionell gemischten Ehe auf, wobei nach damaligem Kirchenrecht die katholische Konfession der Mutter für die Erziehung der Kinder den Ausschlag gab. Doch da sein Vater tolerant war – sechzigjährig wurde er noch katholisch, um mit seiner Frau sonntags in die gleiche Kirche gehen zu können –, gab es diesbezüglich in der Familie keine Probleme. Günther Schiwy engagierte sich während der Schulzeit intensiv in der kirchlichen Jugendarbeit, so dass er sich nach dem Abitur 1952 für den Priesterberuf entschied, und zwar in der besonderen Prägung des Jesuitenordens, der ein gründliches Studium verlangt und spezielle Aufgaben in Kirche und Welt übernimmt. Da sich Schiwy schon als Schüler durch schriftstellerische Arbeiten auszeichnete, wurde er nach dem Ordensstudium der Philosophie in München, der Theologie in Frankfurt und einem zusätzlichen Universitätsstudium in Philosophie, Soziologie und Literatur in Frankfurt und Paris für die Redaktionsarbeit in der Münchener Jesuitenzeitschrift Stimmen der Zeit bestimmt. 1969 gelang ihm mit einer Einführung in den Französischen Strukturalismus ein wissenschaftlicher Bestseller, der ihn zu zahlreichen weiteren Büchern ermutigte, von denen die Biographien über Pierre Teilhard de Chardin, Joseph von Eichendorff, Birgitta von Schweden und über die Religion Rilkes als Standardwerke gelten. Die schrittweise Rücknahme der Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils bewog Günther Schiwy 1970, sich von den Ordensgelübden befreien und in den Stand der Laien zurückversetzen zu lassen in der Überzeugung, so ungehindert und uneingeschränkt der Wahrheit dienen zu können.
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 175–177.
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Ursula Regener
Als Brotberuf bot sich für den promovierten Religionsphilosophen und Schriftsteller die Arbeit als Lektor in einem Verlag an. Nach fünfjähriger Tätigkeit als Cheflektor im Bayerischen Schulbuchverlag arbeitete Schiwy dann zwanzig Jahre in dem angesehenen Verlag C.H. Beck in München. Dort betreute er vor allem die Bereiche Philosophie, Theologie, Ökologie und Dritte Welt. In zahlreichen Artikeln und Vorträgen, in Presse und Fernsehen setzte er die publizistische Arbeit fort, die er als Jesuit begonnen hatte. Mittelpunkt seines Lebens war für ihn die Familie. Durch die künstlerisch tätige Familie seiner Frau Brigitte – der Schwiegervater Martin Seitz war Gemmenschneider, die Schwiegermutter Weberin, die Schwägerin Goldschmiedin und Brigitte selber Geigerin – wurde Günther Schiwy sensibilisiert für die Bedeutung des Schönen in Natur und Kunst angesichts einer immer häßlicher werdenden Welt. So arbeitete er in den letzten Jahren an einem Manuskript über Das Schöne und das Göttliche. Höhepunkte des Lebens in der Familie waren die regelmäßigen Ferien in Südtirol und die Weihnachtsfeier mit den Schwiegereltern in Passau. Schöne Herausforderungen waren der Bau eines Ökohauses in Steinebach und die Reisen auf den Spuren Teilhard de Chardins in Frankreich, Eichendorffs in Schlesien, Birgittas in Schweden. Italien und in Zypern sowie Rilkes in Worpswede, der Schweiz und in Duino bei Triest. Günther Schiwy wußte aus eigener Erfahrung – durch sein Arbeitszimmer mit Blick ins Grüne – über die Bedeutung der Landschaft für den Menschen. Er glaubte daran, dass wir für ein künftiges Parodies geschaffen sind, und in diesem Glauben gab er ein erfülltes Leben zurück in die Hand des Schöpfers. Er starb nach einigen Wochen des Auf und Ab in den frühen Morgenstunden des 5. September 2008 im Alter von 75 Jahren im Krankenhaus in Herrsching am Ammersee. Günther Schiwy kümmerte sich um Eichendorffs Biographien, als es an der Zeit war. Die Vorgängerbiographien waren in den 20er und 60er Jahren erschienen, die Forschung hatte längst über sie hinausgeblickt und die Kenntnisse zu Eichendorff und seiner Zeit vermehrt. Günther Schiwy bewegte die Lücke, die zwischen der „Beschwingtheit des Taugenichts und der berühmten Wanderlieder“ und der Mühsal in Eichendorffs Leben klafft. Mit dokumentarischer Genauigkeit, Detailfülle und Epochenkenntnis zeichnet er auf 700 Seiten die Facetten von Eichendorffs Persönlichkeit nach. Er zeigt den Romantiker, den Essayisten, den Romancier, den Zeitkritiker, den Familienvater, den Beamten und vieles mehr. Seine Intention, „den Laien, denen eine Eichendorff-Bibliothek in der Regel nicht zugänglich ist, das neue, umfassendere Eichendorff-Bild […] so authentisch und nachvollziehbar wie möglich erscheinen zu lassen“, kommt dem Zweck der Eichendorff-Gesellschaft absolut entgegen. Das hat den Vorstand davon überzeugt, dass Günther Schiwy die Eichendorff-Medaille gebührt. Da Günthers Schiwys Gattin Brigitte Schiwy die Teilnahme an der Verleihung aus gesundheitlichen Gründen absagen musste, hat sie einen guten Bekannten der Familie gebeten, die Medaille für ihren Mann entgegenzunehmen.
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Laudatio auf Dr. Günther Schiwy
Mit Norbert Willisch , Ministerialrat a. D. im Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, haben wir einen Gast, der sich selbst in vielfacher und intensiver Weise um Eichendorff verdient gemacht hat, zuletzt durch den „Export“ unserer Jubiläumsausstellung in Frankfurt nach Ratibor. Ich danke Ihnen, dass Sie zu uns gekommen sind, und überhändige Ihnen als „Paten“ die Günther Schiwy zugedachte EichendorffMedaille. Der Urkundentext lautet: DIE EICHENDORFF-GESELLSCHAFT VERLEIHT ANLÄSSLICH IHRES 19. INTERNATIONALEN KONGRESSES VOM 2. BIS 4. OKTOBER 2008 IN REGENSBURG
HERRN DR. GÜNTHER SCHIWY Eichendorff-Biograph
DIE EICHENDORFF-MEDAILLE. Günther Schiwy kümmerte sich um Eichendorffs Biographien, als es an der Zeit war. Die Vorgängerbiographien waren in den 20er und 60er Jahren erschienen, die Forschung hatte längst über sie hinausgeblickt und die Kenntnisse zu Eichendorff und seiner Zeit vermehrt. Günther Schiwy bewegte die Lücke, die zwischen der „Beschwingtheit des Taugenichts und der berühmten Wanderlieder“ und der Mühsal in Eichendorffs Leben klafft. Mit dokumentarischer Genauigkeit, Detailfülle und Epochenkenntnis zeichnet er auf 700 Seiten die Facetten von Eichendorffs Persönlichkeit nach. Er zeigt den Romantiker, den Essayisten, den Romancier, den Zeitkritiker, den Familienvater, den Beamten und vieles mehr. Seine Intention, „den Laien, denen eine Eichendorff-Bibliothek in der Regel nicht zugänglich ist, das neue, umfassendere Eichendorff-Bild […] so authentisch und nachvollziehbar wie möglich erscheinen zu lassen“, kommt dem Zweck der Eichendorff-Gesellschaft absolut entgegen. Das hat den Vorstand davon überzeugt, dass Günther Schiwy die Eichendorff-Medaille gebührt. FÜR DIE EICHENDORFF-GESELLSCHAFT DIE PRÄSIDENTIN Regensburg, den 2.10.2008
Volkmar Stein
Bericht über den 19. Internationalen Kongress der EichendorffGesellschaft vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Regensburg In Regensburg hatte 1974 der 2. Kongress der Eichendorff-Gesellschaft getagt, und es ist der erste Ort, an den sie zurückkehrte. Dafür gab es gute Gründe. Vor allem die Tatsache, dass hier der Lehrstuhl der amtierenden Präsidentin, Prof. Dr. Ursula Regener, steht. Das erleichterte ihr die Vorbereitung und Organisation in einer Zeit, in der die finanziellen Hilfsquellen vergangener Jahre fast völlig versiegt sind: Das Germanistische Seminar insgesamt stand ihr zur Seite. Regensburg empfiehlt sich aber auch als einer der wenigen Orte im Westen Deutschlands, zu denen Eichendorffs Leben einen Bezug hat. Auf dem Weg nach Heidelberg verbrachte er hier den 13. Mai 1807 und besah die Stadt, die ihm „wie eine eintzige alte Ritterburg“ vorkam. Aus seinen Notizen zitierte Ursula Regener bei der Begrüßung der Kongressteilnehmer im „Haus der Begegnung“ und zeigte dazu zeitgenössische Abbildungen. Im Namen der Stadt hieß Bürgermeister Gerhard Weber die Teilnehmer willkommen. Er streifte die Geschichte Regensburgs, das 1809 bayerisch wurde, und wies darauf hin, dass es in der Gegenwart zum Weltkulturerbe gerechnet wird und mit einem leichten Bevölkerungswachstum auch Dynamik zeigt. Der Beschluss, die Eichendorff-Medaille 2008 an Günter Schiwy zu verleihen, ging seinem Tod nur um kurze Zeit voraus. Norbert Willisch, ein Freund der Familie, die sich mit der posthumen Ehrung einverstanden erklärt hatte, berichtete, den Erkrankten habe die Nachricht von seiner Auszeichnung gefreut. Er nahm die Medaille entgegen und brachte statt einer Dankesrede einen Teil des Vortrags zu Gehör, den Schiwy 2007 Hedwig von Andechs gewidmet hatte. Zuvor hatte die Präsidentin Schiwys kontrastreichen Lebenslauf skizziert und besonders die Bedeutung seiner Eichendorff-Biographie gewürdigt, für die es hoch an der Zeit gewesen sei. Das Thema des Kongresses lautete: Mythos – Kult – Ritual. Eine Archäologie romantischer Mentalität. Es wurde darauf verzichtet, den Inhalt der drei Leitbegriffe und ihr Verhältnis zueinander genauer zu untersuchen. Der einleitende Vortrag von Prof. Dr. Ursula Regener übernahm den Haupttitel und fügte als Untertitel hinzu: Postrevolutionäre Konzepte zur Erneuerung der rituellen Kultur. Damit war bereits gesagt, dass die Französische Revolution einen Traditionsbruch darstellte. Ihre führenden Akteure wollten eine neue rituelle Kultur schaffen; sie ersetzten die christlichen durch politische Feste, die Woche durch die Dekade, sie schufen revolutionäre Symbole – die Phrygische Mütze, das Rutenbündel, den Freiheitsbaum, das Auge. Immer aber schimmerten die religiösen Inhalte durch – das Föderationsfest 1790 wurde an einem Altar zelebriert, Jacques Louis David orientierte sich bei seinem Gemälde Tod Marats ikonographisch an Darstellungen von Christi Tod. Auf diese Aurora 68/69 (2008/2009). S. 179–188.
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Volkmar Stein
Absage an das kulturelle Erbe war nicht nur politisch und militärisch, sondern auch geistig zu reagieren. Es reagierte nicht zuletzt die postrevolutionäre deutsche Romantik. In Wackenroder/Tiecks Herzensergießungen sah die Referentin zwar eine Ästhetisierung des Mittelalters, aber noch keine antirevolutionäre Tendenz. Im Sternbald setzt Tieck die Orientierung am Mittelalter fort – christliche Frömmigkeit und schlichtes altdeutsches Wesen betont er nun stärker. Das Streben nach dem Süden, nach Italien hört deshalb aber nicht auf; es manifestiert sich besonders deutlich in der Kunst wie im Leben der Nazarener – in Overbecks Italia und Germania wie im klösterlichen Zusammenleben der Gruppe auf italienischem Boden. Die Betonung des „Altdeutschen“ im Denken wie in der Mode verfolgte, so die Referentin, gleichzeitig religiöse und politische Ziele – eine „neue Religion“, mochte sie pantheistisch, pietistisch oder republikanisch-katholisch sein, und eine neue antifranzösische Macht. In der anschließenden Diskussion, die – wie alle an diesem Nachmittag – Jürgen Daiber moderierte, wurden einige Fragen aufgeworfen – so die nach der „neuen Mythologie“, von der die Romantik redete – ob sie nur die Antike als Vorbild ablösen oder wirklich etwas Neues schaffen wollte. Oder, von Eckhard Grunewald, die Frage, ob die französische Romantik analog zur deutschen etwa einen Keltenkult kreiert habe, wofür sich Vercingetorix anböte. Eine bündige Antwort hierauf wurde als Desiderat bezeichnet. Gunnar Och meinte, in ihrer Reaktion auf den Traditionsbruch der Französischen Revolution hantiere die Romantik mit religiösen wie nationalen Inhalten „in freier Weise“. In Frage und Antwort wurde auch herausgearbeitet, dass die Betonung des Deutschen schon im Sturm und Drang nachzuweisen ist. Das so genannte Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus enthalte aber noch keine deutsch-nationale Komponente. Und hingewiesen wurde darauf, dass der religiöse Kult auch in den Zeremonien totalitärer Regime des 20. Jahrhunderts (Nationalsozialismus, DDR) durchschimmert. In einem unverbindlicheren Sinn tauchte der Begriff des Mythos im folgenden Vortrag wieder auf. Dr. Thomas Martinec (Regensburg) sprach über Musik als Mythos der Ursprünglichkeit in der romantischen Lyriktheorie und begann mit einem Zitat August Wilhelm Schlegels: „Es fehlt unserer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die alte war...“. Hat die Musik es besser? In Wackenroder/Tiecks Herzensergießungen wie in den Phantasien über die Kunst geht die Begeisterung für die Musik mit der Kritik an der Sprache einher. Das Einmalige der Tonkunst sehen sie in ihrem Bezug zur Transzendenz: Sie verhilft dem Menschen dazu, zum Göttlichen zu gelangen. Der Tonkünstler Joseph Berglinger erkennt eine „Sympathie“ zwischen Tönen und Empfindungen – Musik kann Empfindungen nicht nur ausdrücken, sondern auch erregen! Die Sprache hingegen ist auch ein Organ der Vernunft und als solches nicht in der Lage, Phantasie und Gefühle befriedigend darzustellen. Den Vorzug der Musik begründet ihre mediale Beschaffenheit – die Frühromantiker setzen ihre Ausbreitung in Schwingungen der Luft in eine (analoge) Beziehung zu den Schwingungen der Seele, die sie auslöst; Novalis spricht von „Gemütserregungskunst“. Wackenroder und Tieck stellen die Musik der Literatur als
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Leitkunst voran – aber sie hören mit dem Schreiben nicht auf, ihre Musikbetrachtungen haben durchaus literarischen Charakter. Zum Wesen der Poesie aber gehören Klang und Rhythmus auch. Nicht für Aristoteles, der in seiner Rhetorik die Wirkung akustischer Mittel eher unwillig zur Kenntnis nimmt und der Verderbtheit des Zuhörers zuschreibt, aber schon bald danach: Martinec zog eine Linie von Quintilian und Dionysios von Halikarnassos bis zu deutschen Poetiken der frühen Neuzeit. Deren Autoren Opitz, Harsdörffer, Gottsched reflektieren immer wieder die klangliche Wirkung der Poesie. Die Romantiker betreten also kein Neuland, Musik liegt bereits „in der Luft“. Aber sie wechseln den Akzent. Während Opitz noch den Gedanken einen unbedingten Primat einräumte, wollen die Frühromantiker eine neuartige Poesie, deren klangliche Qualität ein wesentliches Element darstellt. Eigentlich, meinte Martinec, sehne sich die Sprache in der poetischen Auseinandersetzung mit der Musik nach sich selbst. In der Diskussion fragte Sabine Doering, wie übertragbar Aussagen über die Musikalität der Sprache von einer Nationalsprache auf die andere seien. Herder jedenfalls habe gemeint, es gehe in jeder Übersetzung darum, auch den Klang von einer Sprache in die andere zu übertragen. Gunnar Och erinnerte daran, wie sehr Eichendorff, zum Beispiel in Ahnung und Gegenwart, die Oralität der Sprache preist: Die in den Erzähltext eingebauten Gedichte werden fast ausnahmslos von ihren Schöpfern als Lieder gesungen! Ein anderer Diskussionsteilnehmer meinte mit dem Bezug auf Adam Müllers Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland, die Romantik habe die Rhetorik wiederbelebt. Nach getaner wissenschaftlicher Arbeit aßen die Kongressteilnehmer gemeinsam zu Abend, und später zogen sie zur Steinernen Brücke, wo eine „Romantische Mondscheinführung durch Regensburg“ ihren Ausgangspunkt nahm. Am Freitagvormittag sprach zunächst Prof. Dr. Sabine Doering (Oldenburg) über Die Auflösung der Gemeinde. Gottesdienst, Liturgie und Kirche in der Lyrik Friedrich Hölderlins. Mit dem protestantischen Gottesdienst und Luthers Katechismus zeige sich Hölderlin in seiner frühen Lyrik vertraut. In seinem frühen Dankgedicht an die Lehrer fasse der Schüler die Glaubenswahrheiten des Katechismus in Verse und bekunde seinen Willen, sich „der Kirche Dienst“ zu weihen. Aber es kam anders. Die „Tübinger“ erlebten die Relativierung des vertrauten Weltbildes durch Aufklärung und Revolution – und reagierten darauf. Das Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus, an dem Hölderlin beteiligt ist, plädiert für eine „Mythologie der Vernunft“ und fordert gleichzeitig eine „sinnliche Religion“: „Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst“. Die Referentin zeigte, dass Hölderlin nacheinander verschiedene Konstellationen von Gottesdienst, Liturgie und Kirche entwirft. Seine Tübinger Hymnen (1790–1793) lassen sich vom Pathos Schillers beflügeln. Die Hymne an die Liebe deklariert: „Unser Priestertum ist Freude, / Unser Tempel die Natur“: Der Dichter mischt christliche Feierelemente mit germanischen und antiken Elementen, ist also dabei, mit Hilfe des Wortes einen neuen, eigenen Mythos zu schaffen. Die Hymne an die Unsterblichkeit beschreibt eine liturgische Feier „im Heiligtume alter Eichen“ um einen Altar, überblendet also Natur und Architektur in sakraler Perspektive. Die Gemeinde, die sich hier versammelt, braucht kein Oberhaupt, sie
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ist demokratisch-egalitär. Aber was bleibt dann für den poeta vates, als den sich Hölderlin durchaus versteht? In der ersten Fassung der Ode Dichtermut ermuntert er einen zaghaften Dichter, sich der großen Aufgabe freudig zu stellen, „jedem hold, / jedem trauend; wie sängen / Sonst wir jedem den eigenen Gott?“ Wenn das uneingeschränkt gälte, hätte die im Vortragstitel genannte Auflösung der Gemeinde stattgefunden. Wo jeder dem eigenen Gott huldigt, kann es keine „Gemeinde“ mehr geben. Aber auch das ist nicht Hölderlins letztes Wort. Der völligen Subjektivierung des Glaubens versucht er zu entgehen, indem er eine neue Mythologie schafft und damit auch Modelle einer neuen Glaubensgemeinschaft entwirft, die der Nähe des Göttlichen standhält. Die utopische Friedensfeier, veranlasst durch den ephemeren Frieden von Lunéville, schafft einen umfassenden sakralen Raum, der die Grenzen artifizieller Architektur sprengt und Landschaft ist, und stiftet eine Gemeinde durch den sakralen Gesang, einen Menschheitsgesang. Auf diese Weise löst der Dichter ein, was der Klosterschüler versprach: sich „der Kirche Dienst“ zu weihen. Dieser Priester, der Einsamkeit und Gottesferne erfahren hat, sucht seine Gemeinde. Da der Berichterstatter an diesem Vormittag die Diskussionen zu moderieren hatte, konnte er sich keine Notizen zu ihrem Verlauf machen. Das Bemühen um eine neue Glaubensbasis teilte Hölderlin mit den Frühromantikern. Novalis suchte eine „allgemeine jeder Gestalt fähige Weltreligion“, Wackenroder wollte die Stimme des Schöpfers in der Natur vernehmen, die Schlegels sammelten in allen Mythologien Spuren des Göttlichen. In seinem folgenden Vortrag sprach Prof. Dr. Eckhard Grunewald (Oldenburg) von einer „Patchwork-Mythologie“. Mit dem Zitat „Gefährlich ist es, mit dem Heiligen zu spielen“ beleuchtete er Eichendorffs Kritik des romantischen Katholizismus. Die Schuld der Romantik und die Ursache ihres Untergangs – wie den der Gräfin Romana, ihrer Personifizierung – sieht Eichendorff in ihrem ethischen Versagen. Sie hätten einen Glauben verfochten, den sie im Grunde gar nicht hatten. In den meisten Fällen, meinte Grunewald, sei es in der Tat bei katholisierendem Rollenspiel geblieben. Als Beispiel nannte er den „jungen deutschen Maler in Rom“. Tieck lässt ihn in den Herzensergießungen über seine Konversion berichten, für die er in der Schilderung eines Gottesdienstes in der Peterskirche nur ästhetische Gründe nennt („die Töne zogen meine Seele ganz aus ihrem Körper hinaus“) – kein Wort über eine neue Glaubenserfahrung. Auch Eichendorff zitiert diese Passage in seiner Literaturgeschichte ausführlich und kommentiert, „eine so zufällige, musikalisch-lustige Bekehrung“ werde „kaum länger dauern, als die Musik, die sie hervorgerufen“. Tieck und Wackenroder hätten „ein dilettantisches Katholisieren in Mode gesetzt, das die Kirche fast nur als eine grandiose Kunstausstellung betrachtete“. Grunewald montierte Sätze Eichendorffs von 1845 an solche Benedikts XVI. von 2005, um die Kontinuität dieses Denkens zu zeigen. Der romantische Katholizismus Eichendorffs sei „im eigentlichen Sinn katholisch“. Zur thematischen Internationalität des Kongresses trug der Vortrag des Anglisten Prof. Dr. Rainer Emig (Hannover) bei. Er handelte Von unmythischen Mythen und einem unerhabenen Erhabenen – ironische Rituale der Selbstinszenierung in Byrons „Childe Harold’s Pilgrimage“, „Manfred“ und Don Juan“. Das Erhabene nannte Emig ein „zentrales romantisches Konzept“. Er
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skizzierte die Geschichte des Begriffes, der entscheidend durch die Schrift des (Pseudo-) Longinos aus dem 1. Jahrhundert geprägt ist. Die das Erhabene ausstrahlende Dichtung erhebt den Menschen, nähert ihn dem hohen Sinn Gottes. Auch für Burke gehört zum Erhabenen die Wahrnehmung der Unendlichkeit. Bei Lord Byron aber stellt sich ein solcher Bezug nicht mehr her. Nicht einmal nach einer Patchwork-Mythologie steht sein Sinn. Childe Harold, in der doppelten Bedeutung des englischen Wortes „Ritter“ und „Kind“, bricht zwar auf – besser gesagt: geht auf Reisen in den Süden Europas – und sucht Wissen, aber nicht Läuterung. Er wird weder weise noch ein besserer Mensch. Die Begegnung mit der Natur erzeugt den Eindruck des Grausamen und Pittoresken – er sieht mit den Augen des Malers –, nicht des Erhabenen, die Begegnung mit der Religion den des Relativen: „Even Gods must yield – / Religions take their turn.“ Manfred haust in seinem mittelalterlichen Alpenschloss. Er ist nicht nur einsam, auch die ihn umgebende Mutter Natur kann er nicht lieben. „Das Subjekt ist nur souverän durch den Akt der Selbstdefinition“, meinte Emig. In der Titelfigur des Don Juan sah er einen Protagonisten, „dessen wörtliche und metaphorische Schiffbrüche ihn nur von einer Frau zur andern treiben“. In Canto 1 sah er die „Dekonstruktion des Erhabenen“: Don Juan im Heißluftballon, beschäftigt mit dem Apparat, der Tücke des Objekts ausgeliefert. Der Vorstand der Eichendorff-Gesellschaft hatte beschlossen, den in diesem Jahr mit 2000 Euro dotierten Oskar-Seidlin-Preis diesmal an den Gewinner eines auf dem Kongress auszutragenden Wettbewerbs zu vergeben. Dem Aufruf der Präsidentin zur Teilnahme daran waren fünf junge Wissenschaftler gefolgt, die am Freitagnachmittag – in alphabetischer Reihenfolge – in kurzen Referaten neue Studien zu Eichendorff vortrugen. „… und damit gut!“ Wilhelm Buschs Märchen „Der Schmetterling“ als Trümmerfeld der „Taugenichts“-Romantik – dies war der Titel des Vortrags von Clemens Heydenreich M.A., Doktorand in Erlangen. Der „abgebrochene Schneiderlehrling“ Peter verirrt sich bei der Verfolgung eines Schmetterlings, verliebt sich in die Hexe Lucinde, für die nur Geld zählt, wird von ihr zeitweise in einen Pudel verwandelt und kehrt nach siebenjährigem Zauberschlaf und allerhand Malheur fußamputiert heim, wird dort aber nur als „stilles, geduldetes, nutzbares Haustier“, als Flickschneider gehalten. Zu dieser Erzählung aus dem Jahre 1897 erkannte Heydenreich in Eichendorffs Taugenichts einen Prätext. Aber bei Busch sind die Vorzeichen gewissermaßen verkehrt, die Welt ist „enttranszendentalisiert“ und „monetarisiert“. Boris Hoge M.A., tätig an der Universität Münster, sprach über „Das zerbrochene Ringlein“ – Eduard von Keyserling und Joseph von Eichendorff. Er ging aus von der Tatsache, dass das berühmte Gedicht Eichendorffs in Keyserlings Roman Fürstinnen an zentraler Stelle steht – an jener Stelle, von der an das Scheitern der Liebesbeziehungen unumkehrbar wird. Eichendorffs Gedicht sei die „Quintessenz“ von Keyserlings Roman. Auch bei Eichendorff gehe es nicht nur um die Untreue der Geliebten, sondern ebenso um die problematische psychische Konstitution des lyrischen Ich, um die Grunderfahrung der Einsamkeit. Zu Eichendorffs Motiven des Blicks aus dem Fenster, des Gartens, des Wetterleuchtens fand
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Hoge ebenfalls in Keyserlings Romanen Parallelen. Er nannte ihn einen „äußerst sensiblen wie scharfsinnigen Eichendorff-Leser und -Interpreten“. Eichendorff und Flower-Power. Der „Taugenichts“ als Kultbuch der Hippie-Bewegung? war das Thema von Dr. Christian Klein, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wuppertal. Damit streifte er das Kongressthema: Das „Kultbuch“ ist selbst Gegenstand der Verehrung, freilich einer Verehrung, deren religiöser Impetus säkularisiert ist. Klein bezeichnete eine besondere Art der narrativen Vermittlung, eine besondere Form der Interaktion zwischen Leser und Text und im Text manifeste spezifische Denkmuster und Wahrnehmungsweisen als Voraussetzungen dafür, dass ein Buch Kultbuch werden könne, und sah diese Voraussetzungen in der Taugenichts-Rezeption der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als gegeben an. „Taugenichts muss unbedingt zu den identitätsstiftenden Kultbüchern der Hippies gerechnet werden.“ Entscheidend aber ist, ob eine „Verehrung“ des Buches mit hinreichender Exaktheit, mit probaten Methoden der Soziologie, festgestellt werden kann. Gespräche mit neun ehemaligen Mitgliedern der Hippie-Bewegung und einige allgemeine Hinweise sind eine schmale Basis. Birte Lipinski, Doktorandin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Oldenburg, gab ihrem Beitrag den Titel Pygmalion gespiegelt. Mythos und Künstlerimagination in Eichendorffs „Marmorbild“. In der Tradition stehen Pygmalion als der „gute“ und Narziss als der „problematische“ Künstler in polarem Gegensatz zueinander: Pygmalion belebt das von ihm geschaffene Kunstwerk durch Liebe, Narziss sieht im Kunstwerk sich selbst und verliebt sich darein. Der Referentin lag daran, diesen Gegensatz aufzulösen oder zumindest zu relativieren. Seit Winckelmann entwickle sich ein Künstlerbild, in dem beide Elemente sich überlagerten, und in der Romantik mit ihrem neuen Subjektbegriff werde Narziss zum Inbegriff des Künstlers. Was nun das Marmorbild angehe, so fasse die neuere Forschung den jungen Dichter Florio als „Inbegriff des Pygmalionmythos“ auf. Er sei zunächst Kunstrezipient und werde zum Künstler, indem er die Venus mit seinen Augen belebe. Durch das Wasser- und das Spiegelmotiv aber sei er auch mit der Gegenfigur des Narziss verbunden. Dass er im Venusbild seine lang gesuchte Geliebte erkennt, deutete die Referentin so: „Die Eigenliebe ist getarnt als Objektliebe“. In der Belebung liebe er nur sich selbst. Gebannt werde die Venus auch im Marmorbild weniger „durch das Christentum“ als durch ihre „Zurückweisung ins Fiktionale“. Als Letzter hatte Thomas Petraschka M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Regensburg, das Wort. Er sprach über Natur als Fetisch? Grenzzonen der Naturdarstellung Eichendorffs. Das Fragezeichen war bald getilgt. Der Autor nahm konsequent den Standpunkt der „Vernunft“ ein, von der er mit Bezug auf eine Passage in Eichendorffs Literaturgeschichte sagte: „Sie kann schlicht nichts anfangen mit irrationalen und unlogischen Entitäten wie Liedern ohne Worte und Geisterblicken, mit diesen ‚geheimnisvollen Zügen‘ der Wirklichkeit.“ Eichendorffs Dichtung nannte er ein „liminales Phänomen“, eine Grenzgängerei zwischen den Provinzen der Erscheinungen und der Dinge an sich, gebildet ausgedrückt: des „Phänomenalen“ und des „Noumenalen“. Da hätte ihm der Dichter zweifellos zugestimmt. Aber dann wandte er auf Eichendorffs dichterisches Verfahren den
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Begriff des Fetischismus an – im Sinne von Marx: ein Objekt wird fetischisiert, indem ihm Eigenschaften und Bedeutungen zugeschrieben werden, die ihm „per se“ nicht zukommen. Mit dem Hinweis, dass die Rede vom „Buch der Natur“ alte europäische Denktradition ist – die auch später noch Gegenstand des Kongresses war –, wäre Petraschka nicht zu imponieren gewesen. Also: Eichendorff fetischisiert die Natur. Inhaltlich, indem er „Unerklärliches und Mythisches, Magie und Zauberei, Divinität und Dämonie“ in Naturräumen verortet, sprachlich durch „Detailarmut und Unschärfe“. Mit der „symbolischen Formelhaftigkeit“ von Eichendorffs Stil, die seit Werner Kohlschmidts Aufsatz vor einem halben Jahrhundert diskutiert wird, machte Petraschka kurzen Prozess. Er vermisste – in Bezug auf eine Passage aus Ahnung und Gegenwart – eine Auskunft des Dichters, „wieso die Erde dampft“, „welche Bäume, welches Gras, welche Blumen äugeln“. Die fetischisierte Natur gewinne eine „autoritäre Eigendynamik“. Der Vorstand als Jury votierte für Thomas Petraschka. Diese Entscheidung verkündete der Berichterstatter am Abend im Naturkundemuseum, die Präsidentin überreichte dem Preisträger Urkunde und Scheck. Anschließend trug dort Hans Peter Ferstl, auf der Violine begleitet von Randolf Jeschek, selbstkomponierte Songs nach Gedichten von Heinrich Heine vor. Der Samstagmorgen begann mit Dr. Ruth Neubauer-Petzold (Regensburg). Dem ausgedruckten Thema Ritual und Raum in der Romantik fügte sie mündlich als Untertitel hinzu: Von Bräuten, Holunderbäumen und Hieroglyphen. Politischen Ritualen als „Spektakeln der Macht“ hat in jüngster Zeit die Geschichtswissenschaft ein besonderes Augenmerk geschenkt. Auch darum war es für manche überraschend, dass die Referentin gleich eingangs Rituale zu Teilen des mythischen Denkens erklärte. „Der Mythos ist immer da. Es gibt keine mythische Leerstelle. Auch politische Mythen sind Teile der großen mythischen Erzählung“. Im Mythos sah sie eine Ergänzung der Lebenserklärungen, die Ratio und Logos liefern, eine Illustration existenzieller Grunderfahrungen insbesondere in den symbolischen Formen der Kunst und der Sprache. „Arbeit am Mythos“ könne Rezeption alter oder Schaffung neuer Mythen sein. Rituale deutete sie als Ordnung stiftende, formalisierte Handlungsmodelle, welche die Verbindung zu einem außerhalb liegenden religiösen oder weltlichen Kontext herstellen. Sie vereinfachen die Bewältigung komplizierter lebensweltlicher Situationen. Sie spielen sich in bestimmten sakralen oder profanen Räumen ab, oft solchen, die durch eine Grenze getrennt sind wie Stadt und Land, Natur und Zivilisation. Unter diesen Gesichtspunkten betrachtete die Referentin Tiecks Runenberg, Eichendorffs Zauberei im Herbste und Hoffmanns Goldnen Topf. Sie arbeitete die Bedeutung des Ortes heraus und wies darauf hin, dass derselbe Ort, zum Beispiel der Garten des Archivarius Lindhorst, in der Perspektive des Helden unterschiedliche Bedeutung haben kann. Besonders mit Ritualen in Verbindung zu bringen ist der Raum der Kirche – die Dorfkirche im Runenberg, der mit einfachen Mitteln vom Einsiedler geschaffene sakrale Raum in der Zauberei im Herbste. Die Vortragende zeigte an den Besuchen des Außenseiters Anselmus bei Archivarius Lindhorst, dass Rituale Gruppenzugehörigkeit herstellen und stabilisieren. Sie belegte am Runenberg, dass die Natur paradigmatischer romantischer Raum ist – hier findet
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die Zwiesprache des Ich mit seinem Gegenüber statt. Der Protagonist ist in der Natur allein; sie ist ein Seelenraum, der immer nur aus subjektiver Perspektive geschildert werden kann. Sie erweist sich als ambivalent – alle Beziehungssysteme des Helden sind brüchig. Natur bedarf der Erschließung durch Buch oder Runentafel, und dieses Entziffern ist ein Ritual. Als Braut verschmilzt die Frau mit der Natur. Abschließend führte Ruth Neubauer-Petzold aus, der Goldne Topf sei die Geschichte einer Brautwerbung und einer Erlösung. An der Schwelle, bevor er Einwohner von Atlantis, der Poetisierung des Mythos, werde, erlebe Anselmus die Konfrontation mit den Mächten der Magie. Die romantischen Helden seien Suchende, die ihre Heimat im Mythos von Atlantis oder in der abgründigen Fantasiewelt des Wahnsinns fänden. Die Diskussion, an diesem Vormittag von Eckhard Grunewald geleitet, begann mit einer Kritik am Mythenbegriff der Referentin. Er sei einseitig, zu positiv. Ihm wurde der von Roland Barthes entgegengestellt: Mythen verkaufen den Menschen das, was historisch geworden ist, als Natur. Sie sind Reaktion auf die Unmöglichkeit, in bürgerlichen Klassenstrukturen zu existieren, und führen zu purem Eskapismus. Die Referentin jedoch sah sich nicht im Gegensatz zu Barthes’ Mythen des Alltags; auch sie habe erklärt, dass der Mythos nie verschwinde, der Mensch mit den alten Mustern lebe. Jürgen Daiber setzte am Begriff des Rituals an. Er verwies auf Arnold van Gennep und Victor Turner, die das Ritual in Bezug zum Begriff des Fremden bringen, und fragte, ob diese Kategorie im Runenberg oder in der Zauberei im Herbste eine Rolle spiele. Die Frau erscheine als Fremde, Unberechenbare. Die Frage blieb offen. Thomas Petraschka wies auf den Unterschied von „Buch der Natur“ und „Sprache der Natur“ hin, auf Literalität und Oralität. Die Romantiker hätten das Orale mit Eifer gesammelt. Im Buch der Natur werde der Sprache der Natur Dauerhaftigkeit verliehen. Da Thomas Borgstedt daran gehindert war, seinen Vortrag über Aufklärung als romantischen Horror zu halten, fiel es Dr. Carsten Lange (Oldenburg) zu, die wissenschaftliche Arbeit des Kongresses zu beschließen. Er sprach über Schleier, Schwelle, Zeremonie: Übergangsriten in Eichendorffs „Marmorbild“. Zunächst stellte er heraus, dass Eichendorffs Helden meist spontan handeln, einer inneren Sehnsucht folgen und daher mit Ritualen nichts im Sinn haben. Als Beispiele nannte er aus Dichter und ihre Gesellen die Wiederbegegnung Fortunats mit seinem Jugendfreund Walter, der Beamter geworden ist, Figuren der erstarrten Adelsgesellschaft wie den alten Grafen aus Schloß Dürande, das Scheitern von Heiraten aus Angst der Kandidaten Romano (aus Viel Lärmen) und Dryander (aus Dichter und ihre Gesellen) vor den damit verbundenen Ritualen. Dennoch gebe es auch bei Eichendorff Rituale. Lange verglich zwei Passagen aus der Satire Auch ich war in Arkadien und der Novelle Eine Meerfahrt. Der freimaurerische Händedruck, die Prozession zum „Blocksberg“, die weißgekleideten liberalen Mädchen charakterisieren das Verhalten der Liberalen als albernes Ritual. In der Meerfahrt werden Alvarez und Antonio Zeugen einer heidnischen Zeremonie: Männer mit Fackeln tanzen um eine schlanke Frauengestalt. Bei beiden Zeremonien verweist der Erzähler auf die Walpurgisnacht. So unterschiedlich sie sind, werden sie auf diese Weise doch in eine enge Beziehung zueinander gesetzt.
Kongressbericht
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Die Geschichte um Florio verlaufe im Marmorbild nach dem Muster eines Übergangsritus – da war der Begriff rites de passage wieder, mit dem van Gennep 1909 magische und mythische Symbolhandlungen beim Wechsel eines Lebensstadiums oder eines sozialen Zustandes bezeichnete. Victor Turner übertrug ihn auf moderne Gesellschaften. Langes Überlegungen waren etwa folgende: Das Marmorbild ist eine der vielen klassisch-romantischen Adoleszenzgeschichten. Hier wird die Sozialisation des jugendlichen Helden zu einer mytho-poetischen Einweihungsgeschichte überhöht. Gewöhnlich gilt Venus als Verkörperung einer falschen, Bianka als die einer wahren Sexualität; der Adoleszent soll die Verführerin überwinden und die keusche Bianka heiraten. Aber das strikte Kontrast-Schema der beiden Frauen ist zu simpel. Die Rose schmückt Bianka wie Venus, die ikonographischen Traditionen vermischen sich, so dass die Frauen eher verwandt als einander polar entgegengesetzt erscheinen. Die Begegnung mit Bianka wiederholt sich auf höherer Ebene in der Begegnung mit Venus. Florios Aufenthalt in Lucca ist ein Entwicklungsabschnitt. Bei der Abreise deutet Florio ihn selbst als Überwindung der Krise. In der liminalen Phase gibt es mehrere auch räumlich abgegrenzte Stationen – den Platz vor den Toren mit dem Sängerwettstreit, wo Florio passiv ist, dann das Zelt, zu dem ihn Fortunato führt, und schließlich das Innere des Venusschlosses, in das Venus selbst ihn geleitet. Auch in den Festsaal geht es über eine markierte Schwelle. Florio ist, anders als Friedrich in Ahnung und Gegenwart oder der Taugenichts, ratund orientierungslos. Die erste Zeremonie auf dem Zeltplatz mit dem Liedwettbewerb dient der Bekanntschaft mit Bianka. Florios Beitrag ist erfolgreich, er küsst Bianka und wird akzeptiert. Aber ihr Bild verwandelt sich ihm in ein größeres, schöneres. Der Topos der Vision der erschauten Geliebten verbindet sich mit dem Pygmalion- und Narziss-Mythos. Florio verhält sich wie ein Fieberkranker: Er versucht Venus wiederzufinden, aber es gelingt ihm nicht. Florio ist räumlich wie seelisch desorientiert. Bianka und Venus tragen das gleiche Kostüm – Bianka aber trägt eine Larve, Venus einen Schleier! Der Höhepunkt der Abenteuer spielt sich im Palast der Venus ab, beginnend mit einer „kultischen Schmückungsszene“. In Florio werden Erinnerungen an die Kindheit wach, eine Ursehnsucht bricht wieder hervor. Aber vor dem bleichen Antlitz ergreift er die Flucht, ist „außer sich“ und fragt sich, wo er so lange gewesen sei. Fortunato erklärt ihm: In entsetzlicher Täuschung habe er sich selbst verloren. Diesen Zwischenzustand zwischen Leben und Tod muss Florio durchleiden, um wieder eingegliedert werden zu können. Die Begegnung mit Bianka ist nur die Aktualisierung eines kosmischen Ereignisses. Lange räumte ein, man könne sich fragen, ob der Ritus im Falle Florios wirklich gelungen sei – und auch, ob Eichendorffs Helden überhaupt reiften oder statisch seien. Sei doch der Taugenichts am Ende der gleiche wie am Anfang, sei bei Friedrich in Ahnung und Gegenwart mindestens darüber zu streiten, und habe doch der Germanist Peter von Matt gemeint, Eichendorffs Helden vermieden den Übergang, es gebe hier nur den Sprung, die alte mystische Umkehr. Statt Reifung also zyklische Wiederkehr? Aber Lange hielt daran fest, dass Florio in der Begegnung mit der Göttin die Schwelle der Adoleszenz ein für allemal überschreitet – wie die Helden des Runenbergs und der Bergwerke zu Falun.
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In der Diskussion fragte Boris Hoge nach der Bedeutung des religiösen Elements im Marmorbild, dessen Ende doch ambivalent sei. Er selbst halte es für wichtig: Florio schaffe es, „sich aus sich selbst emporzuheben“. Sein Gebet sei ein echtes, an ein Du gerichtetes Gebet. Der Referent war einverstanden, wiederholte aber, die Bilder der Venus und der Krisen Florios seien nachhaltiger, Eichendorff dort, wo er die Bedrohung durch Venus darstelle, kreativer. Ursula Regener meinte, Florios Vorbildung führe dazu, dass er sich in den Mythos verliere, in Bilder hineinsteigere, die ihn von sich selbst wegführten. Wenn er im Mythos versinke, verliere der Mensch seine Identität. Auf die Bemerkung des Referenten, der direkte Weg Florios zu Bianka „funktioniere nicht“, entgegnete Ursula Regener: „Der andere auch nicht!“ Ihre These sei, dass Florio und Bianka sich nie begegneten. Georg Behütuns erklärte, bei solchen Betrachtungen, beim „grundsätzlichen Mythologisieren“, komme die katholische Lebenswelt Eichendorffs zu kurz. Er verwies auf die Zeitstruktur der religiösen Novene, der Tage vor Pfingsten mit Bußübungen und Gebeten, die im Fest selbst kulminierten. Vor allem zum Marmorbild, aber auch zu den Leitbegriffen „Mythos“, „Kult“ und „Ritual“ waren auf dem Kongress teils übereinstimmende, teils gegensätzliche oder sogar widersprechende Ansichten vorgetragen worden, die ein abschließendes Gespräch hätten spannend machen können – aber dazu fehlte die Zeit. Zu Ende ging der Kongress am frühen Nachmittag mit der Mitgliederversammlung der Eichendorff-Gesellschaft. Die Präsidentin berichtete über die Aktivitäten des vergangenen Jahres, insbesondere über die mit dem Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt gestaltete Ausstellung, eine in Regensburg begonnene Digitalisierung der Aurora-Bestände, die Verlagerung der Akten nach Regensburg, die Trennung vom Oberschlesischen Landesmuseum in Hösel – und über die finanziellen und personellen Probleme der Gesellschaft. Die Kassenprüfer bestätigten die Korrektheit des finanziellen Jahresberichts, der Vorstand wurde für das Haushaltsjahr 2007 entlastet. Die Präsidentin teilte mit, Frau Dr. Renate Moering habe mit ihrem Eintritt in den beruflichen Ruhestand auch das Amt der Beisitzerin im Vorstand der Eichendorff-Gesellschaft niedergelegt. Als möglicher Nachfolger aus dem Freien Deutschen Hochstift komme PD Dr. Wolfgang Bunzel in Frage, der zur Mitarbeit bereit sei, aber in Regensburg nicht anwesend sein könne. Deshalb sei er zunächst in den erweiterten Vorstand kooptiert worden. Andere personelle Veränderungen stünden bevor, da Prof. Dr. Eckhard Grunewald und Prof. Dr. Gunnar Och ihren Rücktritt aus dem Vorstand für das Jahr 2009 angekündigt hätten. So endete der Kongress nicht ohne Sorgen.
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Annotationen zu Herkunft und Verbreitung mittelalterlicher Eichendorff-Geschlechter Das Recht fordert […], dass nur mit Hilfe von Tatsachen gestritten wird, so dass alles übrige, was über die Beweisführung hinausgeht, überflüssig ist, jedoch vermag es gleichwohl viel […] wegen der Verderbtheit des Zuhörers. (Aristoteles: Rhetorik. 1404a)
Diese über 2000 Jahre alte Erkenntnis ist noch heute von Relevanz, nicht nur für das gesprochene, sondern auch für das geschriebene Wort und deren Beweisführung. In diesem Sinne hat sich der Autor in Urkunden und Chroniken auf Spurensuche begeben, das Beweisbare von Mythos und Legende zu unterscheiden gesucht, und die Forschungsergebnisse in zwei Aufsätzen dargelegt. Auf eine Wiederholung der dort gebotenen detaillierten Quellenangaben wird in diesen Annotationen verzichtet. Es sei jedoch auf die unterschiedlichen historischen Schreibweisen hingewiesen, die im Niederdeutschen Eykendorp, Eickendorff, Ikendorpe u. a., im Süddeutschen Aichendorf, Euchendorf, Enchindorf u. a. lauten. Der Begründer der schlesischen Linie und bekannte Urahn des Dichters Joseph Freiherr von Eichendorff ist Hartwig Erdmann von Eichendorff, geboren in Zerbow in der Neumark im Kurfürstentum Brandenburg, gestorben 1683 im schlesischen Krawarn. Bekannt sind auch die Name seines Vaters und dreier weiterer Vorfahren. Nach dem Eichendorff-Genealogen Augustin Weltzel nahm dieses Geschlecht in Schulzendorf im Barnim seinen Ausgang, wo in einer Urkunde der Stadt Wriezen vom 15. Juli 1343 Peter van Eyckendorp neben anderen als Zeuge auftrat. In mehreren Orten des Barnim besaßen sie Güter, und noch Theodor Fontane erinnert sich in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg der „Eichendorffe in Quilitz“ (heute: Neuhardenberg). 1484 hat die Familie Güter im Lande Barnim „verkofft vnd verlaten“. Südlich des Barnim, im Bistum Lebus, finden wir dann 1538 „die Eichendorffe zu Pilgrim“ (Pillgram). Von hier aus liegt ein Sprung des Geschlechtes „trans Odera“ in die Neumark durchaus im Bereich des Möglichen. Im ebenfalls zur Mark Brandenburg gehörenden Lande Ruppin wird bereits 1323 in einer Urkunde der Grafen von Lindow „arnoldus de ykendorpe“ als „domini milites“ fassbar. Aber auch in der anderen Schreibweise „Eickendorp“ lassen sich diese Geschlechter bis 1524 im Ruppin’schen nachweisen. Die „Grafen von Lindow, Herren von Ruppin“ entstammen dem Geschlecht derer von Arnstein. Die namengebende Burg liegt am Rande des Harzes im Mansfelder Land. Schon in der alten Heimat standen die Grafen von Arnstein in Kontakt mit den Rittern von Eikendorf, wie Urkunden von 1264 und 1267 belegen. Dieser Ort Eikendorf – heute Wüstung, aber archäologisch fassbar – liegt zwischen Eisleben und Helbra. Von 1250 bis 1361 sind hier Herren von Eikendorf nachweisbar, die in Urkunden der Grafen von Mansfeld als „nostris militibus“ bezeichnet werden.
Aurora 68/69 (2008/2009). S. 189–192.
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Dem Geschlecht der Arnsteiner kommt in mehrfacher Hinsicht eine brückenbauende Funktion zu. Burg und Herrschaft Lindau (Lyndow) nördlich von Zerbst wie auch die Grafschaft Barby südlich von Magdeburg trugen sie vom Stift Quedlinburg zu Lehen. Eine Urkunde der Quedlinburger Äbtissin Gertrud vom 21. April 1237 bezeugte neben anderen „Conradus de Eikendorp“. Das wussten schon Sohn und Enkel des Dichters Joseph von Eichendorff. 1263 erscheint „Alheidis de Eikendorp“ als Stiftsdame in diesem reichsunmittelbaren freiweltlichen Damenstift. Da sie – wie der CODEX DIPLOMATICVS QVEDLINBVRGENSIS belegt – nach ihrem Tode in die Memoria aufgenommen wurde, kann sie keine unbedeutende Adelige gewesen sein. Bis in die Zeit um 1500 lassen sich in Urkunden und Lehnsbüchern der Magdeburger Region viele Namen dieses Geschlechtes finden, zuletzt auch schon in neuerer Schreibweise „Eychendorff“. Namengebend ist für sie das im Kreis Schönebeck (heute: Salzlandkreis) gelegene Dorf Eickendorf. Oft geben die Quellen auch Auskunft über deren soziale Stellung: als „riddere“, als „Barones et Militares“, als „Vasallis“ des Magdeburger Erzbischofs, als „Vogt“, als „Knappe“, auch eine Äbtissin ist dabei. Nur am Rande sei hier vermerkt, dass auch in der Altmark zwischen 1180 und 1475 Eickendorf-Familien nachweisbar sind, am bekanntesten wohl „Johann von Eickendorp“ (bezeugt 1441–1460), Propst eines Chorherrenstiftes zu Stendal. In Bayern liegen zwei für Eichendorff-Geschlechter namengebende Orte: Eichendorf an der Vils in Niederbayern und Eichendorf bei Eberfing in Oberbayern. Der heutige Markt Eichendorf im Kreis Dingolfing-Landau hieß bis ins 18. Jahrhundert hinein: Euchendorf. „Vom 12. bis zum 14. Jahrhundert war Eichendorf Sitz eines Geschlechts, das sich nach dem Ort benannte. Ein Heinricus de Euchendorf erscheint um 1170 in den Traditionen des Klosters Aldersbach; in Urkunden des Klosters Sankt Nikola von 1334 tritt ein Karl von Euchendorf als Zeuge auf“. Diese Angaben von Hans Bleibrunner in seinem Werk Niederbayern. Kulturgeschichte des bayerischen Unterlandes (Landshut 1979. Bd. I. S. 308) sind quellenkundlich nachprüfbar. Eichendorf bei Eberfing (heute eingemeindet) war als Aichendorf im Mittelalter dem Kloster Benediktbeuern zugehörig. Gegen Ende der Amtszeit des Abtes Walther (1138– 1168) ist in den Monumenta Benedicto-Burana verzeichnet, dass „Heinricus de Aichindorf“ dem Kloster einen Grundbesitz von einer Hufe vererbt, „für die Erinnerung an seine Seele und die aller seiner Vorfahren“ („pro remedio anime sue, & omnium parentum suorum“; Monumenta Boica. Bd. VII. S. 68). Die Richtigkeit bezeugt u. a. ein „Adelbertus de Aichindorf“. Dieses Adelsgeschlecht war dort also über mehrere Generationen ansässig gewesen. – Schon aus diesem Grunde ist es nicht opportun, nur das niederbayerische Eichendorf in den Fokus der Eichendorff-Forschung zu stellen. Die dabei von verschiedenen Autoren gemachten Angaben sind zudem oft nicht mit der historischen Wahrheit in Einklang zu bringen. Sowohl Hermann als auch Karl von Eichendorff berichten von alten Familienaufzeichnungen, nach denen „die Familie Eichendorff ursprünglich aus Bayern“ stammt und „der Ahnherr des Geschlechtes, ein bayerischer Krieger, um 928 im Kampfe gegen die heidnischen Wenden vom deutschen König Heinrich I. auf dem Schlachtfeld von Alt-Bran-
Annotationen zu Herkunft und Verbreitung mittelalterlicher Eichendorff-Geschlechter
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denburg den Ritterschlag erhalten haben“ soll. Sie fügen an, dass für die Richtigkeit dieser Überlieferung kein Nachweis zu erbringen ist. Auch Augustin Weltzel, der ja die alten Aufzeichnungen noch einsehen konnte, sieht die Sache als unhistorisch an. Es handelt sich hierbei um ein Wandermotiv der deutschen Sage, in dem sich Adelsgeschlechter durch die Nähe eines hohen Herrschers legitimieren lassen möchten, so z. B. auch die Grafen von Mansfeld und die Grafen von Arnstein durch Heinrich I. In der wieteren Tradierung wird der Mythos zur Wirklichkeit erhoben, wobei noch die Jahreszahl 960 hinzu tritt, so dass nach den Darstellungen von bayerischer Seite im niederbayerischen Eichendorf eine adelige Familie seit etwa 960 ansässig gewesen ist – allerdings stets ohne Quellenangaben! Nach Darstellungen von Dietmar Stutzer, Christian Bachner und anderen waren im Jahre 1075 zwei „Herrenhöfe“ in Eichendorf an das Kloster St. Nikola in Passau gelangt, wobei „die Zinspflicht der Herren von Eichendorff“ an dieses Kloster überging. – Ein Blick in diese Urkunde zeigt, dass darin nicht von Herrenhöfen (curia) die Rede ist, sondern von „tres hoffachas“, was Hans Bleibrunner treffend mit „drei Gehöfte“ übersetzt, die Namen der Besitzer werden in dem Dokument nicht genannt! Es ist notwendig, noch auf einen weiteren Aspekt einzugehen, von Dietmar Stutzer in seiner Dissertation von 1974 dargelegt, in der Folgezeit in Publikationen und Vorträgen bayerischer Autoren unkritisch reflektiert und bis zur Gegenwart als Tatsache präsentiert: Danach gehe aus den Regesten Ludwigs des Bayern und aus Riezlers Geschichte Bayerns hervor, „daß sich Kaiser Ludwig der Baier, am 6. Oktober 1334 bei Heinrich von Eichendorff auf dessen Schloß in Eichendorf mit seinem Vetter, dem Herzog von Niederbaiern, getroffen hat […] Der Schloßherr von Eichendorff legt wenig später dem niederbaierischen Hof Rechnungen über die Spesen vor, die bei diesem Aufenthalt des Kaisers in seinem Hause angefallen sind […] Die Angaben lassen vermuten, daß Heinrich von Eichendorff sich entschlossen hat – vielleicht auf Wunsch des Kaisers – in die Mark zu gehen, wie das andere altbaierische Adelige auch getan haben“ (Stutzer 1974. S. 25). Die von Stutzer angegebene Quelle lautet im Originaltext: 1334 October 11. Heinrich Herzog in Baiern bekennt Charlein dem Ritzburm seinem Vitzthum ze Straubing 14 Pfund 63 Pfge die er an der Pfinztagen Nacht ze Landaw vor S. Dionysinstag und an dem Freitag früh ze Euchendorf, da der Kaiser bei dem Herzog war, an Kost verdient, und 14 Schill. die er desselben Freitags für die Herzogin gezahlt hat, schuldig zu seyn. G. ze Tekkendorf des Ertags vor S. Gallentag“ (Regesta sive Rerum Boicarum. Bd. VII. S. 89 f.).
Weder ein „Schloß“ noch ein „Schloßherr Heinrich von Eichendorff“ werden darin erwähnt, und schon gar nicht lässt sich daraus ein Entschluss eines Adeligen ableiten, in die Mark zu gehen! Die von Stutzer angeführte Geschichte Bayerns von Riezler (Bd. 2. Gotha 1880. S. 429) bezieht sich exakt auf das oben wiedergegebene Dokument. Ein „Heinrich von Eichendorff“ kommt auch darin nicht vor.
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Der Weg zur historischen Wahrheit könnte in drei Schritten erfolgen: 1. Schritt: Erfassung aller Eichendorff-Belege in der Mark Brandenburg, in der Altmark, im Magdeburgischen, in der Grafschaft Mansfeld, in Oberbayern und in Niederbayern. 2. Schritt: Prüfen, ob sich aus den Quellen verwandtschaftliche Verbindungen ergeben (z. B. ein Vater-Sohn-Verhältnis). 3. Schritt: Eruierung der wirtschaftlichen, religiösen und politischen Kontakte der einzelnen Regionen über die Jahrhunderte hinweg zur Mark Brandenburg, sowie eine Relativierung der einzelnen Optionen. Es dürfte jedoch kaum möglich sein, anhand der Quellen eine genealogische Linie bis zum Jahre 1335 oder gar 960 zu erstellen. So bleiben vorerst nur die Namen gesichert, die in der Ahnenprobe vom 21. Juli 1655 für Hartwig Erdmann von Eichendorff genannt werden (Weltzel 1992. S. 80–82). Der Verfasser hofft, mit seinen Forschungen die Frage der ferneren Vorfahren des Dichters Joseph Freiherrn von Eichendorff auf eine neue Grundlage gestellt zu haben, und möchte auch mit diesen Annotationen Anregungen zu weiteren Forschungen geben.
–––––––— Literatur: Karl Freiherr von Eichendorff: Eichendorff und seine Vorfahren. In: Eichendorff-Kalender für das Jahr 1914. S. 18–37. Dietmar Stutzer: Die Güter der Herren von Eichendorff in Oberschlesien und in Mähren. Würzburg 1974. Augustin Weltzel: Geschichte des edlen und freiherrlichen Geschlechts von Eichendorff. Hg. und erweitert von Franz Heiduk. Sigmaringen 1992. Christian Bachner: Josef von Eichendorff aus Eichendorf oder: Ein Taugenichts aus Niederbayern. In: Historische Heimatblätter. An der unteren Isar und Vils. Landau a. d. Isar 2003. S. 43–58. Ernst Kiehl: Eine Legende vom Kaiser Heinrich und einem Ritter von Eichendorff. In: Quedlinburger Annalen. Heimatkundliches Jahrbuch für Stadt und Region Quedlinburg. 10. Jg. 2007. S. 69–84. Ernst Kiehl: Von Eykendorp zu Eichendorff. Spurensuche in Urkunden, Chroniken und Legenden. In: Sachsen-Anhalt Journal für Natur- und Heimatfreunde. Teil 1. In: Heft 2–3/2007. S. 36–39; Teil 2. In: Heft 4/2007. S. 9–13; Teil 3. In: Heft 1/2008. S. 23–26; Teil 4. In: Heft 2/2008. S. 16– 20.
Anschriften der Mitarbeiter Prof. Dr. Sabine Doering, Universität Oldenburg, Fakultät III - Sprach- und Kulturwissenschaften, Institut für Germanistik, 26111 Oldenburg Prof. Dr. Rainer Emig, Englisches Seminar, Leibniz Universität Hannover, Königsworther Platz 1 / Raum 731, 30167 Hannover Clemens Heydenreich M.A., Kuttlerstraße 7, 91054 Erlangen Boris Hoge, Heisstr. 45, 48145 Münster Ernst Kiehl, Erlenstr. 10, D-06484 Quedlinburg Dr. Christian Klein, Bergische Universität Wuppertal, Fachbereich A - Germanistik, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal Dr. Carsten Lange, Lindenstr. 23, 26123 Oldenburg Birte Lipinski, Institut für Germanistik, Universität Oldenburg, 26111 Oldenburg Dr. Thomas Martinec, Universität Regensburg, Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Universitätsstr. 31, D-93053 Regensburg Dr. Ruth Neubauer-Petzoldt, Oberschöllenbacher Hauptstr. 48, 90542 Eckental Thomas Petraschka M.A., Universität Regensburg, Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Universitätsstr. 31, D-93053 Regensburg Prof. Dr. Ursula Regener, Universität Regensburg, Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Universitätsstr. 31, D-93053 Regensburg Dr. Volkmar Stein, Eichelbergring 14, D–63654 Büdingen
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