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German Pages 488 [487] Year 2009
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Berndt Hamm (Erlangen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Volker Leppin (Jena), Heinz Schilling (Berlin)
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Heinz Scheible
Aufsätze zu Melanchthon
Mohr Siebeck
Heinz Scheible, geboren 1931; Studium der evangelischen Theologie und der klassischen Philologie in Heidelberg; 1960 Dr. theol.; 1963–1997 und 2001–2004 Leiter der Melanchthon-Forschungsstelle Heidelberg (seit 1965 Heidelberger Akademie der Wissenschaften); 1994 Dr. theol. h. c. (Mainz); 1997 Melanchthonpreis der Stadt Bretten.
ISBN 978-3-16-150234-7 / eISBN 978-3-16-158586-9 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Seit dem Erscheinen meiner »Forschungsbeiträge« 1996 sind von mir weitere Studien zu Melanchthon und seinem Umfeld erschienen, zum Teil an recht entlegenen Stellen. So lag es nahe, sie wieder in einem Band zusammenzufassen. Ich danke den Herren Dr. Henning Ziebritzki vom Verlag Mohr Siebeck und Professor Dr. Berndt Hamm, Herausgeber der SMHR, für die Bereitschaft, den Band in ihr Programm aufzunehmen. Freilich mussten mit Rücksicht auf den Umfang einige Arbeiten, die das Bild abgerundet hätten, zurückstehen. Melanchthons Beziehungen zu Justus Jonas, Georg von Anhalt und Wolfgang Musculus sowie sein Verständnis des Danielbuchs sind in den einschlägigen Sammelbänden1 leicht greifbar. Gesamtwürdigungen findet man in den Publikationen der Badischen Landeskirche und des Evangelischen Bundes zum 500. Geburtsjubiläum2, in dem Berichtsband der Brettener Preisverleihung 19973, in
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Melanchthon und Justus Jonas (2003). In: Justus Jonas (1493–1555) und seine Bedeutung für die Wittenberger Reformation, hrsg. v. Irene Dingel. Leipzig 2009 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Orthodoxie 11), S. 59–86. Melanchthons Verhältnis zu Georg von Anhalt. In: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 17 (2008), Sonderband Georg III., S. 81–107. - Wolfgang Musculus und Philipp Melanchthon. In: Wolfgang Musculus (1497–1563) und die oberdeutsche Reformation, hrsg. v. Rudolf Dellsperger, Rudolf Freudenberger und Wolfgang Weber. Berlin 1997 (Colloquia Augustana 6), S. 188–197. - Melanchthons Verständnis des Danielbuchs. In: Die Geschichte der Daniel-Auslegung in Judentum, Christentum und Islam. Studien zur Kommentierung des Danielbuches in Literatur und Kunst, hrsg. v. Katharina Bracht und Daniel S. du Toit. Berlin 2007 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 371), S. 293–321. 2 Philipp Melanchthon, der Reformator neben Luther. In: Erinnerung an Melanchthon: Beiträge zum Melanchthonjahr 1997 aus Baden, im Auftrag des Vorstandes hrsg. v. Martina Jantz. Karlsruhe 1998 (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden 55), S. 17–53. - Philipp Melanchthon, der Reformator neben Luther. In: Philipp Melanchthon, ein Wegbereiter für die Ökumene, hrsg. v. Jörg Haustein. Göttingen 1997, 2., überarb. Aufl. 1997 (Bensheimer Hefte 82), S. 7–45. 3 Melanchthons Bedeutung für Kirche und Kultur. Dankesrede des Preisträgers Dr. Dr. h. c. Heinz Scheible. In: Der Theologe Melanchthon, hrsg. v. Günter Frank. Stuttgart 2000 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 5), S. 15–24.
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Vorwort
»Protestantesimo« 20014, in »The Reformation Theologians« 20015 sowie in TRE 22 (1992), 371–410, und RGG4 5 (2002), 1002–1012. Die Aufsätze sind abgesehen von geringfügigen Korrekturen unverändert abgedruckt, jedoch ohne Abbildungen. Die Redeweise des Vortrags wurde beibehalten. Die Anmerkungen sind formal vereinheitlicht, inhaltlich geben sie den Forschungsstand der Erstveröffentlichung wieder. Lediglich einige damals noch als Typoskript vorliegende Arbeiten sind nach dem inzwischen erfolgten Druck zitiert, desgleichen wurden seither erschienene Quelleneditionen und besonders wichtige Forschungsbeiträge hinzugefügt. Bei biographischen Anmerkungen der Buchstaben A bis K wurde die Häufung von Lexikonartikeln ohne speziellen Bezug zum Kontext durch MBW 11 und 12, wo sie alle zitiert sind, ersetzt. Für L bis Z ist dies leider noch nicht möglich. Die Zitierweise ist in den Anmerkungen analog zu MBW raumsparend. Druckorte und Reihentitel sind entbehrlich, Erscheinungsjahre nicht. ,Band‘, ,Seite‘ und ,Zeile‘ wird nur hinzugefügt, wenn die Zahl nicht spontan verständlich ist, also in den meisten Fällen nicht. Bei unselbständigen Publikationen steht ,In:‘ vor Sammelbänden, bei Zeitschriften und Lexiken genügt der Doppelpunkt. Autoren und Editoren sind durch Kapitälchen hervorgehoben, Herausgeber von Sammelbänden nicht. Texte aus MBW sind in der Regel nur mit der Nummer zitiert, die für die Regesten und die Texte gilt. Wenn ein bestimmter Wortlaut angesprochen ist, wird die genaue Stelle in MBW.T angegeben, wo dies noch nicht möglich ist, die Spalte im CR. Der Index verzeichnet alle im Text und in den Anmerkungen erwähnten Personen (ausgenommen Philipp Melanchthon), nicht jedoch die Autoren der zitierten Literatur. Heidelberg, im August 2009
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Heinz Scheible
L'importanza di Melantone nella storia e nel presente. In: Protestantesimo. Rivista trimestrale pubblicata dalla Facoltà Valdese di Teologia 56 (2001), Heft 2, S. 110–123 [Vortrag vom 31. Oktober 2000 in der Waldenserfakultät in Rom. Übersetzung von Lorenzo Scornaienchi]. 5 Philip Melanchthon (1497–1560). In: The Reformation Theologians. An Introduction to Theology in the Early Modern Period, hrsg. v. Carter Lindberg. Oxford 2002, S. 67–82 [Übersetzung von Carter Lindberg].
Inhalt Vorwort .................................................................................................. V Abkürzungen ......................................................................................... IX 01. Melanchthon als theologischer Gesprächspartner Luthers (1998) ....... 1 02. Melanchthons Werdegang (1993) ..................................................... 28 03. Melanchthon und die oberrheinischen Humanisten (2001) ............... 46 04. Reuchlins Bedeutung für den Toleranzgedanken (1993) ................... 65 05. Melanchthon als akademischer Lehrer (1997) .................................. 75 06. Die Philosophische Fakultät der Universität Wittenberg von der Gründung bis zur Vertreibung der Philippisten (2007) ..................... 91 07. Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform (1997) ........... 125 08. Die Reform von Schule und Universität in der Reformationszeit (1999) ................................................................ 152 09. Melanchthons ökumenischer Einsatz in Frankreich (2002) ............. 173 10. Melanchthons Sorge um die Diaspora (1997) ................................. 189 11. Melanchthon und Osiander über die Rechtfertigung: Zwei Versuche, Wahrheit zu formulieren (2002) ............................ 202 12. Philipp Melanchthons Ethik des Friedens (2002) ............................ 218 13. Die Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für theologische Ethik und Praktische Theologie am Beispiel Melanchthon (2000) ....................................................................... 241 14. Melanchthon rettet die Universität Wittenberg (1998) .................... 253 15. Ein Irrtum Melanchthons: seine Warnung vor dem Fürstenkrieg 1551/52 (2008) .............................................................................. 277
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Inhalt
16. Christliches und humanistisches Menschenbild nach Philipp Melanchthon, ein Leitfaden für politisches Handeln im 21. Jahrhundert (2007) ......................................................................... 287 17. Wie Melanchthon predigte (2008) .................................................. 302 18. Melanchthons Verhältnis zu Johannes Setzer (2008) ...................... 309 19. Melanchthons Freundschaft mit Matthäus von Wallenrode (2001) .. 317 20. Die Verfasserfrage der Histori Thome Muntzers (2001) ................. 328 21. Melanchthons Beziehungen zu Stadt und Bistum Breslau (2000) .... 342 22. Melanchthon und Frau Luther (2001) ............................................. 373 23. Das Augsburger Interim und die evangelischen Kirchen (1998) ..... 392 24. Der Catalogus testium veritatis: Flacius als Schüler Melanchthons (1996) ..................................................................... 415 25. Melanchthon und die Grafen von Erbach (2003) ............................ 431 26. Das Melanchthonbild Karl Holls (2003) ......................................... 447 Nachweis der Erstveröffentlichungen ................................................... 463 Personenindex ...................................................................................... 467
Abgekürzt zitierte Literatur ARG BBKL BSLK ContEras
CR DBE EKO EncRef EvBek
Forschungsbeiträge
GermSacra 1/3/2
Koehn
Liber Decanorum LitLex LThK3 MBW
Archiv für Reformationsgeschichte Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (Bautz) Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche Contemporaries of Erasmus. A biographical register of the Renaissance and Reformation, hrsg. v. Peter G. Bietenholz und Thomas B. Deutscher. Toronto 1985–1987. Corpus Reformatorum Deutsche Biographische Enzyklopädie Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, begr. v. Emil Sehling. Leipzig 1902–1919, Tübingen 1955 ff. The Oxford Encyclopedia of the Reformation, hrsg. v. Hans J. Hillerbrand. New York/Oxford 1996. Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere Theologische Erklärungen. Im Auftrag der Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland gemeinsam mit Irene Dingel (...) hrsg. v. Rudolf Mau. Bielefeld 1997, 2 2008. Heinz Scheible, Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, hrsg. v. Gerhard May und Rolf Decot. Mainz 1996 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 41). Germania sacra. Historisch-statistische Darstellung der deutschen Bistümer, Domkapitel, Kollegiat- und Pfarrkirchen, Klöster und der sonstigen kirchlichen Institute. Abt. 1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg, Bd. 3: Das Bistum Brandenburg, Teil 2, hrsg. von Fritz Bünger und Gottfried Wentz. Berlin 1941, Reprint 1963. Horst Koehn, Philipp Melanchthons Reden. Verzeichnis der im 16. Jahrhundert erschienenen Drucke. Frankfurt am Main 1985; auch in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 25 (1984), 1277–1486. Liber Decanorum Facultatis Theologicae Academiae Vitebergensis, hrsg. v. Carl Eduard Foerstemann. Leipzig 1838. Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hrsg. v. Walther Killy. Gütersloh/München 1988–1993. Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage. Melanchthons Briefwechsel, hrsg. v. Heinz Scheible. StuttgartBad Cannstatt 1977 ff (es folgt jeweils die Nummer des Briefs, ggf. auch der Abschnitt); MBW.T für dass., Texte (es folgen Band, Seite, Zeile und Nummer).
X Melanchthon deutsch Melanchthon in seinen Schülern MGG MSA NDB Osiander-GA PKMS
RE³ TRE UUW WA WAB WADB WATR ZGO ZKG
Abkürzungen Melanchthon deutsch, hrsg. v. Michael Beyer, Stefan Rhein und Günter Wartenberg. Leipzig 1997. Melanchthon in seinen Schülern, hrsg. v. Heinz Scheible. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Forschungen 73). Die Musik in Geschichte und Gegenwart Melanchthons Werke in Auswahl, hrsg. v. Robert Stupperich. Neue Deutsche Biographie Andreas Osiander d. Ä., Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Müller und Gottfried Seebaß. Gütersloh 1975–1997. Politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen, Bde. 1–2 hrsg. v. Erich Brandenburg. Leipzig 1900–1904; Bde. 3–6 hrsg. v. Johannes Herrmann, Günther Wartenberg und Christian Winter. Berlin 1978–2006. Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl. Leipzig 1896–1913. Theologische Realenzyklopädie Urkundenbuch zur Geschichte der Universität Wittenberg, hrsg. v. Walter Friedensburg. Magdeburg 1926 f. Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883– 2009. WA, Abt. Briefe WA, Abt. Deutsche Bibel WA, Abt. Tischreden Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift für Kirchengeschichte
Melanchthon als theologischer Gesprächspartner Luthers Das gegenseitige Verhältnis von Luther und Melanchthon hat mehrere Dimensionen: eine private, persönliche, eine zeitgeschichtliche, eine philosophisch-theologische, schließlich eine kulturgeschichtliche. In diesem Referat kann nur die philosophisch-theologische ausführlich behandelt werden.
I. Die persönliche Dimension Am einfachsten ist die private. Sie ist deshalb am besten aufgearbeitet1. Es gibt ja so schöne Sprüche der beiden übereinander, in Tischreden, in Briefen und in schon damals gedruckten Vorreden. Sie zeugen durchweg von einer hohen gegenseitigen Hochachtung. „Unser Philipp Melanchthon, ein wunderbarer Mensch, ja einer, an dem fast alles übermenschlich ist, er ist mir dennoch ganz vertraut und befreundet“, schreibt Luther keine vier Monate nach Melanchthons Ankunft in Wittenberg an Reuchlin2, und ein Jahr später: „Dieser kleine Grieche übertrifft mich sogar in der Theologie“3. Melanchthon schreibt 1520 über den auf der Wartburg Weilenden: „Ich würde lieber sterben als von diesem Manne getrennt werden“4, und: „Du weißt, wie sehr Alkibiades seinen Sokrates verehrte; ich verehre Luther auf eine ganz andere Weise, nämlich christlich, und sooft ich ihn mir vor Augen führe, wächst er über sich hinaus“5. Oder einige Jahre danach: „Ich hab Magistri Philipps Bücher lieber denn die meinen. ... Ich bin dazu geboren, dass ich mit den Rotten und Teufeln muss kriegen und zu Felde liegen, darum meiner Bücher viel [= viele meiner Bücher] stürmisch und kriegerisch sind. Ich muss die Klötze und Stämme ausrotten, Dornen und Hecken weghauen, die Pfützen ausfüllen, und bin der grobe 1
Gustav MIX, Luther und Melanchthon in ihrer gegenseitigen Beurteilung: Theologische Studien und Kritiken 74 (1901), 458–521. 2 WAB 1, 269.33–35. 3 WAB 1, 597.10 (an Johannes Lang). 4 MBW.T 1, 196.97 f = MBW 84.12. 5 MBW.T 1, 227.11–13 = MBW 104.2.
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1. Gesprächspartner Luthers
Waldrechter, der die Bahn brechen und zurichten muss. Aber Magister Philipps fähret säuberlich und stille daher, bauet und pflanzet, säet und begeußt mit Lust, nach dem Gott ihm hat gegeben seine Gaben reichlich“6. Rätselhaft werden dabei die kritischen Untertöne in manchen, vor allem späteren Äußerungen Melanchthons über Luther, aber auch umgekehrt, die den Biographen nicht verborgen blieben. Sie gipfeln in dem berüchtigten Satz aus dem Carlowitz-Brief vom April 1548: „Ich ertrug auch vordem eine fast entehrende Knechtschaft, da Luther oft mehr seinem Temperament folgte, in welchem eine nicht geringe philoneikía lag, als auf sein Ansehen und auf das Gemeinwohl achtete“7. Das im lateinischen Kontext stehende griechische Wort philoneikía bedeutet Streitsucht oder Rechthaberei. Doch überwiegen auch nach Luthers Tod die positiven Äußerungen. An Herzog Albrecht von Preußen schrieb Melanchthon am 1. Mai 1551 im Zusammenhang des Osiandrischen Streits: „Ich habe die gemeinsame Lehre dieser (evangelischen) Gemeinden wiedergegeben, und ich bekenne, dabei Luther gefolgt zu sein, mit dem ich vieles freundschaftlich besprochen habe“8. Treffender kann man seine Zusammenarbeit mit Luther nicht ausdrücken. Offene Kritik an Melanchthon, seltener an Luther, finden wir in den Urteilen der Zeitgenossen und der Nachwelt. Hierbei geht es nicht um Gefühle, sondern um Denkweisen, Handlungen und ihre Bewertung. Ich nenne sie
II. Die zeitgeschichtliche Dimension der Beziehung zwischen Luther und Melanchthon Die Problemfelder sind in zeitlicher Folge: zuerst die Wittenberger Bewegung, bei der Melanchthon angeblich versagt hat, so dass Luther kommen musste, um die Ordnung wieder herzustellen. So die Meinung der meisten Lutherbiographen und Reformationshistoriker. Dass ich dies ganz anders sehe, habe ich zuletzt in meiner Biographie Melanchthons ausführlich dargestellt9. Der erste Angriff auf Melanchthon aus dem heimischen Bereich der Wittenberger Reformation galt seiner Bußlehre und wurde im Zusammenhang der Visitation 1527 von seinem Wittenberger Studienfreund und Mit6
WA 30/2, 68 f (Vorrede zu Melanchthons Kolosserbriefkommentar, 1529). CR 6, 880 = MBW 5139.3. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Brief an Carlowitz (1966): Forschungsbeiträge (1996), 304–332, bes. 318. 8 CR 7, 775 = MBW 6072.2. 9 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie (1997), 59–74. 7
1. Gesprächspartner Luthers
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promovenden Johannes Agricola Islebius vorgetragen10. Er wurde von Luther zurückgewiesen11. Melanchthons Lehre, im Unterricht der Visitatoren, einer amtlichen Schrift, wiederholt, erhielt durch Luthers Vorrede die uneingeschränkte Approbation des Reformators12. Auf dem Augsburger Reichstag 1530 hingegen wurde Melanchthon selbst zum Ziel von Vorwürfen Luthers, durchaus nicht die ganze Zeit, aber dafür um so verletzender. Seine Verhandlungen neben den öffentlichen Beratungen stießen schon damals bei manchen Protestanten auf Unverständnis, und die neuere Forschung kommt selten ohne Rügen aus. Auch hier habe ich versucht, Melanchthons Handeln als in sich schlüssig und mit der kursächsischen Linie konform verständlich zu machen13. Melanchthons Lehre vom freien Willen und dessen Funktion bei der Rechtfertigung und Heiligung wurde 1536/37 hartnäckig von Konrad Cordatus, aber auch von Nikolaus von Amsdorf und von Michael Stifel kritisiert. Gleichzeitig denunzierte ihn Jakob Schenck wegen seiner seelsorgerlichen Toleranz bezüglich der Kommunion. Luther und die anderen Wittenberger Theologen wiesen diese Angriffe auf ihren Kollegen ab14. Auf dem Regensburger Religionsgespräch 1541 wurde unter Melanchthons maßgeblicher Mitwirkung eine Formulierung der Rechtfertigungslehre gefunden, der seine katholischen Gesprächspartner zustimmten15. Luther, dem diese Verhandlungen überhaupt nicht gefielen, hat die dort erarbeitete Lehrform dem Wortlaut nach gebilligt, verlangte aber von der Gegenseite auch einen Widerruf ihrer früheren Lehre16. Heutzutage können sich Lutheraner und Katholiken in der Rechtfertigungslehre verständigen17. 10
TRE 2 (1978), 110–118, bes. 112 (Joachim ROGGE). - MBW 11 (2003), 41 f. TRE 22 (1992), 376 (Heinz SCHEIBLE). 12 MSA 1, 215-271. - Martin Luther Studienausgabe 3 (1983, 21996), 402–462. 13 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon und Luther während des Augsburger Reichstags 1530 (1985): Forschungsbeiträge (1996), 198–220. - Ganz aus der Sicht Luthers schreibt Gerhard EBELING, Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen, an seinen Briefen dargestellt (1997), 281–318. - Vgl. neuerdings: Im Schatten der Confessio Augustana. Die Religionsverhandlungen des Augsburger Reichtages 1530 im historischen Kontext, hrsg. v. Herbert Immenkötter und Gunther Wenz (1997). 14 Wilhelm H. NEUSER, Luther und Melanchthon – Einheit im Gegensatz (1961). SCHEIBLE, Melanchthon (wie Anm. 9), 159–166. 15 MBW 2681, 2705.2.4. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Auseinandersetzung mit dem Reformkatholizismus (1988/89): Forschungsbeiträge (1996), 222–244; hier S. 243 f der Text von MBW 2681. - TRE 28 (1997), 658–660 (Irene DINGEL). 16 WAB 9, 459–463 Nr. 3637. 17 Karl-Heinz ZUR MÜHLEN, Die Einigung über den Rechtfertigungsartikel auf dem Regensburger Religionsgespräch von 1541 – eine verpasste Chance? (1979). In: DERS., Reformatorisches Profil. Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation, hrsg. v. Johannes Brosseder und Athina Lexutt (1995), 281–309. - SCHEIBLE, Melanchthons Auseinandersetzung (wie Anm. 15), 222-224. - Philipp Melanchthon. Ein Wegbereiter 11
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1. Gesprächspartner Luthers
Eine zeitweilige Trübung des insgesamt von freundschaftlicher Kollegialität bestimmten Verhältnisses von Luther und Melanchthon entstand 1544 über der Abendmahlsfrage18. Die Abendmahlslehre ist nach meinem Verständnis das einzige Lehrstück, in dem Luther und Melanchthon nicht übereinstimmten. Die Unterschiede waren aber für Luther tolerabel, denn sie bewegten sich im Rahmen der Wittenberger Konkordie19. Deshalb hat er 1544 in seiner letzten Streitschrift gegen die Zwinglianer20 Melanchthon und Bucer nicht angegriffen, was Melanchthon befürchtet hatte21. Auch diese Trübung ging ohne Folgen vorüber. Soviel kurz zum Verlauf der vielbeschworenen Krisen. Wir wollen nun im Hauptteil dieses notgedrungen viel zu kurzen Referats versuchen, hinter den biographischen und auch psychologischen Aspekten
III. Die philosophisch-theologische Dimension dieser Beziehung in den Blick zu bekommen. Es geht hierbei um die Frage, ob Luther und Melanchthon gegensätzliche Denkansätze und Denkergebnisse oder Glaubensrichtungen verkörpern, oder ob es sich nur um Akzentverschiebungen handelt und sie im Wesentlichen völlig einig waren. Diese Fragen sind am schwierigsten zu beantworten und am meisten umstritten. 1. Die Tübinger Mitgift Melanchthon hat bei Luther Theologie studiert und ein Examen abgelegt22. In seinem Testament von 1539 bekannte er, von Luther das Evangelium gelernt zu haben23. Dies ist allgemein bekannt und unbestritten. Noch nicht genügend erforscht ist aber der Weg, den Melanchthon zurückgelegt hat, bis er lernte, was das Evangelium ist. Noch weniger erforscht ist die Frage, ob auch Luther über die bessere Kenntnis der griechischen Sprache hinaus von seinem jüngeren Kollegen etwas gelernt hat, insbesondere in der für die Ökumene, hrsg. v. Jörg Haustein (1997) - Karl LEHMANN, Ein Vater der Ökumene? Die Bedeutung Melanchthons aus katholischer Sicht. In: Melanchthon neu entdeckt, hrsg. v. Stefan Rhein und Johannes Weiß (1997), 214–222. - Derzeit steht eine „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, erarbeitet von lutherischen und katholischen Theologen, in der Diskussion um eine offizielle Verabschiedung. Dass sie kritisiert wird, verwundert nicht. Von größerem Gewicht ist, dass sie überhaupt zustande kam. 18 S. unten S. 23–26. 19 MBW 1744. - Martin Bucers Deutsche Schriften 6/1 (1988), 114–134. 20 WA 54, 119–167. 21 MBW 3667.2. 22 Liber Decanorum, 23. - MSA 1, 23–25. 23 MBW 2302.4.
1. Gesprächspartner Luthers
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Theologie. Manchen mag diese Frage schon als Arbeitshypothese absurd und unerlaubt erscheinen. Andererseits hat Lowell C. Green 1980 eine Monographie über „the doctrine of justification in the reformation“ veröffentlicht und ihr den provokativen Titel »How Melanchthon helped Luther discover the gospel« gegeben24. Er konnte seine These vertreten, weil er die forensische Rechtfertigungslehre als die endgültige Formulierung der evangelischen Botschaft definierte. Ich und wohl die meisten der Forscher betrachten diese Lehrform als eine schulmäßige Endgestalt der zentralen Erkenntnis Luthers, manche gewiss auch als eine Verkürzung. Wir werden auf diese Frage noch kurz zurückkommen, müssen aber zuerst nach den Anfängen des theologischen Gesprächs, das Luther und Melanchthon miteinander führten, fragen. Als Melanchthon im August 1518 nach Wittenberg kam, konnte er von Luther noch nicht viel gelesen haben. Es gab bis dahin im Druck nur die 95 Thesen über den Ablass und eine Predigt über dasselbe Thema, und es ist fraglich, ob der Tübinger Philologe dies gelesen hatte, bevor er nach Wittenberg kam. Aber er war religiös kein unbeschriebenes Blatt. In Bretten lebte er von seinem achten bis zwölften Lebensjahr mit seinem Vater, der wegen eines Kriegsleidens nicht mehr so viel unterwegs sein konnte und sich durch intensive Frömmigkeitsübungen, insbesondere die Einhaltung der Gebetszeiten auch in der Nacht, auf den Tod vorbereitete25. Sein ältester Sohn hat diese Sozialisation zeitlebens beibehalten. Sein Gebetsleben wurde unlängst von dem Tübinger Habilitanden Martin Jung erforscht und dargestellt26. Melanchthon hatte auch zeitlebens Freude an feierlichen Gottesdiensten mit reicher Liturgie27, wie sie in Wittenberg im Gegensatz zu manchen oberdeutschen Gemeinden im wesentlichen erhalten blieb28. Pompöser Katholizismus mit Heiligenkult und Prozessionen, wie er ihn nach vielen in reformatorischen Kirchen verbrachten Jahren 1543 in Köln erlebte, erschien ihm aber als Abgötterei29.
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Lowell C. GREEN, How Melanchthon Helped Luther Discover the Gospel. The Doctrine of Justification in the Reformation (1980). 25 CR 10, 256. 26 Martin H. J UNG, Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators (1998). 27 CR 6, 883 = MBW 5139.7. 28 Vgl. die Schilderung des zum Abschluss der Konkordie nach Wittenberg gereisten Wolfgang Musculus: Theodor KOLDE, Analecta Lutherana (1883), 216–228. - Generell über den mit Melanchthon gleichaltrigen Reformator vgl. den Sammelband: Wolfgang Musculus (1497-1563) und die oberdeutsche Reformation, hrsg. v. Rudolf Dellsperger, Rudolf Freudenberger, Wolfgang Weber (1997). 29 MBW 3238, 3422, 3775, 3793.
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1. Gesprächspartner Luthers
Während seines Studiums in Heidelberg wohnte er fast drei Jahre beim Dekan der Theologischen Fakultät, Pallas Spangel30. Zwar studierte er auf die Prüfung für den Baccalaureus artium hin. Aber ein wenig Theologie dürfte er schon damals mitbekommen haben, nicht zuletzt durch seine Beteiligung an zwei theologischen Publikationen Wimpfelings, mit dem er damals ebenfalls persönlich bekannt wurde31. In Tübingen hat er nach seiner Magisterprüfung theologische Vorlesungen gehört, nachweislich bei Jakob Lemp. Dabei ärgerte er sich über dessen Methode, die Transsubstantiationslehre an der Wandtafel zu erläutern32 – didaktisch eigentlich nicht ungeschickt. Doch konnte ihn Melanchthon nicht leiden. Er nannte ihn schon damals einen Oberschwätzer33. Über die persönliche Abneigung hinaus lässt sich hier ein Problem erkennen, das ihn ein Leben lang umtreiben sollte und auch sein Verhältnis zu Luther berührte: das Verständnis der Messfeier, des Abendmahls. Wir begegnen diesem Problem in seinem Leben immer wieder. Es ist nach meiner Überzeugung das einzige, bei dem sich Melanchthon von der anfänglichen Übereinstimmung mit Luther löste und eine eigene Auffassung vertrat, von der aus manche seiner Schüler nach seinem Tod den Weg zum Calvinismus fanden34. Den entscheidenden Anstoß zur Entfernung von Luther erhielt er von einem Tübinger Studienfreund, dem fünfzehn Jahre älteren Johannes Oekolampad, der 1530 – damals war er der theologische Reformator der Stadt Basel – Melanchthons Meinung, die lutherische Abendmahlslehre werde schon von den Kirchenvätern vertreten, aufgrund seiner überragenden Quellenkenntnis erschütterte35. Übrigens hatte Melanchthon von Oekolampad die 1515 erschienene Dialektik des Rudolf Agricola erhalten, die ihm eine wichtige Hilfe zur Überwindung der scholastischen Logik und zur Ausbildung seiner eigenen Loci-Methode war36. Doch dies ist heute nicht unser Thema. Kehren wir also zu Melanchthons Tübinger Zeit und zur Frage nach seinen dort erworbenen theologischen Kenntnissen zurück. Einen guten Eindruck behielt er von dem anderen Ordinarius der Theologischen Fakultät in Erinnerung, von Wendelin Steinbach: er sei ein 30
MBW 2169, 9296. CR 10, 469 f Nr. 2; CR 20, 765 Nr. 1. - Supplementa Melanchthoniana 6/1, 1–3 Nr. 1 f. - Otto HERDING (Hrsg.), Das Leben des Johannes Geiler von Kaysersberg: Jacobi Wimpfelingi opera selecta 2/1 (1970), 86 f. 32 MBW 2780.3.3. 33 MBW 171.2 = MBW.T 1, 354.12 = Willibald Pirckheimers Briefwechsel 4 (1997), 503 Nr. 755 Zeile 14 f; S. 504 Anm. 8 über Lemp. 34 Vor allem Ursinus und Pezel, aber auch Strigel; vgl. die einschlägischen Beiträge in: Melanchthon in seinen Schülern (1997). 35 TRE 22, 394.14-18. - TRE 25 (1995), 29-36, bes. 34 (Ulrich GÄBLER). 36 MBW 2780.1.2. 31
1. Gesprächspartner Luthers
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fleißiger Leser der Heiligen Schrift und des Kirchenvaters Augustin gewesen, habe viele Irrtümer der Scholastiker Thomas von Aquin und Duns Scotus erkannt und die Gnadenlehre rein vertreten37. Diese späte Äußerung kann nicht frei sein von theologischen Erkenntnissen, die er nach der Tübinger Zeit, also von Luther, gewonnen hat. Dennoch ist sie ein Beleg dafür, dass der Tübinger Philologe den Theologen Steinbach gehört und seinen Augustinismus im Gegensatz zu der Scholastik Lemps mit positiven Empfindungen zur Kenntnis genommen hat. Die Gnadenlehre sollte dann in Wittenberg das Hauptthema seiner theologischen Arbeit werden. Mit der Entwicklung der sogenannten forensischen Rechtfertigungslehre brachte er es zu einem für ihn befriedigenden Abschluss38. Damit eng verbunden ist die Frage nach der Funktion des menschlichen Willens. Auch hier fand Melanchthon eine Lösung, die ihn nicht von Luther trennte und dennoch auch von Erasmus anerkannt wurde39. Er wusste aber, dass diese Frage letztlich unlösbar ist, und hat dies auch in seiner bekannten Aufzeichnung kurz vor seinem Tod niedergeschrieben40. Schon in Tübingen hatte er mit seinem Dialektik-Lehrer Franz Kircher aus Stadion, den er auch unter die Mitarbeiter der geplanten AristotelesEdition aufnahm41, über Prädestination und Willensfreiheit diskutiert. Dass Stadianus die Auffassung vertrat, beides sei richtig, der Gegensatz mithin unauflösbar, hat Melanchthon nie vergessen42. Das Mönchtum lernte er durch die Freundschaft mit dem Alpirsbacher Benediktinermönch Ambrosius Blarer43 kennen. Die Quellen bezeugen zwar nur die gemeinsamen humanistischen Studien44. Doch ist zu vermuten, dass die Problematik dieses Heilsweges und seiner Wirklichkeit nicht unerörtert blieb. Jedenfalls hat Blarer relativ früh, im Sommer 1522, das Kloster verlassen und damit ein Bekenntnis zur Reformation abgelegt. Der theologische Einfluss Reuchlins war demgegenüber gering, so groß er sonst war. Reuchlins Förderung betraf die Sprachen und das Verständnis für die fundamentale Bedeutung der Geschichte. Mit der kabbalistischen
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CR 11, 1026. 1027. 1030. - LitLex 11 (1991), 157 (Uta MÜLLER-KOCH). Christian PETERS, Apologia Confessionis Augustanae. Untersuchungen zur Textgeschichte einer lutherischen Bekenntnisschrift (1997), 375 ff. 39 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon zwischen Luther und Erasmus (1984): Forschungsbeiträge (1996), 171–197, bes. 187–193. 40 CR 9, 1098 Nr. 6977 = MBW 9299. 41 MBW 17. 42 MBW 3245.5. 43 MBW 11 (2003), 165 f. 44 MBW 2, 4, 5 und 9. 38
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Philosophie des Hebraisten konnte sein junger Zögling schon damals wenig anfangen45. Prägend für sein ganzes Leben und fruchtbar für seine spätere Tätigkeit als Universitätsreformer war der Unterricht, den er mehrere Jahre lang bei dem Astronomen Johannes Stöffler46 genossen hatte. Dass er ihm seine Tübinger Grundsatzrede »De artibus liberalibus« widmete47, geschah mit gutem Grund. Nach alledem war Melanchthon auch theologisch nicht ungebildet, als er nach Wittenberg kam. Die Summe seiner in Tübingen gewonnenen Einsichten hat er in seiner Antrittsrede vom August 1518 niedergelegt48. Hier bringt er den Niedergang der Theologie in der Scholastik in Zusammenhang mit der Vernachlässigung sowohl des Griechischen, wodurch vor allem der Basisphilosoph Aristoteles nicht mehr richtig verstanden wurde, als auch der Mathematik: simul Graeca contempta, mathematica deserta, sacra negligentius culta sunt49. Die von Melanchthon vertretene Reform des Studiums ist nicht revolutionär; sie zielt nicht auf die Abschaffung der traditionellen Fächer, sondern auf die Hinführung zu ihren Quellen. Auch hinsichtlich der Lehrmeinungen ist Melanchthon tolerant und eklektisch. Er selbst hatte sein Studium in beiden Wegen, Realismus und Nominalismus, absolviert50. Demgemäß empfiehlt er seinen neuen Studenten: „Aus den besten Autoren wähle das Beste, sowohl was die Kenntnis der Natur als auch die Bildung der Persönlichkeit betrifft.“ Dazu ist die Kenntnis des Griechischen uner45
Heinz SCHEIBLE, Reuchlins Einfluss auf Melanchthon (1993): Forschungsbeiträge (1996), 71–97, bes. 87 f. 46 MBW 2780.5.3; CR 12, 243. - LitLex 11 (1991), 215 (Wolf-Dieter MÜLLERJ AHNKE). - Günther OESTMANN, Johannes Stoeffler, Melanchthons Lehrer in Tübingen. In: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland. Bildungsstationen eines Reformators. Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, der Universitätsbibliothek Heidelberg, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart und des Melanchthonhauses Bretten zum 500. Geburtstag Philipp Melanchthons, hrsg. v. Stefan Rhein, Armin Schlechter und Udo Wennemuth (1997), 75–86. 47 MBW 18. 48 CR 11, 15–25 = MSA 3, 29–42; MBW 30. Zum Datum des Vortrags vgl. Heinz SCHEIBLE, Forschungsbeiträge (1996), 101 f Anm. 16. Deutsche Übersetzung von Gerhard STEINGER in: Melanchthon deutsch 1 (1997), 41–63. 49 MSA 3, 33.9 f. 50 In Heidelberg wurde Melanchthon am 10. Juni 1511 Baccalaureus artium in via antiqua, in Tübingen am 25. Januar 1514 Magister; vgl. die Matrikeln, ed. T OEPKE 1, 472 und ed. HERMELINK 1, 191 Anm. 46. Dass er in Tübingen in via moderna promovierte, berichtet indirekt Camerarius, zitiert von Heiko Augustinus OBERMAN, Via moderna – Devotio moderna: Tendenzen im Tübinger Geistesleben 1477–1516. In: Theologen und Theologie an der Universität Tübingen, hrsg. v. Martin Brecht (1977), 1–64, bes. 63 zu S. 16 f. Melanchthon wechselte das Fach, obwohl an beiden Universitäten beide Wege angeboten wurden.
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lässlich, denn die gesamte Naturwissenschaft wird durch griechische Autoren vermittelt. Für die Humanwissenschaften sind die Ethiken des Aristoteles, Platons Nomoi, Homer und die lateinischen Dichter Vergil und Horaz die besten Schriften. Unerlässlich ist aber auch das Studium der Geschichte, denn sie liefert die Beispiele für menschliches Verhalten im privaten und im öffentlichen Leben, für Rechtsprechung und Politik. Der Theologe braucht zusätzlich das Hebräische. Melanchthon ist aber kein wissenschaftsgläubiger Rationalist. So wichtig die Wissenschaften auch für die Theologie sind, so weiß er doch, dass deren Ziel nur unter der Leitung des Heiligen Geistes erreicht wird: Duce Spiritu, comite artium nostrarum cultu ad sacra venire licet51. Dies war die Mitgift, die Melanchthon in seine Begegnung mit Luther einbrachte. Luther war davon begeistert52. Es entstand eine lebenslange fruchtbare Zusammenarbeit, ein echtes Gespräch, bei dem Melanchthon nicht nur der Empfangende war. Da es sich hierbei um ein wirkliches Gespräch handelte, um den mündlichen Gedankenaustausch zweier Kollegen an derselben Universität, die nur wenige Schritte voneinander wohnten, gibt es von diesem Gedankenaustausch außer den spät einsetzenden und sporadischen Nachschriften von Tischgesprächen53 keine unmittelbaren Quellen. Wir können nur die Ergebnisse an den Publikationen der beiden ablesen. 2. Schrift und Tradition Melanchthon verstand seinen Lehrstuhl für griechische Sprache und Literatur als auch für das Neue Testament zuständig. Es las von Anfang an gleichzeitig über klassische und neutestamentlichen Schriften im Urtext unter philologischen Aspekten auf dem Niveau von Anfängern in der griechischen Sprache. Davon zu unterscheiden sind die biblischen Vorlesungen nach der Vulgata, zu denen er ab September 1519 als theologischer Baccalaureus verpflichtet war, und die er wegen Luthers Abwesenheit in Worms und auf der Wartburg auch über diese Pflicht hinaus bis 1523 fortsetzte54. Dass er zu Beginn seiner Tätigkeit zeitweilig auch den Lehrstuhl für Hebräisch vertrat55, also alttestamentliche Schriften nach dem Urtext vortrug, sei nur nebenbei bemerkt. Wenn er dazu noch ein reguläres Studium an der Theologischen Fakultät aufnahm, so war dies nichts Ungewöhnliches. 51
MSA 3, 40.5 f. WAB 1, 192.11–30 (an Spalatin, 31. 8. 1518). 53 Kritische Ausgabe von Ernst KROKER: WATR 1–6 (1912-1921); dazu Birgit STOLT, Die Sprachmischung in Luthers Tischreden (1964), 33–39. 54 TRE 22, 372.22–43 . 55 SCHEIBLE (wie Anm. 45), 80–83. 52
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Melanchthon befand sich damals in einer energiegeladenen Hochstimmung, in einem Gefühl, das Hutten zu dem Ausruf „iuvat vivere“ brachte56. Denn seine neue Freundschaft mit Luther vertrug sich bestens mit seinen alten Bindungen an Reuchlin und Erasmus. In der Rhetorik vom Januar 1519 werden Erasmus, Reuchlin und Luther nebeneinander genannt, Erasmus eindeutig mit Vorrang: Er habe als erster die Theologie zu den Quellen geführt, qui primus ... theologiam ad fontes revocavit. Reuchlin habe ganze Bibliotheken vor der Verbrennung bewahrt, von Luther wird nur seine berechtigte Kirchenkritik erwähnt57. Im März 1519 stellte Melanchthon nach dem Empfang der »Ratio seu compendium verae theologiae« des Erasmus dessen Übereinstimmung mit Luther fest58, und in seiner Vorrede an die Theologiestudenten zu Luthers »Operationes in Psalmos« nennt er diejenigen, welche die reine und ursprüngliche Theologie ans Licht gezogen haben: Erasmus, Reuchlin, Capito, Oekolampad, Karlstadt und Luther59. Noch im Nachwort zu Luthers Galaterkommentar vom August 1519 wird Luther als der beste Exeget nach Erasmus gerühmt60. Es ist dies die Zeit der überschwänglichen Begeisterung der beiden Wittenberger füreinander. Im Juni 1519 begleitete Melanchthon seine Wittenberger Kollegen Karlstadt und Luther zur Leipziger Disputation mit Johannes Eck aus Ingolstadt, der später Melanchthons wichtigster Verhandlungspartner werden sollte61. Spätestens in Leipzig 1519 lernte er, dass Konzile irren können. Eck brachte Luther zu der Aussage, dass das Verständnis der Heiligen Schrift nicht in jedem Fall durch die kirchlichen Instanzen gesichert ist62. In seinem gedruckten Bericht an seinen älteren Studienfreund Oekolampad, damals Domprediger in Augsburg, referierte er zustimmend: „Ein Konzil kann keine neuen Glaubensartikel aufstellen“63. Am 9. September 1519 diputierte Melanchthon für den Grad des Baccalaureus biblicus64. Die Thesen stellte er wenigstens zum Teil selbst auf, was nicht die Regel war. Darunter befinden sich die drei folgenden: „Ein Katholik muss keine anderen Lehrsätze glauben, als die von der Schrift bezeugt werden. Die Autorität der Konzile steht unter der Autorität der Schrift. Also ist es noch keine Ketzerei, wenn man nicht an das unaus56
Ulrich von HUTTEN, Epistola vitae suae rationem exponens, 25. 10. 1518: Willibald Pirckheimers Briefwechsel 3 (1989), 422 Zeile 775. 57 MBW 40.4 = MBW.T 1, 101.44–47. 58 MBW 46.2 = MBW.T 1, 109.7–10. 59 MBW 47.1 = MBW.T 1, 111.18–112.24. 60 MBW 65.3 = MBW.T 1, 149.18–20. 61 MBW 11 (2003), 385 f. 62 WA 59, 427–605; vgl. Reinhard SCHWARZ, Luther (1986), 71. 63 MBW 59.5 = MBW.T 1, 139.136 f. 64 Siehe oben Anm. 22.
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löschliche Siegel (der Taufe und der Priesterweihe), an die Wandlung (von Brot und Wein in der Eucharistie) und an dergleichen glaubt“65. Solche Thesen zu verteidigen erregte damals sogar in Wittenberg Aufsehen. Luther nannte sie „Kühn aber wahr“66. Man bezieht dies verkürzend gern auf das Schriftprinzip und die Bestreitung der Transsubstantiation. Dies ist ungenau und verkennt, dass es sich um einen Syllogismus handelt. Bei einem Schlussverfahren müssen die beiden Obersätze allgemein anerkannt sein. So auch in Melanchthons Baccalaureatsthesen. Dass die Bibel die Quelle der Glaubenslehre ist, meint auch die römische Kirche. Und dass die Konzile höher zu bewerten seien als die Heilige Schrift, hatte niemand behauptet. Schockierend sind die Folgerungen, die aus den allgemeinen Wahrheiten gezogen werden. Der junge Griechischprofessor Melanchthon behauptete, dass zwei Säulen der katholischen Frömmigkeit keine biblische Begründung haben und deshalb nicht geglaubt werden müssen: das Priestertum und der Messgottesdienst. Luther hat dies damals jedenfalls in der Öffentlichkeit noch nicht vertreten. Erst ein Jahr später hat er in seinem weitverbreiteten Buch von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche dasselbe ausgeführt, ebenfalls mit der Begründung, dass das Wort Gottes über der Kirche stehe. Dabei zitierte er den Kirchenvater Augustinus, den die Autorität der Kirche zum Glauben an das Evangelium brachte, was Luther so versteht, dass die Kirche das Wort Gottes von den Worten der Menschen unterscheiden kann67. Damit ist das Problem des Verhältnisses von Bibel und Kirche, von Schrift und Tradition, formuliert. Luthers erstaunt-respektvolle Bewertung der Thesen Melanchthons legt die Vermutung nahe, dass damals der Jüngere dem erfahrenen Theologen einen wagemutigen Schritt voraus war. Dabei geht es nicht – ich wiederhole es – um das Schriftprinzip als solches, sondern um seine Konsequenzen, also um die Auslegung der Schrift. Die Tradition wird dabei zur Kenntnis genommen und wenn möglich rezipiert, wie dies auch Luther in der Babylonica getan hat. Hierin sind sich Luther und Melanchthon zeitlebens einig geblieben68. Doch bald schon wurde in der konfessionellen Polemik der Streitpunkt auf sola scriptura, „allein die Schrift,“ gegen „Schrift und Tradition“ zugespitzt. Das Trienter Konzil ließ sich 1546 auf diese Alternative ein und formulierte polemisch gegen das reformatorische Schriftprinzip, dass es neben der Schrift auch Traditionen gebe, die mit gleicher Verehrung zu
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MSA 1, 24 f Thesen 16–18. WAB 1, 514.33 (an Staupitz, 3. 10. 1519). 67 WA 6, 561 = Martin Luther Studienausgabe 2 (1982), 246 mit Anm. 538. 68 Grundlegend: Peter FRAENKEL, Testimonia Patrum. The Function of the Patristic Argument in the Theology of Philip Melanchthon (1961). 66
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beachten seien69. Der Gefahr, eine Lehre von zwei Quellen der Offenbarung, nämlich Schrift und Tradition, zu entwickeln, ist die katholische Theologie mehrheitlich und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch amtlich durch die Klarstellung begegnet, dass es sich immer um das eine Evangelium handele, das durch Schriften und Traditionen verkündet werde70. Also: das Schriftprinzip wird auch von der römischen Kirche vertreten. Streit gibt es nur – und da kräftig – über die Auslegung der Schrift. Der Prüfungskandidat Melanchthon hat dies 1519 mit seltener Klarheit formuliert. Übrigens ist das Problem viel komplizierter. Die neuere evangelische Theologie – ansatzweise aber auch Luther – weiß, dass auch die biblischen Schriften schon eine Tradition der evangelischen Verkündigung darstellen und ihr Verständnis von der historischen Tradition des Empfängers bestimmt wird. Die früher übliche und immer noch wirksame Differenzierung zwischen Luther und Melanchthon, wonach der eine das reine Schriftprinzip vertreten, der andere die Tradition als zweites Prinzip eingeführt habe71, ist also nicht sachgemäß. 3. Gesetz und Evangelium In der Trauerfeier für Luther am 22. Februar in der Wittenberger Schlosskirche würdigte Melanchthon Luthers Bedeutung für die Kirche72. Er habe das Licht des Evangeliums wieder heller zum Leuchten gebracht. Dies bedeutet im Einzelnen, dass er die völlig verdunkelte Lehre von der Buße erhellt und den wahren Trost aufgezeigt, die Lehre des Apostels Paulus von der Rechtfertigung aus Glauben erklärt und den Unterschied von Gesetz und Evangelium, von Gerechtigkeit des Geistes und bürgerlicher Gerechtigkeit, erläutert hat. Er hat ferner das rechte Gebet und alles, was Gott gefällt, gelehrt, insbesondere den Wert des bürgerlichen Lebens, das bis dahin weniger galt als das Mönchtum, hervorgehoben. Er hat auch die menschlichen Riten beseitigt, die der wahren Anrufung Gottes im Wege standen. Luthers gelehrte Leistung besteht in vorzüglichen Bibelkommentaren, vor allem aber hat er die Bibel mit solcher Klarheit ins Deutsche übersetzt, dass diese Übersetzung dem Leser mehr Durchblick verschaffe als die meisten Kommentare, urteilt Melanchthon. Dass er selbst den An-
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Heinrich DENZINGER, Enchiridion Symbolorum (311960), 279 Nr. 783. Constitutio dogmatica de divina revelatione: Das Zweite Vatikanische Konzil, Bd. 2 (1967), 497–583. 71 Otto RITSCHL, Dogmengeschichte des Protestantismus 1 (1908), 276–299. – Bernhard LOHSE in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, hrsg. v. Carl Andresen, 2 (1980), 80. - TRE 22, 390.1–9 . 72 CR 11, 726–734 Nr. 89. 70
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stoß zu dieser Bibelübersetzung gegeben und mehr als 20 Jahre daran mitgearbeitet hatte73, erwähnte er in der Grabrede schicklicherweise nicht. Melanchthons Würdigung Luthers hebt natürlich das hervor, was er selbst für wichtig hielt, und ist dadurch auch ein Kompendium der Theologie Melanchthons. Stärker, als ich es von meinen Lehrern gehört habe oder gegenwärtig von unseren finnischen Kollegen vernehme, wird die kulturelle Bedeutung Luthers deutlich. Dies wäre in einem vierten Kapitel auszuführen. Melanchthon fasst aber auch das eigentlich religiöse Anliegen der Reformation ins Auge: die Botschaft des Evangeliums als Glaubensgerechtigkeit und damit als Gewissenstrost. Die systematisch-theologische Voraussetzung sowohl dieser Rechtfertigungslehre als auch der Aufwertung des bürgerlichen Lebens ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Für Melanchthon wurde sie zum tragenden Grundsatz seiner Theologie und Philosophie. Insbesondere in seinen ethischen Schriften schärft er diesen Unterschied unermüdlich ein. Beispielsweise in seinem PolitikKommentar: „Aber zu Beginn ist es sehr von Nöten, die Politik vom Evangelium zu unterscheiden und die Meinung der Unerfahrenen zu widerlegen, die träumen, das Evangelium sei nichts anderes als eine politische Lehre, der gemäß die Staaten einzurichten seien“74. Luther hat diese Unterscheidung nicht so oft, aber mit gleichem Gewicht hervorgehoben75. Nach frühen Vorformen im Anschluss an die Tradition tritt sie ab 1521 bei Luther und gleichzeitig bei Melanchthon auf, der hier offenbar der Empfangende ist, aber sofort die fruchtbare Tragweite dieser Dialektik erkannt hat. Sie ist etwas anderes als die traditionellen Dualismen von Geist und Buchstabe oder Gesetz und Gnade. Sie bildet zwar den Schlüssel zum Verständnis der Schrift, aber keinen, der mühelos oder gar gedankenlos zu handhaben wäre. „Nahezu die gesamte Schrift und die Erkenntnis der ganzen Theologie hängt an der rechten Erkenntnis von Gesetz und Evangelium“, schreibt Luther in seiner Epistel- und Evangelien-Auslegung von 152176, und er ist der Meinung, dass die höchste Kunst in der Christenheit die Unterscheidung zwischen dem Gesetz und Glauben, zwischen dem Gebot und Evangelium sei. Aber er weiß auch, wie schwierig dies im Einzelfall sein kann (denken wir nur an die Bergpredigt: ist sie Gesetz oder Evangelium?). Er sagte einmal bei Tisch: „Kein Mensch lebt auf Erden, der da zu unterscheiden wüsste zwischen Gesetz und Evangelium. Wir lassens uns wohl gedünken, wenn wir hören predi73
Traudel HIMMIGHÖFER, Luthers Lebensarbeit an der deutschen Bibel: EbernburgHefte 30 (1996), 31–52. 74 CR 16, 417. 75 Albrecht P ETERS, Gesetz und Evangelium: Handbuch Systematischer Theologie 2 (1981), 30. 76 WA 7, 502.34; zitiert von A. P ETERS (wie Anm. 75), 34.
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gen, wir verstehens, aber es fehlet weit. Allein der Heilige Geist versteht diese Kunst“77. 4. Erasmus und die Willensfreiheit Die erste Aufgabe reformatorischer Theologie im Verständnis Luthers und Melanchthons war es, diese Dialektik gegen jede Vermischung von Gesetz und Evangelium durchzusetzen. Das Gesetz konnte kein Weg zum Evangelium sein, und das Evangelium durfte nicht als Überhöhung des Gesetzes verstanden werden, sondern als etwas qualitativ anderes, zu dem der Mensch mit seinen natürlichen Fähigkeiten, insbesondere seinem Willen, keinen Zugang gewinnen kann. Luther hatte schon vor seiner Begegnung mit Melanchthon die Willensfreiheit bestritten, vor allem in der Heidelberger Disputation vom April 151878. Melanchthon erwies sich auch hierin als sein eifrigster Schüler. In seinem Meisterstück, den Loci von 1521, stellte er sich mit jugendlicher Schärfe gegen die gesamte Tradition. Die christliche Anthropologie sah er in diametralem Gegensatz zur Philosophie und menschlichen Vernunft. Sämtliche Autoren einschließlich Augustin und Bernhard haben seiner Meinung nach hier die Schrift umgedeutet, weil sie auch der menschlichen Vernunft gerecht werden wollten. So sei die Philosophie in das Christentum eingedrungen, die gottlose Lehrmeinung vom freien Willen sei übernommen und Christi Wohltat durch die profane Weisheit unserer Vernunft verdunkelt worden. Das Wort „freier Wille“ ist nach dem Melanchthon der frühen Loci der Bibel und dem Heiligen Geist völlig fremd. Aus der platonischen Philosophie sei dann noch das gleichermaßen verderbliche Wort „Vernunft“ hinzugekommen. Melanchthon lehnte die Begriffe liberum arbitrium und ratio sogar für die Beschreibung des Menschen ab. Liberum arbitrium wird nämlich als die Übereinstimmung des Willens mit der Erkenntnis definiert. Diese ist aber nach Melanchthon nicht gegeben, sondern wie im Staat der Tyrann sich über die Beschlüsse des Senats hinwegsetzt, so verachtet im Menschen der Wille die guten Ratschläge des Erkenntnisvermögens, weil er von den Affekten beherrscht ist. Ein Affekt wird aber niemals durch die Vernunft, sondern nur durch einen stärkeren Affekt überwunden: affectus affectu vincitur79. Die Willensfreiheit wird nicht nur anthropologisch bestritten, sondern auch mit der göttlichen Vorherbestimmung: Quandoquidem omnia quae eveniunt, necessario iuxta divinam praedestinationem eveniunt, nulla est voluntatis nostrae libertas80. Später heißt es an derselben, aber völlig neu77
WATR 2, 3 Nr.1234; zitiert von A. P ETERS (wie Anm. 75), 23. These 13: WA 1, 353 = Martin Luther Studienausgabe 1 (1979), 214. 79 MSA 2/1, 13.13. 80 MSA 2/1, 10.11–13. 78
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bearbeiteten Stelle der Loci: Nec miscenda est disputatio de determinatione divina quaestioni de libero arbitrio81. Gleichwohl bestreitet Melanchthon schon 1521 nicht eine gewisse Freiheit in äußeren Dingen. „Auf diese starren die Philosophaster und neueren Theologisten“. Aber darum gehe es gar nicht, denn Gott schaue nicht die äußeren Werke an, sondern die inneren Regungen des Herzens. Deshalb stehe in der Bibel nichts über jene Freiheit82. – Unausgesprochen bleibt, ob darüber woanders etwas Sinnvolles steht. Hier ist bei Melanchthon die Möglichkeit einer Akzentverlagerung gegeben. Das alles ist gut lutherisch. Die frühen Loci erfreuen sich im theologischen Unterricht noch immer höchster Beliebtheit. Sie wurden mehrmals in moderne Sprachen übersetzt83, obwohl sie in der Reformationszeit bald vergriffen waren und von Melanchthon durch Neubearbeitungen ersetzt wurden, die nicht zuletzt diese Anthropologie betreffen. Dies hängt mit Melanchthons Stellung zu Erasmus von Rotterdam zusammen84. Er verdankte ihm nicht wenig. Schon als 19-jähriger war er von dem Rotterdamer auf eine Weise der gelehrten Welt vorgestellt worden, wie sie nicht ehrenvoller sein konnte, 1516 in dessen Erläuterungen zum griechischen Neuen Testament85. Melanchthons griechisches Gedicht auf Erasmus wurde mit dessen Epigrammen im März 1518 an hervorragender Stelle publiziert86. Dass Melanchthon in seinen Schriften von 1519 Erasmus vor allen anderen rühmte, haben wir gehört. Noch 1520 ließ Erasmus in einem Brief an Oekolampad den Satz drucken: is prorsus obscurabit Erasmum87, Melanchthon werde Erasmus in den Schatten stellen. Je mehr aber Melanchthon von Luthers Theologie lernte, desto weiter entfernte er sich von Erasmus. Aber auch dieser rückte im Mai 1521 öffentlich von Luther und besonders von den radikalen Lutheranern ab88.
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MSA 2/1, 237.1 f. MSA 2/1, 12.31–13.7 . 83 Siehe MBW.T 1, 270. Seither erschien: Philipp Melanchthon, Loci communes 1521. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und mit kommentierenden Anmerkungen versehen von Horst Georg PÖHLMANN (1993). 84 Wilhelm MAURER, Melanchthons Anteil am Streit zwischen Luther und Erasmus: ARG 49 (1958), 89–114 = DERS., Melanchthon-Studien (1964), 137–162. - SCHEIBLE wie Anm. 39. 85 CR 1, CXLVI; Supplementa Melanchthoniana 6/1, 12; dazu SCHEIBLE (wie Anm. 39), 173 f. 86 P. S. ALLEN (Hrsg.), Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, 2 (1910), 319 f Nr. 454. - Supplementa Melanchthoniana 6/1, 20 f Nr. 156. - Stefan RHEIN, Philologie und Dichtung. Melanchthons griechische Gedichte (Edition, Übersetzung und Kommentar), Diss. Phil. Heidelberg 1987, Microfiche-Publikation Heidelberg 1992. 87 ALLEN (wie Anm. 86), 3 (1913), 18 Nr. 605.32–34. 88 ALLEN (wie Anm. 86), 4 (1922), 486–494 Nr. 1202 und 1203. 82
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1522 wurde ein von Melanchthon stammendes »Elogion de Luthero et Erasmo« publiziert, über das sich der große Humanist noch lange ärgerte, denn das angebliche Lob spricht ihm jegliche theologische Bedeutung ab und stellt ihn zu den heidnischen Philosophen, wo er allerdings den höchsten Rang erhält89. Eindeutiger ist das in derselben Druckschrift enthaltene Urteil Luthers: Erasmus verstehe von der Prädestination weniger als die Scholastiker90. Damit war der Streit um die Willensfreiheit unaufhaltsam geworden. Melanchthon konnte ihn nicht verhindern, denn er stand sachlich auf Luthers Seite. Aber er war der Verbindungsmann. Öffentlich hielt er sich ganz zurück. Erasmus schickte sein Buch über den freien Willen nicht unmittelbar an Luther, sondern mit einem freundlichen Begleitschreiben an Melanchthon91. Dieser antwortete unverzüglich am 30. September 1524. Er distanzierte sich und Luther von den Radikalen, den Basler Zwinglianern, die Erasmus zu schaffen machten und auch von den Wittenbergern missbilligt wurden, und versicherte, das Buch sei in Wittenberg mit Gleichmut und Wohlwollen aufgenommen worden; Luther werde ebenso maßvoll antworten92. Nachdem Luther sein Buch vom geknechteten Willen93 publiziert hatte, gab es zwischen Erasmus und Melanchthon mehr als drei Jahre lang keine direkten Kontakte. In dieser Zeit fand Melanchthon seinen eigenen philosophisch-theologischen Standort. Von Luther hat er „das Evangelium“, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gelernt, wogegen Erasmus ein klares Wort zur Rechtfertigungslehre schuldig geblieben sei94. Dass Melanchthon weiterhin Angriffe auf Erasmus missbilligt und dessen Schriften schätzt, gelegentlich auch kritisiert, ist selbstverständlich95. Bemerkenswert ist, dass er die in seinen frühen Vorlesungen und Schriften übliche Abwertung der Willensfreiheit und Betonung der Prädestination aufgibt. Die Verschärfung des Streites durch den »Hyperaspistes«, die Gegenschrift des Erasmus, bedauerte er zutiefst96. Die darin ausgesprochene Unterstellung, er sei an »De servo arbitrio« beteiligt gewesen, wollte er zurückweisen lassen97. Seine eigene Position publizierte er 1527 im Kommentar zum Kolosserbrief98 und 1528 im »Unterricht der Visitatoren«99. 89
CR 20, 699 f, dazu SCHEIBLE (wie Anm. 39), 180 f, bes. Anm. 48. WAB 2, 544.8–10. 91 MBW 341. 92 MBW 344, bes. MBW.T 2, 182.38–44. 93 WA 18, 551–787 = Martin Luther Studienausgabe 3 (1983; 21996), 170–356. 94 MBW 807.5. 95 MBW 693.2, 696.10, 762.3. 96 MBW 597. 97 MBW 664. 98 MSA 4, 209–303. 99 Siehe oben Anm. 12. 90
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Die Frage der Willensfreiheit behandelt Melanchthon im Anschluss an Kol. 1, 15: „Welcher ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“, eine christologische Stelle100. Über Christus kommt Melanchthon zu Gott dem Erhalter und von da zur Frage, ob Gott die Ursache des Bösen und der Sünde ist. Er verneint dies: Gott schenkt und erhält zwar das Leben, aber der Teufel und die Gottlosen gebrauchen es nicht recht. Damit stellt sich die Frage des freien Willens. Der Streit geht hierbei, sagt Melanchthon, nicht um die Wahlfreiheit in äußeren Dingen, sondern um die Rechtfertigung und Heiligung. Aus klaren Zeugnissen der Schrift geht hervor, dass der menschliche Wille nicht die Freiheit hat, die christliche oder geistliche Gerechtigkeit hervorzubringen, denn diese besteht nicht nur in den bürgerlichen Werken, sondern im neuen Leben. Dazu ist der heilige Geist nötig. Aber mit dieser reformatorischen Abgrenzung gegen jede Art von Pelagianismus lässt es Melanchthon jetzt nicht mehr bewenden. Breit führt er aus, wozu der menschliche Wille frei ist. Dazu gehört die bürgerliche Gerechtigkeit, die zweite Tafel des Dekalogs. Auch die heilige Schrift spricht von einer „gewissen Gerechtigkeit des Fleisches“101. Der Mensch kann ohne den heiligen Geist im äußeren Sinne das Gesetz erfüllen; Gott will deshalb, dass die Menschen durch Gesetze und Obrigkeiten regiert werden. Danach geht Melanchthon noch einmal das Theodizeeproblem an. Wenn Gott die ganze Natur erhält und der Mensch bei all seinem bürgerlichen Tun doch sündigt, dann scheint Gott Urheber der Sünde zu sein. Melanchthons Lösung lautet: Gott erhält und lenkt die Natur ihrem Wesen entsprechend, die Bäume anders als das Vieh, und dem Menschen hat er eben eine gewisse Vernunft und Wahlfreiheit gegeben102. Ich denke, dies ist eine gute theologische Aussage. Die Alternative wäre die doppelte Prädestination. Tertium non datur. Melanchthon bildet sich nicht ein, eine rationale Lösung des Theodizeeproblems zu bieten. Er möchte die Allwirksamkeit Gottes als Geheimnis stehen lassen und einfach nach Gottes Willen die Freiheit gebrauchen, um das Fleisch zu zügeln und die von Gott geforderte bürgerliche Gerechtigkeit zu erfüllen. Er stellt abschliessend aber noch einmal klar, dass diese Freiheit sowohl durch die Erbsünde als auch durch den Teufel behindert wird. Deshalb kann nicht einmal die bürgerliche Gerechtigkeit wirklich erfüllt werden, was auch schon die Philosophen bemerkt haben. Gebet um den Beistand Gottes, um geistliche Erkenntnis und Lenkung des Geistes ist also Melanchthons letztes Wort zu dieser Frage103.
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Das folgende nach MSA 4, 221–225. MSA 4, 225.6 f. 102 MSA 4, 224.29–35 . 103 MSA 4, 225.26–30 . 101
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Melanchthon wollte mit seinen Ausführungen im Kolosserkommentar einen Beitrag zum Frieden der Kirche leisten, wie er in der Vorrede bemerkt104. Luther empfahl er, dem Erasmus auf den gerade damals erschienenen zweiten Teil des »Hyperaspistes« nicht mehr zu antworten, das Problem der Willensfreiheit nicht mehr polemisch, sondern darstellend zu behandeln, so wie er es in seinem Kolosserkommentar versucht habe105. Luther hat die deutsche Übersetzung dieses Kommentars 1529 durch eine rühmende Vorrede gebilligt106. Im »Unterricht der Visitatoren« von 1528, einer ebenfalls durch eine Vorrede Luthers autorisierten amtlichen Schrift, hat Melanchthon in dem Kapitel „Vom freien Willen“ geschrieben: „Der Mensch hat aus eigener Kraft einen freien Willen, äußerliche Werke zu tun oder zu lassen, durchs Gesetz und Strafe getrieben. Derhalben vermag er auch weltliche Frömmigkeit und gute Werke zu tun aus eigener Kraft, von Gott dazu gegeben und erhalten. ... Er hat eine Wahl und Freiheit, Böses zu fliehen und Gutes zu tun. Es fordert auch Gott solche äußerliche oder weltliche Gerechtigkeit. ... Doch wird diese Freiheit verhindert [= behindert] durch den Teufel.“ All dies war in des Erasmus Sinn und auch von Luther nie bestritten worden. Doch ist es für Melanchthon nur die eine Seite, die er betonen musste, weil sie in den Hintergrund gedrängt worden war, auch von ihm selbst. Die andere Seite wird dadurch aber nicht in Frage gestellt. Also fährt er fort: „Zum andern kann der Mensch aus eigener Kraft das Herz nicht reinigen und göttliche Gaben wirken, nämlich wahrhaftige Reue über die Sünde, wahrhaftige und nicht erdichtete Furcht Gottes, wahrhaftigen Glauben, herzliche Liebe, Keuschheit, nicht rachgierig sein, wahrhaftige Geduld, sehnliches Bitten, nicht geizig sein etc.“107. Mit dieser Dialektik erweist er sich als echten Schüler Luthers. Sie ist aber so formuliert, dass ihr auch Erasmus zustimmen konnte. Melanchthon hat den Streit über die Willensfreiheit „aufgehoben“. Durch das Augsburger Bekenntnis108 hat diese Lehre offizielle Geltung erlangt. Artikel 18 beginnt: „Vom freien Willen wird also gelehrt, dass der Mensch etlichermaß ein freien Willen hat, äußerlich ehrbar zu leben und zu wählen unter denen Dingen, so die Vernunft begreift; aber ohn Gnad, Hilf und Wirkung des heiligen Geistes vermag der Mensch nicht Gott gefällig zu werden.“ 104
MBW 547. MBW 597. 106 WA 30/2, 64–69; vgl. oben Anm. 6. 107 MSA 1, 252 f. 108 Neueste deutsche Ausgabe von Rudolf Mau in: Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere Theologische Erklärungen. Im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche der Union hrsg. v. Rudolf Mau, Teilband 1 (1997), hier S. 47. 105
1. Gesprächspartner Luthers
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Melanchthon vertrat diese Lehre natürlich auch in der Neubearbeitung der Loci. Manche Lutheraner übten daran Kritik, namentlich Amsdorf109 und Cordatus110, nicht jedoch Luther selbst. Dass er Melanchthons Loci in der ersten Fassung mit ihrer Polemik gegen Aristoteles, Philosophie und freien Willen in seiner Kampfschrift gegen Erasmus zuhöchst lobte111, kann nicht verwundern. Er lobte aber auch die Neubearbeitung von 1535, von der Cordatus schrieb, sie missfiele ihm so sehr, wie sie dem Erasmus gefallen hätte112. In einer Tischrede vom Winter 1542/43 empfahl er den Theologiestudenten zur Lektüre vor allem anderen die Bibel und Melanchthons Loci. „Ihr findet kein Buch unter der Sonnen, da die ganze theologia so fein beieinander ist als in locis communibus. ... Nach der heiligen Schrift gibt es kein besseres Buch als seine Loci“113. Sein Lob galt primär der didaktischen Brauchbarkeit. „Philippus ist enger gespannt denn ich, pugnat et docet; ich bin ein wescher, bin magis rhetoricus“, fährt er fort. Oder ein andermal: „Kürze und Klarheit kann ich nicht so zusammenbringen wie Philippus“114. Dies heißt aber nicht, dass er ihm die inhaltliche Kompetenz, die er selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nahm, abgesprochen hätte, was er bei Erasmus tat. Am 1. August 1537, also in der Zeit der Vorstöße von Cordatus und Schenck, schrieb er mit Kreide auf die Tischplatte: Res et verba Philippus, verba sine re Erasmus, res sine verbis Lutherus, nec res nec verba Carolostadius115. 5. Aristoteles und die Ethik Nicht zuletzt die Erfahrungen der Kirchenvisitation hatten Melanchthon veranlasst, die Fähigkeit und Pflicht des Menschen zu sittlichem Handeln zu betonen und die Unzulänglichkeit all dieses Handelns vor Gott erst als zweiten Punkt auszusprechen. Melanchthon vermied damit das libertinistische Missverständnis der evangelischen Freiheit, dem er selbst durch die frühere Betonung der Prädestination Vorschub geleistet hatte. In dieser Zeit, er befand sich mit seinen Schülern wegen einer in Wittenberg grassierenden Epidemie in Jena, kündigte er im August 1527 eine Vorlesung über die Nikomachische Ethik an116. Nicht dass er Ethik trieb, ist das Erstaunliche, sondern dass er sich jetzt auch an Aristoteles wagte. 109
MBW 11 (2003), 67–69. MBW 11 (2003), 303. 111 WA 18, 601 = Martin Luther Studienausgabe 3 (1983, 21996), 177.24 –178.4 . 112 WAB 7, 543 mit Anm. 19. 113 WATR 5, 204 Nr. 5511. 114 WATR 2, 163 Nr. 1649. 115 WATR 3, 460 Nr. 3619. 116 MBW 580.5. - Heinz SCHEIBLE, Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform (1997): unten Nr. 7, bes. S. 148 ff. 110
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Ethikunterricht war schon in der Studienordnung von 1526 verankert, hier noch durch die Erwähnung Ciceros, dessen Name niemals so belastet war wie der des Aristoteles117. Den systematischen Ort der gesamten Philosophie im Verhältnis zur Theologie hatte er gemeinsam mit Luther schon 1523, dem Jahr seines Rektorats und des Beginns der reformatorischhumanistischen Studienreform, auf der Basis der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium festgelegt118. Die Philosophie ist eine Funktion der Kirche und die Ethik ein Teil des Gesetzes im theologischen Sinn. „Die Verhältnisbestimmung von Moralphilosophie zu Evangelium und Gesetz Gottes ist nützlich und erläutert die Lehrarten. Man muss nämlich den Unterschied von Gesetz und Evangelium beachten und wissen, dass die Ethik der Teil des göttlichen Gesetzes ist, der von den bürgerlichen Sitten handelt,“ heißt es zu Beginn seines Ethik-Kommentars von 1546119. Die Kirche braucht die Philosophie, weil ohne Bildung auch die Frömmigkeit untergeht, wie man aus der Geschichte lernt und wie in der Gegenwart zu befürchten ist. So Melanchthons Vorrede zu Luthers Schrift »an die Ratsherren aller Städte Deutschlands, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen«, vom Juni 1524120. Die Kirche braucht Bildung, nicht nur Grammatik, sondern alle Disziplinen der Philosophischen Fakultät. Denn die Wurzel aller Übel ist eine unwissenschaftliche Theologie: Sie wirft alles durcheinander, erklärt nichts richtig, vermengt, was unterschieden werden muss, und reisst auseinander, was zusammen gehört121. Melanchthon trieb als Theologe Philosophie, nicht etwa als Philosoph Theologie122. Wenn also die Kirche und damit jeder Theologe die Philosophie braucht, dann ist die beste gerade gut genug. Nach Melanchthons Urteil gibt es keine bessere als die des Aristoteles. Alle anderen philosophischen Schulen vertreten irgend etwas Absurdes: die Stoiker Apathie und das Fatum, Epikur Atheismus und Atomismus, die Akademie den Skeptizismus123. Doch ist Melanchthon kein dogmatischer Aristoteliker, sondern vertritt ausdrücklich einen Eklektizismus. In seinen Vorlesungen kommentierte er dessen Schriften zur Ethik, Politik, Physik, publizierte Kommen-
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UUW 1 (1926), 146 f Nr. 148. Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Bildungsprogramm (1986): Forschungsbeiträge (1996), 99-114. 119 CR 16, 277 f. 120 MBW 330. 121 CR 11, 280–282 = MSA 3, 90–93. - Oswald B AYER, „Die Kirche braucht liberale Erudition“. Das Theologieverständnis Melanchthons: Kerygma und Dogma 36 (1990), 218–244. - DERS., Theologie: Handbuch Systematischer Theologie 1 (1994), 127–155. 122 Günter FRANK, Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1995). 123 CR 11, 282 f = MSA 3, 93. 118
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tare und schuf eigene Lehrbücher im Stile eines auf der Höhe der Zeit stehenden Aristotelismus124. Dies alles ist weitgehend bekannt und wird nicht selten als Rückfall in den Humanismus bewertet, wobei meistens offenbleibt, was unter Humanismus zu verstehen ist. Es ist aber kein Rückfall, sondern die wissenschaftlich fortschreitende Entfaltung der Lehre von Gesetz und Evangelium. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass auch Luther sein Urteil über Aristoteles modifiziert hat. Nachdem der Philosoph der Gerechtigkeit aus der Heilslehre verbannt war, mit der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, definitiv nichts mehr zu tun hatte, konnte ihn auch Luther als Philosophen der bürgerlichen Gerechtigkeit, als Wegweiser für das Zusammenleben der Menschen, zu höchst rühmen125. 6. Die Formulierung der Rechtfertigungslehre Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bildet das tragfähige Fundament für den Aufbau nicht nur der Ethik, sondern auch der Rechtfertigungslehre. Melanchthon hat sich damit abgemüht, bis er zu einer ihn (und viele andere) befriedigenden Formulierung gelangte. Luther hat eine zeitweilig geplante Monographie über die Rechtfertigung nicht vollendet126, offenbar weil er mit Melanchthons Arbeit zufrieden war. Der Glaube an die geschenkte Gnade als Rettung aus einer Existenzkrise muss ja nicht Hand in Hand mit der schulmäßigen Formulierung gehen – Gott sei Dank! Bei Luther und Melanchthon lagen mehr als zehn Jahre dazwischen. Was in den Anfangsjahren der Reformation landauf landab als evangelisch gepredigt wurde, war ja sehr verschieden und musste nicht immer mit Luthers Lehre übereinstimmen. Noch gab es keine Lehrnorm, und auch danach war man sich durchaus nicht einig über das, was das Evangelium bewirkt, was unter Rechtfertigung zu verstehen sei. Für Osiander gehörte die Erneuerung des Menschen dazu, und er konnte sich durch frühe Äußerungen Luthers bestätigt fühlen127. Melanchthon schien dabei die Heilsgewissheit zu kurz zu kommen128. Er verstand schließlich die Rechtfertigung im engeren Sinn als Urteil Gottes, forensisch129. Wie sich der reuige
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Peter PETERSEN, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland (1921, Repr. 1964). 125 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon neben Luther (1995): Forschungsbeiträge (1996), 153–170, bes. 165 f. 126 Christian PETERS (wie Anm. 38), 399–421. 127 TRE 25 (1995), 507–515, bes. 511.26–49 (Gottfried SEEBASS). 128 TRE 22, 392.26–39 . 129 Albrecht P ETERS, Rechtfertigung: Handbuch Systematischer Theologie 12 (1984), 74–78.
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Sünder dabei verhält, und was der Gerechtfertigte zu tun hat, musste dennoch definiert werden. Bei seinen Visitationsreisen ab 1527 stieß er auf die Meinung, dass gute Werke überflüssig, ja sogar schädlich seien, da doch die Seligkeit allein durch den Glauben aus Gnade und ohne Werke geschenkt werde130. Der Vorwurf der Katholiken, Luthers Lehre verderbe die Sittlichkeit, war in diesen Fällen nicht unbegründet. Melanchthon ging energisch dagegen vor, indem er den Pfarrern einschärfte, dass ihre Predigt nicht nur die Vergebung der Sünden, sondern als deren Voraussetzung die Buße zu behandeln habe131. Weil im Lukasevangelium (Kapitel 22) Jesus seine Jünger bei der Aussendung beauftragt, Buße und Vergebung der Sünden zu predigen, definierte Melanchthon seit 1524 die Evangeliumspredigt nicht nur als Verkündigung der Vergebung, sondern auch als Bußpredigt132. Dies blieb nicht unkritisiert und wird auch heute nicht immer verstanden, denn man hält die Buße für eine Funktion des Gesetzes133. Nach Melanchthon fordert das Gesetz zwar gutes Handeln, und bis zu einem gewissen Grad kann der Mensch dies tun, aber dass er die Tragweite dieser Forderung erkennt und merkt, dass er sie niemals vollkommen erfüllen kann, dass er darüber erschrickt und Reue empfindet, dies ist ein Werk des Heiligen Geistes, das durch das zugesprochene Wort der Evangeliumspredigt in Gang gesetzt wird. Damit wird gleichzeitig die Vergebung zugesprochen134. In der Buße fügen sich die Forderung des Gesetzes und die durch den Heiligen Geist bewirkte Reue und Vergebung also ineinander. Hier sind das Gesetz in seiner theologischen Funktion und das Evangelium systematisch-theologisch miteinander verknüpft. Das Ringen um eine befriedigende Formulierung der Rechtfertigungslehre lässt sich nirgendwo anschaulicher als an der Entstehung der Apologie der CA studieren. Ich kann dies jetzt nicht vorführen, weil ich noch auf den einzigen Differenzpunkt zwischen Luther und Melanchthon eingehen muss, die Abendmahlslehre, und verweise deshalb auf die Münsteraner Habilitationsschrift von Christian Peters: Apologia Confessionis Augustanae, die soeben im Calwer Verlag Stuttgart erschienen ist, für mich die aufregendste Neuerscheinung dieses Melanchthon-Jubiläumsjahres135. Dass Melanchthon in seiner Apologie die Rechtfertigungslehre mehrmals neu formulierte und dazu sogar fertige Druckbogen austauschen ließ, ist bekannt. Im April 1531 musste er dem Druck zustimmen, weil das 130
CR 9, 39 f = MBW 8101.2. Siehe oben Anm. 12. 132 TRE 22, 392.3–9 . 133 TRE 13 (1984), 87 (Rudolf MAU). 134 TRE 22, 392.11–25 . 135 Siehe oben Anm. 38. 131
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kaiserliche Ultimatum zur Unterwerfung unter den Reichstagsabschied ablief. Er war mit seinem Text aber noch nicht zufrieden und hat daran weitergearbeitet. Luther erhielt natürlich ein Exemplar mit der Bitte um Verbesserungen. Dieses Exemplar mit Luthers Randbemerkungen ist erhalten geblieben und auch in WA 30/3 ediert. Hier kann man ein theologisches Gespräch der beiden auf hohem fachlichen Niveau studieren. Christian Peters hat dies getan. Im September 1531 erschien dann die endgültige Fassung der Apologie, die sogenannte Octav-Ausgabe, mit deren Rechtfertigungslehre Melanchthon zufrieden war. Sie wurde fast 40mal nachgedruckt und 1580 in das Konkordienbuch aufgenommen. 1584 hat man sie im Konkordienbuch durch die zuerst erschienene Fassung vom April 1531 ersetzt, eine formalistische Anwendung der Editio-PrincepsVerehrung. Deshalb steht die von Melanchthon autorisierte Fassung bis zum heutigen Tag nicht in den Bekenntnisschriften, sondern muss in CR 27 aus dem Jahr 1859 nachgelesen werden. In der von der EKU veranlassten Ausgabe »Evangelische Bekenntnisse«, die soeben im Luther-Verlag Bielefeld erschienen ist, hat Christian Peters eine deutsche Übersetzung der Octav-Ausgabe vom September 1531 geliefert136. 7. Das Verständnis des Abendmahls Wir haben bisher überall eine große Übereinstimmung zwischen Luther und Melanchthon, einen magnus consensus137, festgestellt. Nun kommen wir abschließend zur Abendmahlslehre, und hier gilt diese Feststellung nicht. Es ist auch dasjenige Lehrstück, dessen Verständnis bei Melanchthon die größten Wandlungen durchlaufen hat. Religiöse Anliegen und politische Motive scheinen dabei zeitweise eng verwoben zu sein. Probleme mit der scholastischen Transsubstantiationslehre hatte er schon in Tübingen, und ihre Verbindlichkeit stellte er schon 1519 in Zweifel138. Am 29. September, dem Tag der heiligen Engel, den Melanchthon zeitlebens beachtet und auch dichterisch verherrlicht hat139, der 1521 auf einen Sonntag fiel, empfing er mit einigen Schülern in der Stadtkirche das vollständige Abendmahl140. Welcher Priester zur Spendung bereit war, und ob es im Hauptgottesdienst (was ich für wahrscheinlich halte) oder in einer der zahlreichen Privatmessen geschah, ist nicht überliefert. Jedenfalls war dies die erste evangelische Abendmahlsfeier in Wittenberg. Luther befand 136
Wie Anm. 108, S. 99–306. Vgl. Confessio Augustana, Artikel 1. 138 Siehe oben bei Anm. 65. 139 CR 10, 584–586 Nr. 206. In der modernen Fassung von Detlev B LOCK (1985) steht dieser Hymnus auch noch im neuen »Evangelischen Gesangbuch« (Nr. 143). 140 Nikolaus MÜLLER, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522 (1911), 17. 137
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1. Gesprächspartner Luthers
sich damals auf der Wartburg. Melanchthon hat eine seiner Forderungen141 in die Tat umgesetzt. Im Abendmahlsstreit der 1520er Jahre blieb er strikte auf Luthers Seite142. Doch hatte seine theologische Ablehnung der Zwinglianer auch eine politische Komponente. Keinesfalls wollte er mit solchen Reichsfeinden ein Bündnis eingehen143. Seine dogmengeschichtliche Sicherheit, dass die lutherische Abendmahlslehre mit den Kirchenvätern im Einklang stehe, wurde durch den gelehrten Studienfreund Oekolampad, den Basler Reformator und Zwinglianer, erschüttert144. Seine Abneigung gegen die Straßburger konnte der unermüdliche Unionist Martin Bucer beheben145. Mit ihm zusammen arbeitete er die Lehrformel aus, die das lutherische Anliegen der wesentlichen Gegenwart Christi in der Mahlfeier festschrieb, ohne den Glauben an seine Einschließung in Brot und Wein und den Empfang auch durch Ungläubige verbindlich zu machen. Kurz gesagt: cum pane statt in pane. Luther akzeptierte dies 1536 in der Wittenberger Konkordie146, und Melanchthon veränderte dementsprechend 1540 das Augsburger Bekenntnis147. Dennoch konnte Melanchthon danach mit Luther über dieses Thema nicht offen sprechen. Luther hatte zwar durch die Wittenberger Konkordie die von Melanchthon formulierte Lehre von der wirkenden Gegenwart des ganzen Christus bei Brot und Wein in der Abendmahlsfeier als christlich anerkannt. Aber er selbst glaubte weiterhin den Empfang von Leib und Blut Christi nicht nur mit, sondern in diesen Elementen148. Melanchthon war in dieser Frage seltsam befangen, vielleicht weil er in einem langwierigen Prozess seine Position hatte finden müssen, oder weil er die Auseinandersetzung scheute. Er sprach zwar gelegentlich mit Luther und den anderen Wittenberger Theologen darüber149, aber die Frage konnte nicht geklärt werden. Immerhin wurde 1542 in Wittenberg die Elevation abgeschafft150, über die sich der Landgraf bei einem Besuch im Jahre 1538 141
Vom Missbrauch der Messe: WA 8, 477–563. Wilhelm H. NEUSER, Die Abendmahlslehre Melanchthons in ihrer geschichtlichen Entwicklung (1968). - Ralph Walter QUERE, Melanchthon’s Christum cognoscere. Christ’s efficacious presence in the eucharistic theology of Melanchthon (1977). - Ulrich KÜHN, Sakramente: Handbuch Systematischer Theologie 11 (1985). 143 TRE 22, 377.33–36 . 144 Siehe oben Anm. 35. 145 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon und Bucer (1993): Forschungsbeiträge (1996), 245– 269. 146 Siehe oben Anm. 19. 147 MSA 6, 12–79. - Das Augsburger Bekenntnis in der revidierten Fassung des Jahres 1540 (Confessio Augustana Variata), hrsg. v. Wilhelm H. NEUSER (1990). 148 Zuletzt in: Evangelische Bekenntnisse (wie Anm. 108), 307–338. 149 MBW 2009.4. 150 MBW 2996. 142
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gewundert hatte151. Anderen Reformatoren, namentlich Amsdorf in Magdeburg und Osiander in Nürnberg, gefiel die Konkordie überhaupt nicht152. Sie gehörten auch nicht zu den Unterzeichnern. Melanchthon vermied jede Diskussion mit ihnen. Als er 1543 in Bonn war, beantwortete Luther eine Anfrage italienischer Protestanten nach dem Abendmahlsverständnis153. Melanchthon hätte dies lieber selbst im Sinne der Konkordie getan, da er Luthers Meinung hierüber missbilligte. In Frankreich würden Verfolgungen von Evangelischen mit der Berufung auf Luther gedeckt, und in Wittenberg spreche man gelegentlich über die von Bucer geprägten Gemeinden nicht besser als über die Türken, schrieb er an seinen Nürnberger Freund Veit Dietrich, mit dessen Ansicht er aber auch nicht zufrieden war154. Am 31. August 1543, Melanchthon war gerade aus Bonn zurückgekehrt, schrieb Luther an den Zürcher Verleger Christoph Froschauer einen Brief, worin er den Dank für die zugesandte Bibelausgabe mit Polemik gegen die Schweizer Theologen verband155. Der Skandal zog Kreise. Melanchthon suchte die Wogen zu glätten. An Bucer schrieb er am 4. November, er bemühe sich um ein gutes Verhältnis zu den Oberdeutschen und Schweizern; Luthers übliche Grobheit solle man mit Schweigen übergehen156. Neuen Ärger gab es im Januar 1544 durch einen Brief Bucers an Landgraf Philipp von Hessen, worin der Straßburger im Hinblick auf den bevorstehenden Reichstag eine umfassende Beurteilung der Lage gab und dabei Luthers Polemik gegen Georg von Sachsen, Albrecht von Mainz und Heinrich von Wolfenbüttel kritisierte. Luther sei darüber so zornig geworden, berichtet Melanchthon, dass er, wäre er beim Reichstag gewesen, von dort nicht zurückgekehrt wäre. Trotzdem verfasste er eine Erwiderung, die Luther billigte157. Man darf nicht übersehen, dass all die Spannungen zwischen den beiden großen Wittenbergern, von denen hier zu berichten ist, nur durch eine ungewöhnlich gute Quellenlage der Nachwelt bekannt geworden sind. Ihre fruchtbare Zusammenarbeit wurde dadurch nicht beeinträchtigt. Dies gilt auch für das einzige Ereignis, bei dem die sachliche und persönliche Harmonie der beiden ernstlich gefährdet schien. Im Juli 1544 hat Luthers Freund Amsdorf, der als evangelischer Bischof von Naumburg in Zeitz residierte, die von Bucer und Melanchthon verfasste „Kölner Reformation“ 151
MBW 2009.6 f. MBW 2009.2 f. 153 WAB 10, 328–333 Nr. 3885. 154 MBW 3312.2. 155 WAB 10, 384–388 Nr. 3908. 156 MBW 3364.1. 157 MBW 3435.2. 152
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– seit Anfang November 1543 lag sie gedruckt vor158 – einer scharfen Kritik unterzogen. Luther hatte sie anscheinend bis dahin nicht gelesen. Nun aber erschreckte er den völlig überraschten Melanchthon am 4. August durch eine Beschimpfung Bucers: „Es ist ein Kleppermaul, gehet mir mit den conciliationibus umb. Aber er soll bei mir aus concilirt haben. Er soll mir mit seinen scriptis nit mehr unter die Augen kommen. Ich will ihn pro damnato halten“159. Luther arbeitete damals an einem Buch über das Abendmahl. Melanchthon hatte nicht die Freiheit, sich mit Luther offen auszusprechen, sondern meldete seine Sorgen und Befürchtungen seinen auswärtigen Freunden und sondierte die Möglichkeit, eine andere Stelle anzunehmen. Vermutlich war dies ein bewusst eingesetztes Druckmittel, denn dass der kursächsische Hof seinen fleißigsten Professor nicht einfach ziehen lassen würde, dürfte ihm klar gewesen sein. Die Sache verlief ziemlich im Sande. Als Luthers »Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament wider die Schwärmer«160 Ende September erschien, zeigte sich, dass darin weder Melanchthon noch Bucer angegriffen wurden, sondern nur die Schweizer, die ja der Abendmahlskonkordie nicht zugestimmt hatten. Die Erneuerung des Abendmahlsstreites, nun mit Calvin, durch Ultralutheraner wie Joachim Westphal in der 1550er Jahren hat Melanchthon missbilligt161 und sich für die Duldung von Glaubensflüchtlingen eingesetzt162. 1559 hat er durch sein Gutachten zum Heidelberger Abendmahlsstreit163 die Entwicklung der Kurpfalz zur reformierten Theologie eingeleitet164. Doch dies war lange nach Luthers Tod, gehört also nicht zu unserem Thema.
IV. Die kulturgeschichtliche Dimension Die Nachwirkung der beiden Reformatoren, die historische Bedeutung ihrer Zusammenarbeit und die unterschiedlichen Urteile der Nachwelt hierüber, kurzum das, was ich als IV. Kapitel die kulturgeschichtliche 158
Moderne Ausgabe: Hermann von W IED, Einfältiges Bedenken, hrsg. v. Helmut GERHARDS und Wilfried B ORTH (1972). - Kritische Ausgabe: Martin Bucers Deutsche Schriften 11/1 (1999), 147–432. 159 Wie Anm. 145, S. 265 f. 160 Wie Anm. 20. 161 MBW 7466.3, 7489, 7883.2, 8332. 162 MBW 8021–8023, 8271, 8447–8449. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Sorge um die Diaspora (1997): unten Nr. 10. 163 MBW 9119. 164 Heinz SCHEIBLE, Reformation und Calvinismus. In: Kurpfalz, hrsg. v. Alexander Schweickert (1997), 177–192.
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Dimension nenne, würde einen besonderen Vortrag erfordern. Ich möchte nur abschließend zum Ausdruck bringen, dass ich persönlich die Begegnung dieser beiden Koryphäen des Geistes und der Religion für einen Glücksfall der abendländischen Geschichte halte. Ihr gemeinsames Werk hatte genügend religiöse Substanz, um nicht in flachen Bildungsoptimismus zu versanden. Die Dialektik von Gesetz und Evangelium ließ aber allen kulturellen Werten als schöpfungsgemäße Ordnungen ihren Raum und verhinderte das Entstehen eines schwärmerischen Reich-GottesFundamentalismus.
Melanchthons Werdegang Endlich raus aus dieser Tretmühle! Der Tübinger Dozent Philipp Melanchthon wollte nicht länger dummen Knaben lateinische Grammatik oder die Grundlagen eines einigermaßen geordneten Denkens beibringen und aufpassen, dass sie im Schülerheim nicht randalierten. Das war gewiß nicht alles, was ihm Tübingen abverlangte und in gut fünf Jahren geboten hatte. Aber der 21-jährige stand am Ende einer Entwicklung. Als sich die Möglichkeit eines Wechsels bot, ließ er die bisherige Arbeit entschlossen hinter sich. Es sollte ein Aufbruch in ungeahnte Gefilde werden. Der Ruf auf die Professur im fernen Wittenberg, dem er im Sommer 1518 so bereitwillig folgte, brachte ihm eine Fülle von Pflichten, denen er sich nie mehr entziehen konnte und auch nicht wollte, obwohl er sich zuweilen wie der an den Felsen geschmiedete Prometheus fühlte. Doch hatte der nicht den Menschen das Feuer und damit die Kultur gebracht? Den Vergleich mit dem Titanen nahm er, kaum ausgesprochen, wieder halb zurück: er sei eher ein Epimetheus, kein Vordenker, sondern ein bedächtiger Nachdenker. Die Fesselung sollte durch den Vergleich ausgedrückt werden. Melanchthon hätte die Wittenberger Fesseln loswerden können, grundsätzlich fast immer und gewiß in einigen bestimmten Situationen, als er ähnliche Angebote hatte wie damals 1518 in Tübingen. Doch er blieb in Wittenberg, entlief nicht den gestellten Aufgaben, so zäh und bedrückend sie zuweilen sein mochten. Diese Aufgaben hingen alle mit der von Luther angestoßenen Reform der Frömmigkeit und Kirche zusammen, auch wenn sie Universität und Bildung betrafen. Was Melanchthon hier geschaffen hat, sichert ihm seinen Rang in der abendländischen Geschichte. Er gehört zu den maßgebenden Baumeistern jener eigentümlichen Kultur, die griechisch-römisches und biblisch-christliches Erbe zu einer organischen Einheit verband. Ihre Synthese von Glauben und Wissen war niemals unangefochten, aber ihre Wirkung reichte bis ins 20. Jahrhundert hinein, und vielleicht leben wir noch mehr davon, als uns bewußt ist. Zwei Drittel seiner Lebenszeit wohnte und wirkte Melanchthon in Wittenberg. Dort hat er die abschließende Prägung seines Denkens und Wollens erfahren, vermittelt durch die Begegnung mit Luther. Dort hat er Tausenden von Studenten das geistige und religiöse Rüstzeug für ihr
2. Melanchthons Werdegang
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Leben gegeben und diese Lehren in vielen Büchern festgehalten. Von dort aus reiste er zu Konferenzen und Visitationen, zu Reichstagen und Religionsgesprächen. Herangewachsen ist er aber im Südwesten Deutschlands, in der Kurpfalz, im badischen Pforzheim und im württembergischen Tübingen. Hier erwarb er den Grundstock seines großen Wissens, und schon hier wurde der christliche Humanismus die Zielrichtung seines Lebens. Der Umgang mit Reuchlin und die Schriften des Erasmus von Rotterdam waren dabei wegweisend.
Bretten Am Marktplatz in Bretten, den der Fernverkehr von Speyer nach Ulm, vom Oberrhein zur Donau durchzog, stand das Haus des Kaufmanns und zeitweiligen Schultheißen Johannes Reuter. Er stammte wohl nicht aus Bretten; sein Name ist dort nicht einheimisch. Wenn er dennoch ein stattliches Haus in bester Lage erwerben konnte, so dürfte er dies seiner Frau verdankt haben, die vermutlich der Brettener Ehrbarkeit angehörte. Die Schwester des Pforzheimer Humanisten Reuchlin war sie jedenfalls nicht, sondern mit dieser, die anscheinend in Speyer verheiratet war, verschwägert. In der Reichsstadt Speyer feierten Reuters 1493 die Hochzeit ihrer 16jährigen Tochter Barbara mit dem mindestens doppelt so alten Georg Schwartzerdt. Kurfürst Philipp der Aufrichtige von der Pfalz hatte die einzige Tochter seines Brettener Schultheißen mit seinem fähigsten Waffentechniker zusammengebracht. Georg war der zweite Sohn des Schmiedes Nikolaus, der in Heidelberg in der Burgfreiheit wohnte. Sein Bruder Johann wurde kurfürstlicher Büchsenmeister, später Zeugmeister. Der handwerklich hochbegabte Georg wurde im oberpfälzischen Amberg in der Kunst, Geschütze zu gießen und auch abzufeuern, ausgebildet. In der Reichsstadt Nürnberg, der Metropole der kunsthandwerklichen Metallverarbeitung, lernte er das Plattnerhandwerk. Seine maßgefertigten, leichten und doch festen Harnische waren begehrt. Kaiser Maximilian bestand seinen berühmten Zweikampf auf dem Wormser Reichstag 1495 in einem solchen Meisterstück des Kurpfälzers. Nach vierjähriger Ehe wurde im Hause der Großeltern am 16. Februar 1497 das erste Kind geboren. Es erhielt den Namen des Landesherrn Philipp. Seine erste überlieferte Erinnerung zeigt uns den Sechsjährigen mit seinem Vater in Heidelberg. Es war der Tag, an dem Johann von Dalberg plötzlich starb. Den Namen dieses Bischofs und Heidelberger Kanzlers vergaß Philipp nie mehr. Im Jahr danach brach der Landshuter Erbfolgekrieg über die Kurpfalz herein. Bretten wurde zwei Wochen lang
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von Herzog Ulrich von Württemberg belagert und heftig beschossen. Die Befreiung wird noch heute jedes Jahr gefeiert. Melanchthons Großvater, einer der beiden reichsten Bürger Brettens, konnte eine Revolte der Verteidiger durch Vorschuß auf den Sold dämpfen. In einem anderen Fall wurde von aufgebrachten Soldaten sein Leben bedroht. Der siebeneinhalbjährige Philipp hat dies offenbar sehr bewußt miterlebt. Zudem kehrte sein Vater, der mit seinen Geschützen gegen die hessischen Angreifer kämpfen musste, krank zurück. Die Jahre seines Siechtums brachten ihn seinem Ältesten als einen ernsten Mann von tiefer Frömmigkeit nahe. Melanchthon erlebte früh, welches Leid ein Krieg über die Menschen bringt. Sein lebenslanger Einsatz für die friedliche Beilegung von Konflikten dürfte hierin wurzeln. Nach dem Krieg bekam Philipp einen Hauslehrer, Johannes Unger aus Pforzheim, der ihm mit Liebe und Strenge den sicheren Gebrauch der lateinischen Sprache beibrachte. Zum Unterrichtsstoff gehörte ein zeitgenössischer Dichter, der Karmelitermönch Baptista Mantuanus, dessen christlich-humanistische Eklogen auch in Deutschland gedruckt wurden. Der Großvater sorgte dafür, dass sein begabtester Enkel mit fahrenden Scholaren disputieren durfte, und ergötzte sich an deren Staunen über den kleinen Lateiner. Die Lateinschule besuchte Philipp nur noch ein Jahr lang. Dann konnte er ein ordentliches Studium aufnehmen.
Pforzheim Der Anlaß zum Wechsel des Lehrers war aber traurig und beendete Philipps Kindheit. Im Oktober 1508 starb der Großvater Reuter, und auch der Vater fühlte sein Ende nahe. Er richtete letzte Ermahnungen an seinen Sohn und ließ ihn zu Verwandten nach Speyer bringen. „Weinend verließ ich zum ersten Mal meine Heimat.“ Das kam noch nach Jahrzehnten wieder hoch. Denn mit den männlichen Bezugspersonen seiner Kindheit verlor er auch die Mutter, die – eine Frau von etwa dreißig Jahren – mit ihren drei kleinen Töchtern in Bretten blieb und wohl bald nach Ablauf des Trauerjahrs eine neue Ehe einging. Philipp, sein Bruder Georg und ihrer Mutter jüngster Bruder Johann Philipp Reuter wurden Reuchlins Schwester Elisabeth anvertraut. Sie war als junge Witwe aus Speyer in die Heimatstadt Pforzheim zurückgekehrt, wo ihre Kinder offenbar der großen Epidemie um die Jahrhundertwende zum Opfer gefallen waren. Nun schenkte sie ihre ganze Mütterlichkeit den Brettener Lateinschülern. Noch der alte Melanchthon erzählte gern, wie wohl er sich bei ihr gefühlt hat. Empfänglich war er auch für die Schönheit der Landschaft mit ihren fruchtbaren Hügeln im Norden, dem Schwarzwald im Süden und mit den drei fisch-
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reichen Flüssen. Unvergeßlich blieb ihm, dass in der Enz Äschen, in der Nagold Goldbrassen schwammen. Dies waren die angenehmen Umstände einer intensiven Ausbildung in lateinischer Stilkunst und in griechischer Grammatik. Unter der Leitung des Georg Simler, der von Johannes Hiltebrant aus Schwetzingen unterstützt wurde, gehörte die Pforzheimer Schule zu den besten weit und breit. Der aus Wimpfen stammende Rektor hatte in Leipzig, Köln und Heidelberg eine umfassende scholastische und humanistische Ausbildung genossen. Auch der Theologie galten seine Studien und Publikationen. Dass man bei ihm Griechisch lernen konnte, war damals noch nicht alltäglich. Zu Reuchlin hatte er enge Verbindungen, die in Heidelberg geknüpft worden waren. Er half beim Druck von Reuchlins hebräischem Lebenswerk. Bei demselben Pforzheimer Drucker Thomas Anshelm ließ er im September 1507 einen philologischen Kommentar zu Reuchlins religionskritischer Komödie »Sergius« erscheinen, der schon im April 1508 nachgedruckt werden musste. Das war also ganz neu, als Philipp Schwartzerdt in Simlers Schule eintrat. Hier traf er auf eine beachtliche Zahl von Mitschülern, die durch ihre späteren Leistungen noch heute bekannt sind. Mit den meisten blieb er ein Leben lang in Verbindung. Sein engster Freund wurde Simon Grynaeus aus Veringen auf der Alb, der als Editor griechischer Werke mathematischnaturwissenschaftlichen Inhalts eine unerreichte Meisterschaft erwarb. Nach Studien in Wien wirkte er in Buda, wo er als „Lutheraner“ verhaftet wurde, aber fliehen konnte; Melanchthon nahm ihn in Wittenberg auf. Professor wurde er 1524 in Heidelberg und 1529 in Basel; hier lehrte er auch reformierte Theologie und gehörte dennoch zum engsten Freundeskreis des Erasmus, schon in dessen Freiburger Zeit. Melanchthon trauerte sehr um ihn, als er 1541 einer Epidemie erlag. Aus Ettlingen kamen gleich drei: Franciscus Irenicus, der als 23jähriger einen dicken Wälzer über die deutsche Geschichte und Kulturgeographie publizierte, als Prediger und Rektor der Lateinschule in Gemmingen aber literarisch verstummte. Matthias Erb wirkte als evangelischer Pfarrer in der Schweiz und im Oberelsaß, hier am längsten im württembergischen Reichenweier. Caspar Hedio trat früh in den Kreis der Straßburger Reformatoren ein und war auch ein fleißiger Editor, Übersetzer und Fortsetzer historischer Werke. Dadurch wie durch seine maßvolle kirchliche Einstellung blieb er Melanchthon zeitlebens eng verbunden. Berthold Haller aus Aldingen bei Rottweil und Caspar Megander aus Zürich fanden wie zunächst auch Erb ihre berufliche Betätigung in der Schweiz. Alle diese durchweg etwas älteren Mitschüler wurden von dem Brettener intellektuell überragt, der sich alsbald zum Mentor der Anfänger aufschwang. Dass er von dem großen Reuchlin, der damals als Dichter,
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Hebraist und Richter des Schwäbischen Bundes unangefochten auf dem Gipfel seines Ruhmes stand, beachtet und in einzigartiger Weise ausgezeichnet wurde, verdankte er gewiss nicht nur der entfernten Verwandtschaft und dem Wohnen bei der Schwester, sondern seiner herausragenden Leistung. Reuchlin regte ihn zum Abfassen lateinischer Verse an, und als diese schnell und zu seiner Zufriedenheit verfertigt waren, ehrte er den Zwölfjährigen am 15. März 1509 durch die feierliche Verleihung des Humanistennamens „Melanchthon“, verbunden mit dem Geschenk der 1480 in Mailand erschienenen griechischen Grammatik des Konstantin Laskaris. Das Buch mit Reuchlins eigenhändiger Widmung ist noch heute in Uppsala vorhanden. Auch ein lateinisches Lexikon, wahrscheinlich den vom jungen Reuchlin zusammengestellten »Vocabularius breviloquus«, erhielt Philipp als Geschenk, desgleichen eine lateinische Bibel, die er sein Leben lang benutzte. Als Dank für die namengebende Zueignung der griechischen Grammatik führten Melanchthon und seine Freunde eine Komödie Reuchlins auf, als dieser mit den Stiftsherren von St. Michael in Pforzheim ein Gastmahl feierte. Ein Augenzeuge der Namengebung am 15. März 1509 war Nikolaus Gerbel. Er stammte aus Pforzheim, leitete hier eine kurze Zeit die Lateinschule und fand seinen Lebensberuf als Kirchenjurist in Straßburg. Sein Herz gehörte aber den griechischen Studien. Hier leistete er Bedeutendes. Sein Lebenswerk ist eine Landesbeschreibung Griechenlands. Mit Melanchthon blieb er bis zum Tode freundschaftlich verbunden. Solche frühen Freundschaften sind deshalb bemerkenswert, weil sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl bewirken, das im Emotionalen verankert ist und daher in den Wirren des Lebenskampfes Brücken zu schlagen vermag, wo der Intellekt nur Abgründe sieht.
Heidelberg Kein Jahr blieb Philipp in Pforzheim. Unter dem 14. Oktober 1509 steht er in der Heidelberger Matrikel. Schon am 10. Juni 1511 erwarb er den Grad des Baccalaureus artium. Sein Studium bewältigte er also in der kürzest möglichen Zeit, ein Beweis nicht nur für seine hohe Begabung, sondern auch für die sorgfältige Vorbereitung, die ihm die Pforzheimer Schule geboten hatte. Was wir über seine Heidelberger Zeit erfahren, hat denn auch wenig mit seinem Regelstudium zu tun. Er fand die Muße, sich mit dem zu befassen, was wir heute etwas pauschal den Humanismus nennen. Er stieg auf den Gipfel des Heiligenbergs und entzifferte im Benediktinerkloster alte In-
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schriften, die er für antik hielt, und vielleicht täuschte er sich nicht, denn die Michaelsbasilika war über einem Merkurtempel erbaut worden. Zum „Humanismus“ gehören „Humanisten“. Dieses Wort ist viel älter als das Abstraktum, das erst im 19. Jahrhundert gebildet wurde. Die Gemeinschaft der Gleichgesinnten, die sich im Streben nach einer gereinigten Sprache zum Studium der klassischen Antike, allmählich auch ihrer drei Sprachen, zusammenfanden, gehört konstitutiv zur humanistischen Bewegung. Solche Zirkel konnten sich um den Leiter einer Lateinschule bilden, es konnten Dozenten und Studenten einer Universität sein, die sich neben dem traditionellen Studiengang zur Lektüre klassischer Texte trafen und sich in eigenen Dichtungen versuchten. Die besonders angesehenen Humanisten vereinigten sich in den von Konrad Celtis angeregten „Sodalitates“. In Heidelberg gab Rudolf Agricola einen Anstoß, der fortwirkte bis in Melanchthons Studienzeit. Der Friese hat die meiste Zeit seines Lebens in Italien zugebracht. Dort lernte ihn Johann von Dalberg kennen, der – Bischof von Worms und kurfürstlicher Kanzler in Heidelberg geworden – ihn nach Heidelberg einlud. Agricola kam tatsächlich, lehrte auch, aber nur einige Monate. 1485 ist er gestorben, 41 Jahre alt. Der Kreis um Dalberg blieb am Leben, wohlwollend gefördert von Kurfürst Philipp. Celtis war zweimal kurz hier, wovon Melanchthon freilich nichts wusste. Für ihn bildeten die zwei Jahre, die Reuchlin im Heidelberger Exil lebte, das Bindeglied zu Agricola. In seiner späteren Erinnerung – er hat oft und gern über den Heidelberger Humanistenkreis gesprochen – rückten die beiden zusammen. Melanchthon vermittelt den Eindruck eines Musenhofes, an dem Agricola und Reuchlin gemeinsam die humanistischen Studien betrieben und lehrten. Zu diesen Studien gehört für ihn auch die Geschichte. Darin ist er Reuchlins Schüler, von dem er gewiss manches über den Dalbergkreis gehört hat. So dürfte die Nachricht, auf Wunsch des Kurfürsten sei damals ein Geschichtswerk verfasst worden, nicht aus der Luft gegriffen sein, obwohl bisher keine Spur davon gefunden wurde. Reuchlin war nicht sein einziger Gewährsmann. Schon dem Sechsjährigen war der Name Dalberg in unvergesslich schrecklicher Weise begegnet. Sein Lehrer Simler war aus Heidelberg nach Pforzheim gekommen. Nun wohnte der Heidelberger Student bei einem Professor, der selbst dem Dalbergkreis angehört hatte, bei Pallas Spangel, dem ständigen Dekan der theologischen Fakultät. Der Dichter Adam Werner von Themar lehrte damals Jurisprudenz; mit ihm ist Melanchthon nicht näher bekannt geworden. Mit Johann Wacker aus Sinsheim jedoch, der als Humanist „Vigilius“ genannt wurde, einem guten Freund Reuchlins, blieb Melanchthon auch später noch in respektvoller Verbindung, als der Heidelberger Rechtsprofessor als Domherr und Vertreter des Bischofs in Worms lebte. Der kur-
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fürstliche Rat Dietrich von Plieningen, als „Plinius“ des Dalbergkreises von Melanchthon unermüdlich gerühmt, war schon 1499 in bayerische Dienste getreten. Den Rufacher Jodocus Gallus, der Pfarrer von Neckarsteinach geworden war und 1510 als bischöflicher Rat und Stiftsherr nach Speyer ging, konnte er gesehen haben; jedenfalls wusste er, dass Erasmus dort bei ihm einkehrte. Mehr als diesen legendären Gestalten, die er als Symbole mit seinen Ideen besetzte, verdankte Melanchthon dem großen Wimpfeling, und gerade über ihn schweigt er sich später aus, ehrt ihn nicht durch eine Declamatio wie Agricola und Reuchlin. Zwar lebte Wimpfeling damals in Straßburg. Aber wenn er nach Heidelberg kam, kehrte er bei Pallas Spangel ein, schlief im gleichen Haus wie der kleine Philipp. Dessen erste Publikationen erschienen in Büchern Wimpfelings. Noch keine dreizehn Jahre alt, schrieb Philipp eine Empfehlung der Verteidigung der scholastischen und neueren Theologie, die Wimpfeling als Replik auf seinen Freiburger Gegner Jakob Locher verbreitete. Er bediente sich des elegischen Versmaßes, und ein wörtlicher Anklang an Properz markiert das literarische Niveau. Vorbilder zitieren galt ja mehr als Originalität um jeden Preis. Wimpfeling gönnte dem Gedicht einen Platz im Anhang seines Büchleins. Am 16. März 1510 starb der Straßburger Münsterprediger Johann Geiler von Kaysersberg. Wimpfeling brachte rasch seine Biographie zum Druck; unter den beigegebenen Trauergedichten finden wir auch eines von Melanchthon. Was er von Wimpfelings Reformpädagogik übernommen hat, lässt sich deshalb schwer bestimmen, weil diese brauchbare Lehrweise Allgemeingut wurde, von Philipp gewiss schon durch Simler aufgenommen, so dass hier das große Aha-Erlebnis ausbleiben musste. Ein solches Erlebnis vermittelte ihm nicht einmal Erasmus, dessen Hauptwerke während Melanchthons Studienzeit erschienen und erkennbar rezipiert wurden, wohl aber die 1515 gedruckte Dialektik Agricolas und ganz besonders dann in Wittenberg Luthers Art, Theologie zu treiben. Von seinen Heidelberger Lehrern wird in den frühen Biographien Peter Günther aus Neustadt (Weinstraße) genannt, bei dem er Rhetorik lernte. Er war ein entschiedener Parteigänger Wimpfelings, wurde Rechtsprofessor, starb aber schon 1517. Sein Lehrbuch der Rhetorik wurde 1558 in Straßburg gedruckt. Melanchthon selbst erwähnt später nur zwei, die beide seltsam unbekannt geblieben sind. Der Mediziner Sorbillo sei ein ausgezeichneter Gräzist gewesen, der in dieser Sprache auch dichten konnte. Wir finden ihn nur unter den Beiträgern von Wimpfelings KaysersbergGedenkschrift. Noch weniger fassbar ist ein Cunradus Helvetius, bei dem er in Heidelberg die Anfangsgründe der Astronomie gelernt habe. Dieser Konrad sei Absolvent der Kölner Universität und ein Schüler des
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Humanisten Johannes Caesarius gewesen, den er deshalb dankbar als seinen eigenen Lehrer betrachte. So berichtet er 1543 in seiner Schrift gegen den Kölner Klerus. Caesarius ist der Verfasser eines sehr verbreiteten Lehrbuchs der Dialektik, dem Melanchthon auch dann noch seine Anerkennung nicht versagte, als er mit einem eigenen Werk sein Konkurrent geworden war. In Bonn lernte er 1543 den etwa 75-jährigen Caesarius persönlich kennen. Wie in Pforzheim gab es auch in Heidelberg einige Kommilitonen, mit denen im späteren Berufsleben eine freundliche Beziehung erhalten blieb oder reaktiviert werden konnte. Kurz vor dem Brettener war Hartmann Hartmanni aus Eppingen gekommen. Beim Regensburger Religionsgespräch 1541 sah man sich wieder; Hartmann war Kanzler des Pfalzgrafen Friedrich. Später suchte sein gleichnamiger Sohn, ebenfalls Jurist in kurpfälzischen Diensten, Melanchthon in Wittenberg auf, um sich weiterhelfen zu lassen. Der Straßburger Patrizier Peter Sturm von Sturmeck war fast gleichzeitig mit Philipp nach Heidelberg gekommen. Der Biograph Camerarius nennt ihn als einzigen der Heidelberger Freunde mit Namen. Vielleicht ist diese Studienfreundschaft der Grund, warum Melanchthon später zu Peters Bruder, dem einflussreichen Stättmeister Jakob Sturm – ebenfalls ein Schüler Wimpfelings! – so gute Beziehungen hatte. Ein Jahr nach Melanchthon kam Theobald Gerlach aus dem kurpfälzischen Billigheim zum Studium. Noch viele Jahre danach bezeichnet er ihn als seinen einzigen wirklichen Freund in Heidelberg, der viel begabter sei als er. In den 1520er Jahren, als Billican für die Reformation in Nördlingen predigte, standen die beiden in Briefwechsel. Später trat eine Entfremdung ein. Lebenslange Kollegialität verband ihn mit dem Heilbronner Erhard Schnepf, der als einer der Reformatoren Württembergs noch heute bekannt ist. Er studierte seit Dezember 1511 in Heidelberg. Deutlich älter war Johannes Lachmann aus Heilbronn; als Melanchthon nach Heidelberg kam, war er schon Magister. Vielleicht hörte Philipp seine humanistischen Vorlesungen. Jedenfalls lieferte auch er einen Beitrag zu Wimpfelings Kaysersberg-Buch. Lachmann wurde Prediger und dann Reformator in seiner Heimatstadt. Als Melanchthon nach vielen Jahren, 1529, in einer dringenden theologischen Angelegenheit einen ersten Brief an ihn richtete, konnte er auch ihn als Freund ansprechen. Ebenfalls älter war der aus Pforzheim stammende Mönch Johann Schwebel, der im Juli 1511 in Heidelberg zu studieren begann. Melanchthon lernte ihn erst hier kennen. Sie blieben in freundschaftlichem Briefwechsel, bis Schwebel 1540 als Reformator des Herzogtums Zweibrücken starb. Eine besonders enge Freundschaft entstand mit dem zwei Jahre jüngeren Johannes Brenz aus Weil der Stadt, der noch gar nicht studierte, sondern 1510 einige Monate in Heidelberg zur Schule ging. Brenz wurde der einflussreichste Reformator
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lutherischer Prägung in Südwestdeutschland. Von einem anderen, der später die Reformationsgeschichte maßgeblich mitbestimmen sollte und bis zu seinem Tod im Exil in England mit Melanchthon freundschaftlich verbunden blieb, scheint dieser damals noch keine Notiz genommen zu haben: Wenige Monate, bevor er Heidelberg verließ, wurde der Dominikanermönch Martin Bucer von Straßburg nach Heidelberg versetzt. Bucer erinnerte sich gut an den begabten Baccalaureus; doch blieb die Bekanntschaft damals noch einseitig. Melanchthon spielte, so jung er war, auch schon den Betreuer adliger Studenten, der Grafen Ludwig und Friedrich von Löwenstein. Deren Vater Ludwig, Sohn des Kurfürsten Friedrich des Siegreichen, hatte mit Melanchthons Vater im Kriegsdienst Kaiser Maximilians gestanden. Es wird auch berichtet, dass Philipp schon damals in der Lage war, Reden zu verfassen, die dann von den Professoren vorgetragen wurden. Später hat er dies in großem Stil getan.
Tübingen Den Magister hat er in Heidelberg nicht gemacht. Die Bewerbung des 15jährigen sei wegen seiner Jugend zurückgewiesen worden, berichten die frühen Biographen. Am 17. September 1512 wird er in Tübingen eingeschrieben. Ein Grund für den Wechsel sei auch das Heidelberger Klima gewesen. Da sein Gastgeber Spangel am 17. Juli 1512 gestorben war, hielt ihn offenbar nichts mehr dort. Am 11. Dezember wurde sein Heidelberger Baccalaureat in Tübingen anerkannt. Ein Jahr später, am 25. Januar 1514, erwarb er hier den Magistergrad; da war er noch nicht siebzehn, was nicht ganz ungewöhnlich ist in jener Zeit. Den Wechsel des Studienortes verband er mit einem Wechsel der Fachrichtung. In Heidelberg hatte er seine Baccalaureatsprüfung in der via antiqua abgelegt; den Tübinger Magistergrad erwarb er in via moderna. Da an beiden Universitäten beide Wege angeboten wurden, war dies eine bewusste Entscheidung. Grundsätzlich ging es bei dem Wegestreit um den Realitätsgehalt der Allgemeinbegriffe. Für die Prüfung waren ganz verschiedene Lehrbücher mit unterschiedlichen Argumentationsweisen vorgeschrieben. Von Melanchthon wird berichtet, dass er schon in seiner Heidelberger Zeit die schwierigsten Probleme der scholastischen Logik virtuos bewältigte. Es war ihm offenbar nicht genug, sich in dem einen System sicher bewegen zu können; er lernte auch noch das andere. Seine philosophische Überzeugung blieb dann lebenslang der Nominalismus, die via moderna. Die Begriffe waren für ihn nichts Reales, wie die via antiqua lehrte, sondern reine Vorstellungen. Die platonische Ideenlehre inter-
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pretierte er als eine dichterisch überhöhte Rede von den Begriffen in den Köpfen der Menschen. Mit seinen beiden Prüfungen konnte er sich rühmen, die Scholastik gründlich studiert zu haben. Danach hörte er auch Theologie. Erinnernswert war ihm davon, wie der Professor Jakob Lemp die Transsubstantiationslehre an die Wandtafel malte. Darüber konnte er nur spotten. Aus frischer Erfahrung nennt er Lemp einen Oberschwätzer. Positiv würdigte er den Theologen Wendelin Steinbach: er sei ein fleißiger Leser der Heiligen Schrift und des Kirchenvaters Augustin gewesen, habe viele Irrtümer der Scholastiker Thomas von Aquin und Duns Scotus erkannt und die Gnadenlehre rein vertreten. An Johannes Kreß, den Dekan seiner Magisterpromotion, erinnerte er später mehrfach als einen der ersten Märtyrer der Reformation; er war Doktor der Theologie und Stiftsprediger des Benediktinerklosters Ellwangen geworden und wurde im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg hingerichtet, nach Melanchthons Meinung aus religiösen Gründen. Übrigens gibt er ihm den Humanistennamen „Croesus“. Was sonst aus der Tübinger Zeit zu berichten ist, betrifft den Humanismus und Melanchthons Bestrebungen, humanistische Ziele in den akademischen Unterricht einzubringen. Rückblickend sah er sich im Gegensatz zur herrschenden Richtung: schöne Literatur habe als Verbrechen gegolten. Vielleicht dachte er dabei an die Widerstände, die Heinrich Bebel zu überwinden hatte, was noch zu seiner Zeit nachschwingen mochte. Dass es schon vor ihm in Tübingen Humanisten gab, steht außer Frage. Andererseits wird er 1517 in dem satirischen Reisegedicht des Magisters Schlauraff im zweiten Teil der Dunkelmännerbriefe als der schlimmste der Tübinger Literaten hervorgehoben: Quorum est vilissimus Philippus Melanchthonius. Die anderen sind Bebel, Johannes Alexander Brassicanus, Paul Geraeander; als Retter erscheint der Theologe Franz Stadian. Der jüngere Brassican schrieb 1522, als er unterwegs zu seiner Professur in Ingolstadt war, an den Wittenberger Kollegen. Dabei scheint es geblieben zu sein. Später wurde er Professor in Wien. Paul Altmann, der – in der Namensform Vereander – wohl nur deshalb erwähnt wurde, weil ihn Melanchthon durch die Widmung seiner Terenzausgabe bekannt gemacht hatte, ging alsbald nach Rom, wo er für Reuchlin tätig war. Dann kehrte er in seine Heimat Salzburg zurück und trat in erzbischöfliche Dienste. Melanchthon ließ ihn grüßen, als jener 1521 auf dem Wormser Reichstag weilte, und Geraeander gedachte noch 1550 freundlich seines Tübinger Lehrers. Gesehen haben sie sich nie wieder. Dauerhafter blieb eine Beziehung, wenn gemeinsame Aufgaben, etwa im Dienste der Reformation oder der Universitätsreform, zu bewältigen waren. Balthasar Käuffelin aus Wildberg, der seine Tübinger theologische
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Professur über die Reformation hinweg rettete, war zwei Jahre vor Melanchthon nach Tübingen gekommen und ein Jahr vor ihm Magister geworden. Melanchthon redete ihn deshalb immer respektvoll an. Aber als es einmal darum ging, eine schwierige Angelegenheit – die Besoldungserhöhung des Tübinger Gräzisten Garbitius – durchzusetzen, da appellierte Melanchthon an die gemeinsame Studienzeit. Auch Melchior Volmar aus Rottweil, der seine juristische Laufbahn in Frankreich begann – in Orléans war Calvin sein Schüler – und bei der Reform 1535 nach Tübingen berufen wurde, war Melanchthons Kommilitone und vielleicht Schüler: als er im Oktober 1514 zum Studium nach Tübingen kam, war Melanchthon längst Magister. 1540, Melanchthon war auf dem Wormser Religionsgespräch, schrieb ihm Volmar aus Tübingen, und Melanchthon dankte ihm als einem gleichgesinnten Freund. Gleichzeitig schrieb er an Caspar Volland, den anderen Tübinger Rechtsprofessor – mit ihm war er verschwägert –, und ging auf seine Sorgen über den Zustand der Kirche ein. Auch ihn, der aus Markgröningen stammte, könnte er in Tübingen unterrichtet haben: er ist am 26. April 1517 eingeschrieben. Sicher ist dies bei Matthäus Alber aus Reutlingen, der im November 1513 nach Tübingen kam. Er lernte bei Melanchthon Griechisch und besuchte seine lateinischen Lektürestunden. Als Philipp 1518 nach Wittenberg zog, begleitete er ihn bis Stuttgart. Alber wurde 1521 Prediger in seiner Heimatstadt. Briefliche Kontakte mit Melanchthon gibt es an Wegmarken der Reformation, bei ihrer Einführung in Reutlingen 1524, beim Marburger Religionsgespräch 1529, beim Augsburger Reichstag 1530, auf dem Reutlingen als einzige Reichsstadt neben Nürnberg die Confessio Augustana annahm; zur Unterzeichnung der Abendmahlskonkordie 1536 kamen die Reutlinger Alber und Schradin persönlich nach Wittenberg. Im übrigen war Alber kein bevorzugter Briefpartner Melanchthons. In Tübingen traf Melanchthon seine Pforzheimer Lehrer Simler und Hiltebrant wieder, die ihre akademische Laufbahn fortsetzten, und den Mitschüler Erb. Irenicus kam 1516. Bei Simler, der 1512 seine griechische Grammatik publiziert hatte, vertiefte Melanchthon die Kenntnis dieser Sprache. Simler führte ihn nun zum Urtext der aristotelischen Schriften, die an der Universität in lateinischer Übersetzung studiert wurden, und stellte ihm damit eine Aufgabe, die er hinfort beharrlich verfolgen sollte. Spontane Zuneigung verband den Ankömmling mit einem fünf Jahre älteren Benediktinermönch, der gerade zum Magister promovierte. Es war der Konstanzer Patriziersohn Ambrosius Blarer, ein überaus sensibler Mensch von starker dichterischer Begabung, die sich in deutschen Kirchenliedern ausdrücken sollte, die zum Teil heute noch gesungen werden. Als er nach dem Biennium in sein Kloster Alpirsbach zurückkehrte, entstand ein schwärmerischer Briefwechsel – die ersten erhaltenen
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Zeugnisse aus Philipps Feder. Nach langer Reifezeit wurde Blarer ein begehrter Reformator in Reichsstädten und in Württemberg. Sein jüngerer Bruder, der tatkräftige Ratsherr Thomas Blarer, studierte bei Melanchthon in Wittenberg. So wurde das Band verstärkt. Ein halbes Jahr nach Melanchthon kam der Weinsberger Prediger Johannes Oekolampad nach Tübingen. Er war doppelt so alt wie Melanchthon. Gemeinsam lasen sie Hesiod. Die damals entstandene Freundschaft wurde später, als Oekolampad der neben Zwingli führende Reformator in der Eidgenossenschaft war, schweren Belastungen ausgesetzt, blieb aber immer in gegenseitiger Hochachtung erhalten. Von dem gelehrten Basler Reformator empfing Melanchthon den Denkanstoß, der ihn auf den Weg zu einer für oberdeutsche Theologie kompromissfähigen Abendmahlslehre brachte. Das war viel später. Zunächst war Reuchlin das gemeinsame Ziel. Danach half Oekolampad dem Erasmus in Basel bei der Edition des Neuen Testaments im griechischen Urtext mit einer genaueren lateinischen Übersetzung. Damals schickte er seinem Tübinger Freund die 1515 in Löwen erschienene nachgelassene Dialektik des Rudolf Agricola, die Melanchthon als eine wichtige Hilfe zur Überwindung der scholastischen Logik und zur Ausbildung seiner Loci-Methode im Gedächtnis behielt. Reuchlin hatte das Richteramt, das seine regelmäßige Anwesenheit in Tübingen erforderte, durch den Austritt des Herzogs Ulrich von Württemberg aus dem Schwäbischen Bund verloren und lebte als Privatmann in Stuttgart oder auf seinem Landsitz in Ditzingen, beides einen Tagesritt von Tübingen entfernt. Wenn er dorthin kam, übernachtete er bei Melanchthon in der Burse. Häufiger aber besuchten ihn seine jungen Anhänger, denn bei ihm gab es Bücher, Drucke und Handschriften, die man in Tübingen entbehren musste, und man durfte vieles lernen, Griechisch, Hebräisch, wer wollte auch kabbalistische Philosophie. Der Gastgeber, der selbst Most trank, spendete großzügig Wein. Ein heiteres Tusculum konnte dennoch nicht entstehen, denn Reuchlin war in den lästigen Prozess und hässlichen Flugschriftenkrieg um die Judenbücher verwickelt. Melanchthon half ihm nach Kräften. Er und Hiltebrant schrieben Vorreden zu der Sammlung von Briefen berühmter Männer, die Reuchlins Ansehen in der gelehrten Welt dokumentierten, und überwachten den Druck bei Thomas Anshelm, der seine leistungsstarke Offizin von Pforzheim nach Tübingen verlegt hatte. Hier wurde Melanchthon nach Hiltebrant, der schon 1515 starb, sein fleißigster Korrektor. Elf Drucke aus den Jahren 1514 bis zu Anshelms Wegzug im Sommer 1516 lassen Spuren seiner Tätigkeit erkennen. Das umfangreichste Werk, dessen Drucklegung Melanchthon betreute, war die Weltchronik des 1510 verstorbenen Johannes Nauclerus, des langjährigen Kanzlers der Universität Tübingen. Die Fortsetzung besorgte der Hirsauer Mönch Nikolaus Basellius, der sich schon früh um Melanchthons Freund-
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schaft bemühte. 1516 war der Druck der beiden Folianten vollendet. Wenn berichtet wird, Melanchthon habe dem Werk seine Ordnung gegeben, so ist dies eine Verwechslung mit der 1532 erschienenen kurzen deutschen Weltchronik des Berliner Hofastrologen Johann Carion, der als Negelin aus Bietigheim im April 1514 in Tübingen sein Studium begann. Dessen Buch hat Melanchthon tatsächlich durch inhaltliche Eingriffe druckreif gemacht. Später schrieb er es völlig neu. Es wuchs zur Frucht seines lebenslangen Umgangs mit Geschichte heran. Reuchlin war hier sein Anreger, nicht nur allgemein durch die Erzählung vom Heidelberger Musenhof, sondern in der Vorrede zum Werk seines Freundes Naucler schrieb er: „Für keinen Teil des Lebens, weder in öffentlichen noch privaten Sachen, weder vor Gericht noch zu Hause, ob du mit dir umgehst oder es mit einem anderen zu tun hast, ist die Geschichte als Lehrmeisterin nicht zu gebrauchen.“ Wir werden dies fast wörtlich in Melanchthons Wittenberger Antrittsrede hören. So nachhaltig Melanchthons Sinn für Geschichte von Reuchlin gebildet wurde, so wenig hat ihn dessen Philosophie auf Dauer beeindrucken können. Zwar huldigte auch er der Mode, Pythagoras zu zitieren. Aber schon Erasmus hatte seine Adagien damit begonnen, und dessen Interesse war rein ethisch. Melanchthons Übersetzungsübung zum Thema Pythagoras wählte einen eher kritischen Text. Von Reuchlins Glauben, dass sich der Sinn der Welt in Zahlen erfassen lasse, was Pythagoras und die Kabbala – in ganz anderer Weise auch die moderne Physik – versuchten, blieb bei Melanchthon nur die Wertschätzung der Mathematik; sein Lehrmeister hierin war aber Stöffler. Von Reuchlin lernte er Hebräisch, und zwar so gut, dass er in Wittenberg den Lehrstuhl für dieses Fach vertreten konnte. Als Magister war Melanchthon zur Lehre verpflichtet. Für seine Schüler ließ er bei Anshelm einige kleinere Texte drucken. Seine erste große wissenschaftliche Leistung war die Gesamtausgabe der Komödien des Terenz. Dieser Dichter der ausgehenden römischen Republik verstand es, die Wirklichkeit menschlichen Lebens unterhaltlich, in ungekünstelter Sprache und mit milder Humanität auf die Bühne zu bringen. Seine Beliebtheit überstand auch das Mittelalter. Er war Pflichtlektüre, solange Gymnasien diesen Namen verdienten. Entsprechend oft wurde er gedruckt. Melanchthons Leistung war weniger die Bereitstellung des Textes, dessen Versmaß schon vorher erkannt war, sondern die Einleitung, ein literaturgeschichtlicher Überblick, der die Belesenheit des jungen Gelehrten wirkungsvoll zur Schau stellte. Erasmus war davon zuhöchst entzückt. Um den Tübinger Dozenten zu preisen, fügte er am Ende seiner gerade im Druck befindlichen Annotationen zum Neuen Testament unorganisch einen Exkurs ein (den er später, als eine Entfremdung eintrat, wieder beseitigte): „Beim unsterblichen Gott, welche Hoffnung auf sich erweckt nicht auch
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Philipp Melanchthon, gerade ein Jüngling, ja fast noch ein Knabe, bewundernswert beinahe gleichermaßen durch beide Sprachen! Welche Schärfe der Erfindung! Welche Reinheit und Zierlichkeit der Rede! Wie viel Erinnerung an abgelegene Dinge! Welch vielseitige Belesenheit! Welch gedämpfte Feierlichkeit einer wahrhaft königlichen Begabung!“ Philipp bedankte sich mit einem artigen griechischen Gedicht auf Erasmus, das dieser mit seinen eigenen Epigrammen im März 1518 an hervorragender Stelle drucken ließ. Griechische Gedichte in ebensolchen jambischen Dimetern – ein Versmaß, das er später nicht mehr verwendete – schrieb er damals auch auf Pirckheimer und auf den toten Heinrich Bebel. Mit dem lebenden scheint er nicht in nähere Beziehung getreten zu sein, obwohl undenkbar ist, dass er den in derselben Fakultät lehrenden berühmten Poeten nicht gekannt und gehört haben sollte. Aber der etwas schwierige Bebel und Georg Simler konnten sich nicht ausstehen, lagen in offenem Streit miteinander, und Melanchthon dürfte wohl die Loyalität zu seinem Pforzheimer Lehrer gewahrt haben. Mit Pirckheimer kam er aber in gute Verbindung, zuerst brieflich; dreimal besuchte er ihn in Nürnberg. Einen regen Briefwechsel führte er später mit dem Ravensburger Humanisten Michael Hummelberg, einem Anhänger und Freund Reuchlins, der 1518 aus Rom zurückgekehrt war. Melanchthon profilierte sich nicht nur in der literarischen Öffentlichkeit als Autor kniffliger griechischer Verse, er war auch ein erfolgreicher Lehrer dieser Sprache. In kurzer Zeit brachte er die Studenten Bernhard Maurus und Kaspar Kurrer zur Meisterschaft. Kurrer, der Proben seines Könnens in Melanchthons Rede »De artibus liberalibus« publizieren durfte, erhielt 1523 bis 1526 und dann wieder 1533 in Tübingen den Lehrautrag für Griechisch. Doch hat er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Bei der großen Universitätsreform 1535 musste er dem überragenden Gräzisten Joachim Camerarius weichen und wurde Notar. Maurus, den Melanchthon durch drei Vorreden ehrte, starb schon 1519. Der Engländer Leonard Cox, der in Polen und Oberungarn wirkte, bevor er in seine Heimat zurückkehrte, lernte ebenfalls bei Melanchthon in Tübingen Griechisch. Der etwas ältere Franz Kircher aus Stadion, bei dem Melanchthon Dialektik hörte und mit dem er tiefgründige theologische Gespräche führte, war im Griechischen schon so fortgeschritten, dass Melanchthon ihn der Fachwelt als einen der Mitarbeiter am Jahrhundertwerk der gereinigten Aristotelesausgabe vorstellte. Die anderen waren Reuchlin, Pirckheimer, Simler, Capito und Oekolampad. Das steht im Nachwort zu seiner griechischen Grammatik, die er im Mai 1518 publizierte. Während sie ein großer Erfolg wurde und ihm den Weg auf nicht nur eine Professur bereitete,
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scheiterte der Editionsplan, den der Humanist Melanchthon für notwendig erachtete. Er scheiterte gewiss an der Schwierigkeit der Aufgabe, entscheidend aber an einer veränderten Bewertung des Stagiriten, die Melanchthon unter Luthers Einfluss vornahm und nur allmählich überwinden konnte. Nicht nur mit Literatur und Philosophie befasste sich Melanchthon, sondern auch mit Mathematik, Astronomie und Astrologie. Er hatte dafür den besten Lehrer: Johann Stöffler aus Justingen, der 1514 als Frucht seiner Lebensarbeit astronomische Tafeln zur Verbesserung des Julianischen Kalenders publizierte, natürlich bei Anshelm in Tübingen. Hier versah er seit 1511 die neuerrichtete Professur für Mathematik – auch eine Seite des „Humanismus“. Melanchthon und Oekolampad ließen sich schon bei ihrer Hesiod-Lektüre von ihm die Plejaden erklären. Als der zwanzigjährige Philipp die Summe seiner bisherigen Studien zog, widmete er diese Rede »De artibus liberalibus« dem alten Stöffler als Dank für den langjährigen Unterricht, den er bei ihm genossen hatte. Drucken ließ er sie wie bisher alle seine Werke bei Thomas Anshelm, obwohl der nun in Hagenau arbeitete. Melanchthon weilte mindestens einmal längere Zeit in der Reichsstadt im Elsaß, wo er an der Drucklegung der »Exegesis Germaniae« seines Schulfreundes Irenicus mitwirkte. De artibus liberalibus, die freien Künste, besser: die dem Freien angemessenen Künste. Sie sind der Fächerkanon der enzyklopädischen Bildung, dessen Siebenzahl durch den spätantiken Autor Martianus Capella dem Mittelalter überliefert wurde. In den Universitäten führte die unterste Fakultät, die man durchlaufen musste, bevor man sich den höheren Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz und Medizin zuwenden durfte, von daher den Namen „Artistenfakultät“. Freilich wurden nicht immer und überall die sieben „Künste“ in gleichem Maße angeboten. Den breitesten Raum im Unterricht nahmen logische Probleme ein; zu den mathematischen Fächern drangen die wenigsten Studenten vor. Es war ein Ziel der Humanisten, anstelle der scholastischen Dialektik der klassischen Rhetorik größere Beachtung zu verschaffen. Entsprechend oft wurde dieses Thema, das Melanchthon auf dem Höhepunkt seiner Tübinger Lehrtätigkeit vortrug, auch von anderen Humanisten behandelt. Wie Martianus Capella beginnt er mit einer mythologischen Einleitung; die Siebenzahl wird vom Gottesgeschenk der siebensaitigen Leier abgeleitet. Die einzelnen Fächer werden kurz charakterisiert und mit programmatischen Akzenten versehen. Die Grammatik ist selbstverständlich unverzichtbar. Der Dialektik widmet er einen überschwänglichen Lobpreis. Sie ist die Mutter aller Künste, ohne sie ist kein geordnetes Denken und Reden möglich. Die Rhetorik wird dagegen kurz und verächtlich abgetan. Sie ist der populäre Teil der Dialektik. Diese Einschätzung ist höchst erstaunlich, denn er publizierte nur sechs Monate nach dieser Rede (die allerdings früher gehalten wurde)
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selbst ein Lehrbuch der Rhetorik, worin er dieses Fach gleichwertig neben die gereinigte Dialektik stellte. Die genannten Fächer bilden den Dreiweg, der auch an „Trivialschulen“ gelehrt wurde. Melanchthon bringt sie in Beziehung zu drei Musen und fasst damit die Erweiterung der sieben Saiten auf die neun Musen in den Blick. Doch zuerst ist das Quadrivium an der Reihe. Noch mehr als die Dialektik wird die Arithmetik gepriesen. Alle Erkenntnis der Dinge hängt von Zahlen ab. Die Ausführung ist noch wenig abgeklärt, teilweise banal; so verschiedene Denker wie Platon, Epikur, Zoroaster und Pythagoras werden als Gewährsleute zitiert: Reuchlin lässt grüßen! Mit den Zahlen sind auch die anderen Fächer des Quadriviums abgedeckt: Geometrie, Musik und Astronomie. Dem wahrscheinlich anwesenden Stöffler wird höchste Reverenz erwiesen. Da der Redner früh die Musen ins Spiel gebracht hat, deren Zahl ja neun ist, hat er nun noch zwei übrig. Er vergibt sie an Geschichte und Poesie. Dies ist der schüchterne Beitrag des Humanisten Melanchthon zu einer im übrigen traditionellen Wissenschaftslehre.
Wittenberg Als diese Rede gedruckt wurde, hatte Melanchthon schon einen Ruf auf den neugestifteten Lehrstuhl für Griechisch an der Universität Wittenberg. Sein Dank an Stöffler ist das letzte und versöhnliche Wort nach Tübingen. Er besuchte Elisabeth Reuchlin in Pforzheim und seine Mutter in Bretten und stieß dann zur kursächsischen Reichstagsgesandtschaft in Augsburg. Zwölf Jahre später sollte er in dieser Stadt das Bekenntnis verfassen, das die lutherischen Kirchen weltweit noch heute eint. In Nürnberg sah er Pirckheimer. Zu dieser mächtigen Reichsstadt wird ein besonders gutes Verhältnis entstehen. Der Patrizier Hieronymus Baumgartner, der hier die Kirchen- und Schulsachen bearbeitete, war als Wittenberger Student Melanchthons Freund geworden und blieb lebenslang ein fleißiger Briefpartner. Den Ruf an die im Egidienkloster 1526 errichtete Obere Schule lehnte der Wittenberger Professor ab; doch er vermittelte den fähigen Joachim Camerarius als Rektor und hielt die programmatische Eröffnungsrede. Dürer hat ihn damals gezeichnet und in Kupfer stechen lassen. Beide fanden sich in ihrem Verständnis von Kunst. Dürer, der den jungen Gelehrten in seinem Apostel Johannes überhöht verewigte, schilderte ihm seine Entwicklung von der krausen Gotik zum monumentalen Altersstil. Melanchthon war als Schriftsteller denselben Weg gegangen. Den modischen Schwulst, der De artibus liberalibus so schwer verständlich macht, hatte er abgestreift. Seine Sprache blieb nun ungekünstelt und klar;
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er schreibt hinfort wissenschaftliche Fachprosa von großer Eindrücklichkeit. In Leipzig lernte er den Gräzisten Petrus Mosellanus persönlich kennen, den die Wittenberger berufen hätten, wenn nicht Reuchlins Empfehlung beim Kurfürsten den Ausschlag für Melanchthon gegeben hätte. Aber das wussten wohl beide nicht. Man diskutierte über Epikur. Als Melanchthon am Vormittag des 25. August 1518 in Wittenberg einritt, hatte er seine Antrittsrede, die er am folgenden Samstag, dem 28. August, vor vollem Hause hielt, im Kopf und wohl schon auf dem Papier. Sie handelt von der Universitätsreform: »De corrigendis adulescentiae studiis«. Der neue Professor präsentiert sich als Vorkämpfer der Renaissance; er will die renascentes Musae, das studium litterarum renascentium, die renascentia studia verteidigen und propagieren. Gehäuft begegnet das programmatische Wort in der Einleitung. Bonae litterae, elegans litteratura heißen die angebotenen Fächer; die in Tübingen gepriesenen artes erscheinen nun als von Barbaren missbrauchte. Die fontes studiorum gilt es aufzusuchen. Nötig ist sein Appell, weil der vor einigen Jahren erfolgte Aufbruch der Jugend erschlaffte: Griechisch zu lernen gelte als arrogant, das Hebräische als unsicher, überhaupt sei die Mühe größer als der Nutzen. Im historischen Teil seiner Rede würdigt er verständnisvoll die gelehrte Tradition. Negativ bewertet wird erst die Hochscholastik, als die Kenntnis der Mathematik verloren ging und alles von den schlechten lateinischen Übersetzungen der aristotelischen Schriften bestimmt wurde. Die Missachtung des Griechischen, die Unkenntnis der Mathematik und die Verwahrlosung der Theologie gehen Hand in Hand: simul Graeca contempta, mathematica deserta, sacra negligentius culta sunt. Melanchthons Reformprogramm zielt nicht auf die Abschaffung der traditionellen Fächer, sondern er möchte die Studenten durch den Nebel sekundärer Informationen auf die Sache, wie sie in den Quellen geboten wird, hinführen und damit die Grundlagen für Theologie und Recht vermitteln. Er verschreibt sich keiner bestimmten Schule. „Aus den besten Autoren wähle das Beste, sowohl was die Kenntnis der Natur als auch die Bildung der Persönlichkeit betrifft.“ Das geht nicht ohne Griechisch. Die gesamte Naturwissenschaft wird durch griechische Autoren vermittelt. Für die Humanwissenschaften sind die Ethiken des Aristoteles, Platons Nomoi, Homer und die lateinischen Dichter Vergil und Horaz die besten Schriften. Unerlässlich ist auch Geschichte. Sie liefert die Beispiele für menschliches Verhalten im privaten und im öffentlichen Leben, für Rechtsprechung und Politik. „Kein Teil des Lebens, weder des öffentlichen noch des privaten, kann ohne sie auskommen.“ Wir erinnern uns an Reuchlins NauclerusVorrede. Der Theologe braucht zusätzlich das Hebräische. So unerlässlich
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die Wissenschaften für ihn sind, ans Ziel kommt er nur unter der Leitung des Heiligen Geistes: Duce Spiritu, comite artium nostrarum cultu ad sacra venire licet. Melanchthon vermeidet den Anschein, als meine er, den Wittenbergern die Weisheit bringen zu müssen. Er rühmt die Bildungspolitik des Kurfürsten Friedrich von Sachsen (dem er den neugeschaffenen Lehrstuhl verdankte) und beglückwünscht die Studenten, weil sie den echten Aristoteles, den Rhetor Quintilian und Naturkunde nach Plinius geboten bekommen. Das horazische Sapere aude, das Kant zum Wahlspruch der Aufklärung machen wird, ruft auch er ihnen zu: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Hatten manche die Nase gerümpft, als der schmächtige Jüngling das Katheder bestieg, so vergaßen sie seine Gestalt gleich nach den ersten Worten. „Er hielt eine grundgelehrte und stilistisch bestens ausgefeilte Rede“, schrieb Luther begeistert an Georg Spalatin, den „Wissenschaftsminister“ in Torgau. Der Neue hatte gewonnen. Er durfte sich der Unterstützung aller Mächtigen in der Universität sicher sein, wie auch er von Luthers Persönlichkeit spontan fasziniert war. Die Reform von Bildung und Kirche im Zusammenwirken von Humanismus und Reformation konnte gelingen. Melanchthons Lebenswerk begann.
Melanchthon und die oberrheinischen Humanisten Wenn man „oberrheinischer Humanismus“ sagt, fällt einem als erstes Schlettstadt ein mit seiner berühmten Lateinschule1 unter den Rektoren Ludwig Dringenberg2 (1410–1477), einem Westfalen, Krafft Hofmann3 aus Utenheim (Philippsburg bei Speyer, 1450–1501), Hieronymus Gebwiler4 aus Kaysersberg (ca. 1473–1545, Rektor 1501–1509), Oswald Bär5 aus Südtirol (Rektor 1509–1511) und dem Stadtkind Johannes Sapidus6 (1490– 1561, Rektor 1512–1526), und man erinnert sich an Jakob Wimpfeling7, Beatus Rhenanus8 und Martin Bucer9, die hier geboren wurden, Wimpfeling 1450, Rhenanus 1485, Bucer 1493. Melanchthon (1497 geboren) kannte Wimpfeling und Bucer persönlich; um die Freundschaft des Beatus Rhenanus warb er vergeblich10.
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Francis RAPP, Die Lateinschule von Schlettstadt – eine große Schule für eine Kleinstadt. In: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, redigiert von Ludger Grenzmann (1983), 215–234. 2 ContEras 1 (1985), 406 (Miriam U. CHRISMAN). - LitLex 3 (1989), 115 (Reinhard TENBERG). - DBE 2 (1995), 622. 3 Otto HERDING, Jakob Wimpfelings Adolescentia (1965), 182 Anm. 3. 4 ContEras 2 (1986), 81 f (Miriam U. CHRISMAN). - LitLex 4 (1989), 94 f (Heinz HOLECZEK). - DBE 3 (1996), 596. 5 RAPP (wie Anm. 1), 228. 6 ContEras 3 (1987), 195 f (Miriam U. CHRISMAN). - LitLex 10 (1991), 133 (Heinz HOLECZEK). - DBE 8 (1997), 517. 7 ContEras 3 (1987), 447–450 (Barbara KÖNNEKER). - LitLex 12 (1992), 341 f (Dieter MERTENS). - Dieter MERTENS, Jakob Wimpfeling (1450-1528). Pädagogischer Humanismus. In: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, hrsg. v. Paul Gerhard Schmidt (1993, 22000), 35–57. - DBE 10 (1999), 517. 8 ContEras 1 (1985), 104–109 (Beat von SCARPATETI). - LitLex 9 (1991), 415 f und 425 (Hubert MEYER). - Ulrich MUHLACK, Beatus Rhenanus (1485–1547). Vom Humanismus zur Philologie. In: Humanismus im deutschen Südwesten (wie Anm. 7), 195–220. - LThK3 2 (1994), 110 (Peter W ALTER). - James HIRSTEIN in: Centuriae Latinae. Cent une figures humanistes de la Renaissance aux Lumières offertes à Jacques Chomarat, hrsg. v. Colette Nativel (1997), 679–685. - DBE 1 (1995), 362. 9 MBW 11 (2003), 228 f. 10 1519 ließ er ihm neben andern durch Capito in Basel Grüße bestellen (MBW 57). 1521 und 1523 bat er Michael Hummelberg in Ravensburg um Empfehlung an Beatus Rhenanus (MBW 159, 164, 276). 1521 lobte er ihn als Vorbild für Exaktheit (MBW
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Melanchthons Begegnung mit Wimpfeling war kurz, aber bemerkenswert. In Heidelberg wohnte der zwölfjährige Student bei Pallas Spangel11 (ca. 1445–1512) und dadurch einige Monate lang unter einem Dach mit dem 60-jährigen Humanisten12, und er durfte seine ersten Publikationen, zwei Gedichte, in Büchern des großen Elsässers herausbringen13. Was er von dessen Ideen in sich aufnahm, ist nicht leicht zu sagen, denn er selbst hat sich darüber ausgeschwiegen. Wahrscheinlich ist ihm niemals bewusst geworden, wie nahe sie sich standen, denn Wimpfelings pädagogisches Anliegen, die Fasslichkeit und Lebensnähe des Unterrichts, hatte er schon durch seine früheren Lehrer, die ihrerseits von Wimpfeling geprägt waren, erfahren14. Dass ihn Wimpfeling durch den Abdruck zweier Gedichte auszeichnete, ist angesichts seiner Jugend nicht alltäglich. Gleichwohl war Melanchthon einer von 17, die mit solchen Gedichten auf Geiler von Kaysersberg15 (1445–1510) vertreten waren16. Wenig später kam er ganz in den Bannkreis Reuchlins17 (1455–1522) und des Judenbücherstreits18, und 148). - Karl HARTFELDER, Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae (1989, Repr. 1964 und 1972), 122–124. 11 Jakob W IMPFELING, Briefwechsel, eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Otto HERDING und Dieter MERTENS (1990), 1, 234 Anm. 1. - Veit P ROBST, Philipp Melanchthons Studienjahre in Heidelberg: Mannheimer Geschichtsblätter NF 4 (1997), 83–105, bes. 94–97; eine kürzere Fassung in: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland. Bildungsstationen eines Reformators. Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, der Universitätsbibliothek Heidelberg, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart und des Melanchthonhauses Bretten zum 500. Geburtstag Philipp Melanchthons, hrsg. v. Stefan Rhein, Armin Schlechter und Udo Wennemuth (1997), 19–38. - Melanchthons Erinnerung an Spangel: MBW 2169 und 9296. 12 Wimpfeling ist vom 13. Februar bis 15. Juni in Heidelberg nachweisbar: Briefwechsel (wie Anm. 11), 2, 651–659 Nr. 255–263. Am 10. März starb Geiler. 13 HARTFELDER (wie Anm. 10), 31. - Supplementa Melanchthoniana 6/1 (1926, Repr. 1968), 1–3 Nr. 1 f. - Wilhelm MAURER, Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation, 1 (1967, Studienausgabe 1996), 24–27. - P ROBST (wie Anm. 11), 101– 104 (mit Übersetzung; Anm. 84 lies: CR 10, S. 469). 14 Dieter MERTENS, Johannes Hiltebrant, ein Humanist aus dem Umkreis Reuchlins. Ein Beitrag zur Personen- und Bildungsgeschichte des südwestdeutschen Humanismus: ZGO 120 (1972), 247–268. - MBW 12 (2005), 302. 15 MBW 12 (2005), 125 f. 16 Otto HERDING, Jakob Wimpfeling / Beatus Rhenanus, Das Leben des Johannes Geiler von Kaysersberg (1970), 85–87 [3 Namen im Text ausgefallen]. 17 ContEras 3 (1987), 145–150 (Heinz SCHEIBLE). - LitLex 9 (1991), 398–400 (Astrid SEELE). - Stefan RHEIN, Johannes Reuchlin (1455-1522). Ein deutscher »uomo universale«. In: Humanismus im deutschen Südwesten (wie Anm. 7), 59–76. - Alexandru C IZEK in: Centuriae Latinae (wie Anm. 8), 667–678. - TRE 29 (1998), 94–98 (Gerald DÖRNER). - DBE 8 (1998), 253 (Astrid SEELE). - LThK3 8 (1999), 1134 f (Stefan RHEIN). - Markus Rafael ACKERMANN, Der Jurist Johannes Reuchlin (1999). - Johannes REUCHLIN, Sämtliche Werke, hrsg. v. Widu-Wolfgang EHLERS, Hans-Gert ROLOFF und Peter SCHÄFER (1996 ff). - Johannes REUCHLIN, Briefwechsel, bearbeitet von Matthias
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sechs Jahre nach Wimpfeling wurde ihm durch Erasmus19 (1466/69–1536) eine weitaus wirkungsvollere Ehrung zuteil20. Erasmus blieb hinfort der Humanist, mit dem er sich fruchtbar und kritisch auseinandersetzen musste, auch und erst recht, nachdem er Anhänger Luthers geworden war. Der alte Wimpfeling trat damals ganz in den Hintergrund. In Heidelberg haben sich auch die Wege von Bucer und Melanchthon zum ersten Mal gekreuzt. Wie wir seit 1979 durch Jean Rott (1911–1998) wissen21, kam der junge Dominikanermönch nicht 1517, dem Jahr seiner Immatrikulation, nach Heidelberg, sondern schon 1512, kurz bevor der 15jährige Baccalaureus Melanchthon sein Studium in Tübingen fortsetzte. Doch haben sich die beiden damals nicht persönlich kennengelernt. Ihre spätere Zusammenarbeit, aus der sich eine Freundschaft entwickelte, geschah im Dienste der Reformation, gehört also nicht zu unserem heutigen Thema22. Während die Verbindung zu Bucer im Lauf der Jahre wuchs, riss die zu dem Straßburger Patrizier Peter Sturm23 (ca. 1493–1563), der gleichzeitig mit Melanchthon in Heidelberg studierte und als sein Freund bezeichnet wird, nach dieser Zeit ab. Doch begegnete Melanchthon auf den verschiedenen Konferenzen immer wieder dessen älterem Bruder Jakob24 (1489– 1553), zu dem er ein gutes Verhältnis hatte25. Beide Sturm-Brüder waren persönliche Schüler Wimpfelings. Beatus Rhenanus und Melanchthon sind sich niemals begegnet, und es kam auch, nach allem, was wir wissen, zu keiner brieflichen Verbindung. Der spröde Schlettstädter wollte von der Reformation nichts wissen. DALL’ASTA und Gerald DÖRNER, Bde. 1–3 (1999–2007). - Johannes REUCHLIN, Briefwechsel. Leseausgabe in deutscher Übersetzung, Bd. 1 f von Adalbert W EH (2000– 2004), Bd. 3 von Georg B URKARD (2007). 18 MBW 1. - REUCHLIN, Briefwechsel (wie Anm. 17), S. XXIX. - Heinz SCHEIBLE, Reuchlins Einfluß auf Melanchthon: Forschungsbeiträge (1996), 71–97. 19 MBW 11 (2003), 411 f. 20 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon zwischen Luther und Erasmus: Forschungsbeiträge (1996), 171–197, bes. 173. - ContEras 2 (1986), 424–429 (Heinz SCHEIBLE). 21 Jean ROTT, Correspondance de Martin Bucer, 1 (1979), 8 mit 95 Nr. 8 Zeile 101 f. 22 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon und Bucer (1993): Forschungsbeiträge (1996), 245– 269. - MBW 11 (2003), 228–230. 23 W IMPFELING, Briefwechsel (wie Anm. 11), 2, 469 Nr. 165 Anm. 1. - Johannes F ICKER und Otto W INCKELMANN, Handschriftenproben des 16. Jahrhunderts nach Straßburger Originalen, Bd. 1 (1902), Tafel 8. 24 ContEras 3 (1987), 293 f (Miriam U. CHRISMAN). - Thomas B RADY, Zwischen Gott und Mammon. Protestantische Politik und deutsche Reformation (1996). - DBE 9 (1998), 616. - LThK3 9 (2000), 1061 (Franz B RENDLE). 25 MBW 1155, 1420, 1433a, 1676, 1694, 1845, 2155, 2160, 2180, 2184, 2547, 2585, 2736, 2779, 3176, 3514, 3790, 5066, 5117, 5137, 5168, 5446, 5530a, 6760, 7028, 7031, 7034. Differenzen in Sachfragen (2754, 2804) taten dem keinen Abbruch.
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Informiert war er. Sein Famulus Albert Burer, der in Wittenberg studierte, berichtete ihm eifrig über die Vorgänge in der Sturmjahren der Reformation26. Damit war sein Urteil gebildet. Die Werbungen, die der jüngere über Capito in Basel und Michael Hummelberg in Ravensburg an ihn gelangen ließ, beachtete er nicht. Melanchthon schätzte und rühmte seine wissenschaftliche Genauigkeit als Historiker. Doch zu einer Zusammenarbeit wie mit Krafft Müller – auch ein gebürtiger Schlettstädter – und Caspar Hedio in Straßburg kam es nicht. Darüber gleich mehr. Zuvor wollen wir einen weiteren Schlettstädter erwähnen, der wenigstens indirekt für Melanchthons Biographie von Bedeutung ist: Wimpfelings Neffen und Pflegesohn Jakob Spiegel27 (ca. 1483–1547). Er studierte von 1497 bis 1500 in Heidelberg, also lange vor Melanchthon. Sie sind sich auch später nie begegnet, wussten aber natürlich voneinander28. Spiegel war zur gleichen Zeit in Heidelberg, als Reuchlin dort seine beiden Komödien schrieb. Eine davon, die »Scaenica progymnasmata« (besser bekannt als »Henno« nach der deutschen Übersetzung des Hans Sachs) wurde am 31. Januar 1497 – zwei Wochen vor Melanchthons Geburt – im Wormser Bischofshof zu Heidelberg von Studenten aufgeführt. Der 14jährige Jakob Spiegel war einer von ihnen. 15 Jahre danach hat er einen Kommentar zu dieser Komödie publiziert29. Unter den Zuschauern der Heidelberger Aufführung war vielleicht Georg Simler30 aus Wimpfen. Jedenfalls studierte er damals in Heidelberg und wurde danach (wir wissen nicht genau, wann) Schulrektor in Pforzheim. Ein knappes Jahr, von 26
Bei MBW 142 und 196. Albrecht Bürer stammte aus Brugg, wurde im Sommer 1514 in Basel immatrikuliert, wo er noch Ende 1520 nachweisbar ist, und ging dann nach Wittenberg. Später war er Stadtschreiber in Erlach, 1527 Schulmeister in Bern, 1532 Schulmeister in Thun (strafversetzt), 1535 abgesetzt, 1537 Schulmeister in Niedersimmental, 1538 stellenlos. Vgl. Adolf FLURI, Die bernische Schulordnung von 1548: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 11 (1901), 159–218, bes. 162 und 173. - Die Amerbachkorrespondenz, hrsg. v. Alfred HARTMANN, Bd. 2 (1943), 315–317 Nr. 796 f; Bd. 4 (1953), 355–358 Nr. 1953 und 1955. - Heinrich B ULLINGER, Briefwechsel, Bd. 3, bearbeitet von Endre ZSINDELY und Matthias SENN (1983), 49 f Anm. 5. - MBW 11 (2003), 244. 27 ContEras 3 (1987), 270–272 (Miriam U. CHRISMAN). - LitLex 11 (1991), 104 f (Karl Heinz B URMEISTER). - DBE 9 (1998), 400. 28 MBW 1880. 29 Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Pforzheimer Schulzeit. Studien zur humanistischen Bildungselite (1989): Forschungsbeiträge (1996), 29–70, bes. 39. 30 SCHEIBLE, Schulzeit (wie Anm. 29), 35–41. - Reinhard P OHLKE, Melanchthon und sein Griechischlehrer Georg Simler – zwei Vermittler des Griechischen in Deutschland. In: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland (wie Anm. 11), 39–61. - Hans-Jürgen KREMER, „Lesen, Exercieren, Examinieren“. Die Geschichte der Pforzheimer Lateinschule. Höhere Bildung in Südwestdeutschland vom Mittelalter zur Neuzeit. Katalog zur Ausstellung des Stadtarchivs Pforzheim im Stadtmuseum Pforzheim (1997), 113 f.
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November 1508 bis September oder Oktober 1509, war Melanchthon sein Schüler. 1507 hatte Simler einen Kommentar der anderen Komödie Reuchlins, des »Sergius sive Capitis Caput«, eine Verspottung des unkritischen Reliquienkults, publiziert31. Eine dieser beiden Komödien wurde von den Pforzheimer Lateinschülern, allen voran Melanchthon, zu Ehren Reuchlins aufgeführt32. Die Heidelberger Aufführung mit Jakob Spiegel war hierbei, vermittelt durch Georg Simler, das Vorbild. Sie war freilich nicht die erste humanistische Theateraufführung in Deutschland gewesen. Schon 1480 hatte Wimpfeling bei einer Promotionsfeier der Universität Heidelberg sein Drama Stylpho deklamieren lassen33. Andere Aufführungen folgten. Der Pforzheimer Schulmeister Georg Simler sei ein Zögling Dringenbergs in der Schlettstadter Schule gewesen, kann man seit 1580 bei dem Westfälischen Historiker Hermann Hamelmann34 (1526–1595) und noch in der neueren Forschungsliteratur35 lesen. Doch dies ist aus chronologischen Gründen nicht möglich. Vielmehr handelt es sich um eine Verwechslung mit dem 1429 geborenen Johannes Simler36 aus Straßburg, einem Humanisten aus dem Freundeskreis des Peter Schott37 (1458–1490), der die geistliche Laufbahn einschlug und 1492 als Dekan von St. Thomas in Straßburg gestorben ist. Der Pforzheimer Rektor Georg Simler hat also nichts mit Schlettstadt zu tun. Er brachte aber in den wenigen Jahren seiner Schultätigkeit (später war er Rechtsprofessor in Tübingen) die Pforzheimer Schule auf ein so hohes Niveau, dass sie durchaus mit Schlettstadt konkurrieren konnte. Zwar hören wir von einem aus Öttingen stammenden Schüler namens Kingsattler (1486–1534) – auch er wurde später Rechtsprofessor in Tübingen –, dass er 1503 nur deshalb nach Pforzheim ging, weil er in Schlett-
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Hildegard ALBERTS, Reuchlins Drucker Thomas Anshelm, mit besonderer Berücksichtigung seiner Pforzheimer Presse. In: Johannes Reuchlin 1455-1522. Festgabe seiner Vaterstadt Pforzheim zur 500. Wiederkehr seines Geburtstages, hrsg. v. Manfred Krebs (1955), 205–265, bes. 253 f Nr. 46. Erweiterter Nachdruck, hrsg. v. Hermann Kling und Stefan Rhein (1994). - MBW 11 (2003), 78. 32 SCHEIBLE, Schulzeit (wie Anm. 29), 49 f. 33 Jakob W IMPHELING, Stylpho, lateinisch und deutsch hrsg. v. Harry C. SCHNUR (1971). 34 Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke, hrsg. v. Heinrich DETMER und Klemens LÖFFLER, Bd. 1, H. 4 (1908), 15, vgl. 63. - Zur Biographie: MBW 12 (2005), 221. 35 RAPP (wie Anm. 1), 215. - ContEras 3 (1987), 253 (Ilse GUENTHER). - LitLex 11 (1991), 44 (Astrid SEELE). - DBE 9 (1998), 328. 36 Charles SCHMIDT, Histoire litteraire de l’Alsace a la fin du XVe et au commencement du XVIe siècle, 1 (1879), 346 Anm. 27. 37 Ebd. 2 (1879), 32–35. - LitLex 10 (1991), 375 f (Reinhard T ENBERG). - DBE 9 (1998), 121.
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stadt nicht angenommen wurde38. Aber wenn wir Melanchthons Mitschüler betrachten39, dann finden wir eine höchst eindrucksvolle Auswahl späterer Humanisten und Reformatoren. Manche kamen von weither, sogar aus Zürich. Die gemeinsame Schulzeit schafft eine Verbundenheit durch das ganze Leben hindurch, die sogar Gegensätze überbrücken kann – es sein denn, es handelte sich um eine echte Schülerfeindschaft. Die Schule bot ja, mehr noch als heute, die erste Erfahrung einer Sozialisation außerhalb des Elternhauses. Für Melanchthon40 bedeutete sie durch den Tod des Vaters und Großvaters und das Verlassen des Elternhauses mit allen weiblichen Bezugspersonen einen besonders tiefen Einschnitt. Es war das Ende seiner Kindheit. Er war damals elfeinhalb Jahre alt. Eine lebenslange Freundschaft entstand in Pforzheim zwischen dem Brettener und dem vier Jahre älteren Simon Griner, einem Bauernsohn von der Schwäbischen Alb, der einer der führenden Gräzisten seiner Zeit wurde und unter seinem Humanistennamen Grynaeus41 als der erste Vertreter des Basler Geschlechts der Grynaei42 noch heute bekannt ist. Zum Studium ging Grynaeus nach Wien, wo er im Kreis um den St. Galler Humanisten Joachim Vadian43 (1484–1551) verkehrte. Dann war er in Buda Lehrer und Bibliothekar. Als Sympathisant Luthers wurde er eingekerkert. Er konnte fliehen und erschien im April 1523 bei Melanchthon in Wittenberg. Dieser widmete ihm seine Programmschrift über die Notwendigkeit der sprachlichen Bildung, die in Hagenau gedruckt wurde44. Im Jahr danach wurde Grynaeus auf den neu errichteten Lehrstuhl für Griechisch an der Universität Heidelberg berufen45. Auf Anregung Melanchthons besuchte er die Bibliothek des in Auflösung begriffenen Klosters Lorsch und fand hier den Livius-Kodex, der als einziger die bis dahin unbekannten Bücher 41–45 enthält46. 1531 wurden sie mit einer Vorrede des Erasmus in Basel 38
MERTENS (wie Anm. 15), 250 Anm. 14. - KREMER (wie Anm. 30), 152 f. SCHEIBLE, Schulzeit (wie Anm. 29), 51–61. 40 LitLex 8 (1990), 88–92 (Heinz SCHEIBLE). - TRE 22 (1992), 371–410 (Heinz SCHEIBLE). - DERS., Melanchthon. Eine Biographie (1997). - Kees MEERHOFF in: Centuriae Latinae (wie Anm. 8), 537–549. - Thomas KAUFMANN, Reformatoren (1998), 78–81. - Helmar J UNGHANS, Das Melanchthonjubiläum 1997. In: Lutherjahrbuch 67 (2000), 95–162. 41 MBW 12 (2005), 192 f. 42 Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz, 3 (1926), 783 f. 43 ContEras 2 (1986), 142–146 (Peter G. B IETENHOLZ). - LitLex 12 (1992), 151 f (Peter SCHÄFFER). - DBE 10 (1999), 345. 44 MBW 277. 45 Niklas HOLZBERG, Olympia Morata und die Anfänge des Griechischen an der Universität Heidelberg. In: Heidelberger Jahrbücher 31 (1987), 77–93, bes. 85. 46 MBW 587. 39
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gedruckt47. Dorthin war Grynaeus 1529 berufen wurde, dem Jahr der Einführung der Reformation, durch die Erasmus in die Emigration nach Freiburg getrieben wurde. Grynaeus war ein überzeugter Anhänger der Reformation und lehrte ab 1536 maßgeblich auch an der theologischen Fakultät, aber er blieb dabei Humanist. Für ihn war dies so wenig ein Gegensatz wie für Melanchthon und viele andere. Grynaeus edierte und übersetzte zahlreiche griechische Texte. Zu Erasmus pflegte er weiterhin gute Beziehungen. Mit Beatus Rhenanus und Hieronymus Froben48 (1501– 1563) stand er am 11. Juli 1536 an dessen Totenbett49. Er selbst starb 1541 an derselben Epidemie, die in Basel auch Andreas Karlstadt50 (1486–1541) und in Straßburg Wolfgang Capito51 (1481–1541) und viele andere dahinraffte. Melanchthon trauerte sehr um ihn. Drei andere seiner Pforzheimer Mitschüler sind ebenfalls beim Thema „oberrheinischer Humanismus“ zu nennen: Franciscus Irenicus52 (1494– 1553), Caspar Hedio53 (1494–1552) und Matthias Erb54 (1495–1571). Sie stammen alle aus dem badischen Ettlingen, einer alten Römerstadt. Vermutlich sind sie schon als Kinder mit historischen Denkmälern umgegangen. Zwei von ihnen sind namhafte Historiker geworden. Irenicus war ein frühreifes Genie von ungewöhnlicher Arbeitskraft. Mit 23 Jahren legte er ein opus magnum vor, wozu andere ein Gelehrtenleben brauchen. Er erfüllte damit die nationale Aufgabe, die sich der deutsche Humanismus seit Konrad Celtis55 (1459–1508) gestellt hatte: die »Germania illustrata«, eine historische Landeskunde von den Urzeiten bis zur Gegenwart. Celtis mit seiner »Noriberga« (1495, gedruckt 1502), Wimpfeling mit seiner »Epitome rerum Germanicarum« (1501), Johannes Cochlaeus56 (1479–1552) mit seiner »Germania«57 von 1512 hatten bislang nur 47
Heinz SCHEIBLE, Simon Grynaeus schreibt an Joachim Camerarius. Eine Neuerwerbung der Heidelberger Universitätsbibliothek (1989): Forschungsbeiträge (1996), 517-532, bes. 520. 48 MBW 12 (2003), 96 f. 49 Beat Rudolf JENNY, Tod, Begräbnis und Grabmal des Erasmus von Rotterdam: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 86/2 (1986), 61–104, bes. 65 mit 90–92. 50 MBW 12 (2005), 399 f. 51 MBW 11 (2003), 265 f. 52 MBW 12 (2005), 350 f. - Das Todesjahr wurde ermittelt von Anneliese SEELIGERZEISS, Die Grabplatte des Franciscus Irenicus in Gemmingen. EinWerk des Steinmetzen Jost Neibeck. In: Ettlinger Hefte 29 (1995), 43–46. 53 MBW 12 (2005), 241–243. 54 MBW 11 (2003), 413. 55 LitLex 2 (1989), 395–400 (Dieter W UTTKE). - LThK3 2 (1994), 988 f (Dieter W UTTKE). - DERS, in: Centuriae Latinae (wie Anm. 8), 261–267. - DBE 2 (1995), 300 (Reinhard MÜLLER). - RGG4 2 (1999), 87 f (Franz MACHILEK). 56 MBW 11 (2003), 294.
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schmale Kostproben geliefert. Irenicus glaubte nun dieses Desiderat befriedigt zu haben. Doch seine gelehrten Zeitgenossen glaubten es nicht. Einige, namentlich der Bayer Johannes Aventinus58 (1477–1534) und der Elsässer Beatus Rhenanus, hatten Ähnliches in Arbeit und kannten die Probleme. Irenicus bezahlte seine Geschwindigkeit mit dem Mangel an Quellenkritik, an Gestaltungskraft und an redaktioneller Genauigkeit. Der Verfasser merkte dies anscheinend noch während der Drucklegung, bei der sein Freund Melanchthon half59. Gedruckt wurde das Werk in Hagenau von Thomas Anshelm60 (ca. 1465/70 bis 1523), einem der besten Drucker jener Zeit. Er stammte aus Baden (was heute Baden-Baden heißt), hatte mit wenig Erfolg einige Jahre in Straßburg gearbeitet. Dann ging er nach Pforzheim, wo er wichtige Werke in schönen Ausgaben herstellte, darunter die epochalen Bücher Reuchlins, dessen hebräisches Lehrbuch von dem Schulrektor Georg Simler betreut wurde. 1511, bald nachdem Simler seine Universitätslaufbahn wieder aufgenommen hatte, verlegte Anshelm seine Firma nach Tübingen. Hier wurde Melanchthon, der ein Jahr danach von Heidelberg herüber kam, sein wichtigster Korrektor61. Die voluminöse Weltgeschichte des Johannes Nauclerus62 (ca. 1428–1510) wurde unter seiner Mitwirkung gedruckt. Warum Anshelm Tübingen schon nach fünf Jahren mit Hagenau vertauschte, wissen wir nicht. Melanchthon arbeitete dennoch für ihn. 1517 und 1518 weilte er einige Wochen in der elsässischen Reichsstadt63, hauptsächlich um das Geschichtswerk des Irenicus zu betreuen. Aber auch seine eigenen Schriften ließ er weiterhin bei Anshelm drucken, eine Plutarch-Übersetzung64, seine griechische Grammatik65, seine wissenschaftstheoretische Grundsatzrede »De artibus liberalibus«66. Als Melanchthon 1518 nach Wittenberg berufen wurde, blieb Anshelm in Hagenau sein bevorzugter Drucker. Die Geschäftsverbindung wurde noch stärker,
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Johann COCHLÄUS, Brevis Germanie Descriptio (1512) mit der Deutschlandkarte des Erhard Etzlaub von 1512, hrsg. v. Karl LANGOSCH (1960). 58 MBW 11 (2003), 101. 59 MBW 148. 60 MBW 11 (2003), 78. 61 Stefan RHEIN, Buchdruck und Humanismus – Melanchthon als Korrektor in der Druckerei des Thomas Anshelm. In: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland (wie Anm. 11), 62–74. 62 ContEras 3 (1987), 6 f (Ilse GUENTHER). - LitLex 8 (1990), 337 f (Peter STROHSCHNEIDER). - LThK3 7 (1998), 702 f (Heinz SCHÜTTE). - DBE 7 (1998), 347. 63 MBW Bd. 10 (1998), 260. 64 MBW 13. 65 MBW 16. 66 MBW 18.
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nachdem Anshelms Schwiegersohn Johannes Setzer67 die Firma übernommen hatte, denn Setzer, den Melanchthon seit seiner Tübinger Zeit kannte, war zum Studium nach Wittenberg gekommen und besuchte auch in den folgenden Jahren die sächsische Universitätsstadt, um Druckaufträge zu holen, die er von Melanchthon reichlich bekam68, obwohl dieser auch einmal über Setzers Druckfehler schimpfen konnte69. Setzer starb 1532 in Hagenau. Melanchthon entzog auch seinem Schwiegersohn und Nachfolger Peter Braubach70 (ca. 1500–1567) das Vertrauen nicht71. Doch Braubach siedelte 1536 nach Schwäbisch Hall und 1540 nach Frankfurt über, wodurch Melanchthons Beziehungen zu Hagenau beendet wurden. Kehren wir wieder in Melanchthons Schulzeit zurück! Der zweite Ettlinger Mitschüler, der sich als Historiker einen Namen gemacht hat, ist Caspar Hedio, wohlbekannt als Straßburger Reformator, 1523–1548 Inhaber der Münsterkanzel des Geiler von Kaysersberg. Wir verfolgen hier seine humanistische Laufbahn. Zunächst studierte er in Freiburg bis zum Magistergrad. Dann ging er nach Basel, wo er Theologie studierte und Priester wurde. Sein Vorbild und engster Freund wurde der 13 Jahre ältere Münsterprediger Wolfgang Capito. Capito stammte aus Hagenau und hatte ebenfalls die Lateinschule in Pforzheim besucht, natürlich lange vor Hedio und Melanchthon. In Basel lebte damals Erasmus von Rotterdam. Er publizierte im Verlagshaus Froben seine Edition des Neuen Testaments, die erste des griechischen Urtexts, dem er eine eigene lateinische Übersetzung und Erläuterungen beigab72. Dabei hatte er zwei gelehrte Helfer, die auch Melanchthons Freunde waren: Johannes Oecolampadius73 (1482–1531) und Nikolaus Gerbel74 (ca. 1485–1560).
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Josef B ENZING, Buchdruckerlexikon des 16. Jahrhunderts (Deutsches Sprachgebiet) (1952), 67 f. - DERS., Bibliographie haguenovienne (1973), 66–97. - Umfassend jetzt unten Nr. 18. 68 MBW 233, 277, 313, 330, 335, 394, 395, 435, 533, 546, 547, 548, 549, 676, 695, 750, 767, 769, 829, 843, 856, 1206, 1309, 1430, 1434, 1505, 2135, 8250. 69 MBW 598.2, 1167.3. 70 MBW 11 (2003), 201 f. 71 MBW 1143, 1455, 1569, 1704, 2341, 2342, 2350, 2627, 4401, 5325, 5653, 5771, 6169, 6956, 7064, 7939, 7959, 8034. 72 Cornelis AUGUSTIJN, Erasmus von Rotterdam. Leben, Werk, Wirkung (1986), 82– 91. 73 ContEras 3 (1987), 24–27 (Hans R. GUGGISBERG). - LitLex 8 (1990), 486–488 (Heinz HOLECZEK). - TRE 25 (1995), 29–36 (Ulrich GÄBLER). - LThK3 7 (1998), 981 f (Christoph WEISMANN). - DBE 7 (1998), 466 (Thomas KAUFMANN). - DERS., Reformatoren (wie Anm. 40), 43–45. 74 MBW 12 (2005), 135 f.
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Der grundgelehrte Oecolampad, der anders als Erasmus auch Hebräisch konnte, war eine wichtige Gestalt in Melanchthons Leben. Fast zwei Jahre lang studierten sie in Tübingen gemeinsam klassische Autoren. Oecolampad war 15 Jahre älter als Melanchthon. Er hatte in Heidelberg bei Wimpfeling Humaniora und bei Pallas Spangel Theologie studiert und auch schon den kleinen Melanchthon kennengelernt, bevor er 1510 Priester und Prediger in seiner Heimatstadt Weinsberg wurde. Als er von Tübingen nach Basel weitergezogen war, um dort Erasmus zu helfen und danach sein theologisches Studium mit dem Doktorgrad abzuschließen, erschien postum die Dialektik des Rudolf Agricola75, der schon 1485 in Heidelberg gestorben war, aber für Melanchthon durch die Erzählungen Reuchlins und Spangels ganz lebendig geblieben ist76. Oecolampad schenkte ihm die Neuerscheinung77. Diese Dialektik half Melanchthon bei der Überwindung der scholastischen Lehre und der Ausbildung einer eigenen, humanistischen Dialektik, die er in immer weiter verbesserter Gestalt als Wittenberger Professor entwickelte78. Viel später, als Oecolampad nach Jahren des Suchens nach der religiösen Wahrheit in Basel der Motor einer Reformation zwinglianischer Prägung geworden war, blieb er mit Melanchthon, der auf Luthers Seite stand, weiterhin in Verbindung und brachte ihn zum Nachdenken über die Richtigkeit der lutherischen Abendmahlslehre, wodurch er schließlich – Zwingli und Oecolampad waren schon gestorben – für den von Bucer propagierten Brückenschlag zwischen seinem Luthertum und dem gemäßigten Zwinglianismus der Straßburger aufgeschlossen wurde79. Der andere Helfer bei der Edition des Neuen Testamentes, Nikolaus Gerbel, war ebenfalls mit Melanchthon eng verbunden. Er stammte aus Pforzheim, hatte in Wien zusammen mit seinem Altersgenossen Vadian bei Conrad Celtis studiert, anschließend war er in Köln, Tübingen und Mainz. Als am 15. März 1509 Reuchlin in Pforzheim seinem jungen Verwandten Philipp Schwartzerdt den Humanistennamen Melanchthon verlieh, war der Kölner Magister Gerbel Augenzeuge80. In Mainz leitete er eine Burse und 75
Rudolf AGRICOLA, De inventione dialectica libri tres. Auf der Grundlage der Edition von Alardus von Amsterdam (1539) kritisch hrsg., übers. und kommentiert von Lothar MUNDT (1992). - MBW 11 (2003), 44 f. 76 MBW 472, 695, 1183, 1425, 1857, 2169, 2294, 2780, 3122, 7376, 7909, 8585, 9164. 77 MBW 2780.1.2. 78 MBW 78, 695, 4875. - TRE (wie Anm. 40), S. 386, Z. 42–44. - Günter FRANK, Melanchthons Dialektik und die Geschichte der Logik, in: Melanchthon und das Lehrbuch des 16. Jahrhunderts. Begleitband zur Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Rostock 25. April bis 13. Juli 1997 (Rostock 1997), 125–147. 79 Siehe oben Anm. 22. 80 SCHEIBLE, Schulzeit (wie Anm. 29), 50.
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hatte die Gelegenheit, den Domherrn Dietrich Gresemund den Jüngeren81 (1477–1512) kennenzulernen, der eine einzigartige Sammlung römischer Inschriften zusammengetragen hatte. Nach dessen frühem Tod 1512 wurde diese Sammlung 1520 durch Johannes Huttichius82 (ca. 1490–1544) bei Johannes Schöffer83 (ca. 1470/75–1531) in Mainz publiziert. Gleich danach siedelte Huttich nach Straßburg über. Dort hatte auch Nikolaus Gerbel seinen endgültigen Wohnsitz genommen. 1514 war er in Bologna Doktor des Kirchenrechts geworden und dann in den Dienst des Straßburger Domkapitels getreten. Von 1521 bis 1540 war er dessen oberster Sekretär, stand aber dennoch der Wittenberger Reformation nahe, wogegen er den Zwinglianismus ablehnte84. 1540 wurde er an dem von Johannes Sturm85 (1507–1589) geleiteten akademischen Gymnasium Professor für Geschichte. Seine größte Leidenschaft war die Gräzistik. Hier hat er Bedeutendes geleistet. Sein reifes Lebenswerk ist eine historische Landeskunde Griechenlands, die 1550 erschien86. Mit Melanchthon unterhielt er einen freundschaftlichen Briefwechsel87, bis er 1560 wenige Monate vor diesem starb. Seine Zusammenarbeit mit Erasmus in Basel 1515/16 war eine kurze Unterbrechung seiner Straßburger Berufslaufbahn. Gerbel hielt allein den griechischen Text des Neuen Testaments für wichtig, wogegen Erasmus auch auf seine eigene Übersetzung und die Erläuterungen Wert legte88. Dadurch entstand eine große und teure Folioausgabe. Gerbel brachte 1521 bei Thomas Anshelm in Hagenau eine Quartausgabe nur des griechischen Textes heraus89. Zu dem Kreis um Erasmus in Basel gehörten auch Zwingli90 (1484– 1531), damals Pfarrer in Glarus, und natürlich Beatus Rhenanus. Beide 81
Hans-Heinrich FLEISCHER, Dietrich Gresemund der Jüngere. Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus in Mainz (1967). - LitLex 4 (1989), 341 (Klaus ARNOLD). LThK3 4 (1995), 1041 (Peter W ALTER). - DBE 4 (1996), 157. 82 MBW 12 (2005), 343 f. 83 Lexikon des gesamten Buchwesens 3 (1937), 227 f. - Lexikon des Buchwesens 2 (1953), 688. - B ENZING, Buchdruckerlexikon (wie Anm. 67), 117. - ContEras 3 (1987), 228 (Ilse GUENTHER). 84 Thomas KAUFMANN, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 (1992), s. v. 85 LitLex 11 (1991), 272 f (Heinz HOLECZEK). - DBE 9 (1998), 617. - LThK3 9 (2000), 1061 f (Anton SCHINDLING). 86 Nicolai Gerbelii Phorcensis, pro declaratione picturae siue descriptionis Graeciae Sophiani, Libri septem. Basileae, per Ioannem Oporinum, (1550). 87 MBW 183, 194, 384, 445, 477, 478, 493, 532, 679, 691, 977, 3186, 3633a, 3848. 88 Erika RUMMEL, Erasmus' Annotations on the New Testament. From Philologist to Theologian (1986). 89 Josef B ENZING, Bibliographie haguenovienne (1973), 61 Nr. 94. 90 ContEras 3 (1987), 481–486 (Fritz B ÜSSER). - LitLex 12 (1992), 540–544 (Heinz HOLECZEK). - Michel PERONNET in: Centuriae Latinae (wie Anm. 8), 811–815. -
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waren keine Freunde Melanchthons. Wenden wir uns deshalb wieder seinem Mitschüler Hedio zu. Er wurde der treueste Gefolgsmann Capitos, mit dem er 1520 nach Mainz und 1523 nach Straßburg übersiedelte, Capito als Propst von St. Thomas, Hedio als Münsterprediger. Was die beiden zusammen mit dem Münsterpfarrer Matthäus Zell91 (er stammte aus Kaysersberg), mit Bucer und mit den Politikern, allen voran Jakob Sturm, für die Reformation getan haben, ist hier nicht das Thema. Hedio fand neben seinem Beruf als Prediger und Seelsorger immer noch die Zeit für historische Studien. Weil er nicht in rauschhaftem Überschwang wie sein Schulkamerad Irenicus dem Ziele zueilte, weil er sich nicht nur die Zeit nahm für seine Studien, sondern sich auch die Zeit ließ für die Reife seiner Kenntnisse, erntete er Früchte, die dem Publikum besser schmeckten als die Rhapsodie des Irenicus oder auch das 1531 ebenfalls in Straßburg erschienene kulturkritische »Zeitbuch« des Spiritualisten Sebastian Franck92 (1499–1542/43), der darauf aus dieser sonst so toleranten Stadt vertrieben wurde. Hedio dagegen begann mit unverfänglichen Übersetzungen oder Editionen anerkannter Autoren, die er dann allmählich fortsetzte93. Hierbei kam es zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit Melanchthon. Auf der Reise in seine Heimat Bretten und anschließend zur Universitätsreform nach Tübingen94 kam Melanchthon im September 1536 durch Frankfurt, wo gerade die Herbstmesse stattfand. Hier traf er seinen ehemaligen Wittenberger Studenten Krafft Müller95, 1503 in Schlettstadt geboren, der soeben in das Straßburger Druckergeschäft eingestiegen war. (Er firmierte als Crato Mylius.) Melanchthon schlug ihm vor96, eines der bedeutendsten Geschichtswerke des Hochmittelalters herauszubringen, die Chronik des Abtes Burchard von Ursberg97, um 1230 in Oberschwaben entstanden, wertvoll durch Gleichzeitigkeit mit den Ereignissen, beliebt bei allen deutschen Humanisten wegen ihres staufischen Standpunkts im Kampf zwischen Kaiser und Papst. Schon 1515 war sie von Konrad
KAUFMANN, Reformatoren (wie Anm. 40), 53–56. - DBE 10 (1999), 709 f (Bernd MOELLER). 91 DBE 10 (1999), 636. - Metzler Lexikon christlicher Denker (2000), 746 f (Martin H. J UNG). 92 MBW 12 (2005), 79 f. 93 Hartwig KEUTE, Reformation und Geschichte. Kaspar Hedio als Historiograph (1980). 94 MBW Bd. 10 (1998), 454–457. 95 B ENZING, Buchdruckerlexikon (wie Anm. 67), 163. - Lexikon des gesamten Buchwesens2 5 (1999), 250 (I. BEZZEL). 96 MBW 1880.1. 97 MBW 11 (2003), 241.
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Peutinger98 (1465–1547) ediert worden99. Mylius und Melanchthon fanden in dem Straßburger Münsterprediger Hedio einen Bearbeiter, der die unzulängliche Ausgabe Konrad Peutingers durch zwei Handschriften verbesserte100. Die eine stammte aus dem Straßburger Augustinerkloster, die andere aus der Bibliothek des Wormser Bischofs und Heidelberger Kanzlers Johann von Dalberg101 (1455–1503) in Ladenburg. Diese wurde von Johannes Huttichius – wir haben ihn als Epigraphiker kennengelernt, inzwischen war er in Straßburg Stiftsherr an St. Thomas und Kantor am Münster geworden – zur Verfügung gestellt. Beatus Rhenanus lieh seinen Rat. Wo man kaiserfeindliche Tendenzen wahrnahm, wurde dies durch eine Vorrede und durch Marginalien entschärft. Der Bearbeiter Hedio blieb anonym. Er verfasste auf Drängen Müllers in nur zwei Monaten eine Fortsetzung über die Zeit von 1230 bis 1537. Darin wird – so beschreibt es der Drucker in seiner Vorrede – der Kampf um die Freiheit Deutschlands geschildert, den die Kaiser gegen die Päpste führten oder auch Gregor von Heimburg102 (ca. 1400–1472) gegen Pius II. 103 (1405, 1458–1464), der Beginn der Gravamina der deutschen Nation gegen den römischen Stuhl, über die auch Wimpfeling 1510 durch Kaiser Maximilian um ein Gutachten gebeten wurde104. In der »Paralipomena« genannten Fortsetzung Hedios begegnen wir auch den Wahrheitszeugen, den testes veritatis, die nicht erst von Melanchthons Schüler Matthias Flacius105 (1520–1575), der sie 1556 monographisch behandelte, erfunden wurden106. Zu ihnen gehören Johannes Geiler von Kaysersberg, Johannes Reuchlin, Jakob Wimpfeling, Luther, Erasmus, Oecolampad107. Im März 1537 konnte das Werk erscheinen. Melanchthon steuerte ganz zuletzt auch noch eine Vorrede bei, die im Februar 1537 durch die auf dem Schmalkaldischen Bundestag – dem, 98
ContEras 3 (1987), 74-76 (Rosemarie AULINGER). - LitLex 9 (1991), 136 f (Hartmut KUGLER). - Gilbert T OURNOY in: Centuriae Latinae (wie Anm. 8), 613–616. DBE 7 (1998), 630 (Harm G. SCHRÖTER). - LThK3 8 (1999), 154 (Heribert SMOLINSKY). 99 Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts - VD 16 -, I. Abt. Bd. 3 (1984), 582 B 9800. 100 MBW 1880.2. 101 Hermann W IEGAND, Johann von Dalberg und der oberrheinische Humanismus. In: DERS., Der zweigipflige Musenberg. Studien zum Humanismus in der Kurpfalz (2000), 51–64. - MBW 11 (2003), 331. 102 MBW 12 (2005), 177. 103 LitLex 9 (1991), 157–160 (Paul W EINIG). - TRE 26 (1996), 649–652 (Erich MEUTHEN). - LThK3 8 (1999), 322–324 (Johannes HELMRATH). 104 Heinz SCHEIBLE, Die Gravamina, Luther und der Wormser Reichstag 1521: Forschungsbeiträge (1996), 393–409. - TRE 14 (1985), 131–134 (Eike W OLGAST). 105 MBW 12 (2005), 66–68. 106 Heinz SCHEIBLE, Der Catalogus Testium Veritatis. Flacius als Schüler Melanchthons (1996): unten Nr. 24. 107 MBW 1880.
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wonach Luthers Schmalkaldische Artikel benannt sind – anwesenden Straßburger Gesandten, darunter Bucer, überbracht wurden. Darin erzählt er vom Heidelberger Humanistenkreis am Hofe des Pfalzgrafen Philipp des Aufrichtigen108 (1448, 1476–1508) und dessen Wunsch nach einem Geschichtswerk, und es fallen die Namen Dalberg, Rudolf Agricola und Reuchlin, aber nicht Wimpfeling oder Celtis109. Hedio arbeitete fleißig weiter und brachte seine lateinischen Chroniken in eine deutsche Fassung, die schon 1539 erscheinen konnte, wiederum bei Krafft Müller in Straßburg. Melanchthon zeigte seine Zustimmung durch eine große und wohldurchdachte Vorrede110, worin er sein Geschichtsverständnis darlegt: Solche Weltchroniken sind wichtig für die religiöse Unterweisung. Hier lernt man die Geschichte der Kirche kennen, ihre Merkmale, die Irrlehren, namentlich Mohammeds und der Päpste, aber auch den Rahmen der biblischen Geschichte. Im weltlichen Bereich liefern die Chroniken Beispiele für Ethik und Politik und Präzedenzfälle für die Justiz, und sie beweisen die Macht Gottes über die Reiche. Soweit Melanchthon. Auch dieses Mal konnte der Verleger Crato Mylius den Text in Frankfurt abholen, wo sich Melanchthon als Berater seines Landesherrn beim Fürstentag befand und wieder viele Straßburger traf.111
*** Wenn wir fragen, was das Anliegen des Humanismus war, dann fällt uns zuerst die Pflege der Sprache ein, und dies ist gewiss richtig. Die Schönheit und Klarheit der Sprache erlangt man durch Nachahmung der lateinischen Klassiker. Die Probe auf die Beherrschung einer Sprache ist die Fähigkeit, Verse zu machen. Deshalb ist die Ausbildung in gebundener Rede, in der Dichtkunst, zusätzlich zur Virtuosität in Prosa, der Rhetorik, ein grundlegendes Anliegen der humanistischen Bewegung. Doch es ist nicht das einzige. In seiner Tübinger Wissenschaftstheorie »De artibus liberalibus«112 hat Melanchthon die Siebenzahl der traditionellen Freien 108
DBE 7 (1998), 655. - Hermann W IEGAND, Phoebea sodalitas nostra. Die Sodalitas litteraria Rhenana. In: DERS., Der zweigipflige Musenberg (wie Anm. 101), 29–49. Mittelalter. Der Griff nach der Krone. Die Pfalzgrafschafschaft bei Rhein im Mittelalter. Begleitpublikation zur Ausstellung der Staatlichen Schlösser und Gärten BadenWürttemberg und des Generallandesarchivs Karlsruhe. Redaktion Volker Rödel (2000), 297–307 und 353–359. 109 MBW 1857. 110 MBW 2138. 111 Bei MBW 2138. 112 Fundorte siehe MBW 18 und MBW.T 1, 65 f Nr. 18. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Werdegang (1993): oben Nr. 2, bes. S. 42 f.
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Künste des Trivium und Quadrivium auf die Neunzahl der Musen gebracht, indem er die Historie und die Poesie, Klio und Kalliope, hinzufügte. Diese beiden stehen ihm für die gesamte Literatur in Prosa und Vers. In seiner Wittenberger Antrittsrede über die Studienreform113 hat er das Studium der Geschichte, wofür es damals und noch lange keine Lehrstühle gab, für die Grundwissenschaft erklärt. Die biblischen Sprachen Griechisch und Hebräisch dienen dem humanistischen Grundsatz, zu den Quellen vorzudringen. Sie vermitteln Sachwissen, nicht nur in der Theologie, sondern auch in Philosophie, Medizin und Naturwissenschaften. Melanchthon befand sich mit seiner Wertschätzung der Geschichte im Einklang mit namhaften anderen Humanisten. Die erste Anregung dafür hat er nachweislich von Reuchlin empfangen. Insbesondere dessen Vorrede zur Weltgeschichte des Nauclerus, an deren Drucklegung bei Thomas Anshelm in Tübingen Melanchthon mitwirkte, hat ihn bis in die Formulierungen hinein beeinflusst114. Vor Reuchlin hatte sich namentlich Conrad Celtis für eine Geschichte der Deutschen, die sogenannte Germania illustrata, eingesetzt115, und Wimpfeling einen bescheidenen Versuch dazu geliefert116. Celtis hat in Melanchthons Biographie keine Spuren hinterlassen. Aber mit Wimpfeling stand er als Heidelberger Student in enger Verbindung.
*** Vorzustellen ist noch der nach Irenicus und Hedio dritte Ettlinger, der zusammen mit Melanchthon die Pforzheimer Lateinschule besuchte: Matthias Erb. Wie Irenicus war er danach auch in Tübingen mit dabei. Später haben sich die beiden nicht mehr gesehen, blieben aber in lockerer brieflicher Verbindung, wovon allerdings nur ein indirektes Zeugnis erhalten geblieben ist117. Seine theologische Prägung erhielt Erb von Zwingli, mit dem er 1531 an der Schlacht von Kappel als Feldprediger teilnahm. Als Schulmeister der Reichsstadt Gengenbach verfasste er einen Katechismus118. Graf Georg von Württemberg (1498–1558)119 führte 1538 in seinen 113
Fundorte siehe MBW 30 und MBW.T 1, 84–86 Nr. 30. - SCHEIBLE, Melanchthons Werdegang: oben Nr. 2, bes. S. 44 f. 114 SCHEIBLE, Reuchlins Einfluß (wie Anm. 18), 93–95. 115 Ulrich MUHLACK, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus (1991), 196–216. 116 W IMPFELING, Briefwechsel (wie Anm. 11), 1. Teilband, 366–369 Nr. 118, bes. Anm. 2. 117 MBW 5426. - MBW 11 (2003), 413. 118 Ernst-Wilhelm KOHLS, Evangelische Bewegung und Kirchenordnung. Studien und Quellen zur Reformationsgeschichte der Reichsstadt Gengenbach (1966).
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Herrschaften Horburg und Reichenweier die Reformation ein120. Als Superintendenten hatte ihm Caspar Hedio im Jahr zuvor Matthias Erb empfohlen. Mehr als 20 Jahre lang wirkte dieser hier zwischen Basel und Straßburg, wo er auch theologisch seine Heimat hatte. Doch nachdem Graf Georg 1558 gestorben war, fielen Horburg und Reichenweier an die Stammlande, wo unter Herzog Christoph121 (1515, 1550–1568) und seinem Propst Johannes Brenz122 (1499–1570) das Luthertum in Geltung war. Erb lehnte die neue, von Brenz verfasste württembergischen Kirchenordnung123 ab. 1560 verließ er die Stätte seines 22-jährigen Wirkens und ging in das benachbarte Rappoltsweiler (Ribeauvillé), den Hauptort der Herrschaft Rappoltstein (Ribeaupierre)124. Hier starb er 1571 im damals ungewöhnlich hohen Alter von 76 Jahren. Ein weiteres Beispiel für die buchstäblich grenzenlosen Verbindungen im Oberrheingebiet ist Michael Hilspach125 (1482–1570). Er war ein fähiger Schulmann. Seinen Namen trägt er nach seiner Heimat, dem kurpfälzischen Städtchen Hilsbach im Kraichgau, heute ein Stadtteil von Sinsheim im Rhein-Neckar-Kreis. Seine Ausbildung erhielt er in Heidelberg, wo er Melanchthon kennenlernte. Dann war er Schulmeister in Ettlingen, der Heimatstadt von Hedio, dessen Schwester er heiratete. 1518 wurde er Schulrektor in Hagenau, eine höchst angesehene Stelle. Doch ähnlich wie Grynaeus in Buda konnte er wegen seiner Hinneigung zur Reformation in dieser kaisertreuen Reichsstadt nicht bleiben. 1525 übernahm er die La119
Gerhard RAFF, Hie gut Wirtemberg allewege. Das Haus Württemberg von Graf Ulrich dem Stifter bis Herzog Ludwig (1988), 490–497. - Das Haus Württemberg. Ein biographisches Lexikon, hrsg. v. Sönke Lorenz, Dieter Mertens und Volker Press (1997), 126 f (Jean-Marc DEBARD). 120 Martin BRECHT und Hermann EHMER, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte (1984), 269. - Franz BRENDLE, Dynastie, Reich und Reformation. Die württembergischen Herzöge Ulrich und Christoph, die Habsburger und Frankreich (1998), 22 f und 73. Ernst-Wilhelm KOHLS, Die evangelischen Katechismen von Ravensburg 1546/1733 und Reichenweier 1547/1559 (1963). 121 TRE 8 (1981), 68-71 (Hermann EHMER). - ContEras 3 (1987), 464 (Ilse GUEN3 THER). - RAFF (wie Anm. 119), 511–530). - LThK 2 (1994), 1174 (Rudolf REINHARD). 4 DBE 2 (1995), 324 f. - RGG 2 (1999), 322 f (Hermann EHMER). - Das Haus Württemberg (wie Anm. 119), 108–111 (Franz B RENDLE). - Eberhard FRITZ in: Reformationsgeschichte Württembergs in Porträts, hrsg. v. Siegfried Hermle (1999), 226–253. 122 MBW 11 (2003), 214 f. 123 BRECHT-EHMER (wie Anm. 120), 305–362. - Hermann EHMER in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, hrsg. v. Anton Schindling und Walter Ziegler, Bd. 5: Der Südwesten (1993), 168–192, bes. 179. - EKO 16 (2004), 344–419. 124 Die Territorien (wie Anm. 123), Bd. 6 (1996), 170. - Gerhard KÖBLER, Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien und reichsunmittelbarn Geschlechter vom Mittelalter bis zur Gegenwart (61999), 506. 125 MBW 12 (2005), 1926.
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teinschule im badischen Pforzheim. Als im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken 1532 die Kirche maßvoll reformiert wurde, wobei zwei Pforzheimer, Johannes Schwebel126 (ca. 1490–1540) und Kaspar Glaser127 (ca. 1480– 1547), die Beauftragten des Herzogs waren, wurde auch Hilspach dorthin berufen, zuerst als Rektor, dann als Geistlicher. Zuletzt war er Generalsuperintendent. Eine nicht untypische Karriere. Noch ein Beispiel. Aus der bischöflich Straßburgischen Stadt Rufach128 im Oberelsaß kam Jodocus Gallus129 1476 als 17-jähriger zum Studium nach Heidelberg, wo er bis zum Rektor der Universität und Licentiaten der Theologie aufstieg. 1493 wurde er Pfarrer von Neckarsteinach, 1510 Rat des Bischofs von Speyer. Er gehörte nicht nur dem Heidelberger Humanistenkreis um Dalberg an, sondern war auch Gastfreund des Erasmus. 1517 ist er gestorben. Seine Bibliothek vermachte er dem Franziskanerkloster seiner Heimatstadt Rufach. Ein letzter Rest ist in der Stadtbibliothek Colmar erhalten geblieben130. 1489 hielt er in Heidelberg eine der damals üblichen Scherzreden, die von Wimpfeling in einem Sammeldruck publiziert wurde131. Sie handelt von einem „Lichtschiff“ und könnte vielleicht Sebastian Brant132 (1457–1521) bei seinem Narrenschiff beeinflusst haben. In der Schlettstädter Bibliothek gibt es eine Sammelhandschrift, den Codex 116, worin weitere Reden des Jodocus Gallus überliefert sind133. Gallus zog auch seinen Neffen Konrad Pellikan134 (1478–1556), ebenfalls aus Rufach, nach Heidelberg. Dieser grundgelehrte Mann verkörpert den Übergang vom spätmittelalterlichen Klosterhumanismus zur reforma126
KREMER (wie Anm. 30), 154 f. - Bernd MOELLER und Karl STACKMANN, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation (1996), s. v. - DBE 9 (1998), 233. Otto BÖCHER, Die Theologen der Ebernburg: Kaspar Aquila, Martin Bucer, Johannnes Oekolampad und Johannes Schwebel: Ebernburg-Hefte 33 (1999), 403–423, bes. 420 f. Bernhard H. B ONKHOFF, Trostschrift des Zweibrücker Reformators Johannes Schwebel an die Christen der Stadt und des Bistums Metz [1525]: ebd. 487–499. 127 MBW 12 (2005), 150. 128 Die Territorien (wie Anm. 123), Bd. 5 (1993), S. 72 und 85. 129 MBW 12 (2005), 115. 130 Erich KLEINSCHMIDT, Scherzrede und Narrenthematik im Heidelberger Humanistenkreis um 1500. Mit der Edition zweier Scherzreden des Jodocus Gallus und dem Narrenbrief des Johannes Renatus: Euphorion 71 (1977), 47–81+281, bes. 49 Anm. 13. 131 KLEINSCHMIDT (wie Anm. 130), 49 Anm. 11. - W IMPFELING, Briefwechsel (wie Anm. 11), 154–158 Nr. 18 f. 132 TRE 7 (1981), 136–141 (Hans-Gert ROLOFF). - LitLex 2 (1989), 162–165 (Norbert H. OTT). - Hermann W IEGAND, Sebastian Brant (1457-1521). Ein streitbarer Publizist an der Schwelle der Neuzeit. In: Humanismus im deutschen Südwesten (wie Anm. 7), 77– 104. - LThK3 2 (1994), 634 (Silvia Serena T SCHOPP). - DBE 2 (1995), 73 (Reinhard MÜLLER). - RGG4 1 (1998), 1732 f (Dieter MERTENS). 133 KLEINSCHMIDT (wie Anm. 130), 67–72. 134 ContEras 3 (1987), 65 f (Hans R. GUGGISBERG). - LitLex 9 (1991), 109 (Christoph ZÜRCHER). - DBE 7 (1998), 592. - LThK3 8 (1999), 15 (Siegfried RAEDER).
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torischen Bibelwissenschaft. 1491 begann er 13-jährig sein Studium. Mit 15 trat er in Rufach dem Franziskanerorden bei. Man schickte den begabten Knaben zum weiteren Studium nach Tübingen, wo er auch Reuchlin kennenlernte und sich das Hebräische so gut aneignete, dass er noch vor Reuchlins großem Werk, das – wie oben erwähnt – 1506 in Pforzheim gedruckt wurde, eine kurze hebräische Grammatik 1504 in Straßburg bei Hans Schott publizierte – die erste in Deutschland überhaupt135. Auch damals gab es den Wettlauf um Prioritäten und Marktanteile. Ähnlich eilig hat Erasmus sein Neues Testament herausgebracht, während in Alcalá in bedächtiger Gelehrsamkeit an einem ähnlich Projekt gearbeitet wurde136. Pellikan wurde in den Franziskanerklöstern in Basel, Rufach und Pforzheim eingesetzt. Von Basel, wo er neben Oecolampad an der Universität lehrte, holte ihn Zwingli nach Zürich. Mit der Heirat 1526 besiegelte er den Anschluss an die Reformation. Er lehrte vor allem Griechisch und Hebräisch und war ein wichtiger Mitarbeiter bei der Zürcher Bibel137. Wimpfeling lebte für damalige Zeiten ungewöhnlich lang. Er starb 1528 im Alter von 78 Jahren. Er setzte sich sein ganzes Leben hindurch für die Reform der Bildung und der Kirche ein. Als Sechzigjähriger konnte er den Eindruck gewinnen, erfolgreich gewesen zu sein. Ein Kaiser suchte seinen Rat, und anders als bei Reuchlin wurde ein Prozess, der auch ihm von ewig Gestrigen angehängt wurde, von der Kurie niedergeschlagen. Aber dann eskalierten die von ihm intendierten Reformen zur Reformation. Was er hatte umbauen wollen, wurde an vielen Orten zerstört. Besonders schmerzlich war, dass seine hoffnungsvollsten Schüler, die Straßburger Patrizier Jakob und Peter Sturm, sich der neuen Bewegung anschlossen. Dass gerade durch sie in Straßburg das Bildungswesen in seinem Sinne reformiert wurde138, dies zu erleben war ihm nicht vergönnt.
*** Nach diesem, vielleicht zuweilen verwirrenden Panorama von persönlichen Beziehungen bleibt der Eindruck der vielfältigen Verflechtungen und Kontakte jener Humanisten, die bahnbrechend waren für den Fortschritt der 135
TRE 23 (1994), 407 Z. 9 f (Karl Heinz B URMEISTER). TRE 7 (1981), 285 (Doris FOUQUET-P LÜMACHER). - TRE 27 (1997), 22-25 (Adrian SCHENKER). - LThK3 8 (1999), 403 (Andreas ANGERSTORFER). 137 Traudel HIMMIGHÖFER, Die Zürcher Bibel bis zum Tode Zwinglis (1531). Darstellung und Bibliographie (1995), 60–83 u. ö. 138 Ernst-Wilhelm KOHLS, Die Schule bei Martin Bucer in ihrem Verhältnis zu Kirche und Obrigkeit (1963). - Anton SCHINDLING, Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Strassburg 1538-1621 (1977). 136
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geistigen Entwicklung, der weiterwirkte über die Aufklärung bis in unsere Gegenwart. Die Vielfalt bündelt sich in zwei Personen und Orten: Wimpfeling und Melanchthon, Schlettstadt und Heidelberg. Melanchthon entschwand 1518 nach Wittenberg und entfaltete dort eine pädagogische und reformatorische Wirksamkeit von europäischer Dimension. Die Verbindung mit einigen Freunden aus der Studienzeit blieb dennoch bestehen. Wimpfeling, der Generation seines Großvaters zugehörig, lehnte die neue Zeit ab und zog sich in seine Heimatstadt zurück, nicht anders als später Beatus Rhenanus. Ich habe Verständnis für diese Resignation, aber ich denke, Melanchthon hat mehr bewirkt, nicht nur durch das Neue, das er vorantrieb in Kirche und Universität, sondern auch durch die Pflege des Alten, der Pädagogik eines Wimpfeling und der Geschichtswissenschaft eines Rhenanus.
Reuchlins Bedeutung für den Toleranzgedanken Walter Witzenmann hat in bewundernswerter Weise neben seinem Hauptberuf als Geschäftsführer einer weltweit tätigen Firma eine Vielzahl von Aufgaben in Wirtschaft, Politik und Kultur übernommen. Der Vorsitz der Reuchlin-Gesellschaft seit ihrer Gründung 1957 ist nicht das geringste dieser Ämter. Dank seinen philosophischen Studien, die zur Promotion bei dem Heidelberger Kultursoziologen Alfred Weber und zu Publikationen über Vico und Déscartes führten, war er niemals nur Geschäftsmann. Fast hat es den Anschein, er habe seinen Beruf beiläufig betrieben und sein eigentliches Leben in Wissenschaft, Politik und Kunst gefunden. Er wäre darin seinem großen Landsmann Reuchlin ähnlich: wenn man an ihn denkt, fällt einem zuletzt ein, dass er auch einen Brotberuf hatte. Doch mag dies täuschen. In einem freilich sind Reuchlin und Witzenmann grundverschieden: Der eine strebte fort aus der Heimat, der andere kehrte zurück zur ererbten Aufgabe. Wenn nun dem Jubilar ein unlängst in der gemeinsamen Vaterstadt gehaltener Vortrag über Reuchlin als Geburtstagsgabe dargebracht wird, so geschieht dies in dem Bewusstsein, dass Walter Witzenmann dadurch überhaupt nichts Neues erfährt, aber in der Hoffnung, dass er nach so vielen Jahren des Umgangs mit dem größten Pforzheimer gern wieder einmal längst Bekanntes rekapituliert und sich an den Nuancen der Darstellung erfreut. Das Volk Israel bewahrte seine Identität dadurch, dass die bekannten Heilstaten Gottes immer wieder erzählt wurden. Wenn Geschehenes nicht mehr berichtet wird, gerät es in Vergessenheit. Geschichte wird dann Vergangenheit und vergeht.
*** Johannes Reuchlin fühlte sich seiner Vaterstadt immer verbunden und hat sie hoch geehrt. Seine Karriere machte er freilich außerhalb. Als Fünfzehnjähriger verließ er die Heimat, um seine Ausbildung in Freiburg, Paris, Basel, noch einmal Paris, dann Orléans und Poitiers zu absolvieren und mit dem juristischen Doktorgrad und erster Lehrtätigkeit in Tübingen zu vollenden. Er trat in den Dienst des Grafen und späteren Herzogs von
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Württemberg. (Es war Eberhard, der mit dem Barte, Württembergs geliebter Herr.) Reisen an den Kaiserhof in Linz an der Donau, nach Florenz, Rom und Venedig gehörten zu seinem Beruf. Ein griechischer Humanist, Hermolao Barbaro in Venedig, übersetzte seinen schwäbischen Familiennamen, der auf der ersten Silbe zu betonen ist, ins Griechische: Capnion, das Räuchlein. Im Wappen führte der 1492 in Linz zum kaiserlichen Hofpfalzgrafen und damit in den erblichen Adelsstand Erhobene – heute bekommt man in solchen Fällen das Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband – den Räucheraltar: ara Capnionis. Seine Bücher hat er, obgleich sie lateinisch geschrieben sind und sich mit Griechisch und Hebräisch befassen, nur unter seinem deutschen Namen publiziert, dem er konsequent die Herkunft hinzufügte: Johannes Reuchlin Phorcensis – Reuchlin ohne lateinische Endung! Das innerste Geheimnis seiner kabbalistischen Philosophie enthüllte er in der Stadt an der Enz, an der Pforte des Schwarzwaldes; hier ließ er die Vertreter der beiden Hochreligionen und einer Philosophenschule zusammenkommen, um den Sinn des Gottesnamens zu suchen, und er behauptete, die von den Phöniziern gegründete Stadt – daher der Name, nicht von porta Pforte oder portus Hafen – bringe einen besonders begabten Menschenschlag hervor. Aber meinte er dies im Ernst? Melanchthon, sein Schüler und Verwandter, wusste, dass Reuchlin Witze machte. Ein hintergründiger Nordschwarzwälder, dessen Großeltern noch Hintersassen des Klosters Hirsau waren, der Vater Ökonom bei den Dominikanern, die dem Sohn dann sehr viel später das Alter vergällen sollten. Er selbst ein erfolgreicher Jurist und Diplomat von internationalem Zuschnitt. Nichts Einmaliges in jener Blütezeit des aufsteigenden Bildungsbürgertums. Auch dass er nicht in seinem Beruf aufging, die erfolgreiche Karriere als Broterwerb betrieb, hebt ihn nur wenig aus den Tendenzen seiner Zeit; der Augsburger Stadtschreiber Konrad Peutinger machte das ebenso, und der wohlhabende Nürnberger Ratsherr Willibald Pirckheimer brauchte den Broterwerb noch nicht einmal; die ehrenamtliche Politik gehörte zu den Vorgaben seiner Gesellschaftsschicht, denen er sich nicht entziehen konnte und nicht entziehen wollte. Gemeinsam ist diesen dreien und noch manch anderen, dass sie sich durch ihr Hobby in die Geschichte eingegraben haben, durch die humanistischen Studien. Beachtliches hat Reuchlin hierin geleistet. Er gehörte zur älteren Generation der deutschen Humanisten. 1455 geboren, war er rund zehn bis fünfzehn Jahre älter als Peutinger (1465), Erasmus (1466/69), Pirckheimer (1470). Zwölf Jahre älter als er war Rudolf Agricola, vier Jahre jünger Konrad Celtis. Reuchlin war dadurch gezwungen, manches als erster zu tun, hatte die Chance, bahnbrechend zu sein, und er hat sie wahrgenommen.
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In den drei Sprachen, in der kabbalistischen Philosophie und auch für das Theater hat er Beachtliches geleistet, das ihm einen Platz in der Geschichte der Fachwissenschaften sichert, aber auch nicht mehr. Was ihm einen breiten Bekanntheitsgrad verschaffte, ihn nachgerade zu einer Symbolgestalt werden ließ, über die Goethe reimte: „Reuchlin! Wer will sich ihm vergleichen! Zu seiner Zeit ein Wunderzeichen“ – das ist sein Beitrag zum Toleranzgedanken. Gerade dazu hat er sich überhaupt nicht gedrängt. Der Anlass war zufällig, der Verlauf turbulent und hat dem Ruheständler zwar Solidaritätsbekundungen mancher Zeitgenossen und postume Ehrungen, aber über zehn Jahre hindurch großen Ärger eingebracht. Das Ende war eine juristische Niederlage, das Verdikt der Kirche, die sich hierin von Abaelard und Meister Eckhart über Hus, Luther, Giordano Bruno und Galilei bis zu Hans Küng, Leonardo Boff und Eugen Drewermann gleich blieb. Reuchlin hielt ihr dennoch die Treue, schloss sich nicht der Reformation an, einer für ihn neuen, unverstandenen Bewegung, deren Repräsentanten seine Kinder und Enkel hätten sein können.
*** Aber betrachten wir sein Lebenswerk ein wenig genauer! 1478, mit 23 Jahren, publizierte er ein lateinisches Glossar – ähnlich wie im Deutschen beim Duden werden die lateinischen Wörter lateinisch erklärt. Das anonym erschienene Werk diente gewiss dem Broterwerb. Es erlebte 22 Auflagen bis 1504. Dann wurde es durch das Lebenswerk des etwa 20 Jahre älteren Ambrogio Calepino (ca. 1435 – ca. 1510), dessen Lexikon erstmals 1504 erschien, ersetzt und verdrängt. Latein war damals die Sprache der Gebildeten, und es gab Vorarbeiten für das Glossar. Was damals noch kaum jemand konnte nördlich der Alpen, war Griechisch. Reuchlin lernte diese Sprache in Paris von Georgios Hermonymos aus Sparta, einem Emigranten oder besser Asylanten, der sich in Paris (1476–1508) als Sprachlehrer und Kopist am Leben erhielt. Später lernte auch Erasmus bei ihm. Reuchlin brachte es zu einer solchen Meisterschaft, dass er Thukydides – wer im Gymnasium damit geplagt wurde, weiß, wie schwer der ist – aus dem Stegreif deutlich lesen – bei den verschnörkelten mittelalterlichen Minuskelhandschriften wahrlich eine Kunst für sich – und ins Lateinische übersetzen konnte. Wir wissen dies aus einer von Melanchthon überlieferten Anekdote: Auf Gesandtschaftsreise in Rom, schaute Reuchlin bei dem griechischen Emigranten Johannes Argyropoulos vorbei, der die Störung seines Unterrichts mit einer Prüfung des Eindringlings rächte, aber dann seiner freudigen Überraschung über
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die Leistung des Nordländers ebenso offen Ausdruck verlieh: „Durch unser Exil ist Griechenland über die Alpen geflogen“, rief er. Graecia nostro exilio transvolavit Alpes. Reuchlin hat Übersetzungen aus dem Griechischen angefertigt, manche ins Lateinische, die zum Teil von ihm oder anderen veröffentlicht wurden, manche ins Deutsche, die ungedruckt blieben. Er hat an einem griechischen Wörterbuch gearbeitet und eine griechische Grammatik entworfen. Beide gelangten nicht zur Druckreife. Der Fortschritt der Wissenschaft hat ihn auch hierin überholt. Ohne Konkurrenz steht er als Begründer der hebräischen Philologie da. Sein Interesse an dieser Sprache, nach den Vorstellungen der Zeit die Sprache, in der Gott gesprochen hat, war ein philosophisches. Die antiken Systeme von Platon und Aristoteles sind durch eine Vielzahl originaler Schriften dieser Philosophen recht gut bekannt und wurden in der Renaissance, der Zeit Reuchlins, neu im Urtext studiert, ins Lateinische Übersetzt und auch systematisch rezipiert, Platon insbesondere von dem Florentiner Marsilio Ficino (1433-1499), den Reuchlin persönlich kannte. Hier war nach Reuchlins Meinung das Nötigste getan. Es gab noch einen antiken Philosophen, von dem keine Schriften überliefert sind, von dessen verschollenem System aber Reuchlin besonders viel erwartete: Pythagoras. Reuchlin war der Überzeugung, dass seine Lehren in die Schriften der jüdischen Philosophen des Mittelalters, insbesondere der sog. Kabbalisten, eingegangen seien und sich aus denen rekonstruieren ließen. Der Florentiner Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Kabbala, zu Deutsch „Überlieferung“, ist der Versuch, die Geheimnisse Gottes und der Welt durch den Zahlenwert der Worte – jeder hebräische Buchstabe ist ja auch eine Zahl – zu deuten. Dieser Versuch erscheint weniger abstrus, wenn man bedenkt, dass die moderne Physik und Astronomie ebenfalls in Zahlen, in mathematischen Formeln auszudrücken sucht, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Dafür also musste Reuchlin Hebräisch lernen. Nach 25-jährigen Studien, zeitweise bei gelehrten Juden in Linz und Rom, wie gerade seine diplomatische Berufstätigkeit eine Möglichkeit bot, konnte er ein hebräisch-lateinisches Lexikon mit Grammatik erscheinen lassen. Den schwierigen und umfangreichen Druck bewältigte eine der besten Firmen damals in Deutschland: Thomas Anshelm in Pforzheim. Die Kosten freilich musste der Autor aufbringen. Das ist heute nicht anders bei geisteswissenschaftlicher Fachliteratur. Mutiger als wir heute war er bei der Auflagenhöhe: 1500 Exemplare wurden gedruckt. Kein Wunder, dass er nicht auf seine Kosten kam. Heute ist man bei einem viel größeren Markt mit 500 bis höchstens 1000 Exemplaren zufrieden, nicht selten mit nur 300. Hinzu kam, dass es vorher schon und bald danach kürzere und
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daher didaktisch brauchbarere und billigere Lehrbücher des Hebräischen gab. Aber Reuchlins »Rudimenta linguae hebraicae« von 1506 blieben das wissenschaftliche Fundament. Ohne sie wäre auch Luthers Übersetzung des Alten Testaments aus dem Urtext nicht möglich gewesen. Reuchlin war sich seiner Leistung nicht minder bewusst als Horaz. Exegi monumentum aere perennius, sagt auch er.
*** Gerade 50 Jahre alt – für damalige Lebenserwartung durchaus ein Greis – stand er nun auf der Höhe seiner wissenschaftlichen und beruflichen Laufbahn. Das zweijährige Exil in Heidelberg war längst vorbei. Unter Herzog Ulrich von Württemberg war er einer der drei höchsten Richter des Schwäbischen Bundes geworden. Er hatte das wissenschaftliche Format und die gesellschaftliche Position erlangt, um einem Kaiser als Gutachter dienen zu können. Genau dies gereichte ihm zum Verderben, vergällte ihm das letzte Dezennium seines Lebens. Auslöser war der intolerante Eifer eines Proselyten. Der Jude Pfefferkorn hatte sich taufen lassen; er hieß nun Johannes. Auf Rat seiner Beichtväter wollte er seine ehemaligen Glaubensbrüder ebenfalls vom Judentum abbringen. Dazu schrieb er nicht nur eine Anzahl Hetz- und Propagandaschriften, sondern er suchte die Grundlagen ihrer Religion – einer Buchreligion! – zu zerstören, indem er sie zwingen wollte, alle ihre Schriften bei ihm abzuliefern, damit er sie vernichten könne, ausgenommen die Handschriften des Alten Testaments, das auch den Christen heilig ist. Dazu brauchte er eine Vollmacht des Kaisers. Die bekam er zunächst und begann sein Werk. Doch einflussreiche Juden intervenierten bei Hofe. Es wurden Universitäten und Fachleute als Gutachter bestellt, darunter Reuchlin, der Jurist und Richter des Schwäbischen Bundes, der Verfasser der »Rudimenta hebraica« und des kabbalistischen Werkes »De verbo mirifico«, aber auch eines »Missive, warum die Juden im Elend sind«, worin er die Zerstreuung der Juden ganz traditionell als Strafe Gottes für die Kollektivschuld an der Kreuzigung Christi deutet. Reuchlin und Pfefferkorn kannten sich. Der Konvertit hatte den Gelehrten aufgesucht, um ihn für sein Werk zu gewinnen. Reuchlin lehnte aus rechtlichen Gründen ab. Auch in seinem Gutachten bezog er sich auf das römische Recht, das als nach wie vor gültig angesehen wurde und gerade damals wieder zu neuer Beachtung gelangte. Im römischen Reich und also auch im Nachfolgestaat Deutschland waren die Juden keine Ketzer, die ausgerottet werden mussten, sondern eine reichsrechtlich tolerierte Sekte, der ein gewisses Eigenleben zustand. Es waren aber nicht nur juristische
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Gründe, die ihn zur Verteidigung des jüdischen Schrifttums veranlassten, er hatte auch ein eminent wissenschaftliches Interesse an dieser Literatur, die seiner Überzeugung nach die Quellen der pythagoräischen Philosophie enthielt. So machte er sich nüchtern und sachlich an die inhaltliche Prüfung dieser vom Scheiterhaufen bedrohten Bücher. Er teilte sie in sieben Gattungen. 1. die Bibel; sie wollte sogar Pfefferkorn verschonen. 2. der Talmud. Reuchlin war es noch nicht gelungen, ihn kennenzulernen. Angeblich war er das Haupthindernis für die Bekehrung der Juden. Reuchlin plädierte für seine Erhaltung, selbst wenn er so abstrus sein sollte, wie man sagt. Denn er ist eine wichtige Quelle für die Kenntnis des Judentums, und die braucht man zur Mission. „Je ungeschickter der Talmud ist, je mehr er uns Christen geschickt macht, wider ihn zu reden und zu schreiben.“ Dann kommen Reuchlins Lieblingsschriften: „Zum dritten find ich die hohe haimlichkeit der reden und wörter Gottes, die sie haissent Cabala.“ Die 4. Gattung sind die Bibelkommentare, die 5. die Predigtbücher, Midrasch, 6. die Philosophen, schließlich die Belletristik. In dieser 7. Gruppe gibt es auch Spottbücher auf die Christen, und nur diese will Reuchlin vernichtet sehen. Er war der einzige der Gutachter, der in diesem Sinne votierte (am 6. Oktober 1510). Die Mainzer Fakultät gab sogar das hebräische Alte Testament der Vernichtung preis. Dennoch setzte sich Reuchlins Rechtsauffassung durch. Pfefferkorn nahm die Niederlage nicht hin. Er wehrte sich publizistisch, und er zeigte seinen Gegner bei der Inquisition an (1513). Es begann ein jahrelanger Prozess, der von einem harten Flugschriftenkrieg begleitet war. Reuchlin schlug mit schwerem Säbel zurück. Er war ein Schwabe, der was vom Geld verstand, und durchaus nicht aufs Maul gefallen: „Wil sich nun zu letst meinenthalb gebüren, warlich an tag zu legen, dass mich der taufft jud Pfefferkorn mit der unwarhait hingeben und wider got, eer und recht ußgeschriben und unzimlich also gegen mengklichem verunglimpfft hat, allain im selbs zu ainer unnottürfftigen muttwilligen rach, und von seiner geittigen art, ab seinen elttern den juden biß uff in kommen, dass er mit mir als ain buchgrempler vil gelts möcht gewinnen, so er mich in getruckten büchlen hinderwerts verkauffte, dann er hat jetzt mer guldin auß mir gelößt wan Judas pfennig uß unßerm herre got. Darumb er im selbs, als man sicht, inn seinen sin und mut genommen hat: so man jetzund seiner juden büchlen müd worden sei und er nichts mer von den juden als ain ungelerter schreiben kan, daruß er gelt löße wie bißher, so wölle er sich nun fürterhin mit den Cristen zancken und wüsten, uff dass er ain neue materi hab, gelt zu überkommen. Wa man ihm nun alßo würd zusehen und es ihm gelingt, so würd er es bald an ainem andern anfahen, dann er hat sich bißher mit scheltworten generet und sein speis gewunnen, wie die
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rappen in der keffet [Raben im Käfig], so gelernt haben, frauen und mannspersonen mit menschlicher rede zu schelten. Das laßt aber kain sollicher vogel nimmermer, als Apuleius schreibt, man schneid ihm dan die zungen uß dem hals.“ Unwahrheiten wies er dem „tauft Jud“ nach, wie er ihn stereotyp nannte. Die erste Instanz in Reuchlins Prozess war der Bischof von Speyer. Hier wurde er sehr rasch freigesprochen (29. März 1514). Doch der Inquisitor Jakob von Hoogstraten ging in die Berufung nach Rom. Reuchlin hatte auch hier seine Mittelsmänner und Gönner. Der Prozess ruhte zunächst einmal einige Jahre. In Deutschland ging der Streit erst richtig los. Reuchlin blieb nicht allein in seinem Kampf. Alsbald formierte sich eine literarische Phalanx, die das Medium der Buchdruckerkunst, das gerade so alt oder jung war wie Reuchlin selbst, zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung nutzbar machte. Um sein Ansehen in der gelehrten Welt zu dokumentieren, wurde aus seinem Schülerkreis eine Sammlung von Briefen publiziert, die berühmte Männer lateinisch, griechisch und hebräisch an ihn gerichtet hatten: »Clarorum virorum epistolae«. Diesen Buchtitel griffen einige witzige Humanisten auf und formten ihn zum Titel einer Satire um, die auch heute noch zum Besten gehört, was an Spott und Bissigkeit jemals fabriziert wurde. Die »obscurorum virorum epistolae« haben seine Gegner einfach lächerlich gemacht. „Dunkelmänner“ ist zum stehenden Begriff geworden. Einer der Verfasser war Ulrich von Hutten. Auch Pirckheimer und andere traten für Reuchlin ein. Doch seit November 1517 begann ein anderes, größeres Ereignis den Judenbücherstreit zu überlagern: die Luthersache. Eine Zeitlang sind beide durchaus parallel gesehen worden und waren es in mancher Hinsicht. Eine Straßburger Flugschrift vom Jahre 1521 zeigt auf dem Titelblatt Luther, Hutten und Reuchlin als Patroni libertatis, als Schützer der Freiheit. Da Luther und Hutten, deren Physiognomie wir aus guten Portraits genau kennen, lebensnah dargestellt sind, darf man annehmen, dass dies auch bei Reuchlin der Fall ist. Sonst haben wir kein authentisches Bildnis von ihm. Die Verbindung mit der Luthersache war Reuchlins Verderben. Nun wurde auch sein Prozess wieder aufgerollt und kurz vor Luthers Bannung am 23. Juni 1520 mit einer Verurteilung abgeschlossen. Damals hatte Reuchlin längst erkannt, dass Luthers Lehre die Grundlagen der römischen Kirche zerstört. Dies wollte er nicht. Er wollte ein gläubiger katholischer Christ sein und bleiben. Nachdem er zum zweiten Mal Witwer geworden war, ließ er sich zum Priester weihen. Seinen Meisterschüler und Verwandten Melanchthon, den er an die Universität Wittenberg empfohlen hatte, als sein Urteil über Luther noch nicht fertig war, wollte er von dort wieder wegholen, und als der nicht gehorchte, wurde er enterbt. Reuchlins
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kostbare Bibliothek gelangte dadurch in die Pforzheimer Schlosskirche, später mit dem badischen Hof nach Durlach und Karlsruhe, wo wertvolle Reste in der Badischen Landesbibliothek sogar deren Brand im Zweiten Weltkrieg überdauert haben.
*** Hat Reuchlin einen Beitrag zum Toleranzgedanken geleistet? Ist er gar eine Wegmarke zur Religions- und Gewissensfreiheit? In einem 150 Seiten starken Artikel über die Begriffsgeschichte von „Toleranz“ kommt er nicht vor, in einem zweibändigen Standardwerk über die Religionsfreiheit im 16. Jahrhundert ebensowenig. Dies gibt zu denken. Doch Oberman in seinem Buch über die Wurzeln des Antisemitismus schreibt (38): „Für die moderne Forschung ist das Gutachten zur Urkunde von Aufklärung und Judentoleranz geworden, die aus dem 16. Jahrhundert heraus in das liberale Emanzipationsdrängen der Neuzeit hineinragt.“ Den Begriff „Toleranz“ suchen wir vergeblich bei Reuchlin. Seine fast inflationäre Verwendung setzt erst im 18. Jahrhundert ein. Auch die Sache ist ein besonderes Anliegen der Aufklärung, wurde von ihr aber nicht erfunden. Wie also verlief die Entwicklung dorthin? Das lateinische Wort tolerantia bezeichnet die Fähigkeit, eine Last zu tragen, etwas Unangenehmes zu ertragen oder hinzunehmen und dann auch: gewähren zu lassen. Wenn wir heute von Toleranz sprechen, so meinen wir mehr, nämlich die positive Anerkennung einer anderen Art oder Gesinnung in ihrem Eigenwert. Diese Haltung muss nicht mit dem Wort „Toleranz“ bezeichnet werden, muss nicht einmal theoretisch reflektiert sein. Als Kaiser Konstantin und sein Rivale Licinius die Christenverfolgungen im Jahre 313 durch das sogenannte Toleranzedikt von Mailand beendeten, war nicht von tolerantia die Rede, sondern von der libera potestas sequendi religionem quam quisque voluisset. Das sogenannte Toleranzedikt von Nantes, das 1589 die Hugenottenkriege beendete, spricht von liberté de conscience. Religions- und Gewissensfreiheit sind also im Toleranzbegriff mit enthalten. Können Christen tolerant sein? Während die Naturreligionen, der Polytheismus, viele, auch fremde Götter kennen und akzeptieren, also inhaltlich tolerant sind, erheben die Offenbarungsreligionen einen Absolutheitsanspruch. Echte Toleranz ist ihnen fremd. Die Akzeptanz der Andersgläubigen geschieht notgedrungen und mehr oder weniger widerwillig, um das Zusammenleben verschiedener Gruppen zu ermöglichen. Dies nennt man „formale Toleranz“. Dabei gibt es nach der maßgeblich durch Thomas von Aquin ausgebildeten Theorie Abstufungen. Heiden sollen nicht zum
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Glauben gezwungen werden, denn sie wissen es nicht besser. Von den Juden erwartet man, weil sie das alte Testament haben, eine größere Nähe zum Christentum. Die volle Härte der Intoleranz bis hin zur Todesstrafe trifft die christlichen Ketzer. Abweichler aus den eigenen Reihen werden in allen Gruppierungen am härtesten angepackt. Eine wichtige Stufe in der theoretischen Durchdringung des Problems stellt der eben genannte Hochscholastiker Thomas von Aquin dar. Bei der Frage, ob man Judenkinder zwangsweise taufen dürfe, führt er das zukunftsträchtige Argument des Naturrechts ein: Er verneint diese Frage, weil sie gegen das Naturrecht der Elternschaft verstößt. Das Toleranzproblem wurde – sehr viel später – nicht von der christlichen Liebe her gelöst, sondern vom aufklärerischen Naturrechtsdenken, das durch eine allgemeine Skepsis unterstützt wurde. Die Praxis freilich folgte den theoretischen Vorgaben meist nur in großem Abstand. Die tatsächliche Religionsfreiheit wurde erst im Zuge der Demokratiebewegung im 19. Jahrhundert erreicht und ist auch heute bei weitem nicht in allen Staaten gegeben. Die Duldung fremdartiger Gruppen ist für ein Staatswesen offenbar sehr schwierig. Dies zeigt sich auch bei Reuchlins Zeitgenossen Thomas Morus, der in seiner 1516 – also mitten im Reuchlinstreit – erschienenen Utopie seinen gedachten Staat eine einheitliche Religion auf der Basis weniger Grundlehren haben lässt. Dies ist keine wirkliche Toleranz, sondern die Aufweichung des dogmatischen Systems, wie sie dann in der Aufklärung üblich wurde. Konsequenterweise hat der englische Kanzler Morus 15 Jahre später die strenge Bestrafung der Ketzer gefordert. Wenn wir Reuchlins Position bestimmen wollen, so müssen wir den historischen Kontext beachten. Jeder ist ein Kind seiner Zeit und muss an dieser Zeit gemessen werden. Reuchlin hat die Theorie der Toleranz nicht weiterentwickelt. Aber er hat das geltende Recht durchgesetzt. Er war kein Theoretiker der Toleranz, aber er hat Toleranz geübt. Wie wenig selbstverständlich dies ist, sieht man daran, dass es genügte, um ihn einerseits in persönliche Schwierigkeiten zu bringen, andererseits de facto zum Vorkämpfer für Toleranz zu machen. Denn die Realität in seiner Zeit war die, dass in Spanien, wo jahrhundertelang Muslime, Juden und Christen eine multikulturelle Koexistenz praktiziert hatten, die Mauren besiegt und die Juden vertrieben oder zur Taufe gezwungen wurden. Das war vor 500 Jahren, im Jahr der Entdeckung Amerikas. In Deutschland fand 1510, im gleichen Jahr, in dem Reuchlin sein Gutachten erstellte, ein scheußliches Pogrom statt, dem die märkischen Juden zum Opfer fielen oder ausgewiesen wurden. Wer da anders votierte, brauchte Gerechtigkeitssinn und Mut. Dass Reuchlin, der zwar an manchen jüdischen Schriften interessiert war, aber die Juden durchaus nicht besonders liebte, mit seiner unbeirrten
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Rechtlichkeit ein solches Fanal setzen konnte, zeigt, wie schlimm es um die Gerechtigkeit bestellt war.
*** Sind wir heute besser? Toleranz ist eine gute Sache. Wer möchte schon intolerant sein! Die wirkliche Toleranz beginnt da, wo sie einem selbst weh tut. Dieses Problem ist gerade in Pforzheim virulent geworden, als eine Moschee gebaut wurde, am Rande der Kernstadt zwar, aber in verkehrsgünstiger Lage und durch das Minarett weithin sichtbar. Wir haben türkische Männer ins Land geholt, weil die Müllwerker und Bauarbeiter knapp wurden. Sie haben ihre Frauen und ihre Kinder mitgebracht, mit denen sie die angestammte Religion ausüben wollen. Hier ist unsere Toleranz gefragt. Pforzheimer Christen haben der neu errichteten Moschee ein gut nachbarschaftliches Geschenk gemacht. Wer sich darüber aufregt, fällt hinter Reuchlin zurück.
Melanchthon als akademischer Lehrer Einführung in das Arbeitsgespräch „Melanchthon in seinen Schülern“ Unsere Tagung befasst sich mit Melanchthons Schülern. Natürlich sind es solche, die sich in der Wissenschaftsgeschichte selbst einen Namen gemacht haben. Es gibt davon mehr, als in der Kürze der vorgegebenen Tagungszeit sogar bei einem so vollen Programm, wie wir es haben, behandelt werden können. Bei der Gestaltung des Programms musste also eine begrenzte Anzahl bedeutender Personen ausgewählt werden. Dabei ergab sich fast von selbst ein Überblick über nahezu alle Disziplinen, die damals an einer Universität gelehrt wurden. Die Frage, die in dieser einleitenden Vorausschau auf die kommenden Referate beantwortet werden muss, lautet: Wie bündelt sich diese Palette der unterschiedlichsten Fächer und ihrer Interpreten in der Gestalt des einen Lehrers Melanchthon?
1. Griechisch Melanchthon wurde als Gräzist nach Wittenberg berufen1. Ein Lehrstuhl für griechische Sprache und Literatur war damals der Ausweis für ein humanistisches Unterrichtsprogramm. Lateinisch konnte jeder, und die klassischen lateinischen Autoren waren auch im Mittelalter nie in Vergessenheit geraten. Aber Griechisch musste in Deutschland erst wieder mühsam gelernt werden2. Bahnbrechend waren Reuchlin (42 Jahre älter als Melanchthon), Johannes Cuno (etwa 35 Jahre älter als Melanchthon), Erasmus (etwa 30 Jahre älter als Melanchthon), Pirckheimer (27 Jahre älter als Melanchthon) und Georg Simler (20 bis 25 Jahre älter). Simler war der Lehrer Melanchthons, der als Elfjähriger ein Jahr lang sein Lateinschüler
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Kurt HANNEMANN, Reuchlin und die Berufung Melanchthons nach Wittenberg. In: Johannes Reuchlin 1455-1522. Festgabe seiner Vaterstadt Pforzheim, hrsg. v. Manfred Krebs (1955), 108–138; Neudruck hrsg. v. Hermann Kling und Stefan Rhein (1994). 2 Martin SICHERL, Johannes Cuno. Ein Wegbereiter des Griechischen in Deutschland (1978). - Niklas HOLZBERG, Willibald Pirckheimer. Griechischer Humanismus in Deutschland (1981). - Auch Trithemius übersetzte schon um 1496 Texte des Areopagiten; vgl. Klaus ARNOLD Johannes Trithemius (1462-1516) (1971), 78.
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war und auch Griechisch bei ihm lernte3. 1512, Melanchthon wechselte gerade als Heidelberger Baccalaureus artium nach Tübingen, wo er seine Pforzheimer Lehrer Simler und Hiltebrant wieder traf, publizierte Simler eine griechische Grammatik4, die über diese erste Auflage nicht hinauskam. Reuchlin, der überragende Geist und Lehrer dieses Humanistenkreises in Pforzheim, Stuttgart und Tübingen, soll ebenfalls eine griechische Grammatik verfasst haben, die aber niemals gedruckt wurde und verschollen ist5. Dagegen ist die von Konrad Celtis verfasste griechische Grammatik, deren Publikation 1504 von Aldus Manutius als überflüssig bezeichnet und deshalb abgelehnt wurde, handschriftlich in Wien erhalten geblieben6. 1516 erschien erstmals das Neue Testament im griechischen Urtext7. Erasmus von Rotterdam war der Herausgeber. Geholfen haben ihm Johannes Oekolampad8 und Nikolaus Gerbel9. Beide waren ältere Freunde Melanchthons und wurden namhafte Gräzisten. Oekolampad publizierte 1518 ein umfangreiches griechisches Lehrbuch, das bis 1546 siebenmal nachgedruckt wurde10. In Tübingen unterrichtete Melanchthon die griechische Sprache und arbeitete dabei eine griechische Grammatik aus, die er 1518 publizierte. Sie wurde schon 1520 verbessert und in dieser Fassung ein großer buchhändlerischer Erfolg; bis 1544 sind 19 Auflagen nachgewiesen. Dann hat Camerarius das Buch bearbeitet. Diese Fassung erlebte bis 1622 24 Auflagen11. 3
Heinz SCHEIBLE: Melanchthons Pforzheimer Schulzeit. Studien zur humanistischen Bildungselite. In: Forschungsbeiträge (1996), 29–70. 4 Ebd. 21 Anm. 118. 5 Ludwig GEIGER, Johann Reuchlin, sein Leben und seine Werke (1871, Repr. 1964), 100. Zu Reuchlin als Gräzisten vgl. den Forschungsbericht von Stefan RHEIN in: Festgabe (wie Anm. 1), Neudruck 1994, 290–292 und 305 f. 6 Dieter W UTTKE, Zur griechischen Grammatik des Konrad Celtis. In: Silvae. Festschrift für Ernst Zinn zum 60. Geburtstag (1970), 289–303. 7 Cornelis AUGUSTIJN, Erasmus, Desiderius (1466/69–1536): TRE 10 (1982), 1–18, bes. 9 f mit 17. - DERS., Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wirkung (1986), 83 ff. - Erika RUMMEL, Erasmus’ Annotations on the New Testament (1986). 8 Ulrich GÄBLER, Oekolampad, Johannes (1482-1531): TRE 25 (1995), 29–36. 9 Jean ROTT, Gerbel: Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne 12 (1988), 1153– 1156; SCHEIBLE (wie Anm. 3), 63–67. - MBW 12 (2005), 135 f. 10 Ernst STAEHELIN, Oekolampad-Bibliographie (21963), 11 Nr. 7. - DERS., Briefe und Akten zum Leben Oekolampads, Bd. 1 (1927, Repr. 1971), 66–68 Nr. 39 f. 11 CR 20, 1–180. - Georg Theodor STROBEL, Von Melanchthons Verdiensten um die Grammatik. In: DERS., Neue Beyträge ... 3/2 (1792), 5–54; EICHLER, Über Melanchthons griechische Grammatik: Jahrbücher für Philologie und Pädagogik, 2. Abt. Jg. 16 (1870), 25–36. - EGENOLF, Ueber Melanthon’s griechische Grammatik. In: Verhandlungen der vierunddreißigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Trier (1880), 103–109. - Karl HARTFELDER, Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae (1889, Repr. 1964 und 1972), 250–259, bes. 256 Anm. 2. - Cornelis SCHAINK, Melanchthons Studie van het Grieksch in Verband met zijn Humanisme (Academisch Proefschrift
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Warum Melanchthons griechische Grammatik alle Konkurrenten12 hinter sich ließ, ist niemals untersucht worden. War sie didaktisch besser? Was hat Melanchthon von seinen Vorläufern übernommen, und was hat er anders gemacht? Insbesondere wäre ein Vergleich mit der Grammatik seines Lehrers Simler wünschenswert. Von den in Italien erschienenen Lehrbüchern war die 1494 gedruckte Grammatik des Konstantin Laskaris seit März 1509 als Geschenk Reuchlins in Melanchthons Besitz13. Er selbst nennt 1520 die Lehrbücher von Oekolampad und von Urbanus als auch für ihn denkbare Alternativen zu seinem eigenen Werk14. Urbano Valeriani aus Belluno, auch Bolzanius genannt, hatte 1497 bei Aldus Manutius in Venedig eine griechische Grammatik publiziert, die in Italien viele Nachdrucke erlebte, in Deutschland aber nicht vor 1524 einen Verleger fand15. Wir können dieses Problem in unserer Tagung nicht weiter verfolgen, hauptsächlich, weil ich im Hinblick auf das dichte Programm nicht ernsthaft nach einem geeigneten Referenten gesucht habe. Es gibt aber auch einen inneren Grund. Melanchthon hat dafür gesorgt, dass eine große Zahl zukünftiger Pfarrer und Lehrer in Deutschland mehr oder weniger gut Griechisch lernte. Er hat aber keinen wirklich bedeutenden Gräzisten herangebildet, der heute noch so bekannt ist, dass man Melanchthons Leistung als Griechischlehrer an ihm aufzeigen könnte. Der bedeutendste und zugleich originellste ist m. E. Michael Neander aus Sorau16. Von Trotzendorf in Goldberg vorbereitet, studierte er drei Jahre bei Melanchthon, um dann nach kurzer Lehrtätigkeit in Nordhausen 1550 als Fünfundzwanzigjähriger die junge Klosterschule im benachbarten Ilfeld zu übernehmen, wo er sein Leben lang – weitere 45 Jahre – ausharrte, zumeist als einziger Lehrer und als Ökonom. Die notwendigen Lehrbücher schrieb er gleich selbst, ließ sie aber auch drucken, zumeist beim angesehen Johannes Oporinus in Basel, darunter eine griechische Grammatik und eine Literaturgeschichte. Untersucht und gewürdigt ist dies alles nur in
Amsterdam 1919). - Stefan RHEIN, Philologie und Dichtung. Melanchthons griechische Gedichte (Diss. phil. Heidelberg 1987, Mikrofiche 1992), 5 f. 12 HARTFELDER (wie Anm. 11), 256. 13 SCHEIBLE (wie Anm. 3), 50. Abbildung in: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, hrsg. v. Paul Gerhard Schmidt (1993, 22000), 65, und in: Heinz SCHEIBLE: Philipp Melanchthon. Eine Gestalt der Reformationszeit. Lichtbildreihe hrsg. von der Landesbildstelle Baden, Karlsruhe, und dem Melanchthonhaus Bretten (1995), 59 f. 14 MBW.T 1, 242 Nr. 116. 15 ContEras 3 (1987), 370 f (M. J. C. LOWRY). - Index Aurelianus 4, 484 f; VD 16 Bd. 3, B 6528 ff. 16 LitLex 8 (1990), 88–92 (Heinz SCHEIBLE).
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Ansätzen. Bekannter ist Hieronymus Wolf17, der nach langer Irrfahrt die Augsburger St. Annen-Schule übernahm, aber sich am liebsten in die Handschriften der Fugger-Bibliothek vergrub. Doch er ist eher als Schüler des Camerarius zu betrachten. Melanchthon war einer der allerersten ordentlichen Professoren für Griechisch in Deutschland. Vor Wittenberg hatte hier nur Leipzig einen solchen Lehrstuhl eingerichtet und 1515 mit dem Engländer Richard Crocus18, nach dessen Weggang 1517 mit Petrus Mosellanus19 besetzt. Dieser Mosellanus hätte die Wittenberger Professur gern übernommen und fand die Unterstützung Luthers und vor allem des kurfürstlichen Ratgebers Georg Spalatin20. Doch Friedrich der Weise fand mit Reuchlins Hilfe den besseren Mann. Melanchthon versammelte in Wittenberg einige hochbegabte Schüler um sich, mit denen er schwierige griechische Autoren las. Zum Beruf des Gräzisten musste dies nicht unbedingt führen. Der Konstanzer Patrizier Thomas Blarer, jüngerer Bruder des Tübinger Studienfreundes Ambrosius Blarer, gehörte zu diesem Kreis. Melanchthon konnte ihm Mitteilungen in griechischen Versen zukommen lassen, und als er längst in seine Heimat zurückgekehrt war, um die Politikerlaufbahn in dieser Reichsstadt einzuschlagen, ließ er sich aus Wittenberg so ausgefallene Texte wie die Evangeliendichtung des Nonnos von Panopolis aus dem 5. Jahrhundert schicken21. Die Abschrift des seltenen Textes besorgte Jakob Milichius, einer der besten Freunde Melanchthons, mit dem er ein Leben lang eng zusammenarbeitete22. Als Milich im Winter 1523/24 nach Wittenberg kam, war er 23 Jahre alt und hatte in seiner Heimatstadt Freiburg i. Br. und in Wien eine gründliche Ausbildung genossen. Das Griechische bei Melanchthon war ein Aufbaustudium. Daran beteiligten sich auch zwei der allerbesten Gräzisten jener Zeit: Joachim Camerarius23 und Simon Grynaeus24. 17
GUNDERT in: K. A. SCHMID, Geschichte der Erziehung 2/2 (1889), 430–461. Hans-Georg BECK in: Lebensbilder aus dem bayrischen Schwaben 9 (1966), 169–193. DERS., Der Vater der deutschen Byzantinistik. Das Leben des Hieronymus Wolf, von ihm selbst erzählt, (1984). - Diether REINSCH, Edition und Rezeption byzantinischer Historiker durch deutsche Humanisten. In: Graeca recentiora in Germania, hrsg. v. Hans Eideneier (1994), 47–63, bes. 53 ff. 18 ContEras 1 (1985), 359 f (Catherine F. GUNDERSON und Peter G. B IETENHOLZ). 19 ContEras 2 (1986), 466 f (Michael ERBE) - LitLex 8 (1990), 235f (Stefan RHEIN). 20 HANNEMANN (wie Anm. 1), 122. - Irmgard HÖSS, Georg Spalatin 1484-1545 (1956, 2 1989), 112–115. 21 MBW.T 1, 518 Nr. 254 = RHEIN (wie Anm. 11), Nr. IV; MBW.T 2, 477–479 Nr. 492. 22 Nikolaus MÜLLER, Melanchthons letzte Lebenstage, Heimgang und Bestattung nach den gleichzeitigen Berichten der Wittenberger Professoren (1910), 113–117. 23 LitLex 2 (1989), 349 f (Karl-Heinz B OKELOH). - MBW 11(2003), 253 f. 24 LitLex 4 (1989), 399 f (Karl-Heinz B OKELOH). - MBW 12 (2005), 192.
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Sie waren in Leipzig bzw. Wien erzogen. Ein echter Schüler Melanchthons war Franz Burchard aus Weimar, der sogar bei seinem Lehrer wohnte25. Nach sieben Jahren, bei der Universitätsreform von 1525, gab Melanchthon seinen ursprünglichen Lehrauftrag ab und erhielt wie Luther einen Sonderstatus, der ihm erlaubte, zu lesen was er wollte26. Da er weiterhin ungemindert griechische Texte interpretierte, bedeutete dies eine Verstärkung des Griechischunterrichts an der Universität Wittenberg. Der spezielle Lehrstuhl wurde zunächst mit dem fähigsten Gräzisten jener Generation besetzt, mit Joachim Camerarius. Er, der wie kein anderer den Übergang vom Humanisten zum Philologen verkörpert, war Melanchthons bester Freund, aber nicht eigentlich sein Schüler, sondern hatte seine Ausbildung in Leipzig erhalten, bei dem Engländer Crocus und bei Petrus Mosellanus. Camerarius blieb nur kurz in Wittenberg und übernahm 1526 das Rektorat des von der Reichsstadt Nürnberg gegründeten akademischen Gymnasiums, später Professuren in Tübingen und Leipzig. In Wittenberg kam Melanchthons Lieblingsschüler Franz Burchard aus Weimar zum Zuge. Abgesehen von einer rhetorischen Abhandlung, die im Corpus Reformatorum Melanchthon zugeschrieben und 25 Jahre zu spät datiert wird27, publizierte er nichts, sondern wechselte nach zehn Jahren in den Hofdienst. Er war kursächsischer Kanzler, zweimal Gesandter in England und später Ernestinischer Rat in Weimar. Man kann daraus entnehmen, dass er nicht gerade ein Philologe aus Leidenschaft war, darf aber nicht verkennen, um wieviel höher Einfluss und Einkommen in dem Hofamt waren. Burchard blieb seinem Lehrer auch in den Streitigkeiten der fünfziger Jahre, die ihn politisch ins andere Lager führten, freundschaftlich verbunden. Aber als Gräzist ist er nicht hervorgetreten. Der Wittenberger Lehrauftrag für Griechisch wurde nach Burchard zunächst wieder von Melanchthon versehen. Während seiner häufigen Abwesenheit, besonders infolge des Frankfurter Fürstentags 1539, seiner Krankheit in Weimar 1540 und Reise zu den Religionsgesprächen in Worms und Regensburg 1540/41, vertrat ihn der Rhetorikprofessor Veit Örtel aus Windsheim (1501-1570), der dann im August 1541, kurz bevor Melanchthon aus Regensburg heimkehrte, zum ordentlichen Professor für Griechisch ernannt wurde, was er bis zu seinem Tod 1570 blieb, obwohl er 1550 den medizinischen Doktorgrad und auch die Mitgliedschaft in der medizinischen Fakultät erwarb. Der Reichsstädter Örtel28 war ein Mann eigenständiger Prägung. Vier Jahre jünger als Melanchthon, hatte er die 25
Ekkehart Fabian: Burchart, Franz, in: NDB 3 (1957), 33. TRE 22 (1992), 374.4–9. 27 Vgl. MBW 1506.2. - Erika RUMMEL, Epistola Hermolai nova ac subditicia: A Declamation Falsely Ascribed to Philip Melanchthon: ARG 83 (1992), 302–305. 28 Nikolaus MÜLLER, Melanchthons letzte Lebenstage (wie Anm. 22), 129–134. 26
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Lateinschule in Deventer bei Bartholomaeus Coloniensis besucht und war 1521 Lehrer in Ofen (Buda) gewesen, bis er 22-jährig im Sommer 1523 als Sympathisant Luthers wie Melanchthons Jugendfreund Simon Grynaeus aus Ungarn fliehen musste und durch Grynaeus nach Wittenberg kam. Vermutlich vertiefte er hier bei Melanchthon seine Griechischkenntnisse. Am 18. Oktober 1528 wurde er in den Senat der Artistenfakultät aufgenommen, deren Dekanat er 1529 und dann noch oft bekleidete. 1532 bekam er die ordentliche Professur für Rhetorik. Jakob Milichius, den wir beim Kreis der frühen Wittenberger Griechischschüler Melanchthons erwähnt haben, hatte 1529 eine besoldete Professur erlangt, die für Mathematik. Er war und blieb aber Gräzist. Als solcher erlangte er 1536 eine medizinische Professur. Akademische Mediziner mussten damals, wenn sie im Sinne der Zeit wissenschaftlich arbeiten wollten, gute Gräzisten sein. Von Milichius wird in einer Gedenkrede gerühmt: Primus artem medicam revocavit atque reduxit ad fontes graecos, nämlich von den arabischen sekundären Quellen, wobei das primus natürlich übertrieben ist29. Melanchthons Buch »De anima« ist als Teil seiner Adaption der aristotelischen Physik in Zusammenarbeit mit Milichius entstanden30. Die griechische Sprache und Kultur war für Melanchthon mehr als nur ein Lehrauftrag. Sie war die Wurzel der Bildung überhaupt. In seiner Wittenberger Antrittsrede, also unbeeinflusst von allen Anregungen Luthers, brachte er den Niedergang der Theologie im Mittelalter mit dem Verlust der Kenntnis der griechischen Sprache und der Mathematik in Verbindung31. Beide Fächer hat Melanchthon zeitlebens gefördert und bereichert. Wir werden im folgenden bei der Vorstellung der einzelnen Referate immer wieder darauf zurückkommen.
2. Dichtung Es gibt noch weitere Bereiche, in denen Melanchthon schulbildend wirkte. An erster Stelle ist die Dichtung zu nennen32. Das Anfertigen lateinischer 29
Walter FRIEDENSBURG, Geschichte der Universität Wittenberg (1917), 212 Anm. 3. Zum Allgemeinen vgl. Der Humanismus und die oberen Fakultäten, hrsg. v. Gundolf Keil u. a. (1987). 30 MBW 2361.2.1. - Walter THÜRINGER, Paul Eber (1511–1569). Melanchthons Physik und seine Stellung zu Copernicus. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 285–321, bes. 295. 31 MSA 3, 33.9 f. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Werdegang: oben S. 44. 32 HARTFELDER (wie Anm. 11), 318–323. - Georg ELLINGER, Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert, 3 Bde. (1929-1933, Repr. 1969), Bd. 2, 65–67.
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Verse war nichts Besonderes und gehörte damals zum Unterricht. Melanchthons allererste Publikationen waren zwei Gedichte, deren Druck ihm Wimpfeling ermöglichte33. Melanchthon war damals 14 Jahre alt. Im Laufe seines Lebens hat er mehr als 500 lateinische und mehr als 50 griechische Gedichte unterschiedlicher Länge geschrieben. Gesammelt und publiziert wurden sie von Schülern34. Es ist kein großes Oeuvre. Da es selbstkritische Äußerungen Melanchthons gibt, die seine eigenen dichterischen Fähigkeiten nicht sehr hoch einschätzen, und da solche Standardwerke wie die Geschichte der neulateinischen Dichtung von Georg Ellinger, der auch mit einer umfangreichen Biographie Melanchthons hervorgetreten ist, nach – wie ich meine – romantischen und damit nicht dem Humanismus angemessenen Kriterien urteilen, wird Melanchthons Dichtkunst insgesamt gering bewertet35. Es gibt aber keine wirklich methodische Untersuchung über die lateinischen Gedichte. Die griechischen hat Stefan Rhein aufgearbeitet36. Festzuhalten ist jedenfalls, dass aus Melanchthons Schule so namhafte Dichter wie Georg Sabinus37 und Simon Lemnius38, Johannes Stigel39 und Petrus Lotichius Secundus40, deren Qualität damals wie heute allgemein gerühmt wird, aber auch weniger Bekannte wie Melchior Acontius41, Georg Aemilius42 und Johannes Gigas43 hervorgegangen sind. Georg Ellinger spricht deshalb von einem älteren und einem jüngeren Wittenberger Dichterkreis44. Mit den Hauptvertretern des Erfurter Dichterkreises, dem neun Jahre älteren Eobanus Hessus45 und dem sechs Jahre jüngeren Jakob Micyllus46, unterhielt Melanchthon freundschaftliche Beziehungen. Die Dichtkunst Melanchthons und seiner Schüler am Beispiel des Johannes
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CR 10, 469 f Nr. 2. - HARTFELDER (wie Anm. 11), 31. - Supplementa Melanchthoniana 6/1 (1926), 1–3 Nr. 1 f. - Jakob Wimpfeling / Beatus Rhenanus: Das Leben des Johannes Geiler von Kaysersberg, hrsg. v. Otto HERDING (Jacobi Wimpfelingi opera selecta II,1, 1970), 86 f [Textverlust in Zeile 880]. 34 CR 10, 461 ff. - RHEIN (wie Anm. 11). 35 Urteile über Melanchthons Dichtkunst: RHEIN (wie Anm. 11), 20 ff. 36 RHEIN (wie Anm. 11). 37 LitLex 10 (1991), 88 und 97 (Reinhard DÜCHTING). - Heinz SCHEIBLE, Georg Sabinus (1508-1560). Ein Poet als Gründungsrektor (1995): Forschungsbeiträge (1996), 533–547. 38 LitLex 7 (1990), 219 f (Hans-Jürgen B ACHORSKI). 39 LitLex 11 (1991), 205 f (Reinhard DÜCHTING). 40 LitLex 7 (1990), 352–355 (Bernhard COPPEL). 41 LitLex 1 (1988), 42 (Harry VREDEVELD). - MBW 11 (2003), 35. 42 LitLex 1 (1988), 59 f (Niklas HOLZBERG). - MBW 11 (2003), 37 f. 43 LitLex 5 (1990), 288 f (Harry VREDEVELD). - MBW 12 (2005), 146 f. 44 ELLINGER (wie Anm. 32), Bd. 2, 65–149. 45 LitLex 5 (1990), 282–285 (Harry VREDEVELD). - MBW 12 (2005), 293 f. 46 LitLex 8 (1990), 158 f (Jörg KÖHLER).
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Stigel zu erläutern, ist sinnvoll. Es geschieht zweimal47, weil ich von Bärbel Schäfers Studien erst Kenntnis bekam, nachdem Stefan Rhein das Thema übernommen hatte.
3. Geschichte Schon in seiner Tübinger Wissenschaftstheorie »De artibus liberalibus« hat Melanchthon den traditionellen Fächerkanon des Triviums und Quadriviums im Sinne des Humanismus durch Poesie und Geschichte erweitert48. In seiner Wittenberger Antrittsrede hat er das Studium der Geschichte als unerlässlich herausgestellt: Man gewinne daraus Beispiele und Vorbilder für menschliche Verhaltensweisen in Familie und Gesellschaft. Gelernt hat Melanchthon die Geschichte durch seine Mitwirkung an der Drucklegung der monumentalen Chronik des Tübinger Kanzlers Nauclerus, zu der Reuchlin eine Vorrede schrieb, deren Grundgedanken in der Wittenberger Antrittsrede Melanchthons wiederkehren49. Die letzte Publikation Melanchthons war der zweite Teil seiner Weltgeschichte, der bis zu Karl dem Großen reicht. Den Rest bis zu Karl V. vollendete Melanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer. Seine Arbeitsweise untersucht Uwe Neddermeyer50, dessen Kölner Dissertation »Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis zum 18. Jahrhundert« 1988 als Buch erschienen ist51.
4. Aristotelismus Melanchthons erste Publikationen als Wittenberger Professor waren Lehrbücher der Dialektik und der Rhetorik, die er im wesentlichen schon in Tübingen verfasst hatte. In Wittenberg hat er auch über diese Fächer ge-
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Stefan RHEIN, Johannes Stigel (1515–1562). Dichtung im Umkreis Melanchthons. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 31–49. - Bärbel SCHÄFER, Johann Stigels antirömische Epigramme: Ebd. 51–68. 48 MSA 3, 26.1–14. - SCHEIBLE, Werdegang: oben S. 42 f. 49 Heinz SCHEIBLE, Reuchlins Einfluss auf Melanchthon (1993): Forschungsbeiträge (1996), 71–97, bes. 93–95. 50 Uwe NEDDERMEYER, Kaspar Peucer (1525–1602). Melanchthons Universalgeschichtsschreibung. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 69–101. 51 Uwe NEDDERMEYER, Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis zum 18. Jahrhundert (1988).
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lesen52, obwohl er dort als Gräzist und Theologe angestellt war und Lehrstühle für Dialektik und Rhetorik vorhanden und meistens besetzt waren53. Durch diese Lehrtätigkeit verbesserte er seine Bücher. Die Rhetorik hatte 1531 ihre Endgestalt erreicht54, die Dialektik 154755. Dennoch hörte er nicht auf, diese Fächer zu unterrichten. Über einer Dialektik-Vorlesung ist er gestorben. Sie wurde von dem Rhetorik-Professor Petrus Vincentius (1519-1581) fortgesetzt, jenem Melanchthon-Schüler, der 1563 die vollständigste Ausgabe seiner Gedichte publizieren sollte56. Unter Melanchthons Schülern und späteren Kollegen gibt es einen scharfsinnigen Dialektiker, den relativ unbekannten Veit Amerbach, der die lutherische Rechtfertigungslehre anders als Melanchthon mit seiner aristotelischen Logik nicht in Einklang bringen konnte und sich mit den Wittenbergern überwarf. Er wurde Professor an der bayerischen Universität Ingolstadt, wo Luthers Gegner Johannes Eck dominierte, und wohin zwanzig Jahre früher Reuchlin seinen jungen Schützling Melanchthon vor Luther in Sicherheit bringen wollte. Günter Frank hat eine tiefschürfende Dissertation über Melanchthons „theologische Philosophie“ geschrieben57. Er macht uns mit Veit Amerbach bekannt58. In Amerbach begegnet uns der erste Schüler Melanchthons, der sich vom Lehrer trennte und eigene Wege ging59. Melanchthon musste dies bei einigen erleben, von denen hier die Rede sein wird. Andere haben sich erst nach seinem Tod von seinen Ideen entfernt.
5. Exegese und Hermeneutik Melanchthon war Professor an der philosophischen Fakultät und blieb dies zeitlebens. Dass man daneben an einer der drei „oberen“ Fakultäten weiter52
In der unvollständigen Liste der Vorlesungen Melanchthons bei HARTFELDER (wie Anm. 11) sind Dialektik-Vorlesungen in den Jahren 1521, 1529, 1534, 1535, 1544, 1548, 1552, 1560 verzeichnet. 53 Die Liste der Wittenberger Professoren ist nicht leicht zu erstellen, da die Lehrstühle und ihre Dotierung mehrmals verändert wurden. Dialektik und Rhetorik haben neben Melanchthon auch Hermann Tulichius, Veit Örtel, Veit Amerbach, Petrus Vincentius gelesen. 54 CR 13, 413–506. 55 CR 13, 507–752. 56 UUW 1, 320 f Nr. 311. - Walter FRIEDENSBURG, Geschichte der Universität Wittenberg (1917), 283 f. - CR 10, 466 f. 57 Günter FRANK, Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1995). 58 Günter FRANK, Veit Amerbach (1503–1557). Von Wittenberg nach Ingolstadt. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 103–128. 59 MBW 11 (2003), 65.
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studierte und sich qualifizierte, war durchaus üblich. Melanchthon wählte wie schon in Tübingen die Theologie und erlangte darin nach einem Jahr den Grad eines Baccalaureus der Theologie. Warum er keinen Doktorgrad erwarb, ist noch nicht befriedigend geklärt. Ähnlich wie er verhielten sich seine Freunde Joachim Camerarius und Simon Grynaeus, anders sein Kollege und Lehrstuhlnachfolger Veit Örtel. Jene beiden blieben trotz theologischer Interessen und Publikationen Magister artium und primär an der philosophischen Fakultät tätig. Zunächst mag der Zusammenbruch des mittelalterlichen Promotionssystems der Grund gewesen sein. Später hatte es Melanchthon nicht mehr nötig, sich mit einem weiteren Grad zu schmücken. Auch für die theologische Fakultät schrieb er Statuten und Disputationsthesen60. Er war kein Doktor, er machte Doktoren. Die Verbindung von Melanchthons griechischem Lehrauftrag zur Theologie liegt natürlich in der Tatsache, dass das Neue Testament in griechischer Sprache verfasst ist. Melanchthon hat sich besonders eindringlich mit dem Römerbrief befasst, den er dreimal völlig neu kommentierte61. Einer seiner Schüler, Georg Maior aus Nürnberg, Doktorand bei Luther, erlangte in Wittenberg an der theologischen Fakultät einen Lehrstuhl für neutestamentliche Exegese und war ein beliebter Prediger und Bibelausleger. Bekannt geworden ist er aber durch den sogenannten Majoristischen Streit um die Notwendigkeit der guten Werke für das Heil des Gerechtfertigten, ein theologisch-ethisches Anliegen auch für Melanchthon. Wie diese systematisch-theologische Frage mit der exegetischen Arbeit zusammenhängt, zeigt Timothy Wengert62, der durch mehrere Arbeiten Melanchthons neutestamentliche Exegese erhellt hat. Seine 1987 erschienene Dissertation behandelt Melanchthons Johanneskommentar63. Die weiteren Studien kreisen um den Kolosserkommentar von 1527 und seine späteren Veränderungen durch Melanchthon und durch den Übersetzer Jonas, wobei eine unausgesprochene Frontstellung gegen Erasmus aufgezeigt wird64. Matthias Flacius Illyricus darf unter Melanchthons Schülern nicht fehlen. Jeder kennt den adiaphoristischen Streit mit seinen hässlichen Folgen65. Wir bleiben aber im Bereich der Arbeit und fragen nach Flacius’ Verdiensten um die Hermeneutik, seine mögliche Überschätzung in der Wissenschaftsgeschichte, seine Abhängigkeit von seinen Lehrern Melan60
CR 12, 393–704; WA 39/1 und 39/2. CR 15, 441–1052; MSA 5. 62 Timothy J. WENGERT, Georg Major (1502–1574). Defender of Wittenbnerg’s Faith and Melanchthonian exegete. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 129–156. 63 Timothy J. WENGERT, Philip Melanchthon’s Annotationes in Johannem in Relation to its Predecessors and Contemporaries (1987). 64 Timothy J. WENGERT, Human Freedom, Christian Righteousness. Philip Melanchthon’s Exegetical Dispute with Erasmus of Rotterdam (1998). 65 Rudolf KELLER, Gnesiolutheraner: TRE 13 (1984), 512–519. 61
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chthon und Georg Maior. Darüber hat Rudolf Keller seine Dissertation geschrieben66. Referent ist aber Jörg Diebner67, der in Heidelberg Altes Testament lehrt, also Fachkollege des Flacius ist, der in Wittenberg 1544 als Vierundzwanzigjähriger den Lehrstuhl für hebräische Sprache bekam, noch bevor er den Magistertitel erworben hatte. Diebner hat für die Theologische Realenzyklopädie einen bemerkenswerten Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik geliefert68. Melanchthons bekannteste Neuerung in der Theologie als Wissenschaft fand außerhalb des regulären Unterrichtssystems statt. Er entwickelte die von Quintilian, Rudolf Agricola und Erasmus übernommene Methode der Textlektüre mittels Loci communes weiter und übertrug sie auf die biblische Theologie. Damit schuf er eine neue Gattung der christlichen Dogmatik, die er mehr noch als jedes andere seiner Lehrbücher zeitlebens verbesserte. Nicht nur seine Schüler und Enkelschüler übernahmen, perfektionierten und hypertrophierten dieses System, sondern auch Gegner wie Johannes Eck69 und Gesinnungsfreunde wie Wolfgang Musculus70. Thomas Kaufmann, dessen 1992 erschienene Dissertation dem oft erörterten Problem des Abendmahlsstreites der 1520er Jahre neue Aspekte abgewinnt71 und dessen Habilitationsschrift über die Rostocker theologische Fakultät druckfertig ist72, erläutert die Methode, Theologie als Loci communes zu betreiben, am Beispiel des eigenständigen Melanchthon-Schülers Martin Chemnitz73. Melanchthons Loci-Methode wurde auch in der Geschichtsschreibung rezipiert, nämlich in den von Flacius konzipierten Magdeburger Zenturien, über die nicht referiert wurde74, und in der Jurisprudenz75. Hier war sie
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Rudolf KELLER, Der Schlüssel zur Schrift. Die Lehre vom Wort Gottes bei Matthias Flacius Illyricus (1984). 67 Jörg DIEBNER, Matthias Flacius Illyricus. Zur Hermeneutik der MelanchthonSchule. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 157–182. 68 Bernd Jörg DIEBNER, Bibelwissenschaft I/2.6: TRE 6 (1980), 361–374. 69 Johannes ECK, Enchiridion locorum communium adversus Lutherum et alios hostes ecclesiae (1525-1543), hrsg. v. Pierre FRAENKEL (1979). 70 Bibliotheca Palatina. Katalog zur Ausstellung, hrsg. v. Elmar Mittler (1986), 181 (D 5.2). 71 Thomas KAUFMANN, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 (1992). 72 DERS., Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1550 und 1675 (1997). 73 DERS., Martin Chemnitz (1522–1586). Zur Wirkungsgeschichte der theologischen Loci. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 183–254. 74 Heinz SCHEIBLE, Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode (1966).
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ganz ungewöhnlich, und der sie anwandte, Melanchthons Wittenberger Schüler Konrad Lagus, hatte damit an der Universität keinen Erfolg. Warum dies so war, erläutert Hans Erich Troje76, der in seiner 1971 erschienenen Dissertation »Graeca leguntur« die Rezeption der griechischen Rechtsquellen im deutschen Humanismus bekannt machte. Seine rechtshistorischen Aufsätze, leider nicht der ausführliche Beitrag zum Handbuch der europäischen Privatrechtsgeschichte, sind 1993 gesammelt erschienen. Troje ist auch Spezialist für Familienrecht und war als Familienrichter tätig. In echt humanistischer Manier hat er in einem anregenden Büchlein mit dem hintergründigen Titel »Gestohlene Liebe« Vorstellungen über Ehe und außereheliche Beziehungen von Homer bis Mozart interpretiert77.
6. Naturwissenschaften Melanchthons Verdienste um die Naturwissenschaft seiner Zeit lassen sich ebenfalls aus seinem Beruf als Gräzist ableiten. Aristoteles war der enzyklopädische Autor für Logik, Ethik und Naturwissenschaft. Als junger Dozent wollte Melanchthon in Gemeinschaft mit anderen Gräzisten eine neue Gesamtausgabe der Werke des Aristoteles zustande bringen78. Daran ist er gescheitert. Doch was er als einzelner in zäher Arbeit zu Wege brachte, ist erstaunlich genug. Die ethischen und politischen Schriften des Aristoteles stellen ein eigenes Problem dar, das in dieser Tagung nicht behandelt wurde79. Logik und Rhetorik wurden oben erwähnt. Mit der aristotelischen Physik befasste sich Melanchthon seit Beginn der 1530er Jahre. Er wollte sie auf den wissenschaftlichen Stand seiner Zeit bringen, ein höchst mühsames Unternehmen, zu dem er den persönlichen Rat seiner Wittenberger Fachkollegen und briefliche Auskünfte auswärtiger Spezia75
Guido KISCH, Claudius Cantiuncula. Ein Basler Jurist und Humanist des 16. Jahrhunderts (1970), bes. 57 ff. 76 Hans Erich TROJE, Konrad Lagus (ca. 1500–1546). Zur Rezeption der LociMethode in der Jurisprudenz. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 255–283. 77 Hans Erich TROJE, Graeca Leguntur. Die Aneignung des byzantinischen Rechts und die Entstehung eines humanistischen Corpus iuris civilis in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts (1971). - DERS., Die Literatur des gemeinen Rechts unter dem Einfluss des Humanismus. In: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte 2/1 (1977), 615-795. - DERS., Humanistische Jurisprudenz. Studien zur europäischen Rechtswissenschaft unter dem Einfluss des Humanismus (1993).-. DERS., Gestohlene Liebe. Zur Archäologie der Ehe – ein Rettungsversuch (1988, Taschenbuch 1992). 78 MBW 17. 79 Vgl. TRE 22 (1992), 387 § 2.7 und 391 § 3.4.
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listen einholte. Dann trennte er die Anthropologie ab und publizierte sie 1540 unter dem Titel »De anima«. In der psychologischen Literatur kann man da und dort lesen, dass Melanchthon den Ausdruck „Psychologie“ als erster verwendet habe80. Ich kann dies nicht verifizieren. Natürlich ist »De anima« wie »peri psyches« nicht nur eine Seelenlehre, sondern eine komplette Anthropologie mit Anatomie und Physiologie. Die erweiterte Bearbeitung von 1553 wurde lange im Unterricht verwendet und den Studenten durch Tabellen zugänglich gemacht, was Hans-Theodor Koch anhand des wenig bekannten Wittenberger Professors Bartholomäus Schönborn zeigt81. Nach der Anthropologie schritt Melanchthon zur Darstellung der unbelebten Welt, wozu auch die Himmelskörper gehören. Astronomie und Astrologie waren ihm ebenfalls durch einen griechischen Autor, Ptolemaios, vorgegeben, von dem er einige Bücher ins Lateinische übersetzte82. Hochaktuell war damals aber die Stellung zu den neuen Theorien des Copernicus. Walter Thüringer berichtet nicht nur hierüber, sondern auch über die Zusammenarbeit zwischen Melanchthon und seinem Schüler Paul Eber, damals Lehrstuhlinhaber für Physik in Wittenberg, bei der Abfassung der Physik, die durch bisher unbeachtete Manuskripte erhellt werden kann83.
7. Theologie Unbeschadet aller wissenschaftlichen Vielseitigkeit Melanchthons blieb Theologie die Mitte seines Lebens, seines Fühlens, Denkens und Glaubens und damit auch seiner wissenschaftlichen Bemühungen. Auf diesem Gebiet hatte er die meisten und bedeutendsten Schüler, deren Namen man noch heute kennt, zumindest in den Nachschlagewerken leicht finden kann. Denn im Gegensatz zur Naturwissenschaft und zur Historiographie, die inhaltlich völlig überholt sind, geht es in der Theologie um weniger zeitgebundene Probleme, die – zweifellos in anderer Sprache, aber inhaltlich verwandt – auch heute noch erörtert werden, und so grundlegende Bekenntnisse wie die Confessio Augustana, ihre Apologie, der »Tractatus de potestate papae«, aber auch zukunftsträchtige Entwürfe wie die Wittenberger Abendmahlskonkordie84, stammen aus Melanchthons Feder. Zu Recht 80
Z. B. Meyers enzyklopädisches Lexikon 19 (1977), 370. Es dürfte sich um ein Missverständnis der Angabe bei HARTFELDER (wie Anm. 11), 241, handeln. 81 Hans-Theodor KOCH, Bartholomäus Schönborn (1530–1585). Melanchthons de anima als medizinisches Lehrbuch. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 323–340. 82 CR 18, 1–118; MBW 6787. 83 Walter T HÜRINGER, Paul Eber (1511–1569). Melanchthons Physik und seine Stellung zu Copernicus. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 285–321. 84 MBW 1744. - Martin Bucers Deutsche Schriften 6/1 (1988), 114–134.
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ist also ein erheblicher Teil des Arbeitsgesprächs theologischen Schülern Melanchthons gewidmet. Dabei wurde deutlich, dass die Schüler des den extremen Positionen abgeneigten Lehrers dessen Kraft zur Einheit des Denkens und Handelns nicht aufbrachten und nach ganz verschiedenen Richtungen auseinander drifteten. Nur zum geringen Teil mussten Melanchthon und seine älteren Schüler dies noch selbst erleben. Als 1574 über den Philippismus in Kursachsen die große Katastrophe hereinbrach, war von Melanchthons Wittenberger Meisterschülern Paul Eber schon gestorben. Georg Maior wurde alsbald von seinem langjährigen Siechtum erlöst. Dem Schwiegersohn Caspar Peucer brachte sie aber eine langjährige Haft, dem Kanzler Georg Cracow sogar den Tod, allen anderen die Vertreibung. Zum einzelnen: Inge Mager, deren wissenschaftliche Anfänge um einen Melanchthon verwandten Geist des 17. Jahrhunderts kreisten, den Helmstedter Georg Calixt85, und deren 1993 im Druck erschienene Habilitationsschrift86 das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel zum Thema hat, stellt einen Meisterschüler Melanchthons vor, dessen unsteter Lebensweg im Fürstentum Wolfenbüttel, in Helmstedt, endete: Tilemann Heshusen87. Sein Beispiel zeigt, wohin Melanchthons Wertschätzung des geistlichen Amtes, die er zur Sicherung der wissenschaftlich-exegetisch fundierten Reinheit der Lehre im Alter entwickelte und betonte, bei einer kompromisslosen Persönlichkeit führen konnte. Eine völlig gegensätzliche Natur ist David Chytraeus. Ausgeglichen in seiner umfangreichen historiographischen Arbeit ruhend, der größte Magnet der Universität Rostock in ihrer ganzen Geschichte, Melanchthon auch darin vergleichbar, dass er wenn nötig organisatorisch tätig wurde und ein wichtiges Bekenntnis, die Konkordienformel, verfassen half. Ihn stellt Rudolf Keller vor88, der in seiner 1993 erschienenen Habilitationsschrift89 einen zentralen Teil seines historiographischen Werks untersucht hat. Ein stiller Gelehrter, eingezogener lebend als Melanchthon jemals durfte, obwohl er es vielleicht wollte, war der Breslauer Zacharias Ursinus. Sein Weg führte ihn weg von Wittenberg über Zürich und Genf nach Heidelberg, wo er den berühmten Katechismus verfasste, der noch heute einem gemäßigten, sozusagen melanchthonischen Reformiertentum die Stimme verleiht. Derk Visser, ein Holländer, der seit vielen Jahren am Ursinus-College in Virginia europäische Geschichte lehrt und eine Biogra85
Inge MAGER, Georg Calixts theologische Ethik und ihre Nachwirkungen (1969). D IES., Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel (1993). 87 D IES., Tilemann Heshusen (1527–1588). Geistliches Amt, Glaubensmündigkeit und Gemeindeautonomie. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 341–359. 88 Rudolf KELLER, David Chytraeus (1530–1600). Melanchthons Geist im Luthertum. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 361–371. 89 DERS., Die Confessio Augustana im theologischen Wirken des Rostocker Professors David Chyträus (1994). 86
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phie des Ursinus auf Englisch und Holländisch und soeben ein Buch über den späten Melanchthon publiziert hat90, macht dies deutlich91. Victorin Strigel war der erste Theologieprofessor an der Universität Jena, die als lutherische Konkurrenz zum melanchthonischen Wittenberg im Gedächtnis ist. Auf Grund seiner von den Politikern vorgegebenen Direktiven musste er auf dem Wormser Religionsgespräch 1557 gegen Melanchthon Position beziehen. Aber wie Johannes Stigel, sein Kollege an der artistischen Fakultät, und wie der herzogliche Rat Franz Burchard war und blieb er ein treuer Schüler Melanchthons. Dass er über die Willensfreiheit mit Flacius Streit bekam und deshalb vom Hofe inhaftiert wurde, steht ebenfalls in den kirchengeschichtlichen Lehrbüchern. Dass er als Professor im reformierten Heidelberg starb, ist weithin unbekannt. Ernst Koch, einer der wenigen Lutheraner, die sich intensiv mit reformierter Theologie befasst haben92, führt uns diesen eigenständigen Schüler Melanchthons vor Augen93. Als hoffnungsvoller Gräzist hat Friedrich Staphylus begonnen. Dann wurde er Theologe, und sein Lehrer Melanchthon verschaffte ihm eine Professur in Königsberg. Elf Jahre später saßen sie im Wormser Religionsgespräch von 1557 bei feindlichen Parteien, Staphylus als bischöflicher Rat. Er starb wie Veit Amerbach als Professor in Ingolstadt. Ute Mennecke -Haustein, die ihre Doktorarbeit über Luthers Trostbriefe schrieb94 und an ihrer Habilitation über Staphylus arbeitet95, erklärt, warum es dazu kam96. Die beiden letzten Beiträge beleuchten die Katastrophe des Philippismus in Kursachsen, der 1574 als Kryptocalvinismus gebrandmarkt und ausgerottet wurde. Sämtliche Schüler Melanchthons an der Universität Wittenberg fielen ihr zum Opfer. Einige fanden tatsächlich an reformierten Institutionen eine Anstellung, der Theologe Caspar Cruciger, Sohn von Melanchthons gleichnamigem Freund, in Dillenburg und in Kassel97, der Wittenberger Pfarrer Friedrich Widebram, Nachfolger Paul Ebers und 90
Derk VISSER, Zacharias Ursinus. The Reluctant Reformer. His Life and Times (1983). - DERS., Niets menselijks is mij vreemd. Leven en werk van Philippus Melanchthon (1995). 91 DERS., Zacharias Ursinus (1534–1583). Melanchthons Geist im Heidelberger Katechismus. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 373–390. 92 Ernst KOCH, Die Theologie der Confessio Helvetica Posterior (1968). 93 DERS., Victorin Strigel (1524–1569). Von Jena nach Heidelberg. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 391–404. 94 Ute MENNECKE-HAUSTEIN, Luthers Trostbriefe (1989). 95 Inzwischen im Druck erschienen: DIES., Conversio ad Ecclesiam. Der Weg des Friedrich Staphylus zurück zur vortridentinischen katholischen Kirche (2003). 96 D IES., Friedrich Staphylus (1512–1564). Von Wittenberg nach Ingolstadt. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 405–426. 97 MBW 11 (2003), 322 f.
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damit zweiter Nachfolger Bugenhagens, schließlich im reformierten Heidelberg98, Christoph Pezel in Bremen, das damals und nicht zuletzt durch ihn dem reformierten Bekenntnis zugeführt wurde, wohin auch der Dichter und Schulmann Nathan Chytraeus, der allerdings anders als sein älterer Bruder David Chytraeus kein persönlicher Schüler Melanchthons war, aus dem lutherisch orthodoxen Rostock übersiedelte99. Der Alttestamentler Heinrich Moller100 zog sich in seine Vaterstadt Hamburg zurück. Die kryptocalvinistischen Wirren haben auch dem Briefwechsel Melanchthons unersetzlichen Schaden zugefügt. Die durch Peucer begonnene Edition seiner Briefe sollte durch Wolfgang Crell, Professor für Dialektik und Ethik und Pezels Schwiegersohn, fortgesetzt werden. Das Material hatte Heinrich Moller in den zehn Jahren seines Aufenthalts bei Melanchthon zusammengetragen. Diese zwei Bände Abschriften wurden beschlagnahmt und sind seither verschollen. Unterblieben ist auch der Druck einer Vorlesung Melanchthons über das Nizänische Glaubensbekenntnis, den Paul Crell101, Wittenberger Theologieprofessor und Konsistorialrat in Meißen, Schwiegersohn Georg Maiors und nicht mit Wolfgang Crell verwandt, vorbereitet hatte. Das Manuskript gelangte in die Sächsische Landesbibliothek, wurde nach 420 Jahren von Hans-Peter Hasse in seiner Bedeutung erkannt und wird demnächst publiziert werden102. Nach Peucer hat sich Christoph Pezel wie kein zweiter für die Erhaltung und Publikation der Briefe und Schriften Melanchthons eingesetzt. Richard Wetzel, dessen editorische Kunst uns bisher zwei Bände Briefe Melanchthons beschert hat103, berichtet darüber104 und erreicht dabei die Jahrhundertmarke 1600 als Abschluss der Tagung.
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Über Widebram siehe Richard W ETZEL (wie Anm. 104), 479 f Anm. 55. LitLex 2 (1989), 417 f (Hermann W IEGAND) - Richard W ETZEL (wie Anm. 104), 507 f Anm. 182. 100 Heinz KATHE, Die Wittenberger Philosophische Fakultät (2002), 113 f, 122. Sünje PRÜHLEN, Heinrich Moller: Ein unbescholtener Hamburger Bürger oder ein verdächtiger Theologieprofessor? In: Konfession, Migration und Elitenbildung. Studien zur Theologenausbildung des 16. Jahrhunderts, hrsg. von Herman J. Selderhuis und Markus Wriedt (2007), 255-286. 101 Hans-Peter HASSE, Paul Krell (1531–1579). Melanchthons „Enarratio Symboli Nicaeni“ (1550) und der Sturz des Philippismus in Kursachsen im Jahre 1574. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 427–463. 102 Philipp MELANCHTHON, Enarratio secundae tertiaeque partis Symboli Nicaeni (1550), hrsg. u. eingeleitet v. Hans-Peter HASSE (1996). 103 MBW.T 1 (1991), T 2 (1995), danach auch T 3 (2000). 104 Richard W ETZEL, Christoph Pezel (1539–1604). Die Vorreden zu seinen Melanchthon-Editionen als Propagandatexte der ,Zweiten Reformation‘. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 465–566. 99
Die Philosophische Fakultät der Universität Wittenberg von der Gründung bis zur Vertreibung der Philippisten Die Universität Wittenberg1 verdankt ihre Gründung im Jahr 1502 einer territorialen Veränderung, der Wettinischen Teilung von 1485. Weil die Stadt Leipzig und mit ihr die Landesuniversität an die herzogliche Linie der Albertiner fiel, verfügte das Kurfürstentum Sachsen von da an über keine Universität mehr. Von den sieben Kurfürsten war nur der Brandenburger mit demselben Makel behaftet, den er im Jahre 1506 durch die Gründung der Universität Frankfurt an der Oder zu beheben vermochte2. Der Wettiner Friedrich der Weise3 war ihm um vier Jahre zuvorgekommen. Nun befand sich in jedem Kurfürstentum eine privilegierte öffentliche Hochschule mit Promotionsrecht. Das Vorbild für die Verfassung der Universität Wittenberg bot nicht das benachbarte Leipzig4, sondern Tübingen5. Der Wittenberger Professor Phil-
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Heiner LÜCK, Wittenberg, Universität: TRE 36 (2004), 232–243. - Udo STRÄTER, 4 Wittenberg, Universität: RGG 8 (2005), 1665–1667. 2 Gerd HEINRICH, Frankfurt und Wittenberg. Zwei Universitätsgründungen im Vorfeld der Reformation. In: Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, hrsg. v. Peter Baumgart und Notker Hammerstein (1978), 111–129. - DERS., Frankfurt an der Oder, Universität: TRE 11 (1983), 335–342. - Ulrich KNEFELKAMP, 4 Frankfurt an der Oder, Universität: RGG 3 (2000), 217 f. - Michael HÖHLE, Universität und Reformation. Die Universität Frankfurt (Oder) von 1506 bis 1550 (2002). 3 Ingetraut LUDOLPHY, Friedrich der Weise (1463-1525): TRE 11 (1983), 666–669. 4 Günther W ARTENBERG, Friedrich (III.) der Weise, Kurfürst von Sachsen: RGG 3 (2000), 380. - Thomas T ÖPFER, Landesherrschaft - fürstliche Autorität - korporative Universitätsautonomie. Die Anfänge der Universität Wittenberg 1502-1525. In: Universitäten und Wissenschaften im mitteldeutschen Raum in der Frühen Neuzeit. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Günter Mühlpfordt, hrsg. v. Karlheinz Blaschke und Detlef Döring (2004), 27–54. - Zur Wahl des Standorts vgl. Dieter STIEVERMANN, Wittenberg als Universitätsstandort zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602, hrsg. v. Irene Dingel und Günther Wartenberg (2002), 39–54. 4 Günther W ARTENBERG, Leipzig, Universität: TRE 20 (1990), 721–729. - DERS., 4 Leipzig, Universität: RGG 5 (2002), 250–252. 5 Ulrich KÖPF, Tübingen, Universität: TRE 34 (2002), 157–165. - DERS., Tübingen: 4 RGG 8 (2005), 646–649.
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6. Die Philosophische Fakultät Wittenberg
ipp Melanchthon6, ein Tübinger Magister, hat dies 1538 dankbar erwähnt: Die Wittenberger Hochschule ist aus der Tübinger abgeleitet wie eine Kolonie, deducta sit tanquam colonia7. Die moderne Forschung hat es bestätigt8, denn es liegt auf der Hand: Die ersten Statuten der Wittenberger Philosophischen Fakultät9 sind nahezu wörtlich die der Tübinger Schwesterorganisation10. Der eine Berater des sächsischen Kurfürsten Friedrichs des Weisen bei der Gründung seiner Universität, Johann von Staupitz11, hatte nach dem philosophischen Studium in Köln sein theologisches ab 1497 in Tübingen absolviert. Der andere Ratgeber des Kurfürsten, Martin Pollich12 aus Mellrichstadt, war Leipziger Magister und Doktor der Medizin. Aber an Leipzig hat sich Wittenberg nicht angeschlossen; hier bestand eher eine Konkurrenzsituation.
Die Grundausstattung Eine Universität bestand seit den Anfängen im Mittelalter13 bis zu den Reformen des 20. Jahrhunderts aus vier Fakultäten: Theologie, Jurispru6
Heinz SCHEIBLE, Melanchthon, Philipp (1497-1560): TRE 22 (1992), 371–410. 4 DERS., Melanchthon, Philipp: RGG 5 (2002), 1002–1012. 7 MBW 9 (1998), 111 f Nr. 2051a; MBW.T 8 (2007), 145 f Z. 12 f. 8 Heinz KATHE, Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1502–1817 (2002), 4. 9 UUW 1 (1926), 51–58 Nr. 26 (25. 11. 1508). 10 Urkunden zur Geschichte der Universität Tübingen aus den Jahren 1476 bis 1550, hrsg. v. [Rudolf ROTH] (1877), 320–375. 11 Markus WRIEDT, Johannes von Staupitz als Gründungsmitglied der Wittenberger Universität. In: 700 Jahre Wittenberg, hrsg. v. Stefan Oehmig (1995), 173–186. - Richard W ETZEL, Johannes von Staupitz († 1524) und Martin Luther. In: Luther und seine Freunde, hrsg. v. Peter Freybe (1998), 105–124. - Lothar Graf ZU DOHNA, Staupitz, Johann von: Metzler Lexikon christlicher Denker (2000), 649 f. - Markus W RIEDT, Staupitz, Johann(es) v.: LThK3 9 (2000), 940 f. - Berndt HAMM, Staupitz, Johann[es] 4 von: TRE 32 (2000), 119–127. - DERS., Johannes von Staupitz: RGG 4 (2001), 538 f. DERS., Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und „Vater“ der Reformation: ARG 92 (2001), 6–42. - KATHE (wie Anm. 8), 8. - Markus WRIEDT, Die Anfänge der Theologischen Fakultät Wittenberg 1502–1518. In: Die Theologische Fakultät Wittenberg (wie Anm. 3), 11–37. - Franz P OSSET, The FrontRunner of the Catholic Reformation. The Life and Works of Johann von Staupitz (2003). 12 Gustav B AUCH, Geschichte des Leipziger Frühhumanismus mit besonderer Berücksichtigung auf die Streitigkeiten zwischen Konrad Wimpina und Martin Mellerstadt (1899). - Theodor GRÜNBERG, Martin Pollich von Mellerstadt, der erste Rektor der Wittenberger Universität. In: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd. 1 (1952), 87–91. - Helmut SCHLERETH, Pollich, Martin, gen. Mellerstadt: NDB 20 (2001), 605 f. - KATHE (wie Anm. 8), 7. 13 Geschichte der Universität in Europa, hrsg. v. Walter Rüegg, Bd. 1: Mittelalter (1993). - Eike W OLGAST, Universität: TRE 34 (2002), 354–380. - Notker HAMMERSTEIN,
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denz, Medizin und Philosophie. Die vierte Fakultät war die mit Abstand größte, weil jeder Student hier das Grundwissen erwerben musste, das seit dem Altertum als die sogenannten Sieben freien Künste, artes liberales14, angeboten wurde, weshalb diese Fakultät auch Artistenfakultät genannt wird. Die sieben Fächer sind unterteilt in drei und vier, das Trivium (Grammatik, Rhetorik und Dialektik), das mit dem Grad des Baccalaureus artium abschloss, und das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik), das zur Magisterprüfung führte. Weitaus die meisten Studenten begnügten sich mit dem Trivium, und das war alles andere als trivial. Das Hauptfach war die Logik, zumeist Dialektik genannt. Hier geht es nicht nur um formale Schulung des Denkens, sondern auch um philosophische Probleme, die Grundüberzeugungen der menschlichen Existenz berühren, nämlich ob die Allgemeinbegriffe (Universalien) nur durch unser Denkvermögen entstanden sind oder ob sie in Gott wirklich sind, ob sie also nur Namen oder ob sie Realitäten sind. Darüber stritt man im Mittelalter lange und erbittert15. Die Hauptrichtungen waren der philosophische Realismus, auch via antiqua genannt, und der Nominalismus, die via moderna. Jede dieser Richtungen gliederte sich in weitere Lehrtraditionen. Nachdem dieser Universalienstreit an Leidenschaft verloren hatte, war es möglich, an einer Universität wahlweise zwei Wege anzubieten, was den Zulauf fördern sollte. Dies war in Tübingen der Fall und daher auch in Wittenberg. Doch schon hier wollte Wittenberg sein Vorbild übertrumpfen: Es sollten nicht zwei, sondern drei Wege angeboten werden16. Bevor wir schauen, ob dieses hoch gesteckte Ziel erreicht wurde, fragen wir nach der Finanzierung des ganzen Unternehmens. Der sichere Grundstock an Professuren wurde im Mittelalter durch geistliche Stiftungen gebildet. Es gab überall eine große Zahl von wohldotierten Kanonikaten, deren Inhaber nichts als die regelmäßigen Chorgebete verrichten mussten und im übrigen ein gutes Leben hatten. Längst fanden Politiker es für sinnvoll, dass diese Stiftsherren unterrichten sollten. Ursprünglich betrieben ja die Klöster und Domstifte auch Schulen, und ganz war dies nicht außer Brauch gekommen. Das Vierte Laterankonzil hatte sich 1215 damit befasst, das Basler Reformkonzil 1448 allen großen Stiftskirchen ein theolo-
Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert (2003). - Ulrich KÖPF, Uni4 versitäten: RGG 8 (2005), 779–785. 14 Detlef ILLMER, Artes liberales: TRE 4 (1979), 156. - Mechthild DREYER, Artes 4 liberales: LThK3 1 (1993), 1045. - Reinhold RIEGER, Artes liberales: RGG 1 (1998), 799. 15 Joachim R. SÖDER u. a., Universalienstreit: TRE 34 (2002), 340–354. - Reinhold 4 R IEGER, Universalienstreit des Mittelalters: RGG 8 (2005), 768–773. 16 UUW 1 (1926), 56.
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gisches Lektorat auferlegt17. Es war dann eine der Hauptforderungen der Kirchenreformation des 16. Jahrhunderts, dass die Klöster und Stifte wieder zu Schulen gemacht werden sollten18. In eindrucksvoller und dauerhafter Weise ist dies 1543 in Sachsen in Schulpforte und in St. Afra zu Meißen verwirklicht worden19, danach auch in Württemberg, in Maulbronn und Blaubeuren ununterbrochen bis zum heutigen Tag20. Zur Finanzierung einer Universität musste also ein bestehendes Stift gefunden, notfalls verlegt und zumeist etwas reicher ausgestattet werden. So war dies auch in Tübingen geschehen21. In Wittenberg gab es an der Schlosskapelle seit alters einen Propst, sechs Kanoniker und fünf Vikare. Friedrich der Weise bildete daraus zwölf Stiftspfründen22 und ließ eine neue Kirche erbauen, in der er seine stattliche Reliquiensammlung unterbrachte23. 1507 erreichte er die Inkorporation des Stiftes in die Universität24, die damit das Stellenbesetzungsrecht hatte. Dass der Kurfürst sich dennoch das letzte Wort behielt, zeigt die 1510 fällige Neubesetzung der Propstei: Der Kurfürst lehnte den von der Universität gewählten Bewerber ab25 und gewann mit dem Erfurter Juristen Henning Göde26 den in der Tat besseren Mann. Ferner gründete Friedrich in Wittenberg ein Kloster der Augustinereremiten27. 17
Albert WERMINGHOFF, Verfassungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittelalter ( 1913), 149. - Horst F. RUPP, Schule/Schulwesen: TRE 30 (1999), 596. 18 Klassisch in Luthers Adelsschrift: WA 6 (1888), 439 f. Vgl. Heinz SCHEIBLE, Die Reform von Schule und Universität in der Reformationszeit (1999): unten Nr. 8. 19 Ralf T HOMAS, Die Neuordnung der Schulen und der Universität Leipzig. In: Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, hrsg. v. Helmar Junghans (1989), 113–131. Die sächsischen Fürsten- und Landesschulen. Interaktion von lutherisch-humanistischem Erziehungsideal und Eliten-Bildung, hrsg. v. Jonas Flöter und Günther Wartenberg (2004). 20 Hermann EHMER, Vom Kloster zur Klosterschule. Die Reformation in Maulbronn. In: Maulbronn. Zur 850jährigen Geschichte des Zisterzienserklosters, hrsg. vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg (1997), 59–82. - Evangelische Klosterschulen und Seminare in Württemberg 1556–2006. Lernen – Wachsen – Leben, hrsg. v. Hermann Ehmer, Martin Klumpp und Ulrich Ott (2006). 21 Waldemar TEUFEL, Universitas Studii Tuwingensis. Die Tübinger Universitätsverfassung in vorreformatorischer Zeit (1477–1534) (1977), 27–35. 22 GermSacra 1/3/2 (1941), 90. 23 Ebd. 98–111. - Helmar J UNGHANS, Wittenberg als Lutherstadt (1979), 44–51 mit 209. - Tania ESTLER-ZIEGLER, Die spätgotische Gestalt der Wittenberger Schlosskirche. In: Von der Kapelle zum Nationaldenkmal. Die Wittenberger Schloßkirche, hrsg. v. Martin Steffens und Insa Christiane Hennen (1998), 11–25. 24 Friedrich ISRAEL, Das Wittenberger Universitätsarchiv, seine Geschichte und seine Bestände. Nebst den Regesten der Urkunden des Allerheiligenstiftes und den Fundationsurkunden der Universität Wittenberg (1913), 66–68 Nr. 83. - UUW 1 (1926), 17 Nr. 19. 25 UUW 1 (1926), 61 Nr. 30. 26 MBW 12 (2005), 158 f. 27 UUW 1 (1926), 12 f Nr. 14. - GermSacra 1/3/2 (1941), 440–445. 2
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Diesem Orden gehörte in leitender Position sein Berater Staupitz an. Ein Franziskanerkloster gab es seit langem28. Die Klöster stellten drei Professoren29 . Die Grundausstattung der Universität waren also 15 Professuren30. Die Theologische Fakultät bekam von den zwölf Stiftsherren nur einen zugewiesen. Je ein Theologieprofessor kam aus den beiden Klöstern. Vier der zwölf Stiftsherren lehrten Kirchenrecht und einer kaiserliches Recht. Sechs, also die Hälfte, sollten an der Philosophischen Fakultät lehren, dazu noch einer der beiden Augustiner. Die Medizinische Fakultät bekam keine bepfründete Professur. Kurfürst Friedrich begnügte sich mit diesen 15 Professoren nicht; er wollte ein breiteres Lehrangebot. Insbesondere die philosophischen Hauptkurse sollten nicht nur wie in Tübingen und anderswo in zwei, sondern sogar in drei Schulmeinungen angeboten werden. Die Besoldung jener Dozenten, für die kein bepfründeter Lehrstuhl vorgesehen war, erfolgte aus der kurfürstlichen Kammer31. Hörgelder wurden nicht erhoben32. Wir betrachten nun das Lehrangebot der Artistenfakultät, wie es 1507 in einer Werbeschrift, dem „Rotulus“ des Rechtsprofessors Christoph Scheurl33, und in der Satzung von 1508 ausgebreitet wird34, und überprüfen dieses Maximum an den tatsächlich nachweisbaren Lehrkräften. Die der Artistenfakultät vom Kurfürsten im Jahre 1508 verliehenen Statuten sehen in § 10 vor, dass die logischen Schriften des Aristoteles, seine naturwissenschaftlichen Bücher (die Physik, De anima und die Parva naturalia) und die Summulae logicales des Petrus Hispanus gleichzeitig dreifach vorgetragen werden sollen, in thomistischer, skotistischer und – nicht etwa ockhamistischer Weise, sondern gemäß der Schule des Augustiners Gregor von Rimini: Indifferenter profiteatur via Thomae, Scoti, Gregorii. Die Nennung des letzteren wurde für so unglaublich gehalten, dass schon in einer alten Abschrift Occam über Gregorii geschrieben wurde und neuere Editoren und Forscher die Konjektur Guilelmi für erforderlich hielten35. Der Text in den beiden einzigen Abschriften lautet aber eindeutig 28
GermSacra 1/3/2 (1941), 372–382. UUW 1 (1926), 14–17 Nr. 17. - GermSacra 1/3/2 (1941), 445 und 380. 30 GermSacra 1/3/2 (1941), 92f. 31 Walter FRIEDENSBURG, Geschichte der Universität Wittenberg (1917), 32 f. 32 UUW 1 (1926), 20 (Satzung von 1508, § 1). 33 UUW 1 (1926), 14–17 Nr. 17. Zu Scheurl vgl. Markus W RIEDT, Scheurl, Christoph II., Jurist: BBKL 9 (1995), 178–185. 34 UUW 1 (1926), 56 f. in Nr. 22. 35 UUW 1 (1926), 53 und 56 mit 57 f, Anm. d und t. - Leif GRANE, Modus loquendi theologicus: Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518) (1975), 136 f. Ausführlich erörtert und zurückgewiesen von Manfred SCHULZE, Via Gregorii in Forschung und Quellen. In: Gregor von Rimini: Werk und Wirkung bis zur Reformation, 29
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Gregorii. Der namhafte Erfurter Nominalist Jodocus Trutfetter36, Luthers Lehrer, lehrte zwar von Dezember 1506 bis Mai 1510 in Wittenberg, doch als Archidiaconus an der Theologischen Fakultät, und er bekam in seiner Schulrichtung keinen Nachfolger. Skotistische und thomistische Logik und Naturphilosophie wurden jedoch durchweg parallel gelesen; die Lehrstühle waren nachweislich besetzt37. Bemerkenswert ist, dass die Statuten zwar die chronologische Reihenfolge Thomas, Scotus, Gregor gebrauchen, in den zahlreichen Listen über die Stellen der Universität aber immer der skotistische Lehrstuhl zuerst genannt wird und, wie wir im Nachhinein sehen, mit den besseren Leuten besetzt war. Dass man bei dem Reformvorschlag des 23. Februar 151938 von den doppelten Kursen auf den thomistischen meinte verzichten zu können, beweist ebenfalls, dass die skotistische Philosophie für wichtiger gehalten wurde. Wittenberg war eine Universität der via antiqua skotistischer Richtung. Dies zeigt sich auch an der Dotierung der Lehrstühle. Der vornehmste Lehrstuhl ist die Maior Logica secundum viam Scoti, die aristotelische Logik nach skotistischen Lehrbüchern, auch Logica Aristotelis genannt. Sie wird unterteilt in die Logica vetus (das sind die Kategorien, peri hermeneias und die eisagoge des Porphyrios in der lateinischen Übersetzung des Boethius) und zweitens in die Logica nova (das ist der Rest des Organon, nämlich die Analytiken, die Topik und die sophistischen Widerlegungen). Dies alles im Rahmen des so genannten Trivialstudiums! Diesen Lehrstuhl hatte seit 1507 der noch heute als Freund Luthers, Reformator von Magdeburg, evangelischer Bischof von Naumburg-Zeitz und unerbittlicher Gnesiolutheraner bekannte Nikolaus von Amsdorf39 inne. Er war Stiftsherr am Allerheiligenstift, hatte in der Theologischen Fakultät aber nur den Grad des Lizentiaten erworben. Er behielt sein Kanonikat und seinen Lehrstuhl, bis er 1524 nach Magdeburg ging. Parallel dazu wurde diese Maior Logica, die aristotelische Logik, nach der Weise des Thomas von Aquin gelesen, ebenfalls von einem Kanoniker. Von 1507 bis 1511 war dies der nachmalige radikale Reformator Andreas hrsg. v. Heiko A. Oberman (1981), 1–126, bes. 1–3. - Vgl. auch Markus W RIEDT, Via Guilelmi – Via Gregorii: zur Frage einer Augustinerschule im Gefolge Gregors von Rimini unter besonderer Berücksichtigung von Johann von Staupitz. In: Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otmar Freiherr von Aretin zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Ralph Melville u. a., 1. Halbbd. (1988), 111–131. 36 Ulrich G. LEINSLE, Trutfetter, Jodocus: LThK3 10 (2001), 276. - Josef P ILVOUSEK, Jodocus Trutfetter (1480–1519) und der Erfurter Nominalismus. In: Große Denker Erfurts und der Erfurter Universität, hrsg. v. Dietmar von der Pfordten (2002), 96–117. 4 Reinhold R IEGER, Trutfetter, Jodocus: RGG 8 (2005), 640 f. 37 Die Namen der Professoren unten bei der Dotierung der Lehrstühle. 38 UUW 1 (1926), 89 Nr. 71. - WAB 1 (1930), 349 f Nr. 155. 39 MBW 11 (2003), 67–69.
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Karlstadt40. Er rückte 1511 in die Theologische Fakultät auf und wurde Trutfetters Nachfolger als Archidiaconus, welches wichtige Amt damit mit einem Thomisten besetzt wurde. Sein Nachfolger auf dem thomistischen Logiklehrstuhl bis 1518 wurde Magister Simon Heins41, der Bruder des bekannten Kanzlers Gregor Brück42, der 1515 auch Stadtpfarrer wurde, aber ein unbedeutender und kränklicher Mann war. Das nach der großen Logik nächstwichtige Fach war die Physik. Hier wurden zwei Schriften des Aristoteles behandelt, die anthropologisch grundlegende De anima (peri psyches) und die Parva naturalia. Die skotistische Interpretation wurde 1507 von Magister Wolfgang Kannegießer (Cantarifusoris)43 vorgetragen, seit 1509 von Magister Johannes Dölsch44, die thomistische 1507 von Petrus Lupinus45, der schon 1508 in die Theologische Fakultät aufrückte, danach von dem unbedeutenden Magister Johannes Gunckel46. Beide Lehrstühle waren durch Kanonikate dotiert. Als drittes folgt die Logica minor nach den Summulae logicales des Petrus Hispanus in den zwei Wegen. Der Verfasser der unter dem Namen Petrus Hispanus47 weit verbreiteten Lehrbücher der Logik, aber auch der Naturphilosophie und der Medizin, wird in Papst Johannes XXI. gesehen, der 1276–1277 nur acht Monate lang dieses höchste Amt bekleidete. Nach neueren Forschungen kommen aber noch andere iberische Gelehrte des 13. Jahrhunderts dafür in Betracht. In Wittenberg wurde die Logik des Petrus Hispanus skotistisch seit 1505 von Lic. Sebastian Küchenmeister48, thomistisch 1507 von Kilian Reuter49, dann von Magister Georg Elner aus Staffelstein50 vertreten; beide Lehrstühle waren bepfründet.
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MBW 12 (2005), 399–401. - Volkmar J OESTEL, Andreas Bodenstein aus Karlstadt. Leben und Lebensbrüche (1486–1541). In: Wittenberger Lebensläufe im Umbruch der Reformation, hrsg. v. Peter Freybe (2005), 28–51. 41 MBW 11 (2003), 223. 42 Ebd. 222 f. 43 Gustav B AUCH, Wittenberg und die Scholastik: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 18 (1897), 285–339, bes. 312 f. - KATHE (wie Anm. 8), 17 und 19. 44 MBW 11 (2003), 359. 45 GermSacra 1/3/2 (1941), 123. 46 MBW 12 (2005), 201 f. 47 Ludwig VONES, Johannes XXI.: LThK3 5 (1996), 949 f. - Peter W ALTER, Petrus Hispanus: LThK3 8 (1999), 125 f. 48 Nikolaus MÜLLER, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522. Die Vorgänge in und um Wittenberg während Luthers Wartburgaufenthalt (²1911), 295–300. - GermSacra 1/3/2 (1941), 123 f. 49 B AUCH, Scholastik (wie Anm. 43), 313. 50 MÜLLER, Bewegung (wie Anm. 48), 272–276. - GermSacra 1/3/2 (1941), 134 f.
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Der siebte Lehrstuhl behandelte die aristotelische Ethik. Er wurde von einem Augustinermönch versehen. Herbst 1508 bis 1509 war es Luther51, 1512–1516 sein Freund Johannes Lang, der spätere Erfurter Reformator52. Der achte und neunte Lehrstuhl war für astronomische und naturkundliche Schriften des Aristoteles vorgesehen: De coelo et mundo, De generatione et corruptione meteororum und die Parva naturalia, jeweils skotistisch und thomistisch. Die Professoren Konrad König53 und Matthäus Beskau54 rückten 1510 bzw. 1514 in die Juristische Fakultät auf. Ihre Lehraufträge waren schon 1508 mit der Physik zusammengelegt worden55. Unentbehrlich war der zehnte Lehrstuhl, die lateinische Grammatik, die nach dem Lehrbuch des Johannes Sulpicius Verulanus56 vorgetragen wurde. Die Stelle war mit nur 20 Gulden aus der kurfürstlichen Kammer dotiert57 und deshalb häufigem Personalwechsel unterworfen. 1507 war Simon Stein58 der Inhaber, 1510 Otto Beckmann59, der 1517 Jurist wurde. Sein Nachfolger Heinrich Stackmann übernahm im Sommer 1521 die Physik, wofür ihm Melanchthon Anweisungen erteilte60. Die Grammatikstelle bekam der Dichter Janus Cornarius, der wie schon teilweise Stackmann das Lehrbuch des Priscian61 zugrundelegte und im Wechsel auch die griechische Grammatik Melanchthons vermitteln sollte62. Fast am Ende, an elfter Stelle, stand die Metaphysik des Aristoteles. Sie war bedeutungslos und wurde nur einfach gelesen, 1507 bis 1511 zusätzlich von dem thomistischen Logiker Karlstadt63, danach von dem unbedeutenden Jakob Premsel64, schließlich von dem diesem ebenbürtigen Johan-
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WAB 1 (1930), 15–17 Nr. 5. - Martin B RECHT, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521 (1981), 97 f. - Die theologische Problematik analysiert Theodor D IETER, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie (2001). 4 52 Heinz SCHEIBLE, Lang, Johann: RGG 5 (2002), 68. 53 B AUCH, Scholastik (wie Anm. 43), 313. 54 MBW 11 (2003), 148 f. 55 UUW 1 (1926), 56. 56 B AUCH, Scholastik (wie Anm. 43), 308–310. - Judith RICE HENDERSON, Giovanni Antonio Sulpizio of Veroli: ContEras 3 (1987), 300. 57 UUW 1 (1926), 85 in Nr. 63; S. 117 in Nr. 108. 58 B AUCH, Scholastik (wie Anm. 43), 313. 59 MBW 11 (2003), 135. - Klaus KIPF, Beckmann, Otto. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, hrsg. v. Franz J. Worstbrock (2006), 163–170. 60 UUW 1 (1926), 118 in Nr. 109. - MÜLLER, Bewegung (wie Anm. 48), 334–341. 61 DER NEUE P AULY 10 (2001), 338 f. 62 UUW 1 (1926), 118 in Nr. 109. - MBW 11 (2003), 305. 63 UUW 1 (1926), 16 in Nr. 17. 64 FRIEDENSBURG, Geschichte (wie Anm. 31), 109.
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nes Gunckel65, der 1525, als die Metaphysikvorlesung abgeschafft wurde, als Ökonom Verwendung fand. Bemerkenswert ist, dass das traditionelle Quadrivium, die mathematischen Fächer, völlig vernachlässigt war. Die Professur für Mathematik und Astronomie wurde erst 1514 besetzt, nämlich mit Bonifacius Erasmi66 aus Zörbig, 1519 mit Johannes Volmar67. Als dann im Sommer 1521 der skotistische Physiker Dölsch in die freigewordene Kustodie aufrückte und damit ein theologisches Ordinariat übernahm (solche Vielseitigkeit war damals üblich), wurde seine Pfründe dem Mathematiker Volmar zugewiesen. Es war das erste Mal, dass ein Mathematiker eine Stiftspfründe erhielt, was die Universität ausdrücklich nicht als Dauerzustand verstanden wissen wollte68. Dennoch blieb es dabei. Volmar schloss sich nicht der Reformation an, durfte aber seine Mathematik unterrichten, bis er 1536 starb. In Mathematik und Astronomie war Tübingen zunächst besser als Wittenberg. 1511 wurde der damals schon 60-jährige Johannes Stöffler69 verpflichtet, der dann noch 20 Jahre lang lehrte und forschte. Seine Ephemeriden sind eine wichtige Vorarbeit für die Gregorianische Kalenderreform geworden. Sein wissenschaftspolitisch effektivster Schüler war der junge Philipp Melanchthon.
Der humanistische Ausbau der vorreformatorischen Fakultät Wir haben gesehen, wie das traditionelle Trivium durch den exzessiven Ausbau der Logik hypertrophiert war und das Quadrivium an Auszehrung litt. Betrachten wir jetzt den Keim des Neuen, die Antwort der Universitäten auf die Kulturbewegung des Humanismus. Keine Universität konnte sich dem früher oder später entziehen. In Tübingen nahm die Gründungsplanung 1476 noch keine Notiz davon. Erst nach fünf Jahren, 1481, wird
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MBW 12 (2005), 201 f. UUW 1 (1926), 73 f. Nr. 54 und S. 78. - KATHE (wie Anm. 8), 41. 67 MÜLLER, Bewegung (wie Anm. 48), 343–350. - GermSacra 1/3/2 (1941), 137. KATHE (wie Anm. 8), 69. 68 UUW 1 (1926), 113 f Nr. 105. 69 Wolf-Dieter MÜLLER-J AHNCKE, Stöffler, Johannes: LitLex11 (1991), 215. Günther OESTMANN, Johannes Stoeffler, Melanchthons Lehrer in Tübingen. In: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland. Bildungsstationen eines Reformators. Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, der Universitätsbibliothek Heidelberg, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart und des Melanchthonhauses Bretten zum 500. Geburtstag Philipp Melanchthons, hrsg. v. Stefan Rhein, Armin Schlechter und Udo Wennemuth (1997), 75–86. 66
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ein humanistischer Lehrstuhl vorgesehen70. Doch dauerte es elf Jahre, bis sich ein fähiger Humanist einfand, der Freiburger Jakob Locher Philomusus71, der jedoch Tübingen nach wenigen Monaten verließ. Erst 1496 wurde Heinrich Bebel72 dauerhaft gewonnen, ein Literat, der heute noch in der Literaturgeschichte und Volkskunde einen Namen hat, vor allem durch seine Facetien, Schwankgeschichten. Er blieb bis zu seinem Tod 1518, immer schlecht besoldet und sich gesellschaftlich missachtet fühlend. Auf den Tübinger Nachwuchsdozenten Melanchthon, der ihn postum durch ein griechisches Gedicht ehrte, hat er keinen erkennbaren Einfluss gehabt. In Wittenberg dagegen gab es schon zu Beginn einen Lehrstuhl für klassische lateinische Autoren, und zeitgenössische Dichter wurden ebenfalls angeboten. Zur Gründung 1502 wurde der namhafte Humanist Hermann von dem Busche73 gewonnen, der die Festrede halten durfte74. Doch wie Locher in Tübingen blieb er nicht lange. 1503 kam Balthasar Fabricius aus Vacha, daher Balthasar Vach genannt75. Durch alle Zeitläufte hindurch hat er bis zu seinem Tod 1541 treu seine lateinischen Autoren den Studenten nahegebracht. In dem schon erwähnten Rotulus Scheurls aus dem Jahr 70
Urkunden (wie Anm. 10), 71. - Andreas und Dag B ENHELM , Die Anfänge der Tübinger Rhetorik im 15. Jahrhundert. In: 500 Jahre Tübinger Rhetorik. 30 Jahre Rhetorisches Seminar, hrsg. v. Joachim Knape (1997), 13–15. 71 Peter UKENA, Locher (Philomusus), Jakob: NDB 14 (1985), 743 f. - Ilse GUENTHER, Jakob Locher of Ehingen: ContEras 2 (1986), 338. - Dieter MERTENS, Jacobus Locher Philomusus als humanistischer Lehrer der Universität Tübingen. In: Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte 3 (1987), 11–38. - Wilhelm KÜHLMANN, Locher, Jacob: LitLex 7 (1990), 317 f. - Bernhard COPPEL, Jakob Locher Philomusus (1471–1528). Musenliebe als Maxime. In: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, hrsg. v. Paul Gerhard Schmidt (1993, 2 2000), 151–178. - Michael RUPP, „Narrenschiff“ und „Stultifera navis“. Deutsche und lateinische Moralsatire von Sebastian Brant und Jakob Locher in Basel 1494–1498 (2002). - Frank W ITTCHOW, Satis est vidisse labores, quos patior propter labentis crimina mundi. Lochers Ausstand. In: Humanisten am Oberrhein. Neue Gelehrte im Dienst alter Herren, hrsg. v. Sven Lembke und Markus Müller (2004), 209–235. 72 MBW 11 (2003), 132. - Dieter MERTENS, Bebel, Heinrich. In: Deutscher Humanismus 1480–1520 (wie Anm. 59), 142–163. - Melanchthons Gedicht: CR 10 (1842), 479 f Nr. 5. - CR 20 (1854), 765 f Nr. 2. - Stefan RHEIN, Philologie und Dichtung. Melanchthons griechische Gedichte (Edition, Übersetzung und Kommentar) (Diss. phil. Heidelberg 1987, Microfiche-Ausgabe 1992), 95–101 Nr. 5. 73 MBW 11 (2003), 246. - Wilhelm KÜHLMANN, Buschius, Hermann. In: Deutscher Humanismus 1480–1520 (wie Anm. 59), 313–336. 74 KATHE (wie Anm. 8), 7 f. Vgl. auch S. 11–15 und Maria GROSSMANN, Humanism in Wittenberg 1485–1517 (1975). 75 Martin TREU, Balthasar Fabritius Phacchus – Wittenberger Humanist und Freund Ulrichs von Hutten: ARG 80 (1989), 68–87. - Helmar J UNGHANS, Verzeichnis der Rektoren, Prorektoren, Dekane, Professoren und Schloßkirchenprediger der Leucorea vom Sommersemester 1536 bis zum Wintersemester 1574/75. In: Georg Major (1502–1574), hrsg. v. Irene Dingel und Günther Wartenberg (2005), 235–270, bes. 257 f.
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1507, der als Werbeschrift ein maximales Angebot registriert, werden in humanis litteris oder in litteris secularibus, wie er das nennt, von drei Professoren vier Vorlesungen angekündigt: die Klassiker Vergil, Valerius Maximus und Sueton, dann die erst von Poggio keine hundert Jahre zuvor entdeckten Punica des Silius Italicus, und von dem Humanisten Georg Sibutus76 sein eigenes Gedicht über Wittenberg. Außerdem nennt er fünf Extraordinarien77. Einer von ihnen ist der nachmalige Wittenberger Stadtschreiber Andreas Meinhardi, der 1508 als Werbeschrift für die neue Hochschule einen Dialog publiziert hat78. Die Wittenberger Philosophische Fakultät hatte also von Anfang an neben den traditionellen artes eine humanistische Abteilung, die freilich nur mit einem einzigen fest besoldeten Professor besetzt war, Balthasar Fabricius aus Vacha. Der zweite Professor war Scheurl selbst, der aber von seinem Ordinariat an der Juristischen Fakultät lebte. Der dritte war Georg Sibutus, der jedenfalls keine Planstelle hatte. Später lehrte noch Ricardus Sbrulius79, der 1513 nach Frankfurt/Oder ging. Überhaupt gab es neben den Planstellen, die zu ermitteln schon schwierig genug ist, noch das Angebot der Privatdozenten. Insbesondere Griechisch und Hebräisch konnte man privatim lernen, bevor es dafür Lehrstühle gab80. 1509 gab es auch einen Dozenten für Erdkunde, Bartholomäus Stein81. Er ging 1512 nach Leipzig. In Wittenberg erhielt er keinen Nachfolger. Dass Professoren nach Bedarf aus der kurfürstlichen Kammer besoldet wurden, ist ein zukunftsträchtiges Moment. Die Zukunft gehörte dem Fixum aus einer öffentlichen Kasse, nicht der Verpfründung. Mochten die gestifteten Professuren auch begehrenswerter sein, denn nur sie waren fundiert (wir sagen etatisiert) – die Tatsache, dass vom Kurfürsten für besondere Fälle, vor allem für die humanistischen Fächer, aber auch Medizin und bürgerliches Recht, geeignete Professoren aus eigener Tasche 76
Franz MACHILEK, Georgius Sibutus Daripinus in seiner Bedeutung für den Humanismus in Mähren. In: Studien zum Humanismus in den böhmischen Ländern, hrsg. v. Hans-Bernd Harder und Hans Rothe (1988), 207–241. - Gerhard W OLF, Sibutus, Georgius: LitLex 11 (1991), 26. 77 UUW 1 (1926), 16. 78 Edgar REINKE, The Dialogus of Andreas Meinhardi. An utopian description of Wittenberg and its university, 1508 (1976). - Andreas MEINHARDI, Über die Lage, die Schönheit und den Ruhm der hochberühmten, herrlichen Stadt Albioris, gemeinhin Wittenberg genannt. Ein Dialog, herausgegeben für diejenigen, die ihre Lehrzeit in den edlen Wissenschaften beginnen. Übersetzt und eingeleitet von Martin T REU (1986). Martin TREU, Alltagsgeschichte und Theologie – Der Dialog des Andreas Meinhardi über die hochberühmte Stadt Wittenberg von 1508: Pirckheimer Jahrbuch 8 (1993), 91–105. 79 FRIEDENSBURG, Geschichte (wie Anm. 31), 71 f. - Helmar J UNGHANS, Der junge Luther und die Humanisten (1984), 59 f. - HÖHLE (wie Anm. 2), 115 f. 80 KATHE (wie Anm. 8), 459 f. 81 Ebd. 35 f.
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besoldet wurden, wenn keine Pfründe frei war, bot die Chance zum Ausbau des Lehrangebots, die von der Universität zielstrebig genutzt wurde, und schließlich wurde die Bereitschaft des Kurfürsten, sinnvolle Anregungen zu finanzieren, zum Hebel für die völlige Umgestaltung der Universität nach Rechtsform und Lehrinhalt. Zuerst wurde 1514 das Lehrangebot um Mathematik erweitert und dieses Fach schon für das Bakkalaureat, verstärkt für die Magisterprüfung verbindlich gemacht82. Der Ausbau ging weiter trotz finanzieller Schwierigkeiten, die vor allem diejenigen Professoren trafen, die keine Pfründe erlangen konnten. Am 9. April 1516 warnte die Universität vor dem Niedergang, den die nur durch Pfründen finanzierten Universitäten wie Greifswald, Mainz, Trier, Basel erlitten, und verlangte dauerhafte Sicherung auch der nicht verpfründeten Professoren, insbesondere neue Stellen für fünf bis sechs Artisten83. Zwei Jahre später waren nicht fünf oder sechs, sondern acht, inhaltlich neu definierte Lehraufträge bewilligt, die mit anständiger Dotierung von sieben Professoren zu versehen waren84. Die beiden ersten erfüllen das Versprechen der Statuten, die Hauptkurse in drei Wegen anzubieten, aber der dritte Weg ist nun nicht mehr der Nominalismus eines Ockham oder Gregor von Rimini, sondern der unkommentierte Text des Aristoteles in einer neuen, humanistischen Übersetzung. Die große Logik wurde hinfort also nicht nur skotistisch und thomistisch vorgetragen, sondern die Schriften des aristotelischen Organon wurden in lateinischer, möglichst wörtlicher Übersetzung vorgelesen. Logica (Plural!) Aristotelis textualiter secundum novam translationem, heißt der erste der neuen Lehrstühle. Entsprechendes gilt für die Physik, wobei auch die bisher stiefmütterlich behandelte Metaphysik mit behandelt werden sollte: Physica et metaphysica Aristotelis textualiter secundum novam translationem. Der dritte traditionelle Lehrstuhl ist die kleine Logik nach Petrus Hispanus. Er wurde – das ist nun neu – durch Zoologie ergänzt: Aristoteles de animalibus. Derselbe Dozent musste auch das vierte neue Lehrangebot mit versehen: Rhetorik nach Quintilian. Zwei weitere Magister hatten die Aufgabe, im Pädagogium Ordnung zu halten und lateinische Sprache und die Anfänge des Griechischen und Hebräischen zu lehren. Privat konnte man schon vorher in Wittenberg Griechisch und Hebräisch lernen. Die Universität errichtete erst in diesem April 1518 ordentliche Lehrstühle, 82
UUW 1 (1926), 73 f Nr. 54. UUW 1 (1926), 74–76 Nr. 55. Zum Folgenden: Heinz SCHEIBLE, Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform. Zum Quellenwert von Lutherbriefen (1996): unten Nr. 7. 84 UUW 1 (1926), 85 f. Nr. 64. - Zum Datum: SCHEIBLE, Aristoteles (wie Anm. 83), 136 Anm. 56. 83
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und zwar außer den genannten Anfängerkursen die hervorragend dotierten Professuren für griechische und hebräische Literatur, die einige Monate später besetzt wurden. Wer dies veranlasst hat, ist nicht bekannt. Vermutlich war es Georg Spalatin85, Humanist aus dem Erfurter Kreis, der als Hofkaplan des Kurfürsten die Verbindung zur Universität nach beiden Seiten loyal und effektiv pflegte, sozusagen der sächsische Wissenschaftsminister. Luther war nicht die Triebkraft, denn erstens war er von Amts wegen nicht unmittelbar zuständig, zweitens referiert er in seinen Briefen den Inhalt dieser Neuerungen falsch, und drittens steht ein Teil dieser Lehraufträge mit seiner eigenen Auffassung vom Wert des Aristoteles für die Philosophie in Widerspruch86. Denn von einer Abschaffung des Aristoteles, wie sie Luther propagierte, ist überhaupt nicht die Rede. Im Gegenteil: Im April 1518 – gerade als Luther in Heidelberg gegen die aristotelische Philosophie zu Felde zog – wurden in Wittenberg drei neue Lehrstühle für aristotelische Philosophie besetzt. Diese Reform der Artistenfakultät einschließlich der zeitgemäßen Stiftung von Lehrkanzeln für Griechisch und Hebräisch entspringt also nicht Luthers reformatorischer Erkenntnis, wie üblicherweise gesagt wird, sondern ist der vorreformatorischen, humanistischen Reformbewegung zuzurechnen. Die Abschaffung der bestehenden Professuren war damals nicht vorgesehen. Wir haben also ab dem Sommer 1518 außer den bestehenden sechs 85
Irmgard HÖSS, Georg Spalatin 1484-1545 (1956, ²1989). - Karl DIENST, Spalatin: BBKL 10 (1995), 865–867. - Rolf DECOT, Spalatin: LThK3 9 (2000), 802 f. - Markus WRIEDT, Spalatin, Georg: Metzler Lexikon christlicher Denker (2000), 640 f. - Dieter STIEVERMANN, Marschalk (ca. 1470–1525), Spalatin (1494–1545), Mutian (ca. 1470– 1526), Hessus (1488–1540) und die Erfurter Humanisten. In: Große Denker Erfurts (wie Anm. 36), 118–141. 86 SCHEIBLE, Aristoteles (wie Anm. 83). Die traditionelle Auffassung vom entscheidenden Anteil Luthers an der Reform auch der Artistenfakultät verteidigt dagegen Helmar J UNGHANS, Martin Luthers Einfluß auf die Wittenberger Universitätsreform. In: Die Theologische Fakultät Wittenberg (wie Anm. 3), 55–70, bes. 55 und 68–70. Ähnlich die Sicht von Martin TREU, Die Leucorea zwischen Tradition und Erneuerung. Erwägungen zur frühen Geschichte der Universität Wittenberg. In: Martin Luther und seine Universität, hrsg. v. Heiner Lück (1998), 31–51, und von Walter ZÖLLNER, Herausbildung und Weiterentwicklung der Wissenschaftsgebiete an der Universität Wittenberg bis zum Ende der Lutherzeit (unter besonderer Berücksichtigung der Artistenfakultät): Ebd. 117–132. - Jens-Martin KRUSE, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522 (2002), 139–144, untersucht den Anteil der Theologen, sieht aber auch den Unterschied dessen, was Luther wollte, zu dem, was geschah. Umfassend zum historischen Kontext: Manfred RUDERSDORF und Thomas TÖPFER, Fürstenhof, Universität und Territorialstaat. Der Wittenberger Humanismus, seine Wirkungsräume und Funktionsfelder im Zeichen der Reformation. In: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, hrsg. v. Thomas Maissen und Gerrit Walther (2006), 214–261.
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Professuren für skotistischen und thomistischen Aristotelismus noch drei weitere, wie einstmals vorgesehen, die nun aber nicht die via Gregorii berücksichtigten, sondern mittels neuer lateinischer Übersetzungen griechischer und italienischer Humanisten dem Urtext näher kommen wollten. Die Zeiten hatten sich in diesen zehn Jahren gründlich geändert. Doch war diese Entwicklung nicht auf Wittenberg beschränkt. Solche humanistische Reformen des Philosophieunterrichts und das Bedürfnis nach Kenntnis des Griechischen und auch des Hebräischen gab es damals allenthalben, insbesondere in Erfurt87 und in Leipzig88. Wittenberg stand offenbar im Wettbewerb mit Leipzig, wo seit 1515 erstrangige Gräzisten lehrten. Besetzt wurden die neuen Lehrstühle mit jungen Leuten, die ex eventu als Anhänger der Reformation bezeichnet werden können. Die aristotelische Logik las Augustin Schurff89, der Bruder des Juristen Hieronymus Schurff90; er wurde später Medizinprofessor in Wittenberg. Die Physik und Metaphysik des Aristoteles las Bartholomäus Bernhardi91, jener frühe Lutherschüler, der 1516 im Sinne von Luthers Römerbriefvorlesung De viribus et voluntate hominis sine gratia disputiert hatte, und der 1521 als Propst von Kemberg als einer der allerersten Priester den Zölibat öffentlich missachten sollte. Die Tiergeschichte des Aristoteles und Quintilians Rhetorik wurden von Johannes Eisermann92 vorgetragen, der 1523 nach Marburg übersiedelte, wo er 1527 Gründungsrektor dieser ersten evangelischen Universität und Rechtsprofessor wurde. Alle drei – um dies vorwegzunehmen – erhielten keine Nachfolger. Der unkommentierte Text des Aristoteles war für junge Studenten nicht geeignet. Die Zukunft gehörte wieder den Lehrbüchern, nun aber modernen, humanistischen. Schwierig war es, einen fähigen Hebraisten zu finden. Nach den zwei Fehlberufungen Johannes Böschenstein93 und Matthäus Adrianus94 konnte 87
Erich KLEINEIDAM , Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt. Teil II: Spätscholastik, Humanismus und Reformation, 1461–1521 (²1992), 138–140. 88 Max STEINMETZ, Die Universität Leipzig und der Humanismus. In: Alma Mater Lipsiensis, hrsg. v. Lothar Rathmann (1984), 33–54. 89 MÜLLER, Bewegung (wie Anm. 48), 320–334. - J UNGHANS, Verzeichnis (wie Anm. 75), 256. 90 Wiebke SCHAICH-K LOSE, D. Hieronymus Schürpf. Leben und Werk des Wittenberger Reformationsjuristen 1481-1554 (1967). - Isabelle DEFLERS, Lex und ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons (2005), 133–139 u. ö. - Heiner LÜCK., Hieronymus Schurff (1481-1554). In: Wittenberger Lebensläufe (wie Anm. 40), 52–74. 91 MBW 11 (2003), 145. 92 Ebd. 397. 93 Ebd. 180 f. - Gerald DÖRNER, Böschenstein, Johannes. In: Deutscher Humanismus 1480–1520 (wie Anm. 59), 230–247. 94 MBW 11 (2003), 36 f.
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aber 1521 der Böhme Matthäus Aurogallus95 gewonnen werden, der bis zu seinem Tod 1543 eine kontinuierliche Lehrtätigkeit entfaltete und auch Luther bei der Übersetzung des Alten Testaments half. Als Gräzisten wollten Luther96 und andere den Leipziger Professor Petrus Mosellanus97 abwerben. Doch Kurfürst Friedrich der Weise setzte sich über seine Professoren hinweg, ließ sich von Reuchlin beraten98 und berief aus Tübingen den 21-jährigen Magister Philipp Melanchthon. Einen besseren gab es nicht.
Melanchthons Antrittsrede Melanchthon erreichte seine neue Wirkungsstätte am 25. August 151899. Fast 42 Jahre lang, bis zu seinem Tod am 19. April 1560, war er zunächst neben Luther und dann 14 Jahre allein die überragende Gestalt der Wittenberger Universität. Die Umgestaltung der mittelalterlichen Artistenfakultät mit dem Übergewicht der Logik zur neuzeitlichen Philosophischen Fakultät mit dem Gleichgewicht der sprachlichen und mathematischen Fächer ist sein Werk. Die Aufgabe lag in der Zeit und wurde auch anderswo angepackt. Aber die Art, wie dies in Wittenberg durch Melanchthon geschah, wirkte sich vorbildlich auf die anderen Universitäten und Schulen aus. Am Samstag nach seiner Ankunft hielt er vor einem großen Auditorium seine Antrittsrede über die Studienreform, »De corrigendis adulescentiae studiis«100. Er zog die Summe aus seinen Tübinger Erfahrungen und Plänen und traf sich damit völlig mit dem, was man in Wittenberg wollte. Der neue Professor präsentiert sich als Vorkämpfer der Renaissance; er will die renascentes Musae, das studium litterarum renascentium, die renascentia studia verteidigen und propagieren. Bonae litterae, elegans litteratura heißen die angebotenen Fächer. Die fontes studiorum gilt es 95
Ebd. 99. WAB 1 (1930), 178–181 Nr. 80 (an Spalatin, 4. 6. 1518). 97 Stefan RHEIN, Mosellanus, Petrus: LitLex 8 (1990), 235 f. - Heinrich GRIMM , Mosellanus (eigtl. Schade), Petrus (auch Protegensis): NDB 18 (1997), 170 f. - Peter W ALTER, Mosellanus: LThK3 7 (1998), 495. - Heinz SCHEIBLE, Mosellanus, Petrus: 4 RGG 5 (2002), 1543 f. 98 Kurt HANNEMANN, Reuchlin und die Berufung Melanchthons nach Wittenberg. In: Johannes Reuchlin 1455-1522, Festgabe seiner Vaterstadt Pforzheim, hrsg. v. Manfred Krebs (1955), Neuausgabe hrsg. v. Hermann Kling und Stefan Rhein (1994), 108–138. 99 MBW 10 (1998), 261. 100 CR 11 (1843), 15–25; MSA 3 (1961), 29–42; übersetzt von Gerhard STEINGER in: Melanchthon deutsch, Bd. 1 (1997), 41–63. Vgl. Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Bildungsprogramm (1986): Forschungsbeiträge (1996), 99–114, bes. 101 f. - DERS., Melanchthons Werdegang: oben Nr. 2, bes. S. 44 f. 96
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aufzusuchen. Nötig ist sein Appell, weil der vor einigen Jahren erfolgte Aufbruch der Jugend erschlaffte: Griechisch zu lernen gelte als arrogant, das Hebräische als unsicher, überhaupt sei die Mühe größer als der Nutzen. Im historischen Teil seiner Rede würdigt er verständnisvoll die gelehrte Tradition. Negativ bewertet wird erst die Hochscholastik, als die Kenntnis der Mathematik verloren ging und alles von den schlechten lateinischen Übersetzungen der aristotelischen Schriften bestimmt wurde. Die Missachtung des Griechischen, die Unkenntnis der Mathematik und die Verwahrlosung der Theologie gehen Hand in Hand: simul Graeca contempta, mathematica deserta, sacra negligentius culta sunt. Melanchthons Reformprogramm zielt nicht auf die Abschaffung der traditionellen Fächer, sondern er möchte die Studenten durch den Nebel sekundärer Informationen auf die Sache, wie sie in den Quellen geboten wird, hinführen und damit die Grundlagen für Theologie und Recht vermitteln. Er verschreibt sich keiner bestimmten Schule. „Aus den besten Autoren wähle das Beste, sowohl was die Kenntnis der Natur als auch die Bildung der Persönlichkeit betrifft.“ Das geht nicht ohne Griechisch. Die gesamte Naturwissenschaft wird durch griechische Autoren vermittelt. Für die Humanwissenschaften sind die Ethiken des Aristoteles, Platons Nomoi, Homer und die lateinischen Dichter Vergil und Horaz die besten Schriften. Unerlässlich ist auch Geschichte. Sie liefert die Beispiele für menschliches Verhalten im privaten und im öffentlichen Leben, für Rechtsprechung und Politik. „Kein Teil des Lebens, weder des öffentlichen noch des privaten, kann ohne sie auskommen.“ Der Theologe braucht zusätzlich das Hebräische. So unerlässlich die Wissenschaften für ihn sind, ans Ziel kommt er nur unter der Leitung des Heiligen Geistes: Duce Spiritu, comite artium nostrarum cultu ad sacra venire licet. Melanchthon vermeidet den Anschein, als meine er, den Wittenbergern die Weisheit bringen zu müssen. Er rühmt die Bildungspolitik des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, dem er den neu geschaffenen Lehrstuhl verdankte, und beglückwünscht die Studenten, weil sie den echten Aristoteles, den Rhetor Quintilian und Naturkunde nach Plinius geboten bekommen. Das horazische Sapere aude, das Kant zum Wahlspruch der Aufklärung machen wird, ruft auch er ihnen zu: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Abriss der alten und Aufbau der neuen Strukturen Noch eine geraume Zeit lang bestanden die alten und die neuen Vorlesungen nebeneinander. Die neuen fanden zwar größeren Zulauf, aber um das Studium erfolgreich mit einem Grad beenden zu können, musste man die
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traditionellen Fächer belegen. Schließlich entstand bei vielen Studenten und auch Dozenten als Folge der Kirchenkritik Luthers und seiner evangelischen Theologie eine Abneigung gegen die scholastischen Prüfungen und die Begierde, statt mühsamer Logik die evangelische Heilslehre in sich aufzunehmen. Doch ging dies nicht so schnell und nicht so turbulent vonstatten, wie gemeinhin gesagt und geschrieben wird. Die scholastischen Vorlesungen wurden zwar reduziert, doch behutsam und im Einvernehmen mit den Stelleninhabern. Zuerst (nach 23. 2. 1519) wurden die thomistischen Vorlesungen über Physik und Logik eingestellt; die skotistischen Parallelkurse blieben erhalten101. Die Promotionszahlen lassen erkennen, dass bis zum Wintersemester 1521/22 der Lehrbetrieb alten Stils in Wittenberg aufrechterhalten wurde102. Die alten Lehrstühle für Mathematik, Grammatik und humanae litterae wurden auch darüber hinaus weitergeführt. Die scholastische Metaphysik, früher einmal von Karlstadt, dann lange von Jakob Premsel gelesen, war mit dem 1518 neu errichteten Lehrstuhl für aristotelische Physik zusammengelegt worden103. Dieser Physiklehrstuhl, in raschem Wechsel von Bartholomäus Bernhardi, Jobst Mörlin104 und Heinrich Stackmann versehen, wurde ebenfalls weitergeführt105. Die Metaphysik erscheint 1523 wieder als selbständiger Lehrstuhl und von Gunckel betreut, wird aber als unnütz und verachtet bezeichnet106. Die beiden anderen neuen Aristoteles-Textvorlesungen jedoch überdauerten das Sommersemester 1521 nicht. Augustin Schurff, der die aristotelische Logik textualiter secundum novam translationem las, bekam nach dem 24. Juni 1521 eine medizinische Professur107. Sein Nachfolger war Hermann Tulichius108, dem Luther »De captivitate Babylonica« gewidmet hatte. Dessen Lehrauftrag wurde neu definiert als elementa logicae et rhetoricae109. Es ist zu vermuten, dass statt des aristotelischen Organon nun Melanchthons Lehrbücher zugrunde gelegt wurden. Mit diesen elementa logicae war zugleich die kleine Logik nach Petrus Hispanus ersetzt. Eingestellt wurde auch die 1518 errichtete Textvorlesung über »De animalibus« des Aristoteles. Sie war bisher im Wechsel mit der Rhetorik des Quintilian gelesen worden. Nun, im Juni 1521, erfahren wir, dass der Lehrstuhlinhaber Eisermann Quintilian und Plinius liest110. Der römische Natur101
UUW 1 (1926), 89 Nr. 71. - WAB 1 (1930), 349 f. SCHEIBLE, Aristoteles (wie Anm. 83), S. 141–143. 103 UUW 1 (1926), 85 f Nr. 64. 104 WAB 2 (1931), 256 f Anm. 1. 105 SCHEIBLE, Aristoteles (wie Anm. 83), S. 143 Anm. 107, und oben Anm. 60. 106 Ebd. Anm. 108. 107 UUW 1 (1926), 117 in Nr. 108. 108 GermSacra 1/3/2 (1941), 139 f. 109 UUW 1 (1926), 117 in Nr. 108. 110 UUW 1 (1926), 118 in Nr. 109. 102
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historiker, den Luther der aristotelischen Zoologie vorzog111, war seit 31. Mai 1520 durch den Tod des Wanderhumanisten Aesticampian112, der sich darum gekümmert hatte, verwaist gewesen und wurde nun in das ordentliche Lehrangebot aufgenommen. Die humanistischen Vorlesungen wurden weiterhin unter maßgeblicher Beteiligung Melanchthons ausgebaut. Im März 1523 waren es elf Dozenten, die (laut einer Aufstellung Spalatins) an der philosophischen Fakultät aus Mitteln der kurfürstlichen Kammer unterrichteten113: Griechisch lehrte Melanchthon, Hebräisch Aurogallus. Gunckel las Metaphysik, Camerarius Quintilian, Balthasar Vach in zwei Kursen lateinische Autoren, Rhetorik und Dialektik wurden von Tulichius vertreten, die Physik von Johannes Magenbuch114, die Mathematik noch immer von Volmar, Grammatik lehrte Cornarius, schließlich waren für das Pädagogium zwei Magister tätig (einer war Johannes Agricola115). Die Besoldung war zum Teil sehr niedrig und sollte erhöht werden. Die Metaphysik wurde für entbehrlich gehalten. Daneben gab es immer noch die gestifteten Professuren, die aber offenbar fast keine Hörer mehr fanden. Die samstäglichen Disputationen der Artisten, die sich mit spitzfindigen Fragen der scholastischen Logik befassten, konnten nicht mehr abgehalten werden, und da die Prüfungsordnungen darauf angelegt waren, fanden auch fast keine Promotionen mehr statt116. Die Stiftspfründen für die Besoldung der erfolgreichen Dozenten heranzuziehen, was ja ihr Stiftungszweck war, erwies sich als unmöglich, solange die Mehrheit des Allerheiligenstiftes gegen Luthers Forderungen am traditionellen Gottesdienst festhielt. Zwar konnte die Universität drei humanistische Dozenten auf vakante Pfründen nominieren, was ihr Recht war, aber da diese den Messgottesdienst nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, kamen sie laut Satzung des Stiftes nicht in den Genuss der Präsenzgelder und verzichteten schließlich auf ihre Pfründen117. Auf diese Weise verlor Wittenberg manche begabten Dozenten, die an besser und 111
WAB 1 (1930), 562 f Nr. 222. MBW 11 (2003), 39. 113 Gustav B AUCH, Die Einführung der Melanchthonischen Declamationen u. a. gleichzeitige Reformen an der Universität zu Wittenberg (1900), 10 f. - Regest: UUW 1 (1926), 124 Nr. 121. 114 Peter ASSION und Joachim T ELLE, Der Nürnberger Stadtarzt Johannes Magenbuch: Sudhoffs Archiv 56 (1972), 353–421. - Osiander-GA 3 (1979), 57 f Nr. 93. - Rainer AXMANN, Melanchthon und seine Beziehungen zu Coburg: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 42 (1997), 129–223, bes. 180–182. - Thomas ANSELMINO, Medizin und Pharmazie am Hofe Herzog Albrechts von Preußen (2003), 96 f. 115 MBW 11 (2003), 41 f. 116 SCHEIBLE, Aristoteles (wie Anm. 83), 143 f. 117 MÜLLER, Bewegung (wie Anm. 48), 310 f. - WAB 3 (1933), 185 f Nr. 681, S. 319–321 Nr. 758 f. 112
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dauerhaft dotierte Stellen, etwa die Leitung einer Stadtschule, abwanderten, was für die Ausbreitung der humanistischen Bildungsreform nicht einmal schlecht war.
Die Studienreform von 1523 Im März 1523, wenige Monate nach dem Zusammenbruch des traditionellen Studiengangs und Prüfungssystems, hielt Melanchthon die Grundsatzrede „Dass für jede Art von Studium die sprachlichen Fächer unerlässlich sind“118. Er wollte den Studenten als unerlässliche Grundlage für alle Wissenschaften die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck vermitteln, die eloquentia, Gewandtheit in Prosa und auch in Versen. Dazu brauchte es das ganze Gewicht seiner überragenden wissenschaftlichen und pädagogischen Fähigkeiten. Die Studenten wollten sich nicht mehr länger mit so mühsamen Belanglosigkeiten wie Grammatik, Dialektik und Naturkunde aufhalten, sondern gleich zu den Lebensfragen vorstoßen. Man studierte Theologie, ohne sich dem Ausbildungsgang der Artistenfakultät zu unterziehen. Ungeprüft verließ man dann die Universität, um möglichst ein Predigtamt zu übernehmen. Melanchthon sah darin eine große Gefahr für die Kirche. Zwar nimmt die Theologie ihren Stoff nicht aus der Philosophie, aber sie leiht sich ihre Sprache von der allgemeinen Gewohnheit, sie bedient sich leihweise der allgemeinen Sprache, kann also ohne Dialektik und ähnliche Wissenschaften nicht verstanden werden. Der Theologe muss mehr als jeder andere wissen, er muss sich der Hilfswissenschaften, die in der Artistenfakultät gelehrt werden, für seine Aufgabe bedienen. Damit die Kirche nicht durch Bildungsfeindlichkeit und Schwärmerei Schaden nimmt und ihre Botschaft unverständlich wird, hat Melanchthon es abgelehnt, nur noch an der Theologischen Fakultät zu lehren119, sondern hat die Reform der Philosophischen Fakultät in Angriff genommen und erfolgreich durchgeführt. Diese Entscheidung war das Gebot der Stunde. Er stellte sich damit der wichtigsten Aufgabe, die nach und neben Luther zu tun blieb. Melanchthons Sorge galt zunächst den Studienanfängern. Sein Plan, jedem Studenten einen Tutor zu geben, scheiterte nach seinem Urteil an der Hochnäsigkeit der Studenten und an der Faulheit der Dozenten, und 118
»Necessarias esse ad omne studiorum genus artes dicendi«, abgekürzt »Encomium eloquentiae«: CR 11 (1843), 50–66; MSA 3 (1961), 43–62; übersetzt von Lothar MUNDT in: Melanchthon deutsch, Bd. 1 (1997), 64–91. Dazu Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Bildungsprogramm (wie Anm. 100), 104–107. 119 Heinz SCHEIBLE, Luther und Melanchthon (1984): Forschungsbeiträge (1996), 139–152, bes. 146 f. - Ins Englische übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Timothy J. WENGERT in: Lutheran Quarterly 4. Ser. 4 (1990), 317–339.
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auch die Stadt verweigerte die nötige Unterstützung120. Erfolgreicher war seine Absicht, wenigstens die Bewohner der Collegien intensiv zu betreuen. Er war sogar selbst bereit, in ein solches Studentenwohnheim einzuziehen121. Damals verhandelte Melanchthon an der untätigen Universitätsspitze vorbei direkt mit Spalatin am kurfürstlichen Hof122. Im Wintersemester 1523/24 wurde er zum Rektor gewählt123. Nun konnte er einen schon im März 1523 eingereichten Reformvorschlag124 realisieren125. Der Ausbildungsstand der Studenten konnte am besten bei den artistischen Disputationen geprüft werden, die jeden Samstag stattfanden126. Mit dem Abgang der scholastischen Logik waren aber diese Disputationen gegenstandslos geworden. Melanchthon setzte an die Stelle des früheren Drills in formaler Logik die Ausbildung im sprachlichen Ausdruck: Er richtete Deklamationsübungen ein127. Statt Dialektik wurde Rhetorik gelernt, eine vorzügliche Vorbereitung auch auf das Predigtamt, das sehr viele Studenten der Artistenfakultät anstrebten (ein förmliches Theologiestudium absolvierten die wenigsten). Man war sich bewusst, hier etwas Neues geschaffen zu haben, das es noch an keiner anderen Universität gab128. Aber auch die Disputationen wurden schon damals wieder eingeführt, und zwar im Bereich der Naturwissenschaften, der Mathematik und Physik129. So wurden ab 1523 monatlich zwei Deklamationen gehalten und zwei Disputationen fanden statt. Melanchthon selbst hat bis an sein Lebensende eine große Zahl glänzender akademischer Reden verfasst und gelegentlich selbst gehalten, zumeist aber von seinen Schülern und Kollegen vortragen
120
MBW 1 (1977), 137 Nr. 249 § 2. - MBW.T 1 (1991), 512 f Nr. 249 § 2. Vgl. auch MBW Nr. 248, 260, 282. 121 MBW 1 (1977), 137 f Nr. 251 § 1. - MBW.T 1 (1991), 514 f Nr. 251 Z. 5–7. 122 MBW 1 (1977), 137 f Nr. 251 § 1. - MBW.T 1 (1991), 514 f Nr. 251 Z. 8–12. Vgl. auch MBW Nr. 237, 238, 240, 241, 247, 248, 249, 259, 260, 265, 268–272, 279, 282. 123 J UNGHANS, Verzeichnis (wie Anm. 75), 249. 124 MBW 1 (1977), 145 Nr. 272 § 1. - MBW.T 2 (1995), 62 f Nr. 272 mit App. Q 2. Vgl. UUW 1 (1926), 124 Nr. 122. 125 UUW 1 (1926), 128–130 Nr. 131. 126 UUW 1 (1926), 56 in Nr. 26 (§ 9 der Satzung). Vgl. auch Spalatin an Kurfürst Friedrich den Weisen, 19. März 1523: B AUCH, Declamationen (wie Anm. 113), 12. SCHEIBLE (wie Anm. 127), 117. 127 MBW wie Anm. 120. Vgl. auch Heinz SCHEIBLE, Melanchthons biographische Reden. Literarische Form und akademischer Unterricht (1993): Forschungsbeiträge (1996), 115–138. 128 SPALATIN (wie Anm. 126). - SCHEIBLE (wie Anm. 127), 118 f. 129 UUW 1 (1926), 129 Nr. 131 § 3.
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lassen130. Er griff dabei die unterschiedlichsten Themen aus Geschichte und Gegenwart auf. Nicht zuletzt waren sie ihm ein wirkungsvolles Instrument der Universitätspolitik.
Die Finanzreform Johanns des Beständigen Eine spürbare Verbesserung der finanziellen Lage vieler Dozenten der Philosophischen Fakultät trat erst im September/Oktober 1525 durch den neuen Kurfürsten Johann den Beständigen ein. Es war dies eine Sofortmaßnahme, die noch vor der überfälligen Neuordnung der kirchlichen und schulischen Finanzen durchgeführt wurde. Die Zahl von elf Stellen blieb erhalten131. Aber da hiervon der alte Mediziner Thomas Eschaus und der entpflichtete Jakob Premsel 30 bzw. 20 Gulden Pension bezogen, gab es nur neun aktive Professoren. Mit je 60 Gulden waren die Professuren für Griechisch (Camerarius), Hebräisch (Aurogallus), Rhetorik nach Quintilian (unbesetzt) sowie Rhetorik und Dialektik (Tulichius) dotiert. 40 Gulden bekamen Balthasar Vach, der lateinische Dichter vortrug, und der Mathematiker Volmar, der vielleicht aus seiner Stiftspfründe noch Einkünfte bezog. 30 Gulden waren für den Physiker (Name unbekannt) und den Leiter des Pädagogiums (Jakob Milichius)132 vorgesehen. Weit außerhalb dieser Gehaltsstruktur stand mit 200 Gulden Melanchthon. Am 1. Oktober 1525 ließ Luther dem Kurfürsten durch Spalatin den Vorschlag unterbreiten, alle Pfarrgüter einzuziehen und daraus die Geistlichen zu besolden133. Das Allerheiligenstift war jetzt nahezu verödet. Im Jahr 1520 waren dort 81 Personen angestellt gewesen, nun waren es einschließlich Kirchendiener noch 20134. Die anderen waren teils gestorben, 130
Horst KOEHN, Philipp Melanchthons Reden. Verzeichnis der im 16. Jahrhundert erschienenen Drucke (1985); auch in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 25 (1984), 1277–1486. 131 UUW 1 (1926), 142 f Nr. 145; vgl. 132–135 Nr. 139. - Zur Biographie vgl. Helmar J UNGHANS, Johann von Sachsen (1468–1532): TRE 17 (1988), 103–106. - Gunda W ITTICH, Johann I., der Beständige, Kurfürst von Sachsen: BBKL 3 (1992), 174 f. 4 Michael B EYER, Johann der Beständige, Herzog von Sachsen: RGG 4 (2001), 512 f. Armin KOHNLE, Reichstag und Reformation (2001), 52–57. - Uwe SCHIRMER, Johann der Beständige (1525–1532). In: Die Herrscher Sachsens, hrsg. v. Frank-Lothar Kroll (2004), 65–70. - Zu Eschaus: MBW 11 (2003), 418 f. 132 Nikolaus MÜLLER, Philipp Melanchthons letzte Lebenstage, Heimgang und Bestattung nach den gleichzeitigen Berichten der Wittenberger Professoren (1910), 113–117. Ralf-Dieter HOFHEINZ, Philipp Melanchthon und die Medizin im Spiegel seiner akademischen Reden (2001), 310 f. - J UNGHANS, Verzeichnis (wie Anm. 75), 250. 133 UUW 1 (1926), 136–138 Nr. 141. 134 GermSacra 1/3/2 (1941), 96 f.
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teils hatten sie Wittenberg verlassen, zum größten Teil hatten sie dem geistlichen Stand entsagt. Die Einkünfte dieser vakanten Pfründen gingen nicht mehr von selbst ein, besonders nicht im und nach dem Bauernkrieg. Es kam darauf an, erst einmal eine Bestandsaufnahme zu machen und dann die Einkünfte des Stiftes, die ja der Universität zustanden, durch einen Vermögensverwalter in Verbindung mit den kurfürstlichen Beamten einzutreiben. Die am Stift verbliebenen Personen wurden nach Möglichkeit abgefunden, insbesondere mit Schul- und Kirchenämtern versorgt. Wer eine lebenslange Pfründe hatte und für eine andere Tätigkeit zu alt oder unbegabt war, erhielt ein Ruhegeld. Neueinstellungen waren natürlich verboten. Bei der Bestandsaufnahme wurden die Einnahmen aus dem Stiftsvermögen für höher geschätzt als der Bedarf der Universität135. Die Besoldung der Professoren wurde insgesamt auf Geld umgestellt, das der Quästor der Universität auszahlte. Luther, der bis dahin als Mönch kein Gehalt bezogen hatte, nun aber verheiratet war, erhielt das weiträumige Augustinerkloster zu eigen136, wo seine Frau Katharina von Bora137 ein Studentenpensionat einrichtete, durchaus in Melanchthons pädagogischem Sinn, denn die Studenten konnten hier im Umgang mit dem Lehrer Wichtigeres lernen als in allen Vorlesungen. Melanchthon und Luther bezogen ein jährliches Salär von 200 Gulden, das ist der Spitzensatz, der in Wittenberg damals nicht einmal den Juristen gezahlt wurde138, die allerdings noch Nebeneinkünfte hatten.
Melanchthons Position Damals räumte Melanchthon seinen Lehrstuhl für griechische Philologie, auf den er 1518 berufen worden war. Nachfolger wurde für kurze Zeit sein Freund Joachim Camerarius139, der aber 1526 auf Melanchthons Empfehlung Rektor in Nürnberg wurde, dann sein Schüler Franz Burchard140, der spätere kursächsische Vizekanzler. Melanchthon selbst erhielt einen Sonderstatus: Zusätzlich zu den Planstellen für den regelmäßigen Aus-
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B AUCH, Declamationen (wie Anm. 113), 23 f Nr. 9. - Regest: UUW 1 (1926), 136 Nr. 140. 136 Anne-Marie NESER, Luthers Wohnhaus in Wittenberg. Denkmalpolitik im Spiegel der Quellen (2005), 37 f. 137 MBW 11 (2003), 177 f. 138 UUW 1 (1926), 142 f Nr. 145. - WAB 12 (1967), 423. 139 UUW 1 (1926), 143 in Nr. 145. - MBW 11 (2003), 253–257. 140 MBW 11 (2003), 241 f.
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bildungsgang wurde für ihn eine Professur eingerichtet mit der Erlaubnis, zu lesen was er wollte141. Damit war auch das Problem, ob Melanchthon philosophische Fächer oder Theologie lehren sollte, aufgehoben: Er behandelte wie bisher beide Bereiche, wobei er sowohl Basiskurse wie Dialektik anbot als auch Gebiete aufgriff, für die kein Lehrstuhl vorgesehen war und die auch nicht geprüft wurden, z. B. Geschichte. Am 10. Januar 1526 erließ die philosophische Fakultät eine von Melanchthon verfasste Studienordnung142. Den Anfängern wurde verboten, allgemeine Vorlesungen zu hören, bevor sie den Nachweis fehlerfreier Beherrschung der lateinischen Sprache in Schrift und Wort erbracht und sich die Anfangsgründe der Mathematik angeeignet hatten. Die Ausbildung in Grammatik soll unter Anleitung eines persönlichen Präzeptors anhand der Lektüre von Terenz, Ciceros Briefen und Vergil erfolgen. Dialektik und Rhetorik wurden wahrscheinlich nach Melanchthons Lehrbüchern unterrichtet; genannt wird aber nur »De duplici copia rerum ac verborum«, die Rhetorik des Erasmus von Rotterdam143. Für Mathematik ist der EuklidKommentar des Neuplatonikers Proklos144 vorgesehen. Den Abschluss konnte das Bakkalaureat bilden, das aber nicht zwingend vorgeschrieben war. Für die nächste Stufe, die zum Magisterium (das ebenfalls nicht zwingend vorgeschrieben war) und zu den höheren Fakultäten führte, war das Lernziel die klare Darstellung schwieriger Sachverhalte in Naturwissenschaften und Ethik. Dialektik und Rhetorik wurden nach Quintilian vertieft, Ethik nach alten Rednern und Ciceros De officiis gelehrt. Großes Gewicht lag auf dem verstärkten Unterricht in Mathematik und Physik. Griechisch wurde empfohlen, das zusammen mit Hebräisch für Theologen vorgeschrieben war. Die von Melanchthon in seinem ersten Rektorat erlassene Studienordnung sieht vor, dass für jeden neuen Studenten ein individueller Studienplan erstellt wird145. Dies ist wohl nicht immer geschehen. Aber einige von Melanchthon selbst ausgearbeitete Studienpläne sind erhalten geblieben146. Die Arbeitswoche eines Studenten der Artistenfakultät, beispielsweise des jungen Herzogs Johann Friedrich von Pommern147, sollte folgendermaßen 141
UUW 1 (1926), 133 in Nr. 139; S. 142 in Nr. 145; S. 167 in Nr. 189; S 207 in Nr. 212. - MBW 446. 142 UUW 1 (1926), 146 f Nr. 148. 143 Erasmi Opera Omnia 1/6 (Amsterdam 1989). 144 Der Neue Pauly 10 (2001), 383–388. 145 UUW 1 (1926), 128 f Nr. 131 § 2. 146 Marcel NIEDEN, Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium. In: Die Theologische Fakultät Wittenberg (wie Anm. 3), 133–153. 147 CR 8 (1841), 382–387 Nr. 5695 = MBW 7331. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie (1997), 49–51.
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ablaufen: Morgens ein Kapitel aus dem Alten Testament und ein Psalm und Gebet, abends ein Kapitel aus dem Neuen Testament, ein Psalm und Gebet. Montags und dienstags eine Stunde Briefe Ciceros oder Terenz, Vergil oder Livius, anschließend grammatische und syntaktische Einübung der zuvor erklärten Texte. Nach dem Mittagessen Leibesübung und Musik, danach Wiederholung der Grammatik und Auslegung von Cicero, De officiis oder De amicitia, oder eines Historikers, nämlich Sallust, Commines über Karl den Kühnen oder Caesar. Mittwochs Katechismus und Stilübungen, wozu auch die Versregeln gehören, damit man die Prosa besser beurteilen kann. Am Donnerstag und Freitag morgens eine Stunde Dialektik, nachmittags eine Stunde Rhetorik. Samstags Theologie, nämlich Paulus oder Sprüche Salomos und ein Psalm. An Festtagen Historiker, wobei das Chronicon (gemeint ist das von Carion148 und Melanchthon) oft zu wiederholen ist. Ein wichtiges Bildungsziel war für Melanchthon die deutliche Aussprache. Er konnte sich dafür auf Reuchlin berufen, dessen diplomatische Karriere damit begann, dass ihn Graf Eberhard im Bart von Württemberg als Dolmetscher mitnahm, weil er das Lateinische akzentfrei sprach, so dass ihn die Italiener gut verstanden149. Als vorbildlich rühmte er vor seinen Studenten auch Reuchlins schöne Handschrift, und er forderte sie auf, Texte abzuschreiben, nicht nur, um die Anschaffungskosten der Edition zu sparen, sondern zur Übung. Demosthenes habe das Werk des Thukydides achtmal abgeschrieben, er selbst den Römerbrief des Apostels Paulus dreimal. Von Reuchlin habe er gehört, dass die Menschen vor der Erfindung des Buchdrucks deshalb gelehrter waren als heute, weil sie in jedem Fach die wichtigsten Texte eigenhändig abschreiben mussten150. Im Rahmen seiner Lehrfreiheit, die ihn über alle anderen Professoren der Philosophischen Fakultät, der er weiterhin angehörte, heraushob, kündigte Melanchthon seinem Freund Justus Jonas151 am 28. August 1527 eine Vorlesung über die Nikomachische Ethik an152. Dies ist eine Sensation für jeden, der den Melanchthon der Jahre 1519-1522 kennt153. Zwar kam er nach Wittenberg mit dem Plan einer wissenschaftlichen Aristoteles-Text-
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MBW 11 (2003), 269 f. Heinz SCHEIBLE, Reuchlins Einfluß auf Melanchthon (1993): Forschungsbeiträge (1996), 71–97, bes. 79. 150 Ebd. 151 MBW 12 (2005), 367–369. 152 MBW 1 (1977), 262 Nr. 580 § 5; MBW.T 3 (2000), 143–145 Nr. 580 Z. 61 f mit App. Q 62. 153 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon neben Luther (1995): Forschungsbeiträge (1996), 153–170, bes. 156-160. - Ders., Aristoteles (wie Anm. 83): unten S. 147 f. 149
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ausgabe als Gemeinschaftsunternehmen deutscher Humanisten154. Doch dann geriet er in den Sog von Luthers Aristoteles-Kritik und stand diesem in der Schärfe der Ablehnung wenig nach. Der sachliche Grund dieser Ablehnung wird schon 1519 im Bericht über die Leipziger Disputation klar formuliert: Es besteht eine riesige Kluft zwischen der alten Theologie Christi und der neumodischen aristotelischen155. Diese Erkenntnis hat Melanchthon niemals aufgegeben. Wie aber konnte er da zu einer intensiven und fruchtbaren wissenschaftlichen Beschäftigung mit Aristoteles fähig sein, die ihn zum führenden Aristoteliker der Reformation156 machte? Wie konnte Luther dies mit ansehen? Der Schlüssel für diese Kehre in der Beurteilung des Stagiriten und der Philosophie überhaupt ist die Lehre von Gesetz und Evangelium157, eine Unterscheidung, die für die Theologie Luthers und Melanchthons grundlegend und spezifisch ist. Solange Luther noch nicht unterscheiden konnte zwischen göttlicher Gerechtigkeit, die als Evangelium geschenkt wird, und weltlicher Gerechtigkeit, die das menschliche Zusammenleben möglich macht, musste ihm das Scheitern des Heilswegs durch ein undifferenziert gesehenes Gesetz gerade die aristotelische Ethik verhasst machen. Die Folge war eine generelle Abwertung der Philosophie bei seinen Anhängern, auch bei Melanchthon. Denn die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wird erst ab 1521 als griffige hermeneutische Formel in Umlauf gesetzt. Sie bot Melanchthon die Möglichkeit und stellte ihn damit zugleich vor die Aufgabe, als Theologe philosophisch zu arbeiten, und zwar nicht nur an einer formalen Philosophie des Denkens und Redens, sondern auch an einer materialen der Human- und Naturwissenschaften. Melanchthon trieb als Theologe Philosophie, nicht etwa als Philosoph Theologie158. Die Philosophie war für Melanchthon nicht oder nicht nur etwas außerhalb der Theologie im Sinne einer Zwei-Reiche-Lehre mit Eigengesetzlichkeit eines weltlichen Bereichs. So wäre er missverstanden. 154
MBW 17. CR 1 (1834), 88; MSA 1 (1951), 5.5–7 . 156 Peter PETERSEN, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland (1921, Repr. 1964). - Rolf SCHÄFER, Aristoteles/Aristotelismus V/2. Reformation und nachreformatorische Theologie: TRE 3 (1978), 789–796, bes. 791 f. - Enno RUDOLPH, Zeit und Gott bei Aristoteles aus der Perspektive der protestantischen Wirkungsgeschichte (1986). - Christoph HUBIG, Melanchthon als Interpret der aristotelischen Ethik. In: Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert, hrsg. v. Günther Wartenberg (1999), 161–177. 157 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon als theologischer Gesprächspartner Luthers: oben Nr. 1, bes. S. 12–14 und 19–21. - DERS., Die Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für theologische Ethik und Praktische Theologie am Beispiel Melanchthons: unten Nr. 13. 158 Günter FRANK, Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1995). 155
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Sondern die Philosophie ist eine Funktion der Kirche. Die Ethik ist ein Teil des Gesetzes im theologischen Sinn. Die Kirche braucht die Philosophie159, weil ohne Bildung auch die Frömmigkeit untergeht, wie Geschichte und Gegenwart lehren160. Der Theologe braucht also die Philosophie, aber nicht irgendeine, sondern eine, die nicht spitzfindig ist und die eine gute Methodik bietet. Eine solche ist die des Aristoteles161. Melanchthon wird Aristoteliker, weil es nach seinem Urteil keine bessere Philosophie gibt. Alle anderen philosophischen Schulen vertreten irgend etwas Absurdes: die Stoiker Apathie und das Fatum, Epikur Atheismus und Atomismus, die Akademie den Skeptizismus. Doch ist Melanchthon kein dogmatischer Aristoteliker, sondern vertritt ausdrücklich einen Eklektizismus: Auch von anderen Autoren sind Erkenntnisse zu gewinnen. Er kommentierte die aristotelischen Schriften zur Ethik, Politik, Physik und schuf eigene Lehrbücher im Stile eines auf der Höhe der Zeit stehenden Aristotelismus162. 1545, also relativ spät, wurde diese Entwicklung durch neue Satzungen für die Philosophische Fakultät gesetzlich verankert163. Dort ist zu lesen: Weil Gott sich durch ein Buch geoffenbart hat, braucht die Kirche Wissenschaft. Die Arbeit an der Artistenfakultät ist ein Teil der militia ecclesiae Dei, und sie ist Gott wohlgefällig. Aristoteles als Lehrgegenstand wird zweimal ausdrücklich erwähnt: seine Physik und seine Ethik. Nur bei letzterer werden genaue Anweisungen erteilt, wie sie zu behandeln ist. Der griechische Text muss erläutert werden. Dabei ist der Unterschied von Gesetz Gottes, Evangelium und bürgerlicher Moral herauszuarbeiten, die Philosophenschulen sind zu beurteilen und die Vorschriften durch Beispiele zu erläutern. Dies alles geschah zu Lebzeiten Luthers. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, denn die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium blieb gewahrt. In seinen letzten fünfzehn Lebensjahren fand er sogar selbst gelegentlich anerkennende Worte über den Stagiriten164.
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Rede »De philosophia« (1536): CR 11 (1843), 279; MSA 3 (1961), 89.16–22 ; übersetzt von Günter FRANK in: Melanchthon deutsch (1997), 125–135. - Vgl. Oswald B AYER, „Die Kirche braucht liberale Erudition“. Das Theologieverständnis Melanchthons: Kerygma und Dogma 36 (1990), 218–244. - SCHEIBLE, Aristoteles (wie Anm. 83): unten Nr. 7, bes. S. 150 f. 160 CR 11, 283; MSA 3, 94.22–28 . 161 CR 11, 282; MSA 3, 93.17–22 . 162 TRE 22 (wie Anm. 6), 387 §§ 2.7 und 2.8. 163 UUW 1 (1926), 266-277 Nr. 273. 164 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon neben Luther (1995): Forschungsbeiträge (1996), 165 f.
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Die Fundation des Kurfürsten Johann Friedrich Auf die Finanzreform des Jahres 1525 folgten ereignisreiche Jahre: Kirchen- und Schulvisitationen wurden in allen Landesteilen durchgeführt165 und schließlich 1532 ein Sequester eingerichtet166. Dazwischen lagen die seuchenbedingte Verlegung der Universität nach Jena167 und die politisch bewegten Jahre der Packschen Händel168, der Reichstage von Speyer und Augsburg169 und des Nürnberger Religionsfriedens170. Den letzten Schritt zur finanziellen Sicherung der Universität vollbrachte daher erst Johanns Sohn Johann Friedrich171. Gleich nach der Huldigung 165
C[arl] A[ugust] H[ugo] B URKHARDT, Geschichte der sächsischen Kirchen- und Schulvisitationen von 1524 bis 1545 (1879). - DERS., Die älteste Kirchen- und Schulvisitation im östlichen Thüringen: Theologische Studien und Kritiken 67 (1894), 773– 782. - E. KNABE, Die Torgauer Visitations-Ordnung von 1529. Ursprung und Verwendung des Kirchenvermögens (1881). - Wilhelm SCHMIDT, Die Kirchen- und Schulvisitation im Herzberger Kreise vom Jahre 1529 (Schulprogramm Berlin 1899). - Nikolaus MÜLLER, Die Kirchen- und Schulvisitationen im Kreise Belzig 1530 und 1534 und Nachrichten über die Kirchen- und Schuldiener in diesem Kreise während der Reformationszeit: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 1 (1904), 58–222. - Karl P ALLAS, Die Registraturen der Kirchenvisitationen im ehemals sächsischen Kurkreise, 7 Bde. (1906–1918). - M[oriz] MITZENHEIM , Die erste Kirchen- u. Schulvisitation in Saalfeld im Jahre 1527 (1927). - [Leo] B ÖNHOFF, Die sächsische Landeskirche und die Visitationen des Jahres 1529: Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte 38 (1929), 8– 48. - Rudolf HERRMANN, Die Kirchenvisitationen im Ernestinischen Thüringen vor 1528: Beiträge zur Thüringischen Kirchengeschichte 1 (1929–1931), 167–230. - Ernst KOCH, Aktenstücke zur Visitation in Thüringen 1528/29 als Ergänzung zum Briefwechsel Melanchthons und Friedrich Myconius’: Herbergen der Christenheit 16 (1987/88), 53– 58. - TRE 22 (wie Anm. 6), 376. - Christian P ETERS, Visitation I. Kirchengeschichtlich: TRE 35 (2003), 153–156. - Heiko J ADATZ, Die evangelischen Kirchenvisitationen in Sachsen 1524-1540. In: Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit, hrsg. v. Harald Marx und Cecilie Hollberg (2004), 70–79. - DERS., Wittenberger Reformation im Leipziger Land. Evangelische Gemeinden im Spiegel der Kirchenvisitationen des 16. Jahrhunderts (2007). 166 Michael B EYER, Die Neuordnung des Kirchengutes. In: Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, hrsg. v. Helmar Junghans (1989), 91–112. 167 UUW 1 (1926), 148 f Nr. 151–155. - MBW 10 (1998), 354–361. 168 Kurt DÜLFER, Die Packschen Händel. Darstellung und Quellen (1958). - Günther 4 W ARTENBERG, Packsche Händel: RGG 6 (2003), 775. 169 Armin KOHNLE und Eike W OLGAST, Reichstage der Reformationszeit: TRE 28 (1997), 457–470, bes. 460–464. - Gottfried SEEBASS, Geschichte des Christentums III: Spätmittelalter – Reformation – Konfessionalisierung (2006), 186–188. 170 Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Bd. 10, bearbeitet von Rosemarie AULINGER (1992), 1519–1522 Nr. 557. - Rosemarie AULINGER, Nürnberger Anstand (24. Juli 1532): TRE 24 (1994), 707 f. 171 Günther W ARTENBERG, Johann Friedrich von Sachsen (1503–1554): TRE 17 (1988), 97–103. - Heiko W ULFERT, Johann Friedrich von Sachsen, gen. „der Großmütige“ (1503–1554): BBKL 3 (1992), 147–157. - Michael B EYER, Johann Friedrich der
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1532 ließ er durch seinen Rat Gregor Brück der Universität die dauerhafte Sicherung der Gehälter zusagen172. Zweieinhalb Jahre später wurden dann genaue Erhebungen über Bedarf und Einkünfte durchgeführt173, und am 5. Mai 1536 wurde von Johann Friedrich dem Großmütigen die Fundationsurkunde ausgefertigt174, die der Universität Wittenberg eine solide finanzielle Basis gab. Die Universität erhielt alle Einkünfte des ehemaligen Allerheiligenstiftes zugewiesen, die in den neu errichteten Fiscus fundationis einflossen, aus dem der Universitätsquästor die Gehälter auszahlte. Die Höhe der Gehälter war nicht wie bei der Verpfründung von den möglicherweise wechselnden Erträgen abhängig, sondern war fest garantiert. Ausgang der Fundation war nicht die Habenseite, sondern der Bedarf, und zwar wurden die Gehälter besonders in der Philosophischen Fakultät weitgehend vereinheitlicht und gegenüber 1525 noch einmal spürbar erhöht, was angesichts der Inflation175 auch nötig war. Da die Grundrenten aus dem Stiftsvermögen den Bedarf nicht deckten, wurde der Differenzbetrag aus anderen sequestrierten Kirchengütern angewiesen. Die Auszahlung übernahm nach Aufhebung des Sequesters 1543 die Landrentkammer176. Nach Wegfall der Ansprüche noch lebender Kanoniker hoffte man, diese Zuschüsse senken zu können, was aber der wachsende Bedarf und die fortschreitende Inflation unmöglich machten. Die wenigen Angestellten der Stiftskirche, die dort zur Aufrechterhaltung eines evangelischen Gottesdienstes mit täglicher Predigt und zur würdigen Erhaltung der Grabstätten der beiden kurfürstlichen Brüder Friedrich und Johann nötig waren, erhielten ihr Fixum ebenfalls aus dem Fiscus fundationis. Daneben hatte die Universität weiterhin den ihr seit der Gründung zustehenden Fiscus promotionum177, in den die Immatrikulations- und Promotionsgebühren einflossen, soweit sie nicht den Amtsträgern zustanden. Aus diesem kleinen Fiskus hatte sie die Baulasten und 4
Großmütige, Herzog von Sachsen, Kurfürst 1532–1547: RGG 4 (2001), 513. - Verlust und Gewinn. Johann Friedrich I., Kurfürst von Sachsen, hrsg. v. Joachim Bauer und Birgitt Hellmann (2003). - Uwe SCHIRMER, Johann Friedrich der Großmütige (1532– 1547/54). In: KROLL (wie Anm. 131), 70–75. - Siegfried B RÄUER, Johann Friedrich (1503–1554). In: Wittenberger Lebensläufe (wie Anm. 40), 127–162. 172 UUW 1 (1926), 152 f Nr. 169. 173 Ebd. 162–165 Nr. 183 f. 174 ISRAEL (wie Anm. 24), 104–116 Nr. 5. - UUW 1 (1926), 172–184 Nr. 193. THOMAS TÖPFER, Die Leucorea am Scheideweg. Der Übergang von Universität und Stadt Wittenberg an das albertinische Kursachsen 1547/48 (2004), 35–41. 175 Heinz SCHILLING, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648 (1988), 65–67. Wolfgang REINHARD, Reichsreform und Reformation 1495-1555. In: Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte, 10., völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 9 (2001) 193– 199. 176 UUW 1 (1926), 237 Nr. 247. 177 UUW 1 (1926), 182 in Nr. 193; S. 242–244 Nr. 258.
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andere laufende Ausgaben zu bestreiten. Schließlich behielt sich der Kurfürst vor, einzelnen hervorragenden Professoren aus seiner Kammer Zulagen zu gewähren oder überhaupt bedeutende Gelehrte zusätzlich zu berufen und zu besolden, wenn keine Stelle frei war. Die Neuordnung betrifft alle Fakultäten178. Doch am deutlichsten ist der Wandel der Zeiten an der Artistenfakultät erkennbar. Die Zahl der Lehrstühle ist mit elf gleich geblieben. Dazu kam noch Melanchthon mit seiner vielseitigen außerplanmäßigen Lehrtätigkeit. Da aber die planmäßige Ethikprofessur nicht besetzt wurde, waren es doch nur elf. 1516 wurden vier Kurse für Logik und zwei für Naturphilosophie angeboten, thomistisch und skotistisch. 1536 genügen statt dieser sechs drei, je einer für Dialektik, Rhetorik und Physik. Bald danach179 wurden Dialektik und Rhetorik zusammengefasst und die Physik doppelt besetzt. Die Sprachen wurden 1516 durch einen grammatikalischen Grundkurs und einen für lateinische Dichtung abgedeckt. Ab 1518 gab es die höchst dotierten Lehrstühle für Griechisch und für Hebräisch, die beiden für Grammatik und Dichtung blieben bestehen. Hinzu kam eine Stelle am Pädagogium, die ebenfalls der lateinischen Sprache zuzurechnen ist. Weil der Lehrstuhl für Griechisch 1525 neu besetzt wurde und Melanchthon dennoch weiterhin griechische Texte interpretierte, war diese Sprache in Wittenberg ungewöhnlich gut vertreten. Die Moralphilosophie ist geblieben, wurde aber nicht besetzt, sondern von Melanchthon mit Vorlesungen über Cicero und Aristoteles gelehrt, ebenfalls eine Verstärkung des Griechischunterrichts. Die alte Metaphysik-Vorlesung ist 1525 abgeschafft worden. Mathematik, bei der Gründung nicht vorgesehen, war seit 1514 recht und schlecht vertreten. 1536 wurden zwei Lehrstühle errichtet, die in der Folge mit den Kopernikanern Georg Joachim Rheticus180 und Erasmus Reinhold181 hervorragend besetzt werden konnten. 178
Heinz SCHEIBLE, Gründung und Ausbau der Universität Wittenberg: Forschungsbeiträge (1996), 353–369, bes. 365. 179 UUW 1 (1926), 267 in Nr. 273. 180 Karl Heinz B URMEISTER, Georg Joachim Rhetikus, 3 Bde. (1967 f). - Wilhelm KÜHLMANN und Joachim TELLE, Corpus Paracelsisticum 1: Der Frühparacelsismus 1 (2001), 57–103. - HOFHEINZ (wie Anm. 132), 314 f. - Andreas KÜHNE, Rheticus (eigtl. Iserin, auch Rhetikus, Rhaeticus de Porris, v. Lauchen), Georg Joachim: NDB 21 (2003), 496 f. - András SZABÓ, Der Copernicus-Jünger Georg Joachim Rheticus in Ungarn. In: Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance, hrsg. v. Wilhelm Kühlmann und Anton Schindling (2004), 219–225. J UNGHANS, Verzeichnis (wie Anm. 75), 254. 181 Owen G INGERICH, The Role of Erasmus Reinhold and the Prutenic Tables in the Dissemination of Copernican Theory. In: Colloquia Copernicana. II. Études sur l’audience de la théorie héliocentrique. Conférences du Symposium de l’UIHPS (1973), 43–62. - Andreas KÜHNE, Reinhold, Erasmus (d. Ä.): NDB 21 (2003), 367f. J UNGHANS, Verzeichnis (wie Anm. 75), 254.
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Der Vergleich der vor- und der nachreformatorischen vierten Fakultät demonstriert den Übergang von der mittelalterlichen Artistenfakultät mit dem Übergewicht der philosophischen Fächer zur neuzeitlichen Philosophischen Fakultät mit den beiden Schwerpunkten Klassische Philologie und Naturwissenschaften. Ein Fach, das in Melanchthons Wissenschaftstheorie einen zentralen Ort einnimmt, findet in dem Lehr- und Stellenplan der Universität Wittenberg keinen angemessenen Platz: die Geschichte182. In seiner programmatischen Antrittsrede 1518 rühmte er die Geschichte als die geisteswissenschaftliche Grundwissenschaft: ex historia omne artium genus manare. Vielleicht gerade deshalb hatte sie es so schwer, sich als Einzeldisziplin zu etablieren. Schon vor Melanchthon wurde laut Statuten von 1508 beim Essen im Studentenwohnheim aus einem Redner oder Historiker vorgelesen. In Melanchthons Lehrplan von 1545 ist Geschichte für Anfänger vorgeschrieben, jedoch nicht wie Mathematik in der Prüfungsordnung verankert. Melanchthon und seine Schüler haben über Geschichte immer wieder gelesen. Doch erst im 17. Jahrhundert konnte sie sich allmählich als eigener Lehrstuhl emanzipieren183.
Der Übergang an die Albertiner Wie die Gründung der Universität Wittenberg durch eine territoriale Veränderung – die Wettinischen Teilung von 1485 – ausgelöst war, so geschah ihre Aufhebung 1817 aus einem eben solchen Grund, der Annektion Wittenbergs durch Preußen184. Neben dem florierenden Halle185 war für Wittenberg kein Bedarf. Dieses Schicksal drohte der Leucorea schon 1547, als der Ernestiner Johann Friedrich mit der Kurwürde auch seine Universität an den Albertiner Moritz186 verlor. Dieser hatte in Leipzig eine gut arbei182
SCHEIBLE: TRE 22 (wie Anm. 6), 387 § 2.9. - DERS., Reuchlins Einfluß auf Melanchthon: Forschungsbeiträge (1996), 93-95. - DERS., Melanchthon. Eine Biographie (1997), 251–256. 183 Emil Clemens SCHERER, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten (1927, Repr.1975). 184 Heinz KATHE, Festung oder Universität. Die Standortdiskussion der Wittenberger Professoren im Jahre 1813. In: 700 Jahre Wittenberg, hrsg. v. Stefan Oehmig (1995), 249–254. 185 Ernst KÄHLER, Halle, Universität: TRE 14 (1985), 388–392. - Udo STRÄTER, 4 Halle, Universität: RGG 3 (2000), 1391–1393. 186 Günther W ARTENBERG, Moritz von Sachsen (1521–1553): TRE 23 (1994), 302– 311. - DERS., Moritz, Herzog von Sachsen, Kurfürst (seit 1547): NDB 18 (1997), 141– 143. - Heribert SMOLINSKY, Moritz v. Sachsen: LThK3 7 (1998), 477. - Johannes HERRMANN, Moritz von Sachsen, evangelischer Christ und Judas zugleich: ARG 92 (2001),
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tende Hochschule, und das Geld für eine zweite war knapp, zumal Wittenbergs Finanzquellen nun zum Teil im Ausland lagen und deshalb versiegten. Wie der preußische König Friedrich Wilhelm nach seiner Niederlage von 1806 in Berlin eine Universität gründete187, so war dem gefangenen Ernestiner nichts wichtiger, als die Wittenberger Koryphäen in Jena zu versammeln188. Dass Moritz sich zwei Universitäten leistete, ist einzig der Tatsache zu verdanken, dass Melanchthon nicht nach Jena ging, sondern für die Wiedereröffnung Wittenbergs kämpfte189. Am 7. Januar 1548 wurde auf dem Landtag zu Torgau der Finanzierungsplan ausgefertigt, die sogenannte Fundation des Herzogs Moritz190. Die grundlegende Fundation des Kurfürsten Johann Friedrich vom 5. Mai 1536 wurde bestätigt, gleichzeitig aber festgestellt, dass die dort gewährten Einkünfte derzeit nicht in voller Höhe verfügbar waren. Für sie wurde aus anderen Quellen Ersatz zugewiesen. Nach Moritzens Tod musste sein Nachfolger August191 die Fundation erneut bestätigen, was am 23. Oktober 1555 geschah192. Von den elf Lehrstühlen der Philosophischen Fakultät sind nur noch sieben übrig geblieben, dazu Melanchthon. Die Reduktion kam dadurch zustande, dass die Hebräischprofessur bei den Theologen geführt wurde193, die Physik, die 1545 nach Plinius und nach Aristoteles und Dioskurides 4
87–118. - Günther W ARTENBERG, Moritz, Herzog von Sachsen, seit 1547 Kurfürst: RGG 5 (2002), 1506 f. - Johannes HERRMANN, Moritz von Sachsen (1521-1553). Landes-, Reichs- und Friedensfürst (2003). - Manfred RUDERSDORF, Moritz 1541/47–1553. In: KROLL (wie Anm. 131), 90–109. - T ÖPFER (wie Anm. 174). - Jörg ROGGE, Die Wettiner (2005), 219–241. 4 187 KURT-VICTOR SELGE, Berlin, Universität: RGG 1 (1998), 1318–1320. 188 TÖPFER (wie Anm. 174), 135–146. 189 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon rettet die Universität Wittenberg: unten Nr. 14. TÖPFER (wie Anm. 174), 42–135. 190 ISRAEL (wie Anm. 24), 117–122 Nr. 7. - Regest: UUW 1 (1926), 299 f Nr. 301. 191 HELLMUTH RÖSSLER, August, Kurfürst von Sachsen: NDB 1 (1953), 448 f. Friedrich Wilhelm B AUTZ, August, Kurfürst von Sachsen: BBKL 1 (1990), 268. ALBERT HERZOG ZU SACHSEN, Die Wettiner in Lebensbildern (1995), 47–55. - Günther W ARTENBERG, Fürst und Reformator. Philipp Melanchthon als Berater des Kurfürsten August von Sachsen in Bildungs- und Kirchenfragen: Herbergen der Christenheit 24 (2000), 75–101. - Hans-Peter HASSE, Bildungspolitik im 16. Jahrhundert: Kurfürst August und die Universität Wittenberg. In: Wittenberg als Bildungszentrum 1502–2002, hrsg. v. Peter Freybe (2002), 127–156. - Jens B RUNING, Caspar Peucer und Kurfürst August. Grundlinien kursächsischer Reichs- und Konfessionspolitik nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555–1586). In: Caspar Peucer (1525–1602), hrsg. v. HansPeter Hasse und Günther Wartenberg (2004), 157–174. - Jens B RUNING, August 1553– 1586. In: KROLL (wie Anm. 131), 110–125. - Jörg ROGGE, Die Wettiner (2005), 219– 241. 192 ISRAEL (wie Anm. 24), 122–127 Nr. 8. - Regest: UUW 1 (1926), 308 f Nr. 306. 193 UUW 1 (1926), 308 f Nr. 306.
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gelehrt worden war194 , nur noch einfach angeboten wurde, schließlich für die lateinischen Anfänger nur noch ein Betreuer zur Verfügung stand, der für Grammatik und für das Pädagogium zuständig war. Die sieben Professoren sind im Jahr 1555 Veit Örtel195 als Gräzist, Caspar Peucer196 für Mathematik nach Euklid, Sebastian Dietrich197 für Arithmetik, Paul Eber198 für Physik, Anton Walter199 für Rhetorik, ein nicht namentlich Genannter für Poetik sowie Matthäus Plochinger200 am Pädagogium und für Grammatik. Was Melanchthon zu diesem Lehrangebot beitrug, zeigt die Aufstellung der Vorlesungen, die nach seinem Tod am 19. April 1560 auf die anderen Professoren verteilt werden mussten201. Je zweimal wöchentlich las er Dialektik, Euripides und über den Römerbrief, je eine Wochenstunde Ethik und Weltgeschichte. Am Sonntag Morgen vor dem Gemeindegottesdienst legte er, ursprünglich für Studenten, die nicht Deutsch verstanden, biblische Texte, in der Regel das Tagesevangelium, aus. Zusätzlich wird im August 1559 die Wiederaufnahme einer Vorlesung über den Brief des Paulus an Timotheus erwähnt202, am 26. März 1560 der Beginn einer Katechese über seine Loci theologici203. Am 12. April 1560 hielt er seine letzte Vorlesung; sie handelte über Jesaia 53, den leidenden Gottesknecht204. Melanchthons Entscheidung für seine bisherige Wirkungsstätte Wittenberg und gegen die Neugründung in Jena hatte nicht nur die finanzielle Sicherung dieser Institution zur Folge, sondern erwies sich auch pädagogisch als ein voller Erfolg. In den letzten zwölf Jahren der Wirksamkeit Melanchthons war die Frequenz der Universität Wittenberg205 deutlich höher als zu Luthers Lebzeiten. Die Immatrikulationen stiegen von 1199 in dem Jahrfünft von 1533 bis 1537 kontinuierlich auf 3271 von 1558 bis 194
Ebd. 267 in Nr. 273. MÜLLER, Melanchthons letzte Lebenstage (wie Anm. 132), 113–117. - HOFHEINZ (wie Anm. 132), 311 f. - J UNGHANS, Verzeichnis (wie Anm. 75), 251. 196 Heinz SCHEIBLE, Peucer (Beucker), Caspar: NDB 20 (2001), 278 f. - Claudia BROSSEDER, Im Bann der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen (2004). - Caspar Peucer (1525–1602), hrsg. v. Hans-Peter Hasse und Günther Wartenberg ( 2004). - J UNGHANS, Verzeichnis (wie Anm. 75), 252. 197 MBW 11 (2003), 350. 198 Ebd. 377–379. 199 J UNGHANS, Verzeichnis (wie Anm. 75), 258. 200 Ebd. 252 f. 201 Karl HARTFELDER, Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae (1889, Repr. 1972), 565 aus CR 10 (1842), 207. - UUW 1 (1926), 311 Nr. 309; S. 320–322 Nr. 311. 202 CR 9 (1842), 904 Nr. 6806. 203 Ebd. 1073 f Nr. 6955. 204 HARTFELDER (wie Anm. 201), 565. 205 Andreas GÖSSNER, Die Studenten an der Universität Wittenberg. Studien zur Kulturgeschichte des studentischen Alltags und zum Stipendienwesen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (2003), 23–28. 195
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1562, das ist fast das Dreifache. Der Anstieg setzte sich nach Melanchthons Tod fort: Von 1568 bis 1572 wurden 3540 erreicht. Im nächsten Lustrum sank diese Zahl drastisch um 29% auf 2526 und blieb dann etwa in dieser Höhe. Was war geschehen? Es ist bekannt, wie sehr der zwischen Luther und Zwingli ausgebrochene Streit über das rechte Verständnis des Abendmahls die Entfaltung der reformatorischen Bewegung behindert hat. Der Straßburger Martin Bucer206 und Melanchthon haben 1536 einen Kompromiss formuliert, dem auch Luther zustimmte, die Wittenberger Konkordie207. Doch in den 1550er Jahren brach der Streit erneut aus, nun von konservativen Lutheranern gegen Calvin und andere. Sogar Melanchthon wurde unterstellt, mit Calvins Lehre zu sympathisieren208. Mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 bekam die theologische Frage eine politische Dimension: In den Reichsfrieden waren nur die Anhänger des Augsburgischen Bekenntnisses aufgenommen209. Die Calvinisten bekamen dieses Privileg erst nach 30 Jahren Bürgerkrieg im Westfälischen Frieden 1648210. Deshalb musste jede lutherische Regierung darauf bedacht sein, nicht in den Verdacht des Calvinismus zu geraten. Kurfürst August von Sachsen vertraute seinen Räten und Professoren, bis eine Publikation des Jahres 1574 ihn schockartig davon überzeugte, von heimlichen Calvinisten, Kryptocalvinisten, hintergangen worden zu sein211. Der Kanzler Georg Cracow212, ein Schüler Melanchthons, wurde zu Tode gefoltert. Caspar Peucer, Melanchthons Schwiegersohn, der einflussreichste Wittenberger Professor nach 1560 und als Leibarzt enger Berater des Kurfürsten, wurde zwölf Jahre lang eingekerkert. Die anderen des Kryptocalvinismus verdächtigten Professoren wurden teils entlassen, teils gingen sie von selbst. Einige der alten Kollegen und Freunde Melanchthons waren kurz davor 206
MBW 11 (2003), 228–230. MBW.T 7 (2006), 131–148 Nr. 1744. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthon und Bucer (1993): Forschungsbeiträge (1996), 245–269. 208 Theodor MAHLMANN, Melanchthon als Vorläufer des Wittenberger Kryptocalvinismus. In:, Melanchthon und der Calvinismus, hrsg. v. Günter Frank und Herman J. Selderhuis (2005), 173–230. - SEEBASS, Geschichte (wie Anm. 169), 252. 209 SEEBASS, Geschichte (wie Anm. 169), 200–204. - Eike W OLGAST, Religionsfrieden als politisches Problem der frühen Neuzeit: Historische Zeitschrift 282 (2006), 59–96, bes. 70–75. 4 210 Thomas KAUFMANN, Westfälischer Friede: RGG 8 (2005), 1494–1497. 211 Ernst KOCH, Ausbau, Gefährdung und Festigung der lutherischen Landeskirche von 1553 bis 1601. In: Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, hrsg. v. Helmar Junghans (1989), 195–221, bes. 203 f. - Helmar J UNGHANS, Kryptocalvinisten: TRE 20 (1990), 123–129. - Hans-Peter HASSE, Zensur theologischer Bücher in Kursachsen im konfessionellen Zeitalter. Studien zur kursächsischen Literatur- und Religionspolitik in den Jahren 1569 bis 1575 (2000), 137–182, 408–429. 212 MBW 11 (2003), 308 f. 207
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verstorben. Das nächste Verzeichnis der Wittenberger Artistenfakultät213 enthält lauter neue, zumeist unbekannte Namen. Die Zahl der Immatrikulationen, die 1569 einen Höchststand erreicht hatte, sank bis 1576 auf die Hälfte214. Die Zeit des Humanismus und der Reformation war vorüber; es begann die Zeit der Orthodoxie. Die Wittenberger Philosophische Fakultät hat nie mehr die Bedeutung erlangt, die sie in dem halben Jahrhundert hatte, das von Melanchthon und seinen Schülern geprägt war. Dass man dieser Universität noch nach 500 Jahren gedenkt, wird der klugen Kulturpolitik ihres Gründers Friedrichs des Weisen verdankt, mehr noch dem genialen Theologen Luther und dem effektiven Pädagogen Melanchthon.
213 214
UUW 1 (1926), 408 f in Nr. 376. GÖSSNER (wie Anm. 205), 25.
Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform Zum Quellenwert von Lutherbriefen Auf die Heidelberger Disputation zurückblickend bezeichnet Luther als deren Zweck, er habe zeigen wollen, dass die Scholastiker Aristoteles nicht richtig verstanden hätten und dass auch der richtig verstandene Aristoteles keine Hilfe biete, weder für die Theologie noch für die Naturphilosophie1. Die Heidelberger Thesen von 1518 gehen in ihrer Ablehnung des Aristoteles damit noch einen Schritt weiter als die Disputation gegen die scholastische Theologie vom 4. September 1517, wo Luther gemäß der Zielsetzung dieser Disputation in den Thesen 43(41)-55(53) nur die Schädlichkeit des Aristoteles für die Theologie behauptet hatte, allerdings auch mit Andeutungen von dessen philosophischer Unzulänglichkeit (These 53) und seiner fehlerhaften Rezeption durch die lateinischen Übersetzungen (These 51)2. Es wird aber nicht die völlige Abschaffung der Werke des Aristoteles gefordert, sondern stillschweigend werden die logischen Schriften ausgenommen. Dies entspricht Luthers Vorstellung einer Universitätsreform, wie er sie 1520 in der Adelsschrift publiziert hat: Die unter dem Papsttum errichteten Universitäten werden vom „blinden heidnischen Meister Aristoteles“ bestimmt; der „tote Heide“ hat die Bücher des lebendigen Gottes verdrängt. Luther möchte gerade seine besten Bücher – die Physik, Metaphysik, Psychologie und Ethik – abschaffen. Er nennt dafür inhaltliche Gründe, fundamentale Differenzen zur christlichen Lehre: In »De anima«, „seinem besten Buch“, lehre Aristoteles, „dass die Seele 1
Martin Luther Studienausgabe 1 (1979), 218.1-6 (Edition von Helmar J UNGHANS) = WA 9, 170.1-7 . - Die Erstfassung dieses Beitrags wurde in einem Seminar des Lutherkongresses in Erfurt 1983 vorgetragen, vgl. Karl-Heinz ZUR MÜHLEN: Luther und Aristoteles [Seminarbericht]: Lutherjahrbuch 52 (1985), 263-266, bes. 266. Die Drucklegung unterblieb, weil sich immer andere Aufgaben dazwischenschoben, wobei auch Ergebnisse dieser Untersuchung da und dort verwendet wurden. Da die Stellenbesetzung an der Universität Wittenberg in dieser Erstfassung am ausführlichsten untersucht wird, ist sie als Jubiläumsgabe für Helmar Junghans bestens geeignet, dessen Forschungsarbeit sowohl Luthers Theologie als auch die Geschichte Wittenbergs und seiner Universität beleuchtet hat. 2 Martin Luther Studienausgabe 1 (1979), 169.1-21 (Edition von J UNGHANS) = WA 1, 226.20-31 (Disputatio contra scholasticam theologiam).
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sterblich sei mit dem Körper“. Die Nikomachische Ethik ist „stracks der Gnaden Gottes und christlichen Tugenden entgegen“. Die nur der formalen Schulung dienenden Bücher über Logik, Rhetorik, Poetik sollen beibehalten oder durch kurze Zusammenfassungen ersetzt werden; ihre scholastischen Kommentare werden abgelehnt. Ferner werden die drei klassischen Sprachen, Mathematik und Geschichte gefordert3. Dies ist ein klares Programm. Doch es ist ein Programm. Man darf sich nicht zu der Annahme verleiten lassen, es sei in Wittenberg schon verwirklicht gewesen, als Luther im Sommer 1520 diese Sätze schrieb. In seiner ganzen Radikalität ist es selbst da niemals verwirklicht worden. Die aristotelische Physik wurde in Wittenberg immer gelesen, und bald kam auch die Ethik wieder zu Ehren, allerdings mit einer reformatorischen Kommentierung durch Philipp Melanchthon. In den Geschichtsdarstellungen werden freilich Luthers Wünsche und Pläne nicht selten als Wirklichkeit dargeboten. Beispielsweise schreibt ein namhafter Lutherbiograph im Kontext der Jahre 1516 bis 1518: „Die Stunde der Reformation war noch nicht gekommen. Aber der Reformation ging eine Reform der Universität Wittenberg voran.“ Wie wird nun diese Reform umschrieben? „Die Scholastik wich einer Theologia Paulina, Aristoteles musste seine Herrschaft an Augustin abgeben.“ Weiter unten ist dann noch von seiner, nämlich Luthers, Universitätsreform die Rede4. So einprägsam, geradezu kompendienreif formulierte Sätze sollten den Sachverhalt zutreffend umschreiben. „Stunde der Reformation“ kann nur den 31. Oktober 1517 meinen. Die Wittenberger Universitätsreform, insbesondere die Entmachtung des Aristoteles, wäre demnach vorher durchgeführt worden. Die folgende Untersuchung wird zeigen, dass bis mindestens 1521 der Aristotelismus sowohl scholastischer als auch humanistischer Prägung den Lehrbetrieb bestimmte, 1522 der Zusammenbruch des alten Systems erfolgte und 1523 die neue, reformatorische Universität durch Melanchthon aufgebaut wurde. Inhaltlich ist die oben zitierte Definition der Wittenberger Universitätsreform ebenfalls unzutreffend. Was soll „Theologia Paulina“ bedeuten? Der Paulinismus Melanchthons kann nicht gemeint sein, dessen Loci zwar erstmals 1520 gelesen wurden, aber nicht Gegenstand der Universitätsreform waren. Die Scholastik – das waren die Sentenzen des Petrus Lombardus mit ihren Kommentaren. Sie wichen nicht irgendeiner Theologie, 3
Martin Luther Studienausgabe 2 (1982), 154.10–155.16 (Edition von Karlheinz B LASCHKE) = WA 6, 457.31–458.37 (An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, 1520). 4 Walther VON LOEWENICH, Martin Luther: der Mann und das Werk (1982), 100. Vorsichtiger formulieren Martin B RECHT, Martin Luther, 1 (1983), 264–271, und Reinhard SCHWARZ, Luther (1986), 36 f und 54 f.
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sondern den biblischen Büchern. Dies ist bekannt. Man darf aber nicht übersehen, dass schon bei der Gründung der Universität über die Bibel nicht nur von theologischen Bakkalaren wie in jeder mittelalterlichen Universität, sondern von einem Ordinarius – Staupitz5 (soweit er anwesend war) und dann Luther – gelesen wurde. Schon in den Statuten des Jahres 1508 wird von den Theologen beiläufig und also selbstverständlich gesagt: quorum interest divinam legem nobis interpretari et docere6. Drückt diese Formulierung auch ein vorreformatorisches Schriftverständnis aus, so ist doch die Auslegung der Schrift als Hauptanliegen der Theologischen Fakultät schon bei der Gründung der Universität vorgegeben. Aristoteles beherrschte den Unterricht in der Artistenfakultät. Hier war Augustin überhaupt nicht gefragt. Aber auch an der Theologischen Fakultät war er niemals in dem Maße Autorität wie Aristoteles bei den Artisten, sondern Luther fand in Augustin seine biblische Theologie bestätigt. Später wurde quasi ehrenhalber eine gelegentliche Vorlesung über »De spiritu et litera« in der reformatorischen Satzung von 1533 verankert7. Obligatorischer Lehrgegenstand war aber die Bibel. An der Philosophischen Fakultät musste Aristoteles seine Herrschaft mit Quintilian, Plinius d. Ä. und Cicero teilen. Vor allem aber wurde er durch einen dem Wissensstand der Zeit gemäßen, also humanistischen Aristotelismus ersetzt; entsprechend hatten auch die Scholastiker zu ihrer Zeit gehandelt. Reformiert wurde vor allem der scholastische Aristotelismus, zunächst durch Rückgriff auf den genuinen Aristoteles, bei dem man aber nicht stehenbleiben konnte, sondern den man durch zeitgemäße Kommentierung und systematische Darbietung seiner Lehrinhalte den Studenten zugänglich machen musste. Dies war Melanchthons Lebenswerk. Soviel als thetischen Ausblick auf das Folgende. Luthers eigene Äußerungen haben viel dazu beigetragen, bei Zeitgenossen und Historikern eine Vorstellung von der Wittenberger Studienreform entstehen zu lassen, die zeitlich und sachlich weit über das hinausgeht, was tatsächlich geändert wurde. Naturgemäß wird in den Quellen, insbesondere in brieflichen Berichten an Gleichgesinnte, das Neue, Ungewöhnliche hervorgehoben, wogegen das Alte, Selbstverständliche unerwähnt bleibt. Wenn dann auch noch Luthers Worte nicht exakt wiedergegeben, sondern Hoffnungen als Tatsachen genommen werden8, entsteht ein falsches Bild. 5
Über ihn neuerdings Adolar ZUMKELLER, Johannes von Staupitz und seine christliche Heilslehre (1994). - Manfred SCHULZE: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde 3 (1994), 1902. - Markus W RIEDT, Johannes von Staupitz als Gründungsmitglied der Wittenberger Universität. In: 700 Jahre Wittenberg. Stadt, Universität, Reformation, hrsg. v. Stefan Oehmig (1995), 173–186. 6 UUW 1 (1926), 36. 7 UUW 1 (1926), 155 (§ 3). 8 Kurt ALAND, Kirchengeschichtliche Entwürfe (1960), 305.
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Luther war gewiss die stärkste treibende Kraft in der Ablehnung der Scholastik und des Aristotelismus. Die Universitätsreform konnte er jedoch nicht allein vollbringen9. Was dabei herauskam, ist weniger und anderes, als in Luthers Briefen steht. Schon am 8. Februar 1517 – also vor der „Stunde der Reformation“ – schickte Luther an seinen Erfurter Lehrer und ehemaligen Wittenberger Kollegen Jodocus Trutfetter eine Liste von Fragen adversus logicam et philosophiam et theologiam, d. h. Angriffe gegen Aristoteles, Porphyrius (der im Lehrprogramm der Maior logica enthalten war) und die Sentenzenkommentare. Er nennt sie perdita ... studia nostri saeculi. Aristoteles wird als calumniosissimus calumniator geschmäht10. Luthers Kritik und Reformbestrebungen beschränkten sich also nicht auf die Theologie, sondern galten auch der Logik und Philosophie, dem Lehrangebot der Artistenfakultät. Luther arbeitete damals an einem Kommentar zur Physik des Aristoteles11. Ein Vierteljahr später meldet er dann seinem Erfurter Freund Johannes Lang: „Unsere Theologie und der heilige Augustinus kommen gedeihlich voran und herrschen durch Gottes Wirken an unserer Universität. Aristoteles ist in allmählichem Niedergang begriffen und steht kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch. Die Vorlesungen über die Sentenzen werden in erstaunlichem Maße verachtet, und keiner kann auf Hörer hoffen, wenn er nicht diese Theologie, nämlich die Bibel oder den heiligen Augustinus oder einen anderen Kirchenvater, vorträgt“12. Dies scheint sich hauptsächlich auf die Theologische Fakultät zu beziehen. Aber Luther spricht ausdrücklich von der Universität, und der Nieder-
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Gegen VON LOEWENICH (wie Anm. 4), 100: „seine“ Universitätsreform. Luthers Brief an Trutfetter ist nicht erhalten, wird aber von Luther im Begleitschreiben an Johannes Lang referiert: WAB 1, 88 f (Nr. 34), hier 88.5-8.12 f. - ALAND (wie Anm. 8), 304. - Über Lang vgl. GermSacra 1/3/2 (1941), 482 f. - Reinhold J AUERNIG: RGG3 4 (1960), 225. - Erich W IEMANN, Johann Lang. Luthers Klosterbruder und Vorkämpfer der Reformation in Erfurt. In: Ach, Herr Gott, wie reich tröstest Du: Luthers Freunde und Schüler in Thüringen (1962), 9–24. - Adalbero KUNZELMANN, Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten, Bd. 5: Die sächsische Provinz und die sächsische Reformkongregation bis zum Untergang der beiden (1974), 95 f. - Erich KLEINEIDAM : ContEras 2 (1986), 287–289. - Stefan RHEIN: LitLex 7 (1990), 134 f. 11 Luther an Lang (wie Anm. 10): WAB 1, 88.19 f. 12 WAB 1, 99.8-13 Nr. 41 (18. Mai 1517): Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante. Aristoteles descendit paulatim inclinatus ad ruinam prope futuram sempiternam. Mire fastidiuntur lectiones sententiariae, nec est, ut quis sibi auditores sperare possit, nisi theologiam hanc, id est bibliam aut S. Augustinum aliumve ecclesiasticae autoritatis doctorem velit profiteri. - Vgl. ALAND (wie Anm. 8), 305. - Walter FRIEDENSBURG, Geschichte der Universität Wittenberg (1917), 101. 10
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gang des Aristotelismus musste sich vor allem in der Artistenfakultät auswirken. Doch zunächst ist jene zu betrachten.
Die Theologische Fakultät Der Ordinarius Luther hatte ab 1516 als Kollegen zwei Stiftsherren, den Archidiaconus Andreas Bodenstein aus Karlstadt13 und den Custos Petrus Lupinus14, sowie seinen etwa 25 Jahre älteren Klosterbruder Johannes Herrgott, der 1516/17 Dekan war15, aber dann unseren Blicken entschwindet. Über das Lehrangebot der Kollegen Luthers wissen wir leider zu wenig. Dass Luther biblische Exegese las, war keine Reformmaßnahme, sondern entsprach seinem Lehrauftrag. Im Sommer 1516 gab es daneben nur zwei ordentliche Vorlesungen an der Theologischen Fakultät16. Lupinus hielt die thomistische Vorlesung, die der 1513 verstorbene Martin Pollich aus Mellrichstadt (genannt Dr. Mellerstadt) versehen hatte. Ob über ein Werk des Aquinaten oder eines seiner Ausleger gelesen wurde, muss offenbleiben. Für den in Rom abwesenden Karlstadt las Nikolaus von Amsdorf17, ordentlicher Professor für skotistische Logik an der Artistenfakultät, vertretungsweise über Gabriel Biel. Ein Jahr später las Lupinus über Ambrosius, Karlstadt über Augustinus, der alte Wanderhumanist Johannes Rhagius Aesticampianus18 über Hieronymus, Luther über den Hebräerbrief19. Daneben gab es noch die Pflichtvorlesungen der theologischen Bakkalare, die die Grade des Sententiarius, Formatus, schließlich des Licentiaten und Doktors erwerben wollten. Sie mussten nach den Statuten von 1508 die vier Bücher des Petrus Lombardus lesen, pro Stunde nicht mehr als eine distinctio20. Nun schreibt zwar Luther in dem oben zitierten Brief vom 13
GermSacra 1/3/2 (1941), 126-128. - Ulrich B UBENHEIMER: TRE 17 (1988), 649– 657. - Martin BRECHT: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde 2 (1993), 1042. Nach den jüngsten Ermittlungen von Bubenheimer (aaO), denen sich Brecht anschloß, war Karlstadt nicht deutlich älter als Luther, wie man bisher annahm – so noch Heinz HOLECZEK in: LitLex 6 (1990), 240–242 –, sondern drei Jahre jünger, was deren Verhältnis, psychologisch gesehen, in einem neuen Licht erscheinen läßt. Vgl. jetzt auch MBW 12 (2005), 399 f. 14 GermSacra 1/3/2 (1941), 123. 15 GermSacra 1/3/2 (1941), 467 f. - Kunzelmann (wie Anm. 10), 498. 16 UUW 1 (1926), 77. 17 MBW 11 (2003), 67 f. 18 MBW 11 (2003), 39. 19 Karl B AUER, Die Wittenberger Universitätstheologie und die Anfänge der Deutschen Reformation (1928), 44 f. 20 UUW 1 (1926), 34.
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18. Mai 1517, dass die Sentenzen-Vorlesungen verachtet seien und die Zuhörer wegblieben. Doch aus dieser einen Stelle zu folgern: „Die Vorlesungen des alten Stils fanden keine Zuhörer mehr, die Sentenzen wurden vor ständig sich leerenden Bänken gelesen“21, ist ein einseitiger Umgang mit den Quellen, zumal sich ein solcher Eindruck numerisch nicht auswerten lässt. Denn aus dem Dekansbuch der theologischen Fakultät ist ersichtlich, dass die traditionellen Promotionen noch weitere fünf Jahre vollzogen wurden22. Daran änderte auch nichts, dass Luther am 8. Mai 1519 an Georg Spalatin schrieb: „Im übrigen beraten wir jetzt über die theologischen Pflichtvorlesungen, sehen aber noch keine andere Lösung, als dass er [der betreffende Baccalaureus theologiae] wie bisher nur den Text der Sentenzen durchmache. Denn wir haben kein Zutrauen dazu, dass jeder Kandidat der Theologie auf Anhieb die Bibel oder einen Kirchenvater auslegen könne. Mit der Zeit jedoch wird dies nicht mehr abwegig scheinen, wenn erst die Theologie verwurzelt ist und viel mehr Bücher vorhanden sind und dann die Sache erfolgreicher vorangebracht werden kann“23. Der sprachlich schwierige Abschnitt bezieht sich m. E. nicht auf Melanchthon24, der zwar im vorangehenden Satz erwähnt wird, jedoch in anderem Zusammenhang, für den aber die Frage theologischer Vorlesungen erst vier Monate später aktuell wurde25. Als Subjekt ist „jeder Kandidat“ zu ergänzen. Deutlich ist, worum es geht: Luther und seine Gesinnungsgenossen würden zur Erlangung der theologischen Grade anstelle der Sentenzen lieber über die Bibel oder einen Kirchenvater lesen lassen, trauen dies den Kandidaten aber nicht zu, und so sehen sie keinen anderen Ausweg, als wie bisher die Sentenzen des Lombarden ohne Kommentierung anbieten zu lassen. Auch ein so genuiner Lutherschüler wie Franz Günther unterzog sich diesem Kurs26. Er hatte am 4. September 1517 mit der überdimensionalen Disputation gegen die scholastische Theologie den 21
FRIEDENSBURG (wie Anm. 12), 101. Liber Decanorum, 20–28. 23 WAB 1, 381.11–17 Nr. 171: Caeterum de lectionibus Theologicis habendis iam tractamus, necdum aliud vidimus, quam quod Sententiarum solos textus, ut hucusque, compleat, Quod non confidimus tantum posse quenquam statim Candidatum Theologiae, ut vel Bibliam vel Ecclesiasticum patrem enarret. Tamen successu temporum non videbitur hoc absurdum fieri, ubi radicata Theologia et libris multiplicatis res poterit felicius promoveri. 24 So Otto CLEMEN in WAB 1, 382 Anm. 6. 25 Melanchthon wurde erst am 19. September 1519 Baccalaureus biblicus, nachdem er am 9. disputiert hatte: Liber Decanorum, 23. - die Bakkalaureatsthesen: MSA 1, (23) 2425. Danach musste er erst einmal biblische Texte behandeln. Den Grad des Sententiarius hat er wegen der damit verbundenen Verpflichtungen nie erworben. 26 Nikolaus MÜLLER, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522 (1911), 376–381 = ARG 8 (1910/11), 5–10. - Martin Luther Studienausgabe 1 (1979), 165 Anm. 1. 22
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Grad des Baccalaureus biblicus erlangt. Im Sommersemester 1518 wurde er Sententiarius, ein Jahr später Formatus. Dann war er Prädikant in Jüterbog und Pfarrer in Lochau. Im Sommersemester 1521 wurde er Licentiat der Theologie. Andere Anhänger Luthers jedoch begnügten sich mit dem Baccalaureus biblicus, so Melanchthon und Johann Agricola27. Die traditionellen theologischen Grade wurden ohne Einschränkung bis zum 3. Februar 1523 verliehen. An diesem Tag erklärte der Dekan Karlstadt, er werde hinfort keine Promotionen mehr vornehmen. Luther war darüber wütend28. Die beiden damaligen Doktoranden waren seit dem Sommersemester 1521 in Wittenberg Baccalaureus biblicus, Baccalaureus formatus und Licentiat geworden29. Unter dem Dekan Justus Jonas30 wurden in den Jahren 1523 bis 1525 dann noch fünf auswärtige Theologen von Rang zum Doktor promoviert, aber keine Bakkalare der Theologie mehr. Der Dekan Jonas vermerkte ausdrücklich, dass die Gesetze der Fakultät dabei beachtet wurden31. Die Promovenden hatten also ihre Sentenzenkurse früher oder anderswo gelesen. Erst 1525 setzt eine achtjährige Pause ein. Ab 1533 wurden dann aufgrund der neuen Statuten wieder Promotionen vollzogen. Statt der Sentenzen musste über Psalmen und Propheten gelesen werden32.
Der Stellenplan der Artistenfakultät Luthers Interesse an einer Reform der Universität Wittenberg beschränkte sich nicht auf die Theologische Fakultät, an der ja nur ein ganz kleiner Teil der Studenten ordentlich studierte, sondern galt ebenso der Philosophischen, der sogenannten Artistenfakultät. In deren Lehrangebot war der Aristotelismus verankert, den Luther so leidenschaftlich bekämpfte. In Heidelberg erzählte er davon in einer Weise, die bei Martin Bucer den Eindruck erweckte, als sei die Schlacht schon gewonnen. In seinem bekannten Brief an Beatus Rhenanus vom 1. Mai 1518 über die Heidelberger Disputation schreibt Bucer über die Wittenberger Universitätsreform: „Er [Luther] hat erreicht, dass in Wittenberg jene trivialen Autoren alle bis auf den letzten abgeschafft wurden und Griechisch, Hieronymus,
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MBW 11 (2003), 41. Liber Decanorum, 28 mit Anm. 1. 29 Ebd. 26–28. 30 MBW 12 (2005), 367 f. 31 Liber Decanorum, 28. 32 UUW 1 (1926), 156. 28
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Augustin, Paulus öffentlich gelehrt werden“33. Ein glänzender Beleg für die eingangs zitierte Meinung, wenn er der Wirklichkeit entspräche! Ähnlich, doch etwas vorsichtiger, schrieb Luther selbst am 21. März 1518 an Lang: „Im übrigen wuchs in unserer Universität die Hoffnung, so dass wir erwarten, es werde in nächster Zukunft geschehen, dass wir Vorlesungen über beide [Latein und Griechisch], ja sogar die drei Sprachen [Latein, Griechisch und Hebräisch], über Plinius, Mathematik, Quintilian und einige andere vortreffliche haben werden, nachdem die törichten Vorlesungen über Petrus Hispanus, Tartaret und Aristoteles abgeschafft worden sind. Und dies hat die Billigung des Fürsten gefunden und wird nun schon im Senat [der Universität] beraten“34. Man muss diesen Satz genau lesen, um ihn nicht dahingehend misszuverstehen – wie es etwa Bucer mit ähnlichen Worten Luthers passierte –, als sei dies alles schon geschehen. Am 21. März 1518 wartete Luther täglich auf die Bewilligung der neuen Lehrstühle für Latein, Griechisch, Hebräisch, Plinius, Mathematik, Quintilian u. a. und auf die Abschaffung der scholastischen Lehrstühle für Logik, für deren Grundkurs Petrus Hispanus35 und sein skotistischer Interpret Petrus Tartaretus36 stehen. Die Bewilligung der neuen Lehrstühle erfolgte tatsächlich im Frühsommer 1518. Von einer Abschaffung der skotistischen Logik war in dem Antrag der Universität, den Luther so begeistert begrüßte, aber nicht die Rede. Das Studium des Aristoteles sollte sogar verstärkt werden, was auch geschah. Luther hat in seinen euphorischen Berichten über die Wittenberger Universitätsreform nach Erfurt und in Heidelberg einen falschen Eindruck vermittelt und damit auch die Geschichtsschreibung irregeleitet. Dies ist im Einzelnen zu belegen. Die der Artistenfakultät vom Kurfürsten im Jahre 1508 verliehenen Statuten sehen in § 10 vor37, dass die logischen Schriften des Aristoteles, seine naturwissenschaftlichen Bücher (die Physik, De anima und die Parva naturalia) und die Summulae logicales des Petrus Hispanus gleichzeitig in dreifacher Weise vorgetragen 33
Correspondance de Martin Bucer, Bd. 1, hrsg. v. Jean ROTT (1979), 58–72 Nr. 3, bes. 61.57–59 : Is effecit, ut Wittenburgae triviales isti auctores sint ad unum explosi omnes, graecanicae literae, Hieronymus, Augustinus, Paulus publice doceantur. - Über Bucer: MBW 11 (2003), 228 f. 34 WAB 1, 155.41–46 Nr. 64: Caeterum studium nostrum ea profecit spe, ut futurum esse propediem expectemus, nos habere lectiones utriusque, imo triplicis linguae, Plinii, mathematicarum, Quintiliani, et nonnullas alias optimas, reiectis ineptis illis Petri Hispani, Tartareti, Aristotelis lectionibus. Atque ea res et placet Principi et iam in concilium recepta tractatur. 35 Als Papst Johannes XXI. 1277 gestorben, vgl. zuletzt Michael HANST in: BBKL 3 (1992), 224–228. 36 James K. FARGE: ContEras 3 1987), 310 f. 37 UUW 1 (1926), 56.
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werden sollen, in thomistischer und skotistischer sowie – nicht etwa in ockhamistischer Weise, sondern gemäß der Schule des Augustiners Gregor von Rimini38: Indifferenter profiteatur via Thomae, Scoti, Gregorii. Die Nennung des letzteren wurde für so unglaublich gehalten, dass schon in einer alten Abschrift Occam über Gregorii geschrieben wurde und neuere Editoren und Forscher die Konjektur Guilelmi für erforderlich hielten39. Die beiden einzigen Abschriften bieten aber eindeutig Gregorii. Abwegig ist die Annahme, Luther habe 1508/09 die Ethik in diesem dritten Weg gelesen, und zwar ockhamistisch40. Die Ethik war nur einfach besetzt; also wurde der Text des Aristoteles in lateinischer Übersetzung vorgetragen. Doch die Frage, ob Occam oder Gregor, ist obsolet, denn es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser dritte Weg an der Wittenberger Artistenfakultät jemals vertreten war. Die in den Statuten ausgesprochene Absicht war wohl nur ein Zugeständnis an den Augustinereremitenorden, der in Wittenberg unentgeltlich zwei Professoren stellte und zahlreiche Mönche als Studenten in die Stadt zog. Drei Parallelkurse waren selbst für eine blühende Universität zu viel. Möglicherweise haben die Augustiner in ihrem Generalstudium – über das man wenig weiß41 – Gregor von Rimini und seine Schüler gelesen. An der Universität gab es mit Sicherheit dafür keine ordentliche Professur. Luther las 1508/09 bei den Artisten Ethik und ab 1512 an der Theologischen Fakultät biblische Exegese. Jodocus Trutfetter, der von Dezember 1506 bis Mai 1510 in Wittenberg wirkte, lehrte als Archidiaconus des Allerheiligenstifts an der Theologischen Fakultät42. Zwar rühmt ihn Christoph Scheurl vier Jahre danach, viam modernam instituens sine intermissione legebat, aber offensichtlich blieb er damit allein und bekam in dieser Schulrichtung keinen Nachfolger. Skotistische und thomistische Logik und Naturphilosophie wurden jedoch durchweg 38
Damasus TRAPP: TRE 14 (1985), 181–184. - Christoph B URGER: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde 2 (1993), 816 f. 39 UUW 1 (1926), 53 und 56 mit 57 f Anm. d und t. Ausführlich erörtert und zurückgewiesen von Manfred SCHULZE: ,Via Gregorii‘ in Forschung und Quellen. In: Gregor von Rimini: Werk und Wirkung bis zur Reformation, hrsg. v. Heiko A. Oberman (1981), 1–126, bes. 1–3. Vgl. auch Markus W RIEDT, Via Guilelmi – Via Gregorii: Zur Frage einer Augustinerschule im Gefolge Gregors von Rimini unter besonderer Berücksichtigung von Johann von Staupitz. In: Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otmar Freiherr von Aretin zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Ralph Melville u. a., 1. Halbbd. (1988), 111–131. 40 Leif GRANE, Modus loquendi theologicus: Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518) (1975), 136 f. Grane bevorzugt die Konjektur Guilelmi. 41 GermSacra 1/3/2 (1941), 446. - KUNZELMANN (wie Anm. 10) , 497, 500. 42 UUW 1 (1926), 15. 38 (irreführend: 16 Anm. 5). - GermSacra 1/3/2 (1941), 121. Über Trutfetter vgl. Erich KLEINEIDAM , Universitas Studii Erffordensis, Bd. 2 (21992), passim; die Lebensdaten ebd. 290–292. Hier auch der Nachweis des Scheurl-Zitats.
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parallel gelesen; die Lehrstühle waren nachweislich besetzt43. Bemerkenswert ist, dass die Statuten zwar die chronologische Reihenfolge Thomas, Scotus, Gregor gebrauchen, in den zahlreichen Listen über die Stellen der Universität aber immer der skotistische Lehrstuhl zuerst genannt wird. Dass man bei dem – allerdings erfolglosen – Reformvorschlag des 23. Februar 1519, der noch erörtert werden wird44, von den doppelten Kursen auf den thomistischen meinte verzichten zu können, beweist ebenfalls, dass die skotistische Philosophie für wichtiger gehalten wurde. Wittenberg war eine Universität der via antiqua skotistischer Richtung, d. h. mit einer Offenheit zur via moderna hin. Dies ist eine ganz allgemeine, plakative Charakteristik, die nicht auf Einzelforschung beruht. Außer diesen dreimal drei, in Wirklichkeit zweimal drei Lehrstühlen gab es noch je einen für Ethik und Metaphysik, ebenfalls bezogen auf die entsprechenden Schriften des Aristoteles, die in mittelalterlichen Übersetzungen vorgetragen wurden. Ferner gab es Lehrstühle für Mathematik, Grammatik und für humanae litterae, die Lektüre römischer Klassiker. Im Jahre 1516 waren diese elf Lehrstühle folgendermaßen besetzt45: Die Logica Aristotelis – das ist die Logica vetus (Kategorien, Peri hermeneias und die Eisagoge des Porphyrios in der Übersetzung des Boethius) sowie die Logica nova (der Rest des Organon, nämlich die Analytiken, die Topik und die Sophistischen Widerlegungen) – secundum viam Scoti las der Licentiat Nikolaus von Amsdorf. Er war Stiftsherr am Allerheiligenstift und besaß zusätzlich die Pfründe der Friedhofskapelle46. Gleichzeitig las Magister Simon Heins47 (der Bruder des Gregor Brück und nachmalige Wittenberger Stadtpfarrer) dasselbe secundum viam Thomae. Die Physik wurde skotistisch von dem Stiftsherrn Magister Johannes Dölsch48, thomistisch von dem Magister Johannes Gunckel49 gelesen. Die Logik des Petrus Hispanus wurde skotistisch von Licentiat Sebastian Küchenmeister50, thomistisch von Magister Georg Elner aus Staffelstein51 vertreten. Beide waren Stiftsherren. Die vier der Philosophischen Fakultät zugeordneten Kanonikate waren also für die skotistische Logica maior und minor und Physik sowie für die thomistische Logica minor vergeben, ein weiteres 43
UUW 1 (1926), 15 f (In artibus per duas opiniones), 77 f. Siehe unten S. 138 bei Anm. 78. 45 UUW 1 (1926), 77 f. 46 Siehe oben Anm. 17. 47 GermSacra 1/3/2 (1941), 136. - MBW 11 (2003), 223. 48 GermSacra 1/3/2 (1941), 131 f. - MBW 11 (2003), 359. 49 GermSacra 1/3/2 (1941), 138 f. - MBW 12 (2005), 201 f. 50 MÜLLER (wie Anm. 26), 295–300 = ARG 7 (1909), 275–280. - GermSacra 1/3/2 (1941), 123 f. 51 MÜLLER (wie Anm. 26), 272–276 = ARG 7 (1909), 253–256. - GermSacra 1/3/2 (1941), 134 f. - MBW 11 (2003), 400. 44
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Indiz für die Wichtigkeit dieser Lehrstühle und die Bevorzugung des Skotismus. Die Ethik wurde von einem Augustinermönch – bis Februar 1516 war es Johannes Lang52 – gelesen. Die anderen sechs Lehrstühle – außer den genannten für thomistische Logica maior und Physik diejenigen für Metaphysik, Mathematik, Grammatik und römische Klassiker – hatten keine gesicherte Dotierung, sondern bezogen spärliche 20 Gulden teils von der Universität, teils von der kurfürstlichen Kammer53. Wenn also „die Universität“ – ich lasse unerörtert, um welche Personen es sich handelte (der Vizerektor ist unbekannt, „Reformatoren“ waren Petrus Lupinus, Wolfgang Stähelin und Hieronymus Schurff54) – beim Kurfürsten am 9. April 1516 für die Artistenfakultät fünf bis sechs neue Stellen beantragte55, so sollte dies nur der Sicherung des Bestandes dienen. Von einer Erweiterung oder Veränderung des Lehrangebots ist nicht die Rede. Zwei Jahre später56 waren nicht fünf oder sechs, sondern sieben neue Lehrstühle mit anständiger Dotierung bewilligt und mit einer neuen inhaltlichen Definition versehen. Wer dies veranlasst hat, ist nicht bekannt. Das Verzeichnis dieser Lektionen57 stammt von der Hand Spalatins. Er schreibt, sie seien „vormittels gotlicher gnaden“ aufgerichtet worden. Vermutlich war er selbst maßgeblich daran beteiligt. Luther war m. E. nicht die Triebkraft, denn erstens war er von Amts wegen nicht unmittelbar zuständig; zweitens referiert er den Inhalt dieser Neuerungen falsch58; drittens steht ein Teil dieser Lehraufträge mit seiner eigenen Auffassung vom Wert des Aristoteles für die Philosophie in Widerspruch. Denn von einer Abschaffung des Aristoteles, wie Luther in Erfurt und Heidelberg erzählte, ist überhaupt nicht die Rede. Im Gegenteil. Im April 1518 – gerade als Luther in Heidelberg gegen die aristotelische Philosophie zu Felde zog – wurden in Wittenberg drei neu errichtete Lehrstühle für aristotelische Philosophie 52
GermSacra 1/3/2 (1941), 482 f, vgl. oben S. 128 Anm. 10. Langs Nachfolger ist nicht bekannt. 53 Wie oben Anm. 45. 54 Über das Amt der „Reformatoren“ vgl. Heinz SCHEIBLE, Gründung und Ausbau der Universität Wittenberg (1978): Forschungsbeiträge (1996), 353–369, bes. 356–359. Über Lupinus: oben Anm. 14. - Über Stähelin und Hieronymus Schurff vgl. FRIEDENSBURG (wie Anm. 12), s. v. - Wiebke SCHAICH-K LOSE , D. Hieronymus Schürpf: Leben und Werk des Wittenberger Reformationsjuristen 1481-1554 (Diss. jur. Tübingen 1967). 55 UUW 1 (1926), 74 f. 56 UUW 1 (1926), 85 f Nr. 64. Die Datierung „Wintersemester 1517/18“ (so UUW) läßt sich in „Ende März/April 1518“ präzisieren, denn am 21. März 1518 erwartete Luther noch die Einrichtung dieser Lehrstühle, vgl. oben Anm. 34. 57 UUW 1 (1926), 85 f Nr. 64. 58 WAB 1, 155.44 f Nr. 64, wie oben Anm. 34: reiectis ineptis illis Petri Hispani, Tartareti, Aristotelis lectionibus entspricht weder dem Antrag noch seiner Ausführung; vgl. unten bei Anm. 63.
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besetzt59: 1. Logica [Plural!] Aristotelis textualiter secundum novam translationem; 2. Physica et metaphysica Aristotelis textualiter secundum novam translationem; 3. Aristoteles de animalibus. Der vierte Lehrstuhl ist dem römischen Rhetor Quintilian gewidmet, wird aber vom dritten mit versehen. Zwei weitere Magister hatten die Aufgabe, im Pädagogium Ordnung zu halten und lateinische Sprache und die Anfänge des Griechischen und Hebräischen zu lehren. Privat konnte man schon vorher in Wittenberg wie anderswo Griechisch und Hebräisch lernen. Die Universität errichtete erst im April 1518 dafür ordentliche Lehrstühle, nicht nur die genannten Anfängerkurse, sondern die hervorragend dotierten Professuren für griechische und hebräische Literatur, die einige Monate später besetzt wurden. Von einer Abschaffung der vorhandenen Professuren ist keine Rede. Wir haben also ab dem Sommer 1518 außer den bestehenden sechs Lehrstühlen für skotistischen und thomistischen Aristotelismus noch drei weitere, wie einstmals vorgesehen, die nun aber nicht der via Gregorii folgten, sondern mittels neuer lateinischer Übersetzungen griechischer und italienischer Humanisten60 dem Urtext näher kommen wollten. Die Zeiten hatten sich in den vergangenen zehn Jahren gründlich geändert. Doch war diese Entwicklung nicht auf Wittenberg beschränkt. Solche Reformen des Philosophieunterrichts gab es damals allenthalben, insbesondere in Erfurt und in Leipzig61. Wie weit Wittenberg anregend oder gar vorbildlich gewirkt hat, kann hier nicht untersucht werden. Wittenberg seinerseits stand offenbar im Wettbewerb mit Leipzig, wo seit 1515 erstrangige Gräzisten lehrten62. Andererseits ist einiges von dem, was Luther am 21. März 1518 an Lang meldete63, nicht realisiert worden: Die Vorlesungen der Minor logica nach Petrus Hispanus und Tartaret wurden nicht abgeschafft, die über Aristoteles sogar erweitert. Ein zweiter mathematischer Lehrstuhl wurde nicht errichtet. Statt des von Luther favorisierten Plinius wurde De animalibus von Aristoteles eingeführt; Plinius wurde zunächst von dem Wanderhumanisten Aesticampianus angeboten und erst nach dessen Tod (31. Mai 1520) 59
Wie oben Anm. 57. Charles B. SCHMITT, Aristotle and the Renaissance (1983), 65–88 mit 163–170. 61 Friedrich P AULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts , Bd. 1 (31919, Repr. 1960). - Erich KLEINEIDAM , Universitas Studii Erffordensis (wie Anm. 42). - Max STEINMETZ, Die Universität Leipzig und der Humanismus. Anfänge und Besonderheiten des Leipziger Frühhumanismus. In: Alma Mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-MarxUniversität Leipzig, Autorenkollektiv unter Leitung von Siegfried Hoyer, hrsg. v. Lothar Rathmann (1984), 33–54. 62 Richard Crocus, vgl. ContEras 1 (1985), 359 f (Catherine F. GUNDERSON und Peter G. B IETENHOLZ). Über seinen Nachfolger Petrus Mosellanus vgl. Stefan RHEIN in: LitLex 8 (1990), 235 f. 63 Siehe oben Anm. 34 und Anm. 58. 60
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in den ordentlichen Lehrplan aufgenommen. Nun wurde dem Lehrauftrag für die »Institutio oratoria« des Quintilian auch die Zoologie nach Plinius zugewiesen64. Wenn Luther am 11. März 1518 an Spalatin ein Exposé für die Universitätsreform schickte, das er und andere kurz zuvor bei Karlstadt beraten hatten65, so muss dieser Entwurf etwa das enthalten haben, was Luther am 21. März an Lang schrieb und im April in Heidelberg erzählte. Der Entwurf wurde also vom kursächsischen Hofe inhaltlich verändert. Weit über die skeptischen Erwartungen der Professoren ging jedoch das finanzielle Engagement des Kurfürsten hinaus, der allein für die Artistenfakultät zu den elf vorhandenen sieben zusätzliche Stellen bewilligte. Besetzt wurden die neuen Lehrstühle66 mit jungen Leuten, die ex eventu als Anhänger der Reformation bezeichnet werden können. Die aristotelische Logik las Augustin Schurff67, der Bruder des Juristen Hieronymus Schurff; er wurde später Medizinprofessor in Wittenberg. Die Physik und Metaphysik des Aristoteles las Bartholomäus Bernhardi68, jener frühe Lutherschüler, der 1516 im Sinne von Luthers Römerbriefvorlesung de viribus et voluntate hominis sine gratia disputiert hatte und der 1521 als Propst von Kemberg als einer der allerersten Priester den Zölibat öffentlich missachten sollte. Die Tiergeschichte des Aristoteles und Quintilians Rhetorik wurden von Johannes Eisermann69 vorgetragen, der 1523 nach Marburg übersiedelte, wo er 1527 Gründungsrektor dieser ersten evangelischen Universität und Rechtsprofessor wurde. Luther verhielt sich den neuen aristotelischen Lehrstühlen gegenüber in soweit loyal, als er am 23. Februar 1519 ein Gesuch an den Kurfürsten unterstützte, worin u. a. angeregt wird, einen Drucker mit folgender Begründung nach Wittenberg zu holen: „Den Text Aristotelis und ander Lection künnt man damit furdern, ...“70. Zunächst nämlich richteten Luther und seine Gesinnungsgenossen ihre Aktivitäten gegen die traditionellen Vorlesungen. Doch war man behutsam und hatte wenig Erfolg. Am 2. September 1518 trug Luther Spalatin zwei Probleme der Studenten vor, die er im Freundeskreis erörtert hatte71. Die Studenten waren begierig, biblische Vorlesungen zu hören. Andererseits mussten sie die traditionellen Pflichtvorlesungen besuchen, wenn sie einen Studienabschluss erwerben wollten. Um sie nicht zu sehr zu belasten, wird 64
UUW 1 (1926), 118 Nr. 109; siehe unten Anm. 112. Zu erschließen aus dem Begleitschreiben: WAB 1, 153 f Nr. 63. 66 UUW 1 (1926), 86 Anm. 1 Nr. 64. 67 MÜLLER (wie Anm. 26), 320–334 = ARG 7 (1909), 360–374. 68 MBW 11 (2003), 145. 69 MBW 11 (2003), 397. 70 WAB 1, 349 f, bes. 350.34 f Nr. 155. 71 WAB 1, 196.21–32 Nr. 90. 65
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eine Reduktion der Pflichtvorlesungen beantragt, und zwar nur die der Ethik, weil sie sich mit der Theologie überhaupt nicht vertrage. Luther hatte diesen Lehrauftrag in seiner ersten Wittenberger Zeit 1508/09 selbst wahrgenommen und offenbar darunter gelitten72. Verständlich, dass er hier zuerst ansetzte. Aber wie vorsichtig ist er doch! Die Ethik war für das Magisterium vorgeschrieben, noch nicht für das Bakkalaureat73. Die Entlastung zugunsten der Theologie betraf also nur die relativ wenigen, die schon den ersten Grad erlangt hatten. Ihnen sollte eine Vorlesung, das sind fünf Wochenstunden74, erlassen werden, aber nur wenn sie wollten. Dieser Antrag beweist zugleich, dass die Ethik-Vorlesung im September 1518 noch gehalten wurde und auch weiterhin gehalten werden sollte. Da sie von einem Augustinermönch zu versehen war, ist sie spätestens Anfang 1522 eingestellt worden, als sich das Wittenberger Kloster auflöste75. Das zweite Problem, das Luther am 2. September 1518 Spalatin vortrug, war durch die neuen Vorlesungen entstanden. Sie waren in der Prüfungsordnung des Jahres 1508 nicht vorgesehen. Hier wollte die Universität selbst Abhilfe schaffen. Es dauerte aber noch mehr als sieben Jahre, bis am 10. Januar 1526 eine von Melanchthon verfasste Studien- und Prüfungsordnung erlassen wurde. Das durch den Wegfall der Nikomachischen Ethik entstandene, bedenkliche Vakuum im Lehrangebot wurde hier durch römische Redner und Dichter, vornehmlich durch Ciceros »De officiis«, ausgefüllt76. Ab 1527 brachte Melanchthon auch wieder die aristotelische Ethik zu Ehren77. Er konnte dies, ohne mit der Theologie in Konflikt zu kommen, weil die Wittenberger Reformatoren mittlerweile gelernt hatten, Gesetz und Evangelium zu unterscheiden. Damit erhielt die bürgerliche Gerechtigkeit ihren schöpfungsgemäßen Platz und war zugleich von dem Heilsweg ferngehalten. Der junge Luther hatte diese Unterscheidung noch nicht gekannt. In dem schon erwähnten Gesuch vom 23. Februar 151978 regten der Rektor Bartholomäus Bernhardi sowie die Professoren Luther, Karlstadt, Peter Burckhart79 (ein neuberufener Mediziner) und Amsdorf an, die thomistische Physik abzuschaffen. Der Lehrstuhlinhaber Gunckel sollte als Nachfolger Bernhardis die aristotelische Textvorlesung über die Physik 72
WAB 1, 17.41–43 Nr. 5 (Luther an Johannes Braun, 17. 3. 1509). UUW 1 (1926), 54. 74 UUW 1 (1926), 56, 78. 75 GermSacra 1/3/2 (1941), 450 f. 76 UUW 1 (1926), 146. 77 MBW 580.5. Vgl. Heinz SCHEIBLE: Einführung für den Lehrer. In: Philipp Melanchthon – ein Lehrer Deutschlands: Die deutsche Frage im Unterricht 17 (1989), 3–12, bes. 7. 78 UUW 1 (1926), 89 Nr. 71; vgl. oben Anm. 70. 79 MBW 11 (2003), 243. 73
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halten und Melanchthon die eingesparten Mittel als Zulage bekommen. Dieser Vorstoß einer Minderheit blieb erfolglos80. Nachfolger Bernhardis wurde Jobst Mörlin81 (der Vater der Reformationstheologen Joachim und Maximilian Mörlin), der 1518 einen der beiden neuen Lehrstühle des Pädagogiums erhalten hatte. Gunckel las noch im Sommersemester 1520 naturalis philosophia82, womit sein bisheriger Lehrstuhl gemeint ist. Dass er eine inhaltliche Veränderung vorgenommen haben könnte, ist ihm, der nicht zu den Spitzenkräften zählte und 1525 wie auch der Magister Jakob Premsel beinahe als Sozialfall erscheint83, nicht zuzutrauen. Der zweite Antrag vom 23. Februar 1519 richtete sich gegen die von Premsel versehene thomistische Logik. Ihre Dotierung sollte für Ovids Metamorphosen verwendet werden, denn sie hatte wenig Hörer, und die skotistische und aristotelische Logik-Vorlesungen erschienen als ausreichend. Man kann sich vorstellen, dass der Skotist Amsdorf und der Humanist Augustin Schurff mehr Hörer hatten als der alte und unbedeutende Premsel. Das Gesuch beweist uns aber, dass im Februar 1519 die Große Logik in Wittenberg gleichzeitig dreifach gelesen wurde. Das war auch noch so im Sommersemester 1520. Denn Premsels Salär von 20 Gulden wurde mitnichten für Ovid eingesetzt, sondern Premsel tauschte mit dem am Pädagogium wirkenden Magister Johannes Reuber aus Bockenheim und wurde damit Kollege des Melanchthon-Freundes Agricola84. Am 24. Juni 1521 wird dieser Lehrstuhl erneut als unnütz bezeichnet85; er war also bis dahin besetzt. Zwar sollte er nach einer Notiz Spalatins zum September 1521 vakant und eingezogen werden86. Doch unmittelbar danach wird dem Veteranen Gunckel auferlegt, die Maior logica cum iudicio et delectu zu lesen87. Es kann sich nur um die thomistische Logik handeln, die Gunckel, der meist thomistische Physik las, schon einmal betreut hatte. So blieb also auch die thomistische Logik 1521 und danach im Angebot. Die skotistische Logik war der Lehrstuhl Amsdorfs. Er verließ Wittenberg erst 1524. Dass er die mit seiner Pfründe am Allerheiligenstift verbundene Lehrverpflichtung einfach nicht mehr wahrgenommen haben sollte, ist schwer denkbar. Doch möchte man ihm zutrauen, dass er cum iudicio et delectu seinen Lehrauftrag versah. 1521 wird er noch bei den Artis80
Anders FRIEDENSBURG (wie Anm. 12), 132. UUW 1 (1926), 100. - vgl. [J.] W AGENMANN/Friedrich LEZIUS: Mörlin (Möhrle, Möhrlein, Morlinus usw.) Joachim und Maximilian. RE3 13 (1903), 238. - Martin STUPPERICH: Mörlin, Joachim. TRE 23 (1994), 193. 82 UUW 1 (1926), 100. 83 UUW 1 (1926), 134. 84 UUW 1 (1926), 100. 85 UUW 1 (1926), 117. 86 UUW 1 (1926), 117 unten. 87 UUW 1 (1926), 118 Nr. 109. 81
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ten geführt88. Als damals auch die Professoren der Artistenfakultät zur gewissenhaften Abhaltung der Vorlesungen ermahnt wurden, was die Juristen mit ihrem Nebenerwerb viel nötiger hatten, erscheint Amsdorf unter den Vertrauensleuten des Hofes89. Da also nichts Gegenteiliges verlautet, wird er seine skotistische Logik bis mindestens 1521 gelesen haben. Die skotistische Physik wurde seit Oktober 1519 nicht mehr gelesen. Der Lehrstuhlinhaber Dölsch erklärte förmlich seinen Übertritt zu Luther mit dem Wunsch, etwas anderes lesen zu wollen. Am 29. September 1519 genehmigte dies der Kurfürst mit dem Ausdruck der Freude90. Im Sommer 1520 las Dölsch über »De anima«91 – ein Buch des Aristoteles, das Luther in der damals entstandenen Adelsschrift als dessen bestes hervorhob, um es desto entschiedener abzulehnen. Wahrscheinlich trug Dölsch eine christliche Interpretation vor. Als er dann im Sommer 1521 auf die frei gewordene Kustodie am Allerheiligenstift aufrückte und ein theologisches Ordinariat übernahm, wurde seine bisherige Pfründe dem Mathematiker Johannes Volmar zugewiesen92. Es war das erste Mal, dass ein Mathematiker eine Stiftspfründe erhielt, was die Universität ausdrücklich nicht als Dauerzustand verstanden wissen wollte. Damit war die skotistische Physik ihrer Dotierung beraubt. Die thomistische Physik wurde noch im Sommer 1520 von Gunckel gelesen93. Da Gunckel im Sommer 1521 die thomistische Logik betreute94, ist die thomistische Physik damals eingestellt worden, denn von einem Nachfolger Gunckels verlautet nichts. Schwieriger ist das Ende der Kleinen Logik nach Petrus Hispanus zu bestimmen. Beide Lehrstuhlinhaber, der Skotist Küchenmeister und der Thomist Elner waren Stiftsherren und Gegner Luthers95. Sie erscheinen zum letzten Mal 1517 in der Liste der Dozenten96. Aber da beide bepfründet waren, mussten sie in den folgenden Verzeichnissen nicht genannt werden, ja ihr Fehlen deutet darauf hin, dass hier keine Änderung stattfand. Als Pfründeninhaber sind sie noch im Juni 1521 erwähnt; auf ihren Abgang „mit der Zeit“ wird gewartet97. Ihre Vorlesungen können also nicht 88
UUW 1 (1926), 118 Nr. 108. UUW 1 (1926), 118 f; vgl. 94 Nr. 77 und 122 Nr. 116. 90 UUW 1 (1926), 90 Nr. 73. - Zu Dölsch siehe oben Anm. 48. 91 UUW 1 (1926), 100. 92 UUW 1 (1926), 113 Nr. 104, in Anm. 4 falsch kommentiert; richtig GermSacra 1/3/2 (1941), 132, 137; UUW 1 (1926), 114 Nr. 105. Über Volmar siehe MÜLLER (wie Anm. 26), 343–350 = ARG 7 (1909), 383–390. - GermSacra 1/3/2 (1941), 137. 93 UUW 1 (1926), 100. 94 Wie oben Anm. 87. 95 Siehe oben Anm. 50 f. 96 UUW 1 (1926), 85 Nr. 63. 97 UUW 1 (1926), 118 Nr. 108. 89
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schon 1518 abgeschafft worden sein98. Küchenmeister verließ 1522 ohne Genehmigung Wittenberg und wurde deshalb 1523 seiner Pfründe enthoben99. Vermutlich hat er bis zu seinem Weggang gelesen. Dasselbe gilt für Elner. Dass er 1520 für eine Geschichtsprofessur in Erwägung gezogen wurde100, war nur ein Planspiel Spalatins. Elner hielt bis zur Säkularisierung des Allerheiligenstiftes aus101 und dürfte gelesen haben, solange er Hörer fand, also vermutlich bis zum Wintersemester 1521/22.
Der statistische Befund Dass Petrus Hispanus und die anderen scholastischen Vorlesungen bis Ende 1521 angeboten wurden, lässt sich auch aus den Promotionen beweisen. Petrus Hispanus, die Große Logik nach Aristoteles und Grammatik musste gehört haben, wer Baccalaureus artium werden wollte; weitere Bücher des Aristoteles und Mathematik waren für das Magisterium vorgeschrieben102. Dass auch Luther und seine Gesinnungsgenossen diese Statuten von 1508 ernst nahmen, zeigt ihr erwähnter Antrag vom 2. September 1518, die Ethik fakultativ zu machen. Wenn nun bis zum Sommersemester 1521 unvermindert viele Promotionen stattfanden, so ist dies ein Beweis dafür, dass auch die dafür vorgeschriebenen Vorlesungen gelesen und gehört wurden. Erst nach den Wittenberger Unruhen gehen die Zahlen103 abrupt zurück. Allerdings muss man damit rechnen, dass auch dann noch Promotionen stattfanden, die nicht protokolliert wurden, denn manche Personen führen später den Magistertitel, ohne dass im Dekansbuch der Eintrag zu finden ist. Die Prüfungen für das Bakkalaureat fanden im Sommersemester an je zwei Terminen, im Wintersemester an je einem Termin statt. Hier die Anzahl der Wittenberger Bakkalaureatspromotionen ab Sommer 1514: Sommer 1514 Sommer 1515 Sommer 1516 98
14 + 22 = 36 16 + 24 = 40 16 + 26 = 42
Winter 1514/15 Winter 1515/16 Winter 1516/17
16 23 21
So GermSacra 1/3/2 (1941), 123, für Küchenmeister. GermSacra 1/3/2 (1941), 124. 100 GermSacra 1/3/2 (1941), 134. 101 MÜLLER (wie Anm. 26), 275 = ARG 7 (1909), 255. 102 UUW 1 (1926), 54. 103 Die folgenden Promotionszahlen stammen aus dem Dekansbuch der Philosophischen Fakultät: Julius KÖSTLIN, Die Baccalaurei und Magistri der Wittenberger philosophischen Fakultät 1502-1517 (Osterprogramm der Universität Halle-Wittenberg 1887). DERS., Die Baccalaurei und Magistri der Wittenberger philosophischen Fakultät 15181537 (Osterprogramm der Universität Halle-Wittenberg 1888). 99
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Sommer 1517 Sommer 1518 Sommer 1519 Sommer 1520 Sommer 1521 Sommer 1522 Sommer 1523 Sommer 1524 Sommer 1525
17 + 25 = 42 19 + 32 = 51 15 + 36 = 51 27 + 48 = 75 33 + 40 = 73 6 + 6 = 12 4 1 0
Winter 1517/18 Winter 1518/19 Winter 1519/20 Winter 1520/21 Winter 1521/22 Winter 1522/23 Winter 1523/24 Winter 1524/25 Winter 1525/26
26 36 34 50 11 4 0 0 0
1523 und 1524 gab es im Sommersemester nur je einen Termin, im Wintersemester 1523/24 und im Jahr 1525 wurden (wie auch sonst) noch Rezeptionen Auswärtiger vorgenommen. Dann fanden bis zum Sommersemester 1530 keine Prüfungen mehr statt, jedenfalls wurden keine protokolliert. Im Wintersemester 1531/32 wurden drei Bakkalare eingetragen, im Sommer 1532 keiner, im Wintersemester 1532/33 zwei, im Sommersemester 1533 fünf usw. Es gab dann niemals mehr so viele Bakkalaurei wie früher, weil nach der neuen Prüfungsordnung vom 10. Januar 1526 das Bakkalaureat für das Magisterium nicht mehr obligatorisch war; es wird nicht einmal erwähnt. Bei den Magistern ist der Einbruch ebenfalls deutlich sichtbar. Hierfür gab es nur einen Termin pro Jahr, im Wintersemester. Seit Bestehen der Universität Wittenberg schwankt die Zahl von zwei bis 14 pro Termin. 1515/16 waren es sieben, ein Jahr später vier, in den Wintersemestern 1517/18 bis 1520/21 aber 17, 14, 17 und 16. Im Wintersemester 1521/22 wurden ungewöhnlich früh schon am 10. Dezember 21 Magister promoviert; davon waren elf kurz zuvor rezipierte auswärtige Baccalaurei. Am 6. Februar 1522 folgten noch zwei Magistri, so dass die Gesamtzahl dieses Semesters 23 in zwei Terminen beträgt. Ein Jahr später, am 28. Januar 1523, waren es nur noch vier, im Wintersemester 1523/24 unter dem Dekanat des Johannes Agricola wieder vier, wobei ausdrücklich vermerkt ist: pro veteri scholarum more. Am 30. April 1524 gab es einen Sondertermin für einen Salzburger Kandidaten „auf Betreiben des Herrn Johannes von Staupitz, dem diese Universität ihren Ursprung verdankt, und des Doktor Martin Luther, des Verteidigers nicht so sehr der Wissenschaften als des Evangeliums (durch dessen Glanz der höchste Gott in unserer Zeit Deutschland erleuchtet hatte)“104. Luther hat also durchgedrückt, dass ein von Staupitz geschickter Kandidat eine Gefälligkeitspromotion bekam.
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KÖSTLIN 1888 (wie Anm. 103), 18 f: urgentibus hoc domino Iohanne Staupicio, cui haec schola suum debebat principium, et D. Martino Luthero non tam literarum
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Im Sommer 1525 finden wir zwei Magister verzeichnet. Am 10. Januar 1526, dem gleichen Tag, an dem die neue Studienordnung erlassen wurde, fanden drei Magisterpromotionen statt, die im Dekansbuch mit der Begründung eingetragen wurden: „weil auch die öffentlichen Bräuche, gegen die anzukämpfen niemandem nützt, diese Titel erfordern“105. Die nächste Magisterpromotion war erst am 30. April 1528. Der Grund dafür ist die seuchenbedingte Verlegung der Universität nach Jena. Die Promotionszahlen beweisen also, was wir durch Untersuchung der Professuren festgestellt hatten, nämlich dass bis 1521 und darüber hinaus der Lehrbetrieb alten Stils in Wittenberg aufrecht erhalten wurde. Die alten Lehrstühle für Mathematik, Grammatik und humanae literae wurden auch darüber hinaus weitergeführt106. Die scholastische Metaphysik, früher einmal von Karlstadt, dann lange von dem wenig bedeutenden Premsel gelesen, war mit dem 1518 neu errichteten Lehrstuhl für aristotelische Physik zusammengelegt worden. Dieser Physiklehrstuhl, in raschem Wechsel von Bartholomäus Bernhardi, Jobst Mörlin und Heinrich Stackmann versehen, wurde ebenfalls weitergeführt107, in welcher Form, sei dahingestellt. Die Metaphysik erscheint 1523 wieder als selbständiger Lehrstuhl und von Gunckel betreut, wird aber als unnütz und verachtet bezeichnet108. Die beiden anderen neuen Aristoteles-Textvorlesungen überdauerten das Sommersemester 1521 nicht. Augustin Schurff, der die aristotelische Logik textualiter secundum novam translationem las, bekam nach dem 24. Juni 1521 eine medizinische Professur109. Sein Nachfolger war Hermann Tulichius110, dem Luther »De captivitate Babylonica« gewidmet hatte. Dessen Lehrauftrag wurde neu definiert und heißt nun Elementa logicae et rhetoricae111. Es ist zu vermuten, dass statt des aristotelischen Organon nun Melanchthons Lehrbücher zugrunde gelegt wurden. Mit diesen Elementa logicae war zugleich die Kleine Logik nach Petrus Hispanus
quam evangelii (cuius fulgure deus optimus maximus sub hoc tempus Germaniam illustraverat) adsertore. 105 Ebd. 19: cum et publici mores, quibuscum non est utile pugnare, hos requirant titulos. 106 UUW 1 (1926), 143 Nr. 145 (13. 10. 1525). 107 Ebd.; vgl. oben Anm. 68 und Anm. 81; UUW 1 (1926), 117 Nr. 108. - Über Stackmann siehe MÜLLER (wie Anm. 26), 334–341 = ARG 7 (1909), 374–381. 108 Gustav B AUCH, Die Einführung der Melanchthonischen Declamationen und andere gleichzeitige Reformen an der Universität Wittenberg (1900), 11; verzeichnet UUW 1 (1926), 124 Nr. 122; vgl. MBW 272 (ca. 15. 3. 1523 an Spalatin). 109 UUW 1 (1926), 117. 110 GermSacra 1/3/2 (1941), 139 f. - Martin Luther Studienausgabe 2 (1982), 172 Anm. 1. 111 UUW 1 (1926), 117.
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ersetzt. Eingestellt wurde auch die 1518 errichtete Textvorlesung über »De animalibus« des Aristoteles. Sie war bisher im Wechsel mit der Rhetorik des Quintilian gelesen worden. Nun, im Juni 1521, erfahren wir, dass der Lehrstuhlinhaber Eisermann außer Quintilian auch Plinius lesen soll112. Der römische Naturhistoriker, den Luther der aristotelischen Zoologie vorzog113, war seit dem Tod des Aesticampianus am 21. Mai 1520 verwaist gewesen und wurde anscheinend erst ein Jahr später in das ordentliche Lehrangebot aufgenommen.
Die Reform des Studiums Dem Zusammenbruch des traditionellen Studiengangs und Prüfungssystems sah die Universität nicht tatenlos zu. Es war vor allen anderen Professoren der Gräzist Philipp Melanchthon, der eine neue Methode der akademischen Ausbildung propagierte und sowohl bei den Kollegen als auch bei der kurfürstlichen Regierung durchsetzte114. Hier war Georg Spalatin115 sein allzeit verständnisbereiter Verhandlungspartner. Melanchthon wollte den Studenten als unerlässliche Grundlage für alle Wissenschaften die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck vermitteln, die eloquentia, Gewandtheit in Prosa und auch in Versen116. Dazu brauchte es das ganze Gewicht seiner überragenden wissenschaftlichen und pädagogischen Fähigkeiten. Die Studenten wollten sich nicht mehr länger mit so mühsamen Belanglosigkeiten wie Grammatik, Dialektik und Naturkunde aufhalten, sondern gleich zu den Lebensfragen vorstoßen. Man studierte Theologie, ohne sich dem Ausbildungsgang der Artistenfakultät zu unterziehen. Ungeprüft verließ man dann die Universität, um möglichst schnell ein Predigtamt zu übernehmen117. Melanchthon sah darin eine große Gefahr für die Kirche. Zwar nimmt die Theologie ihren Stoff nicht aus der Philosophie, aber sie leiht sich ihre Sprache von der allgemeinen Gewohnheit, sie bedient sich leihweise der allgemeinen Sprache, kann also ohne Dialektik und ähnliche Wissenschaften nicht verstanden werden: Quanquam autem sacrae literae non sumant res a philosophia, tamen, quia ser112
UUW 1 (1926), 118 Nr. 109), siehe oben Anm. 64. WAB 1, 563.1 f Nr. 222 (Luther an Spalatin, vor 29. 11. 1519). 114 Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Bildungsprogramm (1986): Forschungsbeiträge (1996), 99–114. 115 Irmgard HÖSS, Georg Spalatin 1484–1545 – ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation (21989). - Ute MENNECKE-HAUSTEIN in: LitLex 11 (1991), 83 f. Martin BRECHT in: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde 3 (1994), 1872. 116 MBW233.2 (an Eobanus Hessus, Sommer 1522). 117 CR 11, 100 (Oratio de gradibus, 1525); vgl. Koehn, 1318 Nr. 40, 1331 Nr. 69, 1332 Nr. 73. 113
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monem a publica consuetudine mutuantur, sine dialectica et cognatis artibus compositio sermonis cognosci non potest118. Der Theologe muss mehr als jeder andere wissen, er muss sich der Hilfswissenschaften, die in der Artistenfakultät gelehrt werden, für seine Aufgabe bedienen: Cum neminem neque plura neque meliora scire oporteat quam theologum, non convenit eum aliarum artium rudem esse119. Damit die Kirche nicht durch Bildungsfeindlichkeit und Schwärmerei Schaden nimmt und ihre Botschaft unverständlich wird, hat es Melanchthon abgelehnt, nur noch an der Theologischen Fakultät zu lehren, sondern die Reform der Philosophischen Fakultät in Angriff genommen und erfolgreich durchgeführt. Diese Entscheidung war das Gebot der Stunde. Er stellte sich der wichtigsten Aufgabe, die nach und neben Luther zu tun blieb. Diese Entscheidung als „Berufskrise“ zu bezeichnen120, ist m. E. unangemessen, sowohl biographisch als auch universitätspolitisch und nicht zuletzt theologisch. Melanchthons Sorge galt zunächst den Studienanfängern. Sein Plan, jedem Studenten einen Tutor beizugeben, scheiterte – wie er bitter urteilte – an der Hochnäsigkeit der Studenten und an der Faulheit der Dozenten, und auch die Stadt verweigerte die nötige Unterstützung121. Erfolgreicher war seine Absicht, wenigstens die Bewohner der Collegien intensiv zu betreuen. Er war sogar selbst bereit, in ein solches Studentenwohnheim einzuziehen122. Später, während der Evakuierung in Jena und beim Neubau seines Hauses in Wittenberg, wohnte er tatsächlich eine Zeitlang mit den Studenten zusammen. Melanchthon verhandelte an der untätigen Universitätsspitze vorbei direkt mit Spalatin123. Aber der alte Kurfürst Friedrich der Weise war nicht mehr so reformfreudig und beweglich wie noch einige Jahre zuvor124. Im Wintersemester 1523/24 wurde Melanchthon zum Rektor gewählt. Nun konnte er einen schon im März 1523 eingereichten Reformvorschlag realisieren125. Der Ausbildungsstand der Studenten konnte am besten bei den artistischen Disputationen geprüft werden, die jeden Samstag stattfanden. (Bei uns haben die Seminarsitzungen diese Funktion.) 118
CR 11, 162 (Oratio de dialectica, 1528); vgl. Koehn, 1319 f Nr. 42–44. CR 11, 162; vgl. MBW 265.1 (an Spalatin, 23. 2. 1523). 120 So Wilhelm MAURER, Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation, Bd. 2 (1969, 21996), 419–428; dazu Heinz SCHEIBLE, Luther und Melanchthon (1984): Forschungsbeiträge (1996), 146 f. = DERS., Luther and Melanchthon, übersetzt von Timothy J. W ENGERT: Lutheran Quarterly 4 (1990), 328–331. 121 MBW 249.2 (an Spalatin, 29. 11. 1522). 122 MBW 251.1 (an Spalatin, Dez. 1522); MBW 260.1 (an Spalatin, 30. 1. 1523). 123 Vgl. oben Anm. 119, 121, 122. 124 Vgl. MBW 260.2 (an Spalatin, 30. 1. 1523). 125 B AUCH (wie Anm. 108), 11. - UUW 1 (1926), 124 Nr. 121 f; 126–130 Nr. 127– 131. 119
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Mit dem Abgang der scholastischen Logik waren aber diese Disputationen gegenstandslos geworden. Melanchthon setzte an die Stelle des früheren Drills in formaler Logik die Ausbildung im sprachlichen Ausdruck: Er richtete Deklamationsübungen ein. Statt Dialektik wurde Rhetorik gelernt, eine vorzügliche Vorbereitung auch auf das Predigtamt, das viele Studenten der Artistenfakultät anstrebten, auch wenn sie kein förmliches Theologiestudium absolvierten. Man war sich bewusst, hier etwas Neues geschaffen zu haben, das es noch an keiner anderen Universität gab126. Aber auch die Disputationen wurden schon damals wieder eingeführt, und zwar im Bereich der Naturwissenschaften, der Mathematik und Physik127. So wurden ab 1523 monatlich zwei Deklamationen dargeboten und zwei Disputationen veranstaltet. Melanchthon hat viele akademische Reden128 verfasst und gelegentlich selbst gehalten, zumeist aber von seinen Schülern und Kollegen vortragen lassen. Er griff dabei die unterschiedlichsten Themen aus Geschichte und Gegenwart auf. Nicht zuletzt waren sie ihm ein wirkungsvolles Instrument der Universitätspolitik. Schon im März 1523 hatte er die Einführung der Deklamationen als Studienfach durch eine Rede vorbereitet, die den Titel trägt »Necessarias esse ad omne studiorum genus artes dicendi«, abgekürzt: »Encomium eloquentiae«129. 1525 sprach er »de gradibus discentium«130. Er versuchte den Studenten klarzumachen, dass man einen bestimmten Studiengang einhalten muss, um ein sicheres Wissen zu erwerben. Wer überall mal reinschmeckt, ist nirgendwo zu Hause131.
Melanchthons akademische Position In diesem Jahr 1525 führte der neue Kurfürst, Johann der Beständige, eine Besoldungsreform durch, die in ihrer Bedeutung für Melanchthons Stellung an der Universität von seinen Biographen nicht genügend beachtet wurde. Melanchthon räumte seinen Lehrstuhl für griechische Philologie, auf den er 1518 berufen worden war. Nachfolger wurde für kurze Zeit sein
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B AUCH (wie Anm. 108), 12. – H. SCHEIBLE, Melanchthons biographische Reden: literarische Form und akademischer Unterricht (1993): Forschungsbeiträge (1996), 117. 127 B AUCH (wie Anm. 108), 15 f. - UUW 1 (1926), 127 f Nr. 129. 128 Siehe KOEHN. 129 MSA 3, (43) 44–62 = CR 11, 50–66; vgl. KOEHN, 1326–1329 Nr. 58–62 u. ö.; MBW 277. 130 CR 11, 98–101; siehe oben Anm. 117. 131 CR 11, 159–163 (Oratio de dialectica, 1528; siehe oben Anm. 118). - CR 11, 209– 214 (Oratio de ordine discendi, 1531); vgl. KOEHN, 1319 f Nr. 41 und 43 f.
7. Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform
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Freund Joachim Camerarius132, der aber 1526 auf Melanchthons Empfehlung Rektor in Nürnberg wurde, dann sein Schüler Franz Burchard133, der spätere kursächsische Vizekanzler. Melanchthon selbst erhielt (ähnlich wie Luther) einen Sonderstatus mit Spitzenbesoldung. Zusätzlich zu den Planstellen für den regelmäßigen Ausbildungsgang wurde für ihn eine Professur eingerichtet mit der Erlaubnis, zu lesen was er wollte134. Damit war auch das Problem, ob Melanchthon philosophische Fächer oder Theologie lehren sollte, aufgehoben: er behandelte wie bisher beide Bereiche, wobei er sowohl Basiskurse wie Dialektik anbot als auch Gebiete aufgriff, für die kein Lehrstuhl vorgesehen war und die auch nicht geprüft wurden, z. B. Geschichte. Im Rahmen dieser seiner geradezu modernen Lehrfreiheit, die ihn über alle anderen Professoren der Philosophischen Fakultät, der er weiterhin angehörte, heraushob, kündigte er eine Vorlesung über die Nikomachische Ethik an135. Dies ist eine kleine Sensation für jeden, der den Melanchthon der Jahre 1519 bis 1522 kennt. Zwar kam Melanchthon nach Wittenberg mit dem Plan einer wissenschaftlichen Aristoteles-Textausgabe als Gemeinschaftsunternehmen deutscher Humanisten136. Doch dann geriet er in den Sog von Luthers Aristoteles-Kritik und stand diesem in der Schärfe der Ablehnung wenig nach. Schon im August 1519 wurde Melanchthons Philosophiefeindlichkeit von seinem Landsmann Martin Borrhaus, damals Schüler Ecks in Ingolstadt, in einer Flugschrift verspottet: Melanchthon führe sich auf wie ein Verrückter, wenn auch nur der Name „Aristoteles“ genannt werde137. Das ist natürlich Satire. Doch noch 1521 kann sich Melanchthon hässlicher Beschimpfungen des Stagiriten nicht enthalten: „Was geht uns an, was dieser schmutzige Mensch zusammengelogen hat? Sollen wir etwa Aristoteles höher als Christus achten?“138 Ähnlich in den ersten Loci: „Was geht denn mich an, was dieser Streithammel für Ansich132
UUW 1 (1926), 133 Nr. 139; 143 Nr. 145. - Zu Camerarius: MBW 11 (2003),
253 f. 133
MBW 11 (2003), 241. UUW 1 (1926), 133. 167; MBW 446. 135 MBW 580.5. 136 MBW 17. 137 MBW.T 1, 152.70–73 Nr. 66.5: Quamquam tu alius Philippus factus, ut audio, te philosophiae osorem citra frontem et ingenue predicas, atque adeo, ut miras tragedias agas, quoties Philosophi nomen occurrat, ...“. „Jedoch bist du, wie ich höre, ein anderer Philipp geworden, rühmst dich bedenkenlos und frei heraus, die Philosophie zu hassen, und dies so sehr, dass du dich wie ein Verrückter aufführst, wenn auch nur der Name Aristoteles genannt wird.“ 138 MSA 1, 148.36–149.2 = CR 1, 405 (Adversus furiosum Parrisiensium Theologastrorum decretum ... pro Luthero apologia): Quid enim ad nos, quid ille impurus homo commentus sit? Num Christo pluris Aristotelem faciemus? 134
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7. Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform
ten hatte?“139 Die Lehre des Aristoteles ist für Melanchthon damals nichts als Lust am Streiten, und er verdient nicht einmal den letzten Platz unter den Philosophen140. Der sachliche Grund dieser Ablehnung wird schon 1519 im Bericht über die Leipziger Disputation klar formuliert: Es besteht eine riesige Kluft zwischen der alten Theologie Christi und der neumodischen aristotelischen141. Diese Erkenntnis hat Melanchthon niemals aufgegeben. Wie aber konnte er da zu einer intensiven und fruchtbaren wissenschaftlichen Beschäftigung mit Aristoteles fähig sein, die ihn zum führenden Aristoteliker142 der Reformation machte? Wie konnte Luther dies mit ansehen? Der Schlüssel für diese totale Kehre in der Beurteilung des Stagiriten und der Philosophie überhaupt ist die Lehre von Gesetz und Evangelium, eine Unterscheidung, die für die Theologie Luthers und Melanchthons grundlegend und spezifisch ist. Albrecht Peters hat 1981 eine schöne Dokumentation darüber publiziert143. Solange Luther noch nicht zwischen göttlicher Gerechtigkeit, die als Evangelium geschenkt wird, und weltlicher Gerechtigkeit, die das menschliche Zusammenleben möglich macht, unterscheiden konnte, musste ihm das durch ein undifferenziert gesehenes Gesetz bewirkte Scheitern des Strebens nach Heil gerade die aristotelische Ethik verhasst machen. Die Folge war eine generelle Abwertung der Philosophie, die bei seinen Anhängern zu Bildungsfeindlichkeit führen konnte. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wird erst ab 1521 als griffige hermeneutische Formel in Umlauf gesetzt144, also etwa gleichzeitig mit dem Höhepunkt der Philosophiekritik. Sachlich ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in Luthers reformatorischer Erkenntnis enthalten. Als Formel war sie für die Abgrenzung sowohl von der Scholastik als auch vom protestantischen Schwärmertum, die diese Unterscheidung beide nicht kennen, von großer Bedeutung; besonders von Melanchthon wird sie immer wieder als fundamental hervorgehoben. Sie bot ihm die Möglichkeit und stellte ihn damit zugleich vor die Aufgabe, als Theologe philosophisch zu arbeiten, 139
MSA 2/1, 42.22 f = CR 21, 117: Quid enim ad me, quid senserit ille rixator? MSA 2/1, 22.22–25 = CR 21, 101. 141 MSA 1, 5.5–7 = CR 1, 88 (Epistola de Lipsica disputatione): „..., inter veterem et Christi theologiam ac noviciam et Aristotelicam quantum intersit. 142 Peter PETERSEN, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland (1921, Repr. 1964). - Rolf SCHÄFER, Aristoteles/Aristotelismus V/2: Reformation und nachreformatorische Theologie: TRE 3 (1978), 791 f. - Enno RUDOLPH, Zeit und Gott bei Aristoteles aus der Perspektive der protestantischen Wirkungsgeschichte (1986), bes. 169–207. - Günter FRANK, Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1995). 143 Albrecht P ETERS, Gesetz und Evangelium: Handbuch Systematischer Theologie 2 (1981). 144 Ebd. 34. 140
7. Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform
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und zwar nicht nur an einer formalen Philosophie des Denkens und Redens, sondern auch an einer materialen der Human- und Naturwissenschaften. Melanchthon trieb als Theologe Philosophie, nicht etwa als Philosoph Theologie145. Die Philosophie war für ihn nicht oder nicht nur etwas außerhalb der Theologie im Sinne einer missverstandenen ZweiReiche-Lehre mit Eigengesetzlichkeit eines weltlichen Bereichs. Sondern die Philosophie ist eine Funktion der Kirche. Die Ethik ist ein Teil des Gesetzes im theologischen Sinn: Tenendum enim est discrimen legis et evangelii, heisst es zu Beginn seines Ethik-Kommentars von 1546, et sciendum ethicam doctrinam esse partem legis divinae de civilibus moribus146. Die Kirche braucht die Philosophie, weil ohne Bildung auch die Religion untergeht, wie man aus der Geschichte lernt und wie in der Gegenwart zu befürchten ist: Nam admissa barbarie videmus olim labefactatam esse religionem, et vehementer metuo, ne eodem redeat res, nisi manibus ac pedibus pulcherrimum Dei munus, literas, defenderimus147, schliesst Melanchthons Vorrede zu der lateinischen Übersetzung von Luthers Aufruf »an die Ratsherren aller Städte Deutschlands, christliche Schulen zu errichten und zu unterhalten«, vom Juni 1524. Die Kirche braucht eine umfassende Bildung, nicht nur Grammatik, sondern alle Disziplinen der Philosophischen Fakultät: ecclesiae opus esse liberali eruditione et non tantum cognitione grammatices, sed etiam aliarum multarum artium et philosophiae scientia148. Wer dies bestreitet, ist wie der Leibhaftige zu verabscheuen, muss Melanchthon noch 1536 der versammelten Universität einschärfen149. Denn die Wurzel aller Übel ist eine unwissenschaftliche Theologie. Sie wirft alles durcheinander, erklärt 145
FRANK (wie Anm. 142). CR 16, 277 f (In primum librum ethicorum Artistotelis enarrationes): „Man muss nämlich den Unterschied von Gesetz und Evangelium verstehen und wissen, dass die Ethiklehre der Teil des göttlichen Gesetzes ist, der von den bürgerlichen Sitten handelt.“ 147 MBW.T 2, 145.17–20 Nr. 330: „Denn wir sehen, dass einst nach dem ungehinderten Einbruch der Barbarei auch die Religion Schaden genommen hat, und ich fürchte sehr, dass es wieder dazu kommt, wenn wir nicht Gottes schönstes Werk, die Wissenschaften, mit Händen und Füßen verteidigen. 148 MSA 3, 89.19–22 = CR 11, 279 (Oratio de philosophia, 1536); vgl. KOEHN, 1334 f Nr. 78 f; 1397 Nr. 237): „Die Kirche braucht die freie Bildung, und zwar nicht allein die Kenntnis der Grammatik, sondern auch das Wissen der vielen anderen Künste und der Philosophie.“ - Vgl. Oswald B AYER, „Die Kirche braucht liberale Erudition“. Das Theologieverständnis Melanchthons: Kerygma und Dogma 36 (1990), 218–244. - DERS., Theologie: Handbuch Systematischer Theologie 1 (1994). 149 MSA 3, 90.13–21 = CR 11, 280: ... non tantum ... eorum inepta iudicia, qui non putant ecclesiae admodum opus esse liberali eruditione, fugiatis, sed illos ipsos tamquam deterrimas pestes et dira portenta execremini. „Ihr sollt nicht nur die dummen Sprüche derer fliehen, die meinen, die Kirche brauche die freie Bildung nicht unbedingt, sondern diese selbst wie die übelsten Seuchen und schreckliche Monster verfluchen.“ 146
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nichts richtig, vermengt, was unterschieden werden muss, und reisst auseinander, was zusammen gehört. Nichts hängt zusammen, man sieht keinen Anfang, keine Entfaltung, kein Ende. Das Ergebnis sind endlose Irrtümer, Spaltungen, gegenseitiges Missverstehen. Und während jeder seinen Traum verteidigt, entstehen Streit und Zwietracht. Die Gewissen werden unsicher, der Zweifel führt zum Hass gegen die ganze Religion, das Ergebnis ist Profanität und Epikureismus. Deshalb braucht die Kirche die Wissenschaften, nicht nur Grammatik und Dialektik, sondern auch Physik und Ethik. Dabei bleibt klar, dass Theologie und Philosophie verschiedene Lehrweisen (genera doctrinae) sind, die nicht vermengt werden dürfen150. Der Theologe braucht also die Philosophie, aber nicht irgendeine, sondern eine, die möglichst wenig spitzfindig ist und die eine rechte Methodik bietet. Talis est Aristotelis doctrina151. Melanchthon wird Aristoteliker, weil es nach seinem Urteil keine bessere Philosophie gibt. Alle anderen philosophischen Schulen vertreten irgend etwas Absurdes: die Stoiker Apathie und das Fatum, Epikur Atheismus und Atomismus, die Akademie den Skeptizismus. Doch ist Melanchthon kein dogmatischer Aristoteliker, sondern vertritt ausdrücklich einen Eklektizismus: Auch von anderen Autoren sind Erkenntnisse zu gewinnen152. Was ihn an Aristoteles anzieht, ist genau das Gegenteil dessen, was er ihm 1521 vorgeworfen hatte, nämlich Streitsucht. Nun empfiehlt sich der Aristotelismus als eine „secta“, eine Philosophenschule, „die bestrebt ist, nicht zu streiten, sondern die Wahrheit zu suchen, die ferner ausgewogene Ansichten schätzt und nicht durch äußerlich blendende Disputationen und absurde Meinungen den Beifall der Ungelehrten gewinnen will. ... Und diese einfache Philosophie, von der ich spreche, ist zuoberst bestrebt, nichts ohne Beweis zu behaupten“153. Soweit die Festrede »De philosophia« von 1536. Im Jahr darauf – es ist die Zeit des Angriffs von Cordatus, Schenck und Amsdorf154 – machte Melanchthon Aristoteles selbst zum Thema einer 150
MSA 3, 90.25–93.15 = CR 11, 280–282. MSA 3, 93.17–22 = CR 11, 282: Eruditam philosophiam requiro, non illas cavillationes, quibus nullae res subsunt. Ideo dixi unum quoddam philosophiae genus eligendum esse, quod quam minimum habeat Sophistices, et iustam methodum retineat: talis est Aristotelis doctrina. 152 MSA 3, 93.24–94.2 = CR 11, 282 f. 153 MSA 3, 94.5–8.10–12 = CR 11, 283: ..., quae studium habeat non rixandi, sed inquirendae veritatis, deinde quae amet moderatas opiniones, non captet plausus indoctorum praestigiis disputationum et absurdis sententiis. ... At haec simplex philosophia, de qua dico, primum hoc studium habet, ne quid affirmet sine demonstratione. 154 Wilhelm H. NEUSER, Luther und Melanchthon – Einheit im Gegensatz (1961), 6– 24. - Zu Cordatus: MBW 11 (2003), 303. - Zu Schenck vgl. Walter Delius in: RGG3 5 (1961), 1400 f. 151
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solchen akademischen Deklamation anlässlich einer Magisterpromotionsfeier155, ebenso 1544156. In seinen Vorlesungen kommentierte er dessen Schriften zur Ethik, Politik, Physik, publizierte Kommentare und schuf eigene Lehrbücher157 im Stile eines auf der Höhe der Zeit stehenden Aristotelismus. 1545, also relativ spät, wurde diese Entwicklung durch neue Satzungen für die Philosophische Fakultät gesetzlich verankert158. Dort ist zu lesen: Weil Gott sich durch ein Buch geoffenbart hat, braucht die Kirche Wissenschaft, sie ist erudita ecclesia dei. Die Arbeit an der Artistenfakultät ist ein Teil der militia ecclesiae dei, und sie ist Gott wohlgefällig. Damals gab es außer Melanchthon zehn ordentliche Professoren. Aristoteles als Lehrgegenstand wird zweimal ausdrücklich erwähnt: seine Physik und seine Ethik. Nur bei letzterer werden genaue Anweisungen erteilt, wie sie zu behandeln ist: Der griechische Text muss erläutert werden. Dabei ist der Unterschied von Gesetz Gottes, Evangelium und bürgerlicher Moral herauszuarbeiten, die Philosophenschulen sind zu beurteilen und die Vorschriften durch Beispiele zu erläutern159. Dies alles geschah zu Lebzeiten Luthers. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, denn die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium blieb gewahrt. In seinen letzten fünfzehn Lebensjahren fand er sogar selbst gelegentlich anerkennende Worte über den Stagiriten160.
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MSA 3, 96–104 = CR 11, 342–349 (Oratio de vita Aristotelis); vgl. KOEHN, 1337 Nr. 85;. 1409 f Nr. 269-271). 156 MSA 3, 122–134 = CR 11, 647-658 (Oratio de Aristotele); vgl. KOEHN, 1349 Nr. 111. 157 Heinz SCHEIBLE: TRE 22 (1992), 387.39–48. 158 CR 10, 1008–1024, bes. 1009–1011 = UUW 1 (1926), 266–277 Nr. 273. 159 CR 10, 1010 f = UUW 1 (1926), 268: Enarrabit autem ethicus, quisquis erit, graeca Aristotelis ethica ad verbum. Sed diligenter discernet genera doctrinarum, legem dei, evangelium, praecepta philosophica et civilia de moribus, diiudicabit sectas philosophorum, et illustrabit praecepta exemplis. 160 Zusammengestellt bei Heinz SCHEIBLE, Melanchthon neben Luther (1995): Forschungsbeiträge (1996), 165 f.
Die Reform von Schule und Universität in der Reformationszeit Die Aufgabe, dieses Thema auf engstem Raum abzuhandeln, erlaubt nur, im Dickicht der Fakten, der Quellen und Darstellungen einige Durchblicke zu öffnen. Wittenberg mit Luther, Melanchthon und den anderen kursächsischen Professoren und Räten samt ihren Fürsten ist dabei eine wichtige Orientierungsmarke. Doch dürfen die Wittenberger nicht isoliert betrachtet und ihre Originalität überschätzt werden. Um das Thema angemessen zu behandeln, müsste der Zustand der Bildungseinrichtungen vor der lutherischen Reformation und die vorreformatorischen Reformansätze mit ihren Zielen, das, was als Humanismus bezeichnet wird, ebenso untersucht werden wie die Wittenberger Reformbestrebungen und was sie erreicht haben. Weil dabei Melanchthon unbestritten einer der Hauptakteure ist, muss gefragt werden, welche Ideen er ohne Beeinflussung durch Luther nach Wittenberg mitgebracht hat1. Reform betrifft nicht nur die Bildungsinhalte, die Lehrpläne, sondern auch die Lehrer und ihre Besoldung, die Trägerschaft und die Finanzierung der Bildungseinrichtungen. Dieser Komplex kann hier nicht untersucht werden. Diese Fragestellungen sind nicht nur auf die Schulen und auf die Universitäten anzuwenden, sondern zwischen beiden gibt es noch die Hochschulen, die nicht unbeachtet bleiben dürfen.
I. Schulen Schulbildung gehört konstitutiv zum Christentum, denn seine Quellen sind literarisch und in Sprachen geschrieben, die für die meisten Christen unverständlich sind. Bibelwissenschaft ist deshalb unerlässlich. Schulbildung ist aber auch eine Aufgabe des Staates, wie er sich in Mitteleuropa herausgebildet hat. Karl der Große erkannte diese Staatsaufgabe, hat sie aber an 1
Heinz SCHEIBLE, Melanchthon als theologischer Gesprächspartner Luthers (1998): oben Nr. 1.
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die Kirche delegiert. Die ersten Schulen, lange Zeit die einzigen und jedenfalls die besten, waren mit den Domkapiteln und Klöstern verbunden. Die 1200 Jahre Schulgeschichte in Deutschland – nur von diesem Land werden wir im folgenden reden – ist von einer langsam fortschreitenden Übernahme des Bildungswesens durch den Staat begleitet. Die kirchliche Schulaufsicht wurde definitiv erst 1919 durch die Weimarer Verfassung abgeschafft. Doch ein Rest besteht noch immer im konfessionellen Religionsunterricht, um den die beiden privilegierten Kirchen gerade mit dem Bundesland Brandenburg einen Rechtsstreit austragen. Eine solche Situation wäre in den USA und in Frankreich, um nur zwei Beispiele zu nennen, nicht möglich2. In dieser Entwicklung zur Übernahme des Bildungswesens durch den Staat ist die Reformation des 16. Jahrhunderts ein markanter Meilenstein. Zwar blieb der kirchliche Charakter der Bildung unverändert, aber durch das landesherrliche Kirchenregiment übernahm der Staat mit der Fürsorge für die Kirche, der cura religionis, auch die Verantwortung für die Bildung. In den katholischen Ländern blieb zwar der überregionale Einfluss Roms erhalten, aber auch hier kümmerten sich die weltlichen Obrigkeiten schon seit vorreformatorischer Zeit um die Reform der Kirche, und die deutschen Bischöfe und Reichsäbte waren überdies staatliche Gewalten. Der Unterschied zwischen evangelischen und katholischen Territorien ist also nicht so erheblich, wie man zunächst annehmen sollte3. 1524 sah sich Luther veranlasst, an die deutschen Städte zu appellieren, christliche Schulen zu gründen und zu unterhalten. Ein großer Teil der Lateinschüler konnte bis dahin auf geistlichen Stellen unterkommen. Durch die Reformation war dieser Berufsweg in vielen Gegenden abgeschnitten. Eine reformatorische Alternative war noch nicht deutlich erkennbar; Luthers Schrift sollte ihrem Aufbau dienen. Als Programmschrift 2
TRE 6 (1980), 595–623 (Pierre RICHÉ; IVAR ASHEIM ). - TRE 18 (1989), 374–397 (Peter MORAW; Volker PRESS; Hanns KERNER). - TRE 19 (1990) 59–68 (Hans-Walter KRUMWIEDE), - EncRef 2 (1996), 19–28 (Jo Ann Hoeppner MORAN Cruz). - Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert, hrsg. v. Notker Hammerstein (1996). - Wolfgang HUBER, »Frömmigkeit und Bildung«. Melanchthon und das Schulfach Religion. In: Melanchthon neu entdeckt, hrsg. v. Stefan Rhein und Johannes Weiß (1997), 105–128. 3 Heribert SMOLINSKY, Kirchenreform als Bildungsreform im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Bildungs- und schulgeschichtliche Studien zu Spätmittelalter, Reformation und konfessionellem Zeitalter, hrsg. v. Harald Dickerhof (1994), 35–51. Monika FINK-LANG, Das Münchner Jesuitengymnasium und sein bildungsorganisatorischer Ort. In: Ebd. 221–240. - Anton LANDERSDORFER, Das Schulwesen im Bistum Freising im Spiegel des Visitationsberichtes von 1560. In: Ebd. 241–257. - Reinhard HEYDENREUTER, Die Protokolle der Zentralbehörden im Herzogtum Bayern im 16. Jahrhundert als schulgeschichtliche Quelle. In: Ebd. 295–301. - Helmut ENGELBRECHT, Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 2 (1983).
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bedient sie sich des Stilmittels der Verallgemeinerung und Übertreibung4. Tendenziell hatte Luther recht. Die Eltern verhielten sich marktkonform und schickten ihre Söhne verstärkt auf die deutschen Schulen, die es schon lange gab. Dort lernten sie Lesen, Schreiben und kaufmännisches Rechnen. Die Reformatoren haben auch den Lateinschülern wieder eine berufliche Zukunft gegeben und dadurch den Tod des humanistischen Gymnasiums um beinahe 500 Jahre aufgehalten. Nun gibt es zweifellos blühende humanistische Schulen, die in der Reformationszeit – aus unterschiedlichen Gründen – ihre Bedeutung verloren haben, etwa die in Münster5 und Schlettstadt6. Es gibt aber auch eine Anzahl hervorragender Schulen, die ohne merklichen Schaden ihren Unterricht über die Zeitenwende hinweg fortgesetzt und ihre vorlutherischen Reformen – nennen wir sie humanistisch – weitergeführt haben. Die badische Residenzstadt Pforzheim konnte eine gute, zeitweilig hervorragende Lateinschule vorweisen. Das Gebäude gehörte der Stadt. Der Schulmeister war aber nicht von ihr angestellt, sondern ein Privatunternehmer, der jährlich beim Stadtrat die Lizenz zum Betrieb der Schule beantragen musste. Er war für die Erhaltung des Schulhauses und die Disziplin der Schüler verantwortlich. Der bedeutendste Rektor, der jemals dort unterrichtete, war Georg Simler, Verfasser einer griechischen Grammatik. Seinetwegen ist nicht nur Melanchthon dorthin geschickt worden, sondern eine Anzahl hochbegabter, etwas älterer Mitschüler, die man heute noch kennt, weil sie später Hervorragendes geleistet haben. Simler und sein Kollege Hiltebrant, die beide noch sehr jung waren, gaben die Schultätigkeit nach etwa zehn Jahren auf, um ihre Universitätslaufbahn fortzusetzen, wie es üblich war. In Pforzheim erhielten sie bis 1531 fähige Nachfolger7.
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WA 15, 9–53, bes. 28. TRE 23 (1994), 409 mit 414 (Wolf-Dieter HAUSCHILD). 6 Francis RAPP, Die Lateinschule von Schlettstadt – eine große Schule für eine Kleinstadt. In: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hrsg. v. Bernd Moeller, Hans Patze und Karl Stackmann (1983), 215– 234. - Frédéric HARTWEG, Das »Bildungsangebot« in Schlettstadt in der zweiten Hälfte des XV. und im ersten Viertel des XVI. Jahrhunderts. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, hrsg. v. Ludger Grenzmann und Karl Stackmann (1984), 24–40. 7 Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Pforzheimer Schulzeit. Studien zur humanistischen Bildungselite (1989): Forschungsbeiträge (1996), 29–70. - Hans-Jürgen KREMER, „Lesen, Exercieren, Examinieren“. Die Geschichte der Pforzheimer Lateinschule (1997). - Reinhard P OHLKE, Melanchthon und sein Griechischlehrer Georg Simler – zwei Vermittler des Griechischen in Deutschland. In: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland, hrsg. v. Stefan Rhein, Armin Schlechter und Udo Wennemuth (1997), 39–61. 5
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In der Reichsstadt Nürnberg8 gab es an den beiden Hauptkirchen und am Heiliggeistspital jeweils eine Lateinschule, die der Aufsicht des Rats unterstand, dazu noch klösterliche Schulen. Die Ratsschulen sind ohne größeren Schaden über den Umbruch gekommen, die klösterlichen nicht. Der Rat war rechtzeitig auf Reformen bedacht. Schon 1496 erschien der Unterricht rückständig, so dass der Rat beschloss, eine sogenannte Poetenschule zu errichten, deren Leiter mit jährlich 100 Gulden bestens besoldet wurde. 1509 wurde sie geschlossen9. Die eingebürgerte Konkurrenz erwies sich als stabiler und hatte sich reformwillig gezeigt. An St. Lorenz unterrichtete ab 1499 der Humanist Sebastian Sperantius (ca. 1475–1525), der später kaiserlicher Sekretär und Bischof von Brixen wurde10. Sein Nachfolger wurde 1510 Johannes Cochlaeus (1479–1552), der nachmals bekannte Gegner Luthers und Melanchthons11. Dessen Nachfolger Johannes Ketzmann (1487–1542)12 amtierte von 1517 erfolgreich bis zu seinem Tod 1542. Er bildet den nahtlosen Übergang zur Reformation. Sein Sohn Peter (1521– 1570) studierte bei Melanchthon und wurde lutherischer Pfarrer in Augsburg und Amberg13. An der Lateinschule von St. Sebald war die Einführung der Reformation in Nürnberg 1525 mit der Absetzung des Schulmeisters verbunden, aber nicht, weil er altgläubig oder unfähig gewesen wäre, sondern weil er dem radikalen Flügel zuneigte und sich dort tatsächlich als Wiedertäufer profilierte: es ist der bekannte Spiritualist Hans Denck (ca. 1500–1527)14. Sein Nachfolger Sebald Heyden (1499–1561), ein bedeutender Musiker, hat dann die Schule wieder in ruhige Bahnen geleitet15. Das herausragende Beispiel einer Schule von höchster Qualität vor und während der Reformation finden wir in Kursachsen selbst. Die Wittenberger Reformatoren hatten damit nichts zu tun. In der reichen sächsischen Montanzentrale Zwickau gab es schon im 15. Jahrhundert eine gut besuchte Lateinschule16. Sie wurde von 1517 bis 1520 von Stephan Roth (1492– 8
Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt, hrsg. v. Gerhard Pfeiffer (1971). Ebd. 129 f. - Rudolf ENDRES, Das Schulwesen in Franken im ausgehenden Mittelalter. In: Studien zum städtischen Bildungswesen (wie Anm. 6), 173–214, bes. 182–184. 10 Hans RUPPRICH, Der Briefwechsel des Konrad Celtis (1934), 471 Anm. 1. - Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648. Ein biographisches Lexikon hrsg. v. Erwin GATZ (1996), 677 f. 11 MBW 11 (2003), 294. 12 Gerhard P FEIFFER, Quellen zur Nürnberger Reformationsgeschichte (1968), 10*. 13 MBW 12 (2005), 411. 14 LitLex 3 (1989), 25 (Christoph DEJUNG). - TRE 8 (1981), 488–490 (Werner O. P ACKULL). - LThK3 3 (1995), 93 (Gottfried SEEBASS). - EncRef 1 (1996), 469 f (Patrick HAYDEN-ROY). 15 MBW 12 (2005), 298. 16 Emil HERZOG, Geschichte des Zwickauer Gymnasiums (1869). 9
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1546)17 geleitet, der später der einflussreiche Stadtschreiber seiner Heimat Zwickau wurde. 1519 wurde eine weitere Schule errichtet, an der von dem Rektor Georg Agricola (1494–1555)18 und seinen Kollegen Johannes Rivius (1500–1553)19 und Hieronymus Nopp (ca. 1495–1551)20 Griechisch und Hebräisch gelehrt wurde. Das waren alles noch recht junge Leute, die durch ihre Lebensleistung bekannt geblieben sind, Agricola als Mineraloge und Montanwissenschaftler, Rivius als Schulorganisator, Nopp als Kirchenreformator. 1520 wurden die beiden Anstalten unter dem Rektorat des Georg Agricola zu einer Schule vereinigt. Rektor Leonhard Natter (1495– 1545)21, der von 1522 bis 1529 amtierte, publizierte 1523 die Schulordnung22. Sie wirbt schon in der Überschrift mit dem Angebot von Hebräisch und Griechisch. Natters Kollegen waren Rivius, Nopp und der nachmals namhafte Hebraist und Reformator Johannes Forster (1496-1556)23. Die Schule war in sechs Klassen geteilt, jede Klasse in Arbeitsgruppen von sieben Schülern. Der Unterricht dauerte von 6 bis 9 und von 12 bis 14 Uhr. Danach gab es fakultativ lateinische und deutsche Redeübungen, Freitags auch eine Musikstunde. Mittwoch morgens und samstags wurde repetiert. Mittwoch nachmittags durften die Schüler baden, spielen, springen, ringen und fechten. Auch wurde der mehrstimmige Gesang gepflegt. Sonntags wurde noch vor dem Gottesdienst, der um 7 Uhr begann, in der Bibel gelesen und das Evangelium erklärt. Nach der Nachmittagspredigt wurde wie schon mittwochs eine Komödie von Terenz oder Plautus rezitiert. Körperliche Strafen waren verboten; es gab nur Verweise, Degradierung und im äußersten Fall Relegation. Der Lehrplan begann mit Lesen und Schreiben, wobei Deutsch und Latein gleichzeitig geübt wurden. Schon im zweiten Schuljahr, das „fünfte Rotte“ (Quinta) genannt wurde, begann man mit dem Griechischen und mit dem Rechnen. In der Tertia kam das Hebräische hinzu. Sekunda und Prima waren zusammengefasst, so dass die Schule doch nur fünf Klassen hatte. Hier wurde das Alte Testament in drei 17
WAB 14 (1970), 317. - Inis ZÜRNER in: 500 Jahre Ratsschulbibliothek Zwickau (1998), 38–45 mit 64–66. 18 MBW 11 (2003), 39 f. 19 Günther W ARTENBERG, Landesherrschaft und Reformation (1988), 117–121. 20 EKO 13 (1966), 372 Anm. 20 (Lit.). 21 HERZOG (wie Anm. 16), 75 f. - Wilhelm HAMMER, Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte, 3 (1981), 328 (A 869 f). - MBW 1379, 1874, 4010. 22 Joh. MÜLLER, Die Zwickauer Schulordnung von 1523. Ein Beitrag zur Geschichte des dreisprachigen Unterrichts. In: Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 120 (1879), 476–486. 521–534. 602–612. 634. - Vor- und frühreformatorische Schulordnungen und Schulverträge in deutscher und niederländischer Sprache, hrsg. v. Johannes Müller, 2 (durchpaginierte) Bde. (1885 f), 244–261. - Georgius AGRICOLA, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Hans PRESCHER, Bd. 6 (1961), 40–56. 23 MBW 12 (2005), 76.
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Sprachen gelesen, ferner Homer, Euripides, Aristoteles, Plinius, Seneca. Der Stadtarzt unterrichtete die Anfangsgründe der Medizin, auch Ökonomie, Architektur, Kriegswesen und Jurisprudenz wurden angeboten. Dieser Schultyp ist unabhängig von Wittenberg in demselben Territorium entstanden. Melanchthon entwarf im Gegensatz dazu ein betont einfacheres Schulprogramm. Vor allem warnte er davor, die Kinder durch gleichzeitigen Unterricht in mehreren Sprachen zu überfordern24. 1524 und 1525 wurden im Umkreis Luthers zwei Lateinschulen errichtet, an deren Gründung Melanchthon beteiligt war. Noch im Jahr 1524 führte die erzbischöfliche, aber weitgehend selbständige Hansestadt Magdeburg die Reformation ein25. Superintendent wurde Nikolaus von Amsdorf, bisher Wittenberger Stiftsherr und Professor26, Rektor der neu gegründeten städtischen Lateinschule der 21-jährige Melanchthonschüler Caspar Cruciger27. In Luthers Geburtsstadt Eisleben gründeten die Grafen von Mansfeld 1525 eine Lateinschule28. Sie wurde von dem Stadtkind Johannes Agricola (1492/94–1566), der in Wittenberg mit dem eng befreundeten Melanchthon gleichzeitig bei Luther 1519 das theologische Bakkalaureat erworben hatte, geleitet29. Sein Kollege war Hermann Tulichius (1486-1540), ein früher Anhänger Luthers und Melanchthons unter den Wittenberger Dozenten30. Beide publizierten eine Schulordnung, die von Melanchthon stark beeinflusst oder vielleicht sogar verfasst ist31. In der Präambel ist der Bildungsoptimismus, den jeder Lehrer braucht, wenn er nicht an seiner Aufgabe verzweifeln will, klassisch formuliert: Videmus enim fere primae institutioni reliquam vitam respondere et tales evadere cives, quales a teneris puerilis disciplina finxit. „Wir sehen 24
Siehe unten nach Anm. 66. EKO 2 (1904), 445–450. - TRE 21 (1991), 683 (Wolfgang ULLMANN). 26 MBW 11 (2003), 67 f. 27 MBW 11 (2003), 320 f. 28 Siegfried BRÄUER, Die Gründung der christlichen Schule zu Eisleben 1525. In: Philipp Melanchthon und das städtische Schulwesen, hrsg. von der Lutherstadt Eisleben (1997), 81–96. 29 MBW 11 (2003), 41. 30 Hans VOLZ, Die Lutherpredigten des Johannes Mathesius (1930, Repr. 1971), 177. - GermSacra 1/3/2 (1941), 139 f. 31 Karl HARTFELDER Melanchthoniana paedagogica (1892), 1–6; Auszüge in deutscher Übersetzung bei Gerhard ARNHARDT und Gerd-Bodo REINERT [d. i. VON CARLSBURG], Philipp Melanchthon. Architekt des neuzeitlich-christlichen deutschen Schulsystems (1997), 208 f, entnommen aus Georg MERTZ, Das Schulwesen der deutschen Reformation im 16. Jahrhundert (1902), 458 f [das Gedicht am Ende der Schulordnung ist nicht von Eobanus Hessus, sondern von Euricius Cordus]. - Gerhard ARNHARDT, Das Curriculum für Eisleben (1525) – Auftakt für die Konstituierung des protestantischen Gelehrtenschulwesens. In: Philipp Melanchthon und das städtische Schulwesen (wie Anm. 28), 97–106. 25
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nämlich, dass der ersten Unterweisung das übrige Leben entspricht und solche Bürger herauskommen, wie sie im zarten Alter die kindliche Zucht bildete.“ Der wichtigste Grundsatz der Eislebener Schulordnung ist die Einteilung in Klassen. Die Schüler dürfen nicht überfordert werden, müssen deshalb auch davon abgehalten werden, sich ohne die erforderlichen Grundkenntnisse an schwierige Stoffe zu wagen. Diesen Grundsatz hat Melanchthon auch an der Universität immer wieder eingeschärft und gesetzlich verankert32. Lesen ist das erste Lernziel der Eislebener Elementarklasse. Die dafür verwendete Fibel ist selbstverständlich in lateinischer Sprache. Melanchthon hat 1524 eine solche Fibel publiziert, das »Enchiridion elementorum puerilium«33. Neun lateinische und fünf deutsche Ausgaben sind bekannt, die letzte 1534. Danach wurde offenbar der Bedarf durch andere gedeckt. Melanchthons Elementarbuch enthält nach einer frei formulierten Einleitung das ABC, das Vaterunser, das Ave Maria, das Glaubensbekenntnis, zahlreiche Bibeltexte, die Sprüche der Weisen und Gebete zu den Tageszeiten. Nach der Fibel wird die »Paedologia« des Petrus Mosellanus (1493–1524)34 durchgenommen, dann folgen die Sprüchesammlungen des Pseudo-Cato (3. Jh. n. Chr.)35 und des Laberius (106–43 v. Chr.)36 und Publilius Syrus (1. Jh. v. Chr.)37, die in Editionen des Erasmus seit 1514 mehrmals gedruckt wurden38. In der zweiten Klasse wird die Grammatik eingeübt. Gelesen und auswendig gelernt werden die Komödien des Terenz und Vergils Bucolica. Auch zeitgenössische Autoren, namentlich die Bucolica des Baptista Mantuanus (1463-1516)39, an denen der kleine Philipp Schwartzerdt Latein gelernt hatte40, sind erlaubt. Stilübungen in Vers und Prosa kommen hinzu.
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Satzungen von 1523, 1526 und 1545: UUW 1 (1926), 128 f, 146 f, 256 f [129 Zeile 4 ist dicendo statt discendo zu lesen]. 33 Supplementa Melanchthoniana 5/1 (1915), 20-56 mit 413 f, LII-LXVII und CXXVI-CXXVIII. 34 ContEras 2 (1986), 466 f (Michael ERBE). - B ONORAND, Personenkommentar IV (1988), 132–136. - LitLex 8 (1990), 235 f (Stefan RHEIN). 35 Dicta Catonis: Der neue Pauly, hrsg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider, 3 (1997), 534 f. 36 Der Kleine Pauly, hrsg. v. Konrat Ziegler und Walther Sontheimer, 3 (1979), 428 f. 37 Ebd. 4 (1979), 1239 f. 38 Opuscula aliquot: Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, hrsg. von P. S. ALLEN, 2 (1910), 1–3 Nr. 298. 39 LThK3 1 (1993), 1393 f (Martina NEUMEYER). 40 Alfons SCHÄFER, Geschichte der Stadt Bretten (1977), 261.
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In der dritten Klasse wird Dialektik und Rhetorik gelehrt. Das Lehrbuch ist »De duplici copia verborum ac rerum« von Erasmus41. Es ist bemerkenswert, dass Melanchthons eigene Lehrbücher in dieser von ihm verfassten oder inspirierten Schulordnung nicht vorgeschrieben werden. Vermutlich wurden sie dennoch herangezogen. Ganz im Sinne Melanchthons ist auch die gleich nach Dialektik und Rhetorik genannte Geschichte. Livius wird in Auswahl gelesen, Sallust gründlich interpretiert. Vergil wird fortgeführt; hinzu kommen Horaz und von Ovid die Metamorphosen, die Epistulae ex Ponto und die Tristien, also keine Liebeslyrik, die ja wohl auch heute noch eher vermieden wird. Von Cicero diejenigen Reden, die man verstehen kann, ferner die Officia, De amicitia (der Laelius) und De senectute. Stilübungen in Vers und Prosa sind nun wichtig. Zwei Tage in der Woche dienen der Korrektur der Aufsätze und der Lektüre zusätzlicher Autoren. Die besseren Schüler der dritten Klasse dürfen Griechisch lernen, einzelne auch Hebräisch. Doch warnt die Schulordnung vor einer Überforderung der Kinder. Dies betrifft auch den Mathematikunterricht und die anderen Fächer des Quadriviums. Nur wer im Trivium sicher ist, darf Mathematik lernen. Musik jedoch soll täglich eine Stunde geboten werden. Der Sonntag ist für die religiöse Unterweisung bestimmt. Die Evangelien, die Briefe des Paulus und die Sprüche Salomos werden möglichst einfach, ohne auf Streitfragen einzugehen, dargeboten. Das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote und einige Psalmen werden auswendig gelernt. 1524 fasste auch der Rat der Reichsstadt Nürnberg den Plan, zusätzlich zu den vorhanden Lateinschulen eine „obere Schule“, ein akademisches Gymnasium, zu gründen42. Melanchthon sollte dafür gewonnen werden. Dies gelang nicht, aber zur Beratung kam der Wittenberger Professor zweimal in die ihm vertraute Stadt, im September 1525 und zur Eröffnung im Mai 1526. Die Nürnberger Schule gilt als seine vornehmste Gründung. Dies betrifft vor allem das Niveau der Lehrer und des Lehrangebots. Es wurden nur solche Schüler aufgenommen, die schon an einer der üblichen Lateinschulen die Grammatik gründlich gelernt hatten43. In der dreiteiligen Schule, die wir soeben durch die Eislebener Ordnung kennengelernt haben, waren dies die beiden unteren Klassen. Die neue Schule sollte mit dem Stoff der obersten Lateinschulklasse beginnen und einer humanistisch 41
Desiderius ERASMUS ROTERODAMUS, Opera omnia, hrsg. v. Johannes CLERICUS (1703, Repr. 1961), Bd. 1, 3–110. - DERS., Opera omnia I,6 (1988). 42 Heinz SCHEIBLE: Melanchthon. Eine Biographie (1997), 45–49. - MBW 10 (1998), 341 (Lit.). 43 HARTFELDER (wie Anm. 31), 6–10; Auszüge in deutscher Übersetzung bei ARNHARDT und REINERT (wie Anm. 31), 209 f, entnommen aus MERTZ, a. a. O. 461 f.
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reformierten Artistenfakultät gleichkommen: Dialektik und Rhetorik, lateinische Klassiker und eigene Dichtungen, Griechisch, Mathematik und Musik wurden gelehrt, fakultativ auch Hebräisch. Von den Schülern werden wöchentlich schriftliche Übungen in Prosa und in Versen verlangt; regelmäßige Disputationen sind vorgesehen. Dafür gibt es vier planmäßige Professuren: für Dialektik und Rhetorik, für Dichtung, für Mathematik und für Griechisch. Hier ist das Klassensystem aufgegeben zugunsten eines stundenweise wechselnden Fachunterrichts. Gewonnen werden konnten Joachim Camerarius, damals Griechischprofessor in Wittenberg, als Rektor mit vielseitiger Lehrbefähigung44, der Dichter Helius Eobanus Hessus (1488–1540), bisher Professor in Erfurt45, als Mathematiker der Nürnberger Globusbauer Johannes Schöner (1477–1547)46, schließlich Michael Roting (1494–1588), der anscheinend wie Camerarius sowohl Griechisch als auch Dialektik vertrat47. Wer Musik und Religion unterrichtete, wird nicht gesagt. Außerplanmäßig wurde zumindest zeitweise auch Hebräisch angeboten, und zwar von Johannes Böschenstein, der kurze Zeit in Wittenberg gewirkt hatte48. Am 23. Mai 1526 war die feierliche Eröffnung. Melanchthon der seit dem 10. Mai in der Stadt weilte, hielt die Festrede49. Untergebracht wurde die Schule in dem Benediktinerkloster St. Egidien, das am 12. Juli 1525 vom Abt Johannes Pistorius und den 24 Mönchen der städtischen Almosenverwaltung übereignet worden war50. Der Rat warb mit Schulgeldfreiheit51. Aber der neue Schultyp, der gern als Ursprung des humanistischen Gymnasiums bezeichnet wird, hatte es schwer, sich zwischen den traditionellen Lateinschulen, die nun ebenfalls humanistisch reformiert 44
MBW 11 (2003), 253 f. MBW 12 (2005), 293 f. 46 Willibald Pirckheimers Briefwechsel, hrsg. v. Emil REICKE u. a., 2 (1956), 535 f Anm. 4; 3 (1989), 59 Anm. 2. - J. C. P OGGENDORF, Biographisch-literarisches Handwörterbuch der exakten Naturwissenschaften. VIIa (1971), 596 f. - Joachim T ELLE, Das Arzneibuch Johannes Schöners und seine mittelhochdeutschen Quellen: Centaurus 17 (1972), 119–141. - Dictionary of Scientific Biography, hrsg. v. Charles Coulston Gillispie,. 12 (1975), 199 f. - Wolf-Dieter MÜLLER-J AHNKE, Astrologisch-magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit (1985), 143 f. - Hans Gunther KLEMM, Der fränkische Mathematicus Johann Schöner (1477–1547) und seine Kirchehrenbacher Briefe an den Nürnberger Patrizier Willibald Pirckheimer (1992). - DBE 9 (1998), 92. 47 WAB 5, 401 Anm. 4 (Lit.). - Gerhard P FEIFFER, Die Vorbilder zu Albrecht Dürers „Vier Aposteln“ (1960), 15. 17 f. 48 MBW 11 (2003), 180 f. 49 MSA 3 (1961), 63–69; Übersetzung von Hermann LIND: Melanchthon deutsch, 1 (1997), 92–101. Datum: MBW 10 (1998), 341. 50 P FEIFFER, Quellen (wie Anm. 12), 436 f. 51 450 Jahre Melanchthon-Gymnasium Nürnberg (1976), 19–21. 45
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wurden und, wenn sie gut waren, in der dritten Klasse denselben Unterricht anboten, und den Universitäten zu behaupten. Ein Lateinschulabsolvent zog es meistens vor, sofort die Universität zu beziehen. Deshalb ist es konsequent, dass sich aus der Nürnberger Egidienschule die reichsstädtische Universität Altdorf entwickelte52. Ähnliches geschah mit dem 1539 unter dem Rektor Johannes Sturm (1507-1589)53 in Straßburg eröffneten Gymnasium. Die 1548 in Jena gegründete Hochschule erlangte schon knapp zehn Jahre später das begehrte Promotionsrecht und damit Universitätsrang54. Eine Lateinschule brauchte auch die unteren Klassen, wenn sie als solche überleben wollte. In Zwickau war eine solche Schule. In Straßburg können wir die Entwicklung von der kirchlichen zur staatlichen Schulträgerschaft und von Lateinschulen und biblischen Vorlesungen über ein Gymnasium zu einer Hochschule und schließlich Universität geradezu modellhaft beobachten, aber in der Zeitlupe55. Dass kirchliche Schulen in der Reformationszeit ohne Anlehnung an staatliche Gewalten keine Zukunft hatten, ist die Regel. Ausnahmen waren möglich, wenn die kirchlichen Träger wirtschaftlich und politisch unabhängig waren und natürlich von entsprechend fähigen Personen geleitet wurden. Dies war in einigen Klöstern der Fall, etwa in Heilsbronn,56 in Schlüchtern57 oder in Ilfeld durch Michael Neander58. Dauerhaften Erfolg hatten die Klosterschulen aber nur, wenn sie von der Landesherrschaft getragen wurden. Dies geschah erstmals und vorbildlich 1543 im albertinischen Sachsen unter der Leitung des einst in Zwickau tätigen Rivius59. Die württembergischen Nachfolger60 sind in Maulbronn
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TRE 2 (1978), 327–329 (Gerhard P FEIFFER). J.-F. COLLANGE, Philipp Melanchthon et Jean Sturm: Revue d'Histoire et de Philosophie Religieuses 66 (1988), 5–18. - LitLex 11 (1991), 272 f (Heinz HOLECZEK). EncRef 4 (1996), 122 f (Barbara Sher T INSLEY). 54 TRE 16 (1987), 559–563 (Eberhard H. P ÄLTZ). - Heinz SCHEIBLE, Melanchthon rettet die Universität Wittenberg (1998): unten Nr. 14. - Aufbrüche – 450 Jahre Hohe Schule Jena: Katalog zur Ausstellung, hrsg. von der Friedrich-Schiller-Universität. Jena (1998). 55 Anton SCHINDLING, Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538-1621 (1977). 56 Karl J ORDAN, Reformation und gelehrte Bildung in der Markgrafschaft AnsbachBayreuth, 1. Teil (1917), 315–318. 57 Werner KATHREIN, Die Bemühungen des Abtes Petrus Lotichius (1501–1567) um die Erneuerung des kirchlichen Lebens und die Erhaltung des Klosters Schlüchtern im Zeitalter der Reformation (1984). 58 LitLex 8 (1990), 340 (Heinz SCHEIBLE). 59 Ernst SCHWABE, Das Gelehrtenschulwesen Sachsens von seinen Anfängen bis zur Schulordnung von 1580 (1914), 67–91. - Friedrich P AULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 1 (31919, Repr. 1960), 298–302. - Heinz-Werner W OLLERSHEIM , Philipp 53
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und Blaubeuren noch immer in Betrieb, wenn auch stark verändert. Melanchthon hatte mit der Gründung der sächsischen Klosterschulen nichts zu tun. Erst als er nach dem Schmalkaldischen Krieg derselben Regierung unterstand, wurde er um Rat gefragt61, und 1554 hat er die Schulen in Grimma, Meißen und Pforta zusammen mit seinem Leipziger Kollegen und Freund Joachim Camerarius visitiert, 1557 auf der Reise zum Wormser Religionsgespräch noch einmal Pforta62. Melanchthons Einfluss auf das Schulwesen der Reformationszeit erfolgte weniger durch seine persönliche Anwesenheit als durch seine Lehrbücher und durch seine Schüler, sodann aber auch dadurch, dass seine Ideen Gesetzeskraft erlangten, 1528 für Kursachsen, in Abhängigkeit davon auch in zahlreichen anderen Territorien und Städten63. Das Gesetz von 1528 wird in der Forschung oft als „Kursächsische Schulordnung“ bezeichnet. Dies ist irreführend, denn es handelt sich nicht um eine selbständige Schulordnung, sondern um ein Kapitel aus dem »Unterricht der Visitatoren«, einer Kirchenordnung. Soweit die reformatorischen Schulordnungen allgemeine Geltung hatten, nicht nur für eine bestimmte Schule, sind sie Bestandteil einer Kirchenordnung. Dies entspricht der Rechtslage. Die kirchliche Schulaufsicht bestand bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts64. Kurfürst Johann der Beständige, mitten im Bauernkrieg zur Regierung gelangt, ließ, gedeckt durch den Beschluss des Speyrer Reichstags 152665, ab 1527 flächendeckende Kirchen- und Schulvisitationen durchführen, zuerst im südlichen Thüringen, im Saale- und Orlatal. Theologischer Visitator war Melanchthon66. Er hatte den Bildungsstand der Pfarrer und Lehrer zu prüfen. Die Verwaltungsleute stellten die Dotierung der Pfarreien fest und brachten notfalls durch Zusammenlegung das Vermögen auf eine auskömmliche Höhe. Die dabei gewonnenen Erfahrungen fasste Melanchthon im Auftrag des Kurfürsten in einem Lehrbuch zusammen, dem genannten »Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherren im Kurfürstentum Melanchthon und die Organisation des protestantischen Schulwesens in Sachsen. In: Philipp Melanchthon und das städtische Schulwesen (wie Anm. 28), 49–80. 60 Hermann EHMER, Der Humanismus an den evangelischen Klosterschulen in Württemberg. In: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts, hrsg. v. Wolfgang Reinhard (1984), 121–133. 61 MBW 5614. 62 MBW 10 (1998), 659 und MBW 8314; vgl. MBW 8029, 8664, 8671, 9263, 9384. 63 TRE 18 (1989), 698 (Anneliese SPRENGLER-RUPPENTHAL). - Heinz SCHEIBLE, Die Verfasser der kurpfälzischen Schulordnung von 1556 (1991): Forschungsbeiträge (1996), 507–516. - EncyRef 4 (1996), 20 f (Gerald STRAUS). - W OLLERSHEIM (wie Anm. 59). 64 TRE 20 (1990), 209–230 (Gerhard B ESIER). 65 TRE 28 (1997), 460 f mit 468 f (Armin KOHNLE). 66 MBW Nr. 558; MBW 10 (1998), S. 353–355, 367–369, 418, 421.
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Sachsen«, das von Luther mit einer Vorrede versehen wurde und als amtliche Ordnung erstmals 1528 im Druck erschien67. Unser Thema betrifft nur das berühmte Schlusskapitel „Von Schulen“. Hierin werden die Prediger verpflichtet, bei den Eltern für den Besuch einer Lateinschule zu werben. Um Prediger zu werden, genüge jedenfalls die deutsche Sprache nicht. Wer andere unterrichten solle, müsse selbst gründlich und lange ausgebildet sein. Hier wird der Grund zur Hochschulausbildung der evangelischen Pfarrer gelegt. Für die Messpriester des Mittelalters genügte notfalls das formelhafte Latein der Liturgie, um eine Pfründe zu erlangen. Aber auch für die weltlichen Regierungsämter verlangte Melanchthon eine solide Bildung. Um die vorhandenen Missstände in den Schulen abzustellen, genügten ihm drei Verordnungen: Erstens sollten die Schulmeister mit den Kindern nur eine einzige Sprache sprechen, nämlich Latein, nicht Deutsch, und erst recht nicht mit Griechisch und Hebräisch beginnen. Dies sei nicht nur zwecklos, sondern für die Kinder schädlich. Melanchthon sieht darin, „dass solche Schulmeister nicht der Kinder Nutz bedenken, sondern um ihres Ruhmes willen so viele Sprachen vornehmen.“ Vermutlich hat er dabei an Zwickau gedacht. Zweitens fordert Melanchthon, dass wenige Autoren gründlich durchgenommen werden. „Man soll die Kinder nicht mit viel Büchern beschweren, sondern in alle weg [= auf jeden Fall] Mannigfaltigkeit fliehen.“ Drittens soll die gleichzeitige Unterrichtung von Kindern unterschiedlichen Kenntnisstandes in einer Klasse abgeschafft werden. Im gleichen Jahr 1528, in dem Melanchthons Unterricht der Visitatoren erschien, wurde Bugenhagen (1485–1558)68 als Reformator in die Stadt Braunschweig berufen und verfasste eine Kirchenordung, die in der Folge für Norddeutschland und Dänemark vorbildlich wurde69. Er verweist darin ausdrücklich auf Melanchthons »Unterricht« und übernimmt die Dreiteilung der Klassen. Anders als Melanchthon befasste er sich auch mit deutschen Schulen. Zwei Knabenschulen fand er vor. Er verlangte die Einrichtung von vier Mädchenschulen, in jedem Stadtteil eine, damit die Mädchen in dieser großen Stadt nicht zu weit gehen mussten. Sie sollten dort nur zwei Stunden am Tag unterrichtet werden, die übrige Zeit im elterlichen Haushalt. In der Schule lernten sie außer Lesen und Schreiben die gängigen Gebete und die Grundlagen der Religion70.
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Martin Luther Studienausgabe 3 (1983), 402–462. Hier S. 405 die älteren Editionen, dazu EKO 1 (1902), 402–462 mit 36–40; Auszüge bei ARNHARDT und REINERT (wie Anm. 31), 213–218. 68 MBW 11 (2003), 234 f. 69 TRE 18 (1989), 679 f (Anneliese SPRENGLER-RUPPENTHAL). 70 EKO 6/1 (1955), 362–371.
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Bugenhagen hat gemeinsam mit Luther auch in Wittenberg dafür gesorgt, dass eine Mädchenschule neu gebaut wurde. Geleitet wurde sie von einem männlichen Schulmeister, der von dem Küster unterstützt wurde. Dies ist nicht selbstverständlich, denn meistens wurden die Mädchen von Frauen unterrichtet. Die Wittenberger Mädchenschule war eine Ganztagsschule. Dort lernte man außer Lesen und Schreiben auch Rechnen und Singen, natürlich auch Religion71. Die Wittenberger Knabenschule wurde von einem Magister geleitet, der drei Helfer hatte. Sie war in drei Klassen eingeteilt, wie es von Melanchthon vorgesehen war72. Dessen Ideen wurden auch in der Mecklenburgischen Kirchenordnung von 1552 aufgegriffen, die ihrerseits vorbildlich wurde für etliche andere Kirchenordnungen73. Verfasst hat sie Melanchthons Meisterschüler Johannes Aurifaber aus Breslau (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Luther-Editor, der aus Weimar stammte)74. Melanchthon nahm die Revision vor. Wie sein »Unterricht« erwähnt die Mecklenburger Ordnung keine deutschen Schulen, also auch keine Mädchenschulen. Die Lateinschule darf in großen Städten vier Klassen haben, wobei in der vierten Klasse mit Griechisch begonnen werden soll75. Die von Johannes Brenz (1499–1570)76 verfasste große Württembergische Kirchenordnung von 1559 sieht sogar fünf Klassen vor77. Die deutschen Schulen nehmen (wie anderswo)78 auch Mädchen auf, die aber separat sitzen sollen79. Größeren Einfluss als durch diese zufälligen Aktivitäten, selbst wenn die Ordnungen gedruckt wurden, übte Melanchthon durch seine Schulbücher aus. Für alle Schulfächer hat er Lehrbücher verfasst, auch für die meisten Lehrstoffe der Universität80. Melanchthons Grammatiken der grie71
EKO 1 (1902), 705 f. - Siegrid W ESTPHAL, Reformatorische Bildungskonzepte für Mädchen und Frauen – Theorie und Praxis. In: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, hrsg. v. Elke Kleinau und Claudia Opitz, 1 (1996), 135–151 mit 490 f. 72 EKO 1 (1902), 706 f. 73 TRE 18 (1989), 673 (Anneliese SPRENGLER-RUPPENTHAL). - SCHEIBLE (wie Anm. 63). 74 MBW 11 (2003), 98. 75 EKO 5 (1913), 211–217. 76 MBW 11 (2003), 214 f. 77 Württembergische Große Kirchenordnung 1559 (Facsimile Stuttgart 1958), Bl. 121–132. - Ohne die Schulordnung: EKO 16 (2004), 54–60, 344–419. 78 ENDRES (wie Anm. 9), 200 f. 79 Kirchenordnung (wie Anm. 77), Bl. 192–196. 80 Jürgen LEONHARDT Melanchthon als Verfasser von Schulbüchern. In: Philipp Melanchthon und das städtische Schulwesen (wie Anm. 28), 147–159. - Melanchthon und das Lehrbuch des 16. Jahrhunderts, hrsg. v. Jürgen Leonhardt (1997); erweitert in: Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 13 (1998), 26–47. Heinz SCHEIBLE, Melanchthon als akademischer Lehrer (1997): oben Nr. 5.
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chischen und lateinischen Sprache, seine Lehrbücher der Dialektik und Rhetorik, die er in immer besserer Gestalt publizierte, fanden weite Verbreitung. Als die Jesuiten ihr gegenreformatorisches Schulwesen aufbauten, mussten sie anfänglich auf Lehrbücher Melanchthons zurückgreifen, weil eigene noch nicht zur Verfügung standen. Petrus Canisius (der Melanchthon persönlich kannte) ordnete an, dass dann wenigstens der Verfasser unkenntlich gemacht wurde. Denn wenn auch der Inhalt einer Grammatik dem Katholiken unanstößig sei, so könnte er durch die Güte der Darbietung Zutrauen zu dem Autor gewinnen und ihm auch in seinen anderen, theologischen Büchern Glauben schenken81.
II. Hochschulen und Universitäten Eine Universität zeichnet sich dadurch aus, dass sie Grade verleihen kann, die international anerkannt sind82. Die Fähigkeit dazu konnten nur der Papst und der Kaiser erteilen. Im Zusammenhang mit der Neugründung Königsberg83 wurde zwar von Melanchthon und anderen die Auffassung vertreten, dass philosophische und theologische, nicht aber juristische und medizinische Grade auch durch die evangelische Kirche erteilt werden könnten. Doch es nützte dem Promovierten nichts, wenn er diese Grade im Ausland nicht führen durfte. Auch heute ist die Anerkennung von akademischen Graden vom Staat abhängig. Die in gewissen Ländern erworbenen Titel dürfen in Deutschland nicht geführt werden. Der Erwerb von Graden ist zu allen Zeiten an satzungsgemäße Vorleistungen gebunden. Die viel zitierte Krise der Universitäten zu Beginn der Reformation bestand nun darin, dass die satzungsgemäßen Studiengänge und Abschlüsse nicht mehr der durch Reformen veränderten Wirklichkeit des Lehrbetriebs und den Kenntnissen und Interessen der Studenten entsprach84. Neue Ordnungen zu erlassen, braucht Zeit und Mehrheiten unter den Entscheidungsträgern. Bis dahin waren die bestehenden Universitäten zur Ausbildung evangelischer Prediger und Lehrer nicht geeignet. Die erste Universität, die hier Abhilfe schuf, war Wittenberg, zunächst 1523 unter Melanchthons Rektorat für die Artistenfakultät. Weitere Schritte erfolgten 1526 81
Jos VERCRUYSSE, Die ersten Jesuiten und Melanchthon. In: Der Theologe Melanchthon, hrsg. v. Günter Frank (2000), 393–409. 82 Rainer A. MÜLLER, Geschichte der Universität (1990). - Geschichte der Universität in Europa, hrsg. v. Walter Rüegg, Bde. 1–2 (1993–1996). 83 Iselin GUNDERMANN, Die Anfänge der Albertus-Universität zu Königsberg. In: Herbergen der Christenheit 19 (1995), 91–106. - Heinz SCHEIBLE, Georg Sabinus (15081560). Ein Poet als Gründungsrektor (1995): Forschungsbeiträge (1996), 533–547. 84 Heinz SCHEIBLE, Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform (1996): oben Nr. 7.
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unter dem neuen Kurfürsten Johann dem Beständigen. 1533 erhielt die theologische Fakultät neue Statuten, die Melanchthon verfasste, und nahm die ersten Doktorpromotionen nach evangelischen Grundsätzen vor. Kurfürst war nun Johann Friedrich der Großmütige, der 1536 die neue Grundordnung erließ, durch welche die Umwandlung der schon auf Reformen angelegten Gründung seines Onkels Friedrich des Weisen vollendet wurde85. Wittenberg konnte die Prüfungsordnung verändern; das kaiserlich und päpstlich verliehene Promotionsrecht blieb davon unberührt. Wer dieses Recht nicht hatte und eine Ausbildungsstätte für evangelische Prediger und Lehrer errichten wollte, konnte allenfalls beim Kaiser Gehör finden, wenn auch nicht ohne Gegenleistung. Landgraf Philipp von Hessen erlangte durch den Geheimvertrag von Regensburg 1541, durch den er zwar seinen Kopf aus der Schlinge der Doppelehe rettete, aber sich und dem Schmalkaldischen Bund das Grab schaufelte, auch die Anerkennung seiner 1527 in Marburg gegründeten Hochschule als Universität86. Als Jena 1558 nach zehn Jahren durch Kaiser Ferdinand die Anerkennung als Universität erhielt, war der Augsburger Religionsfriede in Kraft; es bestand kein Grund, einem Reichsfürsten Augsburgischen Bekenntnisses dieses Privileg zu verweigern87. Den Eidgenossen blieb die Möglichkeit einer Verständigung mit dem Kaiser versagt, denn sie waren seit 1499 faktisch aus dem Reich ausgeschieden. In Basel gab es eine vorreformatorische Universität. Als 1529 in der Stadt die Reformation zum Siege kam, stellte sie den Lehrbetrieb ein. Erst 1532 wurde sie neu eröffnet88. So kam es, dass in Zürich am Großmünster 1525 eine evangelische Bildungsstätte errichtet wurde, die das Niveau einer Hochschule erlangte, aber niemals den Rang einer Universität erhielt. Es ist das berühmte Prophezey, auch Lectiones publicae, schweizerisch Lezgen genannt. Sie war in der Reform des Stiftes St. Felix und Regula schon im September 1523 vorgesehen89. 85
Heinz SCHEIBLE, Gründung und Ausbau der Universität Wittenberg (1978): Forschungsbeiträge (1996), 353–369. - Helmar J UNGHANS, Martin Luther und Wittenberg (1996). - Martin Luther und seine Universität, hrsg. v. Heiner Lück (1998). 86 TRE 22 (1992), 68–75 (Hans SCHNEIDER). - LThK3 6 (1997), 1295 f (Jürgen PETERSOHN). - Roderich SCHMIDT, Die kaiserliche Bestätigung der Marburger Universitätsgründung von 1527 durch Karl V. 1541. In: DERS., Fundatio et confirmatio universitatis (1998), 325*–348*. 87 Siehe oben Anm. 53. 88 TRE 5 (1980), 278–283 (Max T RIET). - LThK3 2 (1994), 52 (Pierre Louis SURCHAT). 89 Urs Martin ZAHND, Lateinschule – Universität – Prophezey. In: Bildungs- und schulgeschichtliche Studien (wie Anm. 3), 91–115. - EncRef 4 (1996), 316 f (J. Wayne B AKER).
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Ein mittelalterlicher Vorläufer dieser Einrichtung zur theologischen Weiterbildung der Kleriker waren die theologischen Lektorate, die seit dem IV. Laterankonzil 1215 an allen Metropolitankapiteln, seit dem Basler Konzil 1448 an allen Domkapiteln eingerichtet und mit einem Doktor oder zumindest Baccalaureus der Theologie besetzt werden sollten90. Solche Lektorate gab es dann auch in lutherischen Städten. Ich erinnere nur an die Lutherschüler Johannes Aepinus (1499–1553) in Hamburg91 und Hieronymus Weller (1499–1572) in Freiberg in Sachsen92. Die Zürcher Bibelschule entwickelte sich zu einer Lehr- und Forschungsstätte von hohem Niveau, an der so große Bibelgelehrte wie Ulrich Zwingli (1484–1531)93, Leo Jud (1482–1542)94, Caspar Megander (1495–1545)95, Heinrich Bullinger (1504–1575)96, Theodor Bibliander (ca. 1504–1564)97 wirkten und zahllose reformierte Prediger ausbildeten. Auch die reformierte Bibelübersetzung ist hier entstanden, noch mehr ein Teamwork als die Wittenberger Lutherbibel98. Nach dem Vorbild Zürichs gründete Bern 1528 gleichzeitig mit der Einführung der Reformation eine Hochschule99. An ihr lehrte von 1548 bis 1563 der grundgelehrte Wolfgang Musculus100. Gleich nachdem die Berner das Waadtland erobert hatten, gründeten sie 1537 in Lausanne eine philosophisch-theologische Hochschule mit vier Lehrstühlen: Philosophie, Hebräisch, Griechisch, Theologie101. 1549 verlieh ihr Beza (1519–1605)102 für zehn Jahre höchstes Ansehen. Dann gingen die strengeren Calvinisten nach Genf, wo 1559 eine Hochschule mit denselben vier Professuren wie in Lausanne und eine siebenklassige Lateinschule nach dem Vorbild der Straßburger des Johannes Sturm gegründet wurden103. Später gab es auch 90
Albert WERMINGHOFF, Verfassungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittelalter ( 1913), 149. - Rainer POSTEL, Die Reformation in Hamburg 1517–1528 (1986), 69 f. 91 MBW 11 (2003), 38. 92 WA 60 (1980), 32 f Anm. 31 (Lit.). 93 Thomas KAUFMANN, Reformatoren (1998), 53–56 (Lit.). 94 LitLex 6 (1990), 147 f (Heinz HOLECZEK). - LThK3 5 (1996), 1022 f (Kaspar V. GREYERZ). - EncRef 2 (1996), 356 (J. Wayne B AKER). 95 LThK3 7 (1998), 64 (Burkhard NEUMANN). 96 MBW 11 (2003), 238 f. 97 MBW 11 (2003), 157 f. 98 Traudel HIMMIGHÖFER, Die Zürcher Bibel (1995). 99 TRE 5 (1980), 638–642 (Andreas LINDT). - LThK3 2 (1994), 263 f (Pierre Louis SURCHAT). 100 Wolfgang Musculus (1497–1563) und die oberdeutsche Reformation, hrsg. v. Rudolf Dellsperger, Rudolf Freudenberger, Wolfgang Weber (1997). 101 TRE 20 (1990), 502–506 (Carl-A. KELLER). 102 MBW 11 (2003), 157. 103 LThK3 4 (1995), 459 (Markus RIES). - EncRef 2 (1996), 163 f (Jeannine E. OLSON). 2
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einen juristischen Lehrstuhl, der mehrmals hochrangig besetzt werden konnte104. Das universitäre Promotionsrecht hat Genf bis zum 19. Jahrhundert so wenig wie die anderen eidgenössischen Bildungsstätten erlangen können. Anders die Reichsstadt Straßburg. Nachdem unter dem Einfluss des Lutherschülers Johannes Marbach (1521–1581)105 das nunmehr reichsrechtlich anerkannte Luthertum bestimmend geworden war, konnte 1566 von dem protestantenfreundlichen Kaiser Maximilian II. das Privileg einer Akademie erlangt werden, die 1621 zur Universität erhoben wurde106. Diese Chance hatten reformierte Territorien weiterhin nicht. So hervorragende Hochschulen wie Herborn in Nassau-Dillenburg, 1584 unter der Leitung des Caspar Olevian nach Genfer Muster gegründet107, oder das Gymnasium illustre im anhaltischen Zerbst108, blieben landesherrliche Bildungsstätten ohne kaiserliche Bestätigung. Der erste Zerbster Rektor wurde 1581 der grosse Philologe und Dichter Gregor Bersmann (1538– 1611), der aus seiner kursächsischen Heimat vertrieben wurde, weil er die Konkordienformel nicht unterzeichnete109. Nach dreissig Jahren, 1611, erhielt er einen in der Wolle gefärbten Calvinisten als Nachfolger, den 28jährigen Markus Friedrich Wendelinus, der in 40-jähriger Amtszeit Lehrbuch über Lehrbuch schrieb und noch heute als reformierter Normaldogmatiker gilt. Er wurde 1584 als Sohn des Pfarrers von Sandhausen bei Heidelberg geboren110, verkörpert also wie der Politiker Christian von Anhalt (1568–1630)111 die enge Zusammenarbeit der reformierten Reichsstände Kurpfalz und Anhalt. Die Kurpfalz war durch den Heidelberger Katechismus von 1563 die Mutter des Reformiertentums in Deutschland und hat sich in den Jahren danach immer mehr zu einem calvinistischen Territorium entwickelt. Ihre Universität Heidelberg war schon 1386 gegründet worden. Deren Privilegien erlaubten eine Anpassung an die konfessionellen Bedürfnisse. In der
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Namentlich der neuerdings bestens erforschte Lambert Danaeus (ca. 1530–1595): LThK3 3 (1995), 8 (Michael B ECHT). - Christoph STROHM , Ethik im frühen Calvinismus (1996). 105 TRE 22 (1992), 66–68 (James M. KITTELSON). - EncRef 3 (1996), 1 f (James M. K ITTELSON). - LThK3 6 (1997), 1294 (Bernard VOGLER). 106 SCHINDLING (wie Anm. 55), 105, 159–161. 107 TRE 15 (1986), 66–69 (Karl DIENST). 108 Franz MÜNNICH, Geschichte des Gymnasium illustre zu Zerbst 1582–1798 (1960). 109 LitLex 1 (1988), 473 (Wilhelm KÜHLMANN). 110 Reinhart STAATS, Markus Wendelin – ein Universalgelehrter aus Sandhausen. In: Heimatbuch der Gemeinde Sandhausen (1986), 277–285. 111 Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte. Studienausgabe. 1 (1995), 451–453. - DBE 2 (1995), 317.
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Kurpfalz geschah dies relativ spät, 1556112. Die alten Universitäten Rostock in Mecklenburg113, Greifswald in Pommern114, Frankfurt an der Oder im Kurfürstentum Brandenburg115 und Leipzig im albertinischen Sachsen116 waren vorangegangen. Vorbild für alle war mehr oder weniger Wittenberg117. Doch ist die Vorstellung, Melanchthon sei der allgegenwärtige Universitäts- und Schulreformator gewesen, irrig. Zuweilen wurde er um Gutachten gebeten. Die Arbeit vor Ort machten die zuständigen Professoren und Räte. Nicht selten waren sie seine Schüler gewesen. Wichtiger und nachhaltiger war der Einfluss, den seine jeweils freiwillig rezipierten Lehrbücher ausübten. Sie deckten nahezu alle Fächer ab118. Die Wittenberger Universitätsreform ist die erste umfassende und vorbildliche der Reformationszeit. Diese Behauptung soll nicht bedeuten, dass zuvor nicht reformiert worden wäre. Wir unterscheiden zwei Arten von Reform: die Ergänzung des traditionellen scholastischen Stellenplans durch neue Fächer aus dem Bereich der alten Sprachen, der Poesie, Geschichte, Mathematik und Medizin. Dies nennen wir die humanistische Reform. Sie fand auch an deutschen Universitäten schon im 15. Jahrhundert statt, in Wien119 – ich erinnere an die Mathematiker Peurbach (1423–1461)120 und Regiomontan (1436–1476)121 und an den Humanisten Celtis (1459–1508)122 –, in Ingolstadt123 und Erfurt124, in Heidelberg125 und 112
Heinz SCHEIBLE, Reformation und Calvinismus. In: Kurpfalz, hrsg. v. Alexander Schweickert (1997), 177–192. - Eike W OLGAST, Reformierte Konfession und Politik im 16. Jahrhundert (1998). 113 Thomas KAUFMANN, Universität und lutherische Konfessionalisierung (1997). 114 TRE 14 (1985), 209–212 (Hans Georg T HÜMMEL). - Roderich SCHMIDT, Fundatio et confirmatio universitatis (1998). 115 TRE 11 (1983), 335–342 (Gerd HEINRICH). 116 TRE 20 (1990), 721–729 (Günther W ARTENBERG). 117 Siehe oben Anm. 83 f. Zuletzt Martin T REU, Die Leucorea zwischen Tradition und Erneuerung. In: Martin Luther und seine Universität (wie Anm. 85), 31–51. Ebd. S. 51 wird meine Analyse verfälscht referiert. Es kam und kommt mir darauf an, die Bedeutung der humanistischen Universitätsreformen hervorzuheben, und „dass Luthers Versuch einer Reform der theologischen Fakultät weitgehend wirkungslos blieb“, habe ich nicht geschrieben, denn dies widerspräche dem historischen Befund. Doch dauerte es etwas länger, als gemeinhin angenommen wird. 118 Siehe oben Anm. 79. 119 Lit. siehe in: Bildungs- und schulgeschichtliche Studien (wie Anm. 3), 54 Anm. 4. - Geschichte der Universität in Europa (wie Anm. 82), Bd. 1, 403. 120 LitLex 9 (1991), 135 (Helmuth GRÖSSING). 121 LitLex 9 (1991), 334-336 (Fritz KRAFFT). - Menso FOLKERTS, Johannes Regiomontanus – Algebraiker und Begründer der algebraischen Symbolik. In: Rechenmeister und Cossisten der frühen Neuzeit, hrsg. v. Rainer Gebhard (1996), 19–28. - Rudolf METT, Regiomontanus. Wegbereiter des neuen Weltbildes (1996). 122 LitLex 2 (1989), 395–400 (Dieter W UTTKE). - Dieter W UTTKE, Conradus Celtis Protucius. In: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit, hrsg. v. Stephan Füssel (1993), 173–
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Tübingen126, ja sogar in Leipzig127 und Köln128. Aber alle diese Humanisten waren zusätzlich zu den traditionellen Professoren angestellt und in der Regel schlechter besoldet und gesellschaftlich nachgeordnet, was je nach Temperament des Betroffenen zu spektakulären Streitigkeiten führen konnte, die deutlich machen, wer an der Universität das Sagen hatte, nämlich nicht der Humanist. Dennoch ist die Offenheit für die neuen Fragestellungen und Lehrinhalte ein erster Schritt hin zu der grundlegenden Erneuerung in der Reformationszeit129. Sie wurde möglich, aber dann auch notwendig durch den Zusammenbruch des traditionellen scholastischen Systems. Diese Reform wurde in Wittenberg in den Jahren 1523 bis 1536 durchgeführt. Die Reform des Jahres 1518, die so oft mit Luthers Reformation in Verbindung gebracht wird, hat damit nichts zu tun, sondern gehört in den Zusammenhang der humanistischen Reformen. Das entscheidende Kriterium dafür ist die Tatsache, dass das scholastische Lehrangebot unangetastet blieb und nur um humanistische Fächer erweitert wurde, die aber keine Verankerung in den Prüfungsordnungen hatten. Die Artistenfakultät bekam damals, 1518, zu den vorhandenen elf Lehrstühlen noch sieben weitere130. Davon hatten nur zwei Bestand, die für Griechisch und Hebräisch, das zentrale Desiderat einer humanistischen Universitätsreform. Aber auch sie wurden später in die elf Planstellen eingebracht, mit denen diese Fakultät auch nach der
199. - LexThK3 2 (1994), 988 f (Dieter W UTTKE). - Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, hrsg. v. Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand (1997), 11–137 mit 920–1019. 123 TRE 16 (1987), 154–156 (Georg SCHWAIGER). – EncRef 2 (1996), 315–317 (Ulrich Michael KREMER). 124 Erich KLEINEIDAM , Universitas Studii Erffordensis, 3 Bde. (21985–1992). - Erfurt 792-1992, hrsg. v. Ulman Weiß (1992). - Erfurt. Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. Ulman Weiß (1995). 125 TRE 14 (1985), 574–581 (Gustav Adolf B ENRATH). - EncRef 2 (1996), 216 f (Gottfried SEEBASS). 126 Theologen und Theologie an der Universität Tübingen, hrsg. v. Martin Brecht (1977). - 500 Jahre Tübinger Rhetorik – 30 Jahre Rhetorisches Seminar, hrsg. v. Joachim Knape (1997). 127 Max STEINMETZ, Die Universität Leipzig und der Humanismus. In: Alma Mater Lipsiensis, hrsg. v. Lothar Rathmann (1984), 33–54. 128 Erich MEUTHEN, Kölner Universitätsgeschichte, 1 (1988). - TRE 19 (1990), 301– 305 (Willehad Paul ECKERT). 129 Notker HAMMERSTEIN, Humanismus und Universitäten. In: Die Rezeption der Antike, hrsg. v. August Buck (1981), 23–39. - James H. OVERFIELD, Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany (1984). - Humanismus im Bildungswesen (wie Anm. 60). - Der Humanismus und die oberen Fakultäten, hrsg. von Gundolf Keil, Bernd Moeller und Winfried Trusen (1987). 130 UUW 1 (1926), 85 f Nr. 64.
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Reform von 1536 auskommen musste und ganz gut konnte. Nur waren diese elf Stellen ganz anders definiert als zwanzig Jahre zuvor131. Gab es damals vier Kurse für Logik und zwei für Naturphilosophie, so wurde diese Zahl halbiert: 1536 war Dialektik, Rhetorik und Physik vorgesehen. Bald danach wurden Dialektik und Rhetorik zusammengefasst und die Physik doppelt besetzt. Die Sprachen wurden 1516 durch einen grammatikalischen Grundkurs und einen für lateinische Dichtung abgedeckt. Ab 1518 gab es die höchst dotierten Lehrstühle für Griechisch und für Hebräisch, die beiden für Grammatik und Dichtung blieben bestehen. Hinzu kam eine Stelle am Pädagogium, die ebenfalls der lateinischen Sprache zuzurechnen ist. Weil der Lehrstuhl für Griechisch 1525 neu besetzt wurde und Melanchthon dennoch weiterhin griechische Texte interpretierte, war diese Sprache in Wittenberg ungewöhnlich gut vertreten. Die Moralphilosophie ist geblieben, wurde aber nicht besetzt, sondern von Melanchthon mit Vorlesungen über Cicero und Aristoteles abgedeckt, ebenfalls eine Verstärkung des Griechischunterrichts. Die alte Metaphysik-Vorlesung ist 1525 abgeschafft worden. Mathematik war bei der Gründung nicht vorgesehen. 1514 wurde ein Lehrstuhl errichtet, 1536 zwei, die mit den Kopernikanern Georg Joachim Rheticus (1514–1574)132 und Erasmus Reinhold (1511–1553)133 hervorragend besetzt werden konnten. Für Medizin gab es 1516 eine Professur, ab 1518 zwei, ab 1536 drei. Wissenschaftliche Mediziner mussten gute Gräzisten sein. Die Wittenberger Professoren waren zum Teil Melanchthons Schüler gewesen und arbeiteten eng mit ihm zusammen. Aber auch in der experimentellen Anatomie war Wittenberg führend134. Was die Mediziner gewannen, mussten die Juristen hergeben. Ihre Fakultät hatte 1516 sieben Ordinarien, von denen vier das bürgerliche, drei das Kirchenrecht lehrten. 1536 gibt es drei Römischrechtler, aber nur einen Kanonisten. Das Kirchenrecht war von 1521 bis 1528 überhaupt nicht 131
Ebd. 177 Nr. 193 sowie oben Anm. 84 f. Karl Heinz B URMEISTER, Georg Joachim Rhetikus, 3 Bde. (1967 f). - LitLex 9 (1991), 425 f (Karl Heinz B URMEISTER). - Walter T HÜRINGER, Paul Eber (1511–1569). Melanchthons Physik und seine Stellung zu Copernicus. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 85–322, bes. 303–305. 133 THÜRINGER (wie Anm. 132), bes. 305. - DBE 8 (1998), 222 f. 134 FRIEDENSBURG (wie Anm. 32), 176. - Hans-Theodor KOCH, Bartholomäus Schönborn (1530–1585). Melanchthons de anima als medizinisches Lehrbuch. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 323–340. - Jürgen HELM , Wittenberger Medizin im 16. Jahrhundert. In: Martin Luther und seine Universität (wie Anm. 85), 95–115. - Thomas und Ulrich RÜTTEN, Melanchthons Rede „De Hippocrate“: Medizinhistorisches Journal 33 (1998), 19–55. - Wolfgang U. ECKART, Philipp Melanchthon und die Medizin. In: Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit, hrsg. v. Günther Frank und Stefan Rhein (1998), 183–202. 132
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gelesen worden. Die Marburger Neugründung aus dieser Zeit verbietet es ausdrücklich. 1536 wird in Wittenberg seine Unerlässlichkeit für Ehe- und Erbsachen festgestellt135. Die theologische Fakultät verfügte 1516 über drei Professuren, zwei scholastische und eine biblische. 1536 sind es drei biblische, wobei der dritte Lehrstuhlinhaber mit seinem halben Deputat Schlossprediger ist, was dadurch ausgeglichen wurde, dass auch der Pfarrer biblische Vorlesungen anbieten musste136. Stellenpläne geben die Wirklichkeit einer Universität nur partiell wieder, aber sie sind meistens die einzigen sicheren Daten. Eine wissenschaftsgeschichtlich so bahnbrechende Vorlesung wie die von Melanchthon über theologische Grundbegriffe kommt im Stellenplan ebensowenig vor wie die über Geschichte, für die Melanchthon schon in seiner Antrittsrede eintrat137. Dennoch lässt sich am Stellenplan die Umwandlung der mittelalterlichen Artistenfakultät mit dem Übergewicht der philosophischen Fächer zur neuzeitlichen philosophischen Fakultät mit den Schwerpunkten klassische Philologie und Naturwissenschaften ebenso erkennen wie die Dominanz der Bibel in der theologischen und des bürgerlichen Rechtes in der Juristischen Fakultät. Die Medizin, die fast überall spärlich besetzt war, wurde kräftig ausgebaut. Die inhaltlichen Veränderungen können hier nicht dargestellt werden. Abschließend nur ein Beispiel für die Aktualität der Wittenberger Lehre: Melanchthon hat die 1543 publizierten anatomischen Erkenntnisse Vesals in die zweite Auflage seines medizinischen Lehrbuchs »De anima«, die 1553 erschien, eingearbeitet138.
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FRIEDENSBURG (wie Anm. 32), 175 f. - Hans Erich T ROJE, Konrad Lagus (ca. 1500–1546). Zur Rezeption der Loci-Methode in der Jurisprudenz. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 255–283. - Heiner LÜCK, Die Wittenberger Juristenfakultät im Sterbejahr Martin Luthers. In: Martin Luther und seine Universität (wie Anm. 85), 73– 93. 136 FRIEDENSBURG (wie Anm. 32), 174 f. - Kurt ALAND, Kirchengeschichtliche Entwürfe (1960), 283–394. 137 TRE 22 (1992), 386.45–50, 387.49–55 . - MSA 3 (1961), 39. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Werdegang (1993): oben Nr. 2, bes. S. 44 f. In der Übersetzung von Gustav KRÜGER bei ARNHARDT und REINERT (wie Anm. 31), 218–221. 138 Sachiko KUSUKAWA, The Transformation of Natural Philosophy. The Case of Philip Melanchthon (1995), 114–123. - KOCH (wie Anm. 134), 324 f. - HELM (wie Anm. 134), 105 f. - ECKART (wie Anm. 134), 192–198. - Hans-Theodor KOCH, Melanchthon und die Vesal-Rezeption in Wittenberg. In: Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit (wie Anm. 134), 203–218.
Melanchthons ökumenischer Einsatz in Frankreich Die vorliegende Abhandlung setzt die gute Tradition fort, dass eine wissenschaftliche Tagung, die nur Spezialisten anlockt, einen öffentlichen Vortrag anbietet, der auch für die Bevölkerung der Stadt verständlich ist. Ich halte dies für ganz wichtig, denn wir esoterischen Forscher können unsere Spezialitäten nur solange pflegen, wie die Steuerzahler die dafür nötigen Mittel aufbringen. Mein Vortrag „Melanchthons ökumenischer Einsatz in Frankreich“ ist also von der Aufgabe her ein Kontrapunkt zum übrigen Programm. Er ist verständlich und aktuell. Wie aktuell, wird am Ende deutlich werden. Versetzen wir uns nun in Gedanken in das Jahr 1535. Melanchthon war so wütend wie selten in seinem ganzen Leben und hätte gerne seinem Kurfürsten den Kram hingeworfen und Wittenberg verlassen. Der Kurfürst war Johann Friedrich, der nach seiner Niederlage im Schmalkaldischen Krieg und fünfjähriger Gefangenschaft den Ehrentitel „der Großmütige“ erhalten und als „Hanfried“ mit Denkmal auf dem Marktplatz in Jena zum Symbol des bekennenden Protestantismus werden sollte. Als Luther 1517 seine Ablassthesen schrieb, die das auslösten, was als „die Reformation“ zum Epochenbegriff wurde, war Johann Friedrich 14 Jahre alt gewesen. Sein Vater, Johann der Beständige, ließ ihn in humanistischem und reformatorischem Geist erziehen. Für Melanchthon war Johann Friedrich nach Friedrich dem Weisen, der ihn an die Universität Wittenberg berufen hatte, und nach Johann dem Beständigen, der mit einer Universitätsreform, mit Kirchen- und Schulvisitationen, mit der Protestation von Speyer 1529 und dem Bekenntnis von Augsburg 1530, alles in harmonischer Zusammenarbeit mit Melanchthon, schließlich mit der Gründung des Schmalkaldischen Bundes 1531 Kursachsen zum Stammland der lutherischen Reformation gemacht hatte, der dritte sächsische Dienstherr1. Die 14 Jahre seiner Regentschaft waren mit Unternehmungen von zweifelhafter Legitimation und fraglicher politischer Klugheit belastet und ließen in Melanchthon eine 1
Ingetraut LUDOLPHY, Friedrich der Weise: TRE 11 (1983) 666–669. - Helmar J UNGJohann von Sachsen: TRE 17 (1988), 103-106. - Günther W ARTENBERG, Johann Friedrich von Sachsen: TRE 17 (1988), 97–103. - Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, hrsg. v. Helmar Junghans (1989). - Günther W ARTENBERG, Sachsen II: TRE 29 (1998), 558–580. HANS,
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tiefe Distanz entstehen. Der erste Konflikt entstand 1535 – wir haben dieses Jahr als Fixpunkt unserer Betrachtung genommen. Er konnte alsbald beigelegt werden, weil dieses Mal der Kurfürst richtig entschieden hatte, was Melanchthon offenbar schließlich einsah. Die Entscheidung des Kurfürsten, die Melanchthon so wütend gemacht hatte, bestand darin, dass ihm verboten wurde, einer Einladung des Königs von Frankreich, zur Beratung über eine Reform der Kirche nach Paris zu kommen, Folge zu leisten. Wie war es zu dieser Einladung gekommen? König Franz I. von Frankreich2 hatte mit dem Papst keine ernsten Probleme, denn ihr Verhältnis war gleich nach seinem Regierungsantritt 1516 durch einen „Grundlagenvertrag“, das Konkordat von Bologna, geregelt worden. Anders als in Deutschland waren in Frankreich die Bischöfe keine Reichsfürsten. Der König konnte ihre Ernennung steuern, während in Deutschland die vertraglich festgelegte Einmischung der Kurie in die Besetzung auch niederer Pfründen immer wieder zu Spannungen und zu allgemeiner Verärgerung führte und ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Reformation war. Die kirchliche Lehre und Praxis war in Frankreich nicht besser und nicht schlechter als in Deutschland. Es gab Ansätze zu einer Reform und deren Gegner, wobei die Abhängigkeit von Erasmus so gefährlich werden konnte wie die von Luther. Doch das Ganze geschah auf einer tieferen politischen Ebene als in Deutschland. Der König ließ die Reformer und ihre Gegner gewähren, solange er selbst unbehelligt blieb. Denn sein Problem war nicht die Kirche, sondern sein Rivale Karl, der Erbe des habsburg-spanischen Weltreiches. Nachdem der König von Spanien auch Kaiser geworden war, grenzte Frankreich überall an seinen Herrschaftsbereich, denn auch die Niederlande und Oberitalien gehörten dazu. Insgesamt vier Kriege führte der Valois gegen den Habsburger. Von 1525 bis 1529 war er dessen Gefangener. Die deutschen Protestanten wurden für Franz interessant, als sie sich politisch organisierten. Dies geschah Anfang 1531 in Schmalkalden, nachdem der auf dem Augsburger Reichstag unternommene Versuch einer gütlichen Beilegung des Religionskonflikts gescheitert war und der Kaiser ultimativ die Unterwerfung gefordert hatte. Dazu war ein Umdenken in der 2
Als Einführung in den historischen Kontext immer noch lesenswert: Erich HASSINGER, Das Werden des neuzeitlichen Europa 1300-1600 ( 21964), 175–180. - Ferner André B OURDE in: Handbuch der europäischen Geschichte, hrsg. v. Theodor Schieder, Bd. 3: Die Entstehung des neuzeitlichen Europa, hrsg. v. Josef Engel (1971), 745–764. Jacques LE BRUN und Marc LIENHARD, Frankreich III: TRE 11 (1983), 366–385. Gerhard Philipp W OLF, Franz I. von Frankreich: TRE 11 (1983), 385–389. - Bernard CHEVALIER in: Handbook of European History 1400-1600, hrsg. v. Thomas A. Brady Jr., Heiko A. Oberman und James D. Tracy, Bd. 1 (1994), 369–401. - Carter LINDBERG, The European Reformations (1996), 275–297. - Alfred KOHLER, Karl V. 1500-1558. Eine Biographie (1999).
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Frage des Widerstandsrechts erforderlich, das bis zum März 1530 von Luther und Melanchthon bestritten worden war. Im Oktober 1530 ließen sie sich von den Juristen belehren, dass in gewissen Fällen für Reichsfürsten der bewaffnete Widerstand gegen den Kaiser legal sei3. Doch nicht alle Unterzeichner der Confessio Augustana machten diese Wende mit. Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach und die Reichsstadt Nürnberg blieben dem Schmalkaldischen Bund fern. Alle evangelischen Reichsstände jedoch richteten unter dem Datum des 16. Februar 1531 (zufällig Melanchthons Geburtstag) eine Denkschrift an König Franz I. von Frankreich4. Melanchthon hatte den Auftrag zur Abfassung erhalten. Nach einer Schilderung der Ereignisse in Deutschland vom Ablassstreit bis zum Augsburger Reichstag wird gegen das kaiserliche Ultimatum des Reichstagsabschieds an die Könige von Frankreich und von England appelliert und um Intervention beim Kaiser zugunsten eines Konzils gebeten. Das gleichlautende Schreiben an Heinrich VIII. von England hatte jahrelange Verhandlungen zur Folge, an denen Melanchthon ebenfalls beteiligt war. Dies würde einen eigenen Vortrag füllen. Wir beschränken uns heute auf Frankreich5. Größere Beachtung als der Denkschrift zur sattsam bekannten Kirchenreform dürfte König Franz dem – ebenfalls von Melanchthon verfassten – gleichzeitigen Schreiben geschenkt haben, worin Johann der Beständige seine Ablehnung der Wahl des Kaiserbruders Ferdinand von Österreich, Böhmen und Ungarn zum Römischen König erläutert6. Hatte Franz doch einst gegen Karl für die Kaiserkrone kandidiert. Franz antwortete am 21. April 1531 freundlich-unverbindlich und versprach, bis zum Konzil Frieden zu halten7. Melanchthon übersetzte die Antwort für seinen Kurfürsten ins Deutsche8 und verbreitete ihren Inhalt bei seinen Freunden, obwohl die Politiker skeptisch waren. Doch bald wurde auch seine Zuversicht gedämpft9. Die Gefahr eines innerdeutschen Religionskrieges, wie er 1546 dann doch ausbrach, wurde zunächst ohne auswärtige Hilfe gebannt. Durch den Einsatz zweier Kurfürsten, des Pfalzgrafen bei Rhein Ludwig V., der den 3
MBW 1091. MBW 1127. 5 Karl Josef SEIDEL, Frankreich und die deutschen Protestanten. Die Bemühungen um eine religiöse Konkordie und die französische Bündnispolitik in den Jahren 1534/35 (1970). - Irene DINGEL, Melanchthon und Westeuropa. In: Philipp Melanchthon als Politiker zwischen Reich, Reichsständen und Konfessionsparteien, hrsg. v. Günther Wartenberg und Matthias Zentner unter Mitwirkung von Markus Hein (1998), 105–122. 6 MBW 1129, vgl. auch 1170, 1243. 7 MBW 1153, 1156–1158. 8 MBW 1153. 9 MBW 1167, 1170, 1187. 4
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Ehrennamen „der Friedfertige“ erhielt10, und des Erzbischofs von Mainz, Albrecht von Brandenburg, dessen Bedeutung sich nicht auf den Ablasshandel beschränkt11, wurde 1532 in Nürnberg ein befristeter Friede geschlossen. In seinem Schutz gelang es dem Landgrafen Philipp von Hessen, den seit 1519 vertriebenen Ulrich von Württemberg 1534 in sein angestammtes Herzogtum, das von Österreich regiert wurde, mit Heeresmacht zurückzuführen, was dort die Einführung der Reformation zur Folge hatte12 – eine schwere Niederlage für das Haus Habsburg. Finanziell unterstützt hatte diesen Blitzkrieg der König von Frankreich. Um mit den deutschen Protestanten weiterhin paktieren zu können, musste er sich gegenüber der Religionsfrage aufgeschlossen zeigen. Nicht minder wichtig jedoch war für ihn ein gutes Verhältnis zum Papst, ohne den er in Italien gegen seinen Hauptfeind Kaiser Karl V. wenig ausrichten konnte. Im Oktober 1533 hatte er sich mit ihm in Marseille getroffen13. Clemens VII. war wie der Ablasspapst Leo X. ein Medici. Nach dem Teufel fürchtete er nichts mehr als ein Konzil14. Wie gut sich die beiden Monarchen verstanden, zeigt die damals beschlossene Heirat der Papstnichte Katharina von Medici (die später in Frankreich eine wichtige Rolle spielen sollte) mit einem Königssohn, dem späteren Thronfolger Heinrich II. 15. Dass Franz I. seinen neuen Verwandten nicht mit einem Konzil inkommodieren würde, war selbstverständlich. Die deutschen Protestanten wurden mit der Aussicht auf ein vorbereitendes Religionsgespräch vertröstet. Dazu wurden zunächst einmal Gutachten eingeholt. Chefdiplomat für Deutschland und damit auch für die Religionsfrage war Guillaume du Bellay, Seigneur de Langey16. In seinem Auftrag erschien im Jahre 1534 der Straßburger Arzt Ulrich Chelius17 in Wittenberg. Er war ein alter Bekannter Melanchthons. Ich vermute sogar, 10
Rosemarie AULINGER, Die Verhandlungen der Kurfürsten Albrecht von Mainz und Ludwig von der Pfalz mit Karl V. 1532 in Mainz. „Missing-link“ zwischen dem Reichstag 1530 und dem Nürnberger Anstand 1532. In: Im Schatten der Confessio Augustana. Die Religionsverhandlungen des Augsburger Reichtages 1530 im historischen Kontext, hrsg. v. Herbert Immenkötter und Gunther Wenz (1997), 185–210. 11 Friedhelm J ÜRGENSMEIER, Albrecht von Mainz: RGG 4 1 (1999), 273 f. 12 William J. WRIGHT, Philipp of Hesse: EncRef 3 (1996), 262 f. - Manfred RUDERSDORF, Philipp I. d. Großmütige, Land-Gf. v. Hessen: LThK3 8 (1999), 233–235. 13 Hubert JEDIN, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 1 ( 31977), 228 mit 543. 14 JEDIN (wie Anm. 13) 176–231. - Gerhard MÜLLER, Clemens VII.: TRE 8 (1981), 98–101. - Georg SCHWAIGER, Clemens VII.: LThK3 2 (1994) 1223. 15 Klaus MALETTKE, Heinrich II., französischer König: LThK3 4 (1995), 1384. Frederic J. B AUMGARTNER, Henry II of France: EncRef 2 (1996), 224. 16 Remigius B ÄUMER, Du Bellay, Guillaume: LThK 3 3 (1995), 384. - MBW 11 (2003), 369. 17 Jean ROTT und Christian W OLFF, Chelius: Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne, fasc. 6 (1985), 503 f. - MBW 12 (2005), 124 f.
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dass er über Elisabeth Reuchlin mit ihm weitläufig verwandt war18. Jedenfalls war er in Pforzheim geboren, entstammte dem ratsfähigen Handelsgeschlecht der Geiger. Der Breslauer Reformator Johannes Heß, ein gebürtiger Nürnberger, dessen Mutter eine Geiger aus Pforzheim war, war sein Vetter19. „Chelius“ ist wie „Melanchthon“ ein Humanistenname, abgeleitet von Chélys, dem griechischen Namen der Schildkröte und, weil aus deren Panzer Hermes den Resonanzkörper für die Leier machte, auch des Sternbildes der Leier20. Wenn sich Melanchthon und Geiger nicht schon seit ihrer Jugend kannten, so zumindest seit 1520, als Geiger zum Studium nach Wittenberg kam21. Seine Ausbildung zum Arzt erhielt er vom großen Paracelsus, dessen persönlicher Mitarbeiter er einige Jahre lang war22. 1529 konnte er Stadtarzt in Solothurn werden. Der Rat dieser Stadt ließ ihn ein Jahr lang in Paris studieren. Doch als 1533 die Evangelischen in Solothurn verfolgt wurden, siedelte Geiger nach Straßburg über und arbeitete als diplomatischer Agent für Frankreich. Später war er mehrmals als Gesandter Straßburgs unterwegs, 1540/41 in Worms und Regensburg, wo er wieder Melanchthon traf. 1534 war er schon im März bei Melanchthon gewesen, der ihm auf seine Bitte ein Schreiben über die Religionsfrage und das Konzil an Guillaume du Bellay mitgab, das leider verschollen ist23. Im August brachte er seinem Auftraggeber ein von diesem erbetenes24 umfängliches Gutachten Melanchthons über die Beilegung des Religionsstreits25. Es gab sich als persönliche Meinungsäußerung für den befreundeten Geiger und wurde von Melanchthon in dieser Form unter Freunden handschriftlich verbreitet, wobei er auch inhaltliche Veränderungen vornahm26, aber nicht in den Druck gegeben. Dass es für einen Politiker aus dem engsten Umkreis des französischen Königs bestimmt war, wusste er27, denn er gab Geiger auch ein Begleitschreiben an Guillaume du Bellay28 mit, worin er 18
Über Melanchthons Pforzheimer Verwandschaft vgl. Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Pforzheimer Schulzeit. Studien zur humanistischen Bildungselite (1989): Forschungsbeiträge (1996), 29–70, bes. 41–47. 19 Gottfried MICHAELIS, Familienbuch Michaelis/von Tschirschky (Selbstverlag Bielefeld-Senne 1984), 370. 20 Lexikon der Alten Welt (1965), 2715. 21 Album Academiae Vitebergensis ab A. Ch. MDII usque ad A. MDLX, hrsg. v. Karl Eduard FÖRSTEMANN (1841, Repr. 1976), 95 b (9. 7. 1520). 22 Karl GREINER, Zur Umwelt des Paracelsus bei seiner Wanderung im südwestdeutschen Raum: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 27 (1968), 142–151. 23 Erwähnt in MBW 1418. 24 Laut MBW 1469.1. 25 MBW 1467. 26 MBW 1474, 1476, 1704. 27 Vgl. MBW 1489.1. 28 MBW 1469.
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seiner Überzeugung Ausdruck verleiht, dass in einem von den Monarchen einberufenen Religionsgespräch gutwilliger Gelehrter Einigung erzielt werden könnte, da die Streitpunkte nicht so gravierend seien, wie die ungebildeten Scharfmacher meinten. Insbesondere die kirchliche Verfassung solle nicht angetastet werden. Die meisten Streitpunkte seien im Laufe der Zeit entschärft worden. Seine Skepsis drückte er gegenüber Bucer aus29, der ebenfalls für Du Bellay ein Gutachten verfasste. Wie Bucer war Melanchthon der Meinung, dass mit Papst Clemens VII. keine Einigung möglich sei. Dennoch habe er das gewünschte Gutachten verfasst und sich dabei weitgehend den Franzosen angepasst, um ihnen die Hauptstreitpunkte klarzumachen. Die Rechtfertigungslehre habe er bewusst konziliant formuliert und manches nur angedeutet. Die einzige Vorbedingung eines solchen Gesprächs war für Melanchthon, dass eine Reform der Kirche für notwendig gehalten wird. Missstände, die nicht sündhaft sind, war er bereit, um der Eintracht willen hinzunehmen. Jedenfalls hielt er es nicht für zulässig, das Papsttum und andere Traditionen nur um der eigenen Freiheit willen abzulehnen. Die Bischöfe und der Papst mitsamt ihren angemessenen Einkünften können also bestehen bleiben, solange sie nicht die wahre Lehre unterdrücken. Bischöfe seien notwendig für die Ordination, für die Rechtsprechung in der Kirche und für die Überwachung der Lehre. Die päpstliche Spitze der Kirchenleitung sei nützlich für den Erhalt der Lehreinheit, die freilich zuvor erreicht werden müsste. Dass dies der Papst zustande bringt, traut er ihm faktisch nicht zu. Eingriffe des Papstes in die Politik müssen verhindert werden. Traditionen, die an sich weder gut noch schlecht sind, das sind die sogenannten Adiaphora, z. B. liturgische Gewänder, können beibehalten werden. Die Beichte ist für Melanchthon wünschenswert, sofern die Gewissen nicht mit der vollständigen Aufzählung der Sünden belastet werden. Der anfängliche Streit über die Rechtfertigung sei überwunden worden durch die Verständigung der Gelehrten über die Ablehnung der Werkgerechtigkeit, über die Notwendigkeit des Glaubens, auch über Willlensfreiheit und Erbsünde könne man sich einigen. Ein Religionsgespräch könnte die endgültige Einigung darüber schaffen, dass Reue und gute Werke zwar nötig sind, der Grund der Sündenvergebung aber im Glauben an Christus liegt. Das schwierigste Problem ist für Melanchthon die Messe. Es müsste durch ein Konzil gelöst werden. Zur Vorbereitung regt er eine durch die Könige von Frankreich und von England einzuberufende Gelehrtenkonferenz an. Die Spaltung der Protestanten durch den Abendmahlsstreit werde durch eine von Bucer vorgelegte Modifikation des Zwingli29
MBW 1468. - Bucers Gutachten bei J. V. P OLLET, Martin Bucer. Études sur la correspondance avec de nombreux textes inédits, Bd. 2 (1962), 509–518 mit 488–509.
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anismus überwunden werden können30. Die Messliturgie sei bei den Lutheranern nahezu unverändert. Doch die Privatmessen wurden abgeschafft und damit auch der Opfergedanke, die Zuwendung der Messen an Verstorbene, der Verdienstgedanke und das Gewinnstreben der Priester beseitigt. Melanchthon schlägt vor, die Messe bis zum Konzil überall fakultativ zu machen. Dies hätte die Anerkennung der evangelischen Gottesdienste durch die katholischen Bischofe bedeutet. Der Laienkelch könne vom Papst problemlos gewährt werden. Die Heiligenverehrung sollte ganz abgeschafft oder durch Gedenktage ersetzt werden. Die Fürbitte der Heiligen ist nach Melanchthon wie in der alten Kirche möglich, wenn die Mittlerschaft Christi deutlich bleibt. Die Mönchsgelübde sollten vom Papst dispensiert werden. Ein evangelisches Mönchtum ist für Melanchthon möglich. Vor allem aber sollten die Klöster wieder zu Schulen werden. Die Priesterehe solle vom Papst erlaubt werden. Höhere Würden könnten Zölibatären vorbehalten bleiben. Melanchthon hält insgesamt eine Einigung für möglich, wobei die Messe das einzige schwierige Problem sei. Bevor die von Du Bellay eingeholten Denkschriften ihre Wirkung entfalten konnten, brach über die französischen Reformer eine Katastrophe herein, die sogenannte Plakataffäre31. Ein Flugblatt mit kritischen Thesen über das Messopfer wurde in Paris verbreitet – es gelangte auch in Melanchthons Hände32 – und wurde sogar in den königlichen Gemächern angeheftet. Dies ging Franz zu weit. Von nun an hielt er die französischen Reformfreunde unter dem Daumen33. Guillaume du Bellay und sein jüngerer Bruder Jean, der Bischof von Paris und Kardinal war34, suchten gegenzusteuern und schützten die in Paris lebenden Deutschen, zu denen der spätere Straßburger Schulrektor Johannes Sturm gehörte, der nun, im März 1535, zu Melanchthon in Verbindung trat35. Der Bote, der in amtlichem Auftrag nach Deutschland und auch zu Melanchthon kam, war nicht der vertraute Chelius, sondern ein bisher nicht in Erscheinung getretener Franzose aus der Klientel Du Bellays, Barnabas de Voré, Seigneur de la Fosse36. Er überbrachte Melanchthon eine Einladung des Königs von
30
Heinz SCHEIBLE, Melanchthon und Bucer (1993): Forschungsbeiträge (1996), 245–
269. 31
SEIDEL (wie Anm. 5), 47–76. MBW 1525.3. 33 MBW 1527.6, 1550, 1551.4, 1553.3. 34 Remigius B ÄUMER, Du Bellay, Jean: LThK 3 3 (1995), 384. - MBW 11 (2003), 369 f. 35 MBW 1550. Über Johannes Sturm zuletzt Barbara Sher T INSLEY, Sturm, Johann: EncRef 4 (1996), 122 f. 36 V. L. B OURRILLY, Guillaume du Bellay, seigneur de Langey, 1491-1543 (1905), 313 u. ö.; zitiert nach Jean-Yves MARIOTTE, François 1 er et la ligue de Smalkalde. De la 32
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Frankreich37, anscheinend mündlich, quasi als Voranfrage38. Franz musste durchaus daran gelegen sein, die politische Verbindung zu den deutschen Protestanten nicht abreissen zu lassen. Dass dazu ein Minimum an kirchlicher Reformbereitschaft unabdingbar war, stand außer Frage. Seit Herbst 1534 gab es einen neuen Papst, Paul III., der dem Konzil und der Kirchenreform nicht so ablehnend gegenüberstand wie sein Vorgänger39. Und zwischen Frankreich und dem Kaiser bahnte sich ein neuer Krieg an. Melanchthon stand dieser Einladung durchaus skeptisch gegenüber, was er in seiner Antwort an Johannes Sturm40 offen aussprach. Realistisch erwartete er, dort wenig ausrichten zu können. Die religiöse Situation schien ihm verworren. Antitrinitarier, wie er sie in der jüngsten Vergangenheit auch in Deutschland kennenlernen musste, und Aufrührer – ein Begriff, dem die jeweilige Obrigkeit vieles zuordnen konnte – wollte auch er bestraft wissen. Zuerst aber müsse für die friedlichen Anhänger der Reformation Duldung erwirkt werden. Melanchthon hielt Straffreiheit für den Austritt aus dem Mönchsstand für erreichbar. Doch schon bei der Kritik an der Messe und am Heiligendienst rechnete er mit Unnachgiebigkeit der Machthaber. Deshalb wollte er sich nicht missbrauchen lassen und auch nicht einem Konzil vorgreifen. Nützlicher als ein erfolgloser Besuch schien es ihm, auf den König einzuwirken, dass er die Einberufung eines Konzils befürworte. Melanchthon wies Sturm auch darauf hin, dass er eine Reise nach Frankreich nicht ohne Genehmigung des Kurfüsten Johann Friedrich von Sachsen antreten könne. Gleichzeitig schrieb Melanchthon zum ersten Mal an den Bischof von Paris, Jean du Bellay41. Er bat ihn, sich für die Reform der Kirche einzusetzen. Die Abschaffung der Missbräuche und die Reinigung der Lehre würde auch die bischöfliche Autorität stärken. – Noch 1556 stand er mit ihm, der inzwischen in Rom lebte, in Verbindung42. Guillaume war schon 1543 gestorben, erst 51 Jahre alt; 1537 war er Statthalter seines Königs und Oberbefehlshaber der französischen Truppen in Piemont mit Sitz in Turin geworden43. Kehren wir zum 23. April 1535 zurück, an dem Melanchthons Briefe nach Paris abgingen44. Am 28. Juni wurde in Guise die förmliche Eintrêve de Nice à la paix de Crespy 1538-1544: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 16 (1966), 206–242, bes. 227 Anm. 66. 37 Vgl. MBW 1550.2. 38 Vgl. MBW 1564.2. 39 Klaus GANZER, Paul III.: LThK3 7 (1998) 1520–1522. 40 MBW 1564. 41 MBW 1563. 42 MBW 4629, 7510, 7706. 43 Wie Anm. 16. 44 Vgl. MBW 1570 und 1574.
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ladung des Königs ausgefertigt45. Kardinal du Bellay schrieb am Tag davor aus St. Quentin, alle Wohlmeinenden, voran der König von Frankreich, mit dem Melanchthon bald zusammentreffen solle, wünschten die Beilegung des Religionsstreites46. Er selbst begebe sich jetzt nach Rom und werde dort im gleichen Geiste wirken. Am 7. Juli kam Voré nach Paris und brachte Sturm endlich Melanchthons Brief vom 23. April, den, da er unversiegelt war, auch die Brüder Du Bellay gelesen hatten47. Johannes Sturm schätzte die Reformbereitschaft des Königs positiv ein. Doch selbst wenn Melanchthon nichts erreichen sollte, dürfe er die Einladung des Königs nicht zurückweisen, um nachteilige Folgen zu vermeiden. Der Einfluss von Reformgegnern sei bei diesem selbständig denkenden König nicht zu befürchten, zumal Melanchthons Gutachten vom vergangenen August gut aufgenommen worden sei. Melanchthon werde mit dem König in kleinem Kreis offen diskutieren können. Der König suche Melanchthons Rat, weil er Religionswirren wie in Deutschland von Frankreich fernhalten wolle. So schrieb Johannes Sturm an Melanchthon48. Am 16. Juli machte sich Barnabas de Voré von Coucy-le-ChateauAuffrique aus, wo ihm auch Guillaume du Bellay einen Brief mitgab49, zu Melanchthon auf den Weg. Er traf ihn am 8. August50, aber nicht in Wittenberg, sondern in Jena, wohin Melanchthon mit seinen Studenten vor einer Seuche ausgewichen war. Von der Einladung des Königs war Melanchthon so begeistert, dass er am liebsten sofort nach Frankreich gereist wäre, ohne nach dem Willen des kursächsischen Hofes zu fragen 51. Das Erlebnis bewegte auch seine Träume52. Doch leider war er wegen der Studenten unabkömmlich. So ritt er am 11. August nach Torgau53, wo er am 15. ein schriftliches Gesuch an den Kurfürsten einreichte54. Er berichtete über die Verfolgung der Evangelischen in Frankreich, über den mildernden Einfluss von Guillaume du Bellay auf den König, alles Dinge, die auch dem kursächsischen Hof bekannt waren, denn Du Bellay hatte ja auch mit ihm verhandelt55. Erstmalig berichtete Melanchthon von den Einladungen, die er empfangen hatte, die auch von Luther und Gregor Brück in Wittenberg 45
MBW 1579. MBW 1578. 47 Vgl. MBW 1585. 48 MBW 1585. 49 MBW 1587. 50 Datum aus MBW 1596. 51 MBW 1596. 52 MBW 1597. 53 MBW 10, 441. 54 MBW 1603. 55 SEIDEL (wie Anm. 5), 166–178. 46
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gelesen worden seien, die aber dem Hof in Torgau anscheinend bisher unbekannt geblieben waren. Er berichtete auch von seinen Antworten und von dem Geleitbrief des Königs und erläuterte, warum er die Politik des Bischofs von Paris und seines Bruders Guillaume du Bellay durch sein Kommen als Privatperson unterstützen wolle. Er bat um längstens drei Monate Urlaub. Seine Vorlesungen in Jena würden Caspar Cruciger und Franz Burchard mitversehen. Die Räte antworteten mündlich, er hätte seine Verhandlungen wegen einer Reise nach Frankreich früher mitteilen sollen. Die Genehmigung könne nicht erteilt werden, erstens aus Sorge um seine Sicherheit, vor allem aber, weil der Kurfürst demnächst mit König Ferdinand verhandeln müsse und der Kaiser solche Kontakte mit seinen Feinden untersagt habe. Der Kurfürst werde ihn bei dem König von Frankreich entschuldigen56. Melanchthon gab nicht nach, sondern ritt weiter nach Wittenberg, um Luthers Unterstützung zu gewinnen. Der richtete am 17. August ein entsprechendes Gesuch an den Kurfürsten57. Dies war Johann Friedrich zu viel. In scharfem Ton schrieb er am 24. August an Melanchthon58, der inzwischen wieder in Jena bei seinen Studenten war, er sei befremdet, dass nach der in Torgau gegebenen Antwort Melanchthon und nun auch Luther Melanchthons Reise nach Frankreich erneut beantragten. Der Kurfürst rügte, dass Melanchthon, ohne ihn zu informieren, schon Zusagen gemacht hatte, und dies einem Feinde des Kaisers und König Ferdinands. Der Friede in Deutschland habe Vorrang vor der Verbreitung des Evangeliums in fremden Nationen. Überdies sei Franz von Frankreich unzuverlässig. Ein Besuch Melanchthons bei dem König von Frankreich würde das Scheitern der Verhandlungen des Kurfürsten mit König Ferdinand bedeuten. In diesen Verhandlungen ging es um die Belehnung Johann Friedrichs als Nachfolger seines drei Jahre zuvor verstorbenen Vaters59. Doch war diese politische Rücksicht nicht der einzige Grund für das Reiseverbot. Der Kurfürst ging auch auf Melanchthons vor einem Jahr erstelltes Reformgutachten ein. Er verstand es als ein Abrücken von der Position, die Kursachsen auf dem Augsburger Reichstag vertreten hatte, von der Confessio Augustana und ihrer Apologie. Den größten Anstoß nahm er daran, dass Melanchthon den Kelchentzug unter Umständen zu tolerieren bereit sei. Dies stimmt so undifferenziert nicht. Melanchthons Gutachten für Frankreich ist offenbar erst damals, ein Jahr nach seiner Abfassung, dem
56
MBW 1605, 1608. WAB 7, 227–230. 58 MBW 1610. 59 Georg MENTZ, Johann Friedrich der Grossmütige, Bd. 2 (1908), 67. 57
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kursächsischen Hof bekannt geworden, und dies anscheinend in einer stark vergröberten und dadurch verfälschten Fassung. Die Textüberlieferung dieser brisanten Denkschrift ist sehr kompliziert. Das Corpus Reformatorum druckt drei Fassungen ab, kannte aber noch nicht das Original, das Melanchthon dem Chelius für Du Bellay mitgab. Es befindet sich in der Bibliothèque Nationale in Paris60. 1537 erschien, angeblich bei einem Prager Drucker, eine stark erweiterte und abgemilderte Fassung, die später in die Sammlung der Gutachten Melanchthons aufgenommen wurde und von manchen für melanchthonisch gehalten wird61. Es handelt sich aber m. E. um eine Fremdbearbeitung. Eine solche fertigte Guillaume du Bellay an, wobei er ausdrücklich auch die Voten der anderen Reformatoren, namentlich Bucers, berücksichtigte. Diesen Text legte er im August 1535, also gleichzeitig mit der Einladung Melanchthons, der Sorbonne, den Pariser Theologen, zur Beurteilung vor62. Diese drei Fassungen stehen im Corpus Reformatorum. Gewiss gibt es noch mehr Varianten, als dort verzeichnet sind63. Nachdem das Original gefunden wurde, könnte man die Ansicht vertreten, die Edition des Urtextes würde genügen. Dann wüssten wir zwar, was Melanchthon wollte, könnten aber die Vorwürfe, die ihm gemacht wurden, überhaupt nicht verstehen. Deshalb gibt es in der Heidelberger Edition »Melanchthons Briefwechsel« auch einen wirkungsgeschichtlichen Apparat, der diese sekundären, aber wirkungsmächtigen Varianten verzeichnet (MBW.T 6, 129–169, im Jahr 2005 erschienen, bietet vier Fassungen und verzeichnet zwei weitere). Bei dem Gutachten für Frankreich ist die Sache ganz kompliziert. Es wurden auch stark verkürzte und vergröberte Referate in Umlauf gesetzt. Ein solches Schriftstück wurde im Sommer 1535 von den Soester Predigern Luther zugeschickt mit der entsetzten Frage, ob die hierin aufgeführten Zugeständnisse der Wittenberger tatsächlich gemacht worden seien. Luther publizierte es mit einem Offenen Brief an die Prediger zu Soest64. Dies geschah spätestens im Oktober65. Dieser oder ein ähnlicher Text dürfte dem Torgauer Hof vorgelegen haben. Betrachten wir exemplarisch, wie ein vorsichtig abgewogener Kompromissvorschlag brutal verstümmelt und so bis zur Unkenntlichkeit vergröbert wird. Dies ist ein zeitloses Phänomen, das wir auch in unserer Tagespolitik beobachten können. Das Schriftstück, das Luther aus Soest zuge60
SEIDEL (wie Anm. 5), 16. - DINGEL (wie Anm. 5), 110 Anm. 16. CR 2, 741–766 berücksichtigt. 62 CR 2, 765–775. 63 Vgl. MBW 1667. 64 WA 38, 386-400. 65 Datum aus Luthers Brief an Leonhard Beyer vom 2. 11. 1535: WAB 7, 320 f Nr. 2269. 61
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schickt wurde, beginnt: „Luther, Melanchthon, Bugenhagen samt ihren verwandten Predigern zu Wittenberg lassen zu, dass ein geistlich Polizei [d. i. Staatsverfassung], Ordnung und Regiment, der römische Bischof der oberst und unter ihm alle anderen Bischöfe und die Priesterschaft sein sollen, und das sei von Nöten, denn diese Ordnung wird erfordert zur Förderung der gesunden Lehre Christi ...“66. Dies ist ein Referat aus Melanchthons Gutachten für Frankreich. Doch wie heißt es dort? Es beginnt mit einem Abschnitt über die Notwendigkeit einer Reform der Kirche. Melanchthon entwirft das Modell eines Zusammenwirkens der Reformer mit dem Papst. Wenn der Papst in den Stücken nachgibt, die das Gewissen betreffen, dann würden Melanchthon und seine Gesinnungsgenossen um des Friedens willen alles ertragen, was ohne Verletzung der religiösen Grundwerte ertragen werden kann. Ohne eine solche Übereinkunft, in der die Gewissen respektiert werden, könne der Papst keinen Gehorsam erwarten. Melanchthon weiß genau, dass es auch Bestrebungen gibt, das Papsttum und die alten kirchlichen Ordnungen und Riten ganz abzuschaffen. Er selbst möchte dies nicht, sondern arbeitet an ihrer Reform. Nun erst folgt der in der Soester Fassung an den Anfang gestellte Satz: „Die Unsrigen gestehen zu, dass die kirchliche Verfassung eine erlaubte Sache ist [das heißt, sie verstößt nicht wie die reformbedürftigen Artikel gegen das Gewissen], nämlich dass es Bischöfe gibt, die mehreren Gemeinden vorstehen, sowie dass der römische Papst allen Bischöfen vorgesetzt sei. Diese kanonische Verfassung wird, wie ich meine, kein Vernünftiger missbilligen, sofern sie in ihren Grenzen bleibt, das heißt, wenn der Papst und die Bischöfe ihre Autorität nicht missbrauchen zur Unterdrückung der wahren Lehre“67. Melanchthon war kein Revolutionär, er wollte die Kirche von innen heraus reformieren, ohne ihre Verfassung dem Staat auszuliefern, wie es infolge der Reformunwilligkeit der römischen Kurie geschehen ist. In seinem Gutachten kommt er dann auf die Notwendigkeit einer Leitungsstruktur auch in der Kirche zu sprechen, und hier fällt (sinngemäß) der Satz: Wenn es keine Bischöfe gäbe, müsste man sie erfinden. Den Papst hält er deswegen für nützlich (nicht notwendig), weil durch ihn die internationale Lehreinheit gewährleistet würde. Voraussetzung ist, er sagt es immer wieder, dass die sana doctrina, die gesunde Lehre, die Lehre, wie sie von Luther und den anderen Reformatoren vertreten wird, vom Papst und von den Bischöfen angenommen und gefördert wird. Daraus wird in der Publizistik, ich wiederhole das Zitat von oben: „Luther, Melanchthon, Bugenhagen ... lassen zu, dass ein geistlich Polizei, Ordnung und Regiment, der römische Bischof der oberst und unter ihm 66 67
WA 38, 393.3-8. Vgl. P OLLET (wie Anm. 29), 518. 21-24. MBW 1476.2 (CR 2, 744 f).
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alle anderen Bischöfe und die Priesterschaft sein sollen, und das sei von Nöten, denn diese Ordnung wird erfordert zur Förderung der gesunden Lehre Christi.“ Das Abendmahl ohne Kelch für die Gemeinde zu feiern, war für den Kurfürsten, der evangelisch aufgewachsen war und dem das vollständige Abendmahl ein Bekenntnisakt bedeutete, besonders anstößig. In der Soester Fassung konnte er lesen: Die Reformer begehren, „dass der Papst bis zum nächsten Konzil lasse einen jeglichen Ort frei gebrauchen die eine oder beider Gestalt des Sakraments“68. Melanchthon hatte aber geschrieben: „Über beiderlei Gestalt des Sakraments [also Brot und Wein] gibt es allenthalben neue Unruhen. Das Volk wird nämlich erregt, wenn die Einsetzung Christi und die alten Bräuche der Kirche betrachtet werden. Und wenn man noch so sehr eine Entschuldigung für die sucht, die es unter einer Gestalt gebrauchen, so werden doch jene Unruhen nicht aufhören, und in diesen Unruhen nehmen auch einige an ihrem Gewissen Schaden. Diese ungute Situation könnte der Papst ohne Schaden leicht bereinigen, wenn er das Verbot [des Laienkelchs] aufheben und den Gebrauch freigeben und zugleich anordnen würde, dass keine Partei die andere verurteilen dürfe. Diese Freiheit würde sehr viel zur Beruhigung betragen und keinem Menschen schaden. Die ganze Sache liegt in der Hand des Papstes“69. Melanchthon musste von der Tatsache ausgehen, dass bei seinen Adressaten das Abendmahl nur in einer Gestalt gereicht werden durfte, und argumentierte behutsam für eine Änderung, die der Papst ohne Weiteres vornehmen könnte, weil es sich um eine menschliche Satzung handele. Auf die Praxis der evangelischen Länder ging er gar nicht ein. Das Soester Referat erweckt den Eindruck, er lasse beide Formen gleichwertig zu. Solche Vergröberungen, die dadurch zu Verfälschungen werden, können wir täglich beobachten, wenn Äußerungen von Politikern in den Medien wiedergegeben werden. Die Mehrheit des Publikums ist nicht in der Lage, differenzierte Gedankengänge aufzunehmen – so vermuten jedenfalls die Journalisten und probieren es schon gar nicht. Übrigens hat sich an der von Melanchthon geschilderten Situation des Laienkelches bis zum heutigen Tag nur wenig geändert. Kehren wir in den August 1535 zurück! Tief enttäuscht musste Melanchthon seinen Besuch in Frankreich absagen. An Guillaume du Bellay schrieb er am 28. August aus Jena70, Barnabas de Voré könne bezeugen, wie sehr er mit dem Kurfürsten um die Reisegenehmigung gerungen habe, die wegen der Verhandlungen Kursachsens mit König Ferdinand versagt worden sei. Melanchthon hält aber seine Toleranz gegenüber dem Kelch68
WA 38, 394.13–16. MBW 1467.12. 70 MBW 1611. 69
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entzug für den ausschlaggebenden Grund. Auch beim König entschuldigte er sich71. Er pries dessen Einsatz für die Kirchenreform und distanzierte sich von allen Radikalen. Der König nahm Melanchthons Brief in der französischen Übersetzung des Guillaume du Bellay wohlwollend zur Kenntnis72. In dem gleichzeitigen Schreiben an Johannes Sturm73, der damals immer noch in Paris war, wurde Melanchthon auch gegen die gemeinsame evangelische Partei kritisch. Beide Seiten hielt er für reformbedürftig. Seine Mäßigung und Konzentration auf das Wichtige stand in Widerspruch zu den Radikalen beider Lager. Er fühlte sich deshalb sogar am Leben bedroht wie Theramenes – jener umstrittene Athener Staatsmann, der einem Justizmord zum Opfer fiel74. Dieser Gedanke war nicht nur ein gebildetes Zitat für den Humanistenkollegen, sondern damals wurde die Hinrichtung des großen Thomas Morus bekannt75, bis vor kurzem die rechte Hand seines Königs Heinrich VIII. von England, nun ein Märtyrer der traditionellen katholischen Moral. Melanchthon sah sich nicht nur akut in Gefahr, sondern er spürte seit langem Hass aus den eigenen Reihen, weil er, wie er meinte, nicht alle extremen Lehren billigte76. Dies war nicht nur Überempfindlichkeit. Zumindest beim Augsburger Reichstag wurde er, der doch nichts anderes als die kursächsische Verhandlungsposition vertrat, sogar von seinem Nürnberger Freund Baumgartner heftig kritisiert, weil er die bischöfliche Kirchenverfassung erhalten wollte77. Ein Jahr nach der gescheiterten Frankreichreise begannen die Angriffe von Cordatus und Schenck78. So etwas liegt schon vorher in der Luft. Melanchthon erwog also nicht ohne jeglichen Grund schon im August 1535, Kursachsen zu verlassen, und fragte seinen Freund Camerarius, der gerade an die soeben der Reformation zugeführte Universität Tübingen berufen worden war, ob nicht auch er dort unterkommen könne79. Von Luther allerdings wurde er unterstützt und wusste dies auch80. 71
MBW 1612. Bei MBW 1612. 73 MBW 1613. 74 Lexikon der Alten Welt (1965), 3060. 75 MBW 1616. 76 MBW 1616. 77 MBW 1058.2. Zu Melanchthons Position vgl. Heinz S CHEIBLE, Melanchthon und Luther während des Augsburger Reichstags 1530 (1985): Forschungsbeiträge (1996), 198–220. 78 Heinz SCHEIBLE, Cordatus, Conrad: LitLex 2 (1989), 460. - Robert ROSIN, Cordatus, Conrad: EncRef 1 (1996) 430. - Heinz SCHEIBLE, Cordatus, Conrad: RGG4 2 (1999), 459. - MBW 11 (2003), 303. 79 MBW 1616, 1622. 80 MBW 1622, 1615. 72
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Mehr noch als durch das Reiseverbot selbst fühlte sich Melanchthon durch die schroffe Art, mit der es ausgesprochen wurde, gekränkt81. Zu allen Zeiten finden die Ministerialbürokraten nicht immer den rechten Umgangston mit zartbesaiteten Professoren82. Der Kurfürst jedoch stellte seine Menschenkenntnis unter Beweis. Sobald er wieder nach Jena kam, empfing er seinen unentbehrlichen Universitätslehrer und Ratgeber und besänftigte dessen Zorn83. Melanchthon musste einsehen, dass eine Reise nach Frankreich für die politischen Ziele des Kurfürsten schädlich sein würde. Er ließ sich wieder ganz in den diplomatischen Dienst der laufenden Verhandlungen mit England und Frankreich einbinden. Ende Dezember arbeitete er in Schmalkalden beim Bundestag an den Schriftstücken für die englischen und französischen Gesandten mit84. Hier traf er auch Guillaume du Bellay zum erstem Mal persönlich85. Der Kurfürst war bald nach jenem Gespräch mit Melanchthon über Prag nach Wien gereist, wo er am 20. November belehnt wurde86. Den Wunsch, nach Tübingen berufen zu werden, hatte Melanchthon schon am 4. Oktober zurückgenommen87. Melanchthons Reformvorschlag für Frankreich wurde bald von dem Gang der Ereignisse überrollt. 1536 brach der dritte Krieg zwischen Frankreich und dem Kaiser aus88. Papst Paul III. stellte nun endlich ein Konzil in Aussicht, das dann doch erst neun Jahre später eröffnet wurde89. Die Protestanten beendeten ihren schädlichen Abendmahlsstreit durch die von Bucer und Melanchthon vorbereitete Wittenberger Konkordie90. Dies hatte auch zur Folge, dass bei künftigen Reformentwürfen die Abgrenzung in Richtung der von Zwingli herkommenden Oberdeutschen nicht mehr so schroff vollzogen werden konnte wie noch in dem Gutachten für Frankreich. Die weiterhin für notwendig erachteten Verhandlungen über die Beilegung der Kirchenspaltung fanden nun auf nationaler Ebene statt, zuletzt unter kaiserlicher Regie 1541 und 1546 in Regensburg. Das einzige positive Ergebnis war eine Formulierung der Rechtfertigungslehre, der sowohl Melanchthon und seine Kollegen einschließlich Luthers als auch der scharfsinnige Luthergegner Eck zustimmen konnten91. Diese Einigung 81
MBW 1619, 1620. MBW 1644.2. 83 MBW 1634, 1638, 1641, 1643, 1651. 84 MBW 1677–1681. 85 SEIDEL (wie Anm. 5), 166–178. 86 MENTZ (wie Anm. 59), 56–68. 87 MBW 1638. 88 KOHLER (wie Anm. 2), 248–252. 89 JEDIN (wie Anm. 13), 232–286. 90 MBW 1744. Vgl. oben Anm. 30. 91 Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Auseinandersetzung mit dem Reformkatholizismus (1989): Forschungsbeiträge (1996), 222–244, bes. 236–238. 82
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kam nicht zum Tragen, weil in allen anderen Lehrstücken die Gegensätze unüberwindlich blieben. Melanchthon hatte schon 1534 an die französischen Reformer geschrieben, über die Rechtfertigungslehre könnten sich kluge, vernünftige Theologen einigen. In unserer Zeit haben sich nach langwierigen Gesprächen kluge evangelische und katholische Theologen über eine gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre geeinigt, und vernünftige evangelische Synoden und schließlich sogar die römische Kurie haben diese Formulierung gebilligt. Noch klügere evangelische Theologen halten jedoch diese Erklärung für unannehmbar und sagen dies auch öffentlich92. Darüber ist hier nicht zu reden. Wir wollen abschließend nur noch hören, was Melanchthon 1534 den Franzosen zu diesem Thema schrieb. „Den Streit um die Rechtfertigung wird die Zeit entschärfen, denn über vieles, worüber anfänglich heftig gestritten wurde, sind sich die Gelehrten einig geworden. Niemand verteidigt mehr jenen Unsinn, der bei Scholastikern zu lesen ist, nämlich dass die Menschen das Gesetz Gottes erfüllen könnten, dass sie sich die Vergebung der Sünden durch die Güte ihrer Werke verdienen. ... Alle bekennen jetzt, dass dafür Glaube nötig ist, das heißt Vertrauen in Christus und in die Vergebung der Sünden. ... Wenn also der Papst oder die Könige dafür sorgen würden, dass einige wohlmeinende und kluge Männer miteinander reden würden, dann könnte dieser Streit um die Rechtfertigungslehre leicht entschieden und beigelegt werden.“ Melanchthon bietet in der Folge dafür Formulierungshilfen an93. Die im übrigen vergröberte Soester Fassung hat die Rechtfertigungslehre in einer knappen Formulierung, die Melanchthons Meinung zutreffend wiedergibt: „Alle unsere Gerechtmachung kommt aus dem barmherzigen Gott durch Jesus Christus und aus dem Glauben an ihn und nicht aus unseren Werken. Daneben aber soll man das Volk lehren, dass sie den Glauben zieren mit guten Werken und durch die Frucht der guten Werke offenbar machen, dass der Heilige Geist in ihnen wohne, und dass also alle Ehre in Gott den Ursprung habe“94. Diese Katechismus-reife Formulierung genügt eigentlich für den Hausgebrauch. Alle weiteren Bestimmungen dienen dem Scharfsinn und leider auch der Rechthaberei der Theologen. Heilsnotwendige Glaubenswahrheiten müssen einfach sein. Niemand hat dies besser gewusst als der kluge Melanchthon.
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Vgl. epd-Dokumentation Nr. 45/99: Streit um die Texte zur Rechtfertigungslehre (22). - Jörg HAUSTEIN, Streit statt Jubelökumene!: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 50 (1999), 82 f. - Hans-Martin B ARTH, Die Unterschriften gegen die Unterschrift: ebd. 101 f. 93 MBW 1467.5. 94 WA 38, 393 f.
Melanchthons Sorge um die Diaspora König Gustav Adolf von Schweden hat durch sein militärisches Eingreifen in Deutschland den durch das Restitutionsedikt von 1629 gefährdeten Bestand des Protestantismus gerettet. Er war ein Lutheraner von aufrichtiger Frömmigkeit, was nicht ausschloss, dass er mit seinem Kriegszug auch die Großmachtinteressen seines Königreiches verfolgte. Das in seinem 200. Todesjahr gegründete Werk zur Sicherung der evangelischen Diaspora wurde also mit gutem Grund nach seinem Namen benannt. Wollte man aber einen weniger martialischen Patron finden, so käme auch Philipp Melanchthon in Betracht. Seine Taten waren allerdings nicht so dramatisch und effektiv. Doch bietet sein 500. Geburtstag den willkommenen Anlass, an seine Wirksamkeit für evangelische Christen in der Diaspora zu erinnern. Diese Wirksamkeit entsprang nicht wie bei Gustav Adolf einem Entschluss, sondern war zunächst einmal die Reaktion auf Probleme, die an ihn heran getragen wurden. Als Wittenberger Professor hatte er Studenten aus vielen Ländern zu betreuen und pflegte Kontakte zu Gelehrten aus ganz Europa. Als Berater seiner Regierung fand er Zugang zu Vertretern auswärtiger Mächte und konnte sogar zu Königen in Beziehung treten. Hierbei entwickelte er auch eigene Initiativen. In seinen letzten Lebensjahren wurde er um Hilfe für Verfolgte und Exulanten in lutherischen Territorien Deutschlands ersucht. Spontan reagierte er, als in Bayern, wo die reformatorischen Bestrebungen konsequent unterdrückt wurden, 1558 eine gegenreformatorische Visitation begonnen wurde. Die dafür formulierten Frageartikel ließ er unverzüglich mit einer polemischen Vorrede drucken und hielt in den folgenden Monaten eine Vorlesung darüber, die er alsbald publizierte. Diese seine »Antworten auf die Artikel der bayerischen Inquisition« betrachtete er als sein theologisches Testament. Sein ausgedehnter Briefwechsel mit dem König von Dänemark und dem Herzog von Preußen, gelegentlich auch mit dem König von Schweden, verband ihn mit Fürsten, die in ihren Ländern das evangelische Bekenntnis eingeführt hatten, gehört also nicht zu unserem Thema. Siebenbürgen mit seinen deutschen Städten und befestigten Dörfern war unter wechselnder Oberherrschaft auch kulturell so autark, dass man die Hilfe aus Wittenberg entbehren konnte. Kronstadt führte die Reformation
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selbständig ein. Hermannstadt jedoch nahm die Verbindung zu Wittenberg auf, und dadurch entwickelten sich enge und freundschaftliche Beziehungen. Ähnliches gilt für die deutsch besiedelten Städte im Königreich Ungarn, in der heutigen Slowakei. In Italien wurden Melanchthons Schriften früh verbreitet und übersetzt. Doch zwang die Gegenreformation die „Lutheraner“, als welche auch Anhänger des Erasmus verfolgt wurden, in den Untergrund. Ihre Beziehungen zu Wittenberg konnten – mit wenigen Ausnahmen – nur individuell sein. Früher oder später mussten evangelische Italiener emigrieren. Mit mehreren stand Melanchthon in Verbindung. Böhmen und Mähren waren zwar habsburgisch, aber die lokalen Standesherren hatten genügend Freiheiten für eine relativ eigenständige Religionspolitik. Das Hussitentum, insbesondere in der Gestalt der Böhmischen Brüder, und lutherische Reformation empfanden sich als verwandt. Die Universität Wittenberg wurde eine bevorzugte Bildungsstätte für Tschechen und Deutsche aus Böhmen. Als nach dem Schmalkaldischen Krieg zu entscheiden war, ob diese Universität von dem neuen Landesherrn Moritz von Sachsen, der schon die Universität Leipzig zu unterhalten hatte, weitergeführt werden sollte, machte Melanchthon dafür geltend, dass in Wittenberg Ordinationen sogar für Schlesien, Ungarn und Böhmen vorgenommen würden. Gerade dies konnte der sich formierenden Gegenreformation nicht gefallen. Die territoriale und religiöse Zersplitterung, die der Ausbreitung reformatorischer Gedanken Vorschub geleistet hatte, setzte nun auch die einzelnen Pastoren und Lehrer den gegenreformatorischen Maßnahmen weitgehend schutzlos aus. Mit etlichen stand Melanchthon in Briefwechsel. Er stärkte, beriet und beherbergte sie. Voll Sorge betrachtete er diese Entwicklung, die 1556 in der Gründung eines Jesuiten-Collegs durch Petrus Canisius in Prag kulminierte. Am 13. Februar 1555 richteten die anlässlich einer Kirchenvisitation in Dresden versammelten kursächsischen Superintendenten und Professoren – federführend war wie immer Melanchthon – einen Offenen Brief an die evangelischen Geistlichen in Böhmen und in der Lausitz. Sie trösteten sie in der endzeitlichen Verfolgung und ermahnten sie, ihre Gemeinden im Glauben zu stärken und die papistischen Irrlehren aufzudecken. Der Priesterzölibat und die Forderung nach Ordination durch katholische Bischöfe werden entschieden abgelehnt. Die gegenwärtige Verfolgung gelte der evangelischen Lehre insgesamt. Die Sachsen beteten nicht nur für ihre Brüder unter habsburgischer Herrschaft, sondern boten ihnen auch Asyl an. Auch im Königreich Polen hatten die Standesherren große Freiheiten, wodurch die Reformationsgeschichte recht unterschiedlich verlief. Die Beziehungen zu Wittenberg waren rege.
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All dies kann im Rahmen eines kurzen Jubiläums-Artikels nicht ausführlich dargestellt werden. Wir verzichten also auf eine komplette Bestandsaufnahme und betrachten exemplarisch Melanchthons Eintreten für Glaubensbrüder in Frankreich und England sowie für die Exulanten in Wesel und Frankfurt am Main.
Frankreich Frankreich und die Türken waren die beharrlichen Feinde Kaiser Karls V., durch die er immer wieder gehindert wurde, dem Wormser Edikt von 1521, der Ächtung Luthers und seiner Beschützer und Anhänger, Geltung zu verschaffen. Erst nachdem er mit beiden einen Frieden geschlossen hatte, konnte er den Schmalkaldischen Bund, die politische Organisation der deutschen Protestanten, angreifen und besiegen. Dies geschah bald nach Luthers Tod. Melanchthon musste damals mit seiner Familie aus Wittenberg fliehen und erlebte am eigenen Leib die Wirklichkeit von Exil. Mit den islamischen Türken haben die Protestanten niemals paktiert. Hier blieben sie reichstreu und waren gegen geringe Zugeständnisse zur Mithilfe bei der Verteidigung der habsburgischen Länder Österreich und Ungarn bereit. Der christliche König von Frankreich hingegen war ein möglicher und naheliegender Bündnispartner. Mit seiner Unterstützung wurden die folgenreichsten militärischen Erfolge errungen: 1534 die Rückführung des 1519 vertriebenen Herzogs Ulrich von Württemberg in sein habsburgisch besetztes Land, in dem unverzüglich Kirche und Universität reformiert wurden, und 1552 der Fürstenaufstand gegen Karl V., der den Passauer Vertrag und schließlich den Augburger Religionsfrieden 1555 zur Folge hatte, wodurch die Anhänger der Confessio Augustana in den Reichsfrieden aufgenommen wurden, was das Ende des Wormser Edikts bedeutete. 1530 konnte das Augsburger Bekenntnis diesen Erfolg noch nicht erzielen. Der Kaiser erklärte es für widerlegt und forderte die Unterwerfung seiner Bekenner bis April 1531. Die protestantischen Reichstände warteten diesen Termin nicht untätig ab. In Schmalkalden wurde ein Verteidigungsbündnis geschlossen, dem aber diejenigen Unterzeichner des Bekenntnisses nicht beitraten, die Widerstand gegen den Kaiser nach wie vor für unerlaubt hielten. Es gab aber eine Aktion, an der sich protestantische Reichsstände beteiligten, die nicht dem Bund angehörten, und auch solche, die dem Bekenntnis in Augsburg nicht zugestimmt hatten. Am 16. Februar 1531 richteten die ranghöchsten evangelischen Fürsten und die mächtigsten Städte im Namen aller evangelischen Reichsstände an König Franz I. von
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Frankreich und nahezu gleichlautend an König Heinrich VIII. von England diplomatische Gesuche um Beistand. Diese Schreiben wurden von Melanchthon formuliert. Franz von Frankreich antwortete freundlich, auch er wünsche ein Konzil, und versprach, bis dahin Frieden zu halten. Melanchthon nahm dies ungeachtet der Zweifel seiner Politiker an der Aufrichtigkeit der Franzosen mit Befriedigung zur Kenntnis. Auch ohne auswärtige Mächte wurde in Deutschland ein Frieden erreicht, der sogenannte Nürnberger Anstand. Zu Frankreich unterhielt Melanchthon in den nächsten Jahren private Beziehungen. Es gab dort reformfreundliche Kreise, und solange seine eigene Macht nicht gefährdet schien, sah der König keinen Anlass, den Papst zu verteidigen; dem Kaiser schadete er ohnehin, wo er nur konnte. Wie erwähnt, unterstützte er 1534 finanziell die Eroberung Württembergs durch Landgraf Philipp von Hessen. Im gleichen Jahr wurde Melanchthon dazu gebracht, ein großes Gutachten über eine Reform der Kirche, die eine Spaltung verhindern sollte, auszuarbeiten. Am 1. August 1534 konnte es der aus Pforzheim stammende diplomatische Agent Ulrich Geiger abholen und dem Auftraggeber Guillaume du Bellay, dem königlichen Rat und Bruder des Bischofs von Paris, überbringen. Zu dessen Kreis gehörte auch der aus Schleiden stammende Humanist Johannes Sturm, mit dem Melanchthon ebenfalls korrespondierte. Melanchthon setzte keine Hoffnung auf eine Verständigung mit dem Papst. Aber den Franzosen wollte er so weit wie möglich entgegenkommen, um ihnen klarzumachen, worum es bei der Reformation geht, und sie zum Anschluss zu bewegen. Die Rechtfertigungslehre hat er nach seinem eigenen Zeugnis bewusst konziliant formuliert und manches nur angedeutet. Er meinte, dass ein von den Monarchen einzuberufendes Religionsgespräch wohlmeinender Gelehrter eine Einigung erzielen könnte, denn wirkliche Streitpunkte gebe es weniger, als die ungebildeten Scharfmacher meinten. Insbesondere die kirchliche Verfassung solle nicht angetastet werden. Dies war ein Verhandlungsziel, das Melanchthon schon auf dem Augsburger Reichstag mit Billigung seines Kurfürsten und auch Luthers verfolgt hatte. Es wurde schon damals nicht von allen Evangelischen mitgetragen. Das Gutachten für Frankreich kam natürlich unter die Leute, was es wohl auch sollte, wurde aber zum Teil verkürzt und dadurch verfälscht. In jedem Fall trug es Melanchthon Kritik ein. Wenn man es so ernst nimmt, wie es gemeint war, dann kann man daraus erkennen, wie weit Melanchthon ohne jeden äußeren Druck seinen Gesprächspartners entgegenkommen konnte. Seine Haltung in den Beratungen über das Augsburger
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Interim 1548 und in dem daraus entstandenen Streit um die sogenannten Adiaphora wird dann verständlicher. Melanchthon blieb in Kontakt mit Paris. Ein Jahr danach hatte er eine Einladung des Königs Franz I. von Frankreich. Nun griff sein Dienstherr ein, denn das Verhältnis Kursachsens zu Habsburg durfte nicht durch unautorisierte Verhandlungen eines Professors belastet werden. Melanchthon wurde Mitte August 1535 in die Residenz Torgau bestellt und durch die Räte des Kurfürsten Johann Friedrich gerügt: Er hätte seine Verhandlungen wegen einer Reise nach Frankreich früher dem Kurfürsten mitteilen sollen. Die Genehmigung könne keinesfalls erteilt werden, erstens zum Schutze Melanchthons, vor allem aber aus Rücksicht auf König Ferdinand, den Bruder des Kaisers, mit dem der Kurfürst demnächst verhandeln wollte. Überdies habe der Kaiser solche Verhandlungen grundsätzlich untersagt. Melanchthon gab sich damit nicht zufrieden. Auch Luther setzte sich für diese Reise ein. Sie handelten sich damit eine Abfuhr des Kurfürsten ein, der sich über die Hartnäckigkeit seiner Theologen befremdet zeigte und tadelte, dass Melanchthon, ohne ihn zu informieren, einem Feinde des Kaisers Zusagen gemacht hatte. Für den Kurfürsten hatte der Friede in Deutschland ausdrücklich Vorrang vor der Verbreitung des Evangeliums in fremden Nationen. Johann Friedrich war aber auch inhaltlich mit Melanchthons Reformartikeln nicht einverstanden. In dem Zugeständnis der Kommunion ohne Kelch erblickte er einen Widerspruch zu der in Augsburg verfochtenen Position. Dadurch entstünde der Eindruck des Abrückens von Confessio und Apologie. Wenn Melanchthon dennoch reise, ließ er ihn wissen, habe er die Verantwortung allein zu tragen. Melanchthon war wütend und wochenlang beleidigt. Er spielte sogar mit dem Gedanken, um seine Entlassung nachzusuchen, und sondierte wegen einer Anstellung in Tübingen. Dem französischen Hof teilte er mit, wie sehr er mit seinem Kurfürsten um eine Reisegenehmigung gerungen hatte. Im Zugeständnis des Kelchentzugs erblickte er den wahren Grund. An dem Plan, im nächsten Frühjahr nach Frankfurt und von da nach Frankreich zu reisen, hielt er fest. Er bat die Brüder du Bellay, ihren König weiterhin für die doch so notwendige Kirchenreform geneigt zu machen. Franz I. von Frankreich nahm Melanchthons Briefe in Übersetzung wohlwollend zur Kenntnis. Aber der sächsische Kurfürst wusste noch besser, wie viel ihm sein Professor wert war. Durch ein persönliches Gespräch hat er ihn besänftigt und wieder in die Pflicht der Loyalität genommen. Drei Jahre später pries er den König in einer Vorrede zur griechischen Gesamtausgabe der Werke Galens als Förderer der griechischen Studien und bat zugleich um einen Druckkostenzuschuss. Es ist aber fraglich, ob diese Widmung ihren Adressaten erreicht hat. Die Chancen für die Reformation in Frankreich waren damals jedenfalls schon geschwunden. Johan-
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nes Sturm zog sich nach Straßburg zurück und entfaltete dort seine überaus erfolgreiche pädagogische Tätigkeit. Anders als der letztlich kaisertreue Kurfürst Johann Friedrich trug sein Rivale und Nachfolger Moritz keine Bedenken, mit Frankreich – König war inzwischen Heinrich II. – gegen den Kaiser zu paktieren. Sobald Melanchthon von dem Bündnis der norddeutschen Fürsten mit Heinrich II. Kenntnis erlangt hatte, riet er am 1. November 1551 schriftlich und durch mündlichen Vortrag dringend davon ab, nicht nur mit rechtlich-moralischen Argumenten, sondern er warnte vor der notorischen Treulosigkeit Frankreichs, die er mit mehreren historischen Beispielen belegte. Der Fürstenkrieg fand dennoch statt und war ohne Blutvergießen erfolgreich. Die Protestanten in Frankreich wurden weiterhin unterdrückt. Theologische Orientierung und tatkräftige Hilfe hatten sie längst bei ihrem Landsmann Calvin in Genf gefunden. Dieser pflegte auch den Kontakt zu Melanchthon, den er 1539 in Frankfurt kennengelernt und 1541 in Regensburg noch einmal gesehen hatte. Als im Herbst 1557 viele evangelische Theologen anlässlich eines Religionsgesprächs in Worms versammelt waren, schickte Calvin seine Amtsbrüder Guillaume Farel, Theodor Beza, Jean Budé und Caspar Carmel nach Worms. Sie baten die dort versammelten evangelischen Theologen um Vermittlung einer diplomatischen Intervention ihrer Fürsten bei König Heinrich II. von Frankreich zugunsten von 135 Personen, die damals in Paris als Anhänger der Reformation inhaftiert worden waren. Die Deutschen – es waren Melanchthon aus Kursachsen, Brenz und Jakob Andreae aus Württemberg, Johannes Marbach aus Straßburg, Michael Diller aus Heidelberg, der Hesse Johannes Pistorius und Georg Karg aus Ansbach – verlangten von ihnen ein Bekenntnis im Sinne der Confessio Augustana, wobei ihnen beim Abendmahl eine abweichende Meinung zugestanden wurde, und schrieben dann gleichlautende Empfehlungsbriefe an Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz, Herzog Christoph von Württemberg, Pfalzgraf Wolfgang von Zweibrücken und Landgraf Philipp von Hessen. Melanchthon stattete sie mit einer Empfehlung an den seit kurzem in Heidelberg lehrenden französischen Juristen François Bauduin aus, der ihnen den Zugang zu Ottheinrich und Christoph öffnen sollte. Am 1. Dezember entwarf er dann im Namen der Kurfürsten Ottheinrich von der Pfalz und August von Sachsen und der anderen angeschriebenen Fürsten ein Bittschreiben an König Heinrich II. von Frankreich zugunsten der in Paris gefangenen Protestanten. Den Ausbruch der Hugenottenkriege hat Melanchthon nicht mehr erlebt.
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England Völlig im Einvernehmen und Auftrag seiner Regierung verhandelte Melanchthon mit England. Dass König Heinrich VIII. dabei nur seine persönlichen Zwecke verfolgte, erkannte er bald. Er versuchte, das Beste daraus zu machen, doch das Ende war Enttäuschung und Wut. Der Brief der protestantischen Reichsstände vom 16. Februar 1531 ging wie nach Frankreich auch nach England und erhielt auch von dort eine Antwort, zurückhaltender als von Frankreich, was, wie Melanchthon urteilte, angesichts des heftigen literarischen Streits, den Heinrich VIII. einst mit Luther ausgetragen hatte, nicht verwunderlich war. Aber dann suchte Heinrich den Rat der festländischen Gelehrten über die Möglichkeit der Scheidung von seiner langjährigen Gemahlin Katharina von Aragon, der Tante des Kaisers. Der Basler Gräzist Simon Grynaeus, Melanchthons Jugendfreund, der sich zu Handschriftenstudien auf der Insel befand, machte den Vermittler. Melanchthon votierte im August 1531 für den Fortbestand der völlig rechtmäßigen Ehe mit Katharina und hielt als Ausnahme zwecks Erhaltung der Dynastie eine Doppelehe für erträglicher – bemerkenswert im Hinblick auf das Wittenberger Gutachten für Philipp von Hessen acht Jahre später. Heinrich bevorzugte bekanntlich die Scheidung und später die Hinrichtung lästiger Ehefrauen. In der Religion verfolgte er ebenfalls seine eigenen Wege. Der Einfluss der deutschen Protestanten blieb gering. 1534 trug sich Melanchthon mit dem Gedanken einer Reise nach England, konnte sich aber doch nicht entschließen. Der Hamburger Superintendent Johannes Aepinus, der im Jahr zuvor in Wittenberg promoviert worden war, weilte einige Monate in England und wurde mehrmals vom König empfangen. Er gewann den Eindruck, dass dieser nun die Reformation einführen wolle. Jedenfalls die Trennung von Rom wurde entschlossen vollzogen. Heinrich suchte Rückhalt bei den protestantischen Fürsten Deutschlands, insbesondere beim Schmalkaldischen Bund, dessen Hauptmann zusammen mit dem hessischen Landgrafen der sächsische Kurfürst war. Für diesen bildeten Bekenntnis und Bündnis eine untrennbare Einheit. Deshalb konnte er auf seine theologischen Gutachter nicht verzichten. Melanchthon war überzeugt, dass Heinrich VIII. nur an seiner Ehesache, nicht an den kirchlichen Angelegenheiten interessiert sei, war aber zufrieden, dass dadurch die Evangelischen wenigstens nicht mehr verfolgt wurden. Veranlasst durch den Gesandten Robert Barnes, begutachtete er das englische Religionsgesetz und richtete am 13. März 1535 an den König ein freundliches Schreiben. Er pries ihn als Förderer der Wissenschaften und bat ihn, mäßigend auf die anderen Könige einzuwirken. Damals hatte er sein theologisches Hauptwerk, die Loci communes, dessen Urfassung
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von 1521/22 viele Jahre nicht mehr greifbar war, völlig neu bearbeitet. Er widmete diese Darstellung seiner inzwischen gereiften Theologie König Heinrich VIII. von England. Mit dieser Widmung wollte er ihn dazu bringen, sich über die Verleumdungen der Evangelischen ein eigenes Urteil zu bilden, wozu der König dank seiner Gelehrsamkeit fähig war. Melanchthon appellierte an seine Tugenden. Sie sollten ihn von der Verfolgung der Evangelischen abhalten, die im Gegensatz zur gebotenen Unterdrückung der Radikalen verwerflich sei und den unbestreitbaren Nutzen der Reformation für die Kirche zerstöre. Melanchthon bekennt sich zur „katholischen“ Kirche Christi und stellt sich dem Urteil des Königs. Nachdem das Buch im August 1535 abgeschickt war, erfuhr Melanchthon, dass Thomas Morus und andere Gegner der neuen Religionspolitik Heinrichs hingerichtet wurden. Er war sehr betroffen, äußerte sich aber nicht öffentlich. Erst als 1540 die ganze Englandpolitik des Schmalkaldischen Bundes gescheitert war und Heinrich seinen dafür verantwortlichen Kanzler Thomas Cromwell hatte hinrichten lassen, gab er der nächsten Loci-Ausgabe eine neue Vorrede. Hinfort hatte sein Hauptwerk keinen Patron mehr, sondern wurde den Theologiestudenten, später dem frommen Leser gewidmet. Nur die deutsche Fassung widmete er der Frau seines Freundes Camerarius. In einem Privatbrief nannte er Heinrich einen Tyrannen, den man ermorden sollte. Bis dahin war aber noch mancherlei zu tun, das sogar, ohne dass Melanchthon dies wissen konnte, in der anglikanischen Kirche eine Langzeitwirkung entfaltete. Die verbotene Reise nach Frankreich konnte er auch dadurch verschmerzen, dass der Kurfürst im Herbst und Winter 1535/36 andauernd seine Formulierungshilfe und seinen Rat für die wechselnden englischen und auch französischen Gesandten brauchte. Die Verhandlungen schleppten sich dahin. Im Mai 1538 ging eine Gesandtschaft der Schmalkaldener nach England. Melanchthon verzichtete darauf, dabei zu sein. Nur brieflich suchte er den König zur ernsthaften Reformen zu bewegen. Ein Jahr später waren seine Mahnungen eindringlicher. Die konservative Gestalt der englischen Kirche konnte er nicht billigen. Mit der Abkehr vom Papsttum sei es nicht getan, schrieb er dem König, er müsse auch dessen Missbräuche abschaffen. Große Sorge bereiteten ihm die damals allenthalben vertretenen Interpretationen der Traditionen. Mit solchen Allegorien, spottete er, könne man ägyptische Mysterien in die Kirche einführen. Er forderte von dem König auch die Gewissensfreiheit ein. Der öffentlichen Ordnung sei sie nicht abträglich. Die Verbindlichkeit der Riten fördere den Aberglauben und zerstöre die Wahrheit. Der Zölibat gefährde die Gewissen. Heinrichs Festhalten daran sei eine Beleidigung der deutschen Reformation, die sich für die Würde der naturgebotenen Ehe einsetze. Melanchthon wird noch deutlicher: Die
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Missbräuche der Messen, der Heiligenkult und der Zölibat seien Zeichen des Antichrists. Heinrich möge seine begonnene Kirchenreform vollenden. Neue Hoffnungen gab es in England erst nach Heinrichs Tod. Unter seinem jungen Sohn Edward VI. hatten die Protestanten das Sagen, namentlich der Deutschlandkenner Thomas Cranmer. England bot den in Deutschland durch den siegreichen Kaiser und sein Augsburger Interim verfolgten Evangelischen Asyl. Der Straßburger Reformator Martin Bucer starb in Cambridge. (Unter der katholischen Maria wurde sein Leichnam ausgegraben und verbrannt.) Auch aus den Niederlanden sammelten sich Exulanten in London. Doch als 1553 Edward starb und seine katholische Halbschwester Maria Königin wurde, mussten sie auch aus England fliehen. Einige Gemeinden fanden in Wesel und in Frankfurt am Main Aufnahme. Hier bekam Melanchthon mit ihnen zu tun. In England wurde nach Marias Tod durch Elisabeth endgültig ein reformatorisches Kirchentum errichtet. Melanchthon hat dies noch voll Hoffnung wahrgenommen. Am 1. März 1559 richtete er ein privates Schreiben an die neue Herrscherin. Er wünschte ihr eine glückliche Regierung und bat sie, der kranken Kirche zu helfen, vor allem durch eine Ordnung der Lehre und Zeremonien. Die Hauptstreitpunkte sollten auf einer Synode geklärt werden. Am 1. Oktober 1559 schickte Kurfürst August von Sachsen ein von Melanchthon verfasstes Schreiben an die Königin. Er brachte seine Freude zum Ausdruck, dass Elisabeth die Lehre der Confessio Augustana billige, und regte an, durch eine internationale Theologenkonferenz ein gemeinsames Bekenntnis erarbeiten zu lassen. In einem großen Gutachten für seinen Kurfürsten über die religionspolitische Lage in Deutschland und Europa vertrat Melanchthon am 18. Dezember 1559 die Ansicht, dass mit den evangelischen Kirchen in der Schweiz, in Frankreich, England, Polen und Ungarn Einigkeit in den Hauptlehren bestünde, ausgenommen das Abendmahl. Die Abendmahlsstreitigkeiten, nun in Schlesien, Hamburg, Bremen, Erfurt, bereiteten ihm nach wie vor Kummer. Er fand es empörend, dass der Hamburger Ultralutheraner Joachim Westphal die in Frankreich und England hingerichteten Gegner des Brotkults, wie er die Anbetung der konsekrierten Hostie nannte, als Märtyrer des Teufels bezeichnet hatte. Seinen Kurfürsten forderte er zur Hilfe für die ausländischen Christen, insbesondere in Frankreich, auf.
Wesel und Frankfurt am Main. Bedrängten Glaubensbrüdern in der Ferne zu helfen, schafft ungetrübte Befriedigung. Die besondere Sprache, die anderen Riten und vielleicht
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abweichende Glaubenslehren werden nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Ganz anders eine Fremdengemeinde in der eigenen Stadt. Pluralismus und Toleranz waren in der Reformationszeit erst in der Entwicklung begriffen, und die aufkeimende Orthodoxie hat manche Ansätze ökumenischer Verständigung wieder zerstört. Wenn man sich klar macht, wie schwer es manchen Leuten auch heutzutage fällt, eine Moschee in ihrer Stadt zu akzeptieren, dann bekommt man eine Vorstellung, welche Belastung eine Fremdlingsgemeinde mit unverständlicher Sprache, besonderen Gottesdienstformen und vermutlich nicht ganz orthodoxem Glauben für ein Gemeinwesen bedeutete, und man kann die Humanität und Weitsicht von Politikern und Theologen, die sich für die Aufnahme und das Lebensrecht von Fremden einsetzten, einigermaßen würdigen. Die Hansestadt Wesel, die unter ihrem Landesherrn, dem in Düsseldorf residierenden Herzog Wilhelm von Kleve, eine recht eigenständige Religionspolitik betreiben konnte und sich früh dem Luthertum öffnete, hatte schon 1544 wallonische Glaubensflüchtlinge aufgenommen. Die hochqualifizierten Handwerker waren wirtschaftlich für die Stadt eine Bereicherung. Das Problem der religiösen Integration wurde dadurch gelöst, dass der Schulmeister und Superintendent Nicolaus Buscoducensis, ebenfalls ein Niederländer, ein Glaubensbekenntnis formulierte, das die einheimischen Lutheraner von der Rechtgläubigkeit der Fremden überzeugte. Die Sakramente mussten sie aber von Weseler Geistlichen empfangen. Damit gehörten sie zur Gemeinde Wesel, doch mit Rücksicht auf ihre französische Sprache durften sie eigene Gottesdienste halten. Die Wallonen ihrerseits hatten mit den hochkirchlichen Formen der Weseler Gottesdienste Schwierigkeiten. Es war Calvin, der sie brieflich beruhigte: dies sei nicht entscheidend. Auch für den Genfer Reformator gab es Adiaphora, Dinge, die man um eines wichtigeren Zweckes willen hinnehmen durfte. Immerhin ging es um Messgewänder, Hostien und Elevation. 1553 wurde durch den Regierungsantritt Marias der Katholischen von England ein neuer Flüchtlingsschub ausgelöst. Zur Zeit des von protestantischen Ratgebern bestimmten Königs Edward VI. hatten sich in London unter der Oberleitung des polnischen Emigranten Jan Laski vier Gemeinden von niederländischen und französischen Glaubensflüchtlingen gebildet, die nun schleunigst das Land verlassen mussten. Laski kam in Emden unter, wo er schon früher gewirkt hatte. Nach Wesel kam eine Gruppe Wallonen mit den Predigern François Morel und François Perrucel. Bestärkt von Laski, lehnten sie es ab, sich wie die ältere Wallonengemeinde der Weseler Ortgemeinde anzuschließen, sondern erhoben den Anspruch, eine selbständige Gemeinde zu bilden. Calvins gegenteilige Meinung, der seinen früheren Ratschlag über die adiaphorischen Bräuche der Lutheraner wiederholte, fand bei den aus England Gekommenen keine
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Zustimmung. Sie hielten heimlich Abendmahlsfeiern nach ihrem Londoner Ritus. Nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 verlangte der Weseler Rat auch von den Fremden die Anerkennung der Confessio Augustana, wodurch allein die Aufnahme in den Reichsfrieden gesichert war. Mittlerweile wurde die Abendmahlsfrage wieder strittig, und man begann zwischen Confessio Augustana Variata und Invariata zu unterscheiden, was bisher keine Bedeutung gehabt hatte. Perrucel formulierte sein Abendmahlsverständnis und schlug Melanchthon als Gutachter vor. Dies wurde vom Weseler Rat, der beste Beziehungen zu Wittenberg unterhielt, akzeptiert. Bevor Melanchthon antworten konnte, schickte der Rat den Pfarrer Thomas Plateanus, der einst in Wittenberg den Magistergrad erlangt hatte, zur mündlichen Verhandlung. Kurz zuvor war Laski einen ganzen Tag lang bei Melanchthon gewesen. Zweifellos wurde über die Exulanten gesprochen. Mit seinem ehemaligen Schüler wurde Melanchthon überhaupt nicht einig. Er tadelte die „grobe“ Abendmahlslehre der Weseler Lutheraner, die nicht mit Luthers Verständnis übereinstimme. Die Fremden, die um der Wahrheit willen ihre Heimat verlassen hätten, würden die Wahrheit gewiss nicht um des Asyls willen verleugnen. Man hätte sie gar nicht aufnehmen sollen, wenn man sie wieder vertreiben wolle. Statt das Volk von der Kanzel gegen die Fremden aufzuhetzen, sollte man es recht unterweisen. Dem Rat schrieb er am 13. November 1556 das gewünschte Gutachten. Wie die Reichsstädte Frankfurt und Straßburg solle auch Wesel den Franzosen und Engländern eigene Gemeinden zugestehen. Ihre Vertreibung wäre eine unbillige Härte, da sie keine Wiedertäufer oder Irrlehrer seien. Melanchthon verweist auf Luthers Zustimmung zur Wittenberger Konkordie und verwirft ultralutherische Anschauungen ebenso wie die Transsubstantiation. Schließlich appelliert er an das Mitgefühl des Herzogs Wilhelm von Kleve und der Bürger von Wesel. Mit seiner Fürsprache erreichte er nur eine Duldung bis März 1557. Darauf zogen die Flüchtlinge nach Frankfurt am Main. Der Rat zeigte Wohlwollen, die Prediger jedoch nicht. Hubert Languet, ein Burgunder, der lange bei Melanchthon in Wittenberg gelebt hatte, hielt sich während der Mai-Messe dort auf und berichtete seinem Wittenberger Gastfreund. Er half den Fremden auch materiell. Dem Rat der Reichsstadt schrieb Melanchthon am 13. Juli 1557 ein Gutachten. Er versicherte, dass die Frankfurter Gemeinden der Franzosen und Engländer keine Irrlehren verträten, sondern sich an die altkirchlichen Bekenntnisse und an die Confessio Saxonica hielten, nur nicht in der Abendmahlslehre. Deshalb sollten sie nicht vertrieben werden. Melanchthon regte an, sie in einer überregionalen Synode anzuhören, und er hielt es für notwendig, dass die Regierungen für eine einheitliche Abendmahlslehre und -praxis sorgten.
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Insbesondere die unterschiedliche Handhabung der Elevation führe zu Streit. Der Frankfurter Rat war zu keiner Entscheidung fähig, sondern beschloss, Melanchthons Gutachten kommentarlos zu den Akten zu nehmen. Im August desselben Jahres musste Melanchthon nach Worms zu einem Religionsgespräch. Auf der Rückreise im Dezember 1557 blieb er drei Nächte in Frankfurt. Bei einem Essen im Hause seines Gastgebers, des Patriziers Claus Bromm, wurde auch über die Glaubensflüchtlinge gesprochen. Melanchthon griff Hartmann Beyer an, den damals bedeutendsten Kopf der Frankfurter Geistlichkeit, der – wie konnte es anders sein – in Wittenberg seinen Magister gemacht hatte. Melanchthon verlangte von Beyer, dass er und seine Kollegen die Fremden wie der Rat behandeln und nicht auf ihre Vertreibung hinarbeiten sollten. Beyer antwortete, die Geistlichen hätten in ihrer Eingabe an den Rat nicht die Vertreibung der Fremden gefordert, sondern die Annahme der Confessio Augustana mit Apologie und Wittenberger Konkordie und die Befolgung der in Frankfurt üblichen Zeremonien. Melanchthon selbst habe ihn dreieinhalb Jahre zuvor in Leipzig vor den Fremden gewarnt und Uneinigkeit vorausgesagt. Melanchthon konterte, inzwischen habe sich die Lage verändert, und erregte sich über gewisse grausame Intriganten; in der Lehre bestünde Konsens mit den Fremdengemeinden, die nur die Abendmahlslehre für erklärungsbedürftig hielten wie übrigens auch er, und er griff namentlich den Hamburger Calvin-Gegner Joachim Westphal an. Nun erläuterte Beyer, der im Gegensatz zu Westphal ein gemäßigter Lutheraner war, die Abendmahlslehre der Frankfurter und erklärte seine Übereinstimmung mit Melanchthons Büchern und mit der von Melanchthon und Bucer verfassten „Kölner Reformation“. Damit beruhigte sich Melanchthon und lud Beyer zur Fortsetzung des Gesprächs ein. Dieses zweite Gespräch verlief weniger erregt. Melanchthon bat erneut um Toleranz, gestand den Frankfurter Geistlichen aber zu, über die rechte Lehre zu wachen. Er habe auch mit den Flüchtlingen geredet und setze seine Hoffnung auf eine Synode der Evangelischen. Ein Jahr nach Melanchthons Tod wurden sie schließlich doch vertrieben. Am meisten hatte Beyer darauf hingewirkt. Zuflucht fanden sie in der Kurpfalz. Hier wurden seit 1562 in den aufgelösten Klöstern Frankenthal und Schönau, später auch in Lambrecht und Otterberg, Glaubensflüchtlinge angesiedelt. Als erste kamen mit ihrem Prediger Petrus Dathenus 58 Familien, denen die Reichsstadt Frankfurt das Asyl gekündigt hatte. Dass Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz keinen Anstoß an den von Calvin geprägten Zuwanderern nahm, ja dass er 1563 mit dem Heidelberger Katechismus eine reformierte Bekenntnisschrift verbindlich machte und sein Land immer mehr dem Calvinismus zuführte, wurde maßgeblich durch ein Gutachten Melanchthons initiiert. Den Heidelberger Abend-
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mahlsstreit beendete Friedrich zwar selbst, indem er beide Kontrahenten, den Lutheraner Heshusen wie den Zwinglianer Klebitz, entließ. Er fragte aber den Wittenberger nach dem rechten Verständnis des Abendmahls. Melanchthon stellte in seiner Abhandlung vom 1. November 1559 das Wort des Apostels Paulus: „Das Brot, das wir brechen, ist die Gemeinschaft des Leibes Christi“ (1. Kor. 10, 16) in die Mitte der Abendmahlslehre. ,Gemeinschaft‘ sagt nichts über die Substanz aus. Zu fragen, was in den Magen gelangt, oder was eine Maus frisst, wenn sie eine geweihte Hostie erwischt, zeugt von Aberglauben. Es kommt nicht auf das Wesen, sondern auf die Gabe des Mahls an, die nur im Vollzug der Feier geschenkt wird. Bei der Verkündigung des Evangeliums ist Gottes Sohn wirklich gegenwärtig in den Gläubigen, nicht um des Brotes, sondern um des Menschen willen, der als Glied Christi die Verheißung der Auferweckung seines Leibes empfängt. Melanchthon führt hier die Lehre der Wittenberger Konkordie aus, der gemäß er 1540 die Confessio Augustana verändert hatte. Friedrich konnte sich zu dieser Variata bekennen, auch als ihn andere schon für einen Calvinisten hielten. Die von Bucer und Melanchthon entwickelte Abendmahlslehre, die auf Seinsaussagen verzichtet und sich ganz auf das Geschehen konzentriert, war nicht Luthers Lehre, wurde von ihm aber als evangelisch anerkannt. Sie wird seit 1973 auch von der Leuenberger Konkordie vertreten und bildet somit eine Basis für die Kirchengemeinschaft der weltweit verstreuten evangelischen Christen.
Melanchthon und Osiander über die Rechtfertigung Zwei Versuche, Wahrheit zu formulieren Im Jahre 1910 veröffentlichte der Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl in der Tübinger Zeitschrift für Theologie und Kirche einen großen Aufsatz, der einer der wichtigsten Beiträge zur sogenannten Lutherrenaissance des 20. Jahrhunderts wurde. Sein Titel lautet: »Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewissheit«. Darin steht der lakonische Satz: „Melanchthon hat die lutherische Rechtfertigungslehre verdorben“1. Andreas Osiander, zu dessen Gedächtnis anlässlich der Vollendung der von Gottfried Seebaß betreuten Gesamtausgabe seiner Schriften und Briefe2 diese Studie entstanden ist, war derselben Meinung. Vielleicht wissen wir an ihrem Ende, was daran richtig und was falsch sein könnte, ,richtig‘ oder ,falsch‘ freilich nicht im Sinne einer allgemeinen Wahrheit, sondern im Sinne der Stimmigkeit innerhalb eines Systems, über dessen Prämissen man sich grundsätzlich einig weiß. Osiander und Melanchthon sind reformatorische Theologen lutherischer Prägung. Sie wollten in ihren Predigten und Publikationen die Wahrheit der Heiligen Schrift erläutern, und sie waren beide davon überzeugt, dass Luther dafür die hilfreichsten Hinweise gegeben hatte. Sie kannten sich persönlich und schätzten sich. Allerdings ist eine gewisse Distanz von Anfang an unverkennbar. Warum konnten diese beiden bedeutenden Theologen in der zentralen Frage ihres Glaubens nicht einig werden? Was unter dem Terminus ,Rechtfertigung‘ zu verstehen ist, ist nicht von vornherein klar. Albrecht Ritschl, der große Systematiker der Wilhelminischen Gesellschaft, von dem die schlechte Meinung über Melanchthon, die Karl Holl hatte, letztlich herstammt3, versteht in seinem »Rechtfertigung und Versöhnung« betitelten Werk unter „Rechtfertigung“ und besonders unter „Versöhnung“ etwas ganz anderes, als was Melanchthon
1
Karl HOLL, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1 (61932), 128. Osiander-GA. 3 Rolf SCHÄFER, Albrecht Ritschls Melanchthonbild und seine Folgen. In: Erinnerung an Melanchthon. Beiträge zum Melanchthonjahr 1997 aus Baden, hrsg. v. Vorstand des Vereins für Kirchengeschichte in der Evang. Landeskirche in Baden (1998), 75–85. 2
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darunter verstand4. Dies mag angehen, solange er sich in seinem eigenen System bewegt. Wenn aber seine Urteile aus ihrem systematischen Zusammenhang gelöst und isoliert gebraucht werden, was durch die Theologen der folgenden Generationen geschah, die sich dieses Zusammenhangs nicht bewusst waren und sogar zumeist Ritschls System ablehnten, dann wird dieses Urteil falsch, falsch im eingangs definierten Sinn, denn es verlässt den Kontext des Systems. Für einen Philosophen ist dies eigentlich eine Banalität. Aber in der theologischen Diskussion, auch unter Fachleuten verschiedener Richtungen oder Konfessionen, redet man oft aneinander vorbei, weil man, meist unbewusst, verschiedene Terminologien verwendet. Theologisches (wie philosophisches) Nachdenken kann immer nur zu vorläufigen Ergebnissen gelangen, und es ist gut, wenn man sich dessen bewusst bleibt. Andererseits würde man die Mühe des Nachdenkens nicht auf sich nehmen, wenn man nicht überzeugt wäre oder wenigstens die Hoffnung hätte, an einem wie immer beschaffenen Ziel anzukommen. Melanchthon war davon überzeugt, dass es gelingen könnte, die Wahrheit in Worte zu fassen5. Er war nicht der Meinung, dass er allein das könnte, sondern er sehnte sich nach einer Konferenz kluger und friedlicher Männer6 (Frauen waren damals in solchen Dingen völlig außerhalb des Blickfeldes). Als er die Erfahrung machen musste, dass eine solche Konferenz, der es nicht um’s Rechthaben, sondern um die Wahrheit geht, nicht zustande kam, verlegte er seine Hoffnung ins Jenseits. Den Himmel stellte er sich als eine ideale Akademie vor, in der er von kompetenten Leuten, den Propheten und Aposteln, gelegentlich auch Christus selbst, all das lernen konnte, was ihm in seinem irdischen Gelehrtenleben unklar geblieben war7. Dass dies so ziemlich alles war, worauf es ankommt, hat er kurz vor seinem Tod auf einen Zettel geschrieben8. Man zitiert daraus gern seine Freude, von der Wut der Theologen, der rabies theologorum, befreit 4
Rolf SCHÄFER, Ritschl (1968), 112–114, 129–137. - Gerhard SAUTER, Rechtfertigung IV-VII: TRE 28 (1997), 315–364, 337–339. - Rolf SCHÄFER, Ritschl: TRE 29 (1998), 220–238, 227–229. - Eckard LESSING, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Bd. 1: 1870-1918 (2000), 35–43. 5 Et cum ad concordiam utilis sit proprietas sermonis, mediocrem diligentiam certe adhibeo, ut plerumque loquar proprie. Optarim autem, ut de quibusdam materiis et de formis loquendi colloquerentur aliqui eruditi, ut ceterae nationes magis invitarentur luce rerum optimarum et minus oriri certaminum posset ad posteros explicatis ambiguitatibus (CR 6, 110 = MBW 5543.5 = Osiander-GA 9, 87.1-5 ). 6 MBW 7827, 8227, 9186. 7 MBW 5458, 5459, 6463, 6479, 6627.3, 7194, 7295.3, 8821.1. 8 MBW 9299. Meine Übersetzung in: Heinz SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie (1997), 263.
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zu werden. Tiefer lässt seine positive Hoffnung blicken: Er glaubte, nun endlich zu erfahren, wie das mit dem Menschen und seinem Willen ist, dem Hauptstreitpunkt zwischen Humanismus und Reformation, ausgetragen von Luther und Erasmus, der auch unmittelbare Auswirkungen auf das Verständnis der Rechtfertigung hat, der zentralen Frage nach der Existenz des Menschen vor dem Absoluten. Das andere, was er im Himmel lernen wollte, ist die Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur in Christus. Als junger Professor hatte er geschrieben, Christus erkennen, heißt seine Wohltaten erkennen, nicht seine Naturen betrachten. Christum cognoscere est beneficia eius cognoscere, non ... eius naturas ... contueri9. Später sah er sich doch gezwungen, die kirchliche Lehre seinen Studenten zu erläutern. Aber er blieb sich dabei treu. Er bewahrte sich die Haltung des Referenten und des Beters10. Manche seiner Schüler jedoch, und es waren nicht die dümmsten, wussten genau, was kraft der communio naturarum und der communicatio idiomatum vom Gottmenschen in concreto und was in abstracto gesagt werden kann und muss oder nicht darf, und wer hier das Falsche lehrte und darauf beharrte, war rasch seine gute Stelle samt Aufenthaltsgenehmigung los und musste froh sein, wenn er seine Haut ungeschoren davontragen konnte11. Melanchthon ist nicht unschuldig an dieser Entwicklung. Er hat seine Schüler zu klarem Denken und verantwortetem Reden erzogen12. Wer durch eine solche Schule ging, möchte das, was er schwarz auf weiß nach Hause trug, auch als ktêma es aeì behalten. Während der Meister viele Jahre brauchte, bis er die beneficia Christi so verstanden zu haben meinte, dass er sie in einer Rechtfertigungslehre, die von der Fachwelt forensisch genannt wird, formulieren konnte13, wussten die Schüler wenig von dem Weg dorthin und waren glücklich, wenn sie das Räuspern und Spucken beherrschten. Der Osiandrische Streit, der viel Elend (im Sinne von Vertreibung) und auch ein Todesurteil über die Kirche Ostpreußens 9
CR 21, 85. Heinz SCHEIBLE, Melanchthon: TRE 22 (1992), 371–410, 390.11–38 . - Martin H. J UNG, Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators (1998), 234–238. 11 Exemplarisch der Streit um Tilemann Heshusen: Walther HUBATSCH, Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens, Bd. 1 (1968), 111–114. - Peter F. B ARTON, Heshusius: TRE 15 (1986), 256–260, 257 f. 12 Amo et ego rectum sermonem, et assidue vociferor in schola, ut assuefaciant se omnes ad tuendam proprietatem in dicendo. Nec ubique in omnibus materiis ignosci mihi volo improprie loquenti (CR 6, 109 = MBW 5543.3 = Osiander-GA 9, 86.6–8 ). - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Bildungsprogramm (1986): Forschungsbeiträge (1996), 99– 114, 104 f. 13 TRE 22, 392.26–39 . - Christian P ETERS, Apologia Confessionis Augustanae. Untersuchungen zur Textgeschichte einer lutherischen Bekenntnisschrift (1530-1584) (1997). 10
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brachte, wurde von den Schülern angefangen und verbittert weitergeführt14. Dass Melanchthon mit Osiander und ganz besonders mit seinem des Osiandrismus verdächtigen Jugendfreund Brenz schonend umging15, war meines Erachtens nicht nur taktische Zurückhaltung gegenüber eigenständigen Mitreformatoren, sondern auch das Wissen um die Vielfalt kirchlicher Lehre16.
*** Osiander17 ist ein Reformator der ersten Stunde. Etwa gleichaltrig mit Melanchthon (man weiß nicht, ob er 1496 oder 1498 geboren ist), demselben sozialen Milieu, wohlhabendem Bürgertum einer fürstlichen Landstadt, entstammend, war er umfassend gebildet, auch in Griechisch und Hebräisch, hat aber sein Studium in Ingolstadt, wo er Reuchlin hörte, ohne akademischen Grad beendet. 1520 empfing er die Priesterweihe und kam als Hebräischlehrer nach Nürnberg, wo er sich alsbald den Anhängern Luthers anschloss und 1522 vom reformfreundlichen Rat auf die Predigerstelle an St. Lorenz, einer der beiden Hauptkirchen der Reichsstadt, berufen wurde. Beim entscheidenden Religionsgespräch vom März 152518, seit dem Nürnberg offiziell als evangelische Stadt gilt, profilierte er sich als Wortführer und bedeutendster Theologe der evangelischen Seite. Er durfte auch die Schlusspredigt halten19 Darin beschreibt er die Mitte der evangelischen Botschaft so20: Das Gesetz Moses führt uns zur Erkenntnis der Sünde. Sünde bedeutet, dass Gott, unsere Gerechtigkeit, nicht in uns ist. Wir können uns noch so sehr anstrengen, die Forderungen des Gesetzes zu erfüllen, die Liebe Gottes, die allein das Gesetz erfüllt, ist nicht da. Wer dies bemerkt, hadert mit Gott 14
Martin STUPPERICH, Osiander in Preussen 1549-1552 (1973). - Jörg Rainer FLIGGE, Herzog Albrecht von Preussen und der Osiandrismus 1522–1568 (Diss. phil. Bonn 1972). - Hartmut B OOCKMANN, Preußen I: TRE 27 (1997), 359–364 (Lit.). 15 MBW 8328, 8332, 8335, 8353.2, 8363, 8373, 8375, 8480, 8494, 8495, 8505, 8518, 8539, 8540, 8543.8. 16 Nec tamen pugno de modo loquendi, nec impedio, quo minus alii sint magis diserti. Si quis aliis verbis aut alia partitione mavult uti, modo ut consensus de rebus necessariis retineatur, non iudico propterea certamen movendum esse (CR 6, 109 = MBW 5543.3 = Osiander-GA 9, 86.3–5 ). 17 Gottfried SEEBASS, Osiander: TRE 25 (1995), 507–515. - DERS., Osiander: NDB 19 (1999), 608 f. 18 Gunter ZIMMERMANN, Prediger der Freiheit. Andreas Osiander und der Nürnberger Rat 1522-1548 (1999), 112–148. 19 Osiander-GA 1, 541–576 Nr. 43. 20 Osiander-GA 1, 558–561.
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und gerät darüber immer mehr in die Verzweiflung, sehnt sich schließlich aber auch nach Hilfe, die ihm Christus bringt. Er ist der Mittler, der Gottes Zorn über die Sünde gestillt, indem er unsere verdiente Strafe auf sich genommen hat. (Dieser Gedanke des stellvertretenden Leidens ist uns heute schwer verständlich, aber es gibt in der Antike das Rechtsinstitut der stellvertretenden Bestrafung, das noch in Schillers Ballade „Die Bürgschaft“ vorausgesetzt wird21.) Zurück zu Osianders Predigt! Hier heißt es weiter und nun wörtlich: „Es ist aber nicht genug, dass uns die Sünde von Gott verziehen und die Strafe nachgelassen ist, weil wir dennoch Sünder bleiben. Sondern es muss sich Christus auch zu uns wenden. Und wie er mit dem Vater gehandelt hat, dass er den Zorn lass fallen, also muss er auch mit uns handeln, dass wir der Sünde abstehen, denn so ist er ein rechter Mittler zwischen Gott und den Menschen. Das tut und vollendet er aber in zwei Werken: Er bricht und vertilgt die Sünd in uns und pflanzt dagegen die Gerechtigkeit in uns.“22 Die Sünde wird durch Leiden in der Nachfolge Christi vertilgt. Hier hat die Taufe als Zeichen von Tod und Auferstehung ihren Ort. Die Gerechtigkeit wird gepflanzt durch die Verkündigung des Evangeliums. Dabei handelt es sich nicht nur um die mündliche Verkündigung, sondern (nun wieder fast wörtlich) „Gottes Wort ist Gott selbst, Christus unser Herr. Wem das durch einen rechten Glauben geoffenbart wird, in dem ist Gott selbst, der unsere Gerechtigkeit ist. Denn Gott ist die Liebe, die Liebe aber erfüllt das Gesetz. [...] Wer das glaubt, der hat das Wort, das Gott selbst ist, nämlich Christus der Herr, in seinem Herzen“23. Hier hat das Abendmahl als Bestätigung seinen Ort. Solche Predigten haben damals vielen Menschen aus ihrer religiösen Not geholfen und sie zu überzeugten Anhängern der von Luther ausgelösten Kirchenreformation gemacht. Einer von ihnen war der Hochmeister des Deutschen Ordens, Markgraf Albrecht von Brandenburg-Ansbach, der von seiner Residenz im fernen Königsberg in Preußen gelegentlich in seine fränkische Heimat kam. Luthers Schriften und Osianders Predigten ließen ihn zu dem Entschluss kommen, dem Mönchtum zu entsagen, nicht aber seiner weltlichen Herrschaft, die er in ein erbliches Herzogtum verwandelte, aus dem schließlich das Königreich Preußen hervorging24. Das war 1525. 1549 greifen wir diesen Faden wieder auf.
21
Udo EBERT, Friedrich Schillers Ballade „Die Bürgschaft“ im Lichte des Strafrechts, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 108 (1996), 467–493. 22 Osiander-GA 1, 559.20–560.6 . - Die Zitate werden hier und im folgenden schonend modernisiert. 23 Osiander-GA 1, 561.8–11+16 f. 24 Walther HUBATSCH, Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490–1568 (1960).
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Karl Holl wäre mit dieser Rechtfertigungslehre ebenso wenig zufrieden gewesen wie mit der von Melanchthon. Denn was er Melanchthon vorwirft, gilt auch für Osiander: Der Mensch steht im Mittelpunkt des Interesses, wogegen Holl meint zeigen zu können, dass Luther das Rechtfertigungsgeschehen nicht nur von den Bedürfnissen des Menschen, sondern auch von Gott her zu denken vermochte. Nicht einmal Calvin habe dies geschafft. „Selbst ihn haben Melanchthons Formeln niedergezogen“25. Es ist hier nicht zu untersuchen, ob Holl Luthers Theologie angemessen beschrieben hat. Melanchthon ist jedenfalls für ihn die – negativ bewertete – Alternative, die sich in der Geschichte auch des Luthertums durchgesetzt hat26. Damit ist sie für den Historiker, der eher beschreibt als bewertet, von höchstem Interesse. Wie also sieht Melanchthons Lösung des Problems der Rechtfertigung des Sünders vor Gott aus?
*** Im Augsburgischen Bekenntnis von 1530, das die Reichsstadt Nürnberg sofort unterzeichnet hat, handelt der Artikel 4 von der Rechtfertigung, die im deutschen Text „Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit vor Gott“ heißt27. Sie wird durch den Glauben an das Heilswerk Christi erlangt. „Diesen Glauben will Gott für Gerechtigkeit vor ihm halten und zurechnen.“ Hanc fidem imputat deus pro iustitia coram ipso. Mehr wird dazu nicht gesagt, denn es genügt. Es folgt Artikel 5 über das Predigtamt, das den Glauben vermittelt. Dann erst kommt die notwendige Aussage über den neuen Gehorsam, der folgen muss, aber deutlich von der Rechtfertigung unterschieden wird. Bei Osiander dagegen gehört die Erneuerung mit zur Rechtfertigung. Melanchthons Frontstellung ist die Scholastik der Confutatoren, gegen die er in der Apologie seine Lehre in mühevoller Arbeit umständlich entwickelt und verteidigt28.
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HOLL (wie Anm. 1), 129 Anm. 1. Ebd. 113. 27 BSLK 56. 28 PETERS (wie Anm. 13). - DERS., Er hats immer wollen besser machen [...]. Melanchthons fortgesetzte Arbeit am Text der lateinischen Apologie auf und nach dem Augsburger Reichstag von 1530. In: Im Schatten der Confessio Augustana. Die Religionsverhandlungen des Augsburger Reichtages 1530 im historischen Kontext, hrsg. v. Herbert Immenkötter und Gunther Wenz (1997), 98–126. - DERS., Melanchthons Apologie des Augsburgischen Bekenntnisses. Genese – Überlieferung – Erforschung und Rezeption. In: Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert. Tagung anläßlich seines 500. Geburtstages an der Universität Leipzig, hrsg. v. Günther Wartenberg (1999), 31–52. 26
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In der Neubearbeitung der Confessio Augustana von 1540, der Variata, konnte er dann die Rechtfertigung in großer Klarheit darstellen29. Er setzt beim Evangelium ein, das in die Buße führt – bei Osiander ist dies wie üblich eine Funktion des Gesetzes30 – und uns die Wohltaten Christi vor Augen stellt und lehrt, dass sie umsonst geschenkt werden. Hierbei sagt Melanchthon nun auch, warum das ,umsonst‘ so wichtig ist: damit die Sündenvergebung für den Glaubenden gewiss sein kann. Wenn sie von irgendeiner Bedingung im Menschen abhinge, dann wäre sie nicht gewiss. Ut remissio peccatorum certa sit, docet eam gratis donari, h. e. non pendere ex conditione dignitatis nostrae31. Die Heilsgewissheit und der damit verbundene Gewissenstrost ist das zentrale Motiv der Theologie Melanchthons32. Karl Holls Vorwurf trifft ihn zu Recht: Er denkt nicht von Gott her, sondern vom verzweifelten Menschen aus. „Bäpstliche Lehre, dass die Menschen in Zweifel bleiben sollen, ist grausame, heidnische Blindheit. Darum ist not, oft davon Erinnerung zu tun, besonder dieweil die Bepstlichen diesen ihren großen Irrtumb noch für und für stärcken und haben in ihrem falschen Concilio zu Trident diesen Artikel gesetzt, dass der Mensch für und für im Zweifel bleiben soll, ob er Gott gefällig sei.“ Dies schärft Melanchthon den angehenden Predigern im Examen Ordinandorum 1552 ein33. Solchen Schutz gegen den mit jeglicher Art von Werkgerechtigkeit verbundenen Zweifel schien ihm Osianders Lehre, mit der er sich gerade damals auseinandersetzen musste, nicht zu bieten34. Immer wieder bemühte sich Melanchthon um angemessene Formulierungen. Eine sehr klare Definition ist diese: Iustificatio est acceptio remissionis peccatorum, h. e. reconciliationis et imputationis iustitiae et acceptionis ad vitam aeternam propter meritum filii dei per fidem, qua simul fit liberatio ex morte aeterna et vivificatio per filium dei dia tou logou, et sanctificatio per spiritum sanctum35. Die Erneuerung, an der Osiander und den Katholiken so viel gelegen ist, kommt auch in Melanchthons Rechtfertigungslehre vor, sie geschieht gleichzeitig, simul, aber sie ist logisch davon klar unterschieden, weil sie 29
CR 26, 352 f. = MSA 6 (1955), 14–16. - Zur historischen Funktion der Variata vgl. Gottfried SEEBASS, Der Abendmahlsartikel der Confessio Augustana Variata von 1540. In: Dona Melanchthoniana. Festgabe für Heinz Scheible zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Johanna Loehr (2001), 411–424. 30 Osiander-GA 10, 114/115 (Vom einigen Mittler) und schon 1525 (oben bei Anm. 20). 31 MSA 6, 15.12. 32 Z. B. CR 23, 650 f = MSA 6, 433 (Doctrina de poenitentia, 1549) und oben passim. 33 MSA 6, 195.20–26 . 34 MBW 6294.5 = MSA 6, 458 f; MBW 7054.2. 35 MBW 7920.2 = CR 8, 824.
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sachlich etwas anderes ist. Den Vorwurf der Unverbindlichkeit wies er zurück, z. B. in den deutschen Loci von 1555: „Also lehren unsere Kirchen auch und reden nicht allein von solcher Annehmunge oder Gerechtsprechung, da keine Veränderung im Menschen geschieht, wie uns Osiander fälschlich ufflegt, sondern wir reden von allen Gütern, die der Sohn Gottes uns erworben hat, gibt und wirket in uns, nämlich von Vergebung der Sünden, von gnädiger Annehmung bei Gott, von Zurechnung der Gerechtigkeit, von der neuen Geburt in uns, darinne der Sohn Gottes selbs wirket durch das Evangelium, spricht den Trost in uns und gibet uns den heiligen Geist und machet uns Erben der ewigen Seligkeit, und gibet nach diesem Leben ewige Seligkeit“36. Seine Unterrichtstätigkeit an der Philosophischen Fakultät legte es nahe, die theologischen Sachverhalte mit logischen Kategorien zu erläutern oder umgekehrt die Beispiele für den Logikunterricht auch aus der Theologie zu nehmen. Hier also die Rechtfertigung logisch gegliedert37: Das obiectum des Glaubens ist die Barmherzigkeit Gottes, womit er uns für gerecht erklärt. Diese Barmherzigkeit wird uns durch das Wort (die Predigt des Evangeliums) gezeigt; das Wort ist also das instrumentum. Causa efficiens, die treibende Kraft, ist der Heilige Geist, der durch das Wort wirkt und den Geist und Willen des Menschen bewegt. Und der Wille stimmt zu oder zumindest sperrt er sich nicht. Et voluntas adsentiens seu non repugnans. Hier bleibt Melanchthon haarscharf davor stehen, den Willen als eine causa der Rechtfertigung zu bezeichnen. Causa sine qua non, der Wille muss wenigstens ein bisschen mitmachen, hatte er einmal geschrieben und viel Ärger bekommen38. Jetzt bestimmt er ihn als Subjekt des Glaubens (Objekt ist die Barmherzigkeit Gottes). Subiectum, in quo haec geruntur, est ipsa hominis anima, mens et voluntas. Und dann kommen die Wirkungen, das, worauf alle so großen Wert legen. Melanchthon auch. Voco effectus omnia, quae necessario veram fidem sequuntur. Dass die guten Werke nötig sind, gefiel manchen seiner Kritiker auch nicht. Und als ein nicht so besonnener Denker, sein Kollege Georg Maior, sagte, sie seien nötig zur Seligkeit, da wurde er zum Ketzer gemacht39. Effekte sind alles, was dem wahren Glauben notwendigerweise folgt. Die Rechtfertigung ist kein Effekt des Glaubens, sondern sein Korrelativ, ja sogar sein proprium, das Wesentliche an ihm, und zwar weil es Gott so bestimmt hat. Comitatur autem fidem ex pacto dei iustificatio, i. e. reconciliatio seu imputatio
36
CR 22, 325. CR 13, 427 (Elementa Rhetorices, 1542). 38 Wolfgang MATZ, Der befreite Mensch. Die Willenslehre in der Theologie Philipp Melanchthons (2001), 129, 184 f. 39 Heinz SCHEIBLE, Major, Georg: TRE 21 (1991), 725–730, bes. 727–729. 37
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iustitiae. Haec potest dici proprium fidei seu correlativum, quia est quiddam quod necessario ex pacto dei fidem comitatur.
*** Etwa zur gleichen Zeit, als Melanchthon die Apologie der Confessio Augustana schrieb und dabei in mühevoller Arbeit sein definitives Verständnis der Rechtfertigung zu Papier und im September 1531 in den Druck brachte40, wurde in Nürnberg in Verbindung mit BrandenburgAnsbach eine Kirchenordnung erstellt und im Januar 1533 publiziert. Die Hauptarbeit leistete Osiander, zeitweilig unterstützt von Brenz41. Darin wird gelehrt42: „Es ist noch nicht genug zur Besserung und Frumkeit, die vor Gott gilt, dass man Reu und Leid über die sünd hab, (...) sondern es muss eine vollkommene Bezahlung oder Genugtuung da sein für die vergangene Sünd und eine rechtschaffene Besserung und ewige Gerechtigkeit folgen in dem künftigen Wandel und Leben.“ Dies könnte man noch lutherisch-melanchthonisch verstehen, denn es heißt weiter: „Nun vermag aber der Mensch dieser beider keins aus eigen Kräften oder durch sich selbst, sondern Christus (...) hat durch sein allerheiligstes Leiden und Sterben unser aller Sünd bezahlt.“ Und es wird gesagt, dass die Rechtfertigung durch die Predigt des Evangeliums geschehe. Schon hier ist von einer „ewigen Gerechtigkeit“ die Rede. Osiander nähert sich seiner eigentümlichen Auffassung schrittweise. Er entfaltet seine Lehre vom doppelten Handeln des Mittlers, nämlich gegenüber Gott und gegenüber den sündigen Menschen. Das Evangelium bringt uns die Vergebung und damit Trost. Damit kann Melanchthon völlig einverstanden sein. Doch dann fährt Osiander fort: „Zum andern bringt es uns die Gerechtigkeit Christi und gibt uns dieselbe zu eigen.“ Die Rechtfertigung besteht für Osiander aus zwei Stücken, der Vergebung der Sünde und dem Geschenk der Gerechtigkeit Christi43. Doch nicht genug: Das Evangelium bringt den dreieinigen Gott in des Gläubigen Herz. Es folgen Wiedergeburt und neues Leben. Dies kann man als Folge der Rechtfertigung verstehen, obwohl für Osiander der Zusammenhang enger ist. 40
Dass die Oktavausgabe vom September 1531 Melanchthons endgültige Fassung enthält und nicht die seit 1584 im Konkordienbuch und deshalb auch in BSLK reproduzierte Quartausgabe vom April/Mai 1531, hat Christian P ETERS (wie Anm. 13), 179–189, überzeugend nachgewiesen. Seiner Übersetzung liegt demgemäß die (kürzere) Oktavausgabe zugrunde: EvBek 1 (1997), 99–306. 41 Edition von Matthias SIMON in: EKO 11, 140–205, von Gottfried SEEBASS in: Osiander-GA 5. - Jüngste Darstellung: ZIMMERMANN (wie Anm. 18), 268–308. 42 Osiander-GA 5, 87. 43 Osiander-GA 5, 92.
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Nun gab es also zwei Fassungen der evangelischen Rechtfertigungslehre, die offizielle Geltung erhalten hatten. Niemandem schienen damals diese Differenzen bemerkenswert. Die Wittenberger Theologen hatten einen Entwurf der Nürnberger Ordnung sogar zur Begutachtung erhalten und keinen Anstoß genommen44.
*** Streit um Osianders Lehre entstand erst, als er sie in der Universität (oder zutreffender: Hochschule) Königsberg45 vor Schülern Melanchthons vortrug. Wie kam der Nürnberger Andreas Osiander dorthin? Nach seinem Sieg über den Schmalkaldischen Bund 1547 drückte Kaiser Karl V. ein Religionsgesetz durch, das Augsburger Interim, das von den allermeisten Protestanten abgelehnt wurde, allerdings aus unterschiedlichen Gründen46. Melanchthon hielt seine Rechtfertigungslehre für unannehmbar. Andere nahmen mehr an den katholischen Riten Anstoß. Der traditionell kaisertreue Rat der Reichsstadt Nürnberg nahm das Interim offiziell an, verschleppte aber die Einführung. Osiander legte dennoch unverzüglich (am 6. November 1548) sein Amt nieder und begab sich zunächst nach Breslau. Sein Bruch mit seiner langjährigen Obrigkeit hatte mehrere Gründe47. Melanchthon zeigte Verständnis für Osianders Entschluss und stellte ihm eine Professur in Wittenberg oder Leipzig in Aussicht48. Er bestärkte aber weiterhin alle, die bei ihrer Gemeinde ausharren wollten. In Nürnberg war dies vornehmlich Hieronymus Besold, der Prediger an Heiliggeist, Schwiegersohn Osianders und treuer Schüler Melanchthons. Er nahm dessen Ermunterung dankbar auf, denn er war entschlossen, seine Gemeinde nicht zu verlassen, solange dies guten Gewissens möglich sei49. Melanchthon riet ihm abzuwarten, bis der Rat den Befehl zur Durchführung des Interims erteilen würde50. Dies geschah nicht. Besold und seine Amtsbrüder konnten bleiben. 44
MBW 1262, 1264, 1265. Heinz SCHEIBLE, Georg Sabinus (1508-1560). Ein Poet als Gründungsrektor (1995): Forschungsbeiträge (1996), 533–546, bes. 540 f. 46 Heinz SCHEIBLE, Das Augsburger Interim und die evangelischen Kirchen (1998): unten Nr. 23. 47 Gottfried SEEBASS, Andreas Osiander und der Osiandrische Streit. In: Die AlbertusUniversität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der AlbertusUniversität vor 450 Jahren hrsg. v. Dietrich Rauschning und Donata v. Nerée (1995), 33– 47, bes. 33 f. - ZIMMERMANN (wie Anm. 18), 438–490. 48 MBW 5366. 49 MBW 5367, 5394. 50 MBW 5459. 45
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Osiander nutzte seine alten Beziehungen zu Herzog Albrecht von Preußen und ging nach Königsberg. Der Herzog verlieh seinem geistlichen Vater die Pfarrei der Königsberger Altstadt und ernannte ihn zum Theologieprofessor, obwohl er keinen akademischen Grad besaß. Am 5. April 1549 hielt Osiander seine Antrittsdisputation. Unter den Zuhören befand sich Matthias Lauterwald aus Elbing, ein junger Wittenberger Magister, der soeben auf den Königsberger Lehrstuhl für Mathematik berufen worden war. Er fand Osianders Lehre von Buße und Glauben nicht mit dem übereinstimmend, was er in Wittenberg gelernt hatte, opponierte sofort und stellte anderntags Gegenthesen auf. Damals konnte der Ausbruch eines größeren Streites noch verhindert werden. Melanchthon, der etliche Schüler nach Königsberg vermittelt hatte und dessen Schwiegersohn Georg Sabinus der Gründungsrektor war, wurde sofort informiert51. Auch Osiander sandte ihm seine Thesen mit einem freundlichen Begleitschreiben zu52. Melanchthon schickte sie nach Nürnberg, lobte sie und erklärte sich damit einverstanden53. Lauterwalds Protest bezeichnete er als einen Streit um Begriffe; in der Sache sei man einig54. Auch Osiander versicherte er, seine Thesen seien im Einklang mit der Wittenberger Lehre55. Die terminologischen Differenzen suchte er durch eine kleine Abhandlung über den Begriff der Buße zu entschärfen56. Doch bald machte er sich Sorgen um Osianders Einfluss in Preußen, und er wirkte auf den Herzog ein, die bestehende Übereinstimmung mit den anderen evangelischen Universitäten nicht zerbrechen zu lassen57. Die entstandene Unsicherheit in der Rechtfertigungslehre bewegte Melanchthon weitaus mehr als der Streit um den Chorrock, und er richtete sich frühzeitig darauf ein, hier Stellung beziehen zu müssen58. Im Sommer 1550 brach der osiandrische Streit tatsächlich aus. Lauterwald und andere Gegner Osianders wurden vom Herzog entlassen oder gingen von sich aus wie der Theologieprofessor Friedrich Staphylus59. 51
MBW 5505. Erwähnt MBW 5524 und 5542, vgl. Osiander-GA 9, 20 Anm. 4. 53 MBW 5524. 54 Ebd. 55 MBW 5542 = Osiander-GA 9, 81–83 Nr. 368. 56 MBW 5543 = Osiander-GA 9, 84–87 mit 81 Nr. 368. 57 MBW 5620. 58 MBW 5724.4. 59 Ute MENNECKE-HAUSTEIN, Friedrich Staphylus (1512-1564). Von Wittenberg nach Ingolstadt. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 405–426. - DIES., Conversio ad Ecclesiam. Der Weg des Friedrich Staphylus zurück zur vortridentinischen katholischen Kirche (2003). - Ernst Manfred W ERMTER: LThK3 9 (2000), 931 f. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Beziehungen zu Stadt und Bistum Breslau (2000): unten Nr. 21, bes. S. 361–363 f. 52
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Dieser hatte in Gegenwart des Herzogs mit Osiander ein Gespräch über die Rechtfertigung geführt und dabei eine Aufzeichnung von Antworten Luthers auf Fragen Melanchthons über Rechtfertigung und gute Werke aus dem Jahr 1536 verwendet, die auf den Herzog großen Eindruck machten60. Melanchthon hatte Luther gefragt, wie die Rechtfertigungslehre Augustins zu bewerten sei, wo es heiße: iusti sumus non sola fide, sed novitate nostra sc. omnibus donis ac virtutibus. Daher komme die scholastische gratia gratum faciens, sagte Melanchthon und fragte Luther: Vos vero utrum sentitis hominem iustum esse illa novitate, ut Augustinus, an vero imputatione gratuita, quae est extra nos, et fide, id est fiducia, quae oritur ex verbo? Luthers Antwort: Sic sentio et persuasissimus sum ac certus, hanc esse veram sententiam Evangelii et Apostolorum, quod sola imputatione gratuita sumus iusti apud Deum61. Dieses sola imputatione widerspricht der Lehre Osianders. Osiander, der sich als Lutheraner verstand, bezweifelte die Echtheit dieser Aufzeichnung62. Im Oktober 1550 hielt Osiander eine weitere Disputation über die Rechtfertigung und publizierte sie. Nun musste man Sätze lesen wie: „Es rechtfertigt uns nichts, das uns nicht auch lebendig macht.“ Nihil iustificat, quod non et vivificet63. „Denn das Wörtlein rechtfertigen in seinem eignen ursprünglichen Verstand heißt aus einem Gottlosen einen Gerechten machen.“64 Und polemisch gegen Melanchthon: „Doch wird es oft gezogen in eine andere Deutung, in der es ebensoviel gilt als halten, bekennen, bezeugen oder urteilen, dass einer gerecht sei.“ Transfertur tamen saepe ad aliam significationem, in qua idem valet quod iustum existimare, confiteri, testari vel pronunciare65. Damit ist der Gegensatz zwischen Osianders und Melanchthons Verständnis der Rechtfertigung treffend formuliert. Melanchthon stellte nun fest, dass solches trotz der gegenteiligen Behauptung Osianders der Lehre Luthers widerspreche, und er erinnerte sich, dass Osiander zu Luthers und Amsdorfs Leidwesen schon 1537 auf dem Schmalkaldischen Bundestag so geredet habe66. Er musste nun auch Injurien hören. Dass er ein Affe Luthers sei, fand er sachlich zutreffend67. Immer habe er die Abhängigkeit seiner Lehre von Luther bekannt, mit dem er sich oft freundschaftlich beraten habe68. Wenn Osiander bei ihm Aussagen über die Erneuerung des Gerechtfertigten vermisse, so sei das nicht 60
MBW 5866.2, 5871.2. WAB 12, 189–195, bes. 191.3–10 mit Anm. b und c. 62 So jedenfalls verstand Melanchthon seine Informanten: MBW 5871.2. 63 Osiander-GA 9, 429 Nr. 2. 64 Ebd. Nr. 4. 65 Ebd. Nr. 6. 66 MBW 5927.2. Vgl. WATR 4, 476–478 Nr. 4763. 67 MBW 5985. 68 MBW 6062. 61
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11. Melanchthon und Osiander über die Rechtfertigung
richtig. Er habe die Erneuerung erschöpfend behandelt. Doch der Trostgrund bleibe immer das Urteil Gottes, das die Gerechtigkeit Christi zurechnet, nicht die Erneuerung des Menschen69. Ein letztes Mal schrieb Melanchthon am 1. Mai 1551 privat und sehr höflich an Osiander70. Er versichert ihn seiner Wertschätzung und möchte die persönliche Freundschaft bewahren. Zumindest die Verantwortung für die Kirche verlange, weiteren Streit zu vermeiden. Obwohl die Problematik so vielschichtig sei, dass eine mündliche Aussprache nötig wäre, brachte Melanchthon seine Ansicht zu Papier und bat Osiander um eine Antwort. Auf Befehl des Herzogs schrieb Osiander das umfangreiche Buch »Von dem einigen Mittler Jesu Christo und Rechtfertigung des Glaubens«71. Melanchthon erhielt es durch Herzog Albrecht noch vor der Drucklegung zugesandt72. Nun konnte er sich der von diesem und von manchen anderen an ihn herangetragenen Aufforderung nach einer öffentlichen Stellungnahme nicht länger entziehen. Knapp zusammengefasst lautet Melanchthons Urteil über Osiander: „Er verwirft zu sehr die Zurechnung der Gerechtigkeit und verdunkelt dadurch den notwendigen Trost, den auch die Wiedergeborenen brauchen, damit sie im Mittler (Christus) zur Ruhe kommen und gewiss sind, dass sie Gott gefallen um des Hohenpriesters (Christus) willen, der für uns eintritt, und um seines Verdienstes willen, nicht deshalb, weil er in uns die Erneuerung bewirkt hat“73. Nach einigen Vorarbeiten74 vollendete Melanchthon um Neujahr 1552 seine »Antwort auf das Buch Herrn Andreae Osiandri von der Rechtfertigung des Menschen«75. Am 4. Januar musste er seine Konzilsreise antreten76. Die Wittenberger Kollegen brachten seine Schrift zum Druck. Dabei fügten sie nicht nur jene Antworten Luthers aus dem Jahre 1536 hinzu, was Melanchthons Wunsch entsprach, sondern auch Urteile von Bugenhagen und von Forster über Osiander, die viel schroffer waren als Melanchthons besonnenes Votum. Bugenhagen bekennt sich entschieden zur Lehre Melanchthons und Luthers gegen die neuen Zweifel Osianders. Er sieht also wie Melanchthon in Osianders Lehre die Heilsgewissheit bedroht. Forster beschimpft Osianders Lehre als Sophistik und ekelhafte Faseleien, tetra praestigia77. Als Melanchthon in Zwickau die
69
MBW 5985. MBW 6075 f = Osiander-GA 9, 670–674 Nr. 469. 71 Osiander-GA 10, 49–300 Nr. 488 und 496. 72 MBW 6224, 6234, 6235. 73 MBW 6232.3 = CR 7, 846. 74 MBW 6268. 75 MBW 6294. 76 MBW 10, 631. 77 CR 7, 900–902. 70
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nachgesandten Exemplare erhielt, hat er dies mit Unwillen festgestellt78. Natürlich blieb Osiander nicht stumm79. Aber am 17. Oktober 1552 starb er völlig unerwartet. Der Streit wurde dadurch nicht beendet, sondern verschärfte sich und weitete sich aus80.
*** Beendet wurde er ein Menschenalter später durch die Konkordienformel. Artikel 3 verwirft die Lehre, dass die Gerechtigkeit des Glaubens die wesentliche Gerechtigkeit Gottes sei. Damit ist der Osiandrismus gemeint. Rechtfertigung ist Sündenvergebung durch Anrechnung der Gerechtigkeit Christi. Die Wiedergeburt und Erneuerung ist von der Rechtfertigung klar zu unterscheiden81. Damit hatte sich Melanchthons forensische Rechtfertigungslehre durchgesetzt. Auch Luther wurde so verstanden. Dies änderte sich mit der Entdeckung der frühen Vorlesungen Luthers. Hier ist die Erneuerung viel enger mit der Gerechtsprechung verbunden, als man dies von der forensischen Definition Melanchthons und der Konkordienformel kannte82. Der Augustinismus, den Luther 1536 in seiner Antwort auf Melanchthons Frage zurückgewiesen hatte, schien hier in hohem Maße vertreten zu sein. Nun gewann auch Osianders Lehre zumindest historisches Interesse. Emanuel Hirsch ortete ihn als Schüler Luthers, der Ansätze des frühen Luther beibehalten und weiterentwickelt hatte, allerdings unter dem Einfluss der Philosophie seines anderen Lehrers Reuchlin in einer Weise, die dann doch von Luther nicht mehr gebilligt werden konnte. „Divina natura Christi est nostra iustitia hätte Luther nie schreiben können“83. Bei Luther jedoch fand der „unlösliche Zusammenhang von Rechtfertigung als Freispruch und Erneuerung“84 mehr als nur historisches Interesse. Vor allem für die finnische Lutherforschung um Tuomo Mannermaa
78
MBW 6310. Osiander-GA 10, 561–670 Nr. 522. 80 HUBATSCH (wie Anm. 11), 83–86. - FLIGGE (wie Anm. 14). 81 BSLK 920. 82 Simo P EURA, Mehr als ein Mensch? Die Vergöttlichung als Thema der Theologie Martin Luthers von 1513 bis 1519 (1994), 9–45 (Forschungsbericht). 83 Emanuel H IRSCH, Die Theologie des Andreas Osiander und ihre geschichtlichen Voraussetzungen (1919), 73. 84 Bernhard LOHSE, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang (1995), 279. 79
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bekam die Liebe ein fast größeres dogmatisches Gewicht als der Glaube85. Sein Schüler Simo Peura untersuchte »Die Vergöttlichung als Thema der Theologie Luthers von 1513 bis 1519«86. Ich sehe darin einen an Luther kritisch korrigierten Osiandrismus. Dessen Neubewertung unternimmt die von Johannes Wirsching angeregte Berliner Habilitationsschrift von Rainer Hauke87. Melanchthon sah Osianders Lehre in der Nähe zum Katholizismus88. Es ist konsequent, dass von hier aus auch ein Weg zu ökumenischen Gesprächen über die Rechtfertigung führt. Eine gemeinsame Erklärung lutherischer und römisch-katholischer Theologen und sogar der Kirchenleitungen bedeutet noch keine Aufgabe der Reformation89. Osiander war schließlich auch ein verdienstvoller Reformator. Kein Theologe vermag die Fülle der christlichen Religion in seinem System einzufangen, jeder hat seine Anliegen und Präferenzen. Melanchthon kam es ganz entscheidend auf die Heilsgewissheit an, Osiander auf den neuen Menschen. Beide fanden dankbare Schüler. Soweit meine historische Einsicht. Bei systematischem Nachdenken kommt mir dennoch das Wort „Schwärmer“90 nicht aus dem Sinn91. Die mit dem lutherischen Schimpfwort „Schwärmer“ belegten Christen sind solche, die das Reich Gottes auf Erden, zumindest in ihrem eigenen Leben, verwirklichen wollen92 und 85
Caritas Dei. Beiträge zum Verständnis Luthers und der gegenwärtigen Ökumene. Festschrift für Tuomo Mannermaa zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Oswald Bayer, Robert W. Jenson und Simo Knuuttila (1997). 86 Wie Anm. 82. 87 Rainer HAUKE, Gott-Haben – um Gottes Willen. Andreas Osianders Theosisgedanke und die Diskussion um die Grundlagen der evangelisch verstandenen Rechtfertigung. Versuch einer Neubewertung eines umstrittenen Gedankens. (1999). Inzwischen erschien die Heidelberger Dissertation von Anna B RISKINA, Philipp Melanchthon und Andreas Osiander im Ringen um die Rechtfertigungslehre. Ein reformatorischer Streit aus der ostkirchlichen Perspektive (2006). 88 MBW 6294.5.3 = MSA 6, 459.30–32. 89 Meine an Melanchthon geschulte Auffassung hierüber habe ich 1988 in dem Vortrag „Melanchthons Auseinandersetzung mit dem Reformkatholizismus“: Forschungsbeiträge (1996), 222–244, und 1999 in dem Vortrag „Melanchthons ökumenischer Einsatz in Frankreich“ (oben Nr. 9) dargelegt. Bemerkenswerte Aspekte bei Siegfried W IEDENHOFER, Reformatorische Identität und ökumenischer Dialog. Die Bedeutung des Verhältnisses von Luther und Melanchthon: Dona Melanchthoniana (wie Anm. 29), 485–500, bes. 494–500. 90 Christof W INDHORST, Schwärmer: Evang. Lexikon für Theologie und Gemeinde 3 (1994), 1803 f. - Volker LEPPIN, Schwärmer: TRE 30 (1999), 628 f. - Vinzenz P FNÜR, Schwärmer: LThK3 9 (2000), 323. 91 Ähnlich urteilt Johannes Stigel am 11. 10. 1551: MBW 6231.3. 92 Gottfried SEEBASS, Der „linke Flügel der Reformation“. In: DERS., Die Reformation und ihre Außenseiter. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, hrsg. v. Irene Dingel (1997), 151–164.
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dabei das extra nos und das simul iustus et peccator außer Acht lassen. Dies taten und tun viele Christen. Sie sind nicht die schlechtesten und haben in der Kirchengeschichte manches bewegt, worauf wir nicht verzichten möchten. Deshalb fanden sie gerade im rationalistischen, immer unkirchlicher werdenden oder schon ganz säkularen 20. Jahrhundert Beachtung und Sympathie93. Aber sie sind in ihrem Wollen fast immer gescheitert. Dies war unausweichlich, weil sie eine eschatologische Hoffnung in ihre Gegenwart ziehen wollten. Dies gilt m. E. auch für die Vergottungslehre Osianders. Melanchthons Rationalität ist da vielleicht nicht so gemütvoll, aber realistischer. Das neue Leben war auch für Melanchthon ganz wichtig. Aber er machte es am Gesetzesgehorsam fest, es bleibt eine ethische Aufgabe, kein wesenhaftes Handeln. Ich meine, dies nimmt die Realität der menschlichen Unzulänglichkeit ernst und verlegt die Rettung des Sünders aus ihm heraus in den Willen Gottes, dessen Urteil eine festere Gewissheit bietet als jede Qualität des Menschen. Melanchthon war philosophisch ein Eklektiker, aber sein theologisches System hat er m. E. stringent aufgebaut. Ein Skeptiker war Melanchthon nicht. Ich möchte dennoch mit dem Wort eines römischen Skeptikers schließen, von mir bezogen auf Melanchthon, Osiander, aber auch Karl Holl, die Katholiken und alle anderen, die sich ernsthaft um die Weitergabe der evangelischen Botschaft bemühen: Quid interest, qua quisque prudentia verum requirat? Uno itinere non potest perveniri ad tam grande secretum94.
93
Ich denke an den Bestseller von Walter NIGG, Das Buch der Ketzer (1949, 51970, als Taschenbuch 31998). 94 Q. Aurelius SYMMACHUS, Opera quae supersunt, hrsg. v. Otto SEECK (1883, Repr. 1961), 282.13–15 (an Kaiser Theodosius).
Melanchthons Ethik des Friedens Kaum jemand ist gegen den Frieden. Sogar wer einen Krieg beginnt, verbrämt dies mit dem höheren Ziel der dauerhaften Herstellung des Friedens. Ehrlicher als die Worte der Menschen sind ihre Taten. Wir fragen also bei unserer Untersuchung der Friedensethik Melanchthons zunächst nicht nach seinen Worten und seiner Theorie, sondern danach, was er für den Frieden getan hat. Dass er für den Frieden war, ist selbstverständlich. Er war sogar gelegentlich bereit, für den Frieden sein Leben zu geben. So sagte er1. Glücklicherweise wurde ihm dies nicht abverlangt. Wenn wir Melanchthons Handlungen kennengelernt haben, werden wir auch nach dem theologisch-ethischen System fragen, das seinem Handeln zugrunde lag. Wir müssen dies indirekt tun, denn anders als Erasmus2 war Melanchthon kein Theoretiker des Friedens. Nach dem Bestseller des Rotterdamers, bei dessen Erscheinen Melanchthon 19 Jahre alt war, bestand auch kein Bedarf für ein ähnliches Buch.
I. Melanchthons Kriegserlebnisse Melanchthon wusste, was Krieg ist. Im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 musste er mit seiner Familie aus Wittenberg fliehen und fand nach aufregenden Erlebnissen, zeitweise auch als Nothelfer der Witwe Luthers, schließlich in Nordhausen Zuflucht3. Doch schon als Siebenjähriger erlebte er im Krieg um das Landshuter Erbe die 14-tägige Belagerung seiner Heimatstadt Bretten durch Herzog Ulrich von Württemberg. Es gab 1
MBW 4435, 5250. Hans Rüdiger SCHWAB, Bekenntnisse eines Unpolitischen? Zum Friedensdiskurs des Erasmus von Rotterdam. In: Suche nach Frieden: Politische Ethik in der Frühen Neuzeit II, hrsg. v. Norbert Brieskorn und Markus Riedenauer (2002), 71-103. - Zur Friedensfrage allgemein: Wolfgang HUBER, Frieden V. Kirchengeschichtlich und ethisch: TRE 11 (1983), 618-646. - Zu Melanchthon: Reimer HANSEN, Melanchthon und die Friedensfrage in der Reformationszeit. In: Philipp Melanchthon 1497 – 1997. Drei Reden zum Melanchthon-Dies der Theologischen Fakultät in der Humboldt-Universität zu Berlin (1997), 21–39. 3 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon rettet die Universität Wittenberg (1998²): unten Nr. 14, bes. S. 257–261. 2
12. Melanchthons Ethik des Friedens
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Bombardements, Rebellion und die tätliche Bedrohung seines Großvaters in seinem Haus. Überliefert ist diese Geschichte durch seinen drei Jahre jüngeren Bruder Georg Schwartzerdt4. Der (gleichnamige) Vater, der bei Mannheim die kurpfälzische Artillerie befehligt hatte, kehrte als ein kranker Mann zurück und starb nach vierjährigem Siechtum5. Mit seinem Tod verlor der Elf-jährige die Wärme seines Elternhauses. Von nun an litt er zwar keine Not wie viele der fahrenden Lateinschüler und Studenten in jener Zeit, sondern lebte in geordneten bürgerlichen Verhältnissen. Aber er war nun weitgehend und bald ausschließlich auf sich selbst gestellt. In die Anfänge seiner Tübinger Studienzeit fiel der Aufstand des Armen Konrad im Herzogtum Württemberg. Wir haben keine Äußerung Melanchthons zu diesem Bürgerkrieg, aber er hat ihn gewiss wahrgenommen. Kaum in seiner beruflichen Endstation Wittenberg angelangt, wurde Württemberg durch den Schwäbischen Bund erobert, Herzog Ulrich geschlagen und vertrieben. Melanchthons Verwandter und Mentor seiner Jugend, Johannes Reuchlin, war an Hab und Gut bedroht. Er fürchtete vor allem für seine kostbare Bibliothek und floh nach Ingolstadt6. Weitere Kriege, die sein ganzes Leben begleiteten, hat er ebenfalls nur aus der Ferne wahrgenommen, die Sickingische Fehde 1522/237, die Kriege Kaiser Karls V. gegen König Franz I. von Frankreich und seinen Nachfolger Heinrich II. 8, die nur partiell erfolgreiche Abwehr der Türken9, 4
Urkunden, Rechtsquellen und Chroniken zur Geschichte der Stadt Bretten, hrsg. v. Alfons SCHÄFER (1967), 223–245, bes. 232 ff. - Leo VOGT, 1504. Die Chronik des Georg Schwarzerdt (2000). 5 Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Werdegang (1989): oben Nr. 2, bes. S. 29 f. – DERS., Melanchthons Pforzheimer Schulzeit (1989): Forschungsbeiträge (1996), 29–70, bes. 47 f [S. 48, Z. 1 lies „29. Oktober“ (MBW 8409)]. 6 Heinz SCHEIBLE, Reuchlins Einfluss auf Melanchthon (1993): Forschungsbeiträge (1996), 71–97, bes. 75 f. 7 MBW 255–257, 280, 872.11. 8 MBW 509.2, 1525.3, 1694.6, 1698.4, 1700.3, 1729.3, 1733.3, 1772.2, 1798.1, 1810.1, 1843.2, 1917.2.4, 1919.4, 1921.3, 1953.3, 1969.7, 1975.3, 1981.2, 1985.4, 1989, 1997.8, 1998.3, 2014.7, 2018.4, 2066.4, 2068.3, 2304.5, 3078, 3141, 3263, 3270, 3370, 3371.2, 3389.2, 3391.1, 3392.1, 3398.1, 3433, 3441, 3454.2, 3498.2, 3504.2, 3505.2, 3506.2, 3520, 3523.2, 3526.2, 3548.1, 3586.3, 3587.2, 3638.2, 3661.2, 3691.2, 3694.4, 3712.2, 5568, 5636.2, 6134.2, 6136, 6251.3, 6344.3, 6430.2, 6457, 6463.3, 6537.2, 6552.4, 6566.3, 6576.4, 6603.3, 6615.4, 6624.5, 6642.3, 6646.4, 6654.7, 6664.5, 6671.2, 6882, 7028.3, 7259.4.1, 7287.3, 7484, 7524.2, 7814.3.2, 7865.2, 8079, 8172.3, 8234.3, 8238.2, 8248, 8502.2, 8604.2, 8639.2, 8943, 8945. 9 MBW 535, 546, 693.5, 760.1, 765.3, 772.1, 829.3, 833–835, 837.3, 877.3, 948.3, 1133.2, 1227.2, 1268, 1279, 1838.3, 1857.7, 1949.4, 1959.1, 1960, 1962.2, 1968.6, 1972,2. 1975.2, 1986, 2014.6, 2043.2, 2051.9.3, 2059.2.1, 2075.3, 2110.2, 2191.4, 2195.2, 2255.3, 2264.1, 2266, 2363.2, 2419.3, 2608.3, 2624.3, 2643.1, 2651.4, 2657.2, 2665.2, 2701.4, 2727, 2736, 2742, 2747, 2765.7, 2780.6, 2808.2, 2812.4, 2816 f, 2820.2, 2822.1, 2824 f, 2829–2831, 2838, 2844.3, 2851 f, 2860, 2865.4, 2872 f, 2883.2, 2896,
220
12. Melanchthons Ethik des Friedens
die Grafenfehde 153410, die Raubzüge des Markgrafen Albrecht Alcibiades von Kulmbach11 und die Angriffe Iwans des Schrecklichen auf Livland12. Den Geldrischen Erbfolgekrieg 1543 erlebte Melanchthon eine Zeitlang aus der Nähe, da er vom Kölner Erzbischof Hermann von Wied zu Beratungen über eine Kirchenreformation nach Bonn eingeladen war, die aber nicht zuletzt durch diesen Krieg verhindert wurde13. Waren alle diese Kriege negativ zu bewerten, ausgenommen die Verteidigung gegen die Türken, deren Notwendigkeit aber ebenfalls bedauerlich war, so musste dies nicht von vornherein für die beiden Angriffskriege gelten, die zu einer Ausbreitung der Reformation führten, nämlich 1534 die Rückführung des 1519 vertriebenen Herzogs Ulrich von Württemberg durch Landgraf Philipp von Hessen und die Vertreibung und schließlich Gefangennahme des Herzogs Heinrich von Wolfenbüttel durch den Schmalkaldischen Bund 1542 und 1544. Von den Plänen zur Rückführung des Württembergers hatte Melanchthon früh Kenntnis und befürchtete eine Verhärtung der religionspolitischen Fronten in Deutschland14. Als es dann so weit war, schrieb er im Mai 1534 seinem Freund Joachim Camerarius15, er missbillige die Rückführung des Tyrannen, womit er Ulrich von Württemberg meinte. Er wünschte, der von ihm geschätzte Landgraf hätte sich für eine bessere Sache integer gehalten. Dieses Unternehmen werde auch vom sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich missbilligt, und die Wittenberger Theologen seien nicht gefragt worden. Es könnte hingenommen werden, wenn es nur
2916.2, 2922.2, 2925.1, 2966, 2998, 3001.4, 3017.2, 3029.2, 3067.1, 3071.1, 3076, 3104.3, 3115.2, 3130, 3147–3149, 3167.2, 3170, 3182, 3191.1, 3216.2, 3227, 3229, 3301 f, 3309, 3332.2, 3364.4, 3388, 3398.1, 3448.1, 3454.2, 3480, 3482.1, 3484 f, 3488.4.1, 3491.1, 3504 f, 3541, 3548, 3570.2, 3585.3, 3717.2, 3728.2, 3789.2, 3861.2, 3904.3, 3917.2, 3945 f, 3951.2, 4107, 4121.5, 4265.3, 4287, 4318.2, 4962.1, 5853.3, 6222.4, 6265.4, 6307.2, 6429.3, 6438.3, 6450 f, 6503.6, 6551 f, 6576.4, 6603.2, 6611.1, 6641.3, 6673.3, 6684.2, 6805.3, 6841 f, 6900.2, 7484.1, 7530.3, 7536, 7541, 7638.3, 7683.6, 7706 f, 7736, 7767.2, 7777, 7842 f, 7847 f, 7921.1, 7954, 7988.1, 7993.3, 8144.2, 8584.2, 8779, 8785, 8874.2.2, 8966.2, 9028, 9034.2, 9047.3, 9064, 9185. 10 MBW 1489.4, 1565.4. 11 MBW 6463.3, 6490.4, 6493.3.3, 6504.3, 6528.1, 6533.1, 6552.4, 6576.4.2, 6578.3, 6592.4, 6595.1, 6638.3, 6641.2, 6645 f, 6729.3, 6732.2, 6768, 6800.8, 6801, 6835.2, 6844.3, 6855 f, 6859.2, 6866.2, 6870.2, 6882 f, 6886.1, 6894.1, 6949 f, 6960 f, 6966.2, 6973.2, 6985.1, 6999.1, 7016.3, 7028.3, 7083.2, 7109.4, 7181.1, 7189.2, 7209.3.3, 7212.5, 7217.2, 7226.2, 7234, 7259.4.4, 7289.1, 7298.2, 7402, 7446.3, 7524.2, 7533.5, 7711 f, 7720.2, 7754.1, 7772.2, 7903.2.2, 7995.2, 8050.4, 8129.3, 8153.1. 12 MBW 8708, 8715 f, 8733.3, 8736, 8769.6, 8776.1, 8845, 8881–8883, 8934.1, 8948.3, 8973, 8985, 8988. 13 MBW 3142, 3194 f, 3200, 3260, 3270, 3283, 3293, 3304, 3325 f. 14 MBW 1399, 1400, 1412, 1417–1419, 1421, 1428. 15 MBW 1436.
12. Melanchthons Ethik des Friedens
221
um die Rückführung des Herzogs von Württemberg ginge. Die Okkupation seines Landes durch Habsburg wurde ja je länger desto mehr als Unrecht empfunden. Doch meinte Melanchthon, der von ihm zu höchst geschätzte Landgraf verfolge damit noch andere Ziele, die Melanchthon nicht durchschaute. Deshalb schicke er sich angesichts der Reformunwilligkeit der Kirche in Gottes Willen16. Er befürchtete internationale Verwicklungen, nämlich die Einmischung Englands und Frankreichs17 und eine Gefährdung der Reformation18. Angesichts der Unsicherheit an den Fürstenhöfen riet er sogar von einer Geldanlage in Sachsen ab19. Melanchthons Befürchtungen trafen nicht ein. Die kursächsische Diplomatie brachte den Frieden von Kaaden zustande: König Ferdinand verzichtete auf das Herzogtum Württemberg und wurde von Kursachsen als römischer König anerkannt, Hessen rüstete ab20. Gleichzeitig bemühte sich Melanchthon um die Entschärfung des Religionsstreits in Frankreich, indem er auf Anforderung einen Religionskompromiss ausarbeitete21. Einer Einladung nach Frankreich durfte er nicht Folge leisten. Aber bei der Reform der Universität Tübingen und der Kirche in Württemberg gab er zwei Jahre später seinen Rat, wobei es auch zu einem Gespräch mit dem einst intern als Tyrannen bezeichneten Herzog Ulrich kam, dem er schon am 1. August 1534 durch seinen Kanzler Johannes Knoder, einen Jugendfreund, zur Rückkehr gratulieren ließ22. War Melanchthon im württembergischen Krieg nur Zuschauer, so wurde er mit den anderen Wittenberger Theologen in den Krieg gegen Heinrich von Wolfenbüttel von seinem Kurfürsten eingebunden. Am 29. Juni 1542 wurden Luther, Bugenhagen und Melanchthon vom sächsischen Kurfürsten davon unterrichtet, dass er, der Kurfürst, und Landgraf Philipp von Hessen als Oberhauptleute des Schmalkaldischen Bundes die Städte Goslar und Braunschweig gegen Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel schützen wollten, obwohl gerade ein Reichskrieg gegen die Türken geführt wurde. Melanchthon musste die öffentliche Verlautbarung ins Lateinische übersetzen. Eine allgemeine Fürbitte wurde gewünscht23. Am 13. Juli wurde der Krieg erklärt. Melanchthon bedauerte dies und betete24. Auch gegenüber seinem Freund Camerarius, bei dem er mit Kritik 16
MBW 1437, vgl. 1453. MBW 1446. 18 MBW 1438 (an Georg Spalatin). 19 MBW 1446 (an Joachim Camerarius). 20 MBW 1466. 21 MBW 1467–1469. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons ökumenischer Einsatz in Frankreich (2002): oben Nr. 9. 22 MBW 1470. 23 MBW 2993. 24 MBW 2998, 3003. 17
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12. Melanchthons Ethik des Friedens
an seiner Regierung sonst nicht zurückhielt, verteidigte er den Angriff der Schmalkaldener: Landgraf Philipp von Hessen durfte die Klagen der von Wolfenbüttel bedrängten evangelischen Reichsstadt Goslar nicht länger unerhört lassen. Der Brandstifter Heinrich von Wolfenbüttel werde von Gott bestraft werden. Doch Melanchthon fügt hinzu: die Schmalkaldener vielleicht ebenfalls25. Melanchthon hielt Kriege zuweilen für notwendig, aber er verlor nie das Bewusstsein ihrer Schrecklichkeit. Er war alles andere als ein Hurra-Patriot. Als der Tyrann, wie er den Braunschweiger nannte26, vertrieben war, berichtete Melanchthon von der Freude des Volkes – nicht seiner eigenen. Er selbst dankte mit allen dafür Gott, dem er den Sieg zuschrieb27. Er konnte aber seine Sorge nicht unterdrücken, dass sein nicht selten maßloser Kurfürst Johann Friedrich die Gelegenheit nützen und die zwar überwiegend evangelische, aber erzbischöflich magdeburgische Stadt Halle, über die er alte, jedoch umstrittene burggräfliche Rechte hatte, besetzen könnte, wenn es nicht bald zu einem Reichsfrieden komme. Auf beiden Seiten gebe es Kriegstreiber. Ulrich von Württemberg rate von der Besetzung Halles ab. In der Burg Wolfenbüttel seien Dokumente über die Pläne der Gegner gefunden worden. Mit der im besetzten Wolfenbüttel eingesetzten Regierung war Melanchthon zufrieden. Er schätzte Bernhard von Mila, Christoph von Steinberg und seinen alten Schüler Franz Burchard als gerechte Männer28. Er war erleichtert, dass der Übergriff auf Halle unterblieb29. Über die Zustände im Fürstentum Wolfenbüttel erfuhr er, Heinrich habe die Kirchengüter geplündert und fast alle Ämter und Zollstätten seien von Wucherern besetzt30. Mit der Vertreibung Heinrichs war das Problem noch lange nicht gelöst. Der Reichstag sollte sich damit befassen. Am 16. Dezember 1543, also 16 Monate nach dem Krieg, schrieb Melanchthon resigniert an seinen alten Kollegen Justus Jonas, der in Halle für die Reformation tätig war, für die Politiker könne man nur beten, denn Ratschläge hörten sie nicht. Sein Trost war die Menschwerdung Christi, die bevorstehende Weihnacht31. Dass die Theologen nicht gehört würden, stimmt nicht, denn als Melanchthon dies schrieb, hatte der sächsische Kurfürst von Luther, Bugenhagen und ihm schon ein Gutachten gerade in dieser Frage bestellt32. Melanchthon meinte offenbar, dass die Politiker den Rat der Theologen nicht 25
MBW MBW 27 MBW 28 MBW 29 MBW 30 MBW 31 MBW 32 MBW 26
3009. 3026, 3039, 3043. 3026, 3035, 3039. 3026 (26. 8. 1542). 3043. 3048. 3400. 3384.
12. Melanchthons Ethik des Friedens
223
befolgen würden. Am 20. Dezember 1543 war das Gutachten fertig33. Es ging darum, ob man bei den Verhandlungen um das Fürstentum Wolfenbüttel die Religionsfrage außen vor lassen oder aber sich ihretwegen sogar der Kriegsgefahr aussetzen solle. Die Wittenberger Theologen vertraten die Auffassung, dass die Schmalkaldischen Bundesfürsten, sofern sie dieses Land zu Recht besetzt haben und es verteidigen können, grundsätzlich verpflichtet sind, die Religion zu schützen, jedoch nur nach Möglichkeit. Gottes Hilfe sei entscheidend34. Bewegung in die Angelegenheit brachte der vertriebene Wolfenbütteler. Er sammelte ein Heer und fiel im Oktober 1545 in sein Land ein. Melanchthon betete für die evangelischen Gebiete35. Er äußerte seine Zuversicht, dass der Teufel und Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel – diese Parallele wird nun gezogen – das Wort Gottes nicht zerstören können. Er sei nicht um sein Leben, aber um Kirche, Wissenschaft, Nachwelt, alle Tüchtigen und die ganze Gegend besorgt36. An Camerarius, also gewiss ohne publizistische Apologetik, schrieb er, im Gegensatz zur Eroberung vor drei Jahren gehe es jetzt nicht um den Besitz des Braunschweigers, sondern um den Bestand der evangelischen Gemeinden, und dabei habe er ein gutes Gewissen37. Demgemäß wünschte er, dass Gott dem Landgrafen, der gegen den Eindringling heranzog, den Sieg verleihen möge38. Dies geschah. Am 21. Oktober 1545 wurde Heinrich gefangengenommen39. Melanchthon war so erfreut, dass er Briefe danach datierte40. Natürlich dankte er Gott und betete für den Sieger und sein Heer sowie für die evangelischen Gemeinden und Länder41. Er regte sogar an, eine lateinische Geschichte dieses Krieges zu verfassen42, und die Strafe Gottes über Herzog Heinrich solle dem Volk als Mahnung zur Frömmigkeit vorgestellt werden43. Von sich aus wurden die Wittenberger Theologen Luther, Bugenhagen, Cruciger und Melanchthon bei dem Kurfüsten und dem Landgrafen vorstellig, bekundeten ihre Dankbarkeit für deren Sieg und baten im Auftrag der Stadt Helmstedt um Erlass der wegen Unterstützung ihres ehemaligen 33
MBW MBW 35 MBW 36 MBW 37 MBW 38 MBW 39 MBW 40 MBW 41 MBW 42 MBW 43 MBW 34
3403. 3404, vgl. 3632. 4025, 4027, 4044–4046, 4048. 4228. 4031. 4032, 4037, 4039. 4050. 4040 f. 4050, 4052. 4052. 4052.
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Landesherrn auferlegte Strafe. Die Schonung des ausgesogenen Landes werde Gott belohnen44. Camerarius gegenüber verschweigt Melanchthon nicht seine Vorbehalte gegenüber der Politik der Schmalkaldischen Bundeshäupter Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, begrüßt aber den Ausgang dieses Krieges und betet45. Er hoffte, dass dadurch der Druck auf den reformwilligen Erzbischof Hermann von Köln nachlassen werde, und versicherte dessen Rat Peter Medmann, dass Sachsen und Hessen die Waffen zur berechtigten Verteidigung ergriffen hätten46. Als aber völlig unabhängig von diesem Krieg die kursächsische Stadt Gotha niederbrannte, verstand er dies als Züchtigung Gottes und betete um die Erhaltung des Restes der Kirche und um die Abwendung des Zornes Gottes durch den Mittler Christus47. Von dem geplanten Religionsgespräch erwartete Melanchthon nichts, weil die Gefangennahme des Braunschweigers die Fronten verhärtet habe und dem Regensburger Reichstag andere Probleme stellen werde48. Bei aller Kritik an seinem Fürsten im Einzelnen billigte Melanchthon die politische Organisation des Protestantismus, den Schmalkaldischen Bund. Als es 1545 um dessen Verlängerung ging, wurde vom sächsischen Hof auch die Meinung der Wittenberger Theologen eingeholt49 Luther, Bugenhagen, Cruciger, Georg Maior und Melanchthon sprachen sich für die Verlängerung des Schmalkaldischen Bundes aus, doch ohne die Aufnahme der Schweizer. Dieses Bündnis sei gottgefällig, denn dadurch wurde Krieg verhütet, Irrlehre bekämpft, und der Gegenbund von König Ferdinand und anderer Fürsten sei beinahe ausgestorben, der Anführer Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel gefangen, die evangelischen Kirchen und Gebiete hingegen gestärkt worden. Deshalb solle dieses Bündnis nicht aufgelöst werden, was der Teufel versuchen werde. Die Schweizer dürften aber aus politischen und dogmatischen Gründen nicht in den Bund aufgenommen werden. Melanchthon war also wie die anderen Wittenberger der Meinung, dass der Friede durch eine bewaffnete Ordnungsmacht erhalten werden kann und muss.
44
MBW MBW 46 MBW 47 MBW 48 MBW 49 MBW 45
4054. 4056. 4058. 4059. 4065. 4084.
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225
II. Melanchthons Friedensbemühungen Ob jemand als Friedensstifter in die Geschichte eingeht, hängt meistens entscheidend von Faktoren ab, auf die er keinen oder nur geringen Einfluss hat. Dies gilt sogar für so mächtige Amtsträger wie den amerikanischen Präsidenten. Wenn also Luther und Melanchthon zweimal erfolgreich mithalfen, einen Krieg zu verhindern, so gelang dies, weil die Umstände günstig waren. Unabhängig davon ist es bemerkenswert, wie energisch sie sich für den Frieden einsetzten, und mit welchen Argumenten sie es taten. 1. Besonnenheit bei Kriegsgefahr Die erwähnten Ereignisse waren die Packschen Händel 1528 und die Wurzener Fehde 1542. In beiden Fällen wirkten Luther und Melanchthon persönlich und schriftlich auf ihren Landesherrn ein. 1528 war es Johann der Beständige, ein besonnener Fürst, der wie seine Theologen den verbündeten Landgrafen davon abhalten wollte, zur Verteidigung gegen ein Breslauer Bündnis katholischer Fürsten loszuschlagen50. Dass dieses Bündnis eine Erfindung des kriminellen Hofrats Otto von Pack war, wusste man zunächst ja nicht51. Glücklicherweise wurde dies aufgeklärt, bevor es zu Kampfhandlungen kam. Melanchthon lehnte den Krieg nicht grundsätzlich ab, er war kein Pazifist, aber er schärfte immer wieder ein, dass kein Krieg guten Gewissens geführt werden könne, wenn ein Friede möglich ist und sogar von der Obergewalt geboten wurde52. Die Greuel eines Bürgerkriegs verpflichten auch bei gerechter Sache zur Besonnenheit53. Diese Position war nicht für alle Protestanten selbstverständlich. Der Reichsstadt Nürnberg unterstellte zumindest Melanchthon, dass man dort nichts dagegen gehabt hätte, wenn die lästigen Bischöfe von Bamberg und von Würzburg ohne eigene Anstrengung besiegt worden wären54. 1542 war der Landgraf nicht Kriegstreiber, sondern Friedensstifter, mit dem Luther und Melanchthon eng zusammenarbeiteten. Unversehens standen sich die zwar protestantischen, aber persönlich verfeindeten sächsischen Fürsten Johann Friedrich und Moritz in Wurzen an der Mulde mit einem Heer gegenüber. Beide erhoben Anspruch auf das bischöflich-meißnische Stiftsgebiet, Moritz mit größerem Recht. Der Landgraf eilte herbei, um zwischen seinem Schwiegersohn Moritz und seinem Schmalkaldischen
50
MBW 674, 680, 681, 696. Kurt DÜLFER, Die Packschen Händel (1958). 52 MBW 680. 53 MBW 696.4. 54 MBW 696.2. 51
226
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Bundesgenossen Johann Friedrich zu vermitteln55. Auch Luther und Melanchthon waren engagiert56. Melanchthon bat in einer Denkschrift an die drei Fürsten57 dringend darum, keinen Krieg zu führen. Er argumentierte nicht grundsätzlich ethisch, sondern politisch pragmatisch mit der Gefahr der Einmischung des Herzogs Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und des Königs Ferdinand von Böhmen und mit dem Triumph für Rom und alle Feinde des Evangeliums. Eine Partei müsse unterliegen, und das Land werde verwüstet. Ohne Kompromisse sei kein Frieden möglich. In einem dritten Fall stellte sich Melanchthon mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität bei seinem Kurfürsten (es war nun Moritz) gegen einen drohenden Krieg, doch dieses Mal vergeblich. Frühzeitig erfuhr er von dem geplanten Aufstand norddeutscher Fürsten gegen den Kaiser, der noch immer die Häupter des Schmalkaldischen Bundes, Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen, in Gefangenschaft hielt. Als am 1. November 1551 Kurfürst Moritz von Sachsen in Wittenberg war, warnte er ihn mit einer Denkschrift58 eindringlich vor dem Anschluss an das von Frankreich unterstützte Fürstenbündnis. Wiederum argumentierte er primär politisch-pragmatisch, subsidiär auch ethisch und historisch. Doch dieses Mal sollte er sich täuschen. Er schrieb: Obwohl der Kaiser seine Zusagen bezüglich des Landgrafen (Moritzens Schwiegervater, dem sich dieser besonders verpflichtet fühlte) halten sollte, sei ein Krieg nicht zu verantworten wegen der Treulosigkeit Frankreichs und der Unzuverlässigkeit der Verschwörer, die sich auch mit dem gefangenen Herzog Johann Friedrich von Sachsen und seinen Söhnen gegen Moritz verbünden könnten. Ihr Ziel, die Bistümer aufzuteilen, werde Papst, Kaiser und Frankreich einen. Ihr Vorhaben sei Aufruhr, wozu Gott kein Glück gebe, und wenn, so würde Moritz sich danach mit ihnen auseinandersetzen müssen. Der Kaiser sei die rechtmäßige Obrigkeit, gegen den bisher jedes Unternehmen vergeblich gewesen sei. Ein Präventivkrieg wegen der zu erwartenden Konzilsexekution sei nicht gerechtfertigt. Eine Niederlage des Kaisers würde einen Bürgerkrieg nach sich ziehen. Aus der Geschichte bringt Melanchthon Beispiele für den Untergang der Empörer gegen Kaiser Otto den Großen. Wie im Nachhinein bekannt ist, konnte Melanchthon diesen Fürstenkrieg gegen Karl V. nicht verhindern. Es wäre auch nicht von Vorteil für die Protestanten gewesen. Selten sind mit so wenig Blutvergießen so große Erfolge erreicht worden. Der Passauer Vertrag 1552 und danach der Augs55
Georg MENTZ, Johann Friedrich der Grossmütige, Bd. 2 (1908), 499–505. - Eike W OLGAST, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände (1977), 262–269. 56 MBW 2940 f. 57 MBW 2935. 58 MBW 6250. - Ausführlich unten Nr. 15.
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burger Religionsfrieden 1555 gab den deutschen Lutheranern die reichsrechtliche Anerkennung und sicherte den Frieden bis 1618. 2. Einsatz für eine friedliche Reformation Um den Frieden ging es nicht nur bei den Waffengängen, von denen bisher die Rede war. Auch bei der Melanchthon ureigensten Aufgabe, für die Kirchenreformation zu wirken, stand immer die Frage nach dem Frieden im Hintergrund. Die notwendigen religiösen Reformen wollte er so durchgeführt sehen, dass der Friede nicht zerstört würde. Dies galt für die eigene Stadt wie für die Kirche insgesamt und für das Reich, wo immer auch der akute Krieg bedrohlich sichtbar wurde. Die Gewalttaten, die in Wittenberg während Luthers Abwesenheit auf der Wartburg von ungeduldigen Anhängern in der Stadtkirche und im Franziskanerkloster verübt wurden, lehnte Melanchthon ab, weil dadurch der Friede gestört wurde. Nach seiner Meinung mussten die Reformen durch Unterweisung vorbereitet und dann von den ordentlichen Instanzen durchgeführt werden59. Diese Linie hat er durchgehalten. Um überregional etwas zu erreichen, musste er versuchen, auf einflussreiche Persönlichkeiten einzuwirken. Dies hat er immer wieder getan. Als im Mai 1524 der päpstliche Legat Lorenzo Campeggio versuchte, den gerade in Bretten weilenden Wittenberger Professor ins römische Lager zu locken, nutzte dieser die Gelegenheit, um in einem Offenen Brief die Grundsätze der Reformation darzulegen60. Es gehe Luther nicht um Zeremonien, sondern um menschliche und göttliche Gerechtigkeit. Die Beachtung der Traditionen nütze dafür nichts. Doch um der Liebe willen, d. h. aus Rücksichtnahme gegenüber den anderen, könne man sie beibehalten. Melanchthon will um des Friedens willen, so sagt er, möglichst viele Bräuche beibehalten. Hier ist schon sein Adiaphorismus ausgebildet, für den er später so sehr gescholten wurde. Doch zeigt er klar seine Grenzen auf: Messe und Zölibat sind untragbar. Dies geht nun freilich an den Nerv der römischen Partei. Melanchthons Lösung lautet gegenüber Campeggio wie bei der Wittenberger Bewegung so: Der Friede werde erhalten, wenn die Obrigkeiten für gelehrte Prediger sorgen statt die Lutheraner zu verfolgen. Ging hier die Initiative vom Legaten aus, so wandte sich Melanchthon drei Jahre danach von sich aus an den ranghöchsten Kirchenfürsten Deutschlands, an Kardinal Albrecht von Brandenburg, den Erzbischof und Kurfürsten von Mainz , auch Erzbischof von Magdeburg und Bischof von Halberstadt, indem er ihm ein Geschichtswerk über die Verteidigung von 59
MBW 187. - Jens-Martin KRUSE, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522 (2002). 60 MBW 324.
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Rhodos widmete61. Damit ist die Türkengefahr angesprochen, die während der ganzen Reformationszeit virulent war und auf den Reichstagen ein ebenso dauerhaftes Problem darstellte wie die Religionsfrage, die einer Einigung in der Türkenfrage immer wieder hinderlich war, jedenfalls das gemeinsame Vorgehen erschwerte. Melanchthon bat den Kirchenfürsten, als Voraussetzung für die Türkenabwehr die kirchlichen Streitigkeiten beizulegen, wozu er kraft seines Ranges und dank seiner bisher gezeigten Friedfertigkeit in der Lage sei. Melanchthon lehnt jede Gewaltanwendung ab, verlangt aber die Abschaffung der unbestreitbar vorhandenen Missbräuche, die er insbesondere im Bereich der Eucharistie und des Messopfers sieht. Ein Nationalkonzil solle auf Grund der Heiligen Schrift und der Kirchenväter diese Streitigkeiten beilegen. Melanchthon traut Albrecht zu, dies zustande zu bringen. Diese Widmungsvorrede blieb natürlich ohne unmittelbare Folgen. Aber Melanchthon hat die Verbindung zu diesem und zu anderen Fürsten beharrlich gepflegt und immer wieder nachgefasst, insbesondere auf dem Augsburger Reichstag 1530. Auch seine eigene Publikationstätigkeit stellte er in den Dienst des Friedens in Kirche und Gesellschaft. Der erste Bibelkommentar, den er selbst zum Druck brachte, ist der zum Kolosserbrief von 1527. Hierin legt er seine Lösung des Problems der Willensfreiheit vor, die geeignet war, den Streit zwischen Luther und Erasmus zu entschärfen, und inhaltlich in die Confessio Augustana von 1530 einging62. In der Vorrede63 sagt er ausdrücklich, dass diese notwendige Behandlung der gegenwärtigen Streitigkeiten durch Billigkeit dem Frieden der Kirche dienen möchte. 3. Friedensarbeit auf dem Augsburger Reichstag Beim Augsburger Reichstag hatte Melanchthon die dienstliche Aufgabe, eine Verteidigungsschrift der reformatorischen Lehre und Maßnahmen auszuarbeiten, die von der Gegenseite akzeptiert werden konnte. Sie wuchs sich dann zum Grundbekenntnis aller Lutheraner aus, was sie anfänglich nicht war: die Confessio Augustana. In Bezug auf sie wird von Melanchthons Leisetreterei gesprochen, mehr von seinen heutigen Gegnern als von den Zeitgenossen. Luthers diesbezügliches Urteil klang durchaus anerkennend: er könne an dem Entwurf nichts verbessern, zumal er selbst „so sanft und leise nicht treten könne“. Sachlich hatte er keine wesentlichen Beanstandungen, denn Melanchthon war auf der zuvor auch 61
MBW 546. Heinz SCHEIBLE, Melanchthon zwischen Luther und Erasmus (1984): Forschungsbeiträge (1996), 171–197, bes. 189–191. - Timothy J. W ENGERT, Human Freedom, Christian Righteousness. Philip Melanchthon’s Exegetical Dispute with Erasmus of Rotterdam (1998). 63 MBW 547. 62
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von Luther gebilligten Verhandlungslinie Kursachsens geblieben64. Diese war bei anderen Protestanten nicht unangefochten. Namentlich die im übrigen konservative und kaisertreue Reichsstadt Nürnberg missbilligte das Zugeständnis der bischöflichen Jurisdiktion als Preis für einen Frieden. Melanchthon war sich seiner Position bewusst und hat sie schon früh, am 19. Juni 1530, seinem damals in Nürnberg wirkenden Freund Camerarius erläutert65: Die Confessio Augustana (er nannte sie ,Apologie‘) sei zwar sanfter, als die Gegner verdienten, enthalte aber alles Wichtige. Das Zugeständnis der bischöflichen Jurisdiktion ärgere zwar manche Protestanten. Um des Friedens willen würde er, Melanchthon, aber noch mehr zugestehen. Für den Frieden hat er sich nicht nur pflichtgemäß in den verschiedenen Gremien eingesetzt, sondern auch seine persönlichen Kontakte nutzbar gemacht. Dies sind seine sogenannten Privat- oder Geheimverhandlungen, für die er ebenfalls geschmäht wird, sogar des Verrats bezichtigt, von den späteren Professoren mehr noch als von den Zeitgenossen. Dazu ist zu bemerken, dass er niemals die sächsische Verhandlungslinie verlassen hat. Dies wäre auch sinnlos gewesen, denn was hätte ein Angebot genützt, für das er in seiner Fraktion keine Mehrheit bekommen hätte? An oberster Stelle stehen die beiden Kardinäle, die uns schon begegnet sind. An Albrecht von Mainz wandte er sich am 3. Juni 1530 in einem sehr vertraulichen Schreiben66, das damals nicht an die Öffentlichkeit kam. Melanchthon appellierte an Albrechts friedliebende Gesinnung, was nicht nur eine captatio benevolentiae war, denn der Mainzer gehörte wirklich zu den auf Vermittlung bedachten Fürsten67. Zur Vermeidung eines Krieges bot Melanchthon die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der bischöflichen Kirchengewalt an, sofern Laienkelch, Priesterehe und evangelische Messe zugestanden würden. Unterschiede in der Häufigkeit der Messen dürften nicht Anlass zu einem Krieg sein. Melanchthon offenbarte dem Mainzer Kurfürsten auch seine eigenen politischen Sorgen und Prognosen: Ein Krieg würde nur den in Straßburg verborgenen Irrlehren nützen, und vielleicht würde Landgraf Philipp von Hessen die Führung übernehmen und mit den Schweizern gemeinsame Sache machen. Um dies zu verhindern, forderte Melanchthon ein Zusammengehen der Altgläubigen mit den Lutheranern. Die Gleichförmigkeit der Zeremonien sei für die Einheit der Kirche nicht unabdingbar. Auch Luther sei sehr friedliebend. 64
Heinz SCHEIBLE, Melanchthon und Luther während des Augsburger Reichstags 1530 (1985): Forschungsbeiträge (1996), 198–220. 65 MBW 933. 66 MBW 921. Zur Interpretation vgl. SCHEIBLE (wie Anm. 64), 40–42. 67 Erzbischof Albrecht von Brandenburg (1490–1545). Ein Kirchen- und Reichsfürst der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Friedhelm Jürgensmeier (1991).
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Während dieser Brief an Albrecht damals geheim blieb, wurde die Denkschrift, die Melanchthon am 4. Juli an den Legaten Lorenzo Campeggio richtete68, unverzüglich sogar in Italien verbreitet. Melanchthon beteuert die Friedensbereitschaft seiner Partei, die dogmatisch mit der römischen Kirche übereinstimme, ja sogar Irrlehrer bekämpfe, und gegen geringe Zugeständnisse zur Obödienz bereit sei. Verleumdern solle der Kardinal keinen Glauben schenken. Vielmehr würden Papst und Kirchenverfassung geschätzt. Da die Eintracht leicht hergestellt werden könne, solle der Legat die Bittenden nicht abweisen, die als Verteidiger der römischen Lehre Hass erdulden müssten. Gemeint sind hier die Zwinglianer und der Abendmahlsstreit. Der geringe Unterschied in den Riten sei nach dem Kirchenrecht kein Hindernis der Eintracht. Das ganze endet in einer Bitte um Geneigtheit. Man sieht, wie weit Melanchthon um des Frieden willen in der Form gehen konnte. Der päpstliche Diplomat war in dieser Art von Sprache erfahren genug, um zu erkennen, dass dies keine bedingungslose Unterwerfung war. Die „geringen Zugeständnisse“ mussten bewilligt werden. Es waren zumindest Laienkelch und Priesterehe, aber auch Riten, womit vor allem die Messliturgie gemeint ist. Das Augsburger Interim69 hat 1548 die sichtbaren Zeichen der Reformation, Laienkelch und Priesterehe, zugestanden, wenn auch nur auf Zeit. Aber 1530 war die Kurie dazu ebensowenig bereit wie bis zum heutigen Tag. Als die öffentlichen Verhandlungen keine Ergebnisse brachten, wandte sich Melanchthon am 13. August auch an den Augsburger Bischof Christoph von Stadion70. Er versicherte, dass er und viele andere die Erhaltung der bischöflichen Gewalt wünschten. Als Bedingung des Gehorsams würden Schutz und einige geringfügige Zugeständnisse erwartet. Damit werde der im Kriegsfall zu erwartende Anschluss der Gemäßigten an die Radikalen verhindert werden, was neue Irrlehren zur Folge haben würde. Friede und bischöfliches Kirchenregiment könnten dieses Unglück verhindern, und Melanchthon und Seinesgleichen würden die christliche Lehre verkündigen können. Was ihm also vorschwebte, war die Reformation mit den amtierenden Bischöfen. Melanchthon wandte sich auch an den Kölner Dompropst Graf Hermann von Neuenahr, mit dem er durch Reuchlins Vermittlung schon seit 1515 in Verbindung stand71. Er bekam das Versprechen des Prälaten, nach Kräften weiterhin für den Frieden wirken72. Leider starb der Graf bald danach73. 68
MBW 952, vgl. 990. Heinz SCHEIBLE, Das Augsburger Interim und die evangelischen Kirchen (1998): unten Nr. 23. - Gerhard MÜLLER, Interim: RGG4 (2001), 193 f. 70 MBW 1022. 71 MBW 6. 72 MBW 945. 69
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Was die Zugeständnisse, die Melanchthon von seinen Adressaten forderte, konkret bedeuteten, steht unter anderem in einem Gutachten74, das die kursächsischen Theologen Mitte August 1530 ihrem Fürsten einreichten. Der Obersatz lautet, dass die Fürsten angesichts der verheerenden Folgen eines Krieges für die Erhaltung des Friedens verantwortlich sind. Unbeschadet dessen sind nicht verhandelbar die freie Predigt der Lehre der Confessio Augustana, der Laienkelch, die Ablehnung der Privatmessen und des Messopfers, die Priesterehe und damit auch die Aufhebung der Klöster. Zugestanden werden nur unanstößige Zeremonien (das sind die später so umstrittenen Adiaphora), das Kirchenregiment der Bischöfe und ihre Jurisdiktion bei Ehesachen und Bann. Verhandelbar sind auch Speisegebote und Kirchengüter. Trotz dieser klaren und konsistenten Position wurde Melanchthons Haltung schon damals und noch heute missbilligt. Camerarius gegenüber zog er Bilanz75: Abgesehen von rein privaten Gesprächen habe er bei allen seinen Aktivitäten Verbindung zu seinen Kollegen gehabt. Kritik sei erst aufgekommen, als das Zugeständnis der bischöflichen Jurisdiktion bekannt wurde. Er verstehe, warum gerade die Städte dies nicht wollen. Er weiß auch, dass es nicht so weit kommen wird. Doch er selbst hielt die episkopale Kirchenverfassung für entschieden besser als die synodale. Alle Zugeständnisse seien vor dem Beginn des Reichstags mit Luther abgesprochen worden. Um einen Krieg zu verhindern, würde er, Melanchthon, noch mehr geben. Sein Ziel sei der Friede. Er habe dafür nichts Notwendiges preisgegeben. Vielmehr sei es ihm gelungen, Eck zum Eingeständnis der Rechtfertigung durch den Glauben zu zwingen. So Melanchthon in einem Privatschreiben an seinen Freund76. Auch als ein Scheitern des Friedenswerkes schon abzusehen war, verhandelte Melanchthon weiterhin privatim, nun auf Ratsebene. Über seinen ehemaligen Wittenberger Humanistenkollegen Otto Beckmann77, dem er einst den Druck seiner Antrittsrede über die Studienreform gewidmet hatte78, der aber 1523 das nun von der Reformation beherrschte Wittenberg verlassen hatte und dann Propst im bischöflichen Münster in Westfalen
73
Nicole KUROPKA, Melanchthon und Köln: Reform der Wissenschaften und reformatorische Bemühungen. In: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi“. Festschrift für Dietrich Meyer, hrsg. von Rudolf Mohr (2000), 513–531. 74 MBW 1024. 75 MBW 1053 vom 31. 8. 1530. 76 MBW 1053. Zur Sache vgl. Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Auseinandersetzung mit dem Reformkatholizismus (1989): Forschungsbeiträge (1996), 222–244, bes. 234. 77 MBW 1063. 78 MBW 30.
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wurde79, ließ er dem Bischof Eberhard von Lüttich, der als gemäßigt galt, durch dessen Kanzler Aegidius von Plackery sein Gutachten über die bis zum Konzil zu duldenden Artikel80 zustellen. Die Forderung nach Heiratserlaubnis für Mönche und nach evangelischer Messe wurde zurückgewiesen. Der Bischof erwartete von Melanchthon eine Lösung, wie mit Zustimmung des Kaisers und des Legaten Lorenzo Campeggio die evangelische Messe geduldet, daneben aber auch Privatmessen gegen Gewalttätigkeiten des Volkes garantiert werden könnten. Beckmann, der die Kriegsgefahr sehr ernst nahm, konnte sich auf dieser Basis einen Frieden vorstellen, nämlich Duldung von lateinisch gehaltenen evangelischen Messen, sofern auch Privatmessen gehalten und die Messpfründen restituiert würden81. Dies war natürlich illusorisch. Im vertrauten Kreis bezeichnete Melanchthon auch die Unnachgiebigkeit der eigenen Partei als Ursache für die Gefährdung des Friedens82. Die Verbündeten, namentlich die Nürnberger und Hessen, aber auch die Lüneburger, hält er für maßlos und nennt deren Haltung „schweizerische Politik treiben“, wogegen Kursachsen friedensbereit sei. Ein Krieg werde das Reich zerstören. Melanchthon erfuhr von einem Fürsten von friedensfeindlichen Plänen der Schweizer und von Rüstungen der Türken. Er tritt deshalb für einen raschen Friedensschluss ein83. Er meinte, Kursachsen hätte die Zustimmung zur Königswahl Ferdinands als Gegenleistung für den Frieden anbieten können84. Später, beim Vertrag von Kaaden, ist dies geschehen (wie oben erwähnt). Wenn ihm von der Gegenseite, etwa von dem kaiserlichen Prediger Aegidius85, vorgeworfen wurde, er habe die evangelischen Fürsten zur Unnachgiebigkeit veranlasst, so konnte er auf seinen Einsatz für den Frieden und die Verhinderung des Bündnisses zwischen Lutheranern und Zwinglianern hinweisen und den Gegnern Kriegstreiberei vorwerfen. Wege zur Verständigung habe er, Melanchthon, mehrfach aufgezeigt. Er weist auch den Vorwurf zurück, die evangelischen Fürsten wollten sich an den Kirchengütern bereichern86. Als alle Friedensbemühungen des Augsburger Reichstags gescheitert waren und die Protestanten zur Unterwerfung aufgefordert wurden, wählte 79
Klemens HONSELMANN, Otto Beckmanns Vermittlungsversuch beim Reichstag zu Augsburg 1530. In: Reformata Reformanda. Festgabe für Hubert Jedin, hrsg. v. Erwin Iserloh und Konrad Repgen, Bd. 1 (1965), 428–444. - MBW 11 (2003), 135. 80 MBW 1062. 81 MBW 1063.7. 82 MBW 1072 (10. 9. 1530 an Veit Dietrich auf der Coburg). 83 MBW 1073 (an Luther). 84 MBW 1120. 85 MBW 1081.2. 86 MBW 1081.
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auch Melanchthon wieder schärfere Töne, ausdrücklich bei der Abfassung seiner Apologie zur Confessio Augustana87. Politisch kam es zur Gründung des Schmalkaldischen Bundes. Zuvor hatten Luther und Melanchthon und mit ihnen die anderen kursächsischen Theologen ihre Ablehnung des Widerstands der Fürsten gegen den Kaiser zurückgezogen. Dafür wurde Melanchthon von seinen Nürnberger Freunden kritisiert88. Auch wenn er das Vorgehen der Gegner, namentlich des Erzbischofs Albrecht gegen die Stadt Halle, als unerträglich bezeichnete, war ihm die Politik des Landgrafen zu unbesonnen, wogegen er seinen eigenen Kurfürsten Johann den Beständigen für friedensbereit hielt89. Ein großes Kapitel der Friedensarbeit Melanchthons ist die gemeinsam mit Bucer gelungene Beilegung des Abendmahlsstreits durch die Wittenberger Konkordie 1536. Hierbei ging es um den geistigen Frieden im eigenen Lager. Dies darzustellen, würde diesen Beitrag sprengen90. Wir bleiben beim politischen Frieden oder Krieg und fragen, wie sich die Zustimmung zum Widerstandsrecht mit Melanchthons christlicher Ethik verträgt. Damit sind wir bei der Frage nach den Grundsätzen seiner Ethik angelangt.
III. Melanchthons Prinzipien 1. Anfängliche Ablehnung eines Rechts zu aktivem Widerstand Nachdem Luther gegen den Willen seines Fürsten die Wartburg verlassen hatte, stand dieser (es war Friedrich der Weise) vor der Frage, wie er sich bei einer Exekution der Reichsacht verhalten müsse, um christlich zu handeln. Wie die anderen Wittenberger Theologen musste auch Melanchthon ein Gutachten erstellen91. Luther hatte gerade aus anderem Anlass sein Buch »Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei« vollendet, worin er grundsätzliche Überlegungen über das Verhältnis von christlicher Kirche und weltlichen Ordnungen anstellte, die unter dem sekundären und oft missverstandenen Etikett „Zweireichelehre“ besonders im 20. Jahrhundert eine große Nachwirkung gehabt haben und immer noch
87
MBW 1145.3. MBW 1120, 1124. 89 MBW 1124, 1145. 90 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon und Bucer (1993): Forschungsbeiträge (1996), 245– 269. 91 MBW 263. 88
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bedenkenswert sind92. Sie sind auch für Melanchthons politische Ethik wegweisend geworden. Schon Luthers Buchtitel lässt erkennen, das der gebotene Gehorsam Grenzen hat. Luther unterscheidet das Reich Gottes und das Reich der Welt. Die wahren Christen brauchen keine Obrigkeit. Aber selbst wenn es sie so gäbe, wie er sie beschreibt, dann wären sie immer auch am Reich der Welt beteiligt, müssen also die Gesetze beachten und, wenn sie Verantwortung tragen, notfalls mit Gewalt anwenden, denn dadurch wird das Zusammenleben der überwiegend bösen Menschen erst möglich. Es ist eine Grundregel des Luthertums, dass man mit dem Evangelium nicht die Welt regieren kann. Man mag diesen Grundsatz ablehnen, was immer wieder geschah und geschieht. Doch wenn man das politische Handeln der Reformatoren um Luther in seiner inneren Logik verstehen will, muss man ihn zur Kenntnis nehmen. Wenn Luther und Melanchthon sich 1530 nach dem gescheiterten Reichstag von den Juristen davon überzeugen ließen, dass Widerstand der Fürsten gegen den Kaiser rechtens sei93, so war ihr Abrücken von der bisherigen Negierung dieses Widerstandsrechts keine Veränderung von Grundsätzen, sondern ihre Anwendung auf eine veränderte oder besser verstandene Situation. Die Grundsätze waren schon 1523 formuliert. Es wird unterschieden, ob der Kurfürst als Christ oder als Amtsträger handelt. Ein Christ als solcher muss leiden. Offen bleibt, ob er andere verteidigen darf, was ein Fürst als solcher tun muss. Melanchthon verlangt dafür das gute Gewissen, dass man für eine gerechte Sache kämpft, und er meinte damals (1523), dass ein Fürst dieses gute Gewissen nur haben könne, wenn er sich der Zustimmung seines Volkes, von dem er die Herrschaft habe, sicher sei. Weil aber das Volk mehrheitlich ungläubig sei, wolle es nicht für das Evangelium kämpfen. Somit votiert Melanchthon gegen einen Kampf. Die wenigen wahren Christen würden lieber ihr Leben hingeben als sich von anderen verteidigen lassen. Die Wittenberger Theologen vertraten schon damals keinen grundsätzlichen Pazifismus. Um so bemerkenswerter ist ihr entschlossener Einsatz für den Frieden, wann immer in ihrem Umkreis die Gefahr eines Krieges sichtbar wurde. Das Widerstandsrecht, genauer: die bewaffnete Verteidigung der Untertanen gegen ihre Obrigkeit, lehnte Melanchthon noch in der Vorbereitung zum Augsburger Reichstag 1530 aus Gewissensgründen ab und bezeich-
92
Friedrich-Wilhelm GRAF, Zweireichelehre: LThK3 10 (2001), 1515–1519. - Martin HONECKER, Zweireichelehre: Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, hrsg. v. Martin Honecker u. a. (2001), 1849–1854. - Wolfgang LIENEMANN, Zwei-Reiche-Lehre: Evangelisches Kirchenlexikon3 4 (1996), 1408–1419. 93 MBW 1091.
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nete die Gegengründe der Juristen als spitzfindig94. Seine Überlegungen waren folgende95: Wenn geltend gemacht wird, bei Rechtsverweigerung, Kompetenzüberschreitung und notorischem Unrecht sei Widerstand erlaubt, so erstrecke sich dieser nur auf die Verweigerung des Gehorsams (das ist der sogenannte Passive Widerstand), nicht auf aktive Gegenwehr. Das angebliche Naturrecht der Selbstverteidigung stehe nicht nur in Widerspruch zum göttlichen Gebot, sondern auch zur naturrechtlichen Institution der Obrigkeit, deren Autorität nicht beschädigt werden dürfe, sowie zu dem Grundsatz, dass niemand Richter in eigener Sache sein darf. Auch dass der Kaiser die Wahlkapitulation gebrochen habe, entbinde nicht von der Gehorsamspflicht. Der Widerstand gegen den Kaiser sei aber nicht nur verboten, sondern auch höchst unzweckmäßig, denn er führe zu Anarchie in Staat und Kirche. Melanchthon verurteilt scharf die gegenteilige Auffassung der zwinglianischen Städte, denen er unterstellt, sich weder um das Recht noch um das Evangelium zu kümmern. Ihre Prediger hätten mit den aufständischen Bauern sympathisiert. Zwingli rufe zum Kampf gegen den Kaiser auf, Bucer habe Sickingens Raubkrieg öffentlich verteidigt und Luthers Haltung im Bauernkrieg kritisiert. Nun wollten die Zwinglianer, namentlich die Reichsstadt Straßburg, mit Hilfe des Landgrafen Staat und Kirche noch mehr verwüsten96. Melanchthon dagegen rät, sich einer kaiserlichen Gegenreformation nicht zu widersetzen, sondern als Privatleute das Evangelium zu bekennen und dafür zu leiden. 2. Das Recht zur Verteidigung Ende Oktober 1530 vollzogen dann Luther, Justus Jonas, Melanchthon, Georg Spalatin und andere in Torgau eine Kehre97. Ein Gutachten der kursächsischen Juristen98 hatte sie überzeugt, dass nach dem geltenden Recht im gegebenen Fall Widerstand gegen die Obrigkeit erlaubt ist. Die Theologen billigten deshalb angesichts der gegenwärtigen Lage die 94
MBW 870. MBW 872. 96 So auch MBW 871. 97 MBW 1091. - Hermann DÖRRIES, Luther und das Widerstandsrecht. In: DERS., Wort und Stunde, Bd. 3: Beiträge zum Verständnis Luthers (1970), 195–270. - Eike W OLGAST, Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert (1980). - DERS., Melanchthon als politischer Berater. In: Melanchthon: zehn Vorträge, hrsg. v. Hanns Christof Brennecke und Walter Sparn (1998), 179–208. - Robert von FRIEDEBURG, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt (1999). - DERS., Welche Wegscheide in die Neuzeit? Widerstandsrecht, „Gemeiner Mann“ und konfessioneller Landpatriotismus zwischen „Münster“ und „Magdeburg“: Historische Zeitschrift 270 (2000), 561–615. 98 Heinz SCHEIBLE, Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546 (1969, ²1982), 63–66. 95
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Rüstung und widerriefen ihre frühere Lehre vom Verbot des Widerstandes: „(... da) wir allezeit gelehrt haben, dass man weltliche Recht solle lassen gehen, gelten und halten, was sie vermögen, weil das Evangelion nicht wider die weltliche Recht lehret, so können wirs mit der Schrift nicht anfechten, wo man sich des Falls wehren müsste. (...) Denn dass wir bisher gelehret, stracks nicht widerzustehen der Oberkeit, haben wir nicht gewusst, dass solchs der Oberkeit Rechte selbs geben, welchen wir doch allenthalben zu gehorchen fleißig gelehrt haben.“ In einer Zusatzerklärung rieten die Theologen dringend dazu, mit dem Kaiser erneut zu verhandeln und sogar die Durchsetzung des Augsburger Reichstagsabschieds widerstandslos geschehen zu lassen. Doch dies bekümmerte die Politiker nicht länger. Sie konnten den Schmalkadischen Bund gründen99. Melanchthon hat sich weiterhin für den Frieden eingesetzt. Einige wenige Beispiele von vielen haben wir erwähnt. Er hat auch die Politik seiner Fürsten, insbesondere die des seit 1532 regierenden Johann Friedrich, im Einzelnen kritisiert. Er unterstützte aber uneingeschränkt den Schmalkaldischen Bund als politische Organisation der Protestanten. Im Dezember 1536, im Zusammenhang mit dem nun wieder in Aussicht gestellten Konzil, mussten die Wittenberger Theologen Martin Luther, Justus Jonas, Johannes Bugenhagen, Nikolaus von Amsdorf, Caspar Cruciger und Melanchthon wieder einmal ein Gutachten für ihren Kurfürsten erstellen100. Über das Widerstandsrecht heißt es darin: Das Evangelium hebt das natürliche Recht nicht auf. „Nachdem das evangelium eine lahr ist vom geistlichen und ewigen reich im hertzen und eusserlich leiblich regiment nicht verwirfft, sondern viel mehr bestettiget und hoch preiset, so volget, das das evangelium allen naturlichen und billichen schutz und defension, so von naturlichen rechten oder sonst durch leiblich regiment geordent ist, zulesset. An diesem grund ist viel gelegen, also das man daraus sonst auch schliessen mus von allerley weltlichen ordnungen, das sie gott gefellig und das ein christ sie gebrauchen moge. Derhalben wie sanct. Paulus spricht: Lex est posita iniustis, prophanis etc., also sprechen wir: Evangelium non tollit politica seu leges politicas“101. Die Prediger haben keine Schwertgewalt, in keinem Bereich. Sie haben nur das Wort. Das steht hier außer Frage. Es geht um die Obrigkeit. Diese ist sogar verpflichtet, die Christen und ihre Religionsausübung zu schützen. Dies gilt nicht nur gegenüber Gleichgestellten, sondern auch gegen den Kaiser, wenn er ungerecht vorgeht, was vor dem Konzil eindeutig der Fall 99
Ekkehart FABIAN, Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes und seiner Verfassung (1956). - Gabriele HAUG-MORITZ und Georg SCHMIDT, Schmalkaldischer Bund: TRE 30 (1999), 221–228. 100 MBW 1818. 101 MBW 1818.2.1 = MBW.T 7 (2006), 293 f.50–59.
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wäre, und auch eine Verurteilung durch das parteiische Konzil wäre rechtswidrig. Es gehört zu den Pflichten der Fürsten, Abgötterei zu verhindern102. Ein Gutachten vom November 1538, an dem außer Luther, Jonas, Melanchthon auch Bucer beteiligt war, geht einen Schritt weiter103. Dass die Obrigkeit die Religion gegen Gleichrangige und gegen den Kaiser verteidigen darf, steht außer Frage. Neu ist das Problem des Präventivschlags. Nach publizierter Acht wird er für erlaubt gehalten. Doch wird daran erinnert, dass die Zweckmäßigkeit bedacht sein will. Bald nach Luthers Tod sah sich der Kaiser in der Lage, die Protestanten mit Waffengewalt zur römischen Kirche zurück zu zwingen. Melanchthon unterstützte die Verteidigung seiner politischen Obrigkeit, was ihn nicht hinderte, Wege zu einer friedlichen Lösung zu suchen, vor allem, als der evangelische Herzog Moritz von Sachsen auf Seiten des Kaisers in den Krieg eintrat104. Ganz zu Beginn, Ende Mai 1546, erwogen die Schmalkaldischen Bundeshäupter anzugreifen, solange Karl seine Truppen noch nicht versammelt hatte, und befragten darüber die Wittenberger Theologen Bugenhagen, Cruciger, Maior und Melanchthon105. Diese votierten gemäß dem uns bekannten Grundsatz, dass ein Christ für sich persönlich zwar widerstandslos leiden muss, als Amtsperson aber zur wirksamen Verteidigung seiner Schutzbefohlenen verpflichtet ist. Zu diesem Zweck erklärten die Gutachter sogar einen Präventivschlag für erlaubt, aber nur bei völliger Gewissheit des feindlichen Angriffs. Diese Bedingung wird nachdrücklich eingeschärft und für den Zeitpunkt des Gutachtens als nicht gegeben erachtet. „Man soll aus ungewisser Furcht des Künftigen nicht in Gegenwärtigkeit von der Regel weichen und gefährliche Dinge vornehmen.“ Denn die Gutachter glauben fest, dass die wahre Lehre, die zu vertreten sie gewiss sind, niemals untergehen werde, auch wenn die eigenen Sünden ihrer Anhänger die verdiente Strafe finden sollten. Die Bundesfürsten, deren Gefährdung 102
MBW 2270.2, vgl. 2171a. - James M. ESTES, Erasmus, Melanchthon, and the Office of Christian Magistrate: Erasmus of Rotterdam Society Yearbook 18 (1998), 21– 39. - DERS., The Role of Godly Magistrates in the Church: Melanchthon as Luther’s Interpreter and Collaborator: Church History 67 (1998), 463–483. - DERS., Melanchthon’s Confrontation With the „Erasmian“ Via media in Politics: The De officio principum of 1539. In: Dona Melanchthoniana. Festgabe für Heinz Scheible zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Johanna Loehr (2001), 83–101. 103 MBW 2121. 104 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon rettet die Universität Wittenberg (1998): unten Nr. 14. - Günther W ARTENBERG, Theologischer Ratschlag in Zeiten politischen Umbruchs. Die Wittenberger Theologen und ihre Landesherrn 1546/47. In: Religionspolitik in Deutschland. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Martin Greschat zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Anselm Doering-Manteuffel und Kurt Nowak (1999), 29–50. 105 MBW 4276.
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anerkannt wird, werden ernstlich ermahnt, sich über ihre Kriegsziele klar zu werden und nichts zu übereilen. Der Präventivschlag unterblieb. Als der Krieg begonnen hatte und der Kurfürst im Felde stand, richteten die Wittenberger Theologen Bugenhagen, Cruciger, Maior und Melanchthon an ihn ein seelsorgerliches Schreiben106, wodurch sie ihm für sein kriegerisches Tun ein gutes Gewissen vermitteln wollten. In Wittenberg herrsche Friede, man bete für den Kurfürsten und sein Heer. Es handle sich um einen einzigartigen Krieg, bei dem es um das Christentum überhaupt gehe. Da die Feinde die rechte Lehre vernichten wollen und den Krieg begonnen haben, kämpfe der Kurfürst als Verteidiger für eine gute Sache. Gott sei mit einem solchen Heer, es sei ein Krieg Gottes, und die Kriegsleute dürfen sich mit gutem Gewissen Gott befehlen. Gegenüber guten Freunden107 bekräftigte Melanchthon, dass er zwar nicht mit allem einverstanden sei, was bei den Protestanten in den letzten zwanzig Jahren geschehen war. Dennoch halte er die Ziele der evangelischen Fürsten, und was sie erreicht haben, überwiegend für gottgefällig. Er konnte jedem Ausgang des Krieges gelassen entgegensehen, denn er glaubte, dass Gott seine Lehre erhalten und Kaiser Karl seine Kriegsziele nicht erreichen, sondern nur noch größere Verwirrung anrichten werde108. Melanchthons Einschätzung sollte sich als zutreffend erweisen. Publizistisch stärkte er gemeinsam mit anderen die Verteidigungsbereitschaft der Protestanten. Er verfasste die Flugschrift »Von der itzigen Kriegsrüstung«, die am 4. Juli 1546 unter Bugenhagens Namen in Wittenberg gedruckt wurde109. Am 10. Juli 1546 schrieb er eine Vorrede110 zu Luthers »Warnung an seine lieben Deutschen«, „vor etlichen Jahren geschrieben auf diesen Fall, so die Feinde christlicher Wahrheit diese Kirchen und Land, darinne reine Lehr des Evangelii geprediget wird, mit Krieg überziehen und zerstören wollten“. Darin führte er aus, dass von Anfang der Welt alle Glieder der Kirche unter dem Kreuz stehen, dass der Sinn unseres Lebens darin liegt, Gott zu preisen und die Lehre von seinem Heilswerk zu erhalten, und „dass ein Mensch nicht wie ein bestia leben soll, allein sein eigen sanft Leben suchen, sondern dienen zu Gottes Erkenntnis und zu Erhaltung der wahrhaftigen Kirche“. Diese Grundeinstellung solle das Verhalten in dem gegenwärtigen Krieg bestimmen. Die Mitwirkung des Papstes Paul III. offenbare den Zweck, nämlich die Beseitigung der Reformation. Dass nur die Bestrafung von Rechtsbrechern beabsichtigt sei, sei ein Vorwand. Vielmehr solle durch die Rückführung 106
MBW MBW 108 MBW 109 MBW 110 MBW 107
4365 (24. 8. 1546). 4296, 4320. 4296. 4311. 4319.
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239
der Mönche der Aberglauben wieder aufgerichtet werden. Das Endziel sei die Beseitigung der evangelischen Lehre mit Mord an Priestern und Regenten, und die Spanier und Italiener wollten deutsche Fürstentümer in Besitz nehmen. Der Vorwurf der Unordnung in der Kirche wird von Melanchthon nicht bestritten. Doch haben, entgegnet er, die Bischöfe das ihnen oft gemachte Angebot, die rechte Lehre anzunehmen und dafür das Kirchenregiment auszuüben, nur mit Verfolgung beantwortet. Deshalb wurden reformatorische Studienanstalten, Konsistorien und Kirchenordnungen errichtet. Wenn man die Fehler beider Parteien vergleicht, so könne man nicht auf der Seite der Gotteslästerer und Verfolger stehen. Gegenwehr sei erlaubt, denn es handle sich um einen Verteidigungsfall, und das Evangelium hebe die natürlichen Gesetze nicht auf, an die auch die Obrigkeiten gebunden seien. Als der Krieg mitten im Gange war, vollendete er die umfangreiche Monographie des Justus Menius »Von der Notwehr«“111 und brachte sie mit einer Vorrede112 zum Druck. Der Zweck dieses Buches sei es, führt Melanchthon aus, den Vorwurf, man hätte sich gegen den Kaiser nicht verteidigen dürfen, zu entkräften. Auch die Gegner würden ihre Frauen gegen Grausamkeiten schützen. Notwehr müsse also das Gewissen nicht belasten. Dies zu sagen, war nicht überflüssig. Die früheren Voten der Wittenberger waren ja nicht vergessen und wurden ihnen vorgehalten, insbesondere das Gutachten vom 6. März 1530. Melanchthon und Bugenhagen publizierten es im Januar 1547 zusammen mit Äußerungen Luthers aus der Zeit nach der Torgauer Wende vom Oktober 1530. In seiner Vorrede113 machte Melanchthon wiederum deutlich, dass nach natürlichem Recht, das vom Evangelium nicht aufgehoben wird, Notwehr erlaubt ist. Mit Verherrlichung des Krieges hat dies nichts zu tun: „Ich weiß wohl, dass große jämmerliche Klag ist über den Krieg, und ist wahr, es ist leider ein sehr groß Elend. Es gehet aber hie wie in allen Krankheiten: von den Schmerzen klagt man sehr, und wenige meiden die Ursachen der Krankheiten.“ 3. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium Aus Melanchthons Reden und Handeln in den geschilderten konkreten Situationen wird der theoretische Hintergrund seiner Friedensethik deutlich. Es ist die sogenannte Zweireichelehre114. Ich vermeide diesen oft missverstandenen Ausdruck und spreche lieber mit Melanchthons Worten
111
MBW 4512. MBW 4510. 113 MBW 4554. 114 Wie Anm. 92. 112
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12. Melanchthons Ethik des Friedens
von der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Dies zu erläutern, würde einen besonderen Vortrag erfordern115. Der Terminus ,Gesetz‘ umfasst alles, was von Gott seit der Schöpfung als sein ewiger Wille hinsichtlich des Guten offenbart wurde und – seit dem Sündenfall geschwächt, aber nicht aufgehoben – dazu dient, das Zusammenleben der im Grunde bösen Menschen zu ermöglichen. In seinem tiefen Sinn erkannt, was aber nur durch die Predigt des Evangeliums und den Heiligen Geist möglich ist, führt es auch in die Buße. Doch dies und alles andere, was zum Heil führt, ist die Botschaft des Evangeliums. Darauf kam es den Reformatoren primär an. Das Gesetz in seiner allgemeinen politischen Funktion bleibt aber dennoch eine Aufgabe auch für die theologische Ethik. Melanchthon hat sich ihr wie kein anderer gestellt, als akademischer Lehrer in der kritischen Rezeption des Aristoteles, als politischer Gutachter in seiner Arbeit für einen bewaffneten Frieden. Er wusste, dass dies nicht dem Ideal einer christlichen Gesellschaft entspricht. Er wusste aber auch, dass es diese christliche Gesellschaft nicht gibt, nicht einmal in der Kirche. Sie gehört in den Bereich der Eschatologie. Mit dem Evangelium kann man die sündige Welt nicht regieren, auch wenn man ein Christ ist, und das heißt nicht unbedingt ein besserer Mensch, sondern ein begnadigter Sünder.
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Dieser Vortrag liegt gedruckt vor: unten Nr. 13. Kurzfassung in: Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, hrsg. v. Martin Honecker u. a. (2001), 1932–1934.
Die Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für theologische Ethik und Praktische Theologie am Beispiel Melanchthons Wer sich über das zentrale Thema der christlichen Theologie, insbesondere reformatorischer Prägung, über das Evangelium, informieren will und zum umfangreichsten theologischen Nachschlagewerk, zur TRE, greift, wird auf das Gesetz verwiesen1. Es gibt dort Artikel über die Evangelien, aber keinen über das Evangelium als solches, sondern nur einen über „Gesetz und Evangelium“2. Nach Meinung des Herausgeber- und Beratergremiums kann man also über das Evangelium sachgemäß nichts sagen, ohne auch über das Gesetz zu reden. Ob man über das Gesetz sprechen kann, ohne das Evangelium im Blick zu haben, werden wir vielleicht am Ende dieses Vortrags wenigstens insoweit wissen, als wir Melanchthons Meinung darüber kennenlernen wollen. Denn nur dessen theologisches System soll dieser Vortrag ausleuchten. Übrigens wird dieser Theologe, der das Verhältnis von Gesetz und Evangelium so klar wie kein zweiter bestimmt hat, in jenem TRE-Artikel mit keiner Silbe erwähnt3. Auch was unter Evangelium zu verstehen ist, wird hierin nicht erklärt. Doch habe ich einen Satz gefunden, den ich wörtlich zitieren möchte: „Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Gesetz und Evangelium ... kann als Musterbeispiel dafür angesehen werden, wie gering unter Theologen bislang die Fähigkeit ausgebildet war, sensibel auf den Diskussionspartner zu hören und Angebote von Argumentationsfiguren kreativ aufzunehmen“4. Solches ist Melanchthon zu Lebzeiten und danach ständig widerfahren: man hat ihn nicht vorurteilslos zur Kenntnis genommen. Mehr als über das Evangelium erfährt man in der TRE über das Gesetz5. Doch viele Theologen tun sich schwer mit dem Gesetz. Sie reden lieber 1
TRE 10 (1982), 690. Hans-Martin B ARTH, Gesetz und Evangelium I. Systematisch-theologisch: TRE 13 (1984), 126–142; Yoshiro ISHIDA, Gesetz und Evangelium II. Ethisch: ebd. 142–147. 3 Melanchthons Position wird von Rudolf MAU in dem Artikel „Gesetz V. Reformationszeit“ behandelt: ebd. 84.50–85.27. Ausführlich und kritisch: Albrecht P ETERS, Gesetz und Evangelium: Handbuch Systematischer Theologie 2 (1981), 58–81. 4 TRE 13, 136.54–137.3. 5 Wie Anm. 2, dazu S. 40–126 sechs Artikel „Gesetz“. 2
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und feuriger vom Evangelium. In der Reformationszeit war „das Evangelium“ sogar ein parteibildendes Schlagwort, dessen Inhalt sehr verschieden sein konnte6. Die verbreitete Abneigung gegen das Gesetz hängt damit zusammen, dass das Wortfeld Gesetz, Moral, Sittlichkeit, sogar Recht, emotional negativ besetzt ist. Mehr Akzeptanz erfahren Gebot, Ethos, Ethik. Für unsere Untersuchung scheint es mir hilfreich zu sein, das Wort Gesetz in möglichst weitem Sinne als Chiffre für einen Sachkomplex zu nehmen, dessen Inhalt erst ermittelt werden soll. Einen Tiefpunkt in der Bewertung des Gesetzes markiert die erste Barmer These von 19347, auf die viele Theologen bei der Ordination verpflichtet wurden und werden: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Das eine Wort ist nicht eines unter mehreren, sondern das einzige, und zu gehorchen hat man einem Gesetz; dem Evangelium wird geglaubt. Das, was in der theologischen Tradition mit Gesetz umschrieben wird, ist hier in Jesus Christus mit hinein genommen. Wir wissen, dies war zur Abwehr gegen eine Theologie der Schöpfungsordnungen formuliert, die keine Widerstandskraft gegen eine Ideologie des Volksnomos aufbrachte, der nicht nur christliche, sondern alle humanen Prinzipien mit Füßen trat. Aber soll man deswegen überhaupt nicht mehr von der Ordnung der Schöpfung sprechen? Die systematische Antithese zur Barmer theologischen Erklärung lautet: Das Evangelium hebt die bürgerlichen Gesetze nicht auf. Wer jetzt denkt: typisch Melanchthon, hat recht8. Doch Luther war derselben Überzeugung9. Für die Wittenberger Reformatoren hatte dieser Grundsatz eine aktuelle politische Konsequenz: sie nahmen etwas zurück, was sie bisher für unabdingbar christlich gehalten hatten, und stimmten einem Verteidigungsbündnis zu. Vor solche Entscheidungszwänge sehen sich Christen immer wieder und manchmal unversehens gestellt. Die Kenntnis der Geschichte kann dabei hilfreich sein. Das nun folgende historische Referat lässt wegen der gebotenen Kürze die Frage nach der Entstehung und möglichen Entwicklung von Melanchthons Gedanken unerörtert. Es bezieht sich
6
MAU (wie Anm. 3): TRE 13, 84.21–49. EvBek 2 (1997), 253–279. 8 CR 13, 428, 430 f, 438. 9 Heinz SCHEIBLE, Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523-1546 (1969, 21982), 67. - Eike W OLGAST, Melanchthon als politischer Berater. In: Melanchthon. Zehn Vorträge, hrsg. v. Hanns Christof Brennecke und Walter Sparn (1998), 179–208, bes. 186 f. 7
13. Gesetz und Evangelium
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zumeist auf die reife Gestalt seines Systems, auf die Loci von 154310. Melanchthon war damals 46 Jahre alt, und Luther lebte noch.
*** Ob man die christliche Ethik vom Gesetz oder vom Evangelium her entfaltet, ist die m. E. wichtigste Grundentscheidung, die zu zwei sehr verschiedenen Typen theologischer Systeme führt, hinter denen verschiedene Glaubenshaltungen sichtbar werden, und die durch ihre fundamentale Verschiedenheit immer wieder zu Streitigkeiten und Verdammungen geführt haben. Streit dürfte eigentlich nur entstehen, wenn keine übereinstimmende Klarheit darüber erzielt ist, was mit Gesetz, was mit Evangelium gemeint ist. Diese Klarheit wurde erstmals und grundsätzlich unübertroffen von Luther und in enger Zusammenarbeit mit ihm von Melanchthon geschaffen. Beide haben das Proprium ihrer reformatorischen Theologie in der rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gesehen. Scholastiker und Schwärmer kennen diese Unterscheidung nicht; sie machen das Gesetz zum Heilsweg und das Evangelium zum Gesetz11. Was die Wittenberger Reformatoren unter Gesetz und unter Evangelium verstanden haben, soll nun am Beispiel Melanchthons erläutert werden, wobei ich behaupte, ohne in der gebotenen Kürze eines Referats den Beweis antreten zu können, dass all dies auch von Luther grundsätzlich ebenso vertreten wurde12. Das Gesetz13 hat mehrere Erscheinungsweisen und Funktionen, die zwar miteinander verflochten sind, aber jeweils unterschieden werden müssen, damit keine Missverständnisse entstehen. Das Gesetz Gottes, auch Sittengesetz (lex moralis) genannt, ist die ewige Weisheit und Gerechtigkeit im Willen Gottes, die Unterscheidung von Gut und Böse. Es ist dem Menschen bei der Schöpfung offenbart und danach in der Kirche oft wiederholt worden. Der verlangte vollkommene Gehorsam kann infolge 10
Die verbreitete Studienausgabe »Melanchthons Werke in Auswahl«, hrsg. v. Robert Stupperich [hinfort: MSA], Bd. 2, Teil 1 und 2 (1952 f), S. 164–816; 2. Aufl. (19781980), S. 186–852, druckt wie schon das Corpus Reformatorum [hinfort: CR] 21 (1854, Repr. 1963), 561–1106, die Ausgabe letzter Hand von 1559 ab. Doch sie ist gegenüber der ersten Auflage der dritten Bearbeitung („tertia aetas“ von 1543/44) nur unwesentlich verbessert. Zitiert wird nach CR, dessen Spalten auch in MSA am Rande angegeben werden. 11 CR 12, 638 Nr. 18; CR 21, 739. 12 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon neben Luther (1994): Forschungsbeiträge (1996), 153–170, bes. 163–166. - DERS., Melanchthon als theologischer Gesprächspartner Luthers (1998): oben Nr. 1. 13 Das folgende nach CR 21, 685–720.
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der Ursünde nicht erbracht werden, und durch sie ist auch die Kenntnis des Willens Gottes getrübt. Gleichwohl ist in allen Menschen das Wissen um Gut und Böse erhalten geblieben, wie ja auch die Kenntnis der Zahlen, die Fähigkeit zum Rechnen, durch die Erbsünde nicht verloren ging. Dieses allen Menschen verbliebene ethische Wissen heißt Naturgesetz oder Naturrecht. Es ist inhaltlich identisch mit dem ewigen Sittengesetz, das in klassischer Kürze im Dekalog offenbart wurde. Der Dekalog ist für Melanchthon die Chiffre für das ewige Sittengesetz. „Nun reden wir von dem hohen ewigen Gesetz, das man nennet mit einem schwachen Namen Lex Moralis, und wir nennen es die Zehn Gebote, weil die wichtigsten Stücke bequem darin formuliert sind. Und wenn wir diesen Namen Zehn Gebote gebrauchen, soll man solches nicht kindisch verstehen, allein von diesen zehn Sprüchen, sondern vom ganzen Gesetz, das man nennet Lex Moralis“14. Er definiert es folgendermaßen: „Das göttliche Gesetz, das man nennet Lex Moralis oder Gesetz von Tugenden oder vom Urteil Gottes oder Zehn Gebote, ist die ewige unwandelbare Weisheit und Regel der Gerechtigkeit in Gott selbst, die Unterschied machet zwischen Tugend und Untugend, und zürnet grausamlich wider Untugend. Und es ist den Menschen in der Schöpfung dieser Weisheit Glanz mitgeteilet und hernach durch Gottes Wort für und für erkläret, dass wir Menschen erkennen, wie Gott selbst ist, und fordert, dass wir seiner Weisheit und Gerechtigkeit gleichförmig sind, und nicht widerwärtig im Verstand, Herzen oder Werken, und zürnet wahrhaftiglich über alle, die solchen vollkommenen Gehorsam nicht haben, und verdammet sie zu ewiger Strafe. Unsere kindischen Gedanken vom Gesetz sind eine große Verhinderung, dass wir diese hohe Weisheit viel zu gering achten. Wenn du dieses Wort hörest: göttliche Gesetze, so denke an Gott selbst, der hat sich in diesen Worten der Zehn Gebote abgemalet und uns gelehret, wie er ist, dass er nicht ein ungewisses, wandelbares Ding sei, sondern er sei so, dass er in Ewigkeit weise, gut, wahrhaftig, gerecht, keusch, wohltätig sei und Unterschied halte zwischen diesen Tugenden und den Untugenden, die dagegen streiten, und sei ein ernster Richter und Strafer aller Untugenden, und sollen unsere Herzen erschrecken, dass wir fühlen, dass wir dieser göttlichen Weisheit und Gerechtigkeit widerwärtig sind, wie auch dieses Verständnis ein wenig anfanget, wenn das Gewissen mit ernstlichem Schrecken überfallen wird. Dieweil nun dieses ewige Gesetz die göttliche Weisheit selbst ist und der göttlichen Gerechtigkeit Urteil, und ist erstmals in der Schöpfung in uns gebildet und hernach für und für in der 14
Deutsche Loci von 1555, Text leicht modernisiert: CR 22, 202. Seither erschien die kritische Ausgabe: Philipp MELANCHTHON, Heubtartikel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner Loci Theologici, nach dem Autograph und dem Originaldruck von 1553 hrsg. v: Ralf JENETT und Johannes SCHILLING (2002).
13. Gesetz und Evangelium
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wahrhaftigen Kirche Gottes von Adams Zeiten durch das göttliche Wort erkläret und oft wiederholt, so ist klar zu verstehen, dass dieses Gesetz alle vernünftige Kreatur bindet zu allen Zeiten. Also kannst du verstehen, dass dieses Gesetz vom Urteil Gottes nicht erstmals gekommen ist mit Mose und ist nicht mit dem Judentum weggefallen, sondern es ist und bleibet allezeit und zeiget uns an, wie Gott ist, und dass er will, dass wir ihm gleichförmig sein sollen und wissen, dass er über die Sünde zürnet, und ist die Stimme des Gesetzes das Urteil und Feuer, damit er dein Herz grausamlich erschreckt und tötet, wie St. Paulus [Röm. 7, 7–13] spricht: Durchs Gesetze ist Erkenntnis der Sünde, item: Das Gesetze bringt Zorn, Schrecken und Tod, wie wir hernach weiter berichten wollen“15. Ich habe diese längere Passage aus den deutschen Loci von 1555 wörtlich zitiert, um einen Eindruck von Melanchthons Sprache zu vermitteln und zu zeigen, dass für ihn das Strafamt des Gesetzes, das zur Buße führt, nicht weniger als bei Luther im Zentrum seines theologischen Nachdenkens über das Gesetz steht. Es gibt aber noch zwei andere Funktionen des Gesetzes, denen wir uns jetzt zuwenden wollen. Die erste wird usus civilis oder paedagogicus oder politicus genannt16. Die Kenntnis des göttlichen Gesetzes ist als Naturgesetz allen Menschen verblieben, aber sie ist fragmentarisch und getrübt, und die Befolgung des Gesetzes ist durch die Sünde behindert. Trotzdem bildet es die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens der im Grunde bösen Menschheit. Dies ist die erste der drei Funktionen des einen Gesetzes, der usus politicus. Hier ist der systematische Ort der philosophischen Ethik, die damit deutlich vom Evangelium unterschieden ist und keinerlei Heilsbedeutung hat. Deshalb konnte sie von Melanchthon im Rahmen seines Lehrauftrags in Anlehnung an Aristoteles mit Luthers uneingeschränkter Zustimmung breit entfaltet werden17. Zu Beginn seiner Lehrbücher der Ethik18 schärft er immer den Unterschied von Gesetz und Evangelium ein. Beispielsweise die »Philosophiae moralis epitome« von 1546 beginnt mit einer Definition der Ethik: „Sie ist die Kenntnis der Vorschriften über alle ehrbaren Handlungen, von denen die Vernunft erkennt, dass sie dem Wesen des Menschen entsprechen und für den bürgerlichen Lebensvollzug nötig sind, wobei die Quellen dieser Vorschriften methodisch und durch Ableitungen gewonnen werden, soweit dies möglich ist.“ Dies ist die philosophische Definition. Doch Melanchthon ergänzt sie durch folgende, 15
CR 22, 202 f. CR 21, 716 f. 17 Heinz SCHEIBLE, Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform (1996): oben Nr. 7, bes. S. 147–151. 18 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon: TRE 22 (1992), 387.39–45. 16
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13. Gesetz und Evangelium
die er für die beste hält: „Die Moralphilosophie ist jener Teil des göttlichen Gesetzes, der Richtlinien für die äußeren Handlungen gibt.“ Philosophia moralis est pars illa legis divinae, quae de externis actionibus praecipit. Unmittelbar danach folgt die Darlegung des Unterschieds zwischen Philosophie und Evangelium: „Vor allem ist es nötig, am Anfang die verschiedenen Lehrweisen zu unterscheiden, nämlich Evangelium, Gesetz Gottes und Philosophie. Denn die Vermengung dieser Gattungen hat fürchterliche Irrtümer zur Folge. Umgekehrt erhellt ihr Vergleich das Verständnis dieser Gattungen, und das wahre Lob der Philosophie tritt bei diesem Vergleich zu Tage. Das höchste Lob der Moralphilosophie ist nämlich zu wissen, dass sie wirklich ein Teil des göttlichen Gesetzes ist. ... Aber auch dies ist sorgfältig zu bedenken, dass das Evangelium eine völlig andere Lehrweise ist als die Philosophie. Denn das Hauptthema des Evangeliums ist die Verheißung, durch die Gott um Christi willen uns die freie Vergebung der Sünden verspricht, die Versöhnung und die Gabe des heiligen Geistes und das ewige Leben. Und diese Verheißung ist von Gott offenbart, sie ist der Vernunft nicht zugänglich. ... Denn die Vernunft erkennt ohne das Wort Gottes nicht, dass uns Gott die Sünden vergibt. ... Dies ist völlig außerhalb des Horizontes der Vernunft und der Philosophie fremd. Weiter: Das Gesetz Gottes ist die Lehre, die uns vorschreibt, wie wir sein sollten, und welche Werke gegenüber Gott und den Menschen zu erbringen sind. Sie ist eine Lehre, die vollkommenen Gehorsam gegenüber Gott verlangt. Sie ist keine Verheißung, die uns die Vergebung der Sünden verspricht und dass wir Gott gefallen, da wir doch dem Gesetz nicht Genüge tun. Wer also den Unterschied von Gesetz und Evangelium kennt, kann leicht ermessen, welchem die Philosophie näher steht: sie ist eine völlig andere Lehrweise als das Evangelium. Die Philosophie lehrt nichts von der Vergebung der Sünden und zeigt nicht, wie Gott die Unwürdigen annimmt. Im übrigen ist die Philosophie ein Teil des göttlichen Gesetzes. Sie ist nämlich das Naturgesetz, das von klugen Menschen erkannt und methodisch erläutert wird. Es ist also unbestreitbar, dass das Naturgesetz wirklich das Gesetz Gottes ist, sofern es diejenigen Tugenden betrifft, die die Vernunft erkennt. Denn das göttliche Gesetz ist dem Geist der Menschen innewohnend, aber in der Schwachheit unserer Natur verdunkelt, so dass jene Vorschriften nicht hinreichend erkannt werden können, die uns den Willen Gottes zeigen und den vollkommenen Gehorsam des Herzens verlangen. Es bleibt aber ein Urteil über die anständigen äußeren Handlungen, und dies haben wir seit unserer Geburt. Es ist das Naturgesetz und ein Teil des göttlichen Gesetzes“19. Als Gesetz wird auch die von Gott durch Mose dem Volk Israel gegebene Rechtsordnung bezeichnet. Sie besteht aus drei Teilen, dem 19
CR 16, 21–23 = MSA 3, 157.2 –158.19.
13. Gesetz und Evangelium
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Sittengesetz, den Zeremonien und den Rechtsvorschriften. Nur der erste Teil ist für alle Menschen verbindlich, wenn auch einige Rechtsvorschriften, insbesondere das Eherecht betreffend, allgemeine Gültigkeit haben20. Die menschlichen Gesetze der Staaten müssen dem Naturrecht konform sein. Dann verdienen sie Gehorsam, der mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden kann und muss. Es genügt aber die äußerliche Befolgung, damit ihr Zweck, das Zusammenleben zu ermöglichen, erreicht wird21. Das Gesetz Gottes hingegen verlangt innere Zustimmung und vollkommenen Gehorsam. Dies kann kein Mensch leisten. Das Gesetz scheidet demnach als Heilsweg aus22. Allerdings bringt Melanchthon die bürgerliche Funktion, den usus politicus, insofern in Verbindung zum Evangelium, als durch das Lernen des Evangeliums, sozusagen durch staatlichen Religionsunterricht, eine gewisse Bereitschaft für das Wirken des Heiligen Geistes entstehen kann23. Der Hauptzweck des göttlichen Gesetzes ist aber für Melanchthon nicht anders als für Luther, die Sünde zu entlarven, die Menschen anzuklagen und zu verurteilen24. An dieser Stelle sind in Melanchthons System Gesetz und Evangelium verbunden. Dass die richtende Funktion des Gesetzes (später usus theologicus oder elenchticus genannt) voll zum Tragen kommt, ist ein Werk des Heiligen Geistes, das durch die Predigt des Evangeliums geschieht25. Mit dem Aussendungsbefehl Luk. 24, 47: „dass gepredigt wird in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden“, definiert Melanchthon die Evangeliumspredigt als Predigt von Buße und Vergebung der Sünden26. Die wahre, heilsame Buße mit Vertrauen in die Vergebung der Sünden ist also kein Werk des Gesetzes, sondern des Evangeliums27, wiederum eine klare Unterscheidung dieser beiden Handlungsweisen Gottes am Menschen. In den deutschen Loci erklärt Melanchthon dies folgendermaßen: „Das Wort Evangelium bedeutet fröhliche Botschaft. Gott will durch dieses liebliche Wort von der Gnadenpredigt deutlich machen, dass diese Predigt von Christus vom Gesetz zu unterscheiden sei. Denn das Gesetz verkündigt uns den großen ernsten Zorn wider unsere Sünde und sagt 20
CR 21, 687 f. CR 16, 421–425 (Politik). 22 CR 21, 686 f. 23 CR 21, 717 (Quarta caussa). 24 CR 21, 717–719. 25 CR 21, 885. 26 TRE 22 (1992), 392.3–9. 27 Zur Kritik der Zeitgenossen vgl. TRE 13, 87.3–16. Kritisch urteilt auch Albrecht PETERS, Rechtfertigung: Handbuch Systematischer Theologie 12 (1984), 74 f. 21
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13. Gesetz und Evangelium
nichts von Vergebung der Sünden aus Gnade ohne unsere Verdienste. ... Das Evangelium predigt vom Sohn Gottes, von Vergebung der Sünden, Gnade, Gerechtigkeit, Heiligem Geist und ewiger Seligkeit, die wir von diesem Mittler, Gottes Sohn Jesus Christus, ohne unser Verdienst durch den Glauben gewisslich empfangen. ... Damit aber die Gnade erkannt werde, sollen wir zuvor auch unser großes Elend wissen und erkennen, dass Gott wahrhaftiglich und ernstlich über uns zürnet. Darum hat der Herr Christus selbst befohlen, Buße und Vergebung der Sünden in seinem Namen zu predigen [Lk 24, 47], das ist Reue und Bekehrung von den Sünden und Vergebung der Sünden. Item er spricht [Joh. 16,8 f]: Der Heilige Geist wird die Welt strafen von wegen der Sünden, dass sie nicht an mich glauben. Und durch die Predigt des Evangeliums ist Gott kräftig, wirkt Schrecken und Trost“28. Die Definition des Evangeliums lautet demnach: „Evangelium ist die göttliche Predigt, darin allen Menschen, nachdem sie die Predigt von Gottes Zorn wider die Sünde gehört haben und wahrhaftiglich erschrecken vor Gottes Zorn, diese allergnädigste Verheißung vorgetragen wird, dass ihnen Gott gewisslich um des Herrn Christi willen gnädiglich ohne ihre Verdienste geben wolle Vergebung der Sünden und Zurechnung der Gerechtigkeit, und dass der Sohn Gottes in den Gläubigen Trost und Leben wirkt und gebe ihnen den Heiligen Geist und Erbschaft des ewigen Lebens, welche Verheißung durch Glauben soll empfangen werden“29. Die Rechtfertigung, die Rettung des Sünders durch Gottes Vergebung, ist völlig unabhängig von jeglicher Beschaffenheit oder gar Leistung des Menschen. Sie ist ein Richterspruch Gottes. Das ist die sogenannte forensische Rechtfertigungslehre. Nur durch sie sah Melanchthon die Heilsgewissheit gewährleistet. Die sittliche Erneuerung muss aber als notwendige Konsequenz sofort (simul) beginnen30. Hier ist nun wieder das Gesetz gefragt. Es leitet den Gerechtfertigten an, in neuer Weise Gottes Willen gehorsam zu sein. Dies ist die dritte Funktion des Gesetzes, der tertius usus legis31. Damit mag eine vertiefte Erkenntnis und eine weiter gehende Erfüllung des Willens Gottes verbunden sein, aber dies ist nicht das Entscheidende, wie ja auch der Gerechtfertigte wieder sündigen kann und wird, was ihn erneut in die Buße führt. Der tertius usus legis ist keine höhere Moral für Christen. Es gibt keine besondere christliche Ethik, keine 28
CR 22, 305 f (gestrafft und modernisiert). CR 22, 306 (leicht modernisiert). 30 TRE 22, 391.26–39. 31 CR 21, 719; 22, 255. 283. Luther, der terminologisch den tertius usus legis nicht lehrt, ist in der Sache auch hier mit Melanchthon völlig einig, wie die Beschreibung von Bernhard LOHSE zeigt, der allerdings die sachliche Übereinstimmung bestreitet: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang (1995), 293 f. 29
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doppelte Moral für Christen und Nichtchristen, sondern den einen ewigen Willen Gottes, der unterschiedlich erkannt und befolgt wird. (Dies entspricht auch dem exegetischen Befund der neutestamentlichen Paränese, die sich aus vor- und außerchristlicher Ethik speist.) Dank dieser klaren Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die gleichwohl funktional aufeinander bezogen bleiben, sind die bürgerlichen Gesetze, ist die politische Ordnung vom Evangelium nicht in Frage gestellt, geschweige aufgehoben. Man kann mit dem Evangelium nicht die Welt regieren32. Dafür hat der Schöpfer das Gesetz gegeben. Dabei ist vorausgesetzt, dass die staatlichen Ordnungen, die politischen Gesetze, dem Naturrecht und damit dem göttlichen Gesetz nicht zuwider sind. Für einen autonomen Volksnomos ist in der Theologie Melanchthons wie Luthers kein Platz. Wenn die staatlichen Gesetze dem göttlichen Gesetz zuwider sind, gilt Apg. 5, 29: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Das lutherische Widerstandsrecht geht in bestimmten Extremfällen bis zum Präventivkrieg33.
*** Damit stellt sich die Frage nach der aktuellen Brauchbarkeit dieser Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Sie ist ja immer noch durch den Kampf belastet, den Karl Barth gegen deutsche Theologen geführt hat, die sich irrtümlich für Lutheraner hielten34. Hierbei wurde gegen ein depraviertes Gesetzesverständnis Christus als das eine Gotteswort ins Feld geführt. In einer Situation der Verfolgung mag dies die angemessene Art der Selbstdarstellung und auch Selbstbehauptung sein, und sie bringt die Mitte und das Proprium der christlichen Botschaft, eben das Evangelium, zur Geltung. Dennoch scheint mir diese Art von Theologie der Gefahr der Einseitigkeit und Missverständlichkeit ausgesetzt zu sein. Die mit dem Antinomismus aller Zeiten verbundene Gefahr, das Evangelium zum neuen, besseren Gesetz zu machen, lässt sich vielleicht vermeiden. Aber die Gefahr der Isolierung, der Unmöglichkeit des Gesprächs mit Nichtchristen, scheint mir unausweichlich, wenn man immer von Christus und einer spezifisch christlichen Ethik her argumentiert, auch wenn es nicht um Ewigkeitswerte, um Fragen des persönlichen Heils geht, sondern um den politischen Alltag. Wir leben hierzulande in einer Gesellschaft, die zwar weitgehend unchristlich ist, aber die Kirchen in Ruhe lässt, ihnen 32
CR 16, 417–421 (Politik). Ebenso Luther (wie Anm. 39). SCHEIBLE, Widerstandsrecht (wie Anm. 9), 6. 34 PETERS (wie Anm. 3), 105–112, 166–168 - Joachim MEHLHAUSEN, Nationalsozialismus und Kirchen: TRE 24 (1994), 43–78, bes. 48.9–23, 53.6–20 , 56.12–45 . 33
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sogar mehr Einfluss einräumt, als ihnen angesichts ihrer aktiven Mitglieder zukommen würde. Andererseits werden die Menschenrechte, die weltweit grundsätzlich anerkannt sind, allenthalben mit Füßen getreten. Es geht m. E. gegenwärtig nicht so sehr um das ewige Heil des Sünders, nach dem er allzuoft gar nicht fragt, sondern um mehr Gerechtigkeit und Menschenwürde auf dieser Welt. Die erreicht man nicht mit dem Evangelium, so eindrucksvoll eine Befreiungstheologie sein kann. Wer meint, mit der Bergpredigt die Welt regieren zu können, nimmt die Bergpredigt nicht ernst. Wer mit der Nachfolge Jesu wirklich ernst macht, gelangt nicht auf den Kanzlerstuhl, sondern endet am Kreuz. Ich habe Hochachtung vor Menschen, die Jesus nachfolgen wollen, im Mönchtum, in der Diakonie, im Alltag. Ich verkenne auch nicht, dass sie Zeichen setzen und damit da und dort etwas bewirkt haben, was geschichtsmächtig geworden ist. Aber eine breite und dauerhafte Verbesserung der Gerechtigkeit erreicht man nicht durch das Evangelium, sondern durch das Gesetz in seinem usus politicus. Auch dieses ist eine Gabe Gottes an die Menschen, und zwar an alle. Denn wenn wir die Welt verbessern wollen – ein mühsames und langwieriges Geschäft –, dann brauchen wir die Mitwirkung aller Gutwilligen aus allen Kulturen und Religionen. Wenn man in diesem weltweiten Diskurs spezifisch christliche Denkmodelle verbindlich machen will, wird eine Verständigung unmöglich. Man muss dort ansetzen, wo alle zustimmen können. Dies sind die Menschenrechte. Sie sind ein Teil des ewigen Willens Gottes, der lex divina, wie dies Melanchthon (und nicht nur er) nannte. Sie finden weltweit wenigstens grundsätzliche Zustimmung und sind kodifiziert35. Sie allgemein durchzusetzen, wäre ein großer Erfolg. Ich setze mich auch für eine unverkrampfte Verwendung des Terminus Naturrecht ein. Er ist bei Theologen nicht beliebt, und manche Juristen bestreiten, dass es so etwas gibt36. Ich meine schon, dass es allgemeine Normen gibt, die allen Menschen einleuchten. Sie im einzelnen zu definieren und zu kodifizieren, ist zwar schwierig, aber dringend geboten. Die Menschenrechte sind jedenfalls ein Teil des Naturrechts. Die evangelischen Theologen haben sich darum viel zu wenig gekümmert, weil sie zumeist den Terminus ,Gesetz‘ spontan und undefiniert auf den usus theologicus bezogen oder auch auf das Gesetz, das nach Paulus durch Christus sein Ende fand. Wenn man aber mit Paul Althaus für die ewig gültigen Normen ein neues Wort, nämlich Gebot, einführt37, dann geht verloren, dass es sich immer um den Willen des einen Gottes handelt.
35
Internationale Dokumente zum Menschenrechtsschutz, hrsg. von Felix Ermacora ( 1982). 36 Falk W AGNER, Naturrecht II: TRE 24 (1994), 153–185, bes. 171 ff. 37 PETERS (wie Anm. 3), 188–202. 3
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Melanchthon hat mit großer systematischer Kraft das eine Gesetz Gottes in seinen unterschiedlichen Konkretionen und Funktionen beschrieben, es klar vom Evangelium abgehoben und doch beide als Teile des Heilshandelns Gottes verknüpft, nämlich in der Buße, die sich am usus elenchticus des Gesetzes orientiert, aber durch die geistesmächtige Predigt des Evangeliums ermöglicht und ausgelöst wird. Melanchthons theologisches System ist ausgewogen trinitarisch. Er redet kraftvoll vom Heilswerk Christi, vom Evangelium, aber er vermeidet die heutzutage weit verbreitete Christozentrik, die dann verheerend wird, wenn sie vergisst, dass der Gekreuzigte und Auferstandene die zweite Person der Trinität ist, und in einen Jesuanismus abgleitet, ohne zu merken, dass man auf unser Wissen vom historischen Jesus keinen Glauben gründen kann. Das unbeliebte und missverstandene Wort ,Naturrecht‘ gehört in eine wohldurchdachte Schöpfungstheologie, die heute dank der erwachten Verantwortung für die Umwelt wieder Beachtung findet. Der angebliche Spiritualismus Melanchthons ist nichts anderes als die Rede davon, dass Reue, Glauben und neues Leben von Gott dem Heiligen Geist gewirkt sind, wo und wann er will. Die Kirche sieht er nüchtern als das, was sie ist: keine Versammlung von Heiligen, sondern überwiegend von Sündern, die in der rechten Lehre übereinstimmen38. Das Zentrum der rechten Lehre ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Die Regeln des Zusammenlebens in der Kirche sind im usus politicus des Gesetzes zu finden. Mancher junge Theologe müsste sich weniger über seine Kirchenleitung ärgern, wenn er mehr Melanchthon gelesen hätte. Auch Luther, der in seiner sogenannten Zweireichelehre schöne Worte über die wahren Christen findet, weiß, wie wenige es davon gibt39. Wer meint, dass diese wahren Christen keine Hinweise des Gesetzes in seinem tertius usus brauchen, und dafür vom usus practicus evangelii spricht (Joest)40, missachtet die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und macht das Evangelium zum Gesetz, die alte Gefahr der Scholastik und des Mönchtums. Angemessener spricht hier die Konkordienformel von Früchten des Geistes41. Wer aber glaubt, die wahren Christen würden von sich aus das Gute tun, braucht dafür sehr viel Begeisterung, Enthusiasmus. Im Lutherdeutsch heißt das Schwärmertum. Melanchthon ist da viel nüchterner, realistischer, ausgewogen und immer auf das Evangelium bezogen. Ein solches System verdient es, mehr Beachtung als bisher zu finden. Ich bin noch die Antwort auf die Frage schuldig, ob man vom Gesetz ohne das Evangelium sprechen kann. Melanchthon tut es nicht. Seine 38
CR 21, 825–847. WA 6, 251 f (Von weltlicher Oberkeit). 40 PETERS (wie Anm. 3), 51 u. ö. 41 Zuletzt in: EvBek 230–232. 39
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philosophische Ethik beginnt immer mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Dies ist eine Abgrenzung gegen den Missbrauch des Evangeliums als Gesetz und des Gesetzes als Heilsweg. Doch grundsätzlich kann vom Gesetz als usus politicus auch im Rahmen einer Schöpfungstheologie oder philosophischen Ethik geredet werden, ohne das Evangelium zur Sprache zu bringen. Dies ist m. E. für die Religionspädagogik bedenkenswert. Ich habe nie verstanden, warum die Kirchen in der Mark Brandenburg die Chance, in einem allgemeinen Unterrichtsfach Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde (LER) mitzuwirken, nicht wahrgenommen haben, sondern auf einem konfessionellen Religionsunterricht bestehen42. Luther erlebte die Botschaft des Evangeliums deshalb als Befreiung, weil er das Gesetz als Irrweg zum Heil bis in die letzten Konsequenzen durchexerziert hatte. Heute sind wir davon himmelweit entfernt. Ein Kerygma ohne aufgeschlossenen Empfänger kann allergisch wirken. Mich erinnert das an eine besorgte Mutter, die ihrem Kind Penicillin gibt, wo ein kalter Wadenwickel genügen würde und unschädlicher wäre.
42
Wolfgang HUBER, „Frömmigkeit und Bildung“. Melanchthon und das Schulfach Religion. In: Melanchthon neu entdeckt, hrsg. von Stefan Rhein und Johannes Weiß (1997), 105–128.
Melanchthon rettet die Universität Wittenberg Die Universität Wittenberg1 verdankt ihre Gründung einer territorialen Veränderung2, der Wettinischen Teilung von 1485. Weil die Stadt Leipzig und mit ihr die Landesuniversität an die herzogliche Linie der Albertiner fiel, verfügte das Kurfürstentum Sachsen von da an über keine Universität mehr. Von den sieben Kurfürsten war nur der Brandenburger mit demselben Makel behaftet, den er im Jahre 1506 durch die Gründung der Universität Frankfurt an der Oder zu beheben vermochte3. Der Wettiner Friedrich der Weise4 war ihm um vier Jahre zuvorgekommen. Nun befand sich in jedem Kurfürstentum eine privilegierte öffentliche Hochschule mit Promotionsrecht. Die Aufhebung der Universität Wittenberg im Jahre 1817 ist ebenfalls die Folge einer territorialen Verschiebung. 1815 wurde Preußen durch den Wiener Kongress zum neuen Landesherrn gemacht, nicht nur von Gebieten um Wittenberg und Torgau, sondern auch in Thüringen, die das wiedergewonnene Hochstift Magdeburg abrundeten und mit der ebenfalls wieder angefallenen Altmark westlich der Elbe zur Provinz Sachsen zusammengefasst wurden5. Diese Provinz konnte seit 1694 in Halle eine Universität aufweisen6, die im Gegensatz zu Wittenberg auf der Höhe der Zeit und deshalb bestens frequentiert war. Sie übernahm die Tradition und das 1
Heiner LÜCK, Wittenberg, Universität: TRE 36 (2004), 232–243. - Udo STRÄTER, Wittenberg, Universität: RGG4 8 (2005), 1665–1667. 2 Karlheinz B LASCHKE, Sachsen im Zeitalter der Reformation (1970). - DERS., Geschichte Sachsens im Mittelalter (1990), bes. 294–298. - Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, hrsg. v. Helmar Junghans (1989). 3 Gerd HEINRICH, Frankfurt und Wittenberg. Zwei Universitätsgründungen im Vorfeld der Reformation. In: Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, hrsg. v. Peter Baumgart und Notker Hammerstein (1978), 111–129. - Heinz SCHEIBLE, Gründung und Ausbau der Universität Wittenberg (1978): Forschungsbeiträge (1996), 353–369. - Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, hrsg. v. Notker Hammerstein (1996), 198. 4 Ingetraut LUDOLPHY, Friedrich der Weise (1463-1525): TRE 11 (1983), 666–669. D IES.: Friedrich der Weise (1984). - Ernst Walter ZEEDEN, Friedrich III. der Weise, Kf. von Sachsen: LThK3 4 (1995), 154 f. - DBE 3 (1996), 472. 5 Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 11: Provinz Sachsen Anhalt, hrsg. v. Berent Schwineköper (1975). 6 Ernst KÄHLER, Halle, Universität: TRE 14 (1985), 388–392.
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Archiv7 von Wittenberg. Dort wurde in dem unter Kurfürst August gebauten und nach ihm benannten Collegium ein Predigerseminar errichtet8. Die beiden aus der Gründungszeit stammenden Collegiengebäude der philosophischen Fakultät, collegium Fridericianum vetus und novum genannt, wurden zu Kasernen umgebaut, denn Festung blieb die Stadt bis 1873, Garnison bis 19199. Danach dienten sie als Wohnungen. Erst die Stiftung Leucorea des Bundeslandes Sachsen-Anhalt hat diese Collegien saniert und ab 1995 wieder der Wissenschaft zugeführt10. Die Universität Wittenberg bestand als Institution demnach 315 Jahre (faktisch etwas weniger). Beinahe hätte sie es nur auf 45 Jahre gebracht, denn im Jahre 1547 gab es eine ähnliche Situation wie 1815. Auch damals wurden nach einem Krieg die Grenzen verändert. Wittenberg samt der damit verbundenen Kurwürde fiel an den mit dem Kaiser siegreichen Albertiner Moritz von Sachsen11, der schon die Universität Leipzig12 besaß. Wittenberg war Festung. Die Studenten und fast alle Professoren waren vor den heranrückenden Feinden geflohen. Seit Monaten gab es keine Vorlesungen mehr. Durch die territoriale Veränderung lagen wichtige Finanzierungsquellen im Ausland. Es waren Kirchengüter bei Allstedt13, die im Rahmen der Reformation der Universität zugewiesen worden waren, sowie Einkünfte aus dem Mansfeldischen14. Das einfachste wäre gewesen, Wittenberg geschlossen zu lassen und mit allen Resourcen Leipzig zu fördern. Dass dies nicht geschah, ist letztendlich darauf zurückzuführen, dass Melanchthon das Angebot seiner früheren Dienstherren, in Jena eine Hochschule aufzubauen, ausschlug und statt dessen nach Wittenberg zurückkehrte. Dies wollen wir jetzt im Einzelnen betrachten.
7
Friedrich ISRAEL, Das Wittenberger Universitätsarchiv, seine Geschichte und seine Bestände (1913). 8 Martin TREU, Die Entwicklung Wittenbergs zur Lutherstadt. Das preußische Jahrhundert 1817-1917. In: 700 Jahre Wittenberg, hrsg. von Stefan Oehmig (1995), 53–65. Martin HEIN, Predigerseminar: TRE 27 (1997), 221–225. 9 Fritz B ELLMANN U. A., Die Denkmale der Lutherstadt Wittenberg (1979), 54 f, 59– 61, 223–225. - Heinz KATHE, Festung oder Universität. Die Standortdiskussion der Wittenberger Professoren im Jahre 1813. In: 700 Jahre Wittenberg (wie Anm. 8), 249– 254. 10 Gunnar BERG, Grußwort. In: Kolloquium Melanchthon, hrsg. vom Deutschen Philologenverband (1997), 6–8. 11 Günther W ARTENBERG, Moritz von Sachsen (1521–1553): TRE 23 (1994), 302– 311. 12 DERS., Leipzig, Universität: TRE 20 (1990), 721–729. 13 Siehe unten Anm. 162 f. 14 Siehe unten Anm. 141.
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1 Kaiser Karl V. hatte schon 1521 in Worms bei seiner einzigen Begegnung mit Luther erkannt, dass durch dessen Auftreten das Wesen der römischkatholischen Kirche in Frage gestellt war, und sich ohne Zögern gegen den Ketzer aus Wittenberg entschieden15. Das daraufhin vom Wormser Reichstag verabschiedete Edikt, das über Luther und alle seine Anhänger die Reichsacht verhängte, konnte aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht durchgesetzt werden. Vielmehr musste der Kaiser immer wieder durch Reichstage und Religionsgespräche eine Verständigung mit den deutschen Protestanten suchen und sogar vertraglich festschreiben. Dies änderte sich, als er 1544 mit dem Frieden von Crépy endlich den Kampf gegen seinen Schwager und Hauptrivalen Franz von Frankreich beenden konnte. Von nun an verhandelte er mit den deutschen Protestanten nur noch zum Schein16. Im Juni 1546, Luther war seit wenigen Monaten tot, ließ er seine Truppen in Deutschland einmarschieren. Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen17 zog mit seinem Heer zwar in die Gegend von Regensburg, wo sich der Kaiser mit geringem Schutz noch aufhielt, aber er scheute den Kampf und zog in Richtung Ingolstadt und Donauwörth. Auch dem Landgrafen Philipp von Hessen gelang es nicht, den Anmarsch der kaiserlichen Truppen aus den Niederlanden zu verhindern18. Melanchthon (und nicht nur er) war über die Lahmheit dieser Kriegführung enttäuscht19. Die Wittenberger Theologen richteten am 24. August an ihren Landesherrn ein seelsorgerliches Schreiben20, wodurch sie ihm für sein kriegerisches Tun ein gutes Gewissen vermitteln wollten. In Wittenberg herrsche Friede, und man bete für den Kurfürsten und sein Heer. Es handle sich um einen einzigartigen Krieg, bei dem es um das Christentum überhaupt gehe. Da die Feinde die rechte Lehre vernichten wollen und den Krieg begonnen 15
Hans W OLTER, Das Bekenntnis des Kaisers. In: Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, hrsg. v. Fritz Reuter (1971, 21981), 222–236. 16 Horst RABE, Karl V., Kaiser (1500–1558): TRE 17 (1988), 635–644, bes. 640. Armin KOHNLE und Eike W OLGAST, Reichstage der Reformationszeit: TRE 28 (1997), 457–470, bes. 465. - Irene DINGEL, Religionsgespräche IV: TRE 28 (1997), 654–681, bes. 660 f. 17 Günther W ARTENBERG, Johann Friedrich von Sachsen (1503–1554): TRE 17 (1988), 97–103. - DBE 5 (1997), 345. 18 Gerhard MÜLLER, Philipp von Hessen, Landgraf (1504–1567): TRE 26 (1996), 492–497. - Walter HEINEMEYER, Philipp der Großmütige und die Reformation in Hessen (1997). - Karl BRANDI, Kaiser Karl V. (61961), 455–478; Bd. 2: Quellen und Erörterungen (1941), 370–383. 19 MBW 4395. 20 MBW 4365.
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haben, kämpfe der Kurfürst als Verteidiger für eine gute Sache. Gott sei mit einem solchen Heer, es sei ein Krieg Gottes, und die Kriegsleute dürfen sich mit gutem Gewissen Gott befehlen. Gegenüber guten Freunden sagte Melanchthon, er sei zwar nicht mit allem einverstanden, was bei den Protestanten in den letzten zwanzig Jahren geschehen war, halte aber dennoch die Ziele der evangelischen Fürsten, und was sie erreicht haben, überwiegend für gottgefällig. Er konnte jedem Ausgang des Krieges gelassen entgegensehen, denn er glaubte, dass Gott seine Lehre erhalten und Kaiser Karl seine Kriegsziele nicht erreichen, sondern nur noch größere Verwirrung anrichten werde21. Melanchthons Einschätzung sollte sich als zutreffend erweisen. Publizistisch stärkte er gemeinsam mit anderen die Verteidigungsbereitschaft des Schmalkaldischen Bundes. Er verfasste die Flugschrift »Von der itzigen Kriegsrüstung«, die im Juli 1546 unter Bugenhagens Namen in Wittenberg gedruckt wurde22, desgleichen eine Vorrede zu Luthers »Warnung an seine lieben Deutschen«, „vor etlichen Jahren geschrieben auf diesen Fall, so die Feinde christlicher Wahrheit diese Kirchen und Land, darinne reine Lehr des Evangelii geprediget wird, mit Krieg überziehen und zerstören wollten“23. Als der Krieg mitten im Gange war, vollendete er die umfangreiche Monographie des Justus Menius »Von der Notwehr« und brachte sie mit einer Vorrede zum Druck24. Der Zweck dieses Buches sei es, führt Melanchthon aus, den Vorwurf, man hätte sich gegen den Kaiser nicht verteidigen dürfen, zu entkräften. Auch die Gegner würden ihre Frauen gegen Grausamkeiten schützen. Notwehr müsse also das Gewissen nicht belasten. Dies zu sagen, war nicht überflüssig. Die früheren Voten der Wittenberger waren ja nicht vergessen und wurden ihnen vorgehalten, insbesondere das Gutachten vom 6. März 1530, worin Luther im Namen aller Wittenberger Theologen jeden aktiven Widerstand gegen den Kaiser entschieden abgelehnt hatte25. Melanchthon und Bugenhagen publizierten es im Januar 1547 zusammen mit Äußerungen Luthers aus der Zeit nach der Torgauer Wende vom Oktober 153026. Damals waren die Wittenberger Theologen von den Juristen überzeugt worden, dass nach positivem Recht Widerstand erlaubt sei, wenn der Kaiser in Glaubensfragen mit Gewalt vorgehe. Luther selbst schrieb eine gemeinsame Erklärung, worin es heißt: „... (da) wir allezeit 21
MBW 4296, 4318. MBW 4311.2. - Über Bugenhagen: MBW 11 (2003), 234 f. 23 MBW 4319. 24 MBW 4510. - Martin HEIN, Menius, Justus (1499–1558): TRE 22 (1992), 439–442. - DBE 7 (1998), 63. 25 WAB 5, 249–262 Nr. 1536. - Heinz SCHEIBLE, Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546 (1969, 21982), 60–63 Nr. 14. 26 MBW 4554. 22
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gelehrt haben, dass man weltliche Recht solle lassen gehen, gelten und halten, was sie vermögen, weil das Evangelion nicht wider die weltliche Recht lehret, so können wirs mit der Schrift nicht anfechten, wo man sich des Falls wehren müsste. ... Denn dass wir bisher gelehret, stracks nicht widerzustehen der Oberkeit, haben wir nicht gewusst, dass solchs der Oberkeit Rechte selbs geben, welchen wir doch allenthalben zu gehorchen fleißig gelehrt haben“27. In seiner Vorrede28 zum Nachdruck des anderslautenden Gutachtens machte Melanchthon wiederum deutlich, dass nach natürlichem Recht, das vom Evangelium nicht aufgehoben werde, Notwehr erlaubt sei. Eine Verharmlosung oder gar Verherrlichung des Krieges lag ihm dennoch völlig fern. Er schrieb in dieser Vorrede: „Ich weiß wohl, dass große jämmerliche Klag ist über den Krieg, und ist wahr, es ist leider ein sehr groß Elend. Es gehet aber hie wie in allen Krankheiten: von den Schmerzen klagt man sehr, und wenige meiden die Ursachen der Krankheiten“29. Wittenberg war in den vergangenen Jahren zu einer uneinnehmbaren Festung ausgebaut worden30. Damit sie ihre militärische Aufgabe erfüllen konnte, mussten die Studenten die Stadt verlassen. Der Kurfürst wünschte dies gleich nach Ausbruch des Krieges. Doch Melanchthon suchte ihn in Torgau auf und konnte die Verlegung der Universität zunächst abwenden31. Noch herrschte in Sachsen ja tiefster Friede. Bis Mitte Oktober war ein ordentlicher Lehrbetrieb möglich. Die entscheidende Wende in diesem Krieg brachte der Einfall des Herzogs Moritz von Sachsen in das ungeschützte Land seines Verwandten Johann Friedrich von der ernestinischen Linie32. Moritz, Sohn und Nachfolger Heinrichs des Frommen, der im albertinischen Sachsen die Reformation eingeführt hatte, war evangelisch erzogen, war auch Schwiegersohn des Landgrafen Philipp von Hessen, gehörte aber nicht dem Schmalkaldischen Bund an. Er ließ sich vom Kaiser mit der Exekution der Acht über den Kurfürsten betrauen, damit – so ließ er verlautbaren33 – dessen Land dem Hause Wettin erhalten bleibe. Nun empfahl auch Melanchthon seinen Schülern die Heimreise. Als Zwickau belagert wurde, erklärte der Rektor Caspar Cruciger34 am 6. November 1546 im Auftrag des Kurfürsten die Universität Wittenberg für geschlossen. Nachdem Moritz die Stadt Zwickau eingenommen hatte und 27
WAB 5, 662 = MBW 1091.1 = MBW.T 4/2 (2007), 719 f Z. 9–12 und 18–21, Zitat leicht modernisiert. 28 MBW 4554. 29 CR 6, 361 = MBW 4554.5.1. 30 B ELLMANN (wie Anm. 9), 51–55. 31 UUW 1, 289–292 Nr. 282–287 sowie bei MBW 4320 und MBW 4347. 32 PKMS 2, 479 mit den hier nachgewiesenen Quellen sowie MBW 4424, 4435–4437. 33 PKMS 2, 478 f. 34 MBW 11 (2003), 320 f.
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gegen Wittenberg zog, setzte dort eine allgemeine Flucht ein. Melanchthon hatte seinen Famulus Koch35 mit der Enkelin Katharina Sabinus und der Pflegetochter Anna Münsterer nach Zerbst geschickt36, einer großen Residenzstadt im neutralen Fürstentum Anhalt. Am 11. oder 12. November37 fuhr er mit Frau und Tochter Magdalena samt dem nötigsten Hausrat ebenfalls dorthin. Asylangebote erhielt er auch aus den Städten Brandenburg, Braunschweig, Nordhausen und Nürnberg38. Die vom Rektor Cruciger und von Melanchthon betriebene Verlegung der Universität nach Magdeburg wurde vom Rat dieser Stadt nicht genehmigt39. Melanchthon blieb nicht untätig in Zerbst, sondern reiste nach Dessau, Magdeburg, Brandenburg, Wittenberg und Köthen40. Er traf sich mit seinem Freund Camerarius, der als Leipziger Professor Untertan des Aggressors war, und unterstützte die Vermittlungsbemühungen der Fürsten von Anhalt und anderer41. Doch Kurfürst Johann Friedrich entschied sich für eine militärische Lösung42. Er überließ die schwäbischen Bundesgenossen der Übermacht des Kaisers und zog in Eilmärschen nach Thüringen und Sachsen, um sein Land zu befreien. Dies gelang ihm mühelos. Dann marschierte er im Herzogtum ein und belagerte Leipzig. Nun war Camerarius, der im Paulinerkloster unmittelbar an der Stadtmauer wohnte, gezwungen zu fliehen. Wittenberg dagegen war wieder frei zugänglich. Sogar Melanchthons Frau konnte von Zerbst aus ungehindert ein- und ausreisen, um im Haus nach dem Rechten zu sehen43. Paul Eber, der wie auch der Rektor Cruciger und der Pfarrer Bugenhagen nicht geflohen war, nahm seine Lehrtätigkeit wieder auf44. Melanchthon erkannte in dem Vorgehen seines Kurfürsten wieder einmal dessen Unfähigkeit maßzuhalten45. Es war abzusehen, dass der Kaiser eine Niederlage seines Verbündeten nicht zulassen werde. Schon wurden aus Böhmen Hilfstruppen heran geführt, und als Karl die süddeutschen 35
Über ihn und die ganze Familie vgl. Heinz SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie (1997), 257–260. - MBW 12 (2005), 435. 36 MBW 4442. 37 Bei MBW 4447. 38 MBW 4425, 4466, 4468, 4498; 4452, 4453; 4467, 4505; 4463, 4464. 39 UUW 1, 293 f Nr. 292 f sowie bei MBW 4433 und MBW 4450, 4466, 4470–4472, 4474, 4478. 40 MBW 4458–4461, 4466, 4530, 4468, 4469–4483, 4530, 4545–4553, 4576–4583, 4593–4595. 41 MBW 4448, 4451, 4460, 4492, 4495, 4501, 4508, 4534, 4553, 4556, 4574. 42 Georg MENTZ, Johann Friedrich der Grossmütige 1503–1554, Bd. 3 (1908), 52–66. - PKMS 3, 16-19. 43 MBW 4527, 4532, 4534. 44 MBW 4557, 4590, 4593. - Walter T HÜRINGER, Paul Eber (1511–1569). In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 285–321. - MBW 11 (2003), 377 f. 45 MBW 4532, 4879.
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Protestanten unterworfen hatte, zog er mit seinem Heer nach Norden46. Melanchthon versuchte weiterhin, die Friedensbemühungen mehrerer Fürsten zu unterstützen47. Seinem erfolgreichen Dienstherrn schrieb er Anfang Februar 1547, als noch eine gewisse Hoffnung auf Verständigung der Gegner bestand, einen ernsten Mahnbrief: Obwohl sich der Schmalkaldische Bund zu Recht gegen den Kaiser wehrte, habe sich der Krieg wie gewöhnlich als eine Strafe für beide Teile erwiesen. Zwar könne Gott auch jetzt den Sieg verleihen wie einst dem David über Goliath, doch dürfe man ihn nicht versuchen. Auch ein Seefahrer brauche zwar immer Gottvertrauen, solle aber nur bei gutem Wind und nicht mutwillig bei Sturm segeln. Wer trotz einem Friedensangebot diesen aussichtslosen Krieg gegen den Kaiser fortsetze, versuche Gott. Selbst wenn Aussicht auf Erfolg bestünde, so würde das Vaterland zerstört werden. Wenn der Kaiser die Religion unverändert lasse und dem Kurfürsten seinen Rang nicht nehme, dann solle er ihm in weltlichen Dingen gehorsam sein und mit gutem Gewissen Frieden schließen. Gott werde zwar die rechte Lehre erhalten, die Bischöfe vernichten und die Treulosigkeit des Herzogs Moritz bestrafen, aber auf seine Weise und zu seiner Zeit. Auch die eigenen Sünden hätten Gottes Strafe zu erwarten48. Melanchthons Ermahnungen waren vergeblich. Am 24. April 1547 kam es auf der Lochauer Heide unweit der Stadt Mühlberg an der Elbe zur Schlacht49. Johann Friedrich geriet verwundet in Gefangenschaft. Nachts um ein Uhr erreichten die Geschlagenen, darunter die beiden erwachsenen Söhne des Kurfürsten, die Festung Wittenberg, wurden aber aus Vorsicht erst am Morgen eingelassen. Bald danach erschien der Kaiser vor Wittenberg. Nach kurzer Belagerung wurde die Stadt am 23. Mai kampflos übergeben. Johann Friedrich musste auf die Kurwürde und große Teile seines Territoriums zu Gunsten von Moritz verzichten und blieb Gefangener des Kaisers. Die Kurfürstin und ihre Söhne erhielten freien Abzug. Karl V. stand an Luthers Grab. Er schändete es nicht50. Melanchthon empfand die Niederlage seiner Glaubensbrüder als selbstverschuldete Strafe. Sie schmerzte ihn zutiefst51. Für den gefangenen Kurfürsten fand er Worte echten Mitgefühls. Er habe die Kirche und die Gerechtigkeit geliebt52. 46
MENTZ (wie Anm. 42), 97–100. - B RANDI (wie Anm. 18), 473. PKMS 3, 19–21 und oben Anm. 41. 48 MBW 4582. 49 MENTZ (wie Anm. 42), 100–105. - PKMS 3, 21–24. - Quellen zur Geschichte Karls V., hrsg. v. Alfred KOHLER (1990), 355–362, 370–373. 50 MENTZ (wie Anm. 42), 105–112. - PKMS 4 (1992), 25–27. - KOHLER (wie Anm. 49), 373–380. 51 MBW 4737, 4739, 4754, 4778, 4800, 4832. 52 MBW 4732. 47
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Die Übergriffe der Spanier und Italiener verbreiteten unter der Bevölkerung Angst, auch im neutralen Anhalt. Zwei Tage nach der Schlacht ließ Melanchthon seine Familie nach Magdeburg fahren und folgte ihr wenig später53. Dorthin war auch Käthe Luther mit drei ihrer Kinder geflohen. Sie bat ihn unter Tränen, sie nach Dänemark zu bringen54. Georg Maior mit seiner großen Familie schloss sich dem Wagenzug an55. Mindestens zwei Studenten waren ebenfalls dabei, Tilemann Heshusen56 aus Wesel und Christoph Meienburg57 aus Nordhausen. Melanchthon war bereit, Käthe nach Lüneburg zu bringen. Von dort wäre sie nur noch von Georg Maior begleitet worden58. Über Helmstedt und Braunschweig kam man bis Gifhorn, der Residenz des Herzogs Franz von Lüneburg, der schon 1530 die Confessio Augustana unterzeichnet hatte und seither mit Melanchthon bekannt war. Er riet zur Umkehr59, weil in der Lüneburger Heide gefährliche Truppenbewegungen zu beobachten waren, denn auch nach der Schlacht bei Mühlberg ging der Schmalkaldische Krieg weiter. Am 23. Mai schlugen die niedersächsischen Städte und Graf Albrecht von Mansfeld den mit dem Kaiser verbündeten Herzog Erich von BraunschweigCalenberg bei Drakenburg an der Weser60. Doch dies änderte nichts mehr am Ausgang des Krieges. Die Flüchtlinge mussten also nach Braunschweig zurückkehren. Dort erhielt Melanchthon ein Asylangebot des Kurfürsten von Brandenburg61. In dessen Stadt Stendal waren schon andere Wittenberger Professoren untergekommen62. Doch Melanchthon und Maior wollten lieber nach Nordhausen. Käthe Luther blieb in Braunschweig, bis sie Anfang Juli nach Wittenberg zurückkehren konnte63.
53
MBW 4726, 4732. MBW 4737, 4738, 4740, 4742, 4743, 4755. - MBW 11 (2003), 177 f. – Unten Nr. 22, bes. S. 387–389. 55 MBW 4735, 4740. - Timothy J. W ENGERT, Georg Major (1502–1574). In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 129–156. 56 MBW 4739.3. - MBW 12 (2005), 282 f. 57 MBW 4738, 4745. 58 MBW 4740. 59 MBW 4740, 4818. - Werner SIEBARTH, Herzog Franz von Braunschweig-Lüneburg und seine Zeit (1953). - Ralf B USCH und Jens-Martin KRUSE, Die ehemalige herzogliche Bibliothek, Otto I. und Philipp Melanchthon (1997), 10–17. - MBW 11 (2003), 206. 60 Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 2: Niedersachsen und Bremen, hrsg. v. Kurt BRÜNING (1960), 97 f. - Herzog Erich II. von BraunschweigCalenberg, 1528–1584: DBE 3 (1996), 148. - MBW 11 (2003), 205. - Graf Albrecht von Mansfeld-Hinterort, 1480–1560: DBE 6 (1997), 528. 61 MBW 4737, 4738. 62 MBW 4740, 4758, 4759, 4769. 63 MBW 4755. 54
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Fuhrwerke waren schwer zu bekommen, in Braunschweig damals offenbar überhaupt nicht. Am 16. Mai wanderten Melanchthon, seine Kinder Philipp und Magdalena, seine Enkelin Katharina Sabinus, Christoph Meienburg und Georg Maior nach Wernigerode, wo zwei Fuhrwerke aufgetrieben werden konnten64. Graf Wolfgang von Stolberg stellte einen Geleitbrief aus65. Die Habe – Betten und Bücher – war in der Obhut seiner Frau und des Famulus Koch in Braunschweig geblieben66. Während die anderen über den Harz nach Nordhausen weiterfuhren, kehrte Melanchthon nach Braunschweig zurück, wo er am 19. Mai, dem Tag der Wittenberger Kapitulation, den Ausreiseantrag stellte67. Am 24. Mai schreibt er aus Einbeck einen Brief68; was ihn dorthin führte, bleibt unbekannt. Am 26. ist er in Nordhausen69.
2 Mitten im Krieg, als es für Johann Friedrich noch gut aussah, schrieb er aus Altenburg am 1. März 1547 an seine verstreuten Wittenberger Professoren, er wolle die Universität Wittenberg sobald wie möglich wieder eröffnen und bitte sie, sich inzwischen nicht abwerben zu lassen70. Sie versprachen dies71, und am 20. März 1547 bekräftigte der Kurfürst sein Vorhaben72. Dass er Wittenberg verlieren würde, lag damals außerhalb seines Blickfeldes. Als Melanchthon auf seiner Irrfahrt durch Niedersachsen nach Nordhausen zog, begegnete ihm am 24. Mai 1547 – Johann Friedrich hatte fünf Tage zuvor seinen Verzicht auf Wittenberg und die Kurwürde erklären müssen – in Einbeck sein Freund Michael Meienburg, der als Bürgermeister der Reichsstadt am Harz unterwegs zum kaiserlichen Feldlager vor Wittenberg war73. Melanchthon gab ihm eine Petition an Johannes Obern64
MBW MBW 66 MBW 67 MBW 68 MBW 69 MBW 70 MBW 71 MBW 72 MBW 73 MBW
4743–4745. 4749. 4743–4745. 4749. 4750. 4751. 4614. 4646. 4656. 4750. - Gustav KAWERAU, Michael Meienburg: ADB 52 (1906), 286–288. S ILBERBORTH, Der Nordhäuser Bürgermeister Michael Meyenburg als Mansfelder Kupferhändler: Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte 65 (1932), 111–129. Geschichte Thüringens, hrsg. v. Hans Patze und Walter Schlesinger, Bd. 3 (1967), s. v. Heidelore KNEFFEL, Philipp Melanchthons Beziehungen zu Nordhausen, insbesondere zu 65
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burger mit74, den obersten Sekretär für deutsche Angelegenheiten am Kaiserhof, mit dem er seit dem Augsburger Reichstag 1530 ein gutes Verhältnis hatte75. Obernburger war, ohne seine Amtspflichten irgendwie zu verletzen, gegen die Protestanten nicht feindlich gesinnt. Melanchthon bat ihn, wenigstens denjenigen Wittenberger Professoren, die nichts mit den Religionsstreitigkeiten zu tun hatten, die Rückkehr in ihre Häuser zu ermöglichen. Für sich selbst erbat er ausdrücklich nichts. Immerhin hatte er während des Krieges den Widerstand des Schmalkaldischen Bundes publizistisch unterstützt. Er deutete aber an, dass er über die Ursachen des Krieges seine eigene Meinung hatte, und wies darauf hin, dass der Unterricht an der philosophischen Fakultät unabhängig von politischen Veränderungen sei. Das damit bekundete Interesse an einer Rückkehr zu seiner langjährigen Wirkungsstätte fand bei den neuen Machthabern offene Ohren. Gleich nach seiner Ankunft in Nordhausen schickte er am 26. Mai einen Boten nach Wittenberg, um mit seinen dort gebliebenen Kollegen Bugenhagen, Cruciger und Eber Verbindung aufzunehmen und seine Entscheidungen mit ihnen abzustimmen, denn er wollte mit ihnen weiterhin gemeinsam an einer Universität wirken, wo immer dies sein würde76. Am 6. Juni wurde die Stadt Wittenberg dem neuen Kurfürsten Moritz übergeben; die kaiserliche Besatzung zog ab77. Zwei Tage danach rief der Rektor Cruciger die Professoren zurück78, obwohl von Moritz keine förmliche Zusage zur Wiedereröffnung der Universität vorlag. Es gab lediglich Willensbekundungen aus Hofkreisen79. Das albertinische Sachsen brauchte keine Universität. Die in Leipzig war vorzüglich besetzt gewesen, hatte aber auch unter dem Krieg gelitten80. Sie als die ältere und angestammte musste zuerst wieder in Ordnung gebracht werden, was nicht schwierig war. Die Finanzquellen der Wittenberger Universität hingegen, die ihr seit der großen Reform von 1536, der sogenannten Fundation81, zustanden, waren teils durch das Heer des Kaisers verwüstet82, teils lagen sie in
Michael Meyenburg – eine Spurensuche, 1. Teil. In: 1996 Jahrbuch des Landkreises Nordhausen (= 4. Jahrgang 1997), 45–78. 74 MBW 4750. - Zu Obernburger († 1552) vgl. PKMS 2, 1055; 3, 896; 4, 1012. 75 MBW 1258. 76 MBW 4751–4753. 77 MBW 4773. 78 MBW 4773. 79 Ebd. 80 Alma Mater Lipsiensis, hrsg. v. Lothar Rathmann (1984), 58 f. 81 ISRAEL (wie Anm. 7), 104–116. - UUW 1, 172–184 Nr. 193. 82 Die Namen der Universitätsdörfer siehe ISRAEL (wie Anm. 7), 116 f. - UUW 1, 188 Nr. 202. - GermSacra 1/3/2 (1941), 140–149.
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Thüringen und Mansfeld83, also nunmehr im zwar evangelischen, aber politisch feindlichen Ausland. Die Finanzierung bildete demnach das größte Hindernis für die Weiterführung dieser Bildungsstätte. Cruciger setzte mit seiner Einladung der Professoren die neue Regierung unter Druck, denn nur wenn vor allem die namhaften Professoren zurückkehrten, konnte der Plan gelingen. Melanchthon stand aber bei den Ernestinern im Wort. Der alte Kurfürst betrieb aus der Gefangenschaft die Gründung einer Hochschule in Jena84, um den Verlust Wittenbergs auszugleichen. Die Bibliothek – sie galt als persönlicher Besitz des Fürsten – ließ er im Juni 1547 nach Weimar bringen85. Anfang Juni nahm die Weimarer Regierung mit Melanchthon Verbindung auf und schickte ihm nach Nordhausen eine Anweisung über 100 Gulden. Melanchthon löste sie nicht ein86, aber er schrieb dem jungen Herzog Johann Friedrich „dem Mittleren“ einen Trostbrief, worin er versicherte, er wolle lieber ihm in Armut dienen als anderswo in Reichtum wirken; er habe mehrere Angebote, werde aber nicht ohne vorherige Absprache Johann Friedrichs Land verlassen. Gleichzeitig teilte er ihm mit, dass er demnächst er nach Wittenberg reisen wolle87. Dies tat er zunächst nicht, sondern blieb den Juni über in Nordhausen. Brieflich verhandelte er mit dem Weimarer Hof, der ihm die Wahl einer Wirkungsstätte in Thüringen freistellte und erneut Geld anbot88. Melanchthon selbst bekam auch Angebote nach Heidelberg, Frankfurt/Oder, bald auch Kopenhagen, aber er wollte den Bestand von Wittenberg retten. Die verstärkte Zusammenarbeit mit Leipzig, nun unter ein und derselben Regierung, schien ihm erstrebenswert89. Am 7. Juli reiste er aus Nordhausen ab und erreichte am folgenden Tag Weimar90. Seine Begleiter waren der Kollege Georg Maior, der mit seiner Familie ebenfalls in Nordhausen Zuflucht gefunden hatte, und der Arzt Matthäus Ratzeberger. Ratzeberger91 ist 1501 in Wangen im Allgäu geboren, war also nur vier Jahre jünger als Melanchthon. 1516 kam er zum 83
Siehe unten Anm. 141. Eberhard H. P ÄLTZ, Jena, Universität: TRE 16 (1987), 559–563. 85 Bei MBW 4830. 86 MBW 4774. 87 MBW 4774. - Johann Friedrich II. von Sachsen (1529-1595): DBE 5 (1997), 345 (irrtümlich als Sohn Johanns des Beständigen bezeichnet, der in Wirklichkeit sein Großvater war). 88 MBW 4787, 4788. 89 MBW 4742, 4770, 4771, 4778, 4807, 4825, 4903, 4967. 90 MBW 4798.4. 91 Die handschriftliche Geschichte Ratzeberger’s über Luther und seine Zeit, hrsg. v. Chr. Gotth. NEUDECKER (1850), 1–22. - Vgl. Hans VOLZ, Die Lutherpredigten des Johannes Mathesius (1930, Repr. 1971), 36. 84
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Studium nach Wittenberg und erlebte die Reformation von Anfang an mit. Er war nicht nur ein begeisterter Anhänger Luthers, sondern auch mit ihm entfernt verschwägert. 1538 wurde er Leibarzt des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich, den er im Schmalkaldischen Krieg begleitete. Seine Erlebnisse und Beurteilungen hat er aufgezeichnet. Die Niederlage führte er auf Verrat in den eigenen Reihen zurück. Seine Einschätzung der Entscheidung Melanchthons ist ebenfalls von einseitiger Parteinahme für das ernestinische Fürstenhaus geprägt. Weil diese Sicht der Dinge bis in die wissenschaftliche Literatur unserer Gegenwart nachwirkt, werden wir auch Ratzeberger zu Wort kommen lassen. Vier Tage lang92 beriet Melanchthon mit den jungen Herzögen Johann Friedrich dem Mittleren und Johann Wilhelm von Sachsen und ihren Hofräten, insbesondere seinen alten Wittenberger Vertrauten Gregor Brück93, dem einflussreichen Altkanzler und maßgeblichen Rat in mancherlei Verhandlungen, ganz besonders beim Augsburger Reichstag 1530, sowie Franz Burchard94, seinem einstigen Hausschüler und Nachfolger auf dem Wittenberger Griechisch-Lehrstuhl. Seine Meinung über die Gründung einer Hochschule legte er in einem großen Gutachten nieder95. Die vorgesehene Stadt Jena kannte er gut, weil er wegen Seuchen, die in Wittenberg ausgebrochen waren, schon zweimal mit seinen Studenten hier gelebt hatte, 1527/28 und 1535/3696. Dass die hohe Blüte der Universität Wittenberg zerstört wurde, so führte er aus, sei eine Strafe für mangelnde Gottesfurcht. Gegen das Wirken des Teufels müssen die Regenten Zucht und Lehre fördern. Ein Ersatz für die untergegangenen Universitäten Wittenberg und Leipzig sei also notwendig. Melanchthon votiert von der Voraussetzung aus, dass zumindest Wittenberg nicht mehr eröffnet wird, was auch die ernestinische Regierung annahm. Er sagte offen, dass er sich für den Erhalt Wittenbergs einsetzen werde, beteuerte aber auch seine emotionale Bindung an seine bisherigen
92
MBW 4801. MBW 11 (2003), 222. 94 MBW 11 (2003), 241. 95 MBW 4800. - Friedrich SCHNEIDER, Melanchthons Entscheidung nach der Katastrophe von Mühlberg (24. April 1547) zwischen der neu zu gründenden Universität Jena und seiner langjährigen akademischen Wirkungsstätte in Wittenberg. In: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd. 1 (1952), 313–322. - Karl HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena (1954), 14–18. - Herbert VON HINTZENSTERN, Melanchthon und die Universität Jena. Die Wankelmütigkeit des Magisters Philippus und ihre Folgen. In: Des Herren Name steht uns bei. Luthers Freunde und Schüler in Thüringen, hrsg. v. Karl Brinkel und Herbert von Hintzenstern (1961), 132– 146. 96 MBW 571–669 und 1591–1700. 93
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Herren. Deshalb wirkte er an der Beratung über eine Neugründung in Jena mit und entwarf einen Stellenplan. Er schlug vor, alle bisherigen Wittenberger Dozenten nach Jena einzuladen. Die Studenten und zwei Aufsicht führende Professoren könnten in dem ehemaligen Dominikanerkloster untergebracht werden. Er selbst war bereit, täglich je eine Vorlesung über Theologie und ein philosophisches Fach zu halten. Caspar Cruciger, den er gern bei sich haben möchte, soll Theologie und Hebräisch lesen, aber im Wechsel, weil er nicht zwei Stunden am Tag lesen kann; seine Besoldung beträgt wie bisher 250 Gulden. Falls Cruciger nicht zusagt, wird Georg Maior vorgeschlagen. Cruciger war mit Melanchthon eng verbunden, nicht nur theologisch, sondern auch durch astronomische Interessen. Als Rektor war er den Krieg über in Wittenberg geblieben. Nun war er krank und starb ein Jahr danach97. Melanchthons Vorschläge gingen weit über das hinaus, was die ernestinischen Fürsten ins Auge fassten. Er wollte die gesamte Universität nach Jena verpflanzen, doch der Weimarer Regierung war vor allem an ihm gelegen. Der alte Herzog Johann Friedrich hatte sich aus der Gefangenschaft schon dahingehend geäußert, dass er auf die juristische Fakultät verzichten wollte98. Melanchthon jedoch hielt auch Juristen für nötig, nicht zuletzt für die Einrichtung eines Konsistoriums, denn die geistlichen Angelegenheiten können nicht insgesamt an den Hof gezogen werden, wie Johann Friedrich der Ältere wünschte. Wie auch sonst sucht Melanchthon für die Kirche eine gewisse Selbständigkeit zu retten. Er nominierte also auch Konsistorialräte. Konrad Mauser99 sei dafür geeignet und müsse wie in Wittenberg 200 Gulden bekommen. Ebenso sei ein Mediziner unerlässlich. Jakob Milichius100 sollte nach Melanchthons Vorstellung 200 Gulden bekommen, die Herzöge hielten 150, die er bisher bekam, für genug. Augustin Schurff101 müsse weiterhin 200 erhalten. Aber auch er war wie Cruciger so krank, dass Melanchthon nicht mehr fest mit ihm rechnete. Doch war es für ihn selbstverständlich, für beide eine Stelle zu besorgen. Die Lehrstuhlinhaber der artistischen Fakultät, nämlich der Gräzist Veit Örtel102, Johannes Marcellus103, Paul Eber104, der Mathematiker Erasmus 97
Siehe oben Anm. 34. MBW 4800.3.2. - MENTZ (wie Anm. 42), 252. 99 ADB 20 (1884), 712. - Walter FRIEDENSBURG Geschichte der Universität Wittenberg (1917), 205 f. - Konrad Mauser starb am 22. 10. 1548: CR 10, 598 f Nr. 233. - WAB 10, 79 f Anm. 4. 100 VOLZ (wie Anm. 91), 178. 101 Ebd. 182. 102 Ebd. 178 f. 103 Ebd. 179 f. 104 Siehe oben Anm. 44. 98
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Reinhold105, sollen je 100 Gulden erhalten, der Poet Johannes Stigel106 aber wie bisher 150. Als Notar und Mitglied des Konsistoriums wird Konrad Weichart107 warm empfohlen; 60 Gulden solle er bekommen, obwohl er in Wittenberg mehr hatte. Der Ökonom für die Speisung der Studenten verdient 50 Gulden, der Pedell 30. Die Gesamtkosten belaufen sich damit auf 1780 oder aufgerundet 2000 Gulden jährlich, nicht wenig angesichts der finanziellen Notlage. Ein größeres Problem war für Melanchthon aber die politische Situation. Es war zu erwarten, dass der Kaiser die Unterwerfung unter das Trienter Konzil verlangt. Melanchthon vermutete, dass Moritz von Sachsen, Joachim von Brandenburg, Barnim und Philipp von Pommern, Philipp von Hessen und die anderen evangelischen Reichsfürsten sich mit geringfügigen Zugeständnissen des Kaisers zufrieden geben würden. Nur der alte Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen werde sich widersetzen, dessen Niederwerfung das oberste Kriegsziel des Kaisers gewesen sei. Zumindest die Priesterweihe durch die Bischöfe, die Zulassung von Privatmessen und die Errichtung bischöflicher Konsistorien werde mit Gewalt durchgesetzt werden. Melanchthon warnte deshalb seine Fürsten davor, sich allein gegen den Kaiser zu stellen. Er selbst wolle nur deshalb nicht nach Jena kommen, weil er weiterhin in die Tagespolitik publizistisch eingreifen, aber seine Fürsten dadurch nicht in Gefahr bringen möchte. Jedenfalls solle man den nach Augsburg einberufenen Reichstag abwarten, bevor man eine Entscheidung treffe und vielleicht etwas Undurchführbares beginne108. Damit hatte er recht. Das Augsburger Interim109, das ein Jahr später erlassen wurde, schuf ein neue Situation.
105
Volz (wie Anm. 91), 179. - Owen GINGERICH, Reinhold, Erasmus: Dictionary of Scientific Biography, hrsg. v. Charles Coulston Gillispie, Bd. 2 (1981), 365–367. Jürgen HAMEL, Nicolaus Copernicus (1994), 252–259. - Walter T HÜRINGER (wie Anm. 44), 305. 106 Stefan RHEIN, Johannes Stigel (1515-1562). In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 31–49. - Bärbel SCHÄFER, Johann Stigels antirömische Gedichte. In: ebd. 51–68. - D IES., Mit den Waffen der Dichtkunst für die Reformation. Melanchthons Schüler Johann Stigel. In: Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anlässlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997, Helmar Junghans gewidmet, hrsg. v. Michael Beyer und Günther Wartenberg unter Mitwirkung von Hans-Peter Hasse (1996), 389–407. 107 MENTZ (wie Anm. 42), 253. 108 Soweit das Gutachten MBW 4800. 109 Joachim MEHLHAUSEN, Interim: TRE 16 (1987), 230-237. - Das Augsburger Interim von 1548, hrsg. v. Joachim MEHLHAUSEN (1970, 21996). - Weitere Editionen verschiedener Fassungen siehe MBW Bd. 5, S. [9].
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Melanchthon teilte der Weimarer Regierung damals auch mit110, dass er mehrere Angebote bekommen hatte. Zugesagt habe er nirgendwo. Dem bischöflichen Administrator Georg von Anhalt jedoch habe er versprochen, nach Merseburg zu kommen. Georg von Anhalt111, den Luther am 2. August 1545 auf Wunsch des Herzogs Moritz von Sachsen zum evangelischen Bischof von Merseburg ordiniert hatte112, war der einflussreichste Kirchenmann des albertinischen Sachsen und mit Melanchthon theologisch eng verbunden. Er und der Leipziger Gräzist Camerarius waren für Melanchthon starke Magneten, sich diesem Teil Sachsens zur Verfügung zu stellen. Die Zusammenarbeit wurde dann ganz eng und vorbildlich gut113. Melanchthon ließ die Weimarer also nicht im Unklaren über seine Pläne. Er teilte ihnen auch mit114, dass er von Merseburg aus gern nach Wittenberg gehen würde, um sich mit seinen Kollegen zu beraten. Er sei aber gewarnt worden, nach Leipzig oder Wittenberg zu kommen. Deshalb sollte die Beratung in Dessau oder Zerbst stattfinden. Die Weimarer Herzöge waren damit einverstanden115. Dennoch kehrte Melanchthon zunächst mit Maior und Ratzeberger nach Nordhausen zurück, wo er mit einer Übernachtung in Greußen am 14. Juli eintraf116. Bei Ratzeberger, der ja Augenzeuge war, liest sich das ganze so117: Der Kurfürst verhoffete, Herr Philippus würde seinen Söhnen versprochene und zugesagete Dienste treulich leisten und halten, sintemal er solches, wie gemeldet, also zugesagt hatte. Hierauf wurde er nun von hochgedachten beden des Kurfürsten ältesten Söhnen neben Doctore Matthaeo Ratzebergern gegen Weimar beschrieben, darmit alles, wie es mit der Instauration scholae Jenensis et stipendiis professorum künftig gehalten werden sollte, abgeredet, ordentlichen verfasset, ratifiziert und konfirmiert werden mochte. Wie man nun wegen dieser Handlunge im vollen Werk und es nun so ferne gebracht ward, dass man sollte uf beden Teilen subskribieren, bekommete Philippus Briefe von Wittenberg, zum Teil von den Gelehrten, zum Teil von Herzog Moritzen Hofe, die er nicht wollte sehen lassen. Hiervon wird er so eilends und geschwinde stutzig gemacht und umgewandt, dass er sich nicht allein wegerte bei angefangener Vollziehunge der Abreden mit der Schulen zu Jena, darzu er doch erfordert war, zu verharren, sondern wollte sich eilendes zu Fuße von Weimar nach Wittenberg begeben, gleich mit 110
MBW 4801. Reformation in Anhalt. Melanchthon – Fürst Georg III. Katalog zur Ausstellung der Anhaltischen Landesbücherei Dessau sowie Veröffentlichung der wissenschaftlichen Beiträge des Kolloquiums vom 5. September 1997 in Dessau, hrsg. von der Evang. Landeskirche Dessau (1997). - MBW 11 (2003), 72. - Oben S. V, Anm. 1. 112 MBW 3983. 113 Torsten W OITKOWITZ, Die Freundschaft zwischen Philipp Melanchthon und Joachim Camerarius. In: Philipp Melanchthon und Leipzig. Beiträge und Katalog zur Ausstellung (1997), 29–39. - MBW 11 (2003), 253 f. 114 MBW 4801.2. 115 Ebd. 116 MBW 4807. 117 NEUDECKER (wie Anm. 91), 183–185. Text behutsam modernisiert. 111
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einem Unwillen und anzüglichen Reden, der Kanzler Jost von Hain118 hätte so hart in ihne gedrungen und ihme gleich ein categoricum responsum abzwingen wollen, ließe ihm [= sich] zur Reise ein Paar hohe Fleischerschuhe zu halben Knieen kaufen, die zoge er an und wollte darinnen zu Fuße darvon. Weil aber seine Hausfrau noch zu Nordhausen war und Doctor Matthäus Ratzeberger, der ihn mit nach Weimar genommen hatte, auch wieder zurück gegen Nordhausen zu den Seinen verreisen wollte, fragete er Philippum, was er seiner Hausfrauen zu entbieten wollte. Als er das hörete, fragete er, ob er balde wollte auf sein. Als er nun Ja geantwortet, sagete er, so will ich mit euch, und wurde darauf die frühe Suppe bestellet, und zogen die Herren miteinander darvon, denen Doctor Major mit seinem Sohne zu Roß folgeten, und wurde Magister Johannes Stigelius, den sonsten Herr Philippus wohl leiden konnte, ihnen mit zugeordnet, ob er den Herrn Philippum unterwegens konnte wieder wendig machen und die Reise gegen Wittenberg hindern. Zogen also den Tag bis gen Greussen und den andern bis gen Nordhausen, und ließ sich Herr Philippus gar keines ferneren Unwillens merken.
3 Schon nach zwei Nächten, am 16. Juli – wir befinden uns die ganze Zeit im Jahre 1547 – brach er wieder auf119. Er hatte in Weimar einen Brief von Ludwig Fachs, dem Kanzler des Kurfürsten Moritz, erhalten, und versprochen, nach Merseburg zu kommen120. Es ist der Brief, den Ratzeberger nicht zu lesen bekam. Seinen Verhandlungspartnern teilte er aber den Inhalt mit. Ratzeberger erzählt das nun folgende so121: Ob nun wohl mit Unkosten der sächsischen Herrschaft zu Nordhausen uf Ankunft des Herrn Philippi eine stattliche Mahlzeit bestellet, darzu auch furnehme Herren, die ihme Gesellschaft leisten sollten, erbeten waren, Philippus auch sowohl Doctor Major gar guter Dinge waren, so hatte doch Philippus unvermerkt einen Rüstwagen bestellen lassen, darauf er sich mit dem allerfrühesten gesetzet und darvon gefahren, und ritte mit ihme Doctor Major so eilends und geschwinde, dass obwohl ungefehrlich eine zwo oder drei Stunden hernacher Magister Stigelius ihnen nachfolgete, er sie doch eher nicht als zu Wittenberg ereilen konnte. [Das stimmt nicht, denn Melanchthon fuhr erst viel später nach Wittenberg.] Da ward hernacher die Glocke gegossen zu Spott und Hohn des Stamms Sachsen, die ihn so lange und stattlich unterhalten hatten.
Wir haben hier die bis in unsere Gegenwart nachwirkende Auffassung, Melanchthon sei den ernestinischen Fürsten zur Treue verpflichtet gewesen. Als seine Heimat betrachtete er zeitlebens die Pfalz und ganz Süddeutschland, Bretten, Pforzheim und besonders die kurpfälzische Univer-
118
MBW 12 (2005), 214 f. MBW 4809, 4810. 120 MBW 4802. - Zu Fachs: MBW 12 (2005), 43 f. 121 Ratzeberger bei NEUDECKER (wie Anm. 91), 185. 119
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sität Heidelberg122. Für die Universität Wittenberg, davon abgeleitet auch für die Stadt und das Land Sachsen, empfand er heimatliche Gefühle, als sie durch den Schmalkaldischen Krieg und seine Folgen gefährdet waren. Doch dies musste er ausdrücklich sagen123. Nach 1547 bedeutet „Heimat“ wieder ausschließlich die Pfalz und Süddeutschland124. Mit den Ernestinern verband ihn ein dienstliches Verhältnis und die Gemeinsamkeit der religiösen Überzeugungen und Ziele. Doch war er mit Johann Friedrich nie so einverstanden wie mit dessen beiden Vorgängern Friedrich dem Weisen und Johann dem Beständigen. Schon vor dem Krieg kritisierte er seine Regierung mit folgenden Worten: „Der kursächsische Hof glich zu Lebzeiten des Kurfürsten Johann des Beständigen einmal einer Aristokratie, jetzt unter Johann Friedrich dem Großmütigen ist er oligarchisch“125. Oligarchie ist eine verwerfliche Staatsform. Wir hören nun wieder Ratzeberger126: Darzu hetzte ihn nun nicht wenig Doctor Georg Major, dann sobalde derselbe, wie obgemeldet, seine salvam guardiam ex castris Mauritii und andere Schriften von den Hofdienern bekam (vor welchen ihne seine gute Freunde zu Nordhausen vorwaret [=gewarnt] hatten, aber vergeblichen, [...]), stund sein Gemute nur dahin, wie er seinen Karrn ins Truckene schieben möchte, zog derwegen also balde nach Merseburg, ward Präses im Consistorio daselbst und half Philippum von diesem Teile gar abwendig machen. Als nun Herr Philippus nach seinem stutzigen eilenden Aufbrechen von Nordhausen seinen Weg auf Halla nahm, gaben ihme die Kirchendiener daselbst neben Doctor Chiliano Goldstein127, welcher nunmehr von Braunschweig wieder gegen Halla in seinen Dienst gezogen war, als ihrem lieben Herrn Praeceptore das Geleite durch das Steintor. In demselben Gange erzählet ihnen Philippus sein Gemüte und Vorhaben, dass er gedächte zu Wittenberg wiederumb ein Academiam zu sammlen, et iam quoque tempus adesset, quo et ipse libere suam sententiam docere posset, quod vivo Luthero sibi facere nunquam licuisset. Hierauf antwortet ihme Doctor Goldstein: Ey Domine praeceptor, si quid habuisses cum Luthero diversum, debuisses illud ipso adhuc vivente proferre. Nunc vero si quid ab ipso diversum docueris, experieris sane multos, qui tibi contradicent. Uf diese Doctor Goldsteins Rede entfärbete sich Philippus unterm Angesichte gar plötzlich und lief ihme seine vena bifurcata an der Stirn auf, quod signum erat commoti animi, wendet sich stutzig von ihme abe und redet weiter kein Wort mit ihme, sondern zog fort. Da nun Philippus diesmal gegen Wittenberg kam und sich Doctor Major nach Merseburg begeben hatte, erzeigete sich Herzog Moritz gegen die Gelehrten allerdings gar gnädig et eos demulcebat muneribus, bot ihnen alle Gnade an und verehret sie mit Geschenken. Unter andern verehrt er Doctor Pommern und Herrn Philippo einem jeden ein sammete 122
MBW 4095, 4765, 4771, 4803, 4807, 6386, 4862, 5442. - Auch von Fremden so gebraucht: MBW 4782, 4907. 123 MBW 4449, 4450, 4458, 4485, 4495, 4752, 4754, 4782, 4803, 4807, 4829. 124 MBW 6488, 6940, 6940, 6953, 7315, 7398, 7437, 7977, 8176, 8257, 8787, 8841, 9023, 9047, 9118, 9181. 125 MBW 2907. - Helmar JUNGHANS, Johann von Sachsen (1468–1532): TRE 17 (1988), 103–106. - DBE 5 (1997), 344 f. 126 NEUDECKER (wie Anm. 91), 185–190. 127 MBW 12 (2005), 161 f.
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Pumpmütz, wie man es in Sachsen nennet, voller Taler, und ließ ihnen alle Gnade anmelden und ansagen. Hierdurch bekam Philippus ein großen Zufall und Ansehen bei allen Gelehrten zu Wittenberg, dass sie darüber ihres alten gefangenen Herren balde allerdings vergaßen und Doctor Pommer einsmals im Beschluß seiner Predigt uf der Kanzel auch für die Obrigkeit hieß beten, die Zuhörer vermahnete, dass sie ja für ihren gnädigsten Herren den Kurfürsten bitten sollten. Doch meine ich nicht, sagete er, den alten gefangenen Kurfürsten, sondern den itzigen neuen, unseren gnädigsten Herren Herzog Moritzen, der ist ein rechter milder guttätiger Fürst, denn er hat neulich mir und dem Herrn Philippo einem jeden eine Pumpmütze voll Taler verehren und schenken lassen. Es war auch sonsten unter allen Gelehrten zu Wittenberg nicht einer, der den alten gefangenen Kurfürsten in seinem Elende und Betrübnus mit einer Trostschrift und Brieflein ersucht hätte, ohne allein der alte Herr Doctor Hieronymus Schurff128, der furtreffliche Jurist daselbst, welcher doch bei den andern in Verdacht war, als ob er ein Papist wäre. Solche Schrift hat dem Kurfürsten sonderlichen wohl gefallen, und hat sie hoch gerühmet von wegen des Trosts, den er daraus geschöpfet und gefasset, und wollte auch hernacher dieses der Gelehrten groben Undanks und Unbilligkeit halben gedachter Doctor Hieronymus Schurff zu Wittenberg nicht länger bleiben, sondern begab sich nach Frankfurt an die Oder, daselbsten er auch hernacher gestorben. So bedachte auch sonsten Doctor Pommer wenig, was er hiebevor für Guttaten vom Kurfürsten empfangen hatte, ehe er noch verraten und gefangen war, dass er ihne auch etzlich mal in Privatgesprächen und uf der Kanzel einen Bluthund geheißen, der sie redlich ufs Eis geführet hätte, da sichs doch in der Wahrheit und Tat viel anderst verhielte, denn die Wittenbergische Gelehrten und zwar zuforderst die Theologi hatten den frommen Kurfürsten an den Kaiser beides privatis und publicis scriptis, wie dieselbe noch vorhanden, gehetzet, darmit sie ihn an den Kaiser sub specie iustae et politicae defensionis antrieben, hernacher aber als er verführet und dem Kaiser in die Hände geliefert ward, wollte ihn keiner de consiliis bellicis wissen, sondern zogen den Kopf aus der Schlingen. Philippus täte zwar auch also, denn so balde der Kurfürst verraten und gefangen war, wußte er gar fein ironice alle des Kurfürsten Handelungen zu carpiren und den ganzen Zug zu tadeln [...], wie unfleißig und unbesonnen er alle Dinge vorgenommen und geführet hätte, welches ihme niemals gefallen hätte. Da doch Philippus unter den ersten war, der die Notwehre nach Doctoris Majoris Acht und Oberacht und Justi Menii Schriften liesse drucken. Aber in summa der Kurfürst war gefangen und fand jedermann an ihme etwas zu tadeln. Und weil nun Philippus gar gnädige Vertröstung und Geschenke von Herzog Moritzen empfangen hatte, lobete er alles, was nur Herzog Moritz wider seinen Vettern hinterwärts hatte vorgenommen, und ließ ihme alles gefallen, was ihme vom Herzog Moritzen, quem tamen antea Absoloni et ingrato cuculo contulerat, proponirt und vorgeschlagen wurde.
Wir kehren von dieser Beurteilung, deren Tendenz leicht erkennbar ist, zu den Fakten zurück. Am 17. Juli traf Melanchthon in Merseburg ein129. Am 18. fuhr er mit Georg von Anhalt zum Landtag nach Leipzig130, wo er auch die Wittenberger Kollegen Georg Maior, Johannes Bugenhagen, Caspar
128
Wiebke SCHAICH-K LOSE, D. Hieronymus Schürpf, 1481–1554 (Diss. Tübingen 1967). - Guido KISCH, Melanchthons Rechts- und Soziallehre (1967), 62–67, 149–153. 129 MBW 4811. 130 PKMS 3, 30–32.
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Cruciger, Melchior Fend131 und Paul Eber traf132. Moritz erklärte schon bei der Begrüßung, er werde keine papistischen Missbräuche einführen, sondern Gottes Wort fördern, für Frieden und Einigkeit wirken, Studien und Recht schützen. Dazu brauche er den Rat der Professoren133. Diese reichten eine große Denkschrift ein134. Sie danken für die Zusage, die reine Lehre zu bewahren, und bekennen sich zu dieser Lehre, wie sie in Sachsen gepredigt wird, nämlich zur Lehre der katholischen Kirche, die in den altkirchlichen Bekenntnissen niedergelegt ist, mit der die Anhänger der Confessio Augustana übereinstimmen, womit alle Sekten wie Wiedertäufer, Sakramentsverächter und die päpstlichen Missbräuche verworfen sind. Sie sind bereit, für Lehre und Zucht einzutreten. Dies werde nur zum Ziele führen, wenn die Pfarreien und Schulen, insbesondere aber die Universitäten Leipzig und Wittenberg, finanziell gesichert werden. Die Universität Wittenberg ist für die geistliche Aufsicht im Kurkreis unentbehrlich. Ordinationen, die von Bischöfen vernachlässigt werden, finden dort auch für Kurbrandenburg, Schlesien und sogar Ungarn und Böhmen statt. Dort wurde die Bibel ins Deutsche übersetzt. Viele Kurfürsten sind in dieser Stadt bestattet. Um die Studien in den vorigen guten Stand zu bringen, müssen einige Professoren wieder hergeholt werden, namentlich Joachim Camerarius nach Leipzig. Die Stipendien aus dem Stift Altenburg und aus Klostergütern müssen erneuert werden. Damit keine Schmähschriften gedruckt werden, sollen die Drucker der Zensur des Rektors unterworfen werden135. Die Konsistorien in Merseburg, Meißen und Wittenberg sind unverzichtbar. Letzteres ist mit den vorhandenen Professoren besetzt. Dazu braucht man nur noch einen Notar. In wichtigen Lehrfragen soll die ganze Universität hinzugezogen werden. Visitationen werden gelegentlich durch den Notar der Konsistorien durchgeführt. Die Lehre und die Zeremonien werden regelmäßig von den Superintendenten überwacht. Zum Katechismusunterricht sollen die Eltern ihre Kinder in die Kirche schicken. Die Gleichheit der Zeremonien ist nur in wichtigen Stücken anzustreben. Schließlich wird um die Besoldung der Geistlichen und Erhaltung der kirchlichen Bauten gebeten, um Amnestie für Äußerungen im Schmalkaldischen Krieg, um Renten für alte Pastoren und ihre Witwen und Waisen, um Durchsetzung dieser Anordnungen bei Adel, Amtleuten und Bürgermeistern.
131
MBW 12 (2005), 51 f. MBW 4811. 133 MBW 4812. 134 MBW 4813. 135 Hans-Peter HASSE, Bücherzensur an der Universität Wittenberg im 16. Jahrhundert. In: 700 Jahre Wittenberg, hrsg. v. Stefan Oehmig (1995), 187–212. 132
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Der Kurfürst dankte dafür und versicherte, „bei der katholischen christlichen Lehre des reinen Wort Gottes“ zu bleiben und keine päpstlichen Missbräuche anzunehmen. Er versprach, dass die beiden Universitäten Leipzig und Wittenberg erhalten bleiben136. Am 25. fuhr Melanchthon mit Bugenhagen, Cruciger und Eber nach Wittenberg137. Ein Angebot der Universität Leipzig hatte er abgelehnt138. Nach einem kurzen Besuch in Zerbst blieb er bis 12. August in der Stadt, die noch durch die böhmische Besatzung und strenge Kontrollen der Post belästigt wurde139. Aber Melanchthon wollte seine Dialektik drucken lassen140. Er bemühte sich zugleich intensiv um die Sicherung der Universität. Dass die Zusage des neuen Kurfürsten nur verwirklicht werden konnte, wenn Melanchthon wieder in Wittenberg lehrte, lag auf der Hand. Deshalb kümmerte er sich nicht um die alsbald laut werdende Kritik an seiner Entscheidung. Er schickte den Notar Konrad Weichart nach Mansfeld, wo erhebliche Verpflichtungen der Grafen anzumahnen waren141. Am 12. August reiste er mit Paul Eber nach Dresden, wo er über die Finanzierung verhandelte142. Dabei gewann er ein gutes Verhältnis zu dem Hofrat Georg von Komerstadt, der für die kulturellen Angelegenheiten zuständig war. Er besuchte ihn auf seinem nahegelegenen Hofgut Kalkreuth und bat ihn, dem Kurfürsten die Finanzierungsprobleme der Universität Wittenberg vorzutragen143. Von den jährlichen Kosten von 3000 Gulden konnten nur 700 aus dem Stift Altenburg144 aufgebracht werden. Die der Universität zinspflichtigen Dörfer um Wittenberg waren verwüstet. 800 Gulden aus den Gütern des geächteten und vertriebenen Grafen Albrecht von Mansfeld konnten nicht eingetrieben werden. Es blieb also ein jährlicher Zuschussbedarf von mindestens 2000 Gulden. Er sollte von der kurfürstlichen Kammer oder den Gütern der sequestrierten Zisterzienserklöster Grünhain145 oder Buch146 aufgebracht werden. 136
MBW 4814. MBW 4817. 138 MBW 4828.2. 139 MBW 4807, 4820, 4850. 140 MBW 4795, 4826–4828, 4836, 4841, 4853, 4863, 4875. 141 MBW 4858, 4902, 4937. 142 MBW 4848, 4858. 143 MBW 4902. - Zu Komerstadt: MBW 12 (2005), 440 f. 144 Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 9: Thüringen, hrsg. v. Hans Patze (1968), 6–13. Das Georgen-Stift in Altenburg wurde seit 1538 zur Finanzierung von Stipendien herangezogen. 1547 kam Altenburg wie Wittenberg an das Albertinische Sachsen, wurde aber 1554 den Ernestinern zurückgegeben. - MENTZ (wie Anm. 42), 245 f und 336 f. 145 Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 8: Sachsen, hrsg. v. Walter Schlesinger (1965), 140 f. Das Zisterzienserkloster Grünhain, das die Grundherrschaft über ungefähr 60 Dörfer besaß, war nach Plünderungen im Bauernkrieg seit 1526 verödet 137
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Auf der Rückreise lernte Melanchthon in Meißen den 19 Jahre jüngeren Georg Fabricius kennen und schätzen, einen bedeutenden Dichter und Schulmann, der nach Studien in Italien seit 1546 die Fürstenschule St. Afra leitete147. In Wittenberg fühlte sich Melanchthon zunehmend einsam148. Nachdem der Druck der Dialektik vollendet war, zog er am 26. September mit seinem Schwiegersohn Georg Sabinus, der seine verwaisten Töchter zu den Großeltern brachte, über Halle nach Nordhausen149. Dort erreichte ihn die Aufforderung, zu Komerstadt nach Leipzig zu kommen150. Als Melanchthon am 12. Oktober dort eintraf, war Komerstadt gerade nach Dresden abgereist. Er hatte aber den Vertretern der Universität Wittenberg aus der kurfürstlichen Kammer 1717 Gulden gegeben und weitere 400 in Aussicht gestellt151. Melanchthon zeigte nun dem in Augsburg auf dem Reichstag weilenden Kurfürsten Moritz seine Rückkehr nach Wittenberg an und stellte sich ihm als Mitarbeiter zur Verfügung152. Einen ersten theologischen Auftrag hatte er schon erfüllt: ein Gutachten über das Konzil153. Am 18. Oktober 1547 wurde Caspar Cruciger erneut zum Rektor der Universität Wittenberg gewählt154. Melanchthon schrieb einen Aufruf an die Studenten155 und rief seine Familie aus Nordhausen herbei156. Von seiner Dialektik waren im Nu 3000 Exemplare verkauft157. Für die verbesserte Neuauflage musste er in Wittenberg bleiben. Am 24. Oktober begann er mit seinen Vorlesungen158. Seinem Lieblingsschüler Johannes Stigel, der sich in Weimar aufhielt und einer der beiden Gründungsprofessoren der Jenaer Hochschule werden und wurde 1536 Amt im ernestinischen Kurfürstentum Sachsen, 1547 albertinisch. Heute Gemeinde im Westerzgebirgskreis, Bundesland Sachsen. 146 Ebd. 40 f. Nach dem Tod des Abtes 1525 wurde Kloster Buch mit seinem reichen Grundbesitz von Kursachsen sequestriert. Heute Klosterbuch, Ortsteil von Leisnig, Kreis Döbeln, Bundesland Sachsen. 147 MBW 4861. - Zu Georg Fabricius: MBW 12 (2005), 40 f. 148 MBW 4892, 4896. 149 MBW 4905, 4906, 4909, 4912. - Bugenhagen an Herzog Albrecht von Preußen, 10. und 17. Oktober 1547: Dr. Johannes Bugenhagens Briefwechsel, hrsg. v. Otto VOGT (21966), 409–411 Nr. 203 f. - Heinz SCHEIBLE, Georg Sabinus (1508-1560). Ein Poet als Gründungsrektor (1995): Forschungsbeiträge (1996), 533–547. 150 PKMS 3, 594 f Nr 838 = MBW 4914. 151 Ebd. und PKMS 3, 603 Nr 847 = MBW 4918. 152 MBW 4919. 153 MBW 4920. 154 Album Academiae Vitebergensis, hrsg. v. Karl Eduard FÖRSTEMANN (1841), 236. 155 CR 6, 700 f Nr. 4036. 156 MBW 4927. 157 Ebd. 158 CR 6, 702 Nr. 4039.
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sollte, erklärte er seinen Entschluss noch einmal wie damals bei seinem Besuch dem Weimarer Hof: Er dürfe die Wiedereröffnung der Universität Wittenberg nicht verhindern. An der Neugründung in Jena beteilige er sich auch deshalb nicht, weil er dort nichts gegen die Trienter Konzilsbeschlüsse schreiben könne, ohne dem gefangenen Herzog Johann Friedrich und seinen Söhnen zu schaden. Eine förmliche Zusage habe er den Fürsten nie gegeben. Wittenberg sei ja für ihn nicht Feindesland, sondern seine trauernde Gemeinde. Noch wisse er nicht, ob er bleiben könne, aber die Lehre sei unverändert. Melanchthon konnte nicht verstehen, dass man in so unsicheren politischen Verhältnissen und unter so ungünstigen Sternzeichen eine Universität gründen wollte. Er bat um Verständnis, erinnerte an seine früheren Verdienste und versicherte, dass er überall seiner Lehre und seinen Freunden treu bleiben werde. Franz Burchard, seinen früheren Meisterschüler und Lehrstuhlnachfolger, den Kanzler Johann Friedrichs, ließ er ausdrücklich grüßen159.
4 Die Finanzierung der Universität war damit noch nicht gesichert. Auf dem Landtag, der um die Jahreswende in Torgau abgehalten wurde, verhandelte Melanchthon erneut und wurde auch von Moritz persönlich empfangen160. Am 3. Januar 1548 verfasste Georg von Komerstadt einen Finanzierungsplan, der am 7. Januar ausgefertigt wurde. Es ist die „Fundation“ des Herzogs Moritz161. Die grundlegende Fundation des Kurfürsten Johann Friedrich vom 5. Mai 1536 wurde bestätigt, gleichzeitig aber festgestellt, dass die dort gewährten Einkünfte derzeit nicht in voller Höhe verfügbar waren. Für sie wurde aus anderen Quellen Ersatz zugewiesen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Posten: 1536 war der Bedarf mit 3795 Gulden jährlich errechnet worden. Das Vermögen des Wittenberger Allerheiligenstiftes, das der Universität ungeschmälert zugewiesen worden war, erbrachte 2561. Den Rest sollten die Sequestratoren der Kirchengüter aufbringen, nämlich aus dem Kurkreis 500, aus Thüringen 700 und aus dem Meißnischen ebenfalls 700, insgesamt also 1900, was einen Überschuss von 666 Gulden ergab. Der Zuschuss sollte entsprechend den allmählich entfallenden Pensionslasten vermindert werden. Die Einkünfte der Universität aus Gebühren u. dgl. wurden in einer besonderen Kasse, dem Fiscus promotionum, verwaltet und sollte für Baulasten verwendet werden. 159
MBW 4929. MBW 5004–5008, 5012–5024; PKMS 3, 33 f. 161 MBW 5012.2. - ISRAEL (wie Anm. 7), 117–122. - UUW 1, 299 f Nr. 301. 160
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1547 werden die originären Stiftseinkünfte in Höhe von 2740 Gulden und die 800 Gulden aus den thüringischen Klöstern Pfiffel162 und Nauendorf163 bei Allstedt bestätigt, insgesamt 3540. Dazu hatte Johann Friedrich noch 861 Gulden aus seiner Kammer zugeschossen. Dies tat er natürlich nicht mehr. Moritz wies sie aus dem Stift Altenburg an, obwohl bekannt war, dass sie ebenso wie die 800 Gulden aus den Klöstern Pfiffel und Nauendorf und von den Wittenberger Stiftseinkünften etwa 500 Gulden derzeit nicht gezahlt wurden. Bis die Zahlung wieder erfolgen würde, sollte der Fehlbetrag aus dem ehemaligen Zisterzienser-Kloster Buch bei Leisnig164 entrichtet werden. Nach Moritzens Tod musste sein Nachfolger August die Fundation erneut bestätigen, was am 23. Oktober 1555 geschah165. Die Stiftseinkünfte sind mit 2740 Gulden dieselben. Aus Altenburg kamen statt 800 Gulden nur 600. Aus Pfiffel und Nauendorf stehen der Universität nach wie vor 800 zu, die auch gezahlt wurden, aber wegen Streitigkeiten der Grafen von Mansfeld und Stolberg schwer einzutreiben waren. Die kurfürstliche Kammer zog sie deshalb an sich und wies statt dessen der Universität 800 Gulden aus dem Kloster Brehna166 an. Auf diese Weise kamen 4132 Gulden zusammen. Hiervon konnten 15 Professoren und 19 andere Bedienstete, überwiegend an der Schlosskirche, besoldet werden. Melanchthons Entscheidung für seine bisherige Wirkungsstätte Wittenberg und gegen die Neugründung in Jena hatte nicht nur die finanzielle Sicherung dieser Institution zur Folge, sondern erwies sich auch pädagogisch als ein voller Erfolg. In den letzten zwölf Jahren der Wirksamkeit Melanchthons war die Frequenz der Universität Wittenberg deutlich höher als zu Luthers Lebzeiten. Die Immatrikulationen stiegen von 1199 in den Jahren 1533 bis 1537 und 2016 von 1538 bis 1542 auf 2520 von 1543 bis 1547, auf 2494 von 1548 bis 1552, auf 3041 von 1553 bis 1557 und auf 3271 von 1558 bis 1562. Doch die höchste Fünfjahressumme wurde nach seiner Zeit erreicht: 3540 von 1568 bis 1572167.
162
Mönchpfiffel-Nikolausrieth, Kyffhäuserkreis, Bundesland Thüringen. Klosternaundorf, Gemeinde Wolferstedt, Kreis Sangerhausen, Bundesland Sachsen-Anhalt. Das unbedeutende Zisterzienserkloster wurde 1525 zerstört, 1531 säkularisiert und 1542 mansfeldische Domäne: Handbuch (wie Anm. 5), 514. 164 Siehe oben Anm. 146. 165 ISRAEL (wie Anm. 7), 122–127. - UUW 1, 308 f Nr 306. 166 Brehna, Kreis Bitterfeld, Bundesland Sachsen-Anhalt: Handbuch (wie Anm. 5), 54 f. - Karl P ALLAS, Die Registraturen der Kirchenvisitationen im ehemals sächsischen Kurkreise, Bd. 2/2 (1907), 308–342. 167 Album Academiae Vitebergensis, Bd. 3 (1905), 805 f. 163
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In Jena begann der Lehrbetrieb am 19. März 1548 mit zwei Professoren und 167 Studenten168. Das kaiserliche Privileg, ohne das jede Lehranstalt eine Hochschule ohne Promotionsrecht blieb, wurde erst im zehnten Jahr danach erteilt, nachdem Karls Bruder Ferdinand Kaiser geworden war. Am 2. Februar 1558 wurde die Universität Jena feierlich eröffnet169. Doch hatten schon vorher bedeutende Theologen und auch gute Juristen und Mediziner in Jena unterrichtet. In ihrer 450-jährigen Geschichte hat die Universität Jena zu allen Zeiten und in allen Fächern bedeutende Leistungen hervorgebracht und ein gleichbleibend hohes Niveau gehalten. Wittenberg hat die Ausrottung des Philippismus im Jahre 1574170 gut überstanden und eine Phase als bedeutende orthodoxe Universität erlebt, wenigstens in der Theologie und den Geisteswissenschaften171. Dass die Stadt eine stark bewehrte Festung war, hat der Universität schwer geschadet und sie schließlich zerstört. Vor 184 Jahren wurden die Vorlesungen im Collegium Fridericianum, in dem dieser Vortrag gehalten wurde172, eingestellt173. Bald wurden die beiden Gebäude zu Kasernen umgebaut und das eine durch einen Neubau ersetzt174. Dass sie heute wieder der Wissenschaft dienen, ist ein Grund für Dankbarkeit und Freude.
168
Die Matrikel der Akademie zu Jena 1548/1557, hrsg. v. Theodor LOCKEMANN und Friedrich SCHNEIDER (1927), IV. - Die Matrikel der Universität Jena, Bd. 1: 1548 bis 1652, hrsg. v. Georg MENTZ (1944), XXVIII. 169 Geschichte der Universität Jena, hrsg. v. Max Steinmetz, Bd. 1 (1958), 24–35 mit Bd. 2 (1962), 455–458. 170 Helmar J UNGHANS, Kryptocalvinisten: TRE 20 (1990), 123–129. - Hans-Peter HASSE, Paul Krell (1531–1579). Melanchthons „Enarratio Symboli Nicaeni“ (1550) und der Sturz des Philippismus in Kursachsen im Jahre 1574. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 427–463. 171 FRIEDENSBURG (wie Anm. 99), 347–517. - Kurt ALAND, Die Theologische Fakultät Wittenberg und ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Leucorea während des 16. Jahrunderts. In: DERS., Kirchengeschichtliche Entwürfe (1960), 283–394. - 700 Jahre Wittenberg (wie Anm. 8), 257–346. 172 Am 16. April 1997 im Rahmen der Festtagung „Philipp Melanchthon als Politiker zwischen Reich, Reichsständen und Konfessionsparteien“. 173 UUW 2, 601–634 Nr. 1064–1070. - KATHE (wie Anm. 9). - Helmar J UNGHANS, Martin Luther und Wittenberg (1996), 151–155. 174 B ELLMANN (wie Anm. 9).
Ein Irrtum Melanchthons: seine Warnung vor dem Fürstenkrieg 1551/52 Am 1. November 1551 war Kurfürst Moritz von Sachsen in Wittenberg1. Er kam von Magdeburg, wo er seine Truppen inspiziert hatte, die dort ohne großen Nachdruck die Reichsacht exekutieren sollten. Er brauchte sie für einen wichtigeren Zweck2. Nachdem er fünf Jahre zuvor durch den Angriff auf seinen Vetter (zweiten Grades) Johann Friedrich den Sieg des Kaisers über den Schmalkaldischen Bund unabwendbar gemacht hatte und dafür mit der sächsischen Kurwürde und weiten Gebieten um Wittenberg und Torgau belohnt worden war, hatte er schon auf dem „Geharnischten Reichstag“ begonnen, sich von Karls Politik zu entfernen: Er lehnte, beraten von Melanchthon und den anderen Theologen seines Landes, das Interim ab und verfolgte weiterhin in aller Öffentlichkeit seine eigene Kirchenpolitik, die der des Kaisers entgegenstand3. Insgeheim suchte er beim König von Frankreich, Heinrich II., politischen Rückhalt für seine weiterreichenden Pläne4. Karl hatte nach seinem Sieg den Bogen überspannt. Die deutschen Fürsten waren nicht gewillt, sich der „spanischen Servitud“ zu beugen. Unabhängig von Moritz sannen Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg und Markgraf Johann von Brandenburg-Küstrin auf Widerstand. Moritz stand außerdem in der Schuld seines Schwiegervaters Landgraf Philipp von Hessen, dem er geraten hatte, sich in der 1
MBW 6252 (an Georg von Anhalt, 3. 11. 1551). Die Ereignisse seit 1548 werden als Zusammenfassung der Quellenedition sehr genau geschildert von Johannes HERRMAN, Günther W ARTENBERG und Christian W INTER in PKMS 4 (1992), 11–36; 5 (1998), 13–46; 6 (2006), XIX–LVII. 3 Günther W ARTENBERG, Philipp Melanchthon und die sächsisch-albertinische Interimspolitik: Lutherjahrbuch 55 (1988), 60–82; auch in: DERS., Wittenberger Reformation und territoriale Politik. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Jonas Flöter und Markus Hein (2003), 87–103. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Brief an Carlowitz (1966): Forschungsbeiträge (1996), 304–332. - DERS., Das Augsburger Interim und die evangelischen Kirchen (1998): unten Nr. 23. 4 Günther W ARTENBERG, Die Politik des Kurfürsten Moritz von Sachsen gegenüber Frankreich zwischen 1548 und 1550. In: Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit. Festschrift für Hermann Weber zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Heinz Duchhardt und Eberhard Schmitt (1987), 71–102; auch in: DERS., Wittenberger Reformation und territoriale Politik (2003), 175–189. 2
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Hoffnung auf Begnadigung dem Kaiser zu stellen. Dass dieser die beiden Häupter des Schmalkaldischen Bundes unbefristet in strenger Gefangenschaft hielt, ließ zunehmend den Unmut ihrer Standesgenossen wachsen. Melanchthon erlangte von der Verschwörung der Fürsten anscheinend erst Ende September 1551 Kenntnis, als Räte des Kurfürsten Moritz in Wittenberg mit Vertretern Magdeburgs über einen Frieden verhandelten5. Gleichzeitig fanden in der Umgebung Wittenbergs die entscheidenden Verhandlungen mit Frankreich über das Fürstenbündnis statt6. Erstmals am 24. Oktober finden wir in seinen Briefen eine Andeutung über die drohende Gefahr7. Als ihn Moritz am 1. November zu einem Gespräch empfing, ging es um kirchliche Dinge, unter anderem um das Trienter Konzil8. Dass auch über die Fürstenverschwörung gesprochen wurde, bleibt Vermutung und ist eher unwahrscheinlich. Melanchthon wusste aber davon, und es gibt von ihm eine Denkschrift, worin er davor warnte9. Wahrscheinlich hat er sie an diesem 1. November seinem Landesherrn überreicht10. Dieses Memorandum ist in mehreren Abschriften überliefert11 und hat auch in jüngster Zeit Beachtung gefunden. Es wurde 1997 in die Auswahlausgabe »Melanchthon deutsch« aufgenommen12, und Günther Wartenberg hat ihm eine Untersuchung gewidmet13. Ohne Umschweife kommt Melanchthon zur Sache. Er warnt den Kurfürsten vor dem Anschluß an das von Frankreich unterstützte Fürstenbündnis, das nach seinen Informationen die Annektion der bischöflichen Territorien zum Ziel hat. Seine Begründung (§ 2) bedient sich grundsätz5
MBW 6222.3. PKMS 5, 15–19. 7 MBW.6243.1; vgl. auch 6244.1, 6248.1, 6280.1. 8 Wie Anm. 1. 9 MBW 6250; PKMS 5 , 456 f Nr. 237. 10 Zum Datum vgl. MBW 6, 227. 11 Der Melanchthon-Forschungsstelle Heidelberg sind derzeit acht Abschriften bekannt, die in MBW.T 20 nachgewiesen und verarbeitet werden. Der erste Druck erschien im Jahr 1600. 12 Melanchthon deutsch, hrsg. v. Michael Beyer, Stefan Rhein und Günther Wartenberg, Bd. 2 (1997), 252–254. 13 Günther W ARTENBERG, Philipp Melanchthon als politischer Berater seiner Kurfürsten: Ein Gutachten vom Herbst 1551. In: Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Uwe John und Josef Matzerath (1997), 329–338; vgl. auch DERS., Melanchthon – Kursachsen und das Reich (nach 1547). In: Philipp Melanchthon als Politiker zwischen Reich, Reichsständen und Konfessionsparteien, hrsg. v. Günther Wartenberg, Matthias Zentner und Markus Hein (1998), 225–239, bes. 232–234. - DERS.: Philipp Melanchthon und die kurfürstlich-sächsische Politik zwischen 1520 und 1560. In: Philipp Melanchthon und seine Rezeption in Skandinavien. Vorträge eines internationalen Symposions anläßlich seines 500. Jahrestages an der Königlichen Akademie der Literatur, Geschichte und Altertümer in Stockholm den 9.-10. Oktober 1997, hrsg. v. Birgit Stolt (1998), 13–23, bes. 21. 6
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lich-ethischer, vor allem aber pragmatisch-historischer Argumente, ohne sie zu trennen. Er zeigt Verständnis dafür, dass Moritz nicht länger zusehen kann, wie der Kaiser entgegen seiner dem Sachsen gegebenen Zusagen dessen Schwiegervater Philipp von Hessen nun schon seit mehr als vier Jahren in Gefangenschaft hält, meint aber, ein Krieg gegen den Kaiser sei dennoch nicht zu verantworten. Er führt dafür zwei Gründe an: zunächst die Art der dafür bereitstehenden Bundesgenossen, die er als unsicher und gefährlich charakterisiert. Der zweite Grund ist das zu erwartende, wenn auch nicht bezweckte Ergebnis: die Zerstörung des deutschen Reichs. Die notorische Treulosigkeit Frankreichs (§ 3) belegt Melanchthon knapp und andeutungsweise – er war sich offenbar sicher, von Moritz und seinen Räten verstanden zu werden – zunächst mit Beispielen aus seiner eigenen Lebenszeit: Frankreich habe deutsche Fürsten gegen ihren Oberherrn aufgehetzt und dann im Stich gelassen, Kurfürst Philipp den Aufrichtigen von der Pfalz im Erbfolgekrieg um Bayern-Landshut14, Herzog Ulrich von Württemberg, der im Bauernkrieg sein Land zurückerobern wollte15, Herzog Heinrich den Mittleren von Braunschweig-Lüneburg in der Hildesheimer Stiftsfehde16, sowie die missglückte Machtpolitik der Hansestadt Lübeck unter dem Bürgermeister Jürgen Wullenwever17. Alle hatten auf Hilfe aus Frankreich gesetzt und waren im Stich gelassen worden. Völlig treulos verhielt sich König Franz I. von Frankreich gegen die Schmalkaldischen Bundeshäupter Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, als er deren Korrespondenz wegen eines Bündnisses dem Kaiser zustellte18. Schließlich weist Melanchthon darauf hin, dass Franz von Frankreich sogar die Kooperation mit den Türken gegen den Kaiser nicht scheute19. Aber auch die Verschwörer hält Melanchthon für unzuverlässig (§ 4). Er hält es für möglich, dass sie sich mit dem gefangenen Johann Friedrich und seinen Söhnen gegen Moritz verbünden könnten. Andererseits werde das Ziel der Verschwörer, die Bistümer zu beseitigen, 14
Hermann W IESFLECKER, Maximilian I.: Die Fundamente des habsburgischen Weltreiches (1981), 228. 15 Volker PRESS, Ein Epochenjahr der württembergischen Geschichte: Restitution und Reformation 1534: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 47 (1988), 211. Franz BRENDLE, Dynastie, Reich und Reformation: Die württembergischen Herzöge Ulrich und Christoph, die Habsburger und Frankreich (1998), 78 f, 84. 16 Germania Sacra NF 37,1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Köln: Das Bistum Münster 7,1: Die Diözesen, bearb. v. Wilhelm KOHL (1999), 205 f. - Stefan B RÜDERMANN, Das Zeitalter der Glaubensspaltung (1495-1534). In: Die Braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region, hrsg. v. Horst-Rüdiger Jarck und Gerhard Schildt (2000, ²2001), 446. 17 Günter KORELL, Jürgen Wullenwever. Sein sozial-politisches Wirken in Lübeck und der Kampf mit den erstarkenden Mächten Nordeuropas (1980), 88. 18 Nicht ermittelt. 19 Georg MENTZ, Johann Friedrich der Grossmütige 1503-1554, Bd. 3 (1908), 71.
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bewirken, dass Papst, Kaiser und Frankreich gemeinsam gegen sie vorgehen werden (§ 5). Soweit Melanchthons politische Analyse. Nun fällt er ein ethisches Urteil (§ 6): Das Vorhaben der Verschwörer ist Aufruhr, eine rechtswidrige Gewalttat. Melanchthon glaubt, dass Gott dazu kein Glück gebe, und er zitiert Matth. 26, 52: „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen“. Als geschichtskundiger Realist kann er einen Erfolg aber dennoch nicht ausschließen. In diesem Fall, so argumentiert er wieder politisch, würde Moritz sich danach mit ihnen auseinandersetzen müssen. Auch weiterhin kombiniert Melanchthon theologisch-ethische Grundsätze mit historisch-politischem Pragmatismus (§ 7): Der Kaiser ist die rechtmäßige Obrigkeit, und Gott halte sich meistens an die Regel, dass Ungehorsam scheitert. Insbesondere sei bisher jedes Unternehmen gegen Karl V. vergeblich gewesen. Melanchthons Beispiele machen keinen Unterschied zwischen souveränen Gegnern des Habsburgers, nämlich Frankreich, die Päpste (Clemens VII. und Paul III.), die Republik Venedig, und den Gebieten seiner persönlichen Herrschaft, nämlich Spanien und Deutschland. Nun setzt sich Melanchthon mit der Forderung eines Präventivschlags zur Verhinderung der zu erwartenden Konzilsexekution auseinander (§ 8). Er lehnt ihn ab, wobei er Matth. 22, 21 „Gebt Gott, was Gottes ist“ zitiert, wo ja auch und zuerst dem Kaiser sein Recht gegeben wird, und den auf Papst Damasus I. (366–384) zurückgehenden Grundsatz, man dürfe nicht Böses tun, um Gutes zu bewirken20, anführt, kurz und ohne Erläuterung auch die „Regel der Vocation“, womit er offenbar auf 1. Kor. 7, 20–24 anspielt, wonach jeder in seinem Stand bleiben soll; in den Loci hat er diese Regel als Teil seiner politischen Ethik ausgeführt21. Aber grundsätzlich und in jedem Fall lehnt er einen Präventivkrieg nicht ab („nicht Ursach genug“). Zu Beginn des Schmalkaldischen Krieges haben die Wittenberger Theologen unter Melanchthons Federführung sogar dem Präventivschlag des Kurfürsten Johann Friedrich nicht entschieden widersprochen, sondern nur die Gewissheit über die Angriffspläne des Kaisers verlangt und insgesamt zur Besonnenheit geraten22. Auch nun, vor dem Fürstenaufstand 1551, meint er, die Prävention sei „nicht Weisheit, sondern Furcht“. Abschließend (§ 9) warnt Melanchthon seinen Fürsten mit eindringlichen Worten vor den Folgen des geplanten Krieges. Wäre der Kaiser im Schmalkaldischen Krieg ums Leben gekommen, so wäre zwischen den wettinischen Kriegsgegnern und ihren Parteigängern ein 20
Detlef LIEBS, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter (61998), 157 Nr. 143. 21 CR 21, 1004–1007. 22 Heinz SCHEIBLE, Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523-1546 (1969, ²1982), 98–100; MBW 4276.
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Bürgerkrieg entstanden, der die ganze Ordnung des Reichs zerstört hätte. Solches befürchtet Melanchthon auch jetzt. Ein Aufstand gegen den Kaiser und die Ordnung des Reichs sei nicht zu verantworten. Als Anhang (§ 10) zählt Melanchthon sechs Empörer gegen Kaiser Otto I. auf, die alle scheiterten, einige ums Leben kamen. Es sind die Herzöge Heinrich von Bayern, Ottos Bruder23, Ludolf von Schwaben, sein Sohn24, Arnulf von Bayern, Heinrichs Schwiegervater25, Giselbert von Lothringen, Mitkämpfer Eberhards bei Andernach 93926, Eberhard von Franken, Mitverschwörer Heinrichs und Giselberts27, und Erzbischof Friedrich von Mainz, Parteigänger Ludolfs28. Melanchthon konnte alle sechs Aufrührer in einem Werk finden, bei dessen Drucklegung er als junger Gelehrter in Tübingen geholfen hatte29, und das er seither wahrscheinlich besaß: in der monumentalen Weltchronik des Johannes Nauclerus30. In der damals noch ungedruckten Chronik des Thietmar von Merseburg, die er im August 1538 von Georg Spalatin erhalten hatte31, sind nur drei von ihnen namentlich genannt.32 Eine Antwort des Kurfürsten auf Melanchthons Memorandum ist nicht bekannt und unwahrscheinlich. Für Moritz war und blieb der Professor ein Mittel seiner Politik, zuständig nicht für den Krieg, sondern für das Konzil, das seit Mai 1551 wieder nach Trient einberufen war. Melanchthon hatte dafür die reifste seiner Bekenntnisschriften, die »Confessio Saxonica«, verfasst33 und musste sich im Januar 1552 auf den Weg über die Alpen machen. Doch Moritz verfolgte unbekümmert darum seine Kriegsziele. Mitte März schlug er los. Damit war die sächsische Konzilsgesandtschaft
23
MBW 11 (2003), 128. Lexikon des Mittelalters 5 (1991), 2039. 25 MBW 11 (2003), 127. 26 Lexikon des Mittelalters 4 (1989), 1466; DBE 4 (1996), 16. 27 MBW 12 (2005), 82. 28 MBW 12 (2005), 94. 29 Stefan RHEIN: Buchdruck und Humanismus - Melanchthon als Korrektor in der Druckerei des Thomas Anshelm. In: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland/ hrsg. von Stefan Rhein; Armin Schlechter; Udo Wennemuth. Karlsruhe 1997, S. 63-74. 30 Johannes NAUCLERUS, Memorabilium omnis aetatis et omnium gentium chronici commentarii, Bd. 2 (1516), Bl. 139–141. Der vollständige Titel bei Karl STEIFF, Der erste Buchdruck in Tübingen (1498–1534) (1881, Repr. 1963), 128–131. 31 MBW 2086.7; MBW.T 8, 199.41–44. 32 Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, hrsg. v. Robert HOLTZMANN (MGH.SRG NS 9, 1935), 82 § 34. 33 Günther W ARTENBERG, Die Confessio Saxonica als Bekenntnis evangelischer Reichsstände. In: Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe, hrsg. v. Christine Roll, Bettina Braun und Heide Stratenwerth (1996), 275–294; auch in: DERS., Wittenberger Reformation und territoriale Politik (2003), 175–189. 24
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obsolet geworden. Melanchthon blieb in Nürnberg hängen und kehrte noch im März nach Wittenberg zurück34. Aus seiner Ablehnung des Fürstenkrieges machte er keinen Hehl und hielt sein Memorandum nicht geheim. Dass er am 30. November 1551 seinen Freund Joachim Camerarius in Leipzig davon unterrichtete35, verwundert nicht. Doch schon am 11. Dezember deutet er an, dass seine Denkschrift „vielen“ bekannt wurde36. Auch als der Kaiser zur Flucht aus Deutschland gezwungen war und sich ein Friedensschluss anbahnte, blieb er bei seiner Ablehnung des Unternehmens37. Den Passauer Vertrag und den Augsburger Religionsfrieden begrüßte er natürlich38, aber er war an den Verhandlungen nicht beteiligt. Das als Folge des Friedens anberaumte Religionsgespräch in Worms39 fiel dann wieder in seine Zuständigkeit. Über den Fürstenkrieg hat er sich nicht mehr geäußert. Auch in den Würdigungen des schon im Jahr danach im Kampf gegen den Landfriedensbrecher Albrecht Alcibiades gefallenen Kurfürsten erwähnte er den Fürstenkrieg, der doch die dauerhafte Sicherung der lutherischen Kirchenreform zur Folge hatte, mit keinem Wort. Am 16. Juli 1553 schrieb die Universität Wittenberg an die kursächsische Regierung in Torgau40 und brachte ihre Trauer zum Ausdruck. Verständlicherweise steht hier der aktuelle Anlass im Vordergrund: Moritz starb in einem gottgewollten Verteidigungskrieg und im rechten Glauben. Die Würdigung bleibt im Allgemeinen: Er schützte die christliche Lehre, war Förderer der Künste und Wohltäter; ganz Deutschland verlor in ihm einen Beschützer gegen Türken und Aufruhr. Die lateinische Verlautbarung des Rektors der Universität Wittenberg von gleichen Tag41 würdigt den Verstorbenen ausführlicher. Verfasser beider Schriftstücke ist sehr wahrscheinlich Melanchthon. Ein Zitat aus der Grabrede des Aeneas auf Pallas42, seinen italischen Freund und Bundesgenossen, der in einer blutigen Schlacht im Zweikampf von Turnus getötet wurde, stellt den analogen Tod des Kurfürsten Moritz in einen weltgeschichtlichen Zusammenhang. „Dem es an Tugend nicht mangelte, raffte ein schwarzer Tag dahin und versenkte ihn im bitteren Grab.“ Seine 34
Heinz SCHEIBLE: Melanchthon. Eine Biographie (1997), 207–215. MBW 6266.1. 36 MBW 6671.2 (an Albert Hardenberg). 37 MBW 6387.2 (an Michael Meienburg, 21. 3. 1552);.6480.1 (an Georg von Anhalt, 30. 6. 1552). 38 MBW 6551 f, 6560, 7597. 39 Benno von B UNDSCHUH, Das Wormser Religionsgespräch von 1557 unter besonderer Berücksichtigung der kaiserlichen Religionspolitik (1988). 40 MBW 6900. 41 CR 8, 125 f Nr. 5433. 42 Vergil, Aeneis 11, 27 f. 35
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hervorragenden Geistesgaben und Tugenden sind insbesondere besonnene Planung, Beredsamkeit, Kriegskunst, Rechtsprechung, Liebenswürdigkeit, Förderung der Studien, schließlich seine Frömmigkeit, die sich gerade im Sterben bewährte. Auch in seinen Privatbriefen bleibt Melanchthon allgemein. „Das Vergangene kann man tadeln, ändern kann man es nicht“, schreibt er am 20. Juli 1553 an den Pfarrer der Altstadt Brandenburg Christoph Leib, seinen ehemaligen Schüler43, und fährt fort: „Deshalb rede ich nicht über das Unglück und seine Ursachen, sondern trauere um den toten Fürsten, der seine herausragende Tapferkeit auch in dieser letzten Schlacht bewiesen hat, in der er verraten und verlassen wurde, aber dennoch siegte. [...] Eine große Veränderung im ganzen deutschen Reich steht bevor.“ Tiefer lässt er seinen Freund Michael Meienburg, den Bürgermeister von Nordhausen, blicken44: Nicht nur der frühe Tod des Fürsten schmerzt ihn, sondern schon ehedem war er über dessen Freundschaft mit Albrecht Alcibiades, seinen gegenwärtigen Feind, bekümmert. Dies ist eine Anspielung an den Fürstenkrieg, in dem die beiden Verbündete gegen den Kaiser waren. Einen Rückblick auf die seit dem Schmalkaldischen Krieg vergangenen sieben Jahre gibt er am 26. August 1553 dem Straßburger Theologen Johannes Marbach, einem Wittenberger Doktor45. Anders als in unseren Geschichtsbüchern kommt der Passauer Vertrag darin überhaupt nicht vor, denn tatsächlich gingen die Kämpfe, von Melanchthon als Bürgerkriege bezeichnet, ungebremst weiter. Der Friede von 1555 lag ja noch im Dunkel der Zukunft. „Wie viele traurige Ereignisse haben wir in diesen sieben Jahren gesehen, Fürsten wurden geschlagen und gefangen, Staaten ausgeplündert, Städte durch Feuer zerstört, Fürsten getötet, und dennoch ist man nicht zum Frieden bereit.“ Vielmehr sind nach dem Tod des Kurfürsten Moritz von Sachsen neue Kriege zu befürchten. Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel besetzt die Städte des Erich von BraunschweigCalenberg, und der bei Sievershausen geschlagene Albrecht von Brandenburg-Kulmbach rüstet wieder auf. Zwar wurde in Leipzig über einen Frieden beraten, aber Melanchthon rechnete durchaus mit einem Angriff Albrechts auf Kursachsen und dann sogar mit Exil oder Tod46. All diese Ereignisse konnten ihn in seiner vor nicht ganz zwei Jahren gemachten Prognose nur bestätigen. Der Tod Johann Friedrichs, den Moritz um seine Kurwürde gebrachte hatte, gab den Anlass zu erneutem Rückblick auf diese Fürsten, in deren 43
MBW 6905 = CR 8, 127 f Nr. 5435. MBW 6907 (22. 7. 1553) = CR 8, 128 Nr. 5436. 45 MBW 6950 = CR 8, 144 f Nr. 5459. 46 Ebd. 44
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Dienst er insgesamt 22 Jahre seines Lebens stand. Er bedauert ihre Zwietracht. Vereint hätten sie für Sachsen und ganz Deutschland segensreich wirken können47. Einen Lichtblick stellt der am 24. Februar 1554 in Naumburg zwischen Moritzens Nachfolger Kurfürst August von Sachsen und Johann Friedrichs Söhnen geschlossene Vertrag dar, in dem die seit dem Schmalkaldischen Krieg anhängigen Differenzen bereinigt wurden48. 1556 ließ Kurfürst August die Turmhauben der Wittenberger Stadtkirche, die im Schmalkaldischen Krieg zu Verteidigungszwecken abgebaut worden waren, im Stil der Zeit wieder aufbauen. Melanchthon verfasste eine Denkschrift, die mit anderen Memorabilien in die Turmknäufe eingelassen wurde49. Darin schildert er die Geschichte der Stadt Wittenberg und ihrer Fürsten. Vier exakte Jahreszahlen werden genannt, 1423 der Übergang der Kurwürde an die Wettiner, 1502 die Gründung der Universität durch Friedrich den Weisen, der zuvor der Schloss erbaut hatte, 1517 mit Luthers Thesen über Buße und Glauben der Beginn der Reformation, 1546 nach Luthers Tod der Schmalkaldische Krieg mit den namentlich genannten Akteuren Kaiser Karl V., Papst Paul III., Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, Landgraf Philipp von Hessen und Herzog Moritz von Sachsen mit seinem Angriff auf Zwickau, der Johann Friedrich zur Rückkehr bewog. 1547 ist die Schlacht bei Mühlberg erwähnenswert, wo Johann Friedrich am 24. April in Gefangenschaft geriet, aus der er erst 1552 entlassen wurde und am 13. September nach Saalfeld kam. Warum es zu seiner Entlassung kam, nämlich durch den Fürstenkrieg (unser Thema!), wird nirgendwo erwähnt. Vielmehr kehrt Melanchthons Bericht ins Jahr 1547 zurück und schildert ausführlich die Belagerung von Wittenberg und den Übergang der Stadt mitsamt der Kurwürde an Moritz, was dem Zweck dieses Dokuments im Zusammenhang mit der Reparatur der Kriegsschäden angemessen ist. Als positiven Aspekt weist Melanchthon darauf hin, dass der Kaiser die Kurwürde immerhin in der Familie der Wettiner gelassen hatte. Über 47
MBW 7110 (11. 3. 1554 an Georg Fabricius); 7112 (13. 3. 1554 an Johannes Mathesius); 7113 (14. 3. 1554 an Christoph Singel); 7115 (16./17. 3. 1554 an Georg Buchholzer); 7117 (16./17. 3. 1554 an Petrus Vincentius); 7120 (20. 3. 1554 an Johann Baptist Haintzel). 48 MBW 7117.6 (16./17. 3. 1554 an Petrus Vincentius); 7120 (20. 3. 1554 an Johann Baptist Haintzel); vgl. 7, 152 f bei Nr.7066. Zur Literatur siehe Volker LEPPIN, Die ernestinischen Beziehungen zu Kursachsen – um das Erbe der Reformation. In: Die sächsischen Kurfürsten während des Religionsfriedens von 1555 bis 1618, hrsg. v. Helmar Junghans (2007), 67–80, bes. 72 Anm. 25. - Enno B ÜNZ, Eine Niederlage wird bewältigt – Die Ernestiner und Kursachsen 1547 bis 1554. In: Moritz von Sachsen – Ein Fürst der Reformationszeit zwischen Territorium und Reich, hrsg. v. Karlheinz Blaschke (2007), 94–117. 49 MBW 7952.
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Moritz schreibt Melanchthon, er habe milde regiert und das Land gegen diejenigen verteidigt, die in der Nachbarschaft neue Unruhen entfacht hätten. Dass er selbst 1552 einen Krieg gegen den Kaiser begonnen und damit Geschichte geschrieben hatte, wird nicht erwähnt, sondern es werden ausführlich die Umstände seines Todes 1553 geschildert. Bei seinem Nachfolger August ist der Ausgleich mit den Ernestinern bemerkenswert. Zwei Jahre später wurde auch an der Schlosskirche der Turm erneuert, wofür Melanchthon ein nahezu gleichlautendes Dokument verfasste50. Kurfürst August wird entsprechend seiner inzwischen fünfjährigen Regierungszeit ein wenig ausführlicher gewürdigt. Dass in dieser Zeit der Augsburger Religionsfrieden geschlossen wurde, findet keine Beachtung. Das entscheidende Frieden sichernde Ereignis ist in Melanchthons Sicht die einstimmige Wahl Ferdinands zum Kaiser 1558. Warum wird Moritz von Sachsen von Melanchthon so ganz anders gesehen als von der neueren (und älteren) Geschichtswissenschaft? Sogar ganz knappe Darstellungen erwähnen außer seinem Eingreifen in den Schmalkaldischen Krieg die Fürstenverschwörung 1551/52. Er wird dafür sogar „Retter des Protestantismus“ genannt51. Konnte Melanchthon die historische Relevanz dieses Ereignisses, das den Passauer Vertrag und den Augsburger Religionsfrieden zur Folge hatte, nicht erkennen? Dies ist unwahrscheinlich, doch weil er sich dazu nicht geäußert hat, bleiben wir auf Vermutungen angewiesen. Melanchthon hatte sich nachdrücklich gegen den Fürstenaufstand ausgesprochen, teils aus grundsätzlichen ethischen Gründen, teils wegen seiner pragmatischen Prognose des Scheiterns. Deshalb dürfte es ihm schwer gefallen sein, dieses entgegen seiner Erwartung erfolgreiche Unternehmen mit nach wie vor zumindest problematischer moralischer Berechtigung als eine epochale historische Leistung anzuerkennen. Vielleicht hat er sich dies nicht explizit klar gemacht, sondern das Problem verdrängt. Die Wittenberger Theologen (und nicht nur diese) hatten ja ein ambivalentes Verhältnis zum Krieg, insbesondere zum Recht des bewaffneten Widerstands. Bedingungslose Pazifisten waren sie niemals. Luther und mit ihm Melanchthon52 lehnten den Widerstand gegen den Kaiser als Obrigkeit bis zum Augsburger Reichstag 1530 grundsätzlich ab. Eine Verteidigung gegen Gleichgestellte hielten sie aber schon damals für möglich, und die 50
MBW 8686 (12. 8. 1558). Günther W ARTENBERG, Moritz von Sachsen: TRE 23 (1994), 302–311, bes. 308.1. Gottfried SEEBASS, Geschichte des Christentums III: Spätmittelalter – Reformation – Konfessionalisierung (2006), 201. Weitere Beispiele knapper Darstellungen aus jüngster Zeit: Axel GOTTHARD, Das alte Reich. 1495-1806 (2 2005), 43–45. - Olaf MÖRKE, Die Reformation: Voraussetzungen und Durchsetzung (2005), 61 f. - Helga SCHNABELSCHÜLE, Die Reformation 1495-1555: Politik mit Theologie und Religion (2006), 209 f. 52 Heinz SCHEIBLE, Philipp Melanchthons Ethik des Friedens (2000): oben Nr. 12. 51
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blutige Niederwerfung der aufständischen Bauern war ihnen eine selbstverständliche Pflicht der Fürsten. Nach dem Scheitern der Ausgleichsverhandlungen des Augsburger Reichstags ließen sie sich durch staatsrechtliche Argumente zur Bejahung des bewaffneten Widerstands gegen die Unterdrückung der Reformation durch den Kaiser gewinnen. In der Folge wurde die Reformation auch durch kriegerische Aktionen erweitert, 1534 in Württemberg, 1542 in Braunschweig-Wolfenbüttel. Melanchthon war darüber niemals hell begeistert, und er mahnte immer wieder zur Zurückhaltung und Besonnenheit. Nur der endgültige Sieg über den unerbittlichen Luthergegner Heinrich von Wolfenbüttel löste auch bei ihm trotz Kritik an der eigenen Partei dann doch freudige Zustimmung aus. Vor und in dem Schmalkaldischen Krieg stärkten Melanchthon und die anderen Wittenberger Theologen die Verteidigungsbereitschaft ihres Kurfürsten Johann Friedrich nachdrücklich, wobei sie sogar einen Präventivschlag für erlaubt hielten. In diese Linie hätte auch der Kampf des Kurfürsten Moritz gegen den Kaiser, der über das Nahziel der Befreiung der gefangenen Standesgenossen hinaus zur dauerhaften Sicherung der Reformation lutherischer Prägung in Deutschland führte, positiv bewertet werden können. Melanchthon hat dies nicht getan. Im Nachhinein muss man feststellen: er hat sich darin geirrt.
Christliches und humanistisches Menschenbild nach Philipp Melanchthon, ein Leitfaden für politisches Handeln im 21. Jahrhundert Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland wird gegenwärtig von demokratischen Parteien gestellt, die sich als christlich oder sozial oder als beides bezeichnen. Die christlichen Parteien vertreten programmatisch ein christliches Menschenbild, das sie den anderen absprechen, aber dennoch von ihnen einfordern, sogar von Nichtchristen, die Bürger der BRD sein oder werden wollen. Was diese programmatische Forderung inhaltlich bedeutet, wird zumeist nicht erläutert, sondern als bekannt vorausgesetzt. Der folgende Beitrag ist bemüht, das Christliche eines Menschenbilds inhaltlich zu bestimmen und von dem allgemein Menschlichen, dem Humanistischen, abzuheben. Er sucht dabei Rat bei demjenigen Kirchenreformator der beginnenden europäischen Neuzeit, der mehr als alle anderen auch als Humanist betrachtet wird, bei Philipp Melanchthon1.
I Religion ist das Opium des Volks. Diese Behauptung, die Karl Marx vor rund 160 Jahren formulierte2 und bei seinen Anhängern lange als Slogan im Umlauf war (oft in der Fassung Opium für das Volk), ist in der Bundesrepublik Deutschland politisch nicht korrekt. Marx ist tot und Jesus lebt, gilt mindestens seit der Wende 1989. Die CDU verankert das christliche Menschenbild, wie sie es nennt, in ihrem Programm und möchte es in unserem Staat verbindlich machen, und die SPD und die Grünen hüten sich, nachdrücklich etwas dagegen zu sagen. Auch hier ist das Bekenntnis 1
Diese mehrmals mündlich vorgetragenen allgemeinverständlichen Überlegungen sind ein Ergebnis meiner langjährigen Studien über Melanchthon. Sie eröffnen das neu gegründete Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte, weil sie exemplarisch zeigen, dass historische Arbeit durchaus Relevanz für aktuelle Entscheidungen haben kann, und weil sie den größten Theologen betreffen, der dem Gebiet unserer heutigen badischen Landeskirche entstammt. 2 Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Karl MARX, Friedrich ENGELS, Werke, Bd. 1 (1977), 78.
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zu einer Kirche zu einem eher positiven Signal geworden. Lediglich die Liberalen und die ganz Linken sind maßvoll ablehnend. Aber nicht nur bei uns, weltweit sind die Religionen so stark wie eh und je, vielleicht so wirkungsmächtig wie selten zuvor. Doch ihre Wirkung ist augenscheinlich keine friedliche. Dies war, zumindest im aufgeklärten Mitteleuropa, eine Zeitlang anders. Nicht nur die Marxisten, auch die Bildungsbürger fühlten sich über die Religion erhaben. Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, Hat auch Religion; Wer jene beiden nicht besitzt, Der habe Religion, spottete Goethe3 und befand sich dabei auf der Ebene des Opium für das Volk. Doch Marx und Goethe sind wie alle Religionskritiker im Irrtum, oder sie verwechseln Religion mit Kirche, einer jeweils sehr verschiedenen Erscheinungsform von Religion. Religion gehört wie das Geschichtsbewusstsein konstitutiv zum Menschsein. Ein Tier lebt instinktiv aus der Gegenwart. Der Mensch weiß um seine Vergangenheit und sorgt sich um die Zukunft, während ein Tier allenfalls Vorräte für den Winter anlegt und noch weiß, wo es diese versteckt hat. Der Mensch jedoch denkt weit in die Vergangenheit zurück und fragt, wo er herkommt. Die Verehrung der Ahnen ist die wohl älteste Gestalt von Religion. Friedhöfe sind noch immer zentrale Orte von Religion, und viele unserer Zeitgenossen begegnen einem Pfarrer immerhin noch bei Beerdigungen. In der Regel ist der Tod von Verwandten und Freunden eng mit Religion verbunden, und der unausweichliche eigene Tod stellt uns vor die Frage, warum und wozu wir leben, und was danach mit uns geschieht. Antworten darauf geben Philosophen und Theologen, erstere meist recht mühsame und einseitig den Verstand ansprechende, die Theologen und Geistlichen als die Vermittler von Religion nicht immer so stringent, weil von unbeweisbaren Prämissen ausgehend, dafür aber gemütvoller und brauchbarer für’s Leben. Man sollte sich und seinen Gesprächspartnern immer deutlich machen, wenn man über religiöse Phänomene spricht, ob man dies philosophisch oder theologisch tut. Ich spreche zunächst philosophisch, d. h. rational, religionswissenschaftlich, und werde signalisieren, wenn ich von Aussagen des Wissens zu Sätzen des Glaubens übergehe. Religion ist eine wundervolle Angelegenheit. Sie vermittelt Geborgenheit, denn sie hilft, die Rätsel der Vergangenheit zu lösen, mit den Problemen der Gegenwart zurecht zu kommen und die Ängste vor der Zukunft zu bestehen. Anders als die Philosophie verlangt sie kein angestrengtes Nachdenken, sondern sie bietet Lösungen an, für Intellektuelle in Gestalt von zum Teil höchst eindrucksvollen Systemen, für alle Menschen fassbare 3
Zahme Xenien, Verse 704–707: GOETHES Werke, Weimarer Ausgabe, I. Abt. Bd. 5/1 (1893), 134.
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Rituale, die den ganzen Menschen in seiner Leiblichkeit ansprechen. Im Christentum beginnt dies mit der Taufe und führt dann zum regelmäßigen Gottesdienst mit Kommunion, dessen Feierlichkeit bei den Katholiken gesteigert werden kann bis hin zur Papstmesse, aber auch in den anderen Konfessionen meist eindrucksvoll gestaltet wird. Hochzeiten und Begräbnisse gehören zum regulären Leben, ebenso die Initiationsriten der Erstkommunion und Konfirmation, an deren Stelle Freigeister die Jugendweihe erfunden haben, auch eine Art von Religion. Außergewöhnliche Ereignisse sind Wallfahrten und Kirchentage, Prozessionen und Passionsspiele und manch anderes, das für viele Menschen wichtig und unverzichtbar ist und deshalb von liberalen Staaten respektiert und gefördert wird. Wenn aber solche Phänomene zur christlichen Leitkultur erhoben werden, dann bringt das ein großes Problem mit sich. Ich meine jetzt nicht in erster Linie die Frage, ob man Nichtchristen, die bei uns wohnen oder sogar Mitbürger sind, auf eine christliche Kultur verpflichten darf (davon später), sondern das Problem besteht darin, dass die genannten Manifestationen der christlichen Religion nicht einmal von allen Christen nachvollzogen werden können. Wer sich am Posaunentag im Ulmer Münster berauscht, hält vielleicht den Blutritt von Weingarten für Götzendienst, und wer ein levitiertes Hochamt schätzt, kann dem Liebesmahl der Brüdergemeine wenig abgewinnen. Damit sind wir bei dem zweiten Proprium von Religion: Religion vermittelt zwar Geborgenheit, Heimatgefühl und Glück, aber sie tut dies nur für bestimmte Gruppen. Religion ist nicht universal, sondern begrenzt, beschränkt auf ihren je eigenen Kulturkreis. Damit ist der nächste Schritt nicht weit: sie grenzt aus. Wer sich nicht anpasst, gehört nicht dazu, und wer dazu gehören will, soll sich bitte anpassen. Die altkirchlichen Synoden kamen unter Leitung des Heiligen Geistes immer zu einstimmigen Beschlüssen – nachdem die Minderheit ausgezogen war und zuweilen eine Gegensynode gebildet hatte. Diese Mentalität steht auch hinter der Forderung nach einer Leitkultur. Bei den Hochreligionen unseres Kulturkreises, dem Judentum, Christentum und Islam, kommt hinzu, dass sie den Anspruch erheben, die absolute Wahrheit zu vertreten, weil nämlich diese Wahrheit von Gott geoffenbart und in heiligen Schriften niedergelegt wurde. So jedenfalls die Meinung der orthodoxen Vertreter aller drei Religionen, die man auch fundamentalistisch nennt. Sie halten an dieser Meinung fest, obwohl sie durch die Realität sogar ihres eigenen Verhaltens ständig widerlegt wird. Bleiben wir beim Christentum. Hier gilt die Bibel als Gottes Wort, worin Gott seinen Willen den Menschen geoffenbart hat, manche meinen sogar wortwörtlich durch den Heiligen Geist. Die Bibel wird dadurch zu einem Gesetzbuch wie die Tora und der Koran. Aber kein Gesetzbuch,
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auch kein bürgerliches, von Juristen gemachtes, ist ohne Auslegungen brauchbar. Die römisch-katholische Kirche hat dafür im Lauf der Jahrhunderte das höchste und unfehlbare Lehramt entwickelt. Sie bezahlt dies mit einer Fülle von Traditionen, die ihre Aktualität behindern, sie andererseits vor Modernismen bewahren. Die von Martin Luther ausgelöste Reformation des 16. Jahrhunderts hat dagegen das Schlagwort sola scriptura gesetzt, das im Protestantismus noch immer gilt, ja konstitutiv ist. Es bedarf aber ebenfalls der Erläuterung. Es ist eine Kampfparole gegen die lähmenden und unsinnigen Traditionen. Doch schon für Luther war die Bibel, die Heilige Schrift, kein monolithisches Gesetzbuch, sondern Zeugnis des Wortes Gottes von unterschiedlichem Gewicht. Große Teile des Alten Testaments hat er als der Juden Sachsenspiegel4 historisiert, ganz im Einklang mit dem Apostel Paulus, der das Ende des Gesetzes verkündete (Röm 10, 4; Gal 3, 23–27), oder sogar mit Jesus, der etwa mit dem von orthodoxen Juden streng befolgten Sabbatgebot sehr frei umging (Mk 2, 23–28; 3, 1–6), oder er hat den Jakobusbrief, der die Rechtfertigungslehre, wie er sie verstand, nicht lehrte, sehr negativ beurteilt5. Dieser freie Umgang mit der Bibel ist noch immer nicht Gemeingut geworden. Es gibt immer noch Menschen, die sich argumentativ auf „die Bibel“ berufen, obwohl sie keine einheitliche Offenbarung Gottes ist, sondern eine Sammlung von Zeugnissen von Erfahrungen mit Gott aus mehr als 1000 Jahren religiöser Geschichte. Ihre Aussagen müssen jeweils in ihrem historischen und literarischen Kontext verstanden werden. Dies wird in der Regel nicht beachtet, wenn vom „christlichen Menschenbild“ gesprochen wird. Vor allem Politiker tun dies, als sei allen klar, was darunter zu verstehen ist. Man ist geneigt anzunehmen, dass Urbild und Vorbild dafür Jesus von Nazaret ist. Immer wieder haben ernste Christen versucht, ihm nachzufolgen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, allen voran der heilige Franz von Assisi, sind die meisten gescheitert. Auf jeden Fall konnten und wollten sie sich in der Welt nicht behaupten, sondern wurden Mönche, Nonnen oder Stille im Lande. So auch Martin Luther, und er hat das intendierte Ziel der Vollkommenheit nicht erreicht, ist gescheitert, gerade weil er die Nachfolge Christi radikal ernst nahm. Wenn wir ein sozusagen ermäßigtes christliches Menschenbild nehmen, dann bleibt zumindest die Feindesliebe und das Mitleid mit den Schwachen. Lassen wir dahingestellt, ob dies exklusiv christlich ist oder auch von anderen Religionen und Ethiken gefordert wird, so muss man 4
Heinrich BORNKAMM, Luther und das Alte Testament (1948), 104–107. Vorrede zu seiner Übersetzung von 1522: WA Bibel 7 (1931), 384–399. Vgl. auch ebd., Tischreden 3 (1914), 253 f Nr. 3292; 5 (1919), 157 Nr. 5443; 382 Nr. 5854; 414 Nr. 5974. 5
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zugeben, dass es in unserer angeblich christlichen Gesellschaft darum sehr schlecht bestellt ist. Wer die Abschiebepraxis unseres Staates vertritt, sollte von Christentum schweigen, zumal Kirchengemeinden, die sich in eklatanten Einzelfällen durch Kirchenasyl dagegen auflehnen, straffällig werden. Und wer seine Feinde liebt und ihnen die andere Backe hinhält (Matth. 5, 39), wird nicht wieder geliebt, sondern umgebracht. Das Christentum Jesu und der Urkirche taugt nicht zum Bestehen in dieser Welt von überwiegend bösen Menschen. Es wäre wahrscheinlich aus der Geschichte verschwunden, wenn es nicht seit Konstantin – nur Fachleuten ist bekannt, was für ein brutaler Mensch dies war – zur Staatsreligion, zur Leitkultur, aufgestiegen wäre. Mit Jesus hat dies nichts mehr zu tun. Die Erfahrung hat gelehrt: Mit dessen Bergpredigt kann man die Welt nicht regieren, sondern man endet wie er am Kreuz. Gegen diesen traurigen Erfahrungssatz haben sich immer wieder fromme Christen aufgelehnt und die Nachfolge Jesu praktiziert, Mutter Teresa, Frère Roger in Taizé, ungezählte Arbeiterpriester und viele andere. Sie sind das sprichwörtliche Salz der Erde, wozu Jesus seine Jünger aufruft (Mt 5, 13). Ohne Salz kann man nicht leben, aber nur von Salz auch nicht. Das meinen wohl auch die Mitarbeiter der Diakonie, wenn sie für die Höhe ihrer Löhne demonstrieren und gern streiken würden, wenn sie dürften. (Die Diakonissen früher dienten um Gottes Lohn.) Wir fassen zusammen: Das sogenannte christliche Menschenbild ist nicht eindeutig definiert und wird von den Machthabern und Erfolgreichen unserer Gesellschaft nicht einmal ansatzweise gelebt. Wir könnten dafür viele Beispiele aus Politik, Wirtschaft, Kultur und sogar Kirche beibringen. Mit welchem Recht kann man dann die Nichtchristen, die unter uns leben – das sind nicht nur die Immigranten und ihr Nachwuchs, sondern auch viele Deutsche, die sich vom Christentum abgewendet haben – darauf verpflichten wollen? Der Begriff „Leitkultur“, anscheinend eine ermäßigte Konkretisierung des „Menschenbilds“, hilft da auch nicht viel weiter, denn Deutschland ist viel zu regional, um eine gemeinsame Leitkultur zu haben, und darüber bin ich froh. Ich finde den bayerischen Katholizismus oder den rheinischen Karneval höchst interessant und amüsant, aber als meine Leitkultur möchte ich beide so wenig wie den Fußballfanatismus. Fanatismus tendiert zur Gewalt, auch in der Religion. Wie viele Menschen wurden unter dem Vorwand von Religion getötet, wie viele Kriege geführt, unlängst auf dem Balkan und lange Zeit in Nordirland, und der islamistische Terrorismus richtet sich gegen christliche Mächte, genährt von deren unchristlicher Machtpolitik. Ich denke, es ist klar geworden: So wichtig Religion für den Menschen als solchen ist, als Regulativ des Zusammenlebens ist sie eher schädlich.
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Religion soll Privatsache bleiben. Ich vertrete diesen Satz, wohl wissend, dass ich den Widerspruch gerade auch von Theologen ernte. Um nicht missverstanden zu werden, will ich verdeutlichen: Privatsache heißt, sie darf nicht allgemein verbindlich gemacht werden. Doch selbstverständlich betätigt sich der Private gemäß den Geboten seiner Religion in der Gesellschaft, problemlos durch karitatives Handeln. Bei politischem Handeln jedoch kann er in Konflikte mit seiner religiösen Überzeugung kommen. Darüber später mehr, wenn wir bei unserem Themenbeispiel Melanchthon angelangt sind.
II Für das Zusammenleben der Menschen in unserer heutigen pluralistischen Welt sind die Vorschriften der Religionen nicht brauchbar. Ethische Normen müssen klar sein, sie müssen realisierbar sein, und sie müssen von allen Religionen weltweit anerkannt werden können. Solche Normen gibt es. Philosophen und Theologen, Juristen und Politiker haben sich seit Jahrtausenden darüber Gedanken gemacht und brauchbare Ergebnisse geliefert. Sogar in der volkstümlichen Spruchweisheit haben sie ihren Niederschlag gefunden. Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Wenn wir diesen schlichten Grundsatz weltweit durchsetzen könnten, hätten wir Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, geradezu das Paradies auf Erden. Die Bergpredigt hat diese auch sonst weit verbreitete Maxime positiv gewendet und bezeichnet sie als die Summe der jüdischen Ethik: Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten (Matth. 7, 12). Immanuel Kant hat ihn abstrakt formuliert und (um die gewöhnlichen Menschen abzuschrecken) den kategorischen Imperativ genannt: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne6. Zahlreiche Staatsdenker haben sich mit der Frage nach einem Naturrecht befasst und allgemeine Menschenrechte formuliert, die von der Mehrheit der Völkergemeinschaft anerkannt, aber leider nicht immer und überall befolgt werden. Der bekannte Theologe Hans Küng hat sein großes Ansehen für die Entwicklung eines Weltethos eingesetzt und prominente Unterstützer bekommen7. Erstaunlicherweise stoßen solche Überlegungen bei nicht wenigen Denkern auf Skepsis oder sogar Ablehnung. Juristen neigen dazu, dem 6
Kritik der praktischen Vernunft, 1. Buch, 1. Hauptstück, § 7: Immanuel KANT, Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, 4 (1956), 140. 7 Hans KÜNG, Projekt Weltethos (1990, ³1991).
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positiven Recht den Vorzug zu geben, und bezweifeln, dass in der Fülle der geltenden Rechtsnormen ein für alle Menschen gleichermaßen gültiges und anerkanntes Recht erkennbar ist. Für nicht wenige Theologen ist so etwas wie Naturrecht eine Abkehr von Gott und seinem Recht, eine Folge der säkularen Aufklärung, die sie bekämpfen. Vor allem aber halten sie es für ihre Aufgabe, die Unzulänglichkeit des sündigen Menschen gegenüber dem Recht und Willen Gottes aufzuzeigen. Einen Juristen kann man vielleicht mit rationalen Argumenten davon überzeugen, dass hinter allem positiven Recht gewisse sittliche Grundsätze zu finden sind, die von allen Menschen anerkannt werden können. Die Frage nach deren möglicherweise metaphysischen Ableitung könnte man dabei außer Acht lassen. Wir bekämen damit sozusagen ein positives Naturrecht. Das wäre ausreichend für politisches Handeln. Theologen sind damit nicht zufrieden. Sie können von ihrer Glaubensüberzeugung nicht abweichen. Religiöse Denker, jedenfalls die der Offenbarungsreligionen, können nicht wirklich tolerant sein. Sie glauben ja, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, und müssen deshalb alle anderen zu bekehren suchen und, wenn dies erfolglos bleibt, bekämpfen. Dies gilt nicht nur für fremde Religionen, sondern auch für andere Richtungen der eigenen, für Ketzer. Wenn sie dennoch tolerant sind, so geschieht dies aus pragmatischen Gründen, meist erzwungen durch säkulare staatliche Gewalten.
III Wir stehen damit vor der entscheidenden Frage unserer Überlegungen: Gibt es ein theologisches System, das ethische Normen entwickelt, die nicht unmittelbar aus göttlicher Offenbarung hergeleitet und also geglaubt oder wenigstens angenommen werden müssen, sondern die rational begründbar sind und also von allen Menschen jedweder Religion und Überzeugung gebilligt und befolgt werden können. Ein solches System ist das von Luther und vor allen von Melanchthon. Es ist die dialektische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der biblischen Botschaft. Um dies zu erläutern, muß ich ein wenig ausholen und einige Grundbegriffe klären. An erster Stelle das Wort ,Gott‘, Ausgang und Ziel jeder Religion und des Nachdenkens darüber, der Theologie. Jede Aussage darüber ist eine Glaubensaussage, der subjektive Evidenz von höchster Bedeutung und Wirksamkeit zukommt, die aber nicht allgemein verifiziert und verbindlich gemacht werden kann. Man kann zwar auch philosophisch über Gott reden, aber dabei stößt man rasch an Grenzen. Wenn ein Astrophysiker im Interview zugibt, dass hinter dem Urknall doch
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irgendeine Kraft stecken muss, dann halten dies manche Leute für einen wissenschaftlichen Gottesbeweis. Gott braucht keine Beweise, er wird geglaubt. Allerdings auf höchst unterschiedliche, weil subjektive Weise. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist das Wort Gott eine Leerformel, die mit den unterschiedlichsten Inhalten gefüllt werden kann. Für kindliche Gemüter ist Gott ein Mann mit Bart, den man lokalisieren kann. Solche Vorstellungen, die durch Bilder genährt werden, führen dann bei Heranwachsenden zum unreflektierten Atheismus, und dabei bleibt's. Eigentlich schade, wo doch schon altgriechische Denker, namentlich Xenophanes von Kolophon (nach 570 bis vor 467 v. Chr.)8, erkannt hatten, dass nicht etwa der Mensch nach dem Bilde Gottes erschaffen ist, sondern der Mensch sich die Götter nach seiner eigenen Erscheinung vorstellt. Viel spannender ist die Frage, ob er unsere Haare gezählt hat, wie Jesus meinte (Matth. 10, 30), denn dies ist der Kern des Gottesglaubens: Wenn Gott das Leben aller Menschen bis ins Einzelne bestimmt, wie kann man dann all das Unglück, all die Ungerechtigkeit in der Welt erklären. Es handelt sich um das unlösbare Problem der Theodizee, die zentrale Frage des Glaubens an Gott, die wir jetzt nicht näher erörtern können, denn wir müssen zu unserem Thema des politischen Handelns kommen. Dafür genügt eine allgemeine Verständigung darüber, was wir mit dem Wort Gott meinen. Es bezeichnet den Urgrund alles Seins, nicht nur meiner Existenz, sondern des Weltalls und also jenseits von Raum und Zeit. Die Gläubigen bekennen ihn deshalb in der Sprache eines uralten Weltverständnisses als Schöpfer des Himmels und der Erde. Er ist auch der Inbegriff des Guten, wozu das Wahre und Schöne und alle sittlichen Normen gehören. Die theologische Sprache nennt die sittlichen Normen „Gesetz“. Die Gottebenbildlichkeit besteht nun darin, dass der Mensch als Geschöpf Gottes dessen Ebenbild in Bezug auf das Gute, Wahre und Schöne ist. Ursprünglich, die Mythologie nennt es das Paradies, lebte der Mensch im Einklang mit seinem Schöpfer, den man auch als Natur bezeichnen kann. Was den Menschen von Gott unterscheidet, ist dessen Ewigkeit, Allmacht und Allwissenheit. Die waren dem Menschen verboten, symbolisiert durch die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Zur Gottebenbildlichkeit des Menschen gehört auch die Freiheit des Willens, dieses Verbot zu beachten oder zu übertreten. Er hat sich entschieden, die ihm gesetzte Grenze zu überschreiten. Das erste Buch der Bibel erzählt diese Grunderfahrung des Menschseins in anschaulicher Weise. Wir alle kennen sie. Es geht hier nicht um einen Urmenschen der Vergangenheit, sondern um uns selbst jeden Tag. Wir überschreiten die uns von der Natur gesetzten Grenzen. Wir spalten die Atome und manipulieren die Gene. Wir wollen sein wie Gott. Den Preis dafür vergessen wir gar zu gern, aber wir müssen ihn entrichten, jeden Tag. Wir leben 8
Der Neue Pauly 12/2 (2002), 628–632.
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nicht mehr im Paradies, nicht mehr im Einklang mit unserem Schöpfer. Krankheit und Tod sind die Folge und, was das schlimmste ist: der Mensch ist nicht mehr gut. Die christliche religiöse Sprache nennt dies die Erbsünde. Kein beliebtes Wort in der Religionspädagogik unserer Zeit. Aber man kann die Tatsache, dass der Mensch böse ist von Jugend an (Genesis 8, 21), nicht ignorieren, als Politiker sollte man es auf keinen Fall tun. Das Wissen um Gut und Böse hat der Mensch aber nicht verloren, auch seine Gottebenbildlichkeit nicht ganz und gar. Die scholastische Fachsprache hat deshalb die Gottebenbildlichkeit unterteilt in imago und similitudo. Aber die Gottesferne ist eine tägliche Erfahrung. Alle Religionen sind bemüht, diese existenzielle Kluft zu überbrücken. Im Christentum – wenn ich das recht sehe: einzig im Christentum – ist die Erkenntnis vorhanden, dass die Überbrückung nur von Gott her gelingen kann, als Gnade. Aber doch nur, meinen viele, wenn der Mensch seinen Teil dazu beiträgt. Die vollkommenste Art und Weise, die Sünde zu überwinden, die Verbindung zu Gott herzustellen, ist (auch außerhalb des Christentums) das Mönchtum. Martin Luther hat diesen Weg eingeschlagen und konsequent verfolgt. Er ist dabei gescheitert und landete in der Verzweiflung. Bis er durch die Lektüre der Texte des Apostels Paulus zur Erkenntnis kam, dass die göttliche Gerechtigkeit nicht durch Leistung verdient werden kann, sondern allein ein Geschenk Gottes ist. Nicht das Gesetz rettet den Menschen, nicht seine guten Werke machen ihn Gott wohlgefällig, sondern er wird von Gott angenommen. Das ist die Botschaft des Evangeliums. Das Gesetz führt den Menschen zur Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit und macht ihn offen für das Evangelium. Als Heilsweg führt es in die Irre. Luther wurde nicht müde, diese für ihn befreiende Erkenntnis zu wiederholen. Dass der Mensch trotz seiner Unzulänglichkeit Gutes tun soll, blieb ihm selbstverständlich. Ich habe soeben versucht, das christliche Menschenbild in Anlehnung an den Reformator Luther zu skizzieren. Dessen epochale Wirkung beruhte nicht auf einer Amtsgewalt, sondern auf Evidenz. Seine zunächst persönlich gewonnene Erkenntnis war befreiend auch für viele seiner Zeitgenossen, unter ihnen Philipp Melanchthon9. Deshalb hatten Luther und seine Mitreformatoren so großen Erfolg.
9
Heinz SCHEIBLE, Melanchthon neben Luther (1995): Forschungsbeiträge (1996), 153–170. - DERS., Philipp Melanchthon, der Reformator neben Luther. In: Erinnerung an Melanchthon. Beiträge zum Melanchthonjahr 1997 aus Baden, im Auftrag des Vorstandes hrsg. von Martina Jantz (1998), 17–53. - DERS., Melanchthon als theologischer Gesprächspartner Luthers (1998): oben Nr. 1.
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IV Einige ihrer Anhänger gingen aber so weit, dass sie die guten Werke für überflüssig hielten, das Gesetz für abgeschafft erklärten und nur auf das Evangelium setzten. Andererseits warfen Luthers Gegner ihm genau dies vor: seine Lehre untergrabe die Sittlichkeit. Weil dieser Vorwurf nicht ganz unberechtigt war, wurden Visitationen durchgeführt, um eine Bestandsaufnahme zu machen und gegebenenfalls die Ordnung wieder herzustellen. Die Kommissionen bestanden paritätisch aus Juristen oder Politikern und aus Theologen. Der maßgebliche theologische Visitator war Melanchthon. Als Frucht seiner Tätigkeit schrieb er die offizielle Anleitung für Pfarrer und Lehrer, den Unterricht der Visitatoren, der von Luther und dem Kurfürsten von Sachsen approbiert wurde. Melanchthon forderte darin nachdrücklich, nicht nur das Evangelium, sondern auch das Gesetz zu predigen. Als weiteres Ergebnis seiner Erfahrungen als Visitator begann er 1527, zehn Jahre nach Luthers Thesenanschlag (dessen Historizität unlängst durch einen Handschriftenfund in Jena wieder in die Diskussion geraten ist), seinen Studenten die Nikomachische Ethik des Aristoteles vorzutragen und zu erläutern. Dies ist eine Sensation. Auch wer nur wenig von Luther weiß, hat gehört, dass dieser den Ethiker Aristoteles leidenschaftlich bekämpfte (natürlich nicht den Logiker, das wäre absurd). Der junge Melanchthon stieß in dasselbe Horn. Er beschimpfte den Stagiriten als schmutzigen Menschen und Schwätzer. Andererseits kennt die Philosophiegeschichte Melanchthon als den führenden Aristoteliker der Reformationszeit. Wie reimt sich das zusammen? Es ist die Konsequenz seiner Lehre vom Gesetz und Evangelium10. Im Gegensatz zum Gesetz, gegen das viele Menschen, gerade auch Pfarrer, eine emotionale Abneigung haben, ist das Evangelium etwas Gutes, Erfreuliches, Positives. Seine Wortbedeutung ist ja „gute Botschaft“. Doch was darunter zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. In der Reformationszeit war „das Evangelium“ ein Partei bildendes Schlagwort. Die aufständischen Bauern haben unter Berufung auf das Evangelium die Erleichterung ihrer wirtschaftlichen Lage und Verbesserung ihrer Rechtsstellung gefordert. Luther sah dadurch seine Botschaft vom Evangelium pervertiert und hat bekanntermaßen äußerst hart reagiert. Weltliche Interessen durchzusetzen, kann nicht der Sinn des Evangeliums sein; das leuchtet ein. Ist das Evangelium dann vielleicht im Gegenteil die Bergpredigt, die völlige Gewaltlosigkeit, die Nachfolge Jesu? Dieser Weg 10
Heinz SCHEIBLE, Die Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für theologische Ethik und Praktische Theologie am Beispiel Melanchthon (2000): oben Nr. 13.
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ist höchst respektabel. Aber wie die Geschichte und die persönliche Erfahrung lehren, führt er den, der ihn gehen will, immer wieder zum Scheitern. Da ist dann nichts Befreiendes, sondern das Evangelium ist eine Forderung, eine Aufgabe, eigentlich ein Gesetz. Luther hat in seinem Ringen um die Vollkommenheit des Mönchtums als der höchsten Form christlicher Ethik diese Erfahrung in ihrer ganzen Radikalität durchlitten, bis ihm die Erkenntnis zuteil wurde, was das Evangelium wirklich ist. Es ist der Glaube, daß die Aufgabe und das Ziel des Menschen, vor dem absolut Guten zu bestehen, nicht durch eigene Anstrengung erlangt werden kann, sondern vom absolut Guten selbst, von Gott, geschenkt wird und nur gläubig angenommen werden muß. Wenn sein kongenialer Schüler Melanchthon sagen will, was das Evangelium ist, dann kann er das nicht, ohne auch vom Gesetz zu reden (ich zitiere jetzt leicht modernisiert die deutsche Fassung seiner Glaubenslehre): Die fröhliche Botschaft, die Gnadenpredigt von Christus ist weit unterschieden vom Gesetz. Denn das Gesetz verkündigt uns den großen, ernsten Zorn wider unsere Sünd und sagt nichts von Vergebung der Sünden aus Gnaden ohne unsere Verdienst. ... Das Gesetz ist durch Moses gegeben, Gnad und Wahrheit ist durch Jesum Christum worden (Joh. 1, 17)11. Melanchthons Definition lautet daher: Evangelium ist die göttliche Predigt, darin allen Menschen, nachdem sie die Predigt von Gottes Zorn wider die Sünd gehört haben und wahrhaftiglich erschrecken vor Gottes Zorn, diese aller gnädigste Verheißung vorgetragen wird, daß ihnen Gott gewißlich um des Herrn Christi willen gnädiglich, ohne ihre Verdienst geben wolle Vergebung der Sünden und Zurechnung der Gerechtigkeit, Heiligen Geist und Erbschaft des Ewigen Lebens, welche Verheißung durch Glauben soll empfangen werden12. Das ist keine Ethik, das ist Dogmatik in höchster Dichte. Wer nicht in diesen Denkstrukturen zu Hause ist, kann damit wenig anfangen. Aber es ist eine klassische Formulierung des christlichen Menschenbilds. Das Gesetz hat nach Melanchthon nicht nur diese eine Funktion, mit der viele Menschen heute nichts mehr anfangen können, nämlich die Unzulänglichkeit des Menschen aufzudecken, ihn in die Buße zu führen und damit für die göttliche Gnade des Evangeliums empfänglich zu machen, sondern es hat mehrere Erscheinungsweisen und Funktionen, die zwar miteinander verflochten sind, aber jeweils unterschieden werden müssen, damit keine Mißverständnisse entstehen.
11
Philipp MELANCHTHON, Heubtartikel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner Loci Theologici, nach dem Autograph und dem Originaldruck von 1553, hrsg. v. Ralf J ENETT und Johannes SCHILLING (2002), 249. 12 Ebd. 250.
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Das Gesetz Gottes, auch Sittengesetz (lex moralis) genannt, ist nach Melanchthon (der das im Christentum allgemein anerkannte Verständnis formuliert) die ewige Weisheit und Gerechtigkeit im Willen Gottes, die Unterscheidung von Gut und Böse. Es ist dem Menschen bei der Schöpfung offenbart und danach in der Kirche oft wiederholt worden. Der verlangte vollkommene Gehorsam kann zwar infolge der Ursünde nicht erbracht werden, und durch sie ist auch die Kenntnis des Willens Gottes getrübt. Gleichwohl ist in allen Menschen das Wissen um Gut und Böse erhalten geblieben, wie ja auch die Kenntnis der Zahlen, die Fähigkeit zum Rechnen, durch die Erbsünde nicht verloren ging. Dieses allen Menschen verbliebene ethische Wissen heißt Naturgesetz oder Naturrecht. Es ist inhaltlich identisch mit dem ewigen Sittengesetz, das in klassischer Kürze im Dekalog offenbart wurde. Der Dekalog ist für Melanchthon die Chiffre für das ewige Sittengesetz. Nun reden wir von dem hohen ewigen Gesetz, das man nennet mit einem schwachen Namen Lex Moralis, und wir nennen es die Zehn Gebote, weil die wichtigsten Stücke bequem darin formuliert sind. Und wenn wir diesen Namen Zehn Gebote gebrauchen, soll man solches nicht kindisch verstehen, allein von diesen zehn Sprüchen, sondern vom ganzen Gesetz, das man nennet Lex Moralis13. Das Gesetz Gottes hat für Melanchthon aber nicht nur das Strafamt, worauf die lutherische Dogmatik so großen Nachdruck legt, sondern noch zwei andere Funktionen, wovon die dritte seine Geltung für die Gerechtfertigten betrifft, was eine eigene Untersuchung erfordern würde. Für unser Thema des politischen Handelns allein wichtig ist die erste Funktion des Gesetzes. Sie wird usus civilis oder paedagogicus oder politicus genannt. Die Kenntnis des göttlichen Gesetzes ist als Naturgesetz allen Menschen verblieben, aber sie ist fragmentarisch und getrübt, und die Befolgung des Gesetzes ist durch die Sünde behindert. Trotzdem bildet es die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens der im Grunde bösen Menschheit. Dies ist die erste der drei Funktionen des einen Gesetzes, der usus politicus. Hier ist bei Melanchthon der systematische Ort der philosophischen Ethik, die damit deutlich vom Evangelium unterschieden ist und keinerlei Heilsbedeutung hat. Deshalb konnte sie von Melanchthon im Rahmen seines Lehrauftrags in Anlehnung an Aristoteles mit Luthers uneingeschränkter Zustimmung14 breit entfaltet werden. Zu Beginn seiner Lehrbücher der Ethik schärft er immer den Unterschied von Gesetz und Evangelium ein.
13
Ebd. 177. Heinz SCHEIBLE, Melanchthon neben Luther (1995): Forschungsbeiträge (1996), 153–170, bes. 163–166. 14
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Ethik definiert er als die Kenntnis der Vorschriften über alle ehrbaren Handlungen, von denen die Vernunft erkennt, daß sie dem Wesen des Menschen entsprechen und für den bürgerlichen Lebensvollzug nötig sind, wobei die Quellen dieser Vorschriften methodisch und durch Ableitungen gewonnen werden, soweit dies möglich ist. Dies ist die philosophische Definition, die keine Glaubensprämissen erfordert und deshalb für alle Menschen nachvollziehbar ist. Daneben stellt er die theologische Definition. Sie lautet: Die Moralphilosophie ist jener Teil des göttlichen Gesetzes, der Richtlinien für die äußeren Handlungen gibt15. Hier ist der Gottesbezug enthalten. Als Gesetz wird auch die von Gott durch Mose dem Volk Israel gegebene Rechtsordnung bezeichnet. Sie besteht aus drei Teilen, dem Sittengesetz, den Zeremonien und den Rechtsvorschriften. Nur der erste Teil ist für alle Menschen verbindlich, wenn auch einige Rechtsvorschriften, insbesondere das Eherecht betreffend, allgemeine Gültigkeit haben. Die menschlichen Gesetze der Staaten müssen dem Naturrecht konform sein. Dann verdienen sie Gehorsam, der mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden kann und muß. Es genügt aber die äußerliche Befolgung, damit ihr Zweck, das Zusammenleben zu ermöglichen, erreicht wird. Das Gesetz Gottes hingegen verlangt innere Zustimmung und vollkommenen Gehorsam. Dies kann kein Mensch leisten. Das Gesetz scheidet demnach als Heilsweg aus. Allerdings bringt Melanchthon die bürgerliche Funktion, den usus politicus, insofern in Verbindung zum Evangelium, als durch das Lernen des Evangeliums, sozusagen durch staatlichen Religionsunterricht, eine gewisse Bereitschaft für das Wirken des Heiligen Geistes entstehen kann. Dank der klaren Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die gleichwohl funktional aufeinander bezogen bleiben, sind die bürgerlichen Gesetze, ist die politische Ordnung vom Evangelium nicht in Frage gestellt, geschweige aufgehoben. Man kann mit dem Evangelium nicht die Welt regieren. Dafür hat der Schöpfer das Gesetz gegeben. Dabei ist vorausgesetzt, daß die staatlichen Ordnungen, die politischen Gesetze, dem Naturrecht und damit dem göttlichen Gesetz nicht zuwider sind. Für einen autonomen Volksnomos ist in der Theologie Melanchthons wie Luthers kein Platz. Wenn die staatlichen Gesetze dem göttlichen Gesetz zuwider sind, gilt Apg. 5, 29: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Es gibt, was auch manche Theologen nicht wissen, ein lutherisches Wider-
15
157.
Übersetzt aus »Philosophiae moralis epitomes libri duo« (1546): MSA 3 (1961),
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standsrecht16; es geht in bestimmten Extremfällen bis zum Präventivkrieg und zum Tyrannenmord.
V Damit stellt sich die Frage nach der aktuellen Brauchbarkeit dieser Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Sie ist ja immer noch durch den Kampf belastet, den Karl Barth gegen deutsche Theologen geführt hat, die sich irrtümlich für Lutheraner hielten. Hierbei wurde gegen ein depraviertes Gesetzesverständnis Christus als das eine Gotteswort ins Feld geführt, klassisch formuliert in der ersten Barmer These von 1934, auf die viele Theologen bei der Ordination noch immer verpflichtet werden: Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben17. Das eine Wort ist nicht eines unter mehreren, sondern das einzige, und zu gehorchen hat man einem Gesetz; dem Evangelium wird geglaubt. Das, was in der theologischen Tradition mit Gesetz umschrieben wird, ist hier in Jesus Christus mit hinein genommen. In einer Situation der Verfolgung mag dies die angemessene Art der Selbstdarstellung und auch Selbstbehauptung sein, und sie bringt die Mitte und das Proprium der christlichen Botschaft, eben das Evangelium, zur Geltung. Dennoch scheint mir diese Art von Theologie der Gefahr der Einseitigkeit und Mißverständlichkeit ausgesetzt zu sein. Die mit dem Antinomismus aller Zeiten verbundene Gefahr, das Evangelium zum neuen, besseren Gesetz zu machen, läßt sich vielleicht vermeiden. Aber die Gefahr der Isolierung, der Unmöglichkeit des Gesprächs mit Nichtchristen, scheint mir unausweichlich, wenn man immer von Christus und einer spezifisch christlichen Ethik her argumentiert, auch wenn es nicht um Ewigkeitswerte, um Fragen des persönlichen Heils geht, sondern um den politischen Alltag. Wir leben hierzulande in einer Gesellschaft, die zwar weitgehend unchristlich ist, aber die Kirchen in Ruhe lässt, ihnen sogar mehr Einfluß einräumt, als ihnen angesichts ihrer aktiven Mitglieder zukommen würde. Andererseits werden die Menschenrechte, die weltweit grundsätzlich anerkannt sind, allenthalben mit Füßen getreten. Es geht m. E. gegenwärtig nicht so sehr um das ewige Heil des Sünders, nach dem er allzu oft gar nicht fragt, sondern um mehr Gerechtigkeit und Menschenwürde auf dieser Welt. Die erreicht man nicht mit dem Evangelium, so eindrucksvoll eine Befreiungstheologie sein kann. Wer meint, mit der Bergpredigt die Welt 16
Heinz SCHEIBLE, Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546 (1969, ²1982). 17 EvBek 2, 261.
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regieren zu können, nimmt die Bergpredigt nicht ernst. Wer mit der Nachfolge Jesu wirklich ernst macht, gelangt nicht auf den Kanzlerstuhl, sondern endet am Kreuz. Ich habe Hochachtung vor Menschen, die Jesus nachfolgen wollen, im Mönchtum, in der Diakonie, im Alltag. Ich verkenne auch nicht, daß sie Zeichen setzen und damit da und dort etwas bewirkt haben, was geschichtsmächtig geworden ist. Aber eine breite und dauerhafte Verbesserung der Gerechtigkeit erreicht man nicht durch das Evangelium, sondern durch das Gesetz in seinem usus politicus. Auch dieses ist eine Gabe Gottes an die Menschen, und zwar an alle. Denn wenn wir die Welt verbessern wollen – ein mühsames und langwieriges Geschäft –, dann brauchen wir die Mitwirkung aller Gutwilligen aus allen Kulturen und Religionen. Wenn man in diesem weltweiten Diskurs spezifisch christliche Denkmodelle verbindlich machen will, wird eine Verständigung unmöglich. Man muß dort ansetzen, wo alle zustimmen können. Dies sind die Menschenrechte. Sie sind für Gläubige ein Teil des ewigen Willens Gottes, der lex divina, wie dies Melanchthon (und nicht nur er) nannte, für Ungläubige, Rationalisten oder Atheisten sind sich ebenfalls akzeptabel, weil spontan einsichtig. Sie finden deshalb weltweit wenigstens grundsätzliche Zustimmung und sind kodifiziert. Sie allgemein durchzusetzen, wäre ein großer Erfolg. Ich habe Melanchthons Meinung hierzu dargestellt, nicht weil ich meinte, an ihm solle die Welt genesen, sondern weil ich bei meinen zunächst nur historisch-antiquarischen Forschungen zu meinem eigenen Erstaunen bemerkt habe, wie zeitlos gültig seine Gedanken sind, auch in anderen Bereichen der Philosophie und Theologie. Melanchthon gehört zu den weithin unbekannten und unterbewerteten Gestalten der Geistesgeschichte. Es lohnt sich, ihn kennenzulernen.
Wie Melanchthon predigte Melanchthons 506. Geburtstag, der 16. Februar 2003, fiel auf einen Sonntag. Ich wurde gebeten, im Festgottesdienst in der Stiftskirche in Bretten die Predigt zu übernehmen. Nun bin ich Kirchenhistoriker und hatte nie zuvor in einem Gottesdienst gepredigt. Manche Neulutheraner bezeichnen solche Christenmenschen als Laien. Dieses Schicksal teile ich mit Melanchthon1 Dass der Hochschullehrer an der Philosophischen und an der Theologischen Fakultät auch als Visitator tätig war und damit bischöfliche Funktionen wahrnahm, und dass er an den Wittenberger Ordinationen2 maßgeblich mitwirkte, bleibt dabei ebenso außer Betracht wie seine Predigttätigkeit. Wenn er Sonntag für Sonntag und an den Feiertagen morgens in der Frühe vor dem Gottesdienst der Stadtkirche in seinem Haus das Tagesevangelium auslegte, so sind das Predigten. Er hielt sie in lateinischer Sprache, denn die vielen ausländischen Studenten konnten die Predigten in der Stadtkirche nicht verstehen. Und weil man bei Melanchthon immer etwas lernen konnte, kamen auch andere dazu. Melanchthon wurde damit zum Wittenberger Studentenpfarrer. Auch nachdem er 1544 eine kurze Fassung publiziert hatte3, setzte er diese Tätigkeit bis zu seinem Lebensende fort. Seine Auslegungen wurde eifrig mitgeschrieben und weitergereicht. Lange nach seinem Tod, 1594 und 1595, wurden sie von seinem Schüler Christoph Pezel4 in vier Bänden als Postille herausgegeben und haben in dieser redigierten Gestalt lange Zeit ihre Leser gefunden. Heute ruhen sie leicht zugänglich, aber dennoch weithin unerschlossen im Corpus Reformatorum5.
1
Was ich davon halte, ist nachzulesen in meinem Vortrag »Melanchthon und Luther« (1983), wieder abgedruckt in: Forschungsbeiträge (1996), 139–152, bes. 146 f. 2 Martin KRARUP, Ordination in Wittenberg. Die Einsetzung in das kirchliche Amt in Kursachsen zur Zeit der Reformation (2007). 3 CR 14 (1847), 161–528; MBW 3546. 4 Richard W ETZEL, Christoph Pezel (1539–1604). Die Vorreden zu seinen Melanchthon-Editionen als Propagandatexte der „Zweiten Reformation“. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 465–566, bes. 548–558. 5 Bände 24 und 25, hrsg. v. Heinrich Ernst B INDSEIL (1856). Die Vorlage der folgenden Predigt steht CR 24, 376–391. Ein Vergleich mit Melanchthons Kurzfassung von 1544, die CR 14, 215–219 zu finden ist, würde den gegebenen Rahmen sprengen.
17. Wie Melanchthon predigte
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Anstatt mir selbst eine Predigt auszudenken, wobei ich von den heutigen Exegeten und Homiletikern abhängig geblieben wäre, wollte ich lieber Melanchthon des Wort geben und die Art seiner Auslegung in der gebotenen Kürze vorstellen. Ich widme dem Jubilar Walter Eisinger meine Predigt über das Sonntagsevangelium zu Septuagesimä, wie sie am 16. Februar 2003 in der Stiftskirche in Bretten gehalten wurde.
Liebe Gemeinde! Vor sechs Jahren, an Melanchthons 500. Geburtstag, hat unser damaliger Landesbischof Engelhard an dieser Stelle über einen Text aus dem Hebräerbrief (13, 7–9) gepredigt, der beginnt: „Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben“. Wir wollen dieser Aufforderung auch heute, am 506. Geburtstag des aus Bretten stammenden Reformators der Bildung und der Kirche, Folge leisten und hören, wie er seinen Studenten das altkirchliche Evangelium zum Sonntag Septuagesimä, der in diesem Jahr auf Melanchthons Geburtstag fällt, erklärt hat. Der Wittenberger Professor hat nämlich viele Jahre hindurch an Sonn- und Feiertagen gepredigt, nicht in der Stadtkirche oder in der Schlosskirche, diese Aufgabe hatten andere, sondern im Hörsaal im Erdgeschoss seines Hauses hat er früh morgens vor dem Hauptgottesdienst das Evangelium des Tages ausgelegt, lateinisch versteht sich, der damaligen Umgangssprache an der Universität. So bekamen die vielen ausländischen Studenten, die eine deutsche Predigt nicht verstehen konnten, ihre Erbauung zum Feiertag und konnten danach auch noch den Gemeindegottesdienst in der Stadtkirche besuchen. Hören wir nun das Evangelium nach Matthäus Kap. 20 in der ursprünglichen Übersetzung Martin Luthers von 15226, an der Melanchthon fleißig mitgearbeitet hat7. Im Fürstenzimmer des Melanchthonhauses ist dieses „Septembertestament“ ausgestellt. Die erste Gesamtausgabe der Lutherbibel von 1534 kann in diesem Jahr der Bibel 2003 in einer schönen Faksimile-Ausgabe erworben werden8. Der Text für den heutigen Sonntag ist das bekannte Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Unsere bequeme Vorstellung vom lieben Gott wird dadurch in Frage gestellt, denn Jesus 6
WA Bibel 6 (1929), 88 und 90 (Verse 1–16). Traudel HIMMIGHÖFER, Luthers Lebensarbeit an der deutschen Bibel: EbernburgHefte 30 (1996), 31–52. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie (1997), 145– 147. 8 Die Luther-Bibel von 1534. Vollständiger Nachdruck in 2 Bänden und einer kulturhistorischen Einführung von Stephan FÜSSEL (2002). Die Vorlage des Faksimiles war das Exemplar der Herzogin Amalia Bibliothek in Weimar, das danach beim katastrophalen Brand dieser Bibliothek am 2. September 2004 durch den persönlichen Einsatz des Direktors, Dr. Michael Knoche, gerettet wurde. 7
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17. Wie Melanchthon predigte
macht uns durch das Gleichnis deutlich, dass die Botschaft des Evangeliums den Menschen ein Ärgernis und eine Torheit ist, wie es der Apostel Paulus einmal ausdrückte. Das hymelreych ist gleych eynem haußvatter, der gleych am morgen aus gieng erbeyter zu mieten ynn seynen weynberg, vnd da er eynis wart mit denn erbeyternn vmb eynen grosschen zum taglohn, sand er sie ynn seynen weynberg. Vnd gieng aus vmb die dritten stund vnnd sahe andere an dem marckt mussig stehen, vnd sprach zu yhn, geht yhr auch hyn ynn den weynberg, ich will euch geben, was recht ist, vnd sie giengen hynn. Aber mal gieng er aus vmb die sechst vnd neunde stund, vnd thett gleych also. Vmb die eylfften stund aber gieng er aus, vnd fand andere mussig stehen, vnd sprach zu yhn, was stehet yhr hie den gantzen tag mussig? sie sprochen zu yhm. Es hatt vns niemand gedinget. Er sprach zu yhn, geht yhr auch hynn ynn den weynberg, vnnd was recht seyn wirt soll euch werden. Da es nu abent wartt, sprach der herr des weynbergs zu seynem schaffner, Ruff den erbeytern, vnnd gib yhn den lohn, vnd heb an, an den letzten, bis tzu den ersten. Da kamen, die vmb die eylfften stund gedingt waren, vnd empfieng eyn iglicher seynen grosschen, da aber die ersten kamen, meyneten sie, sie wurden mehr empfangen, vnd sie empfingen auch eyn iglicher seynen grosschen, vnd da sie den empfiengen, murreten sie widder den haußvater, vnd sprachen, dise letzten haben nur eyne stund erbeyttet, vnd du hast sie vnns gleych gemacht, die wyr getragen haben die last des tages, vnd die hytze. Er antworttet aber vnd sagt tzu eynem vnter yhn, Meyn freundt ich thu dyr nicht vnrecht, bistu nit mit myr eyns worden vmb eynen grosschen? Nym was deyn ist, vnd gang hyn, ich wil aber disem letzten geben, gleych wie dyr odder hab ich nicht macht zu thun, was ich will mitt dem meynen? Sihistu darumb scheel das ich so guttig bynn? Also werden die letzten, die ersten, vnd die ersten, die letzten seynn. Denn viel sind beruffen, aber wenig sind erwelet.
Der letzte Satz: „Denn viele sind berufen, aber wenige erwählt“, ist aus dem Gleichnis vom Hochzeitsmahl Kap. 22 hierher geraten. Dort passt er besser, denn zur Hochzeit verweigern viele der Geladenen das Kommen und werden dafür bestraft, und einer, der sich ohne Festgewand hereingeschlichen hat, wird hinausgeworfen. Die Arbeiter im Weinberg jedoch werden alle gebraucht und alle entlohnt. Da stellt sich die Frage nach Berufung und Erwählung eigentlich nicht. Dieser Satz wird in den neueren Bibelausgaben deshalb in Kapitel 20 weggelassen. Melanchthon jedoch findet in seiner Auslegung gerade in diesem Schluss den Hauptgedanken des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg. Gott drohe damit den Arroganten und Undankbaren mit dem Ausschluss aus der Gemeinde, aus der Kirche. Er sagt aber auch, dass alle diese Gleichnisse so reichhaltig sind, dass sie verschiedene Auslegungen zulassen oder geradezu erfordern. Wenn wir freilich dieses Gleichnis einer Andacht zur Eröffnung von Tarifverhandlungen zu Grunde legen wollten, so wäre dies zumindest für die Gewerkschaftsseite kontraproduktiv und würde auch dem Text nicht gerecht, denn dieses Gleichnis will ja deutlich machen, dass es im Himmelreich anders zugeht als in der normalen Arbeitswelt. In dem, was Jesus das Himmel-
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reich nennt, geht es immer um paradoxe, um unerwartete und zumeist ärgerliche Lösungen. Auch die Frage nach der Erwählung ist so ein verqueres Thema. Melanchthon meint, Christus habe zunächst die Zerstörung des jüdischen Staates im Blick. Das Volk Israel gilt ja als das auserwählte Volk. In Wirklichkeit war es berufen und hat seine Erwählung durch die Absage an den Messias Jesus von Nazaret verspielt. Doch gilt eine solche Bestrafung nach Melanchthons Verständnis dieses Gleichnisses insbesondere für die Kirche, deren Amtsträger – Melanchthon präzisiert sie als Bischöfe, Priester und Mönche – ihren Amtspflichten nicht entsprachen und deshalb durch andere ersetzt wurden, obwohl sie sich durch weltliche Macht dagegen zu wehren suchten. Melanchthon spricht es nicht aus, aber seine Sicht der Dinge wird dennoch deutlich: das Papsttum wurde durch die Reformation ersetzt, durch diejenige Kirchenreform, die von Gott durch Luther und andere, nicht zuletzt Melanchthon selbst, eingeleitet wurde. Unser Reformator ist aber weit davon entfernt, seine kirchliche Wirklichkeit als eine Versammlung von Auserwählten zu verstehen. Vielmehr rechnet er auch selbst mit Gottes Strafen, denn „wir (sagt er) haben viele, große, bedauerliche Sünden und Fehler“. Aber eines steht für ihn fest: „Gott wird unter uns einen Rest der Kirche bewahren, solange unter uns ein Streben nach Wahrheit, aliquod studium veritatis, erhalten bleibt.“ Das Streben nach Wahrheit als Indiz für die Erwählung! Mit dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg hat das wenig zu tun. Ein theologischer Examenskandidat würde mit dieser Auslegung heutzutage wohl durchfallen. Ich finde sie dennoch bemerkenswert und habe sie Ihnen erzählt, weil sie uns zeigt, wie Melanchthon gleich zu dem vorstößt, was ihm zentral wichtig ist. Es sind nicht die schlechtesten Prediger, die solches tun. Und die Bibel lässt es über sich ergehen. Sie wirkt immer dann, wenn den Leuten eine Stelle „wichtig wird“, wie man sagt. Das muss nicht immer die nach Meinung der exegetischen Wissenschaft richtige Auslegung sein. Wann aus Berufung Erwählung wird, bewirkt der Heilige Geist, und der weht bekanntlich, wann und wo er will. Die Erwählung ist im Leben kein sicherer Besitz, dessen man sich rühmen könnte, sie ist eine Gewissheit des Glaubens. Melanchthon fand in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg noch drei weitere Gedanken bemerkenswert. Vielleicht stammen sie nicht aus einer einzigen Predigt, denn die Postille, in der seine Predigten überliefert sind, wurde postum von seinem Schüler Christoph Pezel zusammengestellt. Wie immer es sei, Melanchthon konnte seine Gedanken breit ausführen, weil die Leute damals viel längere Predigten gewohnt waren als wir. Ich hingegen muss seine Auslegung stark kürzen. Als zweiten Gedanken bezieht er die Berufungen zu den unterschiedlichen Stunden auf die Geschichte der Kirche. Melanchthon war ein
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Bildungspolitiker und Kirchenreformer von höchst aktueller Präsenz und Wirkung. Aber er wurzelte zutiefst in der Geschichte, die ihm für das geistige Leben der Menschen so wichtig war wie die Sonne für das physische Gedeihen der Natur9. Er bringt in seiner Auslegung des Gleichnisses die Stunden aber auch mit dem Tagesablauf in Verbindung. Ehedem, so meint er, sei man früh am Morgen aufgestanden und habe am Spätnachmittag eine Hauptmahlzeit eingenommen. Heutzutage, fährt er fort, verwandelt man mit Saufen die Nacht in den Tag. Sie prassen in der Nacht und pennen in den Morgen hinein. Ich frage mich: hat er unsere Jugend gekannt, oder ist die doch nicht so einmalig? Drittens fasst er die Klage der Vollzeitarbeiter in den Blick: „Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.“ Er hält diese Last der Arbeit im Weinberg für eine angemessene Beschreibung derer, die gesellschaftliche Verantwortung tragen. Das sind für ihn nicht nur die Politiker, sondern auch die Mütter, die mit großer Mühe und Sorge ihre Kinder aufziehen. Wie aktuell dieses Gleichnis aufgefasst wurde, zeigt ein Kunstwerk in der Wittenberger Stadtkirche, das viele von Ihnen kennen: das Epitaph des Melanchthon-Schülers Paul Eber10. Hier sind die Wittenberger Theologieprofessoren als Arbeiter im Weinberg dargestellt. Melanchthon schöpft aus dem Brunnen, aus der Quelle der Erkenntnis. Ad fontes war das Leitprinzip seiner Studien wie das aller Humanisten und Reformatoren. Viertens erörtert Melanchthon, was mit dem Lohn gemeint sei, der für alle gleich ist. Der Denar, von Luther mit „Groschen“ übersetzt, war nach damaliger Kaufkraft ein angemessener Betrag. Aber es geht hier nicht um’s Geld, sondern um einen ideellen Lohn. Eine gängige Auslegung sieht in dem Lohn das Ewige Leben. Melanchthon ist da zurückhaltend und findet noch andere Bedeutungen. Denn das Ewige Leben darf nicht als Lohn für irgend welche Leistungen, die von uns zu erbringen wären, verstanden werden. Dass alle den gleichen Lohn erhalten, zeigt, dass er nicht von der erbrachten Leistung abhängt, sondern von der Güte des Hausvaters. Wenn man dies bedenkt, kann man auch von Lohn sprechen, doch so, wie der Sohn des Hauses das Erbe erhält, nicht weil er viel gearbeitet hat – der Knecht hat in der Regel viel mehr gearbeitet –, sondern weil er der Sohn ist. Aber wer ist nun Kind und Erbe? Damit kehrt Melanchthon fünftens zum Hauptgedanken zurück, zur Erwählung oder Gnadenwahl, wie manche lieber sagen. Es geht hier um einen zentralen Gedanken unserer Vorstel9
SCHEIBLE, Melanchthon (wie Anm. 7), 251–256. Hans-Peter HASSE, Paul Krell (1531–1579). Melanchthons „Enarratio Symboli Nicaeni“ (1550) und der Sturz des Philippismus in Kursachsen im Jahre 1574. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 427–464. 10
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lungen von Gott. Manche religiösen Denker halten es für eine unausweichliche Folge der Allmacht Gottes, dass alles von ihm vorherbestimmt ist, also auch Erwählung und Verdammnis. Im Islam ist dieser Gedanke stark ausgeprägt, und welche Folgen dieser Fatalismus im praktischen Leben haben kann, zeigen uns die täglichen Nachrichten. Unter den reformatorischen Theologen wurde dieses Problem besonders intensiv zwischen Melanchthon und Calvin erörtert11, ohne dass sie sich einig geworden wären. Die Prädestinationslehre, wie sie fachtheologisch genannt wird, ist der Hauptunterschied zwischen dem Calvinismus und dem Luthertum melanchthonischer Prägung. Die Bibel gibt hierüber kein einheitliches Zeugnis, zumal die Ausleger sich nicht einig sind. Melanchthon sagt klipp und klar, die Erwählung in seinem Text habe nichts mit Prädestination zu tun. Wer getauft ist, wer das Evangelium hört, der gehört zur Kirche, der ist berufen, aber damit nicht unbedingt erwählt. Die Erwählung ist für Melanchthon jedoch nicht ein ewiger, unergündlicher Ratschluss Gottes, an dem der Mensch nichts mehr ändern kann, sondern sie ist nichts anderes als die Rechtfertigung: Wer davon überzeugt ist, dass er Gott um Christi willen wohlgefällt, wenn er Buße tut, dem Evangelium glaubt, sich keinen Sünden gegen sein Gewissen hingibt, darf auch gewiss sein, dass wer in diesem Glauben stirbt, erwählt ist und in das Ewige Leben eingeht. Wie in der Schrift gesagt wird: Wer an den Sohn glaubt, hat das Ewige Leben. In seinem theologischen Hauptwerk, den Loci, das Melanchthon gegen Ende seines Lebens in deutscher Sprache formuliert und der Frau seines Freundes Camerarius gewidmet hat, lautet die entscheidende Stelle so: „Du sollst wissen diese wahrhaftige Regel, dass gewisslich alle diese zu ewiger Seligkeit erwählet sind, die durch Glauben an den Herrn Christum in der Bekehrung in diesem Leben Trost empfangen und nicht davon abfallen vor ihrem Sterben. Denn also spricht der Text: Selig sind die Verstorbenen, die im Herrn sterben.“ Melanchthons deutsches Hauptwerk liegt nun in einer vorzüglichen Ausgabe vor12; die heute um 18 Uhr im Melanchthonhaus vorgestellt wird. Liebe Gemeinde, wenn Sie durch meine Predigt ein wenig ratlos geworden sind und fragen, wie Sie nun dieses Gleichnis richtig verstehen sollen, dann habe ich mein Ziel erreicht. Die Bibel ist kein Buch mit bequemen Lösungen, mit Anweisungen für ein gottgefälliges Leben, die sich „eins zu eins“ (wie man gegenwärtig gerne sagt) umsetzen ließen, sondern eine unerschöpfliche Sammlung von jahrtausende-alten Erfahrun11
Zuletzt: Melanchthon und der Calvinismus, hrsg. von Günter Frank und Herman J. Selderhuis unter Mitarbeit von Sebastian Lalla (2005). 12 Philipp MELANCHTHON, Heubtartikel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner Loci Theologici, nach dem Autograph und dem Originaldruck von 1553 hrsg. v. Ralf J ENETT und Johannes SCHILLING (2002); S. 303 das Zitat.
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gen mit Gott und der Welt, die uns immer wieder zu neuen Einsichten verhelfen können und deshalb nie langweilig sind. Wenn wir diese Erkenntnis aus unserem heutigen Festgottesdienst in den Alltag mitnehmen, dann haben wir einen guten Zugang zum Jahr der Bibel 2003 gewonnen. Amen.
Melanchthons Verhältnis zu Johannes Setzer Der Drucker Johannes Setzer1 in Hagenau brachte in den knapp zehn Jahren seiner Selbständigkeit 183 Drucke heraus2. Davon stammen 62 von Melanchthon, 41 von diesem selbst und 21 von ihm besorgte Texte oder mit Beigaben von ihm, das sind 31,1 % der gesamten Produktion, beinahe ein Drittel. Kein anderer Autor kommt dem gleich. Mit großem Abstand folgen Luther (20), Hegendorf (19) und Brenz (18). Melanchthon war also eindeutig Setzers bevorzugter Autor. Ob Setzer in den Jahren 1523 bis 1532 auch der bevorzugte Verleger Melanchthons war, wird sich exakt feststellen lassen, wenn die von Helmut Claus – dem diese kleine Studie gewidmet ist – erarbeitete Bibliographie der Schriften Melanchthons publiziert sein wird. Ein ungefähres Bild lässt sich aus dem Briefwechsel3 gewinnen. Von den dort erwähnten Drucken, das sind in der Regel die mit einer Vorrede Melanchthons ausgestatteten Schriften, sind 18 bei Setzer erschienen4. In der gleichen Zeit wurde der Wittenberger Josef Klug mit 13 Titeln berücksichtigt5. Er blieb auch danach ein für Melanchthon wichtiger Drucker, ebenso Georg Rhau, der aber erst ab 1530 für ihn druckte und dadurch in der Testzeit nur auf sieben Titel kommt6. Setzer war demnach auch für Melanchthon der am häufigsten bedachte Drucker und Verleger. Dies ist nicht selbstverständlich, denn Melanchthon war durchaus nicht immer mit Setzers Leistung zufrieden. 1525 ließ er seine lateinische Übersetzung der Sprüche Salomons bei ihm drucken. In der Vorrede an den Kurprinzen Johann Friedrich von Sachsen7 empört er sich über die 1
Grundlegend Karl STEIFF, Johannes Setzer (Secerius), der gelehrte Buchdrucker in Hagenau: Centralblatt für Bibliothekswesen 9 (1892), 297–317; 10 (1893), 20–22. 2 Josef B ENZING, Bibliographie haguenovienne. Bibliographie des ouvrages imprimés à Haguenau (Bas-Rhin) au XVIe siècle (1973), 66–97. Vgl. auch Frédéric HARTWEG, Lutherdrucke in Hagenau. In: Martin Luther. Leben, Werk, Wirkung, hrsg. v. Günter Vogler (21986), 367–375. 3 MBW. 4 MBW 277, 313, 330, 335, 394, 395, 435, 546, 547, 548, 549, 676, 695, 750, 767, 769, 856, 1309. 5 MBW 309, 413, 414, 471, 520, 855, 863, 1093, 1107, 1131, 1176, 1236, 1276. 6 MBW 1103, 1148, 1183, 1223, 1250, 1354, 1356. 7 MBW 394.
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Unverschämtheit und Gewinnsucht der Drucker, die Nachschriften seiner Vorlesungen publizierten, ohne dass er sie korrigieren konnte. „Unter den zahllosen Übeln dieses Jahrhunderts nimmt meiner Meinung nach die Unredlichkeit, ja Unverschämtheit der Drucker nicht den letzten Platz ein, die wahllos alles, was Gewinn verspricht, drucken und publizieren und damit bei Gott der Menschheit großen Schaden zufügen“8. Dies war auch seiner Vorlesung über die Proverbia Salomonis widerfahren. Der ohne Namensnennung getadelte Raubdrucker war kein anderer als Setzer9. Dennoch durfte er die neue Fassung drucken, die sehr erfolgreich wurde. Er bekam auch 1527 den Druckauftrag für den Kolosserkommentar10, den ersten Bibelkommentar, den Melanchthon selbst publizierte, und der für die Entfaltung seiner Theologie epochal ist11. Leider musste der Autor die Nachlässigkeit des Druckers monieren: Desidero diligentiam in Secerio in multis locis eius aeditionis12. Dennoch bekam Setzer im Jahr danach die Erstausgabe der Dialektik13. Er druckte sie so fehlerhaft wie den Kolosserkommentar, so dass Melanchthon den Nachdruck des Wittenbergers Josef Klug zuerst verbessern musste14. Darüber war er recht wütend: „Setzer missbraucht meine Geduld schmählich; er soll sehen, ob ich diese Schlamperei länger ertragen kann“15. Dies war für Melanchthon dennoch kein Grund, die Geschäftsbeziehung abzubrechen. Setzer druckte vom Kolosserkommentar auch die 2. Auflage, die stark verändert war16. Melanchthon blieb ihm weiterhin treu. Im Juli 1531 schickte er über Camerarius in Nürnberg eine Übersetzung seines Meisterschülers Georg Sabinus nach Hagenau, wobei er mit einer gutmütigen Resignation bemerkte, der Text sei derart, dass Setzer mit seinen gewohnten Fehlern nicht viel schaden könne17. Was hat ihn bewogen, ihm dennoch immer wieder Aufträge zu erteilen? Setzer tat alles, um diese zu erhalten. Er kam möglichst oft nach Wittenberg oder schickte wenigstens einen Mitarbeiter dorthin. Nachweislich war er im April und Mai 1525 in Wittenberg; am 30. Mai 1525 reiste er nach 8
MBW.T 2, 298.12–15. Ebd. S. 294. 10 MBW 547. 11 Timothy J. W ENGERT, Law and Gospel. Philip Melanchthon’s Debate with John Agricola of Eisleben over Poenitentia (1997). - DERS., Human Freedom, Christian Righteousness. Philip Melanchthon’s Exegetical Dispute with Erasmus of Rotterdam (1998). 12 MBW 598.2 = MBW.T 3, 173.13 f. 13 MBW 695. 14 MBW 720.2 = MBW.T 3, 393.7–10. 15 Ebd. Z. 10–12. 16 MBW.T 3, S. 639 App. Q 9. 17 MBW 1167.3 = MBW.T 5, 139.27–30: Eiusmodi opus est, quod Secerius sine magno periculo suo modo corrumpere poterit. 9
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beinahe zweimonatigem Aufenthalt von Wittenberg ab18. Er schloss sich Johannes Agricola an, der nach Frankfurt zog19. Der enge Freund Melanchthons in dessen Wittenberger Anfangsjahren20 war bis dahin kein Partner Setzers gewesen; doch 1529 druckte dieser Agricolas Lukaskommentar und die Aufsehen erregende Sprichwörtersammlung21. Vor diesem langen Aufenthalt in Wittenberg war er am 25. März 1525 in Straßburg gewesen und hatte sich von Nikolaus Gerbel eine Empfehlung an Melanchthon und Luther geben lassen mit der Bitte, ihm in einer geschäftlichen Bedrängnis zu helfen; er hatte aus Gutmütigkeit durch treulose Leute einen erheblichen Schaden erlitten22. Der Jurist Gerbel23, damals Sekretär des Straßburger Domkapitels, ein bedeutender Gräzist, stammte aus Pforzheim. Zufällig war er dort, als Reuchlin am 15. März 1509 dem zwölfjährigen Philipp Schwartzerdt den Humanistennamen ,Melanchthon‛ verlieh. Zuvor hatte er ein Jahr lang in Tübingen gelebt und möglicherweise den wenig jüngeren Setzer kennengelernt. Seine Fürsprache für diesen war erfolgreich. Von den 14 Titeln, die Setzer 1525 druckte, stammen 12 von Wittenberger Autoren24, darunter so erfolgreiche wie Melanchthons Sprüche Salomons und seine von Gerbel bearbeitete griechische Grammatik. Doch die von mir 1977 beim Regest vertretene Meinung, Setzer habe 1525 in Wittenberg mit Melanchthons Hilfe dessen Terenzausgabe bearbeitet, wurde 1995 in der Textedition von Richard Wetzel in Verbindung mit Helmut Claus auf Grund von Neufunden widerlegt: Die Neubearbeitung von Melanchthons Erstlingswerk erschien 1524 in Wittenberg bei Melchior Lotter d. J.25. Jeden Wunsch bekam Setzer nicht erfüllt. Einen Kommentar zu Ciceros Reden konnte Melanchthon nicht schon 1524 liefern, sondern erst 1533, und auch dann nicht im gewünschten Umfang26. Im April 1526 war Setzer wieder in Wittenberg. Am 29. April reiste er mit Melanchthon und anderen ab und zog über Erfurt und Bamberg nach Nürnberg, wo am 23. Mai die von Melanchthon geplante Schule in St. Egidien feierlich eröffnet wurde27. Die fünf Drucke dieses Jahres28 sind zu18
WAB 3, S. 461 und 519 Anm. 1; vgl. MBW 1, S. 156 bei Nr. 304. MBW 1, S. 194 Nr. 404 Z. 6; MBW.T 2, S. 319 Z. 57–59. 20 MBW 11 (2003), 41. 21 B ENZING, Bibliographie (wie Anm. 2), 82 Nr. 96–98. - Johannes AGRICOLA, Die Sprichwörtersammlungen, hrsg. v. Sander L. GILMAN, 2 Bde. (1971). 22 MBW 384 = MBW.T 2, 267–269, bes. Z. 26–30. 23 MBW 12 (2005), 135 f. 24 B ENZING, Bibliographie (wie Anm. 2), 69–71. 25 MBW.T 2, 224–230 Nr. 365a; zuvor MBW 1, 191 Nr. 395. 26 MBW 308.2 = MBW.T 2, 111 App. Q 11. 27 MBW 463. - MBW 10 (1998), 340 f. 28 B ENZING, Bibliographie (wie Anm. 2),73 f Nr. 46–50. 19
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meist ohne Melanchthons Mitwirkung zustande gekommen, darunter sogar unautorisierte Vorlesungen. Den Nachdrucken der Schulbücher hat Setzer eigene Vorreden beigegeben29. Ein Jahr später, im Mai 1527, finden wir den Hagenauer Drucker erneut in Wittenberg30. Vier Druckaufträge Melanchthons waren die Ausbeute31, darunter der wichtige Kommentar zum Kolosserbrief. Die PlutarchÜbersetzung des Breslauer Humanisten Johannes Metzler, die dieser Ende 1526 mit der Bitte um Drucklegung an Melanchthon geschickt hatte, dürfte er damals mitgenommen haben; er brachte sie im Juni 1527 heraus32. Auch von Luther konnte er fünf Titel akquirieren33. Schon im April 1527 war Melanchthons verbesserte Dialektik erschienen. Das Manuskript hatte offenbar Setzers Mitarbeiter Hans Mauser (alias Hüffel) mitgenommen, der im Herbst 1526 in Wittenberg war34. Bugenhagens Kommentar zum Römerbrief, der im Januar 1527 in Hagenau gedruckt wurde35, dürfte er ebenfalls damals mitgenommen haben. Melanchthons griechische Grammatik hingegen, die im Januar 1527 herauskam, wurde von Gerbel in Straßburg besorgt36. Auch 1528 war Setzer im Mai in Wittenberg37. Das war nun schon eine Gewohnheit. Wahrscheinlich hat er gleichzeitig die Leipziger Jubilatemesse besucht. Die Ausbeute war in diesem Jahr nicht so üppig. Doch bekam er immerhin eine theologisch so wichtige Schrift wie das Votum gegen die Wiedertäufer38. Setzer brachte seinen Lieblingsautor dazu, einen Kommentar zu den Proverbien Salomonis, die er bisher nur in einer neuen Übersetzung vorgelegt hatte, auszuarbeiten39. 1529 war er vollendet40. In diesem Jahr durfte Setzer fünf weitere Werke Melanchthons drucken41. In Wittenberg war er, soviel wir wissen, nicht. Es gab auch keinen Grund, denn Melanchthon befand sich im März und April in Speyer beim Reichstag42, wo ihn der Hagenauer bequem aufsuchen konnte, und von wo ihm Melanchthon mindest ein eiliges Manuskript schickte, die Vorrede zu 29
CR 20 (1854), 195/196 und 337–340. MBW 550 = MBW.T 3, 70.4 . 31 B ENZING, Bibliographie (wie Anm. 2), 76 f Nr. 62. 32 MBW 515 und 533 = MBW.T 2, 512 f; MBW.T 3, 46.20. 33 BENZING, Bibliographie (wie Anm. 2), 76 f Nr. 62–66. 34 MBW 508 = MBW.T 2, 503.2 . Der Name des minister Secerii, der dem Regest unbekannt ist, wurde schon von Karl STEIFF (wie Anm. 1, S. 21 f) ermittelt. 35 B ENZING, Bibliographie (wie Anm. 2), 75 Nr. 56. 36 Ebd. 77 Nr. 68. 37 MBW 677–679. 38 MBW 676. 39 MBW 693.3 = MBW.T 3, 335.14 f. 40 MBW 750. 41 B ENZING, Bibliographie (wie Anm. 2), 86 f Nr. 120–124. 42 MBW 10 (1998), 371–373. 30
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seinem damals dann doch nicht erschienen Danielkommentar43. 1530 war Melanchthon die meiste Zeit in Augsburg44. Vermutlich hat ihn Setzer dort besucht; doch gibt es dafür keinen Beweis. Gedruckt hat er von Melanchthon nur ein Werk, und dies schon im März45, also vor dem Reichstag, dessen Pflichten Melanchthons sonstige Produktion zum Erliegen brachten. 1531 war Setzer im Frühjahr nicht in Sachsen, sondern er schickte seinen Mitarbeiter46. Vielleicht war es Peter Braubach, der seit 1529 bei ihm arbeitete und sein Schwiegersohn und Geschäftsnachfolger wurde47. Im Februar 1532 starb er, angeblich plötzlich48, aber vielleicht hat er sich schon im Jahr zuvor der Reise nicht mehr gewachsen gefühlt. Der verständliche Eifer zur Gewinnung von Druckaufträgen allein erklärt die offenbar enge Verbindung zwischen dem Wittenberger Gelehrten und dem Hagenauer Geschäftsmann nicht ausreichend. Warum blieb ihm Melanchthon trotz seiner fehlerhaften Arbeitsweise treu? Der Grund dürfte eine in Melanchthons Jugend begründete Freundschaft sein. Der blutjunge Humanist und der etwa 20 Jahre ältere, nicht ungebildete Handwerker waren in Tübingen Arbeitskollegen beim Druckherrn Thomas Anshelm, der den Hochbegabten schon in Pforzheim kennenlernt hatte und nun in Tübingen dessen Sorgfalt bei der Korrektur und offenbar auch Redaktion wissenschaftlicher Druckwerke nutzte. Dies bezeugt er selbst49. Setzers Biographie liegt bis 1517 im Dunkeln. In diesem Jahr erschien der zweite Teil der Dunkelmännerbriefe mit dem Carmen rithmicale magistri Philippi Schlauraff, worin er mit Wolfgang Angst, der den ersten Teil der »Epistolae obscurorum virorum« gedruckt hatte50, die beiden gewalttätigen Hagenauer Feinde der Dunkelmänner darstellt, aber als einer
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MBW 769 f = MBW.T 3, 474–481, bes. 481.15. - Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Verständnis des Danielbuchs. In: Die Geschichte der Daniel-Auslegung in Judentum, Christentum und Islam. Studien zur Kommentierung des Danielbuches in Literatur und Kunst, hrsg. v. Katharina Bracht und Daniel S. du Toit (2007), 293–321. 44 MBW 10 (1998), 384–388. 45 B ENZING, Bibliographie (wie Anm. 2), 91 Nr. 146. 46 MBW 2, S. 32 zu Nr. 1152 und S. 34 Nr. 1157; MBW.T 5, 122.3 . 47 MBW 11 (2003); 201 f. - Anja W OLKENHAUER; Zu schwer für Apoll. Die Antike in humanistischen Druckerzeichen des 16. Jahrhunderts (2002), 262–270. - Christoph RESKE, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet (2007), 322 f. 48 STEIFF, Setzer (wie Anm. 1), 314 f. 49 Karl STEIFF, Der erste Buchdruck in Tübingen 1498–1534 (1881, Repr. 1963), 22. Ausführlich Stefan RHEIN. Buchdruck und Humanismus – Melanchthon als Korrektor in der Druckerei des Thomas Anshelm. In: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland, hrsg. v. Stefan Rhein, Armin Schlechter und Udo Wennemuth (1997), 63–74. 50 NDB 1 (1953), 296 (Heinrich GRIMM ). - ContEras 1 (1985), 58 f (Peter G. B IETENHOLZ). - RESKE , Buchdrucker (wie Anm. 47), 320 f.
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verspottet wird, der gerade mal Baccalaureus ist: qui vix est baclarius51. Dies ist das erste sichere Datum seiner Biographie. Was er davor erlebte, muss erschlossen werden. Studiert hat er demnach, aber wie die Allermeisten nur den untersten Grad erlangt. Doch ist er in keiner Matrikel nachweisbar. Nach seinem Geburtsort nennt er sich Lauchensis. Dass damit nicht Laucha an der Unstrut oder die kleinen Orte in Thüringen oder bei Löbau, sondern Lauchheim am Oberlauf der Jagst gemeint ist, hat Karl Steiff wahrscheinlich gemacht, worin ihm alle Biographen gefolgt sind52: Lauchheim53 war ein Städtchen im Besitz der benachbarten Kommende Kapfenburg des Deutschen Ordens (heute Ostalbkreis von Baden-Württemberg). Die nächsten Universitäten waren in Ingolstadt und in Tübingen. Sein weiteres Leben weist auf Tübingen. Wahrscheinlich hat er dort seinen Studiengrad erworben. Als sein Geburtsjahr hat sich 1478 oder ca. 1478 eingebürgert. Da er 1520 Witwer54 war und eine Tochter Anna hatte, die 1532 seinen Geschäftsnachfolger Peter Braubach heiraten konnte, dürfte dieses Jahr zutreffen. Den akademischen Grad hat er also lange vor 1517 erworben. Seine Frau war die Tochter Thomas Anshelms. Nicht ganz auszuschließen ist, dass sie die zweite Frau war. Dann müsste die Erbtochter aus der ersten Ehe stammen oder eine Stieftochter sein55. Wahrscheinlicher ist die Annahme, seine Tochter, anscheinend das einzige Kind, sei Anshelms Enkelin. Dieser bedeutende Frühdrucker56 arbeitete bis 1511 im markgräflich-badischen Pforzheim, dann im herzoglich-württembergischen Tübingen und verlegte 1516 seine Offizin in die Reichsstadt Hagenau. Dort ist Setzer bezeugt, nicht nur 1517 durch Schlauraff, sondern auch durch Franciscus Irenicus57, der ihn 1518 in seiner »Exegesis Germaniae«
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Epistolae obscurorum virorum, hrsg. v. Aloys B ÖMER, Bd. 2 (1924), 108.6 . STEIFF, Setzer (wie Anm. 1), 298 f. - Josef B ENZING, Buchdruckerlexikon des 16. Jahrhunderts (Deutsches Sprachgebiet) (1952), 67 Nr. 3. - Heinrich GRIMM : Die Buchführer des deutschen Kulturbereichs: Archiv für Geschichte des Buchwesens 7 (1967), 1153–1771, bes. 1462 f Nr. 398. - Josef B ENZING, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet (21982), 172 Nr. 3. - W OLKENHAUER, Druckerzeichen (wie Anm. 47), 267. - Peter AMELUNG in: Lexikon des gesamten Buchwesens2 7 (2007), 64 f. - RESKE, Buchdrucker (wie Anm. 47), 321 f. 53 Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 6: Baden-Württemberg, hrsg. v. Max Miller und Gerhard Taddey. (21980), 735–738. 54 STEIFF, Setzer (wie Anm. 1), 298 Anm. 3 aus Reuchlins Brief an Setzer vom 14. April 1520: Johann Reuchlins Briefwechsel, hrsg. v. Ludwig GEIGER (1875, Repr. 1962), 323 f. Demnächst auch in: Johannes REUCHLIN, Briefwechsel, hrsg. v. Matthias DALL’ASTA und Gerald DÖRNER, Bd. 4, Nr. 385. 55 Der kritische Karl Steiff zieht dies in Erwägung, S. 298. 56 MBW 11 (2003), 78. - RESKE, Buchdrucker (wie Anm. 47), 772. 57 MBW 12 (2005), 350 f. 52
18. Johannes Setzer
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als academiae Anshelmianae praeses und namhaften Gräzisten rühmt58. Es spricht nichts dagegen, dass er schon in Tübingen bei Anshelm arbeitete und sein Schwiegersohn wurde. Ihn als gelehrten Drucker zu bezeichnen, wie zuweilen geschieht, scheint mir trotz Irenicus nicht berechtigt zu sein59. Er hatte zwar das Grundstudium absolviert, konnte also gut Latein und auch etwas Griechisch (das er möglicherweise von Melanchthon gelernt haben könnte), und in seinem Druckerzeichen verwendete er auch Hebräisch; aber er war für einen Gelehrten zu ungenau und bewährte sich statt dessen als erfolgreicher Geschäftsmann. Da er bei Anshelms Ankunft in Tübingen etwa 33 Jahre alt war, liegt die Annahme nahe, dass er damals bei ihm eingetreten ist. Dass er schon in Pforzheim sein Mitarbeiter war, ist nicht ganz auszuschließen, aber m. E. unwahrscheinlich. Jedenfalls gibt es dafür keinen Hinweis. 1522 unternahm Setzer den Versuch, seinem Leben einen neuen Inhalt zu geben. Kurz vor dem 20. Juli 1522 kam er nach Wittenberg, um Medizin zu studieren. So berichtete der Student Felix Ulscenius seinem Mentor Wolfgang Capito60. Ein akademisches Medizinstudium damals verlangte und förderte Kenntnisse des Griechischen. Da war er bei Melanchthon gut aufgehoben. Doch ganz ohne geschäftliche Interessen war der Hagenauer nicht gekommen. Melanchthon arbeitete an einem griechisch-lateinischen Lexikon, das der Vollendung nahe schien. Setzer sollte seinem Prinzipal Anshelm diesen großen Auftrag sichern. So jedenfalls wusste es Ulscenius. Doch das Lexikon ist nie erschienen61. Auch Setzers geplantes Medizinstudium, wozu er noch nicht einmal immatrikuliert wurde, fand ein jähes Ende: Thomas Anshelm starb. Setzer kehrte im März 1523 unverzüglich nach Hagenau zurück, um die Leitung der Firma zu übernehmen62. Seine Eigenständigkeit bekundete er durch ein neues Druckerzeichen, das aber keine Verse Melanchthons enthält, wie irrtümlich behauptet wird63. Solche waren jedoch an oder in seinem Haus angebracht64. 58
W OLKENHAUER, Druckerzeichen (wie Anm. 47), 267 aus Walther LUDWIG, Hellas in Deutschland. Darstellungen der Gräzistik im deutschsprachigen Raum aus dem 16. und 17. Jahrhundert (1998), 21. 59 Auch STEIFF hält ihn primär für einen Handwerker: Centralblatt für Bibliothekswesen 10 (1893), 20 f. 60 STEIFF, Setzer (wie Anm. 1), 304 aus Th. KOLDE, Analecta Lutherana (1883), 229; Regest: Olivier MILLET, Correspondance de Wolfgang Capiton (1478–1541). Analyse et index (D'après le Thesaurus Baumianus et autres sources) (1982), 47 Nr. 140. Das von GRIMM, Buchführer (wie Anm. 52) gebotene Datum Herbst 1521 ist also viel zu früh. 61 MBW.T 1, S. 500 App. Q 119 und S. 553 s. v. Dictionarium. 62 WAB 3 (1933), 50 f Anm. 3. 63 Richtiggestellt von W OLKENHAUER, Druckerzeichen (wie Anm. 47), 264 f. 64 Ebd. 266 aus STEIFF, Setzer (wie Anm. 1), 316 f. Das Gedicht ist sonst nicht bekannt, vgl. Wilhem HAMMER, Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte. Ein beschreibendes Verzeichnis, Bd. 2 (1968), 392 f Nr. 2415b.
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18. Johannes Setzer
Beim Abschied machte ihn Melanchthon auf die Chronik des Lambert von Hersfeld aufmerksam, die handschriftlich in der Bibliothek des Augustinerklosters Tübingen lag. Die Edition wurde jedoch nicht von Setzer, sondern von dem Tübinger Ulrich Morhart im August 1525 herausgegeben 65. Melanchthons Verbindung mit Setzer wurde durch dessen Wittenberger Studienaufenthalt gefestigt, aber nicht begründet. Als die monumentale »Exegesis Germaniae« des Irenicus bei Thomas Anshelm in Hagenau gedruckt wurde, kam Melanchthon 1517 und 1518 für einige Zeit nach Hagenau, um seinem Freund aus Pforzheimer Lateinschultagen bei der Vollendung seines noch nicht ganz ausgereiften Werkes zu helfen66. Setzers von Anshelm im übrigen anerkannte Fähigkeiten reichten dafür nicht aus67. Doch ohne Zweifel lernten sich die beiden nicht erst damals kennen. Der Heidelberger Baccalaureus war mit 15 Jahren nach Tübingen gekommen. Sein weiteres Studium verdiente er sich als Korrektor in Anshelms Druckerei68. Dort hat er den 20 Jahre älteren Druckgehilfen kennengelernt. Anscheinend entstand zwischen den beiden Arbeitskollegen eine Freundschaft. Der junge Melanchthon hatte ja in Tübingen deutlich ältere Freunde: den Alpirsbacher Mönch Ambrosius Blarer69 und den Weinsberger Stiftsprediger Johannes Oekolampad70. Später sammelte er eine große Zahl junger Schüler um sich, von denen einige enge Freunde wurden. Sein bester Freund, Joachim Camerarius71, war nur drei Jahre jünger und ihm geistig gewachsen. Dies war Setzer gewiss nicht. Aber Melanchthon hielt ihm die Treue wie auch einem anderen Freund und Landsmann aus Tübinger Tagen, dem Berliner Hofastrologen Johannes Carion72, der dadurch unsterblich geworden ist, dass Melanchthon sein eigenes, höchst erfolgreiches Geschichtswerk weiterhin nach dem längst verstorbenen Verfasser einer zwar auch erfolgreichen, aber recht knappen Chronik, die er druckreif gemacht hatte, benannte. Landsleute bedeuteten ihm zeitlebens viel. Er, der Kurpfälzer, empfand den Schwaben Setzer als einen Landsmann und liebte ihn.
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MBW 304 = MBW.T 2, 107.15 f. MBW 10 (1998), 260. 67 STEIFF, Setzer (wie Anm. 1), 302 f. - DERS., Buchdruck (wie Anm. 49), 22. 68 Wie Anm. 49. 69 MBW 11 (2003), 165 f. 70 RGG4 6 (2003), 458 f (Martin H. J UNG). 71 MBW 11, 253 f. 72 MBW 11, 269. 66
Melanchthons Freundschaft mit Matthäus von Wallenrode An einem schönen Sommertag, vielleicht des Jahres 1525, schickte der 28jährige Magister artium Philipp Melanchthon, seit sieben Jahren ordentlicher Professor für griechische Sprache und Literatur an der Universität Wittenberg, seit beinahe sechs Jahren auch Dozent an der theologischen Fakultät, einen Boten zu seinem wenig jüngeren Schüler Matthäus von Wallenrode mit einem kurzen Gedicht. Es lautet1: Si mecum Walorhode rusticari Et secedere in oppidum propinquum Languentemque animum excitare ludo Paulum ponere seriasque curas Et concedere ferias Cepollae Et tristem libet excitare frontem, Huc nostras propere venito ad aedes. Expectant comites amica turba Votisque omnibus advolare te orant. Accurras igitur, simulque tecum Tantum quaeso feras facetiarum, Quantum Bartolus atque Baldus, illi Insulsi illepidi tui magistri, Nugarum omnibus edidere libris. Tantum Mercurius ciere risus Non possit Charitesque blandiores, Quantum tu poteris movere risus.
Wenn Du, Wallenrode, mit mir eine Landpartie ins nächste Städtchen machen und den müden Geist durch ein Spiel anregen, die ernsten Sorgen ein wenig beiseite lassen und der Cepolla ihren Festtag gönnen und die traurige Stirn anregen willst, dann komm schnell zu meinem Haus. Es erwarten Dich die Gefährten, eine Freundesschar, und bitten Dich inständig zu kommen. Lauf also her und bring bitte so viele Späße mit, wie Bartolus und Baldus, Deine faden, humorlosen Meister, in allen ihren Büchern an Unsinn publiziert haben. So viel Gelächter könnten Merkur nicht erzeugen und die reizenden Grazien, wie Du uns zum Lachen bringen wirst.
Ausflüge dieser Art gab es viele, solche Einladungen in Gedichtform auch. Dieses Gedichtchen blieb erhalten und bekannt, weil sein Verfasser ein berühmter Mann ist, den wir nicht vorzustellen brauchen2. Der Empfänger jedoch ist heute nahezu unbekannt, obgleich er nach seinem Studium ein mächtiger und reicher Mann wurde. Das wenige, was wir über ihn als Individuum ermitteln konnten, beleuchtet auch seinen Stand und dessen
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Text aus CR 10 (1842), 495 Nr. 41. Heinz SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie (1997). - Die zahlreichen Publikationen des 500. Geburtsjubiläums werden besprochen von Helmar J UNGHANS, Das Melanchthonjubiläum 1997: Lutherjahrbuch 67 (2000), 95–162. 2
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19. Matthäus von Wallenrode
Funktion in jener Epoche des Übergangs vom europäischen Mittelalter zur Neuzeit, die wir „die Reformation“ schlechthin nennen. Matthäus von Wallenrode, auch Matthias und Ballerhodus, Valdenrod, Wallenrodt, Wallenroth, Walorhodus, Walrod oder Walroder genannt, entstammte einem alten oberfränkischen Adelsgeschlecht3. Am 23. Mai 1519 ließ er sich in die Wittenberger Matrikel eintragen, nachdem er seit dem Wintersemester 1516/17 in Leipzig studiert hatte4. Im Januar 1525 lernte er schon eifrig Griechisch. Am Dreikönigstag, als Melanchthon in seiner Hausschule wie üblich den „rex“, der ein Jahr lang der oberste der Schüler war, bestimmte, erschien dort Wallenrode und beteiligte sich an dem erstmals veranstalteten literarischen Wettbewerb der Knaben. Er gewann mit einem geschliffenen Gedicht (eleganti carmine) den Vorsitz beim Festessen. Melanchthon war begeistert, dass sich der fortgeschrittene Student so locker unter die Anfänger mischte. Er testierte ihm indoles liberalis und liberale ingenium. Am 22. Januar schrieb er dies dem Freund Joachim Camerarius, der sich in seiner Heimat Bamberg aufhielt5. Gut zwei Jahre später, wahrscheinlich am 12. April 1527, begegneten sich Melanchthon und Wallenrode in der Stadt Mansfeld, offenbar zufällig. Melanchthon hatte in der Zeit vor Ostern mit Freunden und Schülern eine Reise nach Stolberg, Nordhausen und rückwärts nach Eisleben unternommen6. Wozu Wallenrode dorthin kam, wissen wir nicht. Er studierte noch immer das bürgerliche Recht7, was schon in dem Ausflugs-Gedicht vorausgesetzt ist. Vielleicht sondierte er wegen einer Anstellung bei dem Grafen Botho von Stolberg, wie dies für 1531 bezeugt ist8. Melanchthon war über das Wiedersehen mit seinem begabten Schüler so erfreut, dass er ihm die Publikation einiger ins Lateinische übersetzter Reden des Demosthenes widmete, die der Hagenauer Drucker Johannes Setzer, ebenfalls ein
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Gerhard KÖBLER, Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien und reichsunmittelbaren Geschlechter vom Mittelalter bis zur Gegenwart (61999), 695. - Rainer AXMANN, Melanchthon und seine Beziehungen zu Coburg: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 42 (1997), 129–224, bes. 168 f und 177–179. - Otto CLEMEN, Der Coburger Festungshauptmann Matthes von Wallenrodt: Coburger Heimatblätter 14 (1936), 94–97, jeweils mit Erwähnungen in der älteren Literatur. 4 AXMANN (wie Anm. 3), 168. 5 MBW.T 2 (1995), 239–241 Nr. 371.3. Die Umstände jener Feier wurden von Stefan Rhein aufgehellt: Stefan RHEIN, Philologie und Dichtung. Melanchthons griechische Gedichte (Edition, Übersetzung und Kommentar), Diss. Phil. Heidelberg 1987/88, S. 178–190, Microfiche-Ausgabe 1992, S. 153–163. Dadurch sind Supplementa Melanchthoniana, Bd. 6/1 (1926, Repr. 1968), 276 Nr. 390, und MBW 1 (1977), 181 Nr. 371, überholt. 6 MBW 534–536; MBW 10 (1998), 350 f; MBW.T 3 (2000), 48 Nr. 535 Z. 5–8. 7 MBW 549. 8 MBW 1171.
19. Matthäus von Wallenrode
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Schüler Melanchthons, am 20. Mai 1527 aus Wittenberg mitnahm9. Melanchthon hatte schon vor mehreren Jahren die Notwendigkeit erkannt, die Bedeutung der bürgerlichen Gesetze, die von manchen Christen verachtet werden, für das Zusammenleben der Menschen zu betonen. Er behandelte in seinen Vorlesungen die Ethik nicht nur nach Cicero, sondern ab 1527 auch wieder nach Aristoteles. Unter dem Eindruck der Kirchenvisitationen, die er wenige Monate danach in Thüringen beginnen musste, fand auch die theologische Bedeutung des Gesetzes ihre abschließende Klärung10. Dem Rechtsstudenten Wallenrode widmete er also Texte aus der heidnisch-antiken Rhetorik und Politik, auf denen auch die kaiserlichen Gesetzestexte aufbauen, als Hilfe für seinen zukünftigen Beruf und sein persönliches Leben. Er war damit erfolgreich. Wahrscheinlich setzte Wallenrode sein juristisches Studium in Frankreich fort, was nicht unüblich war. Jedenfalls beherrschte er die französische Sprache, wie Veit Ludwig von Seckendorff (dessen Urgroßmutter väterlicherseits eine Wallenrode war) in seiner »Historia Lutheranismi« bezeugt11. Im Sommer 1531 befand er sich auf dem Familiensitz Streitau, heute Ortsteil von Gefrees im Kreis Bayreuth, damals unter der Oberherrschaft des Markgrafen Georg des Frommen von Brandenburg-Ansbach-Kulmbach. Er bemühte sich um ein Dienstverhältnis beim Grafen Botho von Stolberg; Melanchthon unterstützte seine Bewerbung12. Doch war sie anscheinend nicht erfolgreich, jedenfalls nicht auf Dauer, denn in den nächsten Jahren trat er als Rat in den Dienst des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen. 1541 erscheint er in den Quellen als Amtmann „ufm Schneeberg“13. Wenn er dies schon 1539 war, was zu vermuten ist14, dann hat ihn Melanchthon getroffen, als er am 1. und 2. Mai 1539 im Gefolge des Kurfürsten durch Schneeberg kam15. 1540 und 1541 wurde er in verantwortungsvollen Missionen nach Frankreich und zweimal zu Her-
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MBW 549. Heinz SCHEIBLE, Die Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für theologische Ethik und Praktische Theologie am Beispiel Melanchthons (2000): oben Nr. 13. 11 Veit Ludwig VON SECKENDORFF, Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo seu de reformatione religionis ductu D. Martini Lutheri [...] (1694), Buch 3, S. 260. 12 MBW 1171 mit Bd. 10, S. 211. 13 Georg MENTZ, Johann Friedrich der Grossmütige 1503-1554, Bd. 3 (1908), 483. 14 Die zur Ermittlung von Wallenrodes Karriere erforderlichen Archivstudien konnten wegen des Termindrucks einer Festschrift nicht durchgeführt werden. Unser Thema ist Melanchthons Verhältnis zu Wallenrode; dies wird erschöpfend behandelt. 15 MBW Bd. 10 (1998), 485. 10
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19. Matthäus von Wallenrode
zog Wilhelm von Kleve-Jülich entsandt16. Es ging um die Heirat Wilhelms, der ein Schwager des sächsischen Kurfürsten war, mit der Thronerbin von Navarra, Jeanne d’Albret (die später die Mutter König Heinrichs IV. von Frankreich wurde), und um seinen Beitritt zum Schmalkaldischen Bund. Wallenrode äußerte früh seine Zweifel an der Bereitschaft der Prinzessin, nach Düsseldorf zu heiraten, und sollte recht behalten. Auch das Bündnis mit Jülich kam nicht zustande, weil sich die kaiserliche Diplomatie als überlegen erwies. Wallenrode wurde von seinem Kurfürsten mit einer säkularisierten Propstei belohnt, die er 1542 für 4000 Gulden an die Stadt Rodach verkaufte17. Bald danach erlangte Wallenrode mit einem der höchsten Ämter, das der Kurfürst von Sachsen zu vergeben hatte, die Position seines Lebens: er wurde Burghauptmann der Veste Coburg und Statthalter der Pflege Coburg. Das Coburger Land schloß sich ja erst 1920 durch Volksabstimmung dem Freistaat Bayern an18. Bis dahin war es wie auch das Amt Königsberg der südliche Stützpunkt der wettinischen Länder. Bekannt ist Luthers Aufenthalt auf der Coburg während des Augsburger Reichstags von 1530. Damals hieß der Befehlshaber Hans von Sternberg, der 1532 starb19. Das nächste Mal kam Melanchthon 1536 auf der Rückreise von Tübingen, wo er für die Universitätsreform beratend tätig war, durch Coburg. Er übernachtete am 23. Oktober in einem Gasthaus am Markt. Die Kosten übernahm die sächsische Regierung; sie wurden von dem Schösser bezahlt20, das ist der dem Hauptmann unterstellte Finanzbeamte. Wallenrode war damals noch nicht in Coburg. Er wurde als der Vertrauensmann des Kurfürsten in diese Position gebracht, als 1542 dessen Halbbruder Johann Ernst dort eine relativ selbständige Herrschaft zugestanden wurde21. Erstmals in Melanchthons Briefwechsel erscheint Matthäus von Wallenrode als Befehlshaber auf der Coburg am 9. April 154422. Joachim Camerarius, dem Melanchthon 1525 so begeistert über Wallenrodes Auftritt in der Hausschule berichtet hatte, war inzwischen nach Tätigkeiten in Nürnberg und Tübingen Professor für griechische Literatur an der Universität Leipzig geworden. Er wollte eine Reise ins katholische Unterfranken, nach Würzburg, unternehmen. Melanchthon bat den Coburger Hauptmann, dem 16
MENTZ (wie Anm. 13), Bd. 2 (1908), 252, 267 f, 308 Anm. 1, 348–352. - Paul VETTER, Eine kursächsische Gesandtschaft nach Frankreich 1540: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 14 (1893), 21–33. 17 AXMANN (wie Anm. 3), 169. 18 Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 7: Bayern, hrsg. v. Karl Bosl (1961), 118 f. 19 WAB 5 (1934), 23 f Nr. 582; 13 (1968), 181. 20 MBW 10 (1998), 456. 21 MENTZ (wie Anm. 13), Bd. 3, 123 f. 22 MBW 3510.
19. Matthäus von Wallenrode
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gemeinsamen Freund einige Reiter zum Schutz beizugeben. Er wußte, dass Wallenrode dies auch ohne seine Fürsprache tun würde. Aber er wollte ein Dokument seiner Freundschaft und dem ehemaligen Schüler eine Probe seiner Stilkunst abliefern. Damit war er dann doch unzufrieden; Amtsgeschäfte raubten die erforderliche Muße23. Der Brief gelangte nicht nach Coburg, denn Camerarius konnte die geplante Reise nicht antreten, weil er zum Rektor der Universität Leipzig für das Sommersemester 1544 gewählt wurde. Er blieb aber im Nachlaß des Camerarius erhalten und wurde 1651 von dessen Enkel Ludwig, dem kurpfälzischen Politiker, publiziert24. Als Camerarius am 17. Oktober endlich nach Franken abreisen konnte, wurde er von Wallenrode begleitet, der nach Leipzig gekommen war25. Melanchthon war von 8. bis 11. Oktober bei Camerarius in Leipzig gewesen26. Vermutlich hat er dort auch Wallenrode getroffen. Am 5. Oktober hatte er Camerarius noch vor den Gefahren einer Reise nach Franken gewarnt, die von der aufgewühlten Ritterschaft drohten27. Im Brief des 14. Oktober, wieder aus Wittenberg geschrieben, ist davon nicht mehr die Rede, sondern von der Begleitung Wallenrodes28, der auf Grund seines Standes und seiner Position den besten Schutz bot. Als 1543 in Kursachsen die zunächst sequestrierten Klostergüter an Privatleute verkauft wurden, erwarb Wallenrode das Prämonstratenserkloster Mildenfurth, das er am 1. Mai 1544 in Besitz nahm29, und am 30. Mai 1544 für 3200 Gulden (das waren mehr als zehn Jahresgehälter Melanchthons) das Dominikanerinnenkloster Cronschwitz30. Beide waren dem ernestinischen Amt Weida zugeordnet und dadurch 1527 von Melanchthon visitiert worden. Heute sind sie Ortsteile von Wünschendorf (Elster), Kreis Greiz im Freistaat Thüringen. Das stattliche Stift Mildenfurth liegt malerisch an der Weißen Elster. Wallenrode baute die romanische Kirche zu einem Renaissance-Schloß um, das er 1554 als Alterssitz wählte. Die spätere landwirtschaftliche Nutzung hat das Anwesen schwer beschädigt. Seit den 1990er Jahren konserviert die staatliche Denkmalspflege die Reste des einzigartigen Baudenkmals. 1552 war Wallenrode in 23
MBW 3511 und 3537. Heinz SCHEIBLE, Überlieferung und Editionen der Briefe Melanchthons (1968): Forschungsbeiträge (1996), 1–27, bes. 9. 25 MBW 3708 und 3711, vgl. auch 3715. 26 MBW 10 (1998), 545 f. 27 MBW 3700. 28 MBW 3708. 29 Rudolf DIEZEL, Das Prämonstratenserkloster Mildenfurth bei Weida (Thüringen) (1937), auch als: Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte 5 (1937), 1–340, 4 Tafeln, 1 Karte, bes. S. 98 f. - Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 9: Thüringen, hrsg. v. Hans Patze (1968), 280 f. 30 WAB 10 (1947), 277–279 Nr. 3858. - Handbuch (wie Anm. 29), 73–75. 24
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19. Matthäus von Wallenrode
der Lage, seinem Landesherrn Geld zu leihen31. 1553 erwarb er als Pfandbesitz die brandenburg-kulmbachische Burg Hohenberneck unweit seines Stammsitzes Streitau (heute Bad Berneck im Fichtelgebirge), die 1478– 1499 einem Veit von Wallenrode gehört hatte32. Bis zur Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1547 unterstanden Wallenrode und Melanchthon demselben Landesherrn, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen von der ernestinischen Linie der Wettiner. Nachdem dieser in die Gefangenschaft Kaiser Karls V. geraten und mit großen Teilen seines Landes auch die Kurwürde an seinen verfeindeten Verwandten Moritz von der albertinischen Linie verloren hatte, Melanchthon den Übertritt in die neue Hochschule Jena ablehnte und die Wiedereröffnung der Universität Wittenberg betrieb33, entstand eine Entfremdung zwischen manchen Politikern und Theologen der beiden Staaten, doch durchaus nicht bei allen und überhaupt nicht zwischen Melanchthon und dem Hauptmann der Coburg. Justus Jonas, der langjährige Kollege Melanchthons an der Universität Wittenberg, der als Folge des Schmalkaldischen Krieges aus seinem Reformatorenamt in der erzbischöflich-magdeburgischen Stadt Halle vertrieben worden war und als Hofprediger des Herzogs Johann Ernst von Sachsen in Coburg ein Unterkommen gefunden hatte, schrieb am 4. März 1552 im Auftrag Wallenrodes an Melanchthon wegen einer Stipendienangelegenheit34. Dabei versicherte er: „Wallenrode selbst und die ganze hiesige Gruppe von vielen guten, wahrhaft adligen, wahrhaft hochherzigen Männern setzen sich eifrig für den Namen Melanchthon ein; sie lieben Dich aufrichtig und verehren Dich als Vater im Herrn.“ Diese herzlichen Worte sind die Antwort auf einen Brief Melanchthons, den er aus Nürnberg wenige Tage nach seiner Ankunft an Jonas gerichtet hatte35. Er befand sich auf seiner Gesandtschaftsreise zum Trienter Konzil, die dann aber infolge des Fürstenkrieges gegen Kaiser Karl V., der auch dem immer noch gefangenen Johann Friedrich von Sachsen die Freiheit bringen sollte, in Nürnberg ihr Ende fand. Melanchthon hätte gern mit seinem alten Freund Jonas die Lage erörtert. Aber er, der in seiner Reiseplanung nicht frei war, wurde nicht durch Coburg geführt, angeblich wegen Überschwemmung36; doch dürfte dem Dresdner Hof ein Aufenthalt Melanchthons an der ernestinischen Nebenresidenz nicht willkommen gewesen sein. Auch auf der Rückreise kam er nicht durch Coburg, obwohl 31
MENTZ (wie Anm. 13) Bd 3, 226 Anm. 1. Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 7: Bayern, hrsg. v. Karl Bosl (1961), 52 f. 33 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon rettet die Universität Wittenberg (1998): oben Nr. 14. 34 MBW 6375; zitiert von Clemen (wie Anm. 3), 94. 35 MBW 6317. 36 Ebd. § 4. 32
19. Matthäus von Wallenrode
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er dies versprochen hatte37. Es blieb also trotz der räumlichen Nähe beim Briefwechsel. Dabei ließ sich Melanchthon den Räten und Theologen empfehlen. Wie Jonas antwortete, haben wir zitiert. Ein gutes Jahr später klang dessen Bericht ganz anders: In den zwei Jahren, die Jonas am Hof in Coburg tätig war, habe er bei Herzog Johann Ernst für ein gutes Verhältnis zu den Wittenbergern geworben. Einzig Matthäus von Wallenrode habe ihn dabei unterstützt. Nach dem Tod des Herzogs wollte Jonas nicht länger in Coburg bleiben. Am liebsten wäre er zu Melanchthon gekommen38. In einem späteren Brief, als er längst nicht mehr in Coburg lebte, war er noch voll des Lobes über Wallenrodes Regierungstätigkeit39. Jonas’ Urteil über Wallenrode dürfte dessen persönliche Einstellung richtig wiedergeben. Jedenfalls entspricht sie seinen letzten Worten an Melanchthon, die wir noch kennenlernen werden. Offiziell hat er aber dahin gewirkt, dass Johann Ernst, der tatsächlich verdächtigt wurde, Sympathien für die Wittenberger zu haben, sich nicht von der Linie des Weimarer Hofes entfernte40. Bei der Stipendiensache, die Jonas am 4. März 1552 zur Sprache brachte, handelt es sich um das Familienstipendium Wallenrode, das Matthäus als Senior seiner Familie zu vergeben hatte. Es war mit jährlich 100 Gulden dotiert, eine stattliche Summe, von der eine Familie gut leben konnte. Melanchthon wurde aufgefordert, dafür einen 30- oder 31-jährigen Studenten zu benennen, der Frau und Kinder hatte41. Wir wissen nicht, wer das Stipendium bekommen hat. Schon im November 1551 hatte Melanchthon den soeben mit Auszeichnung zum Magister promovierten Nikolaus Scheller, einen hochbegabten Mathematiker, der in seine Heimatstadt Coburg zurückkehrte, an Wallenrode und an den Stadtarzt Christoph Stathmion zur Weiterempfehlung an den Herzog empfohlen42. Am 20. April 1552 läßt Wallenrode Melanchthon durch Stathmion grüßen43. Wir erfahren auch von einem Brief Melanchthons an den Hauptmann, der nicht erhalten ist44. Matthäus von Wallenrode hatte einen Sohn, der den Namen des Coburger Herzogs Johann Ernst trug, und eine Tochter Agatha, die am 21.
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MBW 6422. Die Reiseroute siehe MBW 10 (1998), 631–633. MBW 6800 vom 20. April 1553 aus Regensburg. 39 MBW 7365 vom 22. Dezember 1554 aus Eisfeld. 40 MENTZ (wie Anm. 13), Bd. 3, 295 f. 41 MBW 6375. 42 MBW 6194 f. 43 MBW 6422. 44 MBW 6796. 38
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19. Matthäus von Wallenrode
November 1557 Hans von Heßberg zu Eishausen heiratete. Seine Ehefrau hieß Barbara; sie starb 1570 (5. September beigesetzt)45. Theologischen Streitigkeiten stand Wallenrode distanziert gegenüber. Er blieb damit auf der Linie, die er den einstmals ihm gewidmeten Reden des Demosthenes entnehmen konnte, wenn er damit auch Melanchthons Meinung etwas einseitig auslegte. Viele Briefe hatten die beiden anscheinend nie gewechselt. Fleißiger war hierin der Coburger Stadtarzt Christoph Stathmion, der sich mit dem Wittenberger Professor nicht nur über Astronomie, Astrologie und Medizin austauschte, sondern sich auch an theologische Themen wagte. Am 28. Februar 1551 schickte er Melanchthon seine Aufzeichnungen über die Rechtfertigungslehre, ein hochbrisantes Thema, das gerade damals durch den Streit der Melanchthon-Schüler mit Andreas Osiander, dem nach Königsberg in Preußen ausgewanderten Nürnberger Reformator, auch im evangelischen Lager aktuell und streitig wurde. Er hatte sein Manuskript zuvor Matthäus von Wallenrode gezeigt, der in seiner offenen Art sagte, Stathmion solle bei seiner Medizin bleiben. Er brachte dennoch einige handschriftliche Bemerkungen an46. Am 8. Oktober 1555 kam Melanchthon ein letztes Mal nach Coburg47. Er war von der Reichsstadt Nürnberg zur Schlichtung theologischer Streitigkeiten eingeladen worden, war also in der Wahl der Route frei. Wenn Wallenrode anwesend war, haben die beiden sicher miteinander gesprochen. Justus Jonas hatte sein letztes Amt in Eisfeld gefunden. Melanchthon konnte ihn nicht besuchen, schickte ihm aber ein gedankenreiches Briefgedicht48. Jonas hat es nicht gelesen. Er starb an diesem 8. Oktober 1555. Ein Brief des alten Wallenrode an seinen alten Lehrer Melanchthon ist im Original erhalten geblieben, weil ein junger Schüler Melanchthons, der spätere Görlitzer Bürgermeister Georg Schmid49, es für seine Autographensammlung erbeten hatte. 1936 wurde er von Otto Clemen veröffentlicht50. Damals befand sich die Sammlung in der Kirchenbibliothek von Landeshut in Schlesien, seit 1988 ist sie als Depositum in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Die gerade, zupackende Art des Hauptmanns verdient eine wörtliche Übersetzung aus dem Latein des gebildeten Politikers.
45
AXMANN (wie Anm. 3), 169 und 175. - CLEMEN (wie Anm. 3), 95 f. - Axmann hat überzeugend wahrscheinlich gemacht, dass der Sohn „D[omini] Matthaei“, den Melanchthon am 5. Februar 1556 dem Christoph Stathmion empfahl, nicht Wallenrodes Sohn war, wie MBW Bd. 7, S. 390 Nr. 7710 mit Clemen S. 97 Anm. 16 vermutet wird, sondern der des Matthäus Ratzeberger, den Axmann als Arzt in Coburg nachweisen konnte. 46 MBW 6007. 47 MBW 10 (1998), 672. 48 MBW 7604. 49 MBW 8756. - WAB 14 (1970), 319 f. 50 MBW 8640. - CLEMEN wie Anm. 3.
19. Matthäus von Wallenrode
325
Am 3. Juni 1558 schrieb Matthäus von Wallenrode aus Coburg, wo er weiterhin Befehlshaber war, an Melanchthon in Wittenberg: Ich kann mich nicht genug wundern, wie es so weit kommen konnte, dass nicht allein die Söhne dieser Welt, sondern auch die Söhne des Lichts heutzutage so darauf aus sind, Kriege anzufangen, wo doch der heilige Paulus, der Lehrer der Völker, eine solche Lebensweise keineswegs vorschreibt. Mein Wunsch wäre es, dass solche Rededuelle zum Nutzen der Kirche geführt würden, der Du bisher treu und in Würde gedient hast. Und wenn ich mir auch bewußt bin, von diesen Dingen überhaupt nichts zu verstehen, meine ich doch, dass diesen Deinen Schülern, die inzwischen schon untereinander zerstritten sind, irgendeine schwere Strafe nötig wäre. Einer wie der andere, das ist meine Meinung, haben es verdient, von Dir, ihrem Lehrer, mit vielen Schlägen gebessert und verprügelt zu werden. Der allmächtige Herr schütze Deine Unschuld und zügle ihre Gedanken und Zungen, dass sie nicht weiterhin mit Undank Deinen Verdiensten und Mühen entgegenwirken und die Kirche durch ihre Streitigkeiten haßerfüllt mit Füßen treten. Lebe wohl, berühmter Mann, und laß Dir Deinen alten Schüler von Wallenrod weiterhin (Du tust es ja) befohlen sein.
Fast vierzig Jahre zuvor waren sich die beiden in Wittenberg begegnet. Die Sympathie, die der junge Professor für den fränkischen Ritter und dieser für seinen Lehrer empfanden, war zu einer zwar lockeren, aber lebenslangen Freundschaft geworden. Ihre erste Frucht war ein Gelegenheitsgedicht, das seine Liebhaber fand, die es vor dem Untergang bewahrten. Schon im Januar 1528 wurde es in Hagenau von jenem Johannes Setzer gedruckt, der auch im Jahr zuvor die Wallenrode gewidmeten DemosthenesÜbersetzungen verlegt hatte. Herausgeber dieser ersten Gedichtsammlung Melanchthons war Johannes Reiffenstein, der Bruder des Stolberger Rentmeisters Wilhelm Reiffenstein, den Melanchthon 1527 auf der Reise, bei der er Wallenrode in Mansfeld getroffen hatte, neben anderen besuchte. Im Februar 1528 war er bei Melanchthon in Jena51, wahrscheinlich um die Gedichtsammlung zu überbringen. Bald danach ist der Mittzwanziger, der in Löwen studiert und dort Erasmus kennengelernt hatte, gestorben. Eine große Hoffnung der Humanisten war dahin52. Geblieben ist von ihm die »Farrago aliquot Epigrammatum Philippi Melanchthonis, et aliorum quorundam eruditorum, Opusculum sane elegans et novum«53. Sie wurde von den Editionen des 16. und 19. Jahrhunderts übernommen. Das Metrum des Wallenrode-Gedichts ist der phalaeceische Elfsilbler, der von Catull sehr oft verwendet wird. Melanchthon hat u. W. niemals über Catull gelesen und ihn auch selten zitiert. Damals aber muss er ihn studiert haben. In der »Farrago« gibt es noch drei weitere Gedichte in 51
MBW 663 und 665–667; vgl. auch 380 und 527. ContEras 3 (1987), 136 (Michael ERBE). - MBW 1287.4. 53 CR 10 (1842), 463. - Otto CLEMEN, Studien zu Melanchthons Reden und Gedichten (1913), 43–48; auch in: DERS., Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1897– 1944), hrsg. v. Ernst Koch, Bd. 4 (1984), 259–264. 52
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19. Matthäus von Wallenrode
diesem Versmaß, dessen sich Melanchthon später nie mehr bediente. Sie sind aus ähnlichen Anlässen wie das an Wallenrode entstanden. Justus Jonas lud er damit zu einem Abendessen ein, bei dem auch Franken anwesend waren54, also möglicherweise Wallenrode. Ebenfalls zu einem Essen, nun mittags mit Euricius Cordus, wurde Georg Spalatin gerufen55. Dieses Gedicht läßt sich auf den 25. Juli 1525 datieren56. Johannes Reiffenstein, der spätere Editor, wurde mit einem solchen Gedicht verabschiedet, als er seine Familie in Stolberg besuchte57. Wohin der Ausflug ging, zu dem Wallenrode eingeladen wurde, wird nur angedeutet: in ein nahe gelegenes Städtchen. Das nächste, nur 13 km von Wittenberg entfernt, ist Kemberg. Hier wirkte als Propst Bartholomäus Bernhardi, ein früher Schüler Luthers, der als einer der ersten Priester heiratete und dafür von Melanchthon und Karlstadt öffentlich verteidigt wurde58. Der Tag wird angegeben, ist aber schwer zu deuten. Was ist mit „Cepolla“ gemeint? Das Wort „caepula“ bedeutet eine kleine Zwiebel. Wenn man die Großschreibung ernst nimmt, ist die Patronin oder das Fest der Zwiebel oder der Zwiebelgewächse gemeint, wozu Lauch und Knoblauch gerechnet werden. Knoblauchfeste feierte man am Mittwoch nach Pfingsten und am Tag des Pantaleon, der am 27. oder am 28. Juli begangen wurde59. Am 28. Juli 1545 datierte Luther einen Brief an seine Frau mit „koblochstag“60. In Sachsen feierte man den Pantaleonstag mit Schinken, Speck, Knackwürsten und Knoblauch61. Das Jahr ist nicht exakt bestimmbar. Die frühe Publikation bietet einen willkommenen terminus ante quem. 1527 befand sich Melanchthon zur Visitation in Thüringen62. In den Jahren davor war er jeweils am 28. Juli in Wittenberg63. Wallenrode wird als Rechtsstudent angesprochen, war also kein Anfänger mehr, so dass die ersten Jahre seines Studiums nicht in Betracht kommen. Freilich hatte er die Grundausbildung in Leipzig erhalten.
54
CR 10, 507 Nr. 60. CR 10, 508 Nr. 62. 56 MBW Bd. 1, S. 198 zu Nr. 413. 57 CR 10, 516 Nr. 77. 58 MBW 11 (2003), 145. 59 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 5 (1987), 1–6; Bd. 6 (1987), 1386 f. 60 WAB 11 (1948), 148–152 Nr. 4139. 61 Ebd. S 148 Otto CLEMENs Kommentar. Der Quellenbeleg jetzt auch in: Johannes AGRICOLA, Die Sprichwörtersammlungen, hrsg. v. Sander L. GILMAN, Bd. 1 (1971), 291 Nr. 342. 62 MBW 10 (1998), 353. 63 Ebd. S. 309, 321, 332, 343. 55
19. Matthäus von Wallenrode
327
Der Herausgeber des Corpus Reformatorum entschied sich für 1525, was nicht unwahrscheinlich ist. Bartolus (1313–1357) und Baldus (1327–1400), die großen Rechtslehrer des Mittelalters, dienten den Humanisten als Zielscheibe ihres Spotts. Als Melanchthon 1537 für seinen Schwager, den Wittenberger Rechtsprofessor Sebald Münsterer, die akademische Festrede »De Irnerio et Bartolo iurisconsultis« schrieb64, vermochte er angemessener über diese bedeutenden Gelehrten zu urteilen. Die Chariten stehen allgemein für Anmut, Schönheit und Lebensfreude65. Die ihnen gewidmete 14. Olympische Ode Pindars hat Melanchthon später ins Lateinische übersetzt66. Das Gelächter, das Mercurius hervorrief, ist das unauslöschliche der Götter, das wir das homerische nennen. Als Vulcanus/Hephaistos mit einem kunstvollen Mechanismus seine Ehefrau Venus/Aphrodite und den Rivalen Mars/Ares in flagranti dingfest gemacht und die anderen Götter (die Göttinen blieben schamhaft zu Hause) herbeigerufen hatte, lachten diese schon so unmäßig, wie es Homer im 8. Gesang der Odyssee beschreibt. Da löste Mercurius/Hermes eine neue Salve aus, als ihn Apollo fragte: „Lägest du nicht gern selbst, gezwängt in mächtige Fesseln, Hier im Bett zur Seite der Aphrodite, der goldnen? Ihm erwiderte drauf der Geleiter, der Töter des Argos: Möchte das doch geschehen, ferntreffender Herrscher Apollon; Fesseln dreimal soviel, unendliche dürften mich halten, Zusehn dürftet ihr Götter da und ihr Göttinen alle, Dennoch ruhte ich gern bei Aphrodite, der goldnen. Sprachs, und Gelächter erhob sich bei den unsterblichen Göttern.“ Melanchthon hat diese etwas frivolen Worte eines Gottes, die wir in der Übersetzung des Heidelbergers Roland Hampe zitierten, auf dem Katheder so wenig kommentiert wie zahllose Studienräte nach ihm, die sich meist mit der Strafe für die Ehebrecher und der Moral: „Böses gedeiht doch nie; der Langsame hascht den Geschwinden“, begnügten. Doch im fröhlichen Kreis ausgewählter Studenten hatte er offensichtlich seine Freude daran. Unser Bild von ihm wird dadurch farbiger. Matthäus von Wallenrode überlebte seinen Lehrer um zwölf Jahre. Er starb in Lichtenfels und wurde am 20. November 1572 in Coburg beigesetzt67.
64
CR 11, 350–356 Nr. 48. - Guido KISCH, Melanchthons Rechts- und Soziallehre (1967), 214–220. 65 Herbert HUNGER, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (81988), 104 f. - Der Neue Pauly, Bd. 2 (1997), 1102 f. 66 CR 19, 210 f. 67 AXMANN (wie Anm. 3), 169.
Die Verfasserfrage der Histori Thome Muntzers Wenn von seiten der Melanchthon-Forschung ein Beitrag zu einem Gespräch über Flugschriften geleistet werden soll, so erscheint die Frage nach dem Verfasser der anonymen Histori Thome Muntzers des Anfengers der Döringischen uffrur als ein noch ungelöstes Problem. In der maßgeblichen Edition »Flugschriften der Bauernkriegszeit«1 wird sie ohne jedes Fragezeichen Melanchthon zugeschrieben. Zur Erinnerung kurz der Inhalt dieser Histori: Sie gliedert sich in mehrere deutlich voneinander abgesetzte Teile. Nach einer Einleitung moralischen Inhalts wird Müntzers Leben und Lehre bis zum Schlachtfeld von Frankenhausen geschildert. Dann folgt eine Rede Müntzers an die Bauern; er stärkte ihren Kampfeswillen gegen das Angebot eines freien Abzugs nach Auslieferung der Anführer. Sie endet mit der Erscheinung des Regenbogens. Dann wird die Ermordung eines Gesandten (tatsächlich waren es drei) im Plusquamperfekt nachgetragen, um den Zorn der Fürsten verständlich zu machen. Die Schlacht könnte nun beginnen. Statt dessen wird als retardierendes Moment eine Rede des jungen Landgrafen Philipp von Hessen an das Heer der Fürsten eingeschaltet, worin die Rechtmäßigkeit ihres Kampfes begründet wird. Erst dann geht die Erzählung weiter bis zu Müntzers Hinrichtung und einem kurzen Schluss. Adolf Laube und seine Arbeitsgruppe haben in ihrer Ausgabe eine normalisierte Überschrift gebildet: „Philipp Melanchthon, Die Historie Thomas Müntzers.“ Im Kommentar2 steht: „Verfasser ist Philipp Melanchthon“. Die Begründung lautet: „Der Notiz eines seiner Freunde von 1526 zufolge hat Melanchthon die beiden in der Schrift enthaltenen Reden für den Unterricht so konzipiert.“ Dann wird noch festgestellt, dass das Historisch-biographische den theologisch-politischen Zielen dieses Pamphlets untergeordnet sei. Die erwähnte Notiz eines Freundes – es ist der spätere Leipziger Universitätsreformer Caspar Borner – ist jedoch ungenau wiedergegeben: sie spricht nur von einer der beiden Reden, sagt aber auch etwas über die ganze Schrift3. Für die Bearbeiter der »Flugschriften der 1
Flugschriften der Bauernkriegszeit, hrsg. v. Adolf LAUBE (1975, 21978), 531–543 mit 638–642. 2 Ebd. 638 f. 3 Siehe unten bei Anm. 14.
20. Die Verfasserfrage der Histori Thome Muntzers
329
Bauernkriegszeit« stellte die Verfasserfrage kein Problem dar. Sie sind nämlich nicht die einzigen, die ohne Zweifel Melanchthon als den Verfasser bezeichnen. Lediglich die vollständigste Gesamtausgabe der Werke Melanchthons, das Corpus Reformatorum, hat diese Schrift stillschweigend ausgelassen, weil, wie indirekt verlautet, der Herausgeber Bindseil starke Zweifel an der Echtheit hatte4. Die Auswahlausgaben von Koethe 18295 und von Beyer, Rhein und Wartenberg 19976 jedoch nahmen sie als Schrift Melanchthons auf. Dass sie sogar in Auswahlausgaben erscheint, hat seinen Grund unabhängig von der Verfasserfrage darin, dass das Müntzerbild der folgenden Jahrhunderte durch sie entscheidend bestimmt wurde. Max Steinmetz hat hierüber 1971 eine umfassende Dokumentation vorgelegt, deren erster, für die Verfasserfrage zuständige Teil schon 1963 in der Festschrift des Melanchthon-Komitees der DDR zum 400. Todesjahr Melanchthons 1960 gedruckt worden war7. Im Vertrauen auf Steinmetz haben alle folgenden Forscher Melanchthon als Verfasser für gegeben genommen. So Ludwig Fischer in seiner Ausgabe der lutherischen Pamphlete gegen Thomas Müntzer von 19768. Für wie wichtig diese kleine Schrift gehalten wird, zeigt auch ein Privatdruck, den der argentinische Kirchenhistoriker Alejandro Zorzin, bekannt vor allem als Karlstadt-Forscher9 und ein Beiträger dieser LaubeFestschrift, im Melanchthonjahr 1997 hergestellt hat. Luther, Melanchthon und Bonhoeffer werden hierin gewürdigt, Melanchthon einzig durch eine Übersetzung dieser Histori ins Spanische10. Immerhin setzt Zorzin Melan-
4
Vgl. STEINMETZ (wie Anm. 7), 142 f Anm. 11 bzw. S. 40 Anm. 10. Philipp Melanchthon’s Werke, in einer auf den allgemeinen Gebrauch berechneten Auswahl, hrsg. v. Friedrich August KOETHE, Bd. 1 (1829), 203–218. 6 Melanchthon deutsch, Bd. 1 (1997), 288–307. 7 Max STEINMETZ, Philipp Melanchthon über Thomas Müntzer und Nikolaus Storch. In: Philipp Melanchthon. Humanist, Reformator, Praeceptor Germaniae (1963), 138–173. - DERS., Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels (1971). 8 Die lutherischen Pamphlete gegen Thomas Müntzer, hrsg. v. Ludwig FISCHER (1976), 27–42. 9 Alejandro ZORZIN, Karlstadt als Flugschriftenautor (1990). Ferner sein Beitrag zum Wittenberger Karlstadt-Kolloquium von 1995, gedruckt in: Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486–1541). Ein Theologe der frühen Reformation. Beiträge eines Arbeitsgesprächs vom 24.–25. November 1995 in Wittenberg, hrsg. v. Sigrid Looß und Markus Matthias (1998). 10 Alejandro ZORZIN (Übersetzer), La historia de Tomás Müntzer, el iniciador de la sublevación en Turingia – muy útil de leer. [Por Felipe Melanchthon]. In: DERS., Perspectivas protestantes en la historia. Ensayos y documentos. Martin Lutero, Felipe Melanchthon, Dietrich Bonhoeffer. Buenos Aires (Selbstverlag) 1997, S. 85–121. 5
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20. Die Verfasserfrage der Histori Thome Muntzers
chthon als Verfasser in Klammern, wie dies auch Helmut Claus 1975 in seiner Bauernkriegsbibliographie getan hatte11. Eine inhaltliche Analyse trug Bo Andersson im Oktober 1997 auf einer Akademietagung in Stockholm vor12. Nach kurzer Erörterung nimmt auch er Melanchthon für den sicheren Autor. Das Standardwerk von Max Steinmetz hat sich also voll durchgesetzt. Steinmetz entschied die Verfasserfrage zugunsten oder vielmehr „zu ungunsten“13 Melanchthons. So spottete Heinrich Boehmer, als er 1922 das erwähnte Zeugnis Borners publizierte14, durch das die Verfasserfrage, die bis dahin nur die Wittenberger Lutherausgabe, der die anderen folgten, beantwortet hatte, endgültig gelöst schien. Die Wiedergabe dieser Quelle in den Bauernkriegsflugschriften habe ich eingangs zitiert. In der von Siegfried Bräuer bearbeiteten Übersetzung der neuesten Auswahlausgabe erscheint sie folgendermaßen: „Aber gegenüber dem Leipziger Freund Caspar Borner hat Melanchthon 1526 bestätigt, dass die Schrift von ihm stamme und er die darin enthaltenen Reden nach klassischem Vorbild für seine Schüler verfasst habe“15. Wenn dies zuträfe, dann bräuchten wir nicht weiter zu disputieren, die Verfasserfrage wäre entschieden. Die nicht leicht zu verstehende Bemerkung Borners wird aber hier wie überall im Sinne einer schon vorher angenommen Verfasserschaft Melanchthons interpretiert. Auch Steinmetz tut dies, um dann Melanchthon für das gesamte negative Müntzerbild verantwortlich zu machen. Doch als ein scharfsinniger Forscher, der er war, machte er eine Beobachtung, die in der Folge nicht weiter beachtet wurde, offenbar weil sie selbstverständlich und also belanglos schien. Steinmetz bemerkte, dass der geistige Urheber dieses negativen Müntzerbildes weniger Melanchthon als vielmehr Luther sei. Bei Melanchthon selbst trete nämlich Müntzer, jedenfalls in den späteren Erwähnungen, fast ganz hinter Nikolaus Storch zurück, als dessen Schüler er bei Melanchthon erscheine, wogegen Storch bei Luther später nicht mehr erwähnt werde. Luthers Hass richte sich gegen Müntzer, während 11
Helmut C LAUS, Der deutsche Bauernkrieg im Druckschaffen der Jahre 1524–1526. Verzeichnis der Flugschriften und Dichtungen (1975), 61 f Nr. 165. 12 Bo ANDERSSON, Melanchthons Polemik gegen Thomas Müntzer. Die Histori Thome Muntzers, des anfengers des Döringischen uffrur. In: Philipp Melanchthon und seine Rezeption in Skandinavien. Vorträge eines internationalen Symposions anlässlich seines 500. Jahrestages an der Königlichen Akademie der Literatur, Geschichte und Altertümer in Stockholm den 9.–10. Oktober 1997 (1998), 25–50. 13 STEINMETZ (wie Anm. 7) 148, anders im Buch S. 45. 14 Heinrich BOEHMER, Studien zu Thomas Müntzer (Universitätsprogramm Leipzig 1922), 3 f. 15 Melanchthon deutsch, 1 (1997), 288. Auch ZORZIN (wie Anm. 10) S. 123 spricht von zwei Reden.
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Melanchthon diese ganze Richtung der Enthusiasten, zu denen auch die Wiedertäufer gehören, auf Storch zurückführe. Das für Müntzer Besondere sei nicht seine Theologie, sondern die Gewalttätigkeit, der Aufruhr16. Wenn also Steinmetz die Verfasserfrage ohne äußere Indizien nur aus dem Inhalt hatte klären müssen, dann wäre er wahrscheinlich nicht auf Melanchthon, aus stilistischen Gründen wohl auch nicht auf Luther, aber auf einen mehr von Luther als von Melanchthon abhängigen Anonymus gekommen. Nun aber gibt es für Melanchthons Autorschaft die beiden positiven Zeugnisse, das von Borner 1526 und das der Wittenberger Lutherausgabe 1548, an denen man nicht vorbeikommt. Freilich muss man diese Zeugnisse sorgfältig lesen und zu verstehen suchen und darf sie nicht im Sinne einer vorgefassten Meinung bei der Wiedergabe verfälschen. Deshalb müssen wir unsere Untersuchung mit einer genauen Bestandsaufnahme beginnen.
*** Die Histori wurde ohne Angabe des Verfassers und des Erscheinungsjahrs bei Johannes Setzer in Hagenau gedruckt. Setzer, der Geschäftsnachfolger Thomas Anshelms, war ein bevorzugter Verleger Melanchthons17. Der Titel dieses Erstdrucks behandelt die Rede des Landgrafen wie eine besondere Schrift. Er lautet: »Die Histori Thome Muntzers, des anfengers der Döringischen vffrur, seer nutzlich zulesen. Ermanung des Durchleuchtigen Fursten vnnd Herrn, Herrn Philippsen Landtgraue zu Hessen etc. an die Ritterschafft, die Bauren (vnder dem scheyn des Euangelions sich wider alle oberkeit durch falsch Predicanten verfurt setzende) trostlich anzugreyffen«18. Im Text selbst ist die im Titel hervorgehobene Rede nicht markiert. Im Gegensatz zu Luthers »Ein schrecklich Geschicht und Gericht Gottes über Thomas Müntzer«, die in kurzer Zeit elf Auflagen erlebte19, wurde die Histori separat nicht nachgedruckt. Ihre große Wirksamkeit wurde dadurch ermöglicht, dass sie in den zweiten Band der deutschen Wittenberger Lutherausgabe aufgenommen wurde, der 1548 erschien. Hier ist am Ende des Titels der Name Melanchthons hinzugefügt. Seither erscheint sie als eine Schrift Melanchthons in mehreren Lutherausgaben, zuletzt 1907 in
16
STEINMETZ (wie Anm. 7), 160–166 bzw. 57–62. Siehe oben Nr. 18. 18 C LAUS (wie Anm. 11), hier die älteren Bibliographien. - STEINMETZ (wie Anm. 7) 139 bzw. 37 f. 19 C LAUS (wie Anm. 11), 55–58 Nr. 138–148. 17
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20. Die Verfasserfrage der Histori Thome Muntzers
Band 16 der zweiten Ausgabe der Walchschen20. Die Erlanger und die Weimarer Ausgaben konnten sie gemäß ihren Prinzipien nicht aufnehmen. Die Weimarana bietet aber bei Luthers »Ein schrecklich Geschicht« ihren Titel, wobei sie als Schrift Melanchthons bezeichnet wird21. Die Zuweisung an Melanchthon beruhte bis 1922 einzig auf dem Zeugnis der Wittenberger Lutherausgabe. In diesem Jahr publizierte Heinrich Boehmer, wie mehrfach erwähnt, eine weitere Quelle, auf die ich gleich eingehen werde. Zuerst müssen wir die Wittenberger Edition näher betrachten. Der betreffende Band ist 1548 in Wittenberg erschienen, also zu Lebzeiten Melanchthons. Der Druck war 1544 begonnen worden und bis zur Hälfte vorangeschritten, als der Schmalkaldische Krieg ausbrach22. Die Histori steht Blatt 98a–104a, ist also vor dem Krieg, noch zu Luthers Lebzeiten, in den Band aufgenommen worden. Sie folgt auf Melanchthons Schrift wider die Artikel der Bauern23. Danach kommt Luthers »Schreckliche Geschichte und Gericht Gottes über Thomas Müntzer«24. Verantwortlicher Redaktor dieses Bandes war Georg Rörer. „Wie weit Melanchthon selber auf die Aufnahme seiner Schriften in die Gesamtausgabe von Luthers Werken Einfluss genommen hat, ist unbekannt.“ So urteilt Eike Wolgast25. Wenn Rörer der Meinung war, die Histori, die sachlich in diesen Band gehörte, sei von Melanchthon verfasst, so muss er ihn nicht unbedingt danach gefragt haben. Die Zuweisung kann also geschehen sein, ohne dass Melanchthon dies gewusst hat. Seine aktive Mitwirkung an den Lutherausgaben durch Abfassung von Vorreden beginnt erst nach Luthers Tod, und auch dann ist nicht anzunehmen, dass er sich um Einzelheiten gekümmert hat. Die Verfasserschaft wurde damals in Wittenberg ohnehin recht locker gehandhabt. Viele Universitätsreden, die Melanchthon verfasst hat, sind unter anderem Namen erschienen26. Gleichwohl bleibt die Tatsache bestehen, dass zumindest Rörer die Histori mit Melanchthon in Verbindung gebracht hat. Rörer befand sich schon 1525 in Wittenberg27. Man muss das Zeugnis seiner Edition also ernst nehmen. Man muss sie aber auch genau betrachten. Nach einer Zierleiste beginnt der Titel mit großen Buchstaben, die nach der ersten Zeile immer kleiner werden. Dann kommt deutlich abgesetzt der Untertitel, wiederum in der 20
Die Nachweise bei STEINMETZ (wie Anm. 7), 139–142 bzw. 37–40. WA 18, 364. 22 Eike W OLGAST, Die Wittenberger Luther-Ausgabe (1971), 122–137. 23 W OLGAST (wie Anm. 22), 241/242. Text zuletzt bei LAUBE (wie Anm. 1), 223–241 mit 592 f und in Melanchthon deutsch, Bd.1 (1997), 261–287. 24 WA 18, 367–374. - W OLGAST 241/242. 25 W OLGAST (wie Anm. 22), 67. 26 Vgl. Heinz SCHEIBLE, Melanchthons biographische Reden (1993): Forschungsbeiträge (1996), 115–138, bes. 120 f. 27 W OLGAST (wie Anm. 22),. 17–27. 21
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ersten Zeile mit großen Buchstaben, die dann ebenso immer kleiner werden. Es entsteht der Eindruck, als handle es sich um zwei verschiedene Schriften. Der zweite Titel beschreibt die Rede des Landgrafen. Am Ende dieses Titels steht in der inzwischen klein gewordenen Schrift der Name „Philip. Melan.“. Genau betrachtet bezieht sich diese Verfasserschaft nur auf den Untertitel. Die Rede des Landgrafen ist allerdings in die Histori eingebaut. Im Text der Wittenberger Ausgabe28 sind die Reden Müntzers und des Landgrafen nur durch Initialen und Marginalien kenntlich gemacht, im Urdruck29 überhaupt nicht. Die Rede des Landgrafen ist aber nur locker in den Text eingefügt. Sie ist ein retardierendes Element, das sich leicht herauslösen lässt. Vor der Rede endet die Erzählung mit dem Satz „Darum blies man auf und ordnete den Zug“30. Nach der Rede geht es weiter mit: „Da der Landgraf ausgeredet hatte, rückte man hinzu an die Bauern und schoss ab“31. Wenn man den Nebensatz streicht, braucht man die ganze Rede nicht, ohne dass der Histori etwas fehlte. Es ist also möglich, dass Melanchthon in die ihm vorliegende Histori die Rede des Landgrafen eingefügt hat, wozu er die Histori nur leicht redigieren musste. Dann würde in der Wittenberger Ausgabe Melanchthons Verfasserschaft nur für diese schon im Titel des Erstdrucks deutlich hervorgehobene Rede gelten. Andererseits ist klar, dass von den Lesern der Wittenberger Ausgabe die Verfasserangabe auf die ganze Schrift bezogen werden konnte und wurde. ***
Es ist nun zu prüfen, ob diese Hypothese mit dem 1922 von Boehmer publizierten älteren und von der Wittenberger Ausgabe unabhängigen Zeugnis für Melanchthons Verfasserschaft in Einklang zu bringen ist. Boehmer fand ein – heute verschollenes32 – Exemplar des Erstdrucks der Histori, auf das der Leipziger Professor Caspar Borner folgendes geschrieben hatte: M[ense] Octobri 1526. Hec historia a Philippo Melanchthone sic est conscripta et concionis exemplum declamatorio more ad imitationem pro discipulis suis. Idem enim ipse mihi palam retulit33.
28
Eingesehen wurde das Exemplar der Universitätsbibliothek Heidelberg (Q 1670-0 FOL RES). 29 Eingesehen wurde das bei CLAUS (wie Anm. 11) beschriebene Exemplar in Gotha. 30 LAUBE (wie Anm. 1), 538.40. 31 LAUBE (wie Anm. 1), 540.33 f. 32 STEINMETZ (wie Anm. 7), 144 Anm. 15 bzw. 41 Anm. 14. 33 B OEHMER (wie Anm. 14), 3.
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20. Die Verfasserfrage der Histori Thome Muntzers
Diese so einfach erscheinende Notiz ist gar nicht leicht zu verstehen. „Diese Geschichte ist von Melanchthon so verfasst und das Beispiel einer Rede in der Art einer Deklamation zur Nachahmung für seine Schüler.“ Warum sagt Borner „so“ verfasst, aufgeschrieben, zusammengeschrieben, warum sic conscripta und nicht einfach conscripta? Bemerkenswert ist ferner, dass nur eine Rede erwähnt wird, offenbar die im Untertitel genannte des Landgrafen. Sie ist zweifellos von Melanchthon verfasst; hierin stimmen Borner und die Wittenberger Ausgabe überein. Problematisch bleibt nur, inwiefern eine deutsche Rede als Muster für die Studenten dienen sollte. Der Ausdruck declamatorio more wird von Bräuer mit „nach klassischem Vorbild“ wiedergegeben34. Ich vermute, dass Melanchthon gegenüber Borner von den keine zwei Jahre zuvor durch ihn an der Universität Wittenberg eingeführten Deklamationsübungen35 sprach und seine Landgrafen-Rede als Muster einer solchen Deklamation bezeichnete. Die Landgrafen-Rede setzt sich ausschließlich mit Müntzers Gewalttätigkeit auseinander. Mit keinem Wörtchen geht sie auf seine Geisttheologie ein. Die Histori hingegen weiß sehr viel von Müntzers Lehre. Auf eine knappe Formel gebracht betreffen nach ihrer Meinung Müntzers Irrtümer zwei Themenkreise: „Also hat Thomas in Summa zwei Irrtümer gelehrt, den einen von geistlichen Sachen, dass man Zeichen fordern sollte von Gott, sich nicht trösten der Schrift, auch dass Träume ein gewisses Zeichen wären, dass man den heiligen Geist empfangen hat. Der andere Irrtum ist gewesen von weltlichem Regiment, dass man demselben nicht gehorsam sein sollte, so doch die Schrift solchen Gehorsam sehr ernstlich gebeut“36. Die Rede des Landgrafen handelt nur von dem zweiten, der Obrigkeit. Dies passte in die Situation, soll aber doch festgehalten werden. Außer der Landgrafen-Rede gibt es noch eine Rede Müntzers. Sie wird weder im Titel der Flugschrift noch in Borners Zeugnis erwähnt. Wenn die oben erwähnten Wiedergaben der neueren Editoren von beiden Reden sprechen, so ist dies vom Wortlaut Borners nicht gedeckt. Die MüntzerRede unterscheidet sich von der Landgrafen-Rede grundlegend. Dass der Landgraf bei stehender Schlachtordnung eine Ansprache über die sittliche Berechtigung des bevorstehenden Kampfes gehalten haben sollte, und zwar nicht an die Feinde, was allenfalls als Versuch, die Schlacht zu verhindern, sinnvoll wäre, sondern an seine Standesgenossen, ist undenkbar. Müntzer dagegen musste seine Bauern anfeuern37. Seine Rede enthält Worte, die auch sonst belegt sind, hat also einen anderen historischen Charakter als die Landgrafen-Rede, wenn auch beide in der Fassung der 34
BRÄUER wie Anm. 15. Vgl. SCHEIBLE (wie Anm. 26), 116-119. 36 LAUBE (wie Anm. 1), 534.17–23. 37 STEINMETZ, Müntzerbild (wie Anm. 7), 25. 35
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Histori damals gewiss nicht gehalten wurden38. Die Rede des Landgrafen ist Melanchthons ethischer Kommentar zum Bauernkrieg. Müntzers Rede hingegen zeigt wie die ganze Histori eine gute Kenntnis seiner Theologie. Vor allem aber weiß die Histori viele Einzelheiten aus Müntzers Leben und Kampf zu berichten. Für die Verfasserfrage ist nicht so wichtig, ob das alles richtig ist, sondern ob es bei Melanchthon sonst noch nachweisbar ist. Dies ist nicht immer der Fall. Selbst wenn man Borner wie die meisten Interpreten so verstehen würde, dass Melanchthon die ganze Histori verfasst habe, bleibt dennoch die Annahme eines Informanten unausweichlich. Melanchthon war zweifellos der Redaktor. Ich verstehe Borners sic conscripta in diesem Sinne. Borner wollte sagen, dass Melanchthon die Histori in die vorliegende Fassung gebracht und dabei die Rede des Landgrafen als Musterdeclamatio hinzugefügt hat. Wie weit sich Melanchthons redaktorische Tätigkeit erstreckte, kann wohl auch durch eine genaue Textanalyse nicht völlig aufgeklärt werden. Hilfreich wäre vielleicht ein sprachanalytischer Vergleich der Histori mit der Landgrafen-Rede und mit Melanchthons gleichzeitiger Bauernkriegsschrift. Dies kann aus verschiedenen Gründen hier nicht geleistet werden. Die Histori stellt uns dasselbe Problem wie die deutsche Chronik und das Buch von der Notwehr. Auch hier hat Melanchthon ihm zugegangene Entwürfe gründlich bearbeitet, ohne dass wir dies im einzelnen feststellen können, und sie dann unter dem Namen der ursprünglichen Verfasser Johannes Carion und Justus Menius publiziert39. Es ist nicht einzusehen, warum er eine Schrift über Müntzer nicht wie die über die Artikel der Bauern40 unter seinem Namen publiziert hätte, wenn sie tatsächlich ganz von ihm stammte. Melanchthon wollte sich keinesfalls mit fremden Federn schmücken. Im Gegenteil ließ er nicht selten Reden unter dem Namen dessen drucken, für den er sie verfasst hatte41.
*** 38
STEINMETZ (wie Anm. 7), 146 bzw. 43. Zu Carion vgl. MBW 1177.1 und 1250.3, ferner STEINMETZ (wie Anm. 7), 153–155 bzw. 54–56 und die von Uwe NEDDERMEYER, Kaspar Peucer (1525–1602). Melanchthons Universalgeschichtsschreibung. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 69–101, hier S. 74 Anm. 19, zusammengestellte Literatur sowie Heinz SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie (1997), 252–256. Zum Biographischen: MBW 11 (2003), 269 f. - Zu Menius vgl. MBW 4510 sowie Martin HEIN: TRE 22 (1992), 439–442. - Zur Verfasser-Problematik der Apologie für Bartholomäus Bernhardi vgl. Richard W ETZEL, Melanchthon und Karlstadt im Spiegel von Melanchthons Briefwechsel. In: Andreas Bodenstein von Karlstadt (wie Anm. 9), 159–222. 40 Wie oben Anm. 23. 41 Horst KOEHN, Philipp Melanchthons Reden (1985), 1289 f. 39
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Mit einem durch die Verfasserproblematik geschärften Blick müsste jetzt die ganze Histori auf ihre Übereinstimmung mit und Abweichung von den sonst bekannten Fakten und von Melanchthons Kenntnis davon analysiert werden. In dem gegebenen Rahmen kann dies nur exemplarisch durch einige Beispiele geschehen. Die Einleitung42, in der Müntzer als Werkzeug des Teufels qualifiziert und mit Mani verglichen wird, ist auch nach meiner Überzeugung vom geschichtskundigen Theologen Melanchthon verfasst. Der erste Hauptteil43 handelt von Müntzers Geschichte bis zum Schlachtfeld von Frankenhausen. Hier werden viele Einzelheiten aus Müntzers Leben und Lehre berichtet. Wenn dieser Teil von Melanchthon verfasst wurde, dann hat er sich in den Monaten vor dem Erscheinen der Histori intensiv mit Müntzers Leben befasst. Dies ist unwahrscheinlich, zumal alle sicher bezeugten Äußerungen Melanchthons über ihn in eine andere Richtung weisen. Ende März 1522 – Luther hatte durch seine Invocavit-Predigten in Wittenberg die Ruhe wieder hergestellt – schrieb Müntzer einen Brief an Melanchthon44. Mit dieser Adresse ist er jedenfalls überliefert. Luther erzählte freilich noch zehn Jahre später bei Tisch, er sei auch an ihn gerichtet gewesen45. Zweifellos bekam er ihn zu lesen. Aber wenn Müntzer sein Schreiben tatsächlich nur an Melanchthon adressierte, so könnte dies auf eine persönliche Bekanntschaft hindeuten, die es Müntzer leichter machte, seine Kritik an den Wittenbergern ihm vorzutragen. Ein anderer Grund könnte der sein, dass Melanchthon als literarischer Verteidiger der Priesterehe galt46. Denn von dieser handelt Müntzers Brief im ersten Teil. Dann kommt er auf das Messopfer und auf das Fegfeuer zu sprechen. Seine eigentümliche Theologie fließt natürlich dabei ein, ist aber nicht Thema. Während Luther sich noch zehn oder mehr Jahre danach bei Tisch an diesen Brief erinnerte, kann ich bei Melanchthon davon keine Spur finden. Im Gegenteil! Gut zwei Jahre später, wenige Tage nach dem 8. Juli 1524, Müntzer war damals noch in Allstedt, antwortete Melanchthon dem Torgauer Pädagogen Johannes Memminger47, der sich als Anhänger des Erasmus bekannt hatte, anscheinend auch gewisse Sympathien für Müntzer zeigte, aber Luther gegenüber kritisch war. Melanchthon vermeidet jegliche Stellungnahme zu Müntzer. Er kenne ihn nicht gut genug: Muncerum non satis novi. Heftig jedoch polemisiert er gegen die Zwickauer Prophe42
LAUBE (wie Anm. 1), 531.3–532.3 . Ebd. 532.4–536.30. 44 MBW 223. 45 WA Tischreden 1, 598-601 Nr. 1204, bes. S. 600.1–3 . 46 W ETZEL wie Anm. 39. 47 MBW 332. Über Memminger vgl. WAB 6, 239–242 und 8, 356. 43
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ten. Er nennt sie ruhmsüchtig (kenódoxoi) und profan (bébeloi), missbilligt ihren Lebenswandel und behauptet die Existenz von klaren Beweisen ihres Wahnsinns – was immer damit gemeint sein mag. Von Schriften der Zwickauer Propheten ist uns jedenfalls nichts bekannt. Es geht hier eindeutig um die Zwickauer, nicht um Müntzer, und es geht nur um deren Ablehnung der Kindertaufe. Von dem prophetischen Anspruch ist nicht die Rede. Im übrigen handelt der Brief von Luther und Erasmus, deren Streit um die Willensfreiheit damals vor dem Ausbruch stand. Melanchthon suchte diesen Streit zu verhindern. Wenn er gegenüber dem am kurfürstlichen Hof tätigen Memminger – dieser betreute in Torgau die Sängerknaben – jegliche Stellungnahme zu Müntzer ablehnte, so kann man sich schwer vorstellen, dass er gar keine Meinung über ihn hatte. Wahrscheinlicher ist mir, dass er den sich anbahnenden Konflikt Müntzers mit der herzoglichen Regierung in Weimar und mit Luther nicht anheizen wollte. Sein Brief an Memminger ist im Autograph, das in München erhalten ist, nicht datiert, beantwortet aber eine Anfrage, die eintraf, als kurz davor Wilhelm Nesen in der Elbe ertrunken war. Das war am 5. Juli48. Am 13. hielt Müntzer seine Fürstenpredigt, am 24. gründete er seinen Bund, der am 3. August von der Regierung verboten wurde, nachdem Müntzer sich am 31. Juli in Weimar hatte verantworten müssen. Am 8. August war Müntzer aus Allstedt verschwunden. Luther nahm schon im Juni gegen Müntzer öffentlich Stellung49. Wenn Melanchthon um den 8. Juli eine Stellungnahme wegen seiner ungenügenden Kenntnis verweigerte, so darf man ihm abnehmen, dass er über die Ereignisse in Allstedt nicht so gut unterrichtet war wie Luther. Er hatte nämlich seinen ersten Urlaub seit sechs Jahren genommen und war vom 19. April bis 8. Juni und dann noch einmal vom 22. bis Ende Juni fern von Wittenberg gewesen50. Eines geht jedenfalls mit Sicherheit aus dieser kurzen Äußerung an Memminger hervor: Müntzers Brief vom 27. März 1522 hat bei Melanchthon keinen nachhaltig negativen Eindruck hinterlassen. Müntzers Geisttheologie muss von den modernen Forschern in scharfsinniger Interpretation erhoben werden. Wenn Melanchthon sie damals neben den konkreteren Themen Priesterehe, Messopfer und Fegefeuer überhaupt wahrgenommen hat, ist sie ihm nicht so bedrohlich wie die von Storch erschienen. Von sich aus interessierte sich Melanchthon für Müntzer erst im Zusammenhang mit Mühlhausen. Am 4. April 1525 schreibt er: dort herrscht
48
MBW 331. Über Nesen vgl. ContEras 3 (1987), 12–14 (Michael ERBE und Peter G. B IETENHOLZ). 49 Vgl. Walter ELLIGER, Thomas Müntzer (1975), 438–517. - Gottfried SEEBASS: TRE 23 (1994), 417 f. 50 Vgl. MBW 10 (1998), 316-320.
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Müntzer, regnum ibi gerit Thomas51. Doch dies ist eher beiläufig gesagt; es geht eigentlich um Karlstadt. Einige Tage danach, am 10. April, wirft er den Mühlhäusern vor, sie beachteten nicht die Aussage im Philipperbrief (3, 20): Unser Wandel (políteuma) ist im Himmel, sondern machten aus dem Evangelium ein menschliches Reich, sähen nicht, was das Evangelium ist52. Am 16. April begibt sich Melanchthon mit Luther auf eine ausgedehnte Reise durch Thüringen53. Der Bauernkrieg ist in Süddeutschland nun in vollem Gange, und Melanchthon leidet schwer darunter54. Bei seinem Freund Camerarius in Bamberg erkundigt er sich nach Nikolaus Storch, ob der bei den Bauern sei. Dabei schildert er ihm Storchs Ideologie, denn er ist sich nicht sicher, ob Camerarius – der doch in Wittenberg war, als die Zwickauer Propheten kamen55 – sie kennt: Man berichte, dass Storch binnen vier Jahren – das ist wohl ab Januar 1522 gemeint und wäre also demnächst zu erwarten – die Herrschaft ergreifen, die Kirche reformieren und die Staaten den heiligen Männern, also seinen Anhängern, übergeben werde. Man rühme auch – Melanchthon weiß dies also nicht direkt von Storch, sondern von dessen Anhängern, wohl Marcus Stübner –, dass ihm einmal ein Engel erschienen sei und gesagt habe: „Du solt sitzen im stul Gabriel“. Zwar musste Melanchthon nicht nach Müntzer fragen, denn wo der war, wusste er. Aber dennoch ist unverkennbar, dass der ideologisch Interessantere und Gefährlichere für ihn Storch war56. Bedrohlich wird ihm Müntzer erst einen Monat später. Am 15. Mai, es ist der Tag der Schlacht von Frankenhausen und Melanchthon war noch immer unterwegs, nun in Torgau, meint er: „Wenn Müntzer Erfolg hat mit seiner Sache und Christus uns nicht schützt, ist es um uns geschehen. Eine mehr als skythische Grausamkeit trägt er zur Schau, und unsagbar Schlimmes droht er allen an, die den Aufstand missbilligen“57. Doch sind ihm die Müntzeraner in Thüringen Kampfgenossen Karlstadts, und er stellt fest, dass Müntzer erst durch den Aufstand in Schwaben so aggressiv geworden sei: Atque ille ex Suevico tumultu tam factus est ferox58. Am 18. Mai kam Melanchthon nach Wittenberg, wo er einen Brief über das Gemetzel von Frankenhausen erhielt. Darin stand, Müntzer sei gleich zu Beginn der Schlacht geflohen und habe sich in einem Nonnenkloster versteckt, wo er gefunden und dem Grafen Ernst von Mansfeld, den er 51
MBW.T 2, 280.65 f Nr. 387. MBW.T 2, 284.24–28 Nr. 389. 53 MBW 10 (1998), 328–330. 54 MBW 390, bes. § 1. 55 MBW 11 (2003), 253 f. - MBW 1 (1977) Nr. 166 (mit richtigem Immatrikulationsdatum), 167 (mit falschem Immatrikulationsdatum), 168, 226, 236, 240.9, 243. 56 MBW 391. 57 MBW 399, bes. § 3. 58 MBW 400, bes. § 2. 52
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Graf Lächerlich gescholten hatte, ausgeliefert worden sei59. In der Histori steht zutreffend, er sei in ein Haus beim Tor von Frankenhausen entronnen60 (von „gleich zu Beginn der Schlacht“ ist nicht die Rede). Melanchthon war von dem Blutbad unter den Bauern schwer betroffen: graviter afficior caede miserae turbae. Dennoch ist er überzeugt, dass die Fürsten gezwungen waren, den Räubereien ein Ende zu setzen, – dies ist das Thema der Landgrafen-Rede – und er freute sich, dass der Anführer des Aufruhrs gefangengenommen wurde, dies aber weniger deswegen, weil der Aufstand damit zu Ende wäre; da hatte er geringe Hoffnung. Sondern weil damit sein Geist entlarvt wurde, quod extat non leve documentum spiritus quem iactabant61. Man beachte den Plural, in den Melanchthon verfällt. Es geht ihm nicht so sehr um Müntzers Gewalttaten und deren Abstellung als um die Entlarvung des Geistes, der hinter dieser Bewegung steht, und das ist der Geist der Zwickauer Propheten. Zwar fällt deren Name hier nicht. Aber Melanchthon beschreibt diesen Geist so: „Guter Gott, was für ein Reich erträumten sie sich und wie angenehm!“ Dies entspricht genau dem, was er kurz zuvor seinem Freund Camerarius von Storch berichtet hatte. Dann aber bringt er das nur Müntzer eigentümliche, kenntlich am Übergang in den Singular: „Mit welchen erlogenen Weissagungen trieb er die törichte Menge, die Waffen zu ergreifen! Wie oft versprach er, er werde in der vordersten Schlachtreihe sein, durch himmlische Orakel sei ihm befohlen, die Verfassung der Gemeinwesen zu ändern!“ So Melanchthon an Camerarius am 19. Mai. In der Müntzer-Rede der Histori beruft sich Müntzer nicht auf Orakel, sondern auf die Bibel, was dem Befund in seinen Schriften entspricht62. Der lange Brief vom 6. Juni, in dem Melanchthon sein damaliges Wissen über Müntzers Tod weitergibt63, ist leider nur in der Edition des Adressaten Camerarius erhalten, der die Texte gerade an den heiklen Stellen zu verändern pflegte64. Man darf diese Worte also nicht mit letzter Sicherheit für Melanchthon in Anspruch nehmen. Doch die Fakten zu verändern, kann Camerarius keinen Anlass gehabt haben. Es war also vom Lager bei Mühlhausen nach Wittenberg gemeldet worden, dass Müntzer um Verzeihung gebeten und weinend bekannt habe, er habe eine zu große Sache angepackt, aber einigemale versucht, die Menge davon abzuhalten, die Waffen zu ergreifen, und als dies erfolglos war, sei er nur widerwillig den Weg zu Ende gegangen und dem Volk zu Willen gewesen. In der 59
MBW 403 § 1. LAUBE (wie Anm. 1), 541.9 f. 61 MBW 403 § 2. 62 LAUBE (wie Anm. 1), 536.38–538.22. 63 MBW 404. 64 SCHEIBLE (wie Anm. 26), 5–8 mit 24 f. 60
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Histori hat er „trotziglich“ geantwortet, „er hätte recht getan“65. Erst bei der Hinrichtung sei er „sehr kleinmütig“ und verwirrt gewesen und habe bekannt, Unrecht getan zu haben66. Was Melanchthon am 5. Juni über Müntzers Ende wusste67, stand vermutlich in dem Bericht, der Rühels Brief an Luther vom 21. Mai beilag68. Es ist nicht viel, und es ist vor allen etwas ganz anderes, als in der Histori steht. Dies wurde schon von Otto Clemen und Max Steinmetz festgestellt69. Sie hielten dennoch an Melanchthons Verfasserschaft der Histori fest und behalfen sich mit der Annahme, Melanchthon habe vor Abfassung der Histori andere Informationen erhalten. Damit stellt sich aber die Frage nach seinem oder seinen Informanten. Unerklärt bleibt auch, warum er bei Abfassung der Flugschrift eine so wirkungsvolle Wendung wie die vom Graf Lächerlich70 nicht einbaute. Doch wer kann einem Autor über die Schulter schauen? Jedenfalls sind die Differenzen zwischen Melanchthons brieflichen Mitteilungen und der Histori so groß, dass Heinrich Ernst Bindseil diese Flugschrift nicht in das Corpus Reformatorum aufgenommen hat. Es geht dabei nicht um die Tendenz – hierin stimmen Melanchthon und die Histori überein –, sondern um die Einzelheiten, mithin um ein akademisches, literarhistorisches Spezialproblem, das aber dennoch wenn möglich gelöst werden sollte. Dass Melanchthons Vorlage, die Urfassung der Histori, nicht überliefert wurde, lässt sich leicht damit erklären, dass solche Papiere nach der Berarbeitung und Drucklegung als überholt weggeworfen wurden.
*** Abschließend noch ein Wort zur Datierungsfrage. Meistens wird außer dem unbezweifelten Jahr 1525 nichts angegeben. Siegfried Bräuer nennt den Juni71. Dieser Ansatz ist m. E. zu früh. Das letzte ausdrücklich erwähnte Ereignis ist Müntzers Hinrichtung, die am 27. Mai erfolgte. Darüber hinaus wird aber auch das Ende des ganzen Bauernkriegs vorausgesetzt: „Also ist dies Jahr an andern Orten allen ... Aufruhr gestraft worden ...“72. Dies setzt zumindest die Schlacht von Pfeddersheim am 24. Juni voraus, 65
LAUBE (wie Anm. 1), 541.32 f. LAUBE (wie Anm. 1), 542.23–36. 67 MBW 404, dazu auch MBW 405. 68 WAB 3, 504–507 Nr. 873, bes. Z. 14. 69 Supplementa Melanchthoniana, Bd. 6/1 (1926), 292 Nr. 412 [= MBW 403] Anm. 4. - STEINMETZ (wie Anm. 7), 144 f bzw. 41 f. 70 Wie oben Anm. 59. 71 Melanchthon deutsch (1997), 1, 288. 72 LAUBE (wie Anm. 1), 543.6 f. 66
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von der Melanchthon durch sein Gutachten für die Kurpfalz73 unmittelbar tangiert war. Im Allgäu wurde der Aufstand nach dem 15. Juli endgültig erstickt. Auch wenn Salzburg und Samland nicht im Blickfeld des Wittenberger Redaktors lagen: vor August 1525 konnte er diesen Satz nicht geschrieben haben. Der Ausdruck „diß jar“ scheint mir eher in den Herbst zu weisen. Die Endgestalt erhielt das Pamphlet in Wittenberg durch Melanchthon (sic conscripta). Dies ist unbezweifelt. Gedruckt wurde es von Setzer in Hagenau. Dieser Schüler und Verleger Melanchthons verließ zwar Wittenberg nach zweimonatigem Aufenthalt am 30. Mai 1525, um über Frankfurt nach Hagenau zurückzukehren74, aber da konnte er das Druckmanuskript der Histori noch nicht mitnehmen. Andererseits war Melanchthon vom 21. Oktober bis Mitte Dezember 1525 nicht in Wittenberg75. Ich halte deshalb die Abfassung im August oder September 1525 für wahrscheinlich.
73
MBW.T 2, 318 Nr. 404 mit den Nachweisen in App. Q. MBW 1, 156 zu Nr. 304 und S. 194 Nr. 404.6. 75 MBW 10 (1998), 334–336. 74
Melanchthons Beziehungen zu Stadt und Bistum Breslau Melanchthon war niemals in Breslau. Er kannte aber einige hervorragende Breslauer, einer – Johannes Heß – war sogar ein enger Freund, andere wurden seine Meisterschüler. Johannes Aurifaber, Johannes Crato, Petrus Vincentius und Zacharias Ursinus sind hier an erster Stelle zu nennen. Während der nahezu 42 Jahre seiner Wittenberger Lehrtätigkeit wurden dort 160 Studenten, die aus Breslau stammten, immatrikuliert1. Er dürfte die meisten von ihnen mehr oder weniger gut gekannt haben, denn die Betreuung der Studienanfänger lag ihm sehr am Herzen. Wollten wir seine Beziehungen zu ganz Schlesien betrachten, dann würden sich diese Zahlen vervielfachen. Wie viele Breslauer in dieser Zeit ihre Ausbildung an anderen Hochschulen empfingen, habe ich nicht nachgezählt. Daraus ließe sich erkennen, ob für die Breslauer Wittenberg attraktiver war als etwa Leipzig, Krakau, Prag oder Wien. Wir können hier solche Breitenuntersuchungen nicht leisten, sondern beschränken uns auf die hervorragenden und deshalb bekannten Gestalten. Dieses Vorgehen ist nicht unproblematisch. „Männer machen Geschichte“ sagt man heute nicht mehr so unbeschwert wie einst Johann Heyne2 und viele andere, aber es steckt noch immer in den Köpfen. Dies konnte man im Melanchthon-Jubiläumsjahr 1997 bemerken. Melanchthon wurde wieder einmal als der allgegenwärtige Universitäts- und Schulreformer und Kirchenreformator gepriesen oder – je nach Einstellung – getadelt. Die Großen des Geistes, zu denen Melanchthon zweifellos gehört, bleiben durch ihre Schriften unvergessen. Ihr Wirken in der Zeit ihres Lebens und auch danach ist aber eher diffus. Was von den Schriften wirklich aufgenommen und umgesetzt wurde, bleibt meistens unbekannt. Was die Schüler aus dem Erbe des Lehrers machen, führt nicht selten in unterschiedliche Richtungen. Wir werden dies beispielhaft bei Johannes Heß und Zacharias Ursinus erkennen. Heß und sein Amtsbruder Ambrosius Moibanus gelten 1
Album Academiae Vitebergensis ab A. Ch. MDII usque ad A.. MDLX, hrsg. v. Karl Eduard FÖRSTEMANN (1841, Repr. 1976), mit den Registern in Bd. 3 (1905). 2 Rainer BENDEL, Die Reformation in Schlesien in der katholischen (schlesischen) Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 58 (2000), 27–51, bes. 29–34.
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als die Reformatoren Breslaus. Gewiss waren sie die fähigsten Theologen damals in der Stadt. Was sie tun durften, bestimmten aber wie überall die Politiker, die ihrerseits von den Argumenten ihrer Prediger nicht unbeeinflusst blieben. Doch die Melanchthon-Schüler Crato und Ursinus mussten aus ihrer Heimatstadt weichen, weil zu ihrer Zeit der Philippismus nicht der dort herrschenden Meinung entsprach. Die Mächtigen und die Reichen geraten schneller in Vergessenheit als die Intellektuellen, die durch ihre hinterlassenen Briefe und Schriften unser Geschichtsbild prägen, zuweilen fernab der Wirklichkeit. Aber zu ihrer Zeit haben die Politiker das Sagen. Der Historiker darf sie deshalb nicht missachten, trotz der Schwierigkeit, dass in den Kabinetten und Ratsstuben vieles entschieden wurde, was nie einen schriftlichen Niederschlag fand. Breslau3 war eine Stadt deutschen Rechts, so wohlhabend und groß wie die vornehmsten Reichsstädte. Aber sie war keine freie Reichsstadt, sondern gehörte seit dem Aussterben der Piastenlinie im schlesischen Teilherzogtum Breslau 1335 als „Erbfürstentum“ zur Krone Böhmen, zusammen mit ganz Schlesien von 1474/79 bis 1490 zu Matthias Corvinus von Ungarn, dann wieder als Teil von Schlesien zur Krone Böhmen, die nunmehr in Personalunion mit der Krone Ungarn verbunden war. Nach dem Schlachtentod des Königs Ludwig von Böhmen und Ungarn 1526 war der Habsburger Ferdinand, der Bruder und spätere Nachfolger des Kaisers Karl V., unmittelbarer Herr der Stadt. Nachdem der Rat der Stadt bereits 1326/29 die Stadtvogtei – wie die mächtigen der deutschen Reichsstädte ihr Schultheißenamt – in seine Hand gebracht hatte, erwarb er 1361 das Amt des Landeshauptmanns, das heißt des königlichen Vertreters im Fürstentum Breslau, und stieg damit zum Landstand auf. Mit einigen Unterbrechungen behielt der Rat dieses Amt bis 1635. Landeshauptmann war jeweils für ein Jahr einer der drei obersten Ratsherren. Über ihm stand der für ganz Schlesien zuständige Oberlandeshauptmann, ein Standesherr ohne große Macht, seit 1536 immer der Bischof von Breslau. Der König war weit entfernt, und mehr Rücksichten als eine Reichsstadt auf den Kaiser musste Breslau auf Ludwig und Ferdinand nicht nehmen. Sie 3
Zum Folgenden vgl. Handbuch der historischen Stätten: Schlesien, hrsg. v. Hugo Weczerka (1977). - Franz MACHILEK, Schlesien. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, hrsg. v. Anton Schindling und Walter Ziegler, Bd. 2, (1990), 102–138. - Hugo W ECZERKA, Breslaus Zentralität im ostmitteleuropäischen Raum um 1500. In: Metropolen im Wandel, hrsg. v. Evamaria Engel u. a. (1995), 245–262. - Schlesisches Städtebuch (Deutsches Städtebuch 1, 1995). Joachim KÖHLER, Bistum Breslau, Heft 1 Mittelalter, Heft 2 Reformation und katholische Reform (1995 f). - Joachim B AHLCKE, Schlesien und die Schlesier (1996). Christian-Erdmann SCHOTT, Schlesien I: Kirchengeschichte: TRE 30 (1999), 189–198. Die Formulierung der staatsrechtlichen Stellung Breslaus wird Dr. Hugo Weczerka verdankt.
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handelte wie eine Reichsstadt. Dies schloss nicht aus, dass der König gelegentliche Mahnungen an seine Stadt richtete. Unerlässlich für die Selbstherrlichkeit einer solchen Stadt war der Erwerb der Kirchenhoheit, zumindest der Patronatsrechte4. Politisch hatte der Bischof in der Stadt nicht viel zu sagen. Er residierte in Neiße und in Grottkau. Auch das Domkapitel störte auf seiner Insel die Bürgerstadt wenig, wenn es auch zuweilen Spannungen und Feindschaft gab. Doch blieb der Bischof der geistliche Oberhirte und der Klerus war ihm zu Gehorsam verpflichtet. Dies war der Konfliktstoff bei den Berufungen von Johannes Heß und Ambrosius Moibanus zu Pfarrern 1523 und 1525.
I Die Pfarrei von St. Maria Magdalena, einer der beiden Hauptkirchen der Breslauer Altstadt, war 1517 in einem Monat vakant geworden, in dem die römische Kurie das Besetzungsrecht hatte. Der Streit um die Pfründe verhinderte eine befriedigende Besetzung5. Nach sechs Jahren faktischer Vakanz der Pfarrei griff der Rat ein. Am 19. Mai 1523 bot er dem 33jährigen Hofprediger des Herzogs von Münsterberg in Oels Johannes Heß6, Doktor der Theologie, Priester und Breslauer Stiftsherr, eine Predigerstelle an der Magdalenenkirche an7. Städtische Predigerstellen, die vom Rat zu besetzen waren und eine hohe Qualifikation verlangten, gab es als Reformmaßnahme gegen die Untätigkeit der Hierarchie schon seit dem 15. Jahrhundert in vielen Städten8. Heß jedoch äußerte Bedenken9. Da erteilte am 21. August auch der Bischof – es war Jakob von Salza10 – den Ruf auf das Predigtamt11. Als dies geschehen war, ging der Rat, der am 23. Juni eine Armenkastenordnung erlassen hatte12, einen Schritt weiter: mit Zustimmung einer Bürgerversammlung präsentierte er Heß dem Bischof als Pfarrer. Obwohl der Bischof sich nicht in der Lage sah, in das päpstliche Besetzungsrecht einzugreifen, wurde Heß vom Rat als Pfarrer von Maria 4
Peter LANDAU, Patronat: TRE 26 (1996), 106–114, bes. 108 f. Gustav B AUCH, Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation (1911), 6 f. - Georg KRETSCHMAR, Die Reformation in Breslau, 1 (1960), 65 f. 6 MBW 12 (2005), 284 f. 7 KRETSCHMAR (wie Anm. 5), 67. 8 Bernd MOELLER und Karl STACKMANN, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation (1996). 9 KRETSCHMAR (wie Anm. 5), 68–73. 10 Alfred SABISCH, Die Bischöfe von Breslau und die Reformation in Schlesien (1975), 35–50. 11 KRETSCHMAR (wie Anm. 5), 72 f. 12 Ebd. 74–77. 5
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Magdalena eingesetzt. Am Sonntag dem 25. Oktober hielt er seine erste Predigt13. In Breslau war seit 1519 der Drucker Adam Dyon tätig. Er war aus Nürnberg zugewandert. Auch Schriften Luthers gehörten zu seinem Angebot14. Im Mai 1523 publizierte Luther die Programmschrift »Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift«15. Der Breslauer Rat handelte danach. In Breslau nahm die Reformation ihren Anfang bei dem viel beklagten Missstand der korrumpierten Stellenbesetzung. Die Ratsherren hatten eine außerordentlich gute Wahl getroffen. Heß war ein umfassend gebildeter Mann, dazu ohne jeden Ehrgeiz. Bis zu seinem Tod am 5. Januar 1547 blieb er Pfarrer an einer Hauptkirche seiner Wahlheimat, 23 Jahre lang. Er verstand es, gemeinsam mit anderen in Breslau eine maßvolle Kirchenreform lutherischer Prägung durchzuführen. Darin erwies er sich als Gesinnungsgenossen seines Freundes Melanchthon. Doch im übrigen wusste er selbst, was er zu tun hatte. Als sich die beiden in der entscheidungsreichsten Zeit der Reformation begegneten, haben sie sich sofort bestens verstanden. Heß war gut sechs Jahre älter als Melanchthon, hatte also lange vor diesem studiert, in Leipzig und ab Winter 1509/10 in Wittenberg, wo er 1511 den Magistergrad erlangte und Luther kennenlernte16. 1513 wurde er Sekretär und Notar in der Kanzlei des Breslauer Bischofs Johannes Thurzó und bekam die üblichen Pfründen17. Dann war er Prinzenerzieher in Oels. Ende 1517 reiste er nach Italien. In Bologna, Ferrara und Rom studierte er Jura und Theologie. Als Doktor der Theologie kehrte er im Herbst 1519 nach Deutschland zurück18. Bevor er im Januar oder Februar 1520 wieder in
13
Ebd. 78–100. - B AUCH (wie Anm. 5), 13–16. - Acta Capituli Wratislaviensis 1500– 1562, hrsg. v. Alfred SABISCH, II/1 (1976), 325–331. - Quellenbuch zur Geschichte der evangelischen Kirche in Schlesien, hrsg. v. Gustav Adolf B ENRATH u. a. (1992), 10–12. 14 Helmut C LAUS, New Light on the Presses of Adam Dyon and Kaspar Libisch in Breslau (1518–1540). In: The German Book 1450–1750. Studies presented to David L. Paisey in his retirement (1995), 61–80. 15 WA 11, 401–416. 16 Brief an Johannes Lang in Wittenberg vom 8. 12. 1513 bei KRETSCHMAR (wie Anm. 5), 26 f. 17 Gustav B AUCH, Johann Thurzo und Johann Heß. Mit brieflichen Beilagen: Zeitschrift für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1901/02), 193–224. 18 Im August 1519 ist er in Bologna nachweisbar: Julius P FLUG, Correspondance, hrsg. v. J. V. POLLET, Bd. 1 (1969), 79–81 Nr. 6; Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 4, hrsg. v. Helga SCHEIBLE (1997), 74 Nr. 615. Von dort überbrachte er den Brief des Crotus Rubianus an Luther vom 16. 10. 1519 und wohl auch den vom 31.: WAB 1, 540– 548 Nr. 213 f.
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Schlesien eintraf, verweilte er in seiner Heimatstadt Nürnberg19 und im Dezember 1519 und Januar 1520 in Wittenberg20. Hier lernte er Melanchthon persönlich kennen. Wie heftig die Zuneigung zumindest von seiten Melanchthons war, schrieb dieser einige Monate danach: „Du täuschest Dich, wenn Du annähmst, es gäbe jemanden, der mir lieber wäre als Du, den ich, sobald ich ihn kennenlernte, so in mein Herz geschlossen habe wie keinen anderen“21. Vielleicht wurde diese spontane Liebe dadurch befördert, dass die beiden irgendwie miteinander verwandt waren. Als Heß’ Sohn Johannes am 25. Juni 1557 in Wittenberg immatrikuliert wurde, geschah dies mit dem Zusatz cognatus Philippi Melanthonis22. Heß’ Vater – er hieß ebenfalls Johannes – war ein Nürnberger Kaufmann. Aber seine Mutter Anna kam aus dem Pforzheimer Geschlecht der Geiger; sie war die Tochter des Kaufmanns Ulrich Geiger23. Melanchthon entstammte mütterlicherseits einer Kaufmannsfamilie, die mit den Pforzheimer Reuchlins verwandt oder verschwägert war24. Ein anderer Enkel jenes Ulrich Geiger und also Vetter des Breslauer Heß war der Straßburger Arzt und Diplomat Ulrich Chelius (die humanistische Übersetzung von Geiger), der 1534 die Verbindung Melanchthons zu den Reformfreunden in Frankreich herstellte25. Unser Heß jedoch war in Nürnberg geboren und aufgewachsen. Seine Orientierung nach dem Osten war nicht singulär. Breslau hatte 1474 seine Mitgliedschaft in der Hanse aufgegeben und sich wirtschaftlich nach Süden und Westen orientiert. Der oberungarische Silber- und Kupferbergbau war ertragreicher geworden als der Ostseehandel. Nürnberg war führend in der Metallverarbeitung. Das Kapital kam vor allem aus Augsburg. Die Fugger arbeiteten eng mit dem ungarischen Handelsgeschlecht Thurzó zusammen. Solche Verbindungen wirkten sich auch im kulturellen Bereich aus. Der Breslauer Bischof, der den Nürnberger Heß 1513 in seinen Dienst stellte, war ein Thurzó. 19
Pirckheimers Briefwechsel (wie Anm. 18), 129–131 und 135 f Nr. 637–639 und
641. 20
Vor dem 7. Dezember ist er dort eingetroffen: WAB 1, 568 f Nr. 226. Melanchthons Abschiedsgedicht trägt das Datum des Januar 1520: CR 10, 481 Nr. 9. 21 MBW 84. - KRETSCHMAR (wie Anm. 5), 37. 22 Album (wie Anm. 1), 331b11 . 23 Gottfried MICHAELIS, Familienbuch Michaelis/v.Tschirschky, Bd. 1, BielefeldSenne (Selbstverlag) 1984, S. 369–412, bes. 370. 24 Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Pforzheimer Schulzeit (1989): Forschungsbeiträge (1996), 29–70, bes. 42–47. 25 Irene DINGEL, Melanchthon und Westeuropa. In: Philipp Melanchthon als Politiker zwischen Reich, Reichsständen und Konfessionsparteien, hrsg. v. Günther Wartenberg und Matthias Zentner unter Mitwirkung von Markus Hein (1998), 105–122. - MBW 12 (2005), 124 f.
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Bischof Johannes Thurzó26 förderte die Verbindungen zu Wittenberg wie zu allen humanistischen Bildungszentren und ihren Repräsentanten27. So kamen etliche begabte Breslauer und überhaupt Schlesier nach Wittenberg und wurden mit Melanchthon bekannt, ohne dass daraus mehr als der Austausch von Höflichkeiten entstand. Dazu gehören der Breslauer Domherr Stanislaus Sauer28, die bischöflichen Notare Valentin Krautwald29 und Michael Wittiger30, denen man griechisch und hebräisch schreiben konnte. Wittiger war Stiftsherr in Breslau, Oppeln und Neiße. Er wurde 1527 evangelischer Landpfarrer in der Gegend von Liegnitz31 und starb erblindet 1534 in Breslau. Krautwald bekleidete von 1523 bis zu seinem Tod 1545 hohe Ämter am Kollegiatstift in Liegnitz und stand Schwenckfeld nahe. Der Breslauer Domherr, Kantor und bischöfliche Rat Dominicus Schleupner32, der aus Neiße stammte, ließ sich fast 20 Jahre, nachdem er sein Studium 1498 in Krakau begonnen hatte, in Wittenberg einschreiben. Bischof Thurzó beauftragte ihn, Melanchthon seine Anerkennung zu übermitteln. Der Dankesbrief, den Melanchthon am 1. August 1520 dem heimkehrenden Schleupner mitgab33, erreichte den Bischof nicht mehr lebend. Am 2. August 1520 ist der 56-jährige gestorben. In der Zeit danach, von der unverzüglichen Wahl des Domscholasters Jakob von Salza34 zum Bischof am 1. September 1520 bis zu seiner päpstlichen Bestätigung am 24. Juli 1521, erschien die Androhung des Bannes über Luther und seine Anhänger, und es erfolgte die Bannung und Ächtung. In Breslau gab es natürlich schon unter Bischof Thurzó viele Gegner Luthers, vor allem im Domkapitel, darunter Jakob von Salza. Schleupner begab sich zum weiteren Studium im Wintersemester 1520 nach Leipzig, der Stadt des entschiedenen Luthergegners Georg von Sachsen. Melanchthon hielt dies für eine Angstreaktion35. Doch auch hier intrigierten Schleupners Feinde gegen diesen offenbar schon sehr 26
ContEras 3 (1987), 324 (L. D OMONKOS). Karen LAMBRECHT, Breslau als Zentrum der gelehrten Kommunikation unter Bischof Johann V. Thurzó (1466–1520): Archiv für schlesische Kirchengeschichte 58 (2000), 117-141. 28 Acta Capituli Wratislaviensis I/1 (1972), LXIV Nr. 55. - ContEras 3 (1987), 197 (Michael ERBE). - MBW 83, 86, 95, 1378. 29 MBW 12 (2005), 463 f. - MBW 84, 85, 86, 95, 275, 296. 30 KRETSCHMAR (wie Anm. 5), 9 Anm. 6a. - Acta Capituli Wratislaviensis I/1 (1972), 236 Anm. 10. - MBW 85, 245, 275, 296. 31 MBW 245. - Acta Capituli Wratislaviensis II/1 (1976), 453 f Nr. 1670. 32 Matthias SIMON, Nürnbergisches Pfarrerbuch (1965), 198 Nr. 1211. - Acta Capituli Wratislaviensis II/1 (1976), LXV Nr. 62. - DBE 8 (1998), 673. - MBW 111, 147, 267. 33 MBW 103. 34 SABISCH (wie Anm. 10), 35–50. 35 MBW 126. 27
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profilierten Lutheraner. Melanchthon versprach ihm Hilfe36. 1522 nahm Schleupner einen Ruf als Prediger der Sebaldkirche in Nürnberg an. Der Austausch nicht nur von Waren, sondern auch von Dienstleistungen zwischen den beiden Städten geschah also auch von Osten nach Westen. Hinfort wirkte der Breslauer Domherr als Mitreformator der fränkischen Reichsstadt und verlor seine Pfründen in Schlesien. Auch Heß bekam in Breslau und Neiße Schwierigkeiten. Er war der bekannteste der schlesischen Reformfreunde, denn Melanchthon hatte ihn im Februar 1520, noch zur Zeit des Bischofs Thurzó, als solchen öffentlich gepriesen37 – man konnte es auch als bloßgestellt empfinden, „geoutet“ sagt man heute. Melanchthon hatte 1520 an Pauli Bekehrung, das ist der 25. Januar, der höchste Feiertag der Universität Wittenberg, die Festrede über die Lehre des heiligen Apostels Paulus gehalten und sofort in Wittenberg drucken lassen mit einer Vorrede an den kaiserlichen Gesandten Hieronymus Brunner, der zufällig anwesend gewesen war. Dieser beachtlichen Publikation, die alsbald in Basel, Augsburg und Straßburg nachgedruckt wurde, gab er einen Offenen Brief an Johannes Heß bei, den er als Nürnberger und als Theologen titulierte. Er beginnt mit der Mitteilung an die Öffentlichkeit, dass Heß unlängst Melanchthons Baccalaureatsthesen uneingeschränkt gebilligt habe, jene Thesen, die jetzt in die Kritik der Glaubenshüter geraten seien. Anstoß erregte vor allem der Satz, dass die Transsubstantiationslehre nicht heilsnotwendig sei. Doch dies folge aus dem eigentlich unbestrittenen Obersatz, dass die Konzile nicht über der Heiligen Schrift stehen. Melanchthon erregt sich darüber, dass allenthalben menschliche Bestimmungen über die Heilige Schrift gestellt werden. Er müsse sich doch tatsächlich von Juristen sagen lassen, die Entscheidung über die Kirchlichkeit theologischer Aussagen liege bei ihnen. Melanchthon polemisiert gegen die Scholastik und bezeugt seinem Freund Heß, dass auch er aus dem Meer der Scholastik zur Schrifttheologie gefunden habe. Das Ziel jener Disputation Melanchthons war also das Schriftprinzip. Konzile und Papst können irren. Nur wenn sie schriftgemäß entscheiden, sind sie gültig, und nur dann wirkt in ihnen der Heilige Geist. Menschliche Dogmen können deshalb nicht verpflichtende Glaubensartikel sein. Gleichwohl hielt Melanchthon den Primat des Papstes noch für wahrscheinlich, und der Transsubstantiationslehre bezeugte er seinen Respekt. Glaubensartikel sei jedoch nur, dass der wahre Leib Christi gegessen wird. Man dürfe nicht so vorschnell von Häresie reden wie die Scholastiker oder Eck in der Leipziger Disputation. Heß war gewiss mit Melanchthon einer Meinung, wie sein Verhalten beweist. Doch ob ihm diese öffentliche Vereinnahmung willkommen war, 36 37
MBW 147. MBW 76.
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kann man bezweifeln. Wir kennen keine Briefe von ihm an den Wittenberger aus jenen Anfangsjahren der Reformation. Melanchthon schrieb ihm zwar regelmäßig, aber zunehmend hektisch38, was bei der enormen Arbeitslast jener Umbruchszeit verständlich ist, und gelegentlich mit herablassender Belehrung39, was bei einem so genialen Jüngling ebenfalls nicht verwundert, aber den deutlich älteren Freund ärgern konnte, besonders wenn ihm auch noch Ängstlichkeit unterstellt wurde40. Jedenfalls fand Heß bei aller sachlichen Belehrung durch die Wittenberger Theologen seinen Weg ohne Melanchthon. Als die Situation in Breslau und Neiße unter dem neuen Bischof für ihn vielleicht bedrohlich, jedenfalls unangenehm wurde, nahm er die Stelle eines Hofpredigers bei Herzog Karl von Münsterberg in Oels41 an. Melanchthons Lob dieser Vorsichtsmaßnahme klingt stark nach Tadel42. Musste er den Gesinnungsfreund ermahnen, auch bei seinen neu gewonnenen weltlichen Mitmenschen die Sache des Evangeliums ebenso zu fördern wie zuvor bei den Priestern? Von Heß gefragt, rät er, die Schwachen zu schonen und bei der Messe alle üblichen Riten zu beachten, also den Laien nur das Brot zu reichen. Die christliche Freiheit bewähre sich auch am Fasten. Von den Ereignissen im Frühjahr 1523, die zu Hessens Berufung nach Breslau führten, hatte Melanchthon nur die ungenaue Nachricht von Unruhen im Volk erhalten. Dass er gegenüber Wittiger in Neiße davor warnte43, ist verständlich. Eine geordnete Reformation wie damals in Breslau war nicht überall möglich, und vor dem landesherrlichen Kirchenregiment in Kursachsen und anderswo kam der Bauernkrieg. Als dann Heß Pfarrer der Breslauer Magdalenenkirche geworden war, gratulierte ihm Melanchthon mit der Warnung vor der Gefahr, auf den Beifall der Menge zu achten44, und wiederholte diese Ermahnung sechs Wochen danach45. Ich kann nicht anders, als Melanchthons Freundschaft mit Heß, die zweifellos bestand, für irgendwie problematisch zu empfinden. Der junge Melanchthon konnte sich spontan und überschwänglich in ältere Kommilitonen verlieben, von deren Einfluss er sich dann wieder befreien musste. Dies
38
MBW 86, 169. MBW 95. 40 MBW 126. 41 ADB 15 (1882), 358–360 (SCHIMMELPFENNIG). 42 MBW 222 (25. 3. 1522); KRETSCHMAR (wie Anm. 5), 58 f. 43 MBW 275, 296. 44 MBW 295 (18. 11. 1523). 45 MBW 306 (3. 1. 1524). - MBW 320.1 vom 20. 4. 1524 ein kurzer Segenswunsch zum Pfarramt. 39
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gilt für Ambrosius Blarer, Johannes Oekolampad und nicht zuletzt auch für Luther46.
II Viel entspannter war sein Verhältnis zu dem anderen Breslauer Reformator, zu Ambrosius Moibanus47, der im Sommer 1525 St. Elisabeth, die andere Breslauer Altstadtpfarrei, übernahm. Was der Breslauer Rat und Johannes Heß bis dahin als reformatorische Maßnahmen durchführten, die Gotteskastenordnung 1523, die deutsche Taufagende 1524, die große Disputation vom April 1524, die Abschaffung vieler katholischer Riten und die Zulassung der Priesterehe im April 152548, findet in Melanchthons Briefwechsel keine Beachtung. Zu diesen reformatorischen Maßnahmen des Breslauer Rates gehört auch die Besetzung der Pfarrei St. Elisabeth mit einem qualifizierten evangelischen Pfarrer. Es gab dort einen Pfarrer, Gregor Quicker, und das Patronat lag beim Breslauer Matthiasstift, dem Mutterkloster der „Kreuzherren mit dem roten Stern“, einem ritterlichen Spitalorden aus der Kreuzfahrerzeit. Der Rat kaufte 1524 den Kreuzherren das Patronat ab und brachte den alten Pfarrer zum Rücktritt, alles ganz legal49. Eigentlich wollte man den wohlbekannten Domherrn Schleupner als Pfarrer. Doch der hatte schon in Nürnberg zugesagt. Da schlug Heß den ebenfalls wohlbekannten und als Schulmann bewährten50 Breslauer Ambrosius Moibanus vor, der sich gerade – schon 31-jährig (* 4. 4. 1494) – in Wittenberg zu theologischen Studien befand51. Er war der Sohn des wohlhabenden Breslauer Schuhmachermeisters Georg Moywen, hatte in Krakau und Wien studiert, dort bei Jakob Bedrotus52 Griechisch gelernt und 1517 den 46
Heinz SCHEIBLE, Luther und Melanchthon (1983): Forschungsbeiträge (1996), 139– 152. - DERS., Melanchthon. Eine Biographie (1997), 22 und 144 f. 47 P. KONRAD, Dr. Ambrosius Moibanus (1891). - WAB 2, 86 Anm. 1. - Gottfried Ferdinand BUCKISCH, Schlesische Religions-Akten 1517 bis 1675. Teil 2, hrsg. v. Joseph Gottschalk u. a. (1998), 23 Anm. 71. 48 EKO 3 (1909), 392–411. - K RETSCHMAR (wie Anm. 5), 64–120. - Otto S CHEIB, Die Breslauer Disputation von 1524 als Beispiel eines frühreformatorischen Religionsgesprächs eines Doktors der Theologie. In: Festschrift für Bernhard Stasiewski, hrsg. v. Gabriel Adriányi und Joseph Gottschalk (1975), 98–106. - Quellenbuch (wie Anm. 13), 13–17. 49 B AUCH (wie Anm. 5), 23–25. - Acta Capituli Wratislaviensis II/1 (1976), 385 f Nr. 1547. 50 Gustav B AUCH, Geschichte des Breslauer Schulwesens vor der Reformation (1909), 287–290. 51 Immatrikuliert am 16. 4. 1523: Album (wie Anm. 1), 116a. 52 MBW 11 (2003), 136.
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Magistergrad erworben, auch schon eine Dichtung publiziert, die seine Verehrung für Pico della Mirandola zum Ausdruck brachte. Vielleicht hatte er auch Reuchlin in Tübingen oder Stuttgart besucht und dabei möglicherweise Melanchthon kennengelernt. 1518 wurde er in Breslau Rektor der Domschule. Im April 1520 besuchte er Wittenberg und besprach mit Melanchthon Probleme der Pädagogik53. Nach Thurzós Tod gab er die Domschule auf und wurde Rektor der städtischen Pfarrschule von St. Magdalena. Hier bot er auch Griechisch an, erstmals in Breslau54. Rektor der Pfarrschule St. Elisabeth wurde 1521 der Oberfranke Johannes Troger55. Er stammte aus dem brandenburg-kulmbachischen Amtsstädtchen Münchberg, hatte in Leipzig bis zum Baccalaureus studiert und war im Juni 1520 nach Wittenberg gekommen, wo er im Januar 1521 den Magistergrad erwarb. Als er damit nach Breslau zurückkehrte, richtete Melanchthon seinen ersten und u. W. einzigen Brief an den humanistisch gebildeten Breslauer Stadtschreiber Laurentius Corvinus56. Ende 1521 besuchte Moiban wiederum Wittenberg. Dort wurden nun die ersten Reformen durchgeführt, die der auf der Wartburg abwesende Luther literarisch gefordert hatte. Der Student Sebastian Helmann aus Breslau berichtete darüber eifrig in seine Heimat57. Das Erbteil von seinem 1522 verstorbenen Vater ermöglichte Moiban ein reguläres Studium. Anton Niger58 übernahm das Rektorat. Dieser bekam Differenzen mit Troger, in die sich Melanchthon einmischte59. Am 16. April 1523 ließ sich Moiban in Wittenberg inskribieren. Hier erreichte ihn 1525 der Ruf auf das Pfarramt in seiner Heimatstadt. Rasch wurde er am 26. Juni 1525 zum Dr. theol. promoviert. Dies ist bemerkenswert, denn es zeigt, dass in Wittenberg die Promotionen durch die sogenannten Unruhen 1522 nicht völlig zum Erliegen gekommen sind. Sie konnten nicht vollzogen werden, weil durch die neuen humanistisch-reformatorischen Studiengänge die von den mittelalterlichen Statuten geforderten Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Es dauerte einige Jahre, bis neue Statuten erlassen wurden; für die 53
MBW 84. B AUCH (wie Anm. 5), 37. 55 Album (wie Anm. 1), 95b (Treger de Monichperg Bambergen. Dioc., 23. 6. 1520). Julius KÖSTLIN, Die Baccalaurei und Magistri der Wittenberger Philosophischen Fakultät 1518-1537 (Osterprogramm der Universität Halle-Wittenberg 1888), 10 und 18 (Monopolitanus, 21. 1. 1521 ). - B AUCH (wie Anm. 5), 38 f, 60 f. - MBW 125 f, 256, 320. 56 MBW 125. - Über Corvinus vgl. MBW 11 (2003), 307. 57 Vgl. MBW 168 und 172 in der Datierungsbegründung. - KRETSCHMAR (wie Anm. 5), 46–55. - B AUCH (wie Anm. 5) s. v. Heinemann. - MBW 12 (2005), 263. 58 Gustav B AUCH, Das Leben des Humanisten Antonius Niger: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 16 (1882), 180–219 mit 32 (1898), 389. - D ERS. (wie Anm. 5), 44–47. 59 MBW 320 (20. 4. 1524), vgl. auch 256, 320, 475, 486 f. - B AUCH (wie Anm. 6), 47. 54
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theologische Fakultät geschah dies 153360. Moibanus jedoch hatte sein Studium noch nach dem alten System absolviert. In dem Wittenberger Fakultätsbuch wird ausdrücklich vermerkt, dass er iuxta statuta öffentlich disputiert und auch sonst die Statuten erfüllt habe61. Priester war Moiban im Gegensatz zu Heß nicht. Doch Bischof Jakob von Salza erwies sich als erstaunlich kooperativ. Der vom Rat berufene Pfarrer begab sich nach Grottkau und wurde vom Bischof investiert, aber nicht zum Priester geweiht62. 1526 heiratete Moiban Anna Boncke aus Schweidnitz63. Heß hatte dieses sichtbarste Zeichen des Bekenntnisses zur Reformation im September 1525 gesetzt. Heß und Moibanus arbeiteten mehr als 20 Jahre harmonisch zusammen. Mit beiden blieb Melanchthon in lockerem Briefwechsel, der sich aber immer mehr auf allgemeine Nachrichten beschränkte und die Betreuung von Studenten betraf64. Zwei hochbegabte Söhne Moibans, Zacharias und Johannes, erfuhren später Melanchthons besondere Fürsorge65. Moibanus hat sich auch durch originelle Katechismen einen Namen gemacht, und Melanchthon schrieb ihm dazu eine Vorrede66. Ein substanzielles theologisches Gutachten über Osianders Rechtfertigungslehre ist aus Moibans letzten Lebensjahren bekannt67. Die Schulreformen, die bald nach Moibans Amtsantritt durchgeführt wurden68, geschahen ohne Melanchthons unmittelbare Einwirkung. Hier war der Breslauer Humanist Johannes Metzler69 besonders aktiv. Er hatte an Melanchthon einige begeisterte Briefe über seine Übersetzungen aus dem Griechischen geschrieben und auch Antwort bekommen70. Metzler 60
Heinz SCHEIBLE, Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform (1996): oben Nr. 7, bes. S. 131. - DERS., Melanchthon. Eine Biographie (1997), 51 f und 59–74. 61 Liber Decanorum (1838), 28. 62 B AUCH (wie Anm. 5), 26. - SABISCH (wie Anm. 10), 54. 63 MBW 553. 64 MBW 1066, 1199, 1247, 1286, 1349, 1378, 1412, 1428, 1576, 1846, 1991, 2095, 2239, 2624, 2943, 3027, 3191, 3297, 4129, 4421; 703, 2124, 2848, 2860, 2943, 4423, 5223, 5658, 6510. 65 MBW 4829, 5364, 5365, 5366, 5380, 5658, 5729, 6000, 6030, 6510, 7401, 7419, 8747. - J. F. A. GILLET, Crato von Crafftheim und seine Freunde (1860), 1, 64 und 76. B AUCH (wie Anm. 5), 107. 66 MBW 1978 (Ende 1537/Anfang 1538). - Johann Michael REU, Quellen zur Geschichte des Katechismus-Unterichts, Bd. 2/2 (1911),. 710–754. - Quellenbuch (wie Anm. 13), 36–38. 67 MBW 6268 (Ende 1551). 68 EKO 3 (1909), 396–400. - B AUCH (wie Anm. 5), 72–77. 69 Gustav B AUCH, Beiträge zur Litteraturgeschichte des schles. Humanismus IV: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898), 49–81. DERS. (wie Anm. 5), 53–60, 164 f. 70 MBW 515, 533, 1569.
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wurde Ratsherr, 1533 Schulpräses und war ein Jahr lang (1534/35) auch Landeshauptmann. Als er am 2. Oktober1538 nach längerem Leiden starb, trauerte Melanchthon sehr um ihn71. Ein Jahr danach musste er dessen Witwe über den Tod ihres in Wittenberg verstorbenen Sohnes trösten72.
III Mit Bischof Jakob von Salza hatte Melanchthon keine Verbindung. Dessen Nachfolger Balthasar von Promnitz73, der als protestantenfreundlich galt, gratulierte er zum Amtsantritt, allerdings eineinhalb Jahre danach, als er auf dem Regensburger Reichstag 1541 von einem Mitglied der Breslauer Adelsfamilie Schilling dazu gedrängt wurde. Dabei konnte er an ihre frühere Bekanntschaft erinnern74. Diese Bekanntschaft war wohl der Grund von Melanchthons Zurückhaltung, denn sie war nicht ungetrübt gewesen. Im Juli 1520 machten in Wittenberg die adligen Studenten einen Aufruhr, weil ihnen das Waffentragen ebenso verboten wurde wie Cranachs MalerGesellen. Wir kennen solche Empfindlichkeiten aus Amerika oder Nordirland. Einer der Sprecher war der 23-jährige Rechtsstudent Balthasar von Promnitz. Alle Rädelsführer wurden schließlich ohne förmliche Relegation zum Verlassen Wittenbergs genötigt75. An den Rat der Stadt Breslau als Gremium ist nur ein Brief Melanchthons überliefert76. Es geht um Postbeförderung und um die Betreuung der Breslauer Studenten. Die bedeutendsten sind die Brüder Andreas und Johannes Goldschmidt (Aurifaber), Johannes Krafft (Crato), Peter Vietz (Vincentius) und Zacharias Beer (Ursinus). Nur Andreas Aurifaber (1514–1559)77 kehrte nicht in seine Heimat zurück; er wurde Medizinprofessor in Königsberg und herzoglich-preußischer Leibarzt von erheblichem politischem Einfluss. Crato (1519–1585)78, ebenfalls Mediziner, hatte sechs Jahre in Luthers Haus gelebt und kam 1550 als Stadtarzt nach Breslau, wo er der fleißigste Briefpartner Melanchthons und seines Schützlings Ursinus (1534–1583)79 wurde. Dieser wurde 1558 Lehrer in seiner Vaterstadt, musste aber wie 71
MBW 2124 (23. 11. 1538). MBW 2240. 73 SABISCH (wie Anm. 10), 71–99. - Schlesische Lebensbilder 6 (1990), 28–37 (Gottfried KLIESCH). - B UCKISCH (wie Anm. 47), 54 Anm. 192. 74 MBW 2684 (1. 5. 1541). 75 UUW 1 (1926), 101–106. 76 MBW 3865 (28. 3. 1545). 77 MBW 11 (2003), 97. 78 MBW 11 (2003), 313 f. 79 Siehe unten Anm. 178. 72
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auch Crato bald nach Melanchthons Tod wegen theologischer Differenzen weichen. Johannes Aurifaber (1517–1568)80 und Petrus Vincentius (1519– 1581)81 durchliefen außerhalb Breslaus eine erfolgreiche Karriere und wurden als reife Männer zur Ordnung verworrener Verhältnisse in ihre Heimat zurückgerufen. Nachdem Heß, der Inspektor der Kirchen und Schulen und damit der oberste Geistliche Breslaus gewesen war, am 5. Januar 1547 gestorben war, fiel dieses Amt Moibanus, dem Pfarrer von St. Elisabeth zu. Die Pfarrei von St. Maria Magdalena konnte erst 1549 mit Johannes Halbrot besetzt werden, obwohl der Rat unverzüglich Melanchthon um Benennung eines Nachfolgers ersucht hatte. Da die Universität Wittenberg infolge des Schmalkaldischen Krieges zerstreut war, konnte er zwei hochrangige Theologieprofessoren vorschlagen:82 Georg Maior (1502–1574)83 und Caspar Cruciger (1504–1548)84. Beide waren nicht zu bekommen, nicht zuletzt, weil sehr bald nach den Kriegswirren die Universität Wittenberg ihren Lehrbetrieb wieder aufnehmen konnte85. Aus demselben Grund blieb der dritte Mann, den Melanchthon damals empfahl und der tatsächlich kam, Johannes Aurifaber, seiner Vaterstadt nicht erhalten. Es war für Melanchthon selbstverständlich, dass der 27-jährige das erste Pfarramt der Stadt nicht bekommen würde. Doch riet er, ihn auf einem anderen Amt festzuhalten, bis er das nötige Alter erreicht hätte. Immerhin war er seit Januar 1538 Magister und seit Oktober 1540 Mitglied des Senats der Wittenberger Philosophischen Fakultät86. Überdies hatte er 1543 die Tochter Sara des Johannes Heß geheiratet87. Im März 1547, mitten im Krieg, begab er sich nach Breslau, vermutlich auch wegen des Todes seines Schwiegervaters88. Er bekam den Auftrag, eine Schule, wohl die bei St. Elisabeth, nach Nürnberger Vorbild neu zu organisieren89. Melanchthon jedoch holte ihn, der auch als Theologieprofessor in Leipzig gehandelt wurde90, sobald wie möglich an die Universität Wittenberg zurück91. 80
MBW 11 (2003), 98. Siehe unten Anm. 235. 82 MBW 4569 an den Breslauer Fürstentumskanzler Fabian Kindler, 25. 1. 1547. B AUCH (wie Anm. 5), 242. - Über den Adressaten: MBW 12 (2005), 414 f.. 83 Georg Major (1502–1574), hrsg. v. Irene Dingel und Günther Wartenberg (2005). 84 MBW 11 (2003), 320 f. 85 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon rettet die Universität Wittenberg (1998): oben Nr. 14. 86 Julius KÖSTLIN, Die Baccalaurei und Magistri der Wittenberger Philosophischen Fakultät 1538-1546 (Osterprogramm der Universität Halle-Wittenberg 1890), 10 und 20. 87 MBW 3297 (an Heß, 19. 8. 1543). Vgl. 4560 f (21. 1. 1547). 88 MBW 4715 (16. 4. 1547). 89 MBW 4798 (7. 7. 1547). - B AUCH (wie Anm. 5), 170. 90 MBW 5000 (22. 12. 1547). 91 MBW 4829 (4. 8. 1547), 4864 (31. 8. 1547), 4961 (18. 11. 1547). 81
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Um den Leipziger Superintendenten Johannes Pfeffinger (1493–1573)92 bemühte man sich ebenfalls vergeblich93. Dann endlich wurde Hemiartus – so sein Humanistenname – auf das vakante Pfarramt berufen. Eine Empfehlung Melanchthons94 lässt sich nicht nachweisen. Halbrot stammte aus dem Zeitzer Stiftsgebiet und damit aus dem Einflussbereich Kursachsens, hatte seit 1529 in Leipzig und seit 1536 in Wittenberg studiert, wo er Famulus Luthers gewesen sein soll, was aber unsicher ist. Dann wurde er Schulmeister in der Herrschaft Golßen in der Niederlausitz. Am 5. Oktober 1539 ordinierte ihn Bugenhagen in Wittenberg zu einem geistlichen Amt in Sagan, das damals kursächsisch war. 1549 ging dieses Fürstentum in habsburgischen Besitz über, für Halbrot offenbar ein Grund, in die faktisch freie und mehrheitlich lutherische Stadt Breslau überzusiedeln. Dort zeigte er sich gegenüber den noch stark vertretenen „Papisten“ so wenig konziliant, dass er am 2. April 1554 vom Stadtrat entlassen werden musste. 1555 wurde er Pfarrer an der Marienkirche in Danzig, aber schon im Jahr darauf vom Bischof von Włocławek (Leslau) abgesetzt. Der lutherische Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg nahm ihn mit nach Schwerin, wo er bis zu seinem Tod 1561 als Hofprediger wirkte95. Sein Amtsnachfolger in Breslau war 1554 Adam Cureus geworden, der seit August 1552 in Breslau als Prediger an St. Barbara (in der westlichen Vorstadt beim Nikolai-Tor) wirkte. Obwohl er 1553 ein Angebot des Herzogs Georg II. von Liegnitz-Brieg hatte, blieb er in Breslau, wozu ihm auch Melanchthon riet mit der bemerkenswerten Begründung, in den aristokratischen Großstädten sollten auch nicht-patrizische Gelehrte wirken96. Jedenfalls war dem Breslauer Rat daran gelegen, diesen fähigen Mann zu halten, und beförderte ihn auf die Pfarrei von St. Maria Magdalena97. In demselben Jahr 1554 starb am 16. Januar Moibanus, dessen Amtsführung zuletzt nicht mehr effektiv gewesen war, wie zumindest Johannes Crato am 1. Juni 1553 an Melanchthon schrieb: Crato war erbittert, dass der Breslauer Rat Johannes Aurifaber, der gerade zu Besuch in seiner
92
Günther W ARTENBERG, Landesherrschaft und Reformation (1988), 253–255. MBW 4851 (20. 8. 1547). 94 So GILLET (wie Anm. 65) 1, 153. Der Anm. 6 aus CR 7, 1160 f zitierte Gruß gilt nicht Halbrot, sondern Sager, denn statt Sagano ist Sagero zu lesen: MBW 7370 (26. 12. 1554). 95 WAB 8, 561 f Anm. 2 mit 13, 277 und MBW 6974 (Datierungsbegründung). B UCKISCH (wie Anm. 47), 53 Anm. 189. 96 MBW 6974, 7071. 97 G ILLET (wie Anm. 65) 1, 168 f jeweils ein Jahr zu spät datiert. - B AUCH (wie Anm. 5), 246 f. 93
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21. Melanchthons Beziehungen zu Breslau
Heimatstadt weilte98, nicht berufen hatte, denn der greise Ambrosius Moibanus könne die Kirchengemeinden nicht mehr lenken und das Schulwesen liege darnieder99. Melanchthon brachte dann bei Crato den Frankfurter Theologieprofessor Andreas Musculus100 für Breslau halbherzig ins Gespräch101, obwohl er dessen Lehren schon damals für problematisch ansah102. Entscheidend für seine Empfehlungen war die intellektuelle Leistung. Nach Moibans Tod empfahl Melanchthon auf Anfrage den Superintendenten der Grafschaft Mansfeld Erasmus Sarcerius103, der ablehnte, und dann den Breslauer Johannes Aurifaber, der im Mai 1554 wieder seine Vaterstadt besuchte104, aber nicht berufen wurde. Der 35-jährige Aurifaber hätte der würdige Nachfolger von Heß und Moibanus als Leiter der Breslauer Kirche sein können, was er nach vielen Wirren dann doch wurde, leider nur für kurze Zeit. Er hatte sich in Rostock als Theologieprofessor, Pfarrer und Hauptverfasser der mecklenburgischen Kirchenordnung bewährt105. Auch die Reichsstadt Nürnberg suchte ihn zu gewinnen106. Doch er wurde 1554 in ein bischöfliches Amt nach Königsberg in Preußen berufen. Moibans Nachfolger als Pfarrer an St. Elisabeth und Kirchen- und Schulinspektor wurde trotz Melanchthons Warnung107 der 25-jährige Simon Musaeus108 aus Vetschau bei Cottbus, der nach Studien in Frankfurt (Oder) und Wittenberg Lehrer in Nürnberg und Pfarrer in Fürstenwalde und zuletzt Prediger in Crossen war. Dort musste er gehen, weil er den Stadtrat wegen – offenbar durchaus vorhandener – Ungerechtigkeiten zu heftig angegriffen hatte. Der Rat von Breslau bezahlte seine Doktorpromotion, die in Wittenberg am 5. Mai 1554 vorgenommen wurde, nach
98
MBW 6835, 6847. MBW 6847. 100 Matthias R ICHTER, Gesetz und Heil. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte und zum Verlauf des sogenannten Zweiten Antinomistischen Streits (1996). - LThK3 7 (1998), 542 (Barbara HENZE). 101 MBW 6891, 6933, 6973. 102 MBW 6702, 6706, 6798, 6838, 6854, 7021. 103 BBKL 8 (1995), 1361–1363 (Reinhard T ENBERG). - DBE 8 (1998), 519. – Reformatoren im Mansfelder Land. Erasmus Sarcerius und Cyriacus Spangenberg, hrsg. v. Stefan Rhein und Günther Wartenberg (2006), 17–131. 104 MBW 7108, 7177. 105 Otto KRABBE, Die Universität Rostock im 15. Und 16.Jahrhundert (1854, Repr. 1970), 457–459. - Thomas K AUFMANN, Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1550 und 1675 (1997), s. v. 106 MBW 6965. 107 MBW 7108. 108 BBKL 6 (1993), 376–380 (Ingeborg D ORCHENAS). 99
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Meinung des Prüflings mit zu schweren Fragen 109. Doch hat sich diese Investition nicht rentiert. Der neue Pastor fasste die noch zahlreich vorhandenen Katholiken ins Visier. Schon am 30. Januar 1557 musste er entlassen werden110. Melanchthon hielt sich in der inhaltlichen Bewertung zurück, zeigte sich gegenüber dem Wittenberger Doktor aber loyal und bot seine Hilfe an111. Doch dass der unverträgliche Simon Musaeus eine eklatante Fehlbesetzung war, zeigt sein weiteres Leben. In den folgenden 22 Jahren brachte er es auf elf Stellen. In Breslau wurde sein Amt als Pfarrer von St. Elisabeth und Kircheninspektor geteilt und mit vorhandenen Personen, nämlich Johannes Scholtz und Adam Cureus, nur kommissarisch besetzt. Scholtz 112, lateinisch Scultetus oder Praetorius, hatte 1552 die neu geschaffene Predigerstelle an St. Elisabeth erhalten, mit der theologische Lehrverpflichtungen an der Elisabeth-Schule verbunden waren, und war 1554 als Nachfolger des Cureus Prediger an St. Barbara geworden. Ihm wurde am 1. Februar 1557 als Prediger das Pfarramt von St. Elisabeth kommissarisch anvertraut. Cureus, seit 1554 ordentlicher Pfarrer von St. Maria Magdalena, sollte die Kirchen- und Schulaufsicht wahrnehmen113. Als Nachfolger des Praetorius an St. Barbara wurde der am 24. 12. 1531 in Oels geborene, in Breslau geschulte Thomas Pol(ius) berufen, der als Breslauer Stipendiat seit Mai 1553 in Wittenberg studiert hatte. Am 14. März 1557 wurde er dort von Bugenhagen ordiniert und machte sich am 18. mit einem Empfehlungsbrief Melanchthons an Johannes Praetorius auf den Weg. Am 11. April 1557 trat er sein Amt an114. Cureus und Scholtz waren beide Schüler Melanchthons, aber in unterschiedlichem Maße und von so verschiedener theologischer Grundüberzeugung, dass sie schließlich in einen Streit gerieten, der den Frieden in der Stadt nachhaltig stören sollte und in den auch Melanchthon hineingezogen wurde. Beide wirkten seit Sommer 1552 in Breslau, Scholz mit Bestallung vom 21. Juni seit 14. Juli als Prediger an St. Elisabeth mit theologischer Lehrverpflichtung an der Elisabeth-Schule115, Adam Cureus seit August als Prediger an St. Barbara. Melanchthon hatte ihn wärmstens empfohlen116. Cureus war als Scheer oder Schörer (Kureus ist das griechische Wort für Barbier) 1527 in Freystadt in Schlesien (heute Kozuchów) 109
Johannes HAUSSLEITER, Aus der Schule Melanchthons (1897), 119–127. - MBW
7202. 110
G ILLET (wie Anm. 65) 1, 172–174. MBW 8159 (18. 3. 1557). 112 Lit. siehe B AUCH (wie Anm. 5), 174–176 u. ö. 113 G ILLET (wie Anm. 65) 1, 175. 114 MBW 8160. - GILLET (wie Anm. 65) 1, 107 und 175. - B AUCH (wie Anm. 5), 137. 115 G ILLET (wie Anm. 65) 1, 92 und 158 f. 116 MBW 6509 f. 111
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geboren117 und bezog am 16. Dezember 1544 die Universität Wittenberg118, konnte also noch Luther erleben. Während des Schmalkaldischen Krieges hielt er sich in seiner schlesischen Heimat auf. Am 19. Februar 1549 wurde er in Wittenberg zum Magister artium promoviert119. Im Juni 1549 übernahm er durch Melanchthons Vermittlung von dem Magister Erasmus Benedikt, der ebenfalls aus Freystadt stammte, die Betreuung des Rechtsstudenten Christoph Meienburg aus Nordhausen120, des ältesten Sohnes des mit Melanchthon befreundeten Bürgermeisters dieser Reichsstadt, in der Melanchthons Familie im Kriege Zuflucht gefunden hatte. Bald darauf wurde Cureus Hauslehrer bei Meienburg, um dessen jüngsten Sohn Michael Aeneas (der 1558 eine Enkelin Melanchthons heiraten sollte)121 auf das Studium vorzubereiten122. Im Frühjahr 1551 kehrte er nach Wittenberg zurück123. Sein Schüler folgte ihm alsbald124. Als dann ab Dezember Melanchthon wegen des Trienter Konzils für längere Zeit Wittenberg verlassen musste, wo überdies eine Seuche auszubrechen drohte, sorgte er dafür, dass Cureus sich und seinen Schüler in Sicherheit brachte125. Sie besuchten die Universität Erfurt, wo er und sein Schüler im Wintersemester 1551/52 immatrikuliert wurden, bald danach aber nach Jena weiterzogen, wo sie im 1. Halbjahr 1552 ebenfalls immatrikuliert und am 5. Mai noch nachweisbar sind126. Hier teilte Cureus mit des Moibanus Sohn Zacharias das Zimmer127. Doch am 25. Juli 1552 verließ Cureus Wittenberg, um in Breslau eine geistliche Stelle zu suchen. Er war dem zuständigen Ratsherrn Johannes Mornberger (Morenberg, 1502–1567)128 empfohlen worden, aber nicht von 117
G ILLET (wie Anm. 65) 1, 159 f. - NDB 3 (1957), 441 (in dem Artikel von Ernst KÄHLER über den durch die »Exegesis perspicua« bekannteren Bruder Joachim). 118 Album (wie Anm. 1), 218b. 119 Julius KÖSTLIN, Die Baccalaurei und Magistri der Wittenberger Philosophischen Fakultät 1548-1560 (Osterprogramm der Universität Halle-Wittenberg 1891), 7. - Paul FLEMMING, Beiträge zum Briefwechsel Melanchthons aus der Briefsammlung Jakob Monaus in der Ste Genevièvebibliothek zu Paris (Schulprogramm Naumburg 1904), 36 Anm. 2. 120 MBW 5496, 5580. 121 MBW 8673. 122 MBW 5769, 5850, 5868, 5887, 5909. 123 MBW 6046 (5. 4. 1551). 124 Der jüngste Meienburg-Sohn ist am 15. 4. 1551 in Wittenberg eingeschrieben: Album (wie Anm. 1), 263a. 125 MBW 6280 (14. 12. 1551), 6304 f (13. 1. 1552). 126 MBW 6353, 6409, 6411, 6434. 127 MBW 6510. 128 1534 Ratsherr, seit 1535 zweiter Schulpräses neben dem Landeshauptmann, vgl. G ILLET (wie Anm. 65) 1, 19 und 78. - B AUCH (wie Anm. 5), 100. - In Wittenberg hatte er nicht studiert.
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Melanchthon, der diesen offenbar nicht persönlich kannte. Melanchthon empfahl ihn an Crato und an Moibanus129. Am 19. Oktober 1552 konnte er ihm dann zum Amtsantritt gratulieren130. Auch Scholtz/Praetorius, der aus Klein Hennersdorf bei Landeshut (heute Kamienna Góra) stammte, hatte in Wittenberg studiert. Im Januar 1546 wurde er dort als Johannes Schultz aus „Landshut“ immatrikuliert131. Wenn er wirklich am 24. Dezember 1524 geboren wurde132, wäre er ungewöhnlich alt gewesen, müsste also zuvor etwas anderes getan haben. Den Magistergrad hat er nicht 1546133, sondern am 22. Februar 1552 in Wittenberg erworben134. Melanchthon kannte ihn also, aber er stand ihm bei weitem nicht so nahe wie Adam Cureus. Bevor Scholtz 1552 auf Melanchthons Empfehlung nach Breslau kam, wirkte er u. a. in Bartfeld (Königreich Ungarn, heute Bardejov, Slowakische Republik), wo er sich mit dem bedeutenden Schulrektor und Theologen Leonhard Stöckel gut verstand135.
IV Als Cureus im Juli 1552 von Wittenberg nach Breslau zog, gab ihm Melanchthon Empfehlungsbriefe an Ambrosius Moibanus und an Johannes Crato mit. In seinem nun wieder dichteren Briefwechsel lässt er auch Andreas Winkler, Balthasar Sartorius und Johannes Sager namentlich grüßen136. Andreas Winkler137 war nicht ganz zwei Jahre jünger als Melanchthon. Er stammte aus dem Mansfeldischen, hatte aber schon als 15-jähriger in Breslau die Lateinschule besucht. In Krakau studierte er bis zum Baccalaureat und kam dann 1520 nach Wittenberg. Ab 1522 wirkte er als Lehrer in Breslau, zuerst an Corporis Christi. 1526 wurde er als Nachfolger Trogers Rektor der Elisabethenschule. Am 14. April 1535 wurde er in Wittenberg feierlich zum Magister artium promoviert. Melanchthon hielt 129
MBW 6509 f. MBW 6613. 131 Album (wie Anm. 1), 229b. Die Angabe ,1545‘ bei Bauch (wie Anm. 5), 175, beruht auf einer Missdeutung der Matrikel, die den Januar im Wintersemester 1545/46 meint. 132 Otto SCHULTZE, Predigergeschichte der Stadt Breslau (1938), 19. 133 So GILLET (wie Anm. 65) 1, 158, danach STURM (wie Anm. 178), 125. Richtig B AUCH (wie Anm. 5), 175. 134 KÖSTLIN (wie Anm. 119), 12: Iohannes Schultes Landshutenus. 135 B AUCH (wie Anm. 5), 175, und unten bei Anm. 222. 136 MBW 6613, 6643, 7370. 137 B AUCH (wie Anm. 5), 69 u. ö. - WAB 8, 420 Anm. 1. 130
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selbst die Festrede über die Liebe zur Wahrheit und schrieb auch die von Winkler vorgetragene Quaestio. Beide wurden in Wittenberg und sofort auch in Hagenau und Straßburg gedruckt138. 1539 errichtete er eine Druckerei, die er bis 1555 betrieb139. Schulleiter blieb er bis 1569140. Er starb 1575. Bei seiner Promotion 1535 gewann er in Wittenberg als Unterlehrer Pankraz Schaffer oder Scheffer141 und vor allem Balthasar Neumann (Neander) aus Bunzlau (1513–1568), der seit dem Winter 1532/33 in Wittenberg studiert hatte, wo er 1558 – ähnlich spät wie Winkler – den Magistergrad erwarb, aber weiterhin bis zu seinem Tod an der Elisabethschule in Breslau unterrichtete142. Ein weiterer Schulkollege, der seine Ausbildung in Wittenberg genossen hatte, war Maternus Eckel (Eccilius), der uns später als Pfarrer von St. Elisabeth und Kircheninspektor begegnen wird143. Balthasar Schneider (Sartorius)144 stammte aus Breslau. Er kam im Sommer 1541 nach Wittenberg, wo er nach der Unterbrechung des Schmalkaldischen Krieges am 19. Februar1549 den Magistergrad erwarb und am 3. August 1549 sogar in den Senat der Artistenfakultät aufgenommen wurde145. Am 13. Februar 1550 brachte ihn Melanchthon als Reisebegleiter nach Italien ins Gespräch146. Daraus ist zunächst nichts geworden, denn im August und Oktober desselben Jahres wurde er, der offenbar immer noch in Wittenberg war, als Mathematikprofessor für Königsberg empfohlen147. Dabei erfahren wir, dass er ein Schüler des überragenden Kopernikaners Georg Joachim Rheticus148 war. Am 9. Januar 1551 findet wir ihn auf dem Wege nach Preußen in Leipzig, und im März ist er in 138
CR 10, 708–712 Nr. 11 und CR 11, 266–271 Nr. 36. - Otto CLEMEN, Studien zu Melanchthons Reden und Gedichten (1913), 34 f. = D ERS., Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte, hrsg. v. Ernst Koch, Bd. 4 (1984), 250 f. - Horst KOEHN, Philipp Melanchthons Reden (1985) = Archiv für Geschichte des Buchwesens 25 (1984), 1332–1334 Nr. 75–77. 139 B AUCH (wie Anm. 6), 101–114. - Josef B ENZING, Buchdruckerlexikon des 16. Jahrhunderts (1952), 37. - Marta B URBIANKA, Andrzej Winkler – drukarz wroclawski XVI wieku. In: Roczniki biblioteczne 4 (1960), 329–445. - MBW 2717, 5970. 140 G ILLET (wie Anm. 65) 2, 44 und unten S. 372. 141 MBW 1569. - B AUCH (wie Anm. 5), 99 und 346. 142 Album (wie Anm. 1), 148a. - B AUCH (wie Anm. 5), 346. - FLEMMING (wie Anm. 119), 62 Anm. 1. - MBW 8679, 8718. 143 MBW 8970 und unten bei Anm. 228. 144 Flemming (wie Anm. 119), S. 37 Anm. 1. 145 KÖSTLIN (wie Anm. 119), 7 und 25. 146 MBW 5729, 5746. 147 MBW 5866, 5924. 148 Karl Heinz B URMEISTER, Georg Joachim Rhetikus 1514–1574. Eine Bio-Bibliographie, 3 Bde. (1967 f). - DERS.: LitLex 9 (1991), 425 f. - DBE 8 (1998), 269.
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Königsberg149. Doch schon im August gab er seine Professur auf, um nach Italien zu reisen150. Dies scheint wiederum nicht geschehen zu sein, denn im Januar 1552 begleitete er Melanchthon, der zum Trienter Konzil abgeordnet war, von Wittenberg bis Leipzig und vertrat dann in Wittenberg dessen Schwiegersohn Peucer in der Astronomie-Vorlesung151. Im Juli 1552 hielt er sich in Leipzig auf, wo er auch immatrikuliert wurde152. Am 13. August war er bei Melanchthon in Torgau und zog von dort nach Breslau, wo ihn Melanchthon noch im Oktober vermutet153. Aber am 25. November taucht er in Graz auf, unterwegs zu Melanchthon. Damals wird er noch als Magister bezeichnet154. Danach hat er den medizinischen Doktorgrad erworben und ist Arzt in seiner Heimatstadt Breslau geworden155. Am 30. Juni 1556 befand er sich in Leipzig, vermutlich vorübergehend156. Johannes Sager157 stammte aus Wittstock, der Residenz des bis 1548 katholischen Bischofs von Havelberg. Am 9. August 1549 ließ er sich in Wittenberg immatrikulieren. Seit 16. Juni 1552 war er als Latein- und Griechischlehrer an der Elisabethenschule in Breslau tätig. Dort hatte er auch Verbindungen zu Georg Joachim Rheticus158. Später erwarb er den medizinischen Doktorgrad159. Von Melanchthon ist ein einziger Brief an ihn überliefert160, worin er eine literarische Frage beantwortet, über die im Breslauer Kollegenkreis unterschiedliche Deutungen vertreten wurden, und ihn ermahnt, lieber zu schweigen als Streit zu erregen. 1556 gab er sein untergeordnetes Schulamt auf161. Ein weiterer Schüler Melanchthons befand sich damals in Breslau, der aber im Gegensatz zu allen anderen im Begriffe war, sich zu einem aggressiven Gegner der Reformation und seines Wittenberger Lehrers zu entwickeln und als Rat des Bischofs Balthasar maßgeblich am Beginn der Gegenreformation mitwirkte: Friedrich Staphylus 162. 1512 in Osnabrück
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MBW 5973, 6025. MBW 6181. 151 MBW 6297, 6307, 6310. 152 MBW 6495. 153 MBW 6524, 6545 f, 6613 . 154 MBW 6652. 155 MBW 7694 (20. 1. 1556), 8160 (18. 3. 1557). 156 MBW 7875. In 8986 vom 23. 6. 1559 dürfte wie in 9011 der Namensvetter aus Oschatz gemeint sein. 157 B AUCH (wie Anm. 5), 176 f u. ö. 158 B URMEISTER (wie Anm. 148), Bd. 1, 129 und 137 sowie Bd. 3 s. v. 159 Album (wie Anm. 1), 248a. - G ILLET (wie Anm. 65) 1, 158 und 2, 43 f. 160 MBW 6769 (23. 3. 1553). 161 G ILLET (wie Anm. 65) 2, 43. 162 Ute MENNECKE-HAUSTEIN, Friedrich Staphylus (1512–1564). Von Wittenberg nach Ingolstadt. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 405–426. - D IES., Conversio 150
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geboren, hatte ihn sein Lebensweg schon nach Danzig, Litauen, Krakau und Italien geführt, bevor er als Mittzwanziger die Universität Wittenberg bezog. Hier machte er dank seiner Reife und überragenden Begabung rasch Karriere. Am 22. Februar 1541 wurde er Magister, am 18. Oktober 1543 in den Senat der Artistenfakultät aufgenommen163 und 1546 von Melanchthon als Professor der Theologie nach Königsberg entsandt164. Doch schon im Herbst 1548 stellte er seine theologischen Vorlesungen ein. Er hatte Schwierigkeiten mit der lutherischen Rechtfertigungslehre, noch bevor darüber in Preußen der Streit um Andreas Osiander ausbrach165. Melanchthon suchte ihn vergeblich zu belehren166. Herzog Albrecht von Preußen wollte ihn wenigstens als Rat behalten. Doch im Herbst 1551 ging er endgültig nach Breslau, wo er schon 1549–1550 gewesen war167 und eine Tochter des verstorbenen Johannes Heß geheiratet hatte. Zunächst unterrichtete er am Elisabethen-Gymnasium Griechisch168. Dann trat er in den Dienst des Bischofs und wohnte auf der Dominsel, danach in Neiße, wo er eine bischöfliche Schule gründete. Schon Ende 1551 empfing er anlässlich einer Krankheit von der Domgeistlichkeit das Abendmahl unter einer Gestalt. Melanchthon hatte schon bald Zweifel an der Klugheit seiner Empfehlung des Staphylus nach Königsberg bekommen169, blieb aber mit ihm in freundlicher Verbindung bis Oktober 1552170 und ließ ihn noch im März 1553 durch Crato grüßen171. Vom Schuldienst bei Bischof Balthasar von Promnitz hatte er ihm abgeraten172. Ab November 1553 erscheint dann Staphylus bei Melanchthon in der Reihe seiner theologischen Gegner, nicht selten neben dem Jesuiten Petrus Canisius173, und als Triebkraft der
ad Ecclesiam. Der Weg des Friedrich Staphylus zurück zur vortridentinischen katholischen Kirche (2003). 163 KÖSTLIN (wie Anm. 86), 12 und 21. 164 MBW 4090, 4098, 4122, 4146, 4210, 4233 u. ö. 165 Gottfried SEEBASS, Osiander: TRE 25 (1995), 507–515. - D ERS., Andreas Osiander d. Ä. und der Osiandrische Streit. In: Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlass der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren hrsg. v. Dietrich Rauschning und Donata v. Nerée (1995) = Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 29 (1994), 33–47. 166 MBW 5866, 5871, 6077 (1. 5. 1551). 167 MBW 5620, 5755, 5897. 168 B AUCH (wie Anm. 5), 171–174. 169 MBW 4559 (20. 1. 1547). 170 MBW 5755, 5866, 5897, 5924, 5970, 6077, 6615. 171 MBW 6768. 172 MBW 5970 (1. 1. 1551). 173 MBW 7021, 7356, 7739, 8080, 8296, 8713, 8839, 8862, 8937, 9005, 9078, 9083, 9103, 9134, 9236, 9269.
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Gegenreformation174. Im Januar 1556 begann die literarische Auseinandersetzung, die Melanchthon sehr ernst nahm175. Die feindliche Begegnung beim Wormser Religionsgespräch 1557176 gab ihr vollends die unversöhnliche Schärfe. Melanchthon missbilligte auch seinen Lebensstil177. Staphylus war schon 1554 Rat des Königs Ferdinand geworden, der ihn 1562 adelte. Er starb 1564 als Professor in Ingolstadt.
V Den größten Einfluss, der sich weltweit bis in unsere Gegenwart erstreckt, hat der jüngste der Breslauer Melanchthon-Schüler erreicht: Zacharias Ursinus178. Sein Name ist nicht so bekannt wie der seiner bedeutendsten Leistung, des Heidelberger Katechismus, dem er im Auftrag seines Kurfürsten und unter Mitwirkung anderer, namentlich des Trierers Caspar Olevian, die systematische Struktur und die inhaltliche Prägung im Geiste seines Lehrers Melanchthon verlieh179. Viele Generationen reformierter Christen haben nach diesem Lehrbuch ihren Glauben gelernt, und noch heute ist der Heidelberger Katechismus das am meisten zitierte Bekenntnis der reformierten und unierten Kirchen180. Geboren wurde Zacharias am 18. Juli 1534 als Sohn des erst 1528 zugewanderten Österreichers Caspar Beer und der Breslauerin Anna Rothe. Der Vater war städtischer Almosenpfleger und durfte später auch predigen181. Ambrosius Moibanus und Andreas Winckler waren die hervorragenden 174
MBW 7338 vom 25. 11. 1554 an Johannes Aurifaber in Königsberg. Auch 9271 von Adam Cureus aus Breslau, 26. 3. 1560. - Hermann T ÜCHLE, Erste Versuche der katholischen Wiedererneuerung in Schlesien. Eine Denkschrift des Friedrich Staphylus. In: Reformata Reformanda. Festschrift für Hubert Jedin, Bd. 2 (1965), 114–129. SABISCH (wie Anm. 10), 95–97. 175 MBW 7680, 7683, 7695, 7785, 8529, 8549, 8609, 8685, 8688, 8695, 8860, 8552, 8553, 8556, 8563, 8566, 8569, 8570, 8574, 8575, 8576, 8578, 8580, 8587, 8589, 8594, 8611, 8634, 8759, 8815, 8932, 8940, 8990, 8995, 9045, 9104. 176 MBW, 8048, 8050, 8296, 8468. 177 MBW 9116. 178 Erdmann K. STURM, Der junge Zacharias Ursin (1972). - Ulrich HUTTER in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 62 (1983), 63–78. - Derk VISSER, Zacharias Ursinus. The Reluctant Reformer. His Life and Times (1983). - DERS. in: EncRef 4 (1996), 202 f. - DBE 10 (1999), 168. 179 Derk VISSER, Zacharias Ursinus (1534–1583). Melanchthons Geist im Heidelberger Katechismus. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 373–390. - Lyle D. B IERMA, What Hath Wittenberg to Do with Heidelberg? Philip Melanchthon and the Heidelberg Catechism. In: Melanchthon in Europe, hrsg. v. Karin Maag (1999), 103–121. 180 EvBek 2 (1997), 133–177. 181 G ILLET (wie Anm. 65) 1, 92. - STURM (wie Anm. 178), 19 f.
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Lehrer. Am 30. April 1550 bezog der 15-jährige die Universität Wittenberg und wurde von seinem Landsmann Aurifaber bei Melanchthon eingeführt. Im September 1551 unterstützte dieser sein Stipendiengesuch an den Rat von Breslau182. Sein Mittelsmann war Crato. Ursin erhielt das Stipendium, und Melanchthon stellte ihm ein überaus gutes Zeugnis aus183. Ursinus erwarb bei Melanchthon eine Vertrauensstellung, und er berichtete fleißig seinem Breslauer Gönner Crato über die Ereignisse im Hause des Lehrers184. Im August 1557 war seine Wittenberger Studienzeit zu Ende. Melanchthon musste für den Rest des Jahres zum Wormser Religionsgespräch. Ursinus folgte ihm alsbald, begleitet von seinem schlesischen Studienfreund Johannes Ferinarius185. Anfang Oktober reiste Ursinus, von Melanchthon empfohlen186, nach Straßburg, Basel, Zürich, Bern, Genf und weiter bis Paris. Ursinus hatte 1553 in Wittenberg, der damals im Umkreis Melanchthons aufkommenden Sitte entsprechend187, ein Stammbuch, besser: Album amicorum, begonnen. Nun füllte es sich mit den Koryphäen der gelehrten Welt außerhalb Wittenbergs188. Im Frühsommer 1558 kehrte Ursin von Genf über Tübingen und Nürnberg nach Wittenberg zurück. Zum September 1558 bekam er in seiner Heimatstadt eine Anstellung als Lehrer an der Elisabethenschule189. Die geistige Situation in Breslau war damals nicht mehr so spannungsfrei wie offenbar zur Zeit von Heß und Moiban. Bald nach dem Amtsantritt wurde Scholtz von Melanchthon ermahnt, mit seinen Kollegen die Eintracht zu pflegen, damit Breslau seine Aufgabe als aristokratisch regierte Stadt, beim Zusammenbruch der Fürstentümer die Kirche zu beherbergen, erfüllen könne190. An Neujahr 1553 forderte er Crato auf, der Streitsucht
182
MBW 6201 (10. 9. 1551); 6225 Cratos Antwort vom 4. 10. 1551. MBW 6514 (25. 7. 1552). 184 Zacharias Ursins Briefe an Crato von Crafftheim, hrsg. v. W. B ECKER: Theologische Arbeiten aus dem rheinischen wissenschaftlichen Prediger-Verein 8/9 (1889), 79–123. 185 Über ihn Arnd FRIEDRICH in: Melanchthon und die Marburger Professoren (1527– 1627), hrsg. v. Barbara Bauer (1999, 22000), 733–736, bes. Anm. 75. - MBW 9013, 9172, 9268. 186 MBW 8374. 187 Wolfgang KLOSE, Corpus Alborum Amicorum – CAAC – Beschreibendes Verzeichnis der Stammbücher des 16. Jahrhunderts (1988). - DERS. (Hrsg.), Stammbücher des 16. Jahrhunderts (1989). - D ERS. (Bearbeiter), Wittenberger Gelehrtenstammbuch, 2 Bde. (1999). 188 Wilhelm H. NEUSER, Das Stammbuch des Zacharias Ursinus (1553–1563 und 1581): Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 31 (1964), 101–155 (mit Facsimile). 189 B AUCH (wie Anm. 5), 176, 253–255. - S TURM (wie Anm. 178), 110. 190 MBW 6643 vom 17. 12. 1552, also zu Beginn des Fürstenkriegs. 183
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entgegenzuwirken191. Doch dies war nicht dessen Stärke. 1556 hören wir von seinem Zerwürfnis mit den anderen Ärzten und von seiner Enttäuschung über die beiden Pastoren, von denen er sich verleumdet fühlte192. Melanchthon freilich schätzte ihn zuhöchst und suchte die Ursache des Streits nicht bei ihm193. Melanchthon hätte sich gern aus allen Streitigkeiten heraus gehalten194. Doch konnte er den Fragen seiner Schüler nicht ausweichen. Schon 1553 befragte ihn Scholtz über das Abendmahl195. Damals lebte Moibanus noch, von dem Crato zu berichten wusste, er – und nicht nur er – lese Calvin196. Tatsächlich richtete er sogar rühmende Briefe an ihn197. Drei Jahre danach suchte Scholtz Auskunft über die zweite Person der Trinität198, was Implikationen für das Abendmahlsverständnis haben konnte. Bald darauf hatte Cureus ähnliche Fragen, nun eindeutig mit Bezug auf das Abendmahl199. Im Januar 1557 lagen Crato und Cureus im Streit, und am 28. Februar 1557 mahnte Melanchthon beide zum Frieden und beklagte gegenüber Scholtz, der anscheinend nicht beteiligt war, den Breslauer Zwist200. Einmal noch, am 29. Mai 1558, fand er freundliche Worte über die Breslauer Geistlichkeit; doch dies war anlässlich der Empfehlung eines neuen Kollegen201. Der Streit um das Abendmahl erwies sich auch in Breslau als unausweichlich. Unter der Ägide Luthers und Zwinglis hatte er die reformatorische Bewegung von Anfang an zutiefst gespalten. 1536 gelang nach mehrjährigen Bemühungen des Straßburger Reformators Martin Bucer, für die er Melanchthons Unterstützung gewinnen konnte, eine Verständigung der Oberdeutschen mit Luther, die Wittenberger Konkordie202. Doch die Schweizer blieben ihr fern. Melanchthon hielt weiterhin eine Klärung dieser Lehre für erforderlich203. Er wusste um den Zündstoff, der darin enthalten war. 1552 flammte der Streit erneut auf, als der Hamburger Pfarrer Joachim Westphal öffentlich Calvins Lehre 191
MBW 6693. MBW 7694, 7791. 193 MBW 7866, 7970, 8071. 194 MBW 8032. 195 MBW 6694. 196 MBW 6544. 197 CR 41 = Calvini Opera 13, 637 f Nr. 1404 (1. 9. 1550) und CR 42 = Calv. 14, 306– 308 Nr. 1615. Vgl. G ILLET (wie Anm. 65) 1, 155 f. 198 MBW 7695 (20. 1. 1556). 199 MBW 7971 (25. 9. 1556), 8069 (Dez. 1556), 8141 (28. 2. 1557). 200 MBW 8087 f, 8140–8142. 201 MBW 8634. 202 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon und Bucer (1993): Forschungsbeiträge (1996), 245– 269, bes. 246-257. 203 Z. B. MBW 5810 vom 28. 5. 1550 an Thomas Cranmer, den Erzbischof von Canterbury, oder MBW 8522 vom 9. 2. 1558 an Crato in Breslau. 192
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bekämpfte204. Melanchthon hatte das Ergebnis der Wittenberger Konkordie in die Neubearbeitung der Confessio Augustana von 1540 eingetragen, indem er im Artikel 10 cum statt in schrieb: der wahre Leib Christi wird nicht ,in‘ Brot und Wein, sondern ,mit‘ diesen Elementen empfangen. Im übrigen war er mit näheren Bestimmungen sehr zurückhaltend. Wichtig war ihm die Ablehnung des katholischen Substanzdenkens, dem auch konservative Lutheraner wie Westphal anhingen. Für Melanchthon ist die Gegenwart Christi im Abendmahl nur während der Feier gegeben, nicht danach in der konsekrierten Hostie, die demnach nicht angebetet und umhergetragen werden kann. In seinem Lehrbuch »Examen ordinandorum«, das zuerst 1552 deutsch in der hauptsächlich von dem Breslauer Johannes Aurifaber verfassten mecklenburgischen Kirchenordnung erschien und in der erweiterten lateinischen Fassung von 1554 weite Verbreitung fand, beschrieb er das Abendmahl als den Empfang des wahren Leibes und Blutes des Herrn Christi, sagte aber nichts über dessen Verhältnis zu Brot und Wein. Der Sohn Gottes ist beim Empfang vere et substantialiter da und teilt seine Gaben mit205. Die Definitionslücke, die Melanchthon um der breiteren Akzeptanz willen und im Bewusstsein des sakramentalen Geheimnisses gelassen hatte, konnte unterschiedlich gefüllt werden. Ursinus, der im Rahmen seines Lehrauftrags Melanchthons Lehrbuch durchnehmen musste, interpretierte es in dem Verstand, den er in Wittenberg, Zürich und Genf gewonnen hatte. Der ältere Kollege und die Aufsicht führende kommissarische Pfarrer Scholtz war damit nicht einverstanden206. Melanchthon wurde von Crato zu einer rückhaltlosen Stellungnahme gebracht. Ohne die in Breslau anstehenden Fragen zu erwähnen, bat dieser ihn am 6. März 1559 unter Hinweis auf einen Briefwechsel mit dem Augsburger Ratsherrn Johann Baptist Haintzel (1524–1581)207, seinem Wittenberger Studienfreund, der ebenfalls Melanchthons Schüler und Briefpartner war, um Belehrung über das Abendmahl208. Diese erfolgte am 21. März 1559 in einem Brief209, den Crato, obwohl Melanchthon um Vertraulichkeit gebeten hatte, nicht für sich behielt, so dass er oftmals abgeschrieben und weit verbreitet wurde. An ihm schieden sich die Geister. Der Regensburger Superintendent Nikolaus Gallus (1516204
Bernhard LOHSE in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, hrsg. v. Carl Andresen und Adolf Martin Ritter, Bd. 2 ( 21998), 129–134. - Wolf-Dieter HAUSCHILD, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2 (1999), 396 f. 205 CR 23, 61 f. - EKO 5 (1913), 173 f. – MSA 6 (1955), 202 f. 206 G ILLET (wie Anm. 65) 1, 200 Anm. 31, danach S TURM (wie Anm. 178), 132. B AUCH (wie Anm. 5), 254. 207 MBW 12 (2005), 215. Er hatte von 1542–1544 in Wittenberg studiert und war seit 1552 in Augsburg Schulherr und evangelischer Kirchenpfleger. 208 MBW 8885. 209 MBW 8900.
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1570)210, ein Freund des Flacius Illyricus (1520-1575)211, schrieb auf seine Abschrift die Worte epistola haeretica et maledicta Phil. Mel. apostatae212. Wer Melanchthons Theologie kennt, kann diesen Brief nicht so aufregend finden. Melanchthon empfiehlt das kirchliche Altertum, namentlich die Kirchenväter Augustin, Tertullian, Origenes und einen alten Kanon, als hilfreich zur Klärung dieser Frage, die in der Beobachtung besteht, dass diese alten Autoren die Vorstellung der Wandlung der Abendmahlselemente nicht kennen, sondern die Ausdrücke symbolon, antitypos, signum und figura gebrauchen. Die späte Entstehung der Vorstellung einer Transsubstantiation beweist er durch textkritische Beobachtungen bei Theophylakt und Beda. Zentral für sein Verständnis des Abendmahls ist das Wort des Apostels Paulus (1. Kor. 11) von der Gemeinschaft des Leibes Christi. Neu war allenfalls der Bericht von einem Gespräch mit Luther, der dabei Zustimmung zu Melanchthons Sicht geäußert haben soll213. Ohne Namensnennung, aber eindeutig distanzierte sich Melanchthon nun auch von Johannes Scholtz, der die Gegenwart Christi im Abendmahl mit der communicatio idiomatum der Naturen Christi in Verbindung brachte. Bald nach Cratos privater Anfrage wurde Melanchthon auch offiziell um eine Stellungnahme zum Breslauer Abendmahlsstreit gebeten214. Ursinus hatte Thesen verfasst215, die Melanchthon durch Ursins Freund Ferinarius, der wieder in Wittenberg studierte, bekannt gemacht wurden. Durch diesen ließ er ihm ausrichten, er solle standhaft bei der wahren Lehre bleiben, aber wie Melanchthon mit Mäßigung und Geduld216. Am 31. Juli 1559 erstellte er das von Johannes Mornberger, dem in Breslau für Kirche und Schulen zuständigen Ratsherrn, gewünschte Gutachten217. Darin verlangt er, dass die Prediger und Lehrer keinen Streit öffentlich austragen dürfen, sondern ihre Streitfragen dem Stadtrat oder den Kirchenpflegern schriftlich vorlegen müssen; dann könnten auch 210
MBW 12 (2005), 115 f. MBW 12 (2005), 66–68. 212 CR 9, 784. 213 Th. DIESTELMANN, Die letzte Unterredung Luthers und Melanchthons über den Abendmahlsstreit (1874). - Johannes H AUSSLEITER, Die geschichtliche Grundlage der letzten Unterredung Luthers und Melanchthons über den Abendmahlsstreit (1546): Neue kirchliche Zeitschrift 9 (1898), 831–854. - D ERS., Weitere Mitteilungen zur letzten Unterredung Luthers und Melanchthons über den Abendmahlsstreit (1546): Ebd. 10 (1899), 455–466. - Dagegen Martin B RECHT, Martin Luther, Bd. 3 (1987), 422 Anm. 32 zu S. 326. 214 MBW 8956 vom 18. 5. 1559 dürfte sich hierauf beziehen. 215 STURM (wie Anm. 178), 136–167. 216 MBW 9013. 217 MBW 9015. 211
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auswärtige Gutachten eingeholt werden. Wer sich nicht an die vereinbarten Formulierungen hält, solle ausgewiesen werden. Inhaltlich bleibt Melanchthon bei den Formulierungen des »Examen ordinandorum«. Die Erde aufzukratzen, wenn Abendmahlswein heruntertropft, wie Erasmus Sarcerius – er war als Breslauer Pfarrer gewünscht gewesen218 – fordere, sei unnötig. Denn außerhalb des einsetzungsgemäßen Vollzugs gebe es kein Sakrament. Diesen Grundsatz habe Luther schon vor 20 Jahren gebilligt. Melanchthon distanziert sich von der papistischen Frage nach dem Fressen der Maus ebenso wie von der Ubiquitätslehre einiger Ultralutheraner. Ohne Namensnennung wird Johannes Scholtz als Unruhestifter bezeichnet und seine Absetzung nahegelegt. In jedem Fall aber sollten die anderen – in erster Linie gewiss Adam Cureus – Zurückhaltung üben. Wer die Regel von der Aktualpräsenz nicht beachtet, stärke die papistische Abgötterei. Melanchthon erinnert an das 1557 in Worms erstellte gemeinschaftliche Gutachten219 über die Frage, was bei der Kommunion in den Bauch gelangt. Wie in dem Brief an Crato verlangt er das Studium der Kirchenväter und warnt vor Textverfälschungen. Wie immer vergisst er nicht den internationalen Aspekt220. Auch in Frankreich, Italien und England schade der Abendmahlsstreit der Kirche. Die Obrigkeit sei verpflichtet, dagegen vorzugehen. Melanchthon schrieb dieses Gutachten ohne Kenntnis der Akten, die nicht eingetroffen waren, allein aufgrund der von Cureus erhaltenen Information, wie er Mornberger offen mitteilte. Mit gleicher Post schrieb er auch seinem alten Vertrauten Cureus221. Rhetorisch eindrucksvoll bringt er seinen Schmerz über den Abendmahlsstreit zum Ausdruck. Er begrüßt die Breslauer Vereinbarung; wer sich nicht daran hält, solle streng bestraft werden. Die bekannten Spitzfindigkeiten, die von den Papisten, von Joachim Westphal und von Erasmus Sarcerius aufgeworfen wurden, gehörten nicht vor das Volk. Statt dessen solle über die wirksame Gegenwart Christi und über die Früchte der Gemeinschaft des Leibes Christi gepredigt werden. Wieder verweist Melanchthon auf sein »Examen ordinandorum«. Nun polemisiert er sogar namentlich gegen Johannes Scholtz und dessen Gesinnungsgenossen Leonhard Stöckel (1510–1560), den großen Pädagogen in Bartfeld, der ebenfalls sein bevorzugter Schüler gewesen war222. Er 218
Siehe oben bei Anm. 103. MBW 8344. 220 So auch in MBW 9205 vom 25. 1. 1560, seinem letzten Brief an Crato. Zur Sache vgl. Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Sorge um die Diaspora: oben Nr. 10. 221 MBW 9014. 222 MBW 3051 usw. - Karl SCHWARZ, Leonhard Stöckel und das reformatorische Schulwesen in der Slowakei: Brücken (Germanistisches Jahrbuch) N. F. 3 (1995), 279– 298. 219
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lasse sich nicht von denen zu schädlichen Erörterungen verleiten und rät auch Cureus, nicht mit Scholtz zu streiten. Nun war klar, dass Melanchthon auf der Seite des Adam Cureus stand. Doch dürfte Scholtz die Ratsmehrheit hinter sich gehabt haben. Am 26. März 1560 gab Cureus seinem alten Lehrer einen Bericht über die Lage in Breslau und Umgebung223. Friedrich Staphylus und die Bischöfe hetzten den Kaiser – es war nun Ferdinand, seit 1527 Schlesiens König – auf. Dieser habe angeordnet, dass in Ungarn, Österreich, Mähren und Schlesien die lutherischen Geistlichen durch sogenannte katholische ersetzt werden sollen. Ein aus dem Gefängnis entkommener Pfarrer habe über die Grausamkeit der Bischöfe von Olmütz und von Breslau – das war Balthasar von Promnitz – berichtet. Cureus ist empört, dass – nach dem Augsburger Religionsfrieden! – die Lehre der sich zur Confessio Augustana bekennenden Gemeinden getadelt und die Breslauer Gemeinde wegen der nebensächlichen Zeremonien des Exzorzismus und der Kerzen als abgöttisch verunglimpft wird. Er selbst werde jedoch mit niemandem öffentlich streiten und nötigenfalls, wie Melanchthon in seinem Gutachten riet, verlangen, dass die Kritik dem Breslauer Rat vorgelegt wird, der sich an die Universität Wittenberg wenden solle. Cureus würde gern die Elevation und andere Zeremonien abschaffen, hält aber den Zeitpunkt für nicht geeignet. – Es ist fraglich, ob dieser letzte Brief aus Breslau vom Adressaten, der am 19. April starb, noch zur Kenntnis genommen wurde.
VI Ursinus waren die Zustände in seiner Heimatstadt unerträglich geworden. Im Mai 1560, einen Monat nach Melanchthons Tod, reichte er seinen Abschied ein und begab sich ohne berufliche Sicherheit nach Zürich, wo er sich bei dem gelehrten Petrus Martyr Vermigli (1500–1562)224 weiterbildete. Als diesem 1561 die Leitung des „Sapienzkollegs“ in Heidelberg, einer theologischen Studienanstalt, angetragen wurde, empfahl er den 27jährigen Breslauer. In der Kurpfalz225 wurde die erst 1556 durch Kurfürst Ottheinrich eingeführte gemäßigt lutherische Reformation durch Friedrich III. unter dem Einfluss des von Melanchthon am 1. November 1559 zum Heidelberger Abendmahlsstreit erstellten Gutachtens226 dem reformierten Bekenntnis Melanchthonischer Prägung zugeführt, wodurch die Calvini223
MBW 9271. BBKL 12 (1997), 1264–1271 (Erich W ENNEKER). 225 Heinz SCHEIBLE, Reformation und Calvinismus. In: Kurpfalz, hrsg. v. Alexander Schweickert (1997), 177–192. 226 MBW 9119. 224
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sierung der Kurpfalz eingeleitet wurde. Hier fand Ursin seine geistige Heimat, die er maßgeblich mit gestalten konnte. Die Ausbildung angehender Pfarrer im persönlichen Umgang war ihm dabei wichtiger als die ordentliche Professur für Dogmatik, die er, am 25. August 1562 zum Dr. theol. promoviert, von 1562 bis 1568 zusätzlich zur Leitung der Sapienz wahrnahm. Erst 1574 fand er die Zeit zur Heirat. 1577 wurde er wie alle reformierten Professoren vom lutherischen Kurfürsten Ludwig VI. entlassen und setzte seine Arbeit am „Casimirianum“ in Neustadt (Hardt, heute: Weinstraße) fort. Dort ist er 49-jährig am 6. März 1583 gestorben. In Breslau waren nach Ursins Weggang auch die Tage seines alten Gönners Crato gezählt. Sogar in Cureus hatte er keinen Gesinnungsfreund mehr227. Er war längst in seinem Fach eine Berühmtheit geworden. Seit 1560 führte er den Titel eines kaiserlichen Leibarztes und wurde als solcher auch gebraucht. Seit 1563 lebte er in Wien und Prag und immer wieder in seiner Herrschaft Rückers (heute Szczytna, Kreis Glatz = Klodzko), die er 1567, dem Jahr seiner Erhebung in den Adelsstand, erworben hatte. Erst 1583 kehrte Johannes Crato von Crafftheim in seine Heimat zurück, um dort zwei Jahre später zu sterben. Im Jahre 1560 wurde das Pfarramt von St. Elisabeth, das seit der Absetzung des Simon Musaeus von dem Prediger Johannes Scholtz kommissarisch verwaltet wurde, wieder ordentlich besetzt. Am 9. November 1560 übernahm Maternus Eccilius228 dieses Pfarramt und löste zugleich den kommissarischen Kirchen- und Schulinspektor Adam Cureus ab. Eccilius war 1531 in Frankenstein im Herzogtum Münsterberg (heute Zabkowice Slaskie) geboren, hatte in Breslau die Schule besucht und durch Johannes Heß die Grundlagen seiner theologischen Bildung erlangt. Griechisch und Mathematik lernte er in Krakau. Dann war er sechs Jahre Schulkollege Winklers in Breslau, bevor er 1554 zu weiteren Studien nach Leipzig und Wittenberg ging, wo er am 27. Februar 1556 den Magistergrad erwarb und auch predigen durfte. 1559/1560 besuchte er Genf und Zürich. Damit war er für das liturgisch konservative Breslau verdorben, und er hielt nicht hinterm Berg mit seiner Meinung. Dies war sogar den Philippisten Crato und Cureus zuviel, geschweige dem Stadtrat. Am 22. Mai 1562 wurde er abgesetzt. Er ging zu seinem Freund Zacharias Ursinus, der ihm das Pfarramt in der damals kurpfälzischen Stadt Bensheim (an der Bergstraße) verschaffte, wo er 36 Jahre lang wirkte.
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GILLET (wie Anm. 65) 1, 256–270. MBW 8970. - MBW 11 (2003), 384 f. - K ÖSTLIN (wie Anm. 119), 17. - GILLET (wie Anm. 65) 1, 261 f. - B AUCH (wie Anm. 5), s. v. - SCHULTZE (wie Anm. 132), 4 und 43. - STURM (wie Anm. 178), 40 f und 177–182. 228
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In Breslau übernahm nun wieder Scholtz die Elisabethen-Pfarrei, Cureus die Inspektion, beide kommissarisch. 1566 starb Cureus229. Pfarrer an Maria Magdalena wurde der aus Breslau stammende Magister Lucas Pollio, zuletzt Geistlicher an St. Elisabeth230. Die Kirchen- und SchulInspektion musste Scholtz versehen, der aber weiterhin auf der Predigerstelle blieb und nicht zum Pfarrer ernannt wurde. Mit 13-jähriger Verspätung wurde dann endlich Johannes Aurifaber gewonnen, dem sein Bischofsamt in Preußen durch die Osiandrischen Wirren verleidet war231. Am 11. Mai 1567 wurde er Pfarrer von St. Elisabeth und Kirchen- und Schulinspektor. Leider ist er schon am 19. Oktober 1568 im Alter von nur 51 Jahren gestorben232. Nun musste Scholtz wieder die Vertretung übernehmen, bis am 25. März 1569 mit Esajas Heidenreich233 ein dauerhafter Pastor gefunden wurde. Er war kein Schüler Melanchthons und auch nicht mehr für die Schulen zuständig. Am 9. Oktober 1572 starb Thomas Gerhard, der langjährige Pastor von St. Bernhardin (in der Neustadt) und Propst zum Heiligen Geist234. Nun gelangte der so oft übergangene Prädikant von St. Elisabeth Johannes Scholtz auf ein ordentliches Pfarramt, das er noch über zehn Jahre versehen konnte (gest. 21. 6. 1583). Als letzter der Breslauer Melanchthon-Schüler kam Petrus Vincentius235 in die Heimat zurück. Er hatte einen zielstrebigen Berufsweg als Schulmann und Dichter hinter sich, wobei er sich nicht in die so beliebten theologischen Streitfragen verwickeln ließ, sondern beharrlich bei den Schönen Künsten blieb. Am 1. März 1519 als Sohn des Breslauer Goldschmieds Vietz geboren, kam er im April 1539 nach Wittenberg, ging 1541 als Lehrer nach Nürnberg, im Sommer 1542 zum Studium nach Leipzig, machte am 25. Januar 1543 in Wittenberg seinen Magister und wurde alsbald Professor an der Artistenfakultät in Greifswald. 1549 ging er nach Lübeck, wo er 1552 Rektor der renommierten Lateinschule wurde. Melan229
G ILLET (wie Anm. 65) 2, 62. - SCHULTZE (wie Anm. 132), 4. - NDB wie Anm.
117. 230
G ILLET (wie Anm. 65) 2, 62 f. - B AUCH (wie Anm. 5), 346 u. ö. Gustav KAWERAU: RE 2 (1897), 288–290. 232 G ILLET (wie Anm. 65) 2, 63–65. - SCHULTZE (wie Anm. 132), 4 und 43. 233 G ILLET (wie Anm. 65) 2, 66. - B AUCH (wie Anm. 5), 249 u. ö. 234 KRETSCHMAR (wie Anm. 5), 59–61. 235 B AUCH (wie Anm. 5), 199–221 u. ö. - Hartmut FREYTAG, Lübeck im Stadtlob und Stadtporträt der frühen Neuzeit. Über das Gedicht des Petrus Vincentius und Elias Diebels Holzschnitt von 1552: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 75 (1995), 137–174. - D ERS., Über das Stadtlob des Zacharias Orth auf Stralsund (1562) und das Stadtlob des Peter Vietz auf Lübeck (1552): Ebd. 77 (1997), 29–48. - DERS., memoria, amicitia und Gelehrtenkultur in der Stadt der frühen Neuzeit. Die Hommage an Philipp Melanchthon und den Rat der Stadt Lübeck im Stadtlob des Petrus Vincentius von 1552. In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, hrsg. v. Dietmar Peil u. a. (1998), 265–284. 231
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21. Melanchthons Beziehungen zu Breslau
chthon führte mit ihm einen freundschaftlichen Briefwechsel236. 1557 wurde er auf den Rhetorik-Lehrstuhl in Wittenberg berufen237, den er 1561 mit dem angeseheneren für Dialektik und Ethik vertauschte, womit er einer der Nachfolger Melanchthons wurde, dessen Gedichte er 1563 edierte238. Im März/April 1558 besuche er seine Heimat239. Dort erreichte ihn aus Eperies und Bartfeld der Ruf auf ein Pfarramt, den er auf Melanchthons Wunsch nicht annahm240. Im April 1560 war er wieder in Breslau241. Dorthin kam auch Johannes Aurifaber aus Königsberg, dem Melanchthon einen seiner letzten Briefe schrieb242. 1565 gewann ihn der Görlitzer Rat für die Gründung eines Gymnasiums. 1569 schließlich trat er die Nachfolge seines Breslauer Lehrers Andreas Winkler an. 1578 ließ er sich entpflichten, um am 1. Oktober 1581 wie Luther, Melanchthon und mancher andere mit etwa 63. Jahren zu sterben243. Damit waren die persönlichen Verbindungen Melanchthons zu Breslau beendet. Sein geistiger Einfluss reichte weiter über den Späthumanismus zur Aufklärung244. Er zeigt sich auch in dem Eifer, mit dem seine Briefe durch die Breslauer Patrizier Thomas Rehdiger (1540–1576) und Jakob Monau (1546–1603) gesammelt, abgeschrieben und zum Teil für Editionen zur Verfügung gestellt wurden245.
236
MBW 5639 usw. Vgl. MBW 8196, 8289. 238 CR 10, 465–468. 239 MBW 8550, 8563. 240 MBW 8571, 8581. 241 MBW 9274. 242 MBW 9298. 243 Zum gefährlichen annus climactericus 63 vgl. Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Abschiedsbrief an seinen Schüler Jakob Runge: Bibliothek und Wissenschaft 23 (1989), 268–290, bes. 269 f und 284 f. 244 Manfred FLEISCHER, Späthumanismus in Schlesien (1984). 245 Paul FLEMMING (wie Anm. 119), 8–15. – WAB 14, 310, 315, 316 (Rindfleisch). – Heinz SCHEIBLE, Überlieferung und Editionen der Briefe Melanchthons: Forschungsbeiträge (1996), 4 und 8 f. - DBE 8 (1998), 190. 237
Melanchthon und Frau Luther Katharina Luther hat soeben die als Hexe angeklagte und schwer gefolterte Hebamme Theresa im Turmgefängnis zu Wittenberg besucht. Luther »ist auf Reisen. Verzweifelt schleppt sie sich heimwärts. Sie kann nicht fassen, dass es für Theresa keine Hilfe geben soll. Auf der Gasse begegnet ihr Melanchthon. „Ach Magister Philippus! Wo nun schon Martinus nicht in Wittenberg ist, wißt Ihr mir gewiß Rat und Hilfe?“ „Sehr gern!“ antwortet der kleine Mann, sichtlich zufrieden darüber, von der stolzen Doktorin angegangen zu werden. „Die Theresa verschmachtet im Kerker ...“ „Wer ist das?“ Melanchthon kraust die Stirn. Nur zu gern würde er sich der Frau mächtig und hilfreich erweisen, aber ihm ahnt, es dürfte ihn teuer zu stehen kommen. „Theresa ist die beste Hebamme und Kräuterfrau in Wittenberg – sie hat auch Euern Kindern ans Licht verholfen und all den meinen.“ „Und wes ist sie beschuldigt?“ Noch lebt in ihm die Hoffnung, die Sache vielleicht ins reine bringen und ein für allemal bei Katharina eine gefestigte Stellung gewinnen zu können. „Man will sie morgen als Hexe verbrennen. Ihr braucht nicht zu erbleichen, ich weiß es genau, sie ist keine!“ Katharina erhebt unwillkürlich die Stimme. „Schscht-“, Melanchthon legt ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm, „nicht so laut! Wie wollt Ihr wissen, ob sie nicht mit dem Bösen im Bund steht?“ „Ich kenne sie, seit ich in Wittenberg bin, war unzählige Male mit ihr bei Entbindungen, in ihrem Häuschen an der Stadtmauer, sie ist nun und nimmer eine Zauberin.“ „Oh Katharina! Was wißt Ihr vom Teufel und seinen Machenschaften!« Und nun doziert Melanchthon über Zauberei und erzählt ausführlich die Geschichte von Dr. Faust. »Katharina hat ihm aufmerksam zugehört. Nun schüttelt sie den Kopf. „Ich sehe, Ihr wollt mir nicht helfen – ist auch wohl zu spät dazu.“ [ ... ] „Auf bald, Magister Philippus – meine Pflichten rufen mich.“ Käthe spürt das Kopfschütteln hinter ihrem Rücken, mit dem er ihr nachsieht. Mit hängenden Schultern schleppt sie sich müde nach Hause, als trüge sie eine schwere Last. Im Flur hört sie die Stimmen der Knaben: „Die Hex soll brennen.“«. Dies ist eine Szene aus dem 1991 erschienenen Buch »Das letzte Geheimnis« von Ursula Sachau1. Wie so oft offenbart erst der Untertitel, 1
Ursula SACHAU, Das letzte Geheimnis. Das Leben und die Zeit der Katharina von Bora (1991), 284–286. Die übrige Bora-Belletristik kritisch zu durchleuchten, wäre bald
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worum es geht: »Das Leben und die Zeit der Katharina von Bora«. Der Gattung nach ist dieses Buch als historischer Roman einzustufen. Doch die Autorin versichert: „Durch sechsjähriges Quellenstudium habe ich mich um Authentizität auch in kleinen Details bemüht“2. Ich wüsste gern die Quelle dieser Geschichte. Der Kirchenhistoriker Jörg Haustein hat 1990 ein solides Buch über »Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen« veröffentlicht. Daraus ist ersichtlich, dass in Wittenberg zu Luthers Lebzeiten nur eine einzige Hexenverbrennung nachweisbar ist. Am 29. Juni 1540 wurden zwei Männer und zwei Frauen hingerichtet, was nur durch einen Holzschnitt mit Text bezeugt ist3. An diesem 29. Juni 1540 befanden sich sowohl Luther als auch Melanchthon in Weimar. Melanchthon hatte Wittenberg schon am 11. Juni verlassen. Er sollte zum Religionsgespräch nach Hagenau reisen, war aber in Weimar so schwer krank geworden, dass Luther, Justus Jonas, Paul Eber und Melanchthons Sohn herbeieilten. Am 23. kamen sie in Weimar an4. Erst fünf Wochen danach, am 1. August, kehrten Luther und Melanchthon nach Wittenberg zurück. Die Szene bei Ursula Sachau ist also frei erfunden. Sie ist aber so typisch für weitverbreitete Vorstellungen und Vorurteile, dass ich sie nicht unkommentiert übergehen wollte, zumal vermutlich viele dieses Buch kennen und diese Szene grundlegend für das Verhältnis der beiden Personen ist, denen sich diese Untersuchung widmet: Katharina warmherzig und tatkräftig, Melanchthon der feige Bedenkenträger, der mit subalterner Dankbarkeit
langweilig und würde nichts bewirken. Aber auch die wissenschaftlichen Darstellungen sind durchsetzt von Vorurteilen und unbewiesenen Behauptungen, auf die ich nicht immer eingehe. Statt dessen gebe ich jeweils die Quellenbelege und meine Einschätzung. Nach Abfassung dieses Vortrags erschien: Katharina von Bora. Die Lutherin. Aufsätze anlässlich Ihres 500. Geburtstages, hrsg. v. Martin Treu (1999), hierin 306–317 von Marita RÖDZUS-HECKER ein lesenswerter Überblick über „Das Bild der Katharina von Bora in der Belletristik des 20. Jahrhunderts“. Ferner: „Lieber Herr Käthe“ – Katharina von Bora. Die Lutherin. Rundgang durch die Ausstellung, hrsg. v. Martin Treu (1999). Mönchshure und Morgenstern: „Katharina von Bora, die Lutherin“ [...], hrsg. v. Peter Freybe (1999). - Frauen der Reformation: Texte einer Fachtagung zum Auftakt des Katharina-von-Bora-Jubiläums; Grußworte, Festvorträge, hrsg. v. Heidemarie Wüst und Jutta Jahn (1999). - Martin TREU, Die Frau an Luthers Seite. Katharina von Bora – Leben und Werk: Luther. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 70 (1999), 10–29. - Jeanette C. SMITH, Katharina von Bora through Five Centuries: A Historiography: Sixteenth Century Journal 30/3 (1999), 745–774. - Günter HERRMANN, Das Katharina-von-Bora-Relief in Kieritzsch: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 68 (1999), 47–61. - Karl D IENST, Luthers Frau und: Katharina von Bora (1499–1552): Ebernburg-Hefte 34 (2000), 41–54. 2 SACHAU (wie Anm. 1), 8. 3 Jörg HAUSTEIN, Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen (1990), 187. 4 MBW 10 (1998), 497 f.
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registriert, dass ihn die Domina einer Bitte für würdig erachtet, die er dann doch nicht zu erfüllen wagt. Reine Fantasie! Das Verhältnis zweier Menschen im täglichen Leben zu erkennen und zu schildern, ist nahezu unmöglich, weil das Alltägliche in der Regel keine Quellen hinterlässt. Quellen entstehen durch das Außergewöhnliche. Die Gefahr der Verallgemeinerung ist immer präsent und muss abgewehrt werden. Was wir an Ereignissen aus den mehr als 20 Jahren Nachbarschaft Melanchthons und der Ehefrau Luthers erfahren, ist rasch berichtet. Natürlich sind Konflikte darunter – das Außergewöhnliche! Generell herrschte aber eine gute Nachbarschaft, bei der man sich auch mit Bargeld aushalf. Nach Luthers Tod bewährte sich die Freundschaft und Hilfsbereitschaft Melanchthons in dramatischer Weise. Deshalb gibt es dafür reichlich Quellen. Doch die Darstellungen, auch die wissenschaftlichen, lassen diese Zeit im Nebel der Ungenauigkeit. Ich werde also auch die Jahre 1546 bis 1552, von Luthers Tod bis Katharinens Tod, behandeln, in denen Melanchthon für Katharina die wichtigste Vertrauensperson war. Doch beginnen wir von vorn!
1. Bis zur Heirat Katharina von Bora kam mit acht anderen ihrer entflohenen Klosterschwestern am 7. April 1523, dem Dienstag nach Ostern, in Wittenberg an5. Melanchthon hat von diesem spektakulären Ereignis zweifellos Kenntnis genommen. Bald danach muss er Katharina auch persönlich kennengelernt haben. Wenige Wochen nach ihrer Ankunft, etwa im Mai 1523, kam sein Schüler und Freund Hieronymus Baumgartner (1498–1565)6 aus Nürnberg für einige Wochen wieder nach Wittenberg7. Zwischen ihm und Katharina entstand eine Zuneigung, die den offenbar beiderseitigen Wunsch nach einer Heirat entstehen ließ. Luther hat noch nach Jahren, wenn er einen Gruß seiner Frau an Baumgartner ausrichtete, offen und für meinen Geschmack etwas taktlos erwähnt, dass dieser für sie entflammt war: ignis olim tuus8. Melanchthon verhielt sich äußerst diskret. Etwa zwei Monate nach Baumgartners Abreise ließ er ihm durch den gemeinsamen 5
Luther an Linck, 8. 4. 1523: WAB 3, 53 Nr. 599, Z. 7 f. MBW 11 (2003), 124. - Immer noch materialreich: Johann Karl SEIDEMANN, Katharina von Bora. 1523. 1524. Nürnberger und Wittenberger Persönlichkeiten: Zeitschrift für historische Theologie 44 (1874), 544–574, bes. 546–559. 7 Am 24. Januar und am 14. Juli schreibt ihm Melanchthon nach Nürnberg: MBW 258 und 280. 8 WAB 5, 641.23 Nr. 1728 (1. 10. 1530); 9, 497.14 Nr. 3657 (19. 8. 1541); 9, 529.14 Nr. 3676 (3. 10. 1541). 6
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Freund Joachim Camerarius (1500–1574)9 in Bamberg mitteilen, dass eine Rückkehr nach Wittenberg nicht dringlich sei. Worum es geht, kann man nur vermuten: die Werbung um Katharina von Bora. Wenn Melanchthon deutlicher gewesen sein sollte, so hat Camerarius wie so oft den Wortlaut verschleiert und in diesem Fall Melanchthons Autograph vernichtet10. Gut ein Jahr danach, am 12. Oktober 1524, ergriff Luther die Gelegenheit eines Empfehlungsbriefes an Baumgartner, diesen davon zu unterrichten, dass er sich nun beeilen müsse, wenn er seine Käthe von Bora haben wolle – er schrieb tatsächlich Ketham tuam –, die sonst einem anderen gegeben würde, aber ihn noch immer liebe11. Melanchthon schrieb gleichzeitig sehr diskret, indem er seinem Vorhaben Glück wünschte12. Offenbar wusste er um die Schwierigkeiten dieser Verbindung. Selbst wenn die Klosterflucht in der mehrheitlich evangelischen Stadt Nürnberg unschädlich gewesen wäre, zwischen dem kapitalkräftigen Patrizier und der gänzlich verarmten Landadligen lagen Abgründe. Baumgartner heiratete, deutlich nachdem Käthe zu Luther gefunden hatte, in die ebenbürtige Münchner Patrizierfamilie Dichtel ein13. Luthers Heirat wurde von Melanchthon in einem griechischen Brief am 16. Juni 1525, drei Tage nach dem Ereignis, seinem Freund Camerarius mitgeteilt und erläutert14. Dieser Brief wird allgemein als Missbilligung des schockierten weil überraschten Melanchthon verstanden15. Man muss den komplizierten griechischen Wortlaut, der an einer entscheidenden Stelle nicht eindeutig zu übersetzen ist, sorgfältig studieren, um seinen Zweck zu verstehen16. Zunächst hat Camerarius dieses nur für ihn bestimmte Schreiben unter Verschluss gehalten. Als er es neun Jahre nach Melanchthons Tod publizierte, hat er den Text wie so oft durch allgemeine Umschreibungen geglättet und verdunkelt. Die Aufregung um Melanchthons Bericht brach aus, als 1876, im prüden 19. Jahrhundert und mitten im Kulturkampf 9
MBW 11 (2003), 253 f. MBW 287 (23. 8. 1523). 11 WAB 3, 357 f Nr. 782, Z. 7–9. 12 MBW 346 (12. 10. 1524). 13 MBW 448 (19. 2. 1526). 14 MBW 408. 15 Erwin MÜLHAUPT, Luther im 20. Jahrhundert (1982), 128 (Leid und Kummer). Heinrich BORNKAMM, Martin Luther in der Mitte seines Lebens (1979), 361 f (Ärger und Unmut). - Martin BRECHT, Martin Luther, Bd. 2 (1986), 197 f (höchst befremdet, Ärger). - Ad fontes! Zu den Quellen! Katalog zur Dauerausstellung im Melanchthonhaus Wittenberg (1997), 55 (nicht einverstanden; moniert von Helmar J UNGHANS in: Lutherjahrbuch 67, 2000, 127 Anm. 45). - Volkmar J OESTEL und Friedrich SCHORLEMMER, Die Nonne heiratet den Mönch. Luthers Hochzeit als Scandalon (1999), 18 (Irritation). - Martin TREU, Aufsätze 1999 (wie Anm. 1), 14 (beleidigt). 16 Meine Einschätzung siehe Heinz SCHEIBLE, Luther und Melanchthon (1983): Forschungsbeiträge (1996), 147 f. - DERS., Melanchthon. Eine Biographie (1997), 147–149. 10
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zwischen Protestanten und Katholiken, der Urtext bekannt wurde, in dem ein so schockierendes Wort wie „entjungfern“ steht, das Camerarius getilgt hatte, und davon die Rede ist, dass die Nonnen – gemeint ist eine bestimmte – Luther eingefangen hätten. Ich zitiere die entscheidende Stelle aus dem Bericht Melanchthons in meiner Übersetzung wörtlich, damit sich der Leser selbst ein Urteil bilden kann. Die Trauung, zu der Melanchthon nicht eingeladen war, fand so überraschend statt, dass natürlich das Gerücht entstand und sogar von Erasmus kolportiert wurde17, die Bora sei von Luther schwanger, was sich ja dann als unzutreffend erwies. Melanchthon setzt voraus, dass es auch dem Camerarius zu Ohren gekommen sei (zumindest wenn sein Brief in Bamberg angelangt sein würde), und er dementiert es. Woher er das so genau wissen konnte, bleibt mir verborgen. Aber bemerkenswert ist, dass er nicht etwa selbst geschockt, verwirrt, beleidigt war, oder was man alles darüber zu lesen und zu hören bekommt, sondern dass er Luthers Heirat, die auch er für unerwartet und der Lage im Bauernkrieg unangemessen, aber grundsätzlich für naturnotwendig hielt, gegen Unverständnis und üble Nachrede verteidigte. Er schreibt: Der Mann ist überaus gutmütig, und die Nonnen haben alle ihre Künste darauf verwandt, ihn an sich zu ziehen. Vielleicht hat der häufige Umgang mit den Nonnen ihn bei all seiner edlen Natur und Seelengröße weich gemacht und entflammt. Auf diese Weise scheint er in diese unzeitige Veränderung seines Standes hineingeraten zu sein. Das Geschwätz aber, dass er sie schon vorher entjungfert habe, ist bestimmt erlogen. Nun, nachdem es geschehen ist, soll man sich nicht aufregen oder schimpfen. Ich glaube vielmehr, man ist von Natur gezwungen zu heiraten.
Da Luther selbst gedemütigt sei, was eher gut sei, versuche er, Melanchthon, ihn zu trösten, und erwarte von der Ehe eine beruhigende Wirkung auf ihn. Camerarius, der Luthers Ansehen nicht gemindert sehen möchte, brauche nicht irre zu werden, zumal die Ehe etwas Ehrenhaftes ist und die Fehler der Lehrer von deren Person auf das Wort Gottes hinlenken. Zu der großen Feier zwei Wochen danach (27. Juni) war selbstverständlich auch Melanchthon eingeladen. Eigenmächtig hat er Wenzeslaus Linck (1483–1547) in Altenburg dazu gebeten, dem Luther die Kosten ersparen wollte18. Luthers Ordensbruder hatte schon zwei Jahre zuvor geheiratet. Die Wittenberger waren damals in großer Besetzung nach Altenburg gefahren19.
17
J OESTEL/SCHORLEMMER (wie Anm. 15), 19 f. MBW 409 (20. 6. 1525). 19 Bernd MOELLER, Wenzel Lincks Hochzeit. Über Sexualität, Keuschheit und Ehe in der frühen Reformation: Zeitschrift für Theologie und Kirche 97 (2000), 317–342. 18
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2. Der Alltag Wie das Verhältnis zwischen Melanchthon und Katharina von Bora in den 20 Jahren ihrer Ehe mit Luther emotional beschaffen war, vermag ich nicht zu sagen. Dafür, dass es anfänglich schlecht gewesen sein soll und sich dann verbessert habe, wie man lesen kann20, finde ich keine Indizien. Die Fakten sind folgende: In keinem anderen Haus ist Melanchthon so oft zu Besuch gewesen wie bei Luther, nicht nur, weil ihre Wohnungen so nahe beieinander lagen, sondern weil er zur gemeinsamen Arbeit an der Bibelübersetzung und deren Revision regelmäßig kommen musste21. Luthers Frau trat hier als Gastgeberin in Erscheinung. Es gebot der Anstand, dass Melanchthon, wenn er auf Reisen war, Frau Luther grüßen ließ. Er grüßte sie so häufig wie sonst keine Frau eines Kollegen, 1535 aus Jena22, 1539 aus Frankfurt am Main23, 1540 aus Worms24, 1541 aus Regensburg25, 1543 aus Bonn26. Aber auch Käthe ließ Philipp grüßen, was sie nicht hätte tun müssen, wenn sie ihn nicht gemocht hätte27. Die regeste Korrespondenz war durch den Augburger Reichstag 1530 bedingt, als Luther, Melanchthon und Frau Luther an verschiedenen Orten waren und Wichtiges zu berichten war28. Aus dieser Zeit ist sogar ein Brief Melanchthons an Katharina Luther mit eigenhändigen Zusätzen von Justus Jonas und Johannes Agricola erhalten geblieben. Ich zitiere ihn vollständig, weil er die Art, wie diese Menschen miteinander umgingen, reizvoll überliefert. Leider haben wir nichts Entsprechendes an Melanchthons Frau und Familie, die ja auch solche Briefe bekommen haben muss. Der Erbaren, tugentsamen fraw Catharina Lutherin, Doctorin, meyner besondern gunstigen freundin. Gottes gnad vnd alles guts. Erbare, tugentsame frau doctorin. Ich fuge euch zu wissen, das wir nu, gott gebe gnad, biß gen Augsburg khomen sind vnd haben den 20
Ernst KROKER, Katharina von Bora. Martin Luthers Frau. Ein Lebens- und Charakterbild (zitiert nach der Ausgabe Berlin 1951), 195 f. Ähnlich mehrfach T REU, z.B. Aufsätze 1999 (wie Anm. 1), 19 und zuletzt in: Katharina von Bora. Torgauer Kolloquium 1999, Torgau 2000 (Schriften des Torgauer Geschichtsvereins 1), 15. 21 Traudel HIMMIGHÖFER, Luthers Lebensarbeit an der deutschen Bibel: EbernburgHefte 30 (1996), 31–52. 22 MBW 1597, 1646, 1673. 23 MBW 2154, 2155, 2185. 24 MBW 2543, 2547, 2571, 2572, 2582, 2601. 25 MBW 2648, 2655, 2664, 2699. 26 MBW 3240. 27 MBW 728 (26. 11. 1528), 1669 (ca. 3. 12. 1535: Luthers Frau denkt oft an Melanchthon), 2560 (24. 11. 1540: Grüße, auch von Käthe, die auf Zöllsdorf ist), 2577 (7. 12. 1540: Gruß von Käthe, die den Willkommenstrunk braut), 2687 (7. 5. 1541: Gruß von Frau Käthe). 28 MBW 899, 908, 914, 915, 923, 992, 1038.
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herrn doctor zu Coburg gelassen, wie ehr on zweyfel euch zugeschriben hatt. Ich hoffe aber, inn kurtz bei yhm zu seyn. Bitt euch, wollet mir schreyben, wie es euch gehet vnd wie sich der haubtman des korns halb erzeyget habe; wo mitt ich euch dienen khan, will ich mitt allem vleys, wie ich mich schuldig erkenne, solchs thon vnd außrichten. Beyde Cantzler grussen euch vnd wunschen alles gut. Gott bewar euch. Datum Augspurg mittwochs nach Walpurgis. Hertzog Georg von Saxen soll morgen oder vbermorgen hie eyn khomen, der Keyser ist noch fern, kommet aber. Philippus. Liebe geuatter. Auch wuntsche ich euch, Hensichen Luther vnnd Magdalenichen vnnd Mume Lenen vill seliger zceit, pusset mir in meinem Namen mein liebesten jungen Friedrich. J. Jonas. Ich Johan Agricola Eißleben meyn es auch gut, meyn liebe frau Doctorynn 29.
Wie gut das Verhältnis war, zeigt eine Episode aus dem Jahr 153430. Luther und Melanchthon besuchten in Dessau den Fürsten Joachim von Anhalt. Melanchthon kehrte am Abend des vierten Tages nach Wittenberg zurück. Wahrscheinlich hat er seine eigene Frau kurz begrüßt; vielleicht aber war sie nicht anwesend. Das Abendessen jedenfalls nahm er bei Frau Luther ein und besuchte sie noch einmal am anderen Morgen, an dem er an Luther schrieb, er solle heimkehren, denn seine Frau habe Fußbeschwerden und sehne sich nach ihrem Mann. Es gab aber auch Spannungen. Katharina von Bora war eine selbstbewusste Frau, die sich nicht scheute, in der Tischrunde das Wort zu ergreifen, sogar auf Lateinisch31. Sie suchte gelegentlich auch ihren Mann zu beeinflussen, nicht nur in Vermögensangelegenheiten, die ihr sehr wichtig waren, sondern auch in literarischen Entscheidungen32. Ungehörig war aber, dass sie sich in die Stellenbesetzung der Universität einmischte, sehr zu Melanchthons Ärger. Im Juni 1536 war die Professur am Pädagogium, die bescheidenste Planstelle der Philosophischen Fakultät, frei geworden. Katharina Luther wandte sich an Melanchthon und verlangte von ihm, ihren Kostgänger Johannes Saxo (ca. 1510–1561)33, einen Holsteiner, zu protegieren, der sich bei ihr beklagt hatte, Melanchthon benachteilige die Niedersachsen zugunsten seiner süddeutschen Landsleute. Melanchthon war empört und stellte Saxo zur Rede. Da er zufällig der Dekan des Wintersemesters 1536/37 war, musste er die anstehende Wahl leiten. Er nominierte vier Kandidaten, zwei Oberdeutsche und zwei Niederdeutsche. Dann setzte er sich betont für Saxo ein, doch mit der einzigen Begründung, dass dieses Mal ein Niedersachse an der Reihe sei. Bei der Wahl enthielt er 29
MBW 898. MBW 1465. 31 WATR 4, 559 Nr. 4860; 5, 247.9–11 Nr. 5567. 32 TREU, Aufsätze 1999 (wie Anm. 2), 14. 33 Heinz SCHEIBLE, Melanchthons biographische Reden (1993): Forschungsbeiträge (1996), 131 f Anm. 57. 30
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sich der Stimme. Die anderen Professoren, fast alle seine Schüler, wussten, was sie zu tun hatten. Sie wählten Johannes Marcellus (1510–1551)34, einen Süddeutschen und Schützling Melanchthons. Saxo, über den der Melanchthon-Schüler Hieronymus Besold (1522–1562)35 später äußerst abfällig urteilte, erlangte in Wittenberg erst 1541 eine Professur36. Melanchthon hat diesen Vorfall nicht leicht genommen. Empfindlich gegen Kritik wie viele überragende Köpfe, erblickte er darin ein Symptom der Feindschaft gegen ihn, die er meinte mehrfach beobachten zu müssen. Er sollte sich nicht täuschen. Bald danach verklagte ihn Konrad Cordatus (1480/83–1546)37, ein ehemaliger Tischgenosse Luthers und der erste Tischredenschreiber, zu dem Melanchthon bisher ein gutes Verhältnis gehabt hatte, wegen angeblicher Irrlehren. Melanchthon wurde zwar von Luther, Jonas und Bugenhagen verteidigt, aber etwa ein Jahr lang herrschte eine Atmosphäre, die von Melanchthons Kollegen, Schüler und Freund Caspar Cruciger (1504–1548)38 in einem Brief an den Nürnberger Prediger Veit Dietrich (1506–1548)39 vom 29. August 1537 als mangelnde Offenheit beschrieben wurde. Dietrich hatte lange bei Luther gelebt und ihm als Assistent gedient, vor allem auf der Coburg, war aber dann im Unfrieden mit Frau Käthe weggegangen. Eigentlich war er Schüler und Freund Melanchthons. An ihn also schrieb Cruciger, schärfer und offener als Melanchthon dies zu tun pflegte. Cruciger hielt eine klärende Aussprache zwischen Luther und Melanchthon für notwendig und hilfreich, meinte aber, dass dies durch die Tyrannei der Frau verhindert werde. Solche heiklen Behauptungen schrieb man griechisch: gynaikotyrannís. Dieser Brief ist schon lange bekannt. Doch wurde die gynaikotyrannís auf die arme Frau Melanchthon bezogen. Der Lutherin wollte man das nicht antun. Stefan Rhein hat nachgewiesen, dass Luthers Frau gemeint ist40. Dauerhaft war das Verhältnis Melanchthons zur ihr durch diese Vorfälle nicht getrübt. Ja, in derselben Zeit gehen die üblichen Mitteilungen weiter41. Am 6. Mai 1538 schrieb Melanchthon im Auftrag von Frau Luther an Herzog Albrecht von Preußen42 und bat ihn, die in Luthers Haus zurückgebliebenen Bücher des verstorbenen Peter Weller (1503–1536)43, die 34
WAB 7, 582 f Anm. 10. MBW 11 (2003), 149. 36 MBW 1752a mit den Einzelbelegen in Bd. 9, 106 f. 37 MBW 11 (2003), 303. 38 MBW 11 (2003), 320 f. 39 MBW 11 (2003), 351. 40 Stefan RHEIN, Katharina Melanchthon, geb. Krapp. In: 700 Jahre Wittenberg, hrsg. v. Stefan Oehmig (1995), 501–518, bes. 515 f. 41 MBW 1843 (5. 2. 1537 aus Weimar), 1851 (23. 2. 1537 aus Schmalkalden). 42 LThK3 1 (1993), 345 (Ernst Manfred W ERMTER). 43 WAB 3, 419 f Anm. 8. 35
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dieser offenbar vom Herzog hatte, den drei Luther-Söhnen Hans (1526– 1575), Martin (1531–1563) und Paul (1533–1593) zu schenken44. Solche Dinge erledigte Käthe an ihrem Ehemann vorbei. Ihre schwere, monatelange Erkrankung in der Folge einer Fehlgeburt 1540 bewegte Melanchthon auch zu Mitteilungen an auswärtige Freunde wie Michael Meienburg45 in Nordhausen, Fürst Georg von Anhalt46 in Dessau, Nikolaus von Amsdorf47 in Magdeburg, Veit Dietrich in Nürnberg48. Auch Luther unterrichtete die nach Schmalkalden abgereisten Freunde über Käthes Befinden und allmähliche Besserung49. Als bald danach Melanchthon in Weimar so schwer erkrankte, dass ihn Luther und andere Wittenberger besuchten, nahm auch Käthe Anteil50. Im Sommer 1544 war ihr Joachim Camerarius in Leipzig in einer uns unbekannten Angelegenheit behilflich, wobei Melanchthon als Mittelsmann fungierte51. Im Herbst 1545 nahm er eine empfohlene Halbwaise selbst auf, um Luthers Haus zu entlasten52. Bald danach war Käthe ernstlich krank und wünschte sich Veltliner Rotwein, den Melanchthon über Camerarius aus Leipzig auf seine Kosten besorgte53. Luther schrieb auf seiner letzten Reise nach Eisleben seiner Frau wundervolle Briefe. Die Antwort ließ Käthe durch Melanchthon ausrichten54. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass sich Melanchthon und Frau Luther in den bis zu Luthers Tod mehr als zwanzig Jahren Nachbarschaft gegenseitig respektierten und sogar mochten, und dass ernsthafte Konflikte die Ausnahme waren.
3. Die Vormundschaft Am 6. Januar 1542 schrieb Luther ohne Rechtsbeistand sein Testament, worin er in ausdrücklichem Gegensatz zum geltenden Recht seine Frau zur Alleinerbin und zum Vormund der Kinder einsetzte. Nach dem geltenden 44
MBW 2028. Heidelore KNEFFEL, Philipp Melanchthons Beziehungen zu Nordhausen, insbesondere zu Michael Meyenburg – eine Spurensuche. 1. Teil. In: 1996 Jahrbuch des Landkreises Nordhausen, = 4. Jahrgang (1997), 45–78. 46 MBW 11 (2003), 72. 47 MBW 11 (2003), 67 f. 48 MBW 2354, 2355, 2364, 2369. 49 MBW 2382, 2388, 2397, 2410. 50 MBW 2454. 51 MBW 3638. 52 MBW 4057. 53 MBW 4085, 4106. 54 MBW 4127, 4141, 4158, 4162 (31. 1., 5., 14. und 18. 2. 1546). 45
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Recht waren aber die Kinder die Haupterben. Sowohl sie, sofern sie noch nicht erwachsen waren, als auch die Witwe benötigten Vormünder. Luther ließ seinen letzten Willen von Melanchthon, Cruciger und Bugenhagen formell beglaubigen55. Später ließ er das Testament (unwesentlich abgewandelt) in das Gerichtsbuch der Stadt Wittenberg eintragen56 und durch den Kurfürsten bestätigen57, wodurch es formal eine festere Gültigkeit erhielt, inhaltlich aber weiterhin dem sächsischen Recht in wesentlichen Teilen widersprach58. Nach Luthers Tod bekam seine Witwe deshalb Probleme. Teils entstanden sie aus der Rechtslage, die beachtet werden musste, teils aber daraus, dass sie über die Verwendung des ererbten Vermögens andere Vorstellungen entwickelte als die kurfürstlichen Räte, wobei sie schließlich ihren Willen durchsetzte. Dass irgendwer ihr übelwollte, kann ich nicht erkennen. Auch Gregor Brück59 war mit seiner Beurteilung der Verhältnisse nicht böswillig60, sondern nur vernünftig. Er war nicht der amtierende Kanzler, wie man immer noch lesen muss, sondern lebte als einflussreicher Rat in Wittenberg. Der Kanzler saß in Torgau und hieß Jobst von Hain61. Melanchthon erwies sich in diesen Jahren der Witwenschaft Käthes als treuer Freund und Helfer, stöhnte zuweilen aber auch über ihr Durchsetzungsvermögen62. Dass Käthe arm und missachtet gewesen sei, kann man wirklich nicht sagen. Die Witwe eines Professors oder Pfarrers hatte damals und noch lange keinerlei Rentenansprüche und war oft übel dran. Frau Luther hingegen erfreute sich weiterhin des Wohlwollens ihres Landesherrn und anderer Fürsten, namentlich des Königs Christian III. von Dänemark. Dass ein Krieg ins Land kam und Kurfürst Johann Friedrich in Gefangenschaft geriet, ist eine andere Sache. Dies ist meine Einschätzung. Nun zu den Fakten. Während Luthers letzter Reise nach Eisleben ging Käthe das Bargeld aus. Eine Volksbank, die auch gern kurzfristige Überziehungskredite gibt, gab es damals nicht. Man borgte zinslos bei Freunden. Das hat nichts mit Armut zu tun, sondern 55
MBW 2871. - Tibor FABINY, Martin Luthers letzter Wille. Das Testament des Reformators und seine Geschichte (1983). 56 WAB 9, 574–576. 57 WAB 12, 349 f Nr. 4288. 58 Pauline P UPPEL, Zur Rechtsstellung der Katharina von Bora. In: T REU, Aufsätze 1999 (wie Anm. 1), 33–51. 59 MBW 11 (2003), 222. 60 Albrecht T HOMA, Katharina von Bora (1900), 220–234 - KROKER, Bora (wie Anm. 20), 234–243 - TREU, Aufsätze 1999 (wie Anm. 1), 17 (erbitterter Widerstand). Inge MAGER, Katharina von Bora, die Lutherin – als Witwe. In: Mönchshure und Morgenstern (wie Anm. 1), 120–135, bes. 126 (Brück als erbittertster Gegner). 61 MBW 12 (2005), 214 f. 62 MBW 4279.
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mit Illiquidität. Melanchthon hatte Käthe schon früher gelegentlich Geld geliehen63. Jetzt half er wieder64. Doch schon am 21. Februar, noch vor Luthers Beisetzung, schickte der Kurfürst 100 Gulden, das sind vier Monatsgehälter, und Melanchthon bekam sein Darlehen zurück65. Als er Anfang März 1546 aus Halle von Justus Jonas Wildbret, nämlich einen Hasen und ein Schulterstück, bekam, schenkte er es der Witwe Luthers, gleichsam als alttestamentliche Abgabe an den Priester, wie er sagte66. In Wirklichkeit aß er nicht gerne Fleisch67. Am 9. März kamen Bugenhagen, Cruciger und Melanchthon zu Gregor Brück, um auf Befehl des Kurfürsten über das Regensburger Religionsgespräch zu beraten. Dabei sprachen sie auch über Katharina68. Luthers Witwe stand in zwei wichtigen Punkten im Gegensatz zu den Räten und Theologen: sie wollte für ihre vier Kinder Hans, Martin, Paul und Margarete (1534–1570) keinen Vormund, sondern deren Ausbildung selbst bestimmen, und sie wollte das Gut Wachsdorf kaufen. In der Vormundschaft musste sie nachgeben, konnte aber bei der Wahl der Personen mitwirken69. Der Kurfürst bestimmte am 24. März als Vormünder der Kinder die Professoren Caspar Cruciger und Melanchthon, seinen Leibarzt Matthäus Ratzeberger70, der in Torgau wohnte, Luthers Bruder Jakob71 in Mansfeld als den nächsten Verwandten und den wohlhabenden Wittenberger Geschäftsmann, Ratsherrn und amtierenden Bürgermeister Ambrosius Reuter72. Katharina selbst erhielt den Wittenberger Befehlshaber Asmus Spiegel zu Gruna73 und ihren Bruder Hans von Bora74 als Vormünder75. Melanchthon und Cruciger sollten von den finanziellen Problemen unbelastet und nur für die Erziehung zuständig sein. Doch blieb die Arbeit an 63
[Karl August Hugo] B URKHARDT, Luthers häusliche Verhältnisse: Theologische Studien und Kritiken 69 (1896), 158–164, bes. 161 Anm. 3. 64 MBW 4165. 65 Ebd. 66 MBW 4186. 67 MBW 5094. 68 MBW 4182, 4185. 69 MBW 4193.2. 70 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon rettet die Universität Wittenberg (1998): oben Nr. 14, bes. S. 263 f. - Martin B AUER, Erfurter Personalschriften 1540–1800 (1998), 344–346 Nr. 654. 71 Vgl. WAB 5, 56 Anm. 4. 72 Ernst KROKER, Nativitäten und Konstellationen aus der Reformationszeit: Schriften des Vereins für die Geschichte Leipzigs 6 (1900), 23–31. - DERS., Bora (wie Anm. 20), 209–212. 73 Oswald Artur HECKER, Schriften Dr. Melchiors von Osse (1922), 6 und 52. - WAB 9, 14. 74 MBW 11 (2003), 177. 75 MBW 4200.
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den in Wittenberg anwesenden Vormündern hängen, hauptsächlich an Melanchthon und Reuter. Zu Melanchthon hatte Käthe Vertrauen, und er hat sie zwar gelegentlich stöhnend, aber doch loyal unterstützt, bis sie ihren Willen durchsetzte und das Gut Wachsdorf kaufte. Das Geld half Melanchthon beschaffen. Doch ohne die Großzügigkeit des Kurfürsten Johann Friedrich, der seine Dankbarkeit gegen Luther an dessen Witwe erwies, wäre es nicht zusammengekommen. Wachsdorf76 war ein Hofgut mit Feldern und alten Eichenbeständen. Es lag am linken Elbufer zwischen Wittenberg und Pratau. Seit etwa zwei Jahren wurde es von der Erbengemeinschaft Müntzer (nicht „Münster“77, womit Melanchthons 1539 verstorbener Schwager Sebald Münsterer gemeint ist) zum Kauf angeboten. Der Verhandlungspartner Andreas Müntzer78 stammte aus Elbing. Er hatte in Wittenberg, wo er auch verwandtschaftliche Beziehungen hatte, seit 27. April 1541 mit Erfolg studiert und unter Melanchthons Anleitung sogar lateinisch Dichten gelernt. Nun war er im Begriff, endgültig nach Preußen zurückzukehren, um in Königsberg in den Hofdienst Herzog Albrechts einzutreten79. Käthe Luther war bekanntlich an Grundbesitz sehr interessiert80, verständlich angesichts der Armut ihrer Jugend- und Klosterzeit. Ihr Familenbesitz Zöllsdorf, den sie 1540 an sich brachte, lag weit entfernt. Es war für sie wichtig, ganz in der Nähe etwas Stattliches zu erwerben. Dies scheint nicht jeden Tag möglich gewesen zu sein. Wenn die Erbengemeinschaft Müntzer dennoch in mindestens zwei Jahren keinen anderen Käufer fand, so dürfte das Anwesen tatsächlich nicht ohne Mängel gewesen sein. Der alte Gregor Brück, der sich in Wittenberg wahrhaftig auskannte, hat sie in seinem Gutachten vom 13. März 154681 genannt: das Haus war nicht unterkellert, denn der hohe Grundwasserspiegel ließ dies nicht zu – ein erheblicher Mangel für die Aufbewahrung von Vorräten, den Käthe auch im Lutherhaus vorgefunden hatte und der noch nach zehn Jahren nicht behoben war82. Das zweite, wovor Brück warnte, war die immer wiederkehrende Überschwemmung der Felder. Ich kann in Brücks Widerstand
76
Johann Karl SEIDEMANN, Luthers Grundbesitz: Zeitschrift für die historische Theologie 30 (1860), 475–570, bes. 533–564. 77 Martin TREU, Katharina von Bora (1995, 31999), 57. 78 L. NEUBAUR: Altpreußische Monatsschrift 28 (1891/92), 250–255. - Hermann FREYTAG, Die Preussen auf der Universität Wittenberg (1903), 39 Nr. 154. - MBW 5959, 5977. 79 MBW 4325 (15. 7. 1546) und 4354 (10. 8. 1546). 80 TREU 1995 (wie Anm. 77), 54–57. Stefan OEHMIG, Katharina von Bora, die Lutherin – Eine Wirtschafterin und Saumärkterin. In: Mönchshure und Morgenstern (wie Anm. 1), 96–119, bes. 108–113. 81 Fundort siehe MBW 4, 344 Nr. 4193.1. 82 SEIDEMANN (wie Anm. 76), 488.
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gegen diesen Kauf also keine Feindschaft gegen Käthe83 erkennen, sondern die Warnung eines erfahrenen Mannes vor einer Fehlinvestition, bei der ja zusätzliche Baumaßnahmen Käthes zu erwarten waren. Hinzu kam die Sorge, dass die Söhne, für die ein Studium vorgesehen war, sich überwiegend auf dem Land aufhalten und dadurch zu Junkern verkommen würden. All dies wurde am 9. März 1546 zwischen Brück, Bugenhagen, Cruciger und Melanchthon besprochen und von Brück dem Kurfürsten am 13. schriftlich mitgeteilt. Da lag dem Hof schon ein Gesuch Käthes vor, das Melanchthon am 9. in der Tasche hatte und seinen Kollegen vorlas und am 11. nach Torgau schickte84. Wahrscheinlich hatte er es nach Käthes Wünschen formuliert. Brück erhielt es am Abend des 12. aus Torgau. Danach schickte er seine Warnung ab. Er ist also nicht selbst tätig geworden. Schon am 17. März erging in Torgau der Bescheid85. Luthers Witwe hatte demnach aus Luthers Lebzeiten das ehemalige Augustinerkloster in Wittenberg zu eigen, ferner 600 Gulden (das sind zwei Jahresgehälter der am höchsten bezahlten Wittenberger Professoren, darunter Luther und Melanchthon) für Baumaßnahmen in ihrem Gut Zöllsdorf erhalten. Sodann gab es ein Kapitalguthaben von 1000 Gulden. Dieses wurde nun verdoppelt, allerdings zugunsten der Kinder. Der Hof hat also gegen Luthers Testament, der seine Frau als Alleinerbin einsetzte, die Rechte der Kinder wahrgenommen. Diese 2000 Gulden Kapital würden jährlich 100 Gulden abwerfen, das sind 5 %. Außerdem hatten die Grafen Albrecht, Philipp und Johann Georg von Mansfeld aus Dankbarkeit für Luthers Vermittlertätigkeit, nach der er in Eisleben gestorben war, 2000 Gulden versprochen, die aber erst in zwei Jahren ausbezahlt werden sollten86. Ob dies jemals geschah, ist fraglich, weil bald der Schmalkaldische Krieg ausbrach, der alles veränderte. Nachdem hiermit die Rechte der Kinder gesichert waren, bekam auch Käthe ihren Willen. Der Kurfürst erlaubte, dass aus den 2000 Gulden der Kapitalanteil der Söhne, also 1500 Gulden, wenn auch die Vormünder zustimmten, für den Kauf des Gutes Wachsdorf verwendet werden dürfe. Die Tochter Margarete sollte aber bis zur Eheschließung ihre Rente von 25 Gulden (davon konnte man bescheiden leben) beziehen und dann als Aussteuer das Kapital von 500 Gulden bekommen. Das Anwesen Wachsdorf kostete aber 2200 Gulden. Am 16. Mai 1546 wandten sich Melanchthon, Cruciger und Ambrosius Reuter, das sind die in Wittenberg ansässigen Vormünder der Kinder, erneut an den Kurfürsten
83
So die gängige Meinung, s. o. Anm. 60. Anders urteilt SEIDEMANN (wie Anm. 76),
538. 84
MBW 4185. MBW 4193. 86 MBW 4264.3. 85
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mit der Bitte, die aus Mansfeld zugesagten 2000 Gulden vorzuschießen87. Zur Begründung führten sie an, um Luthers willen müsse man seiner Witwe nachgeben. Diese Bitte wurde erfüllt, aber wahrscheinlich nicht in voller Höhe, sondern nur zur Aufüllung der 1500. Jedenfalls waren bald danach 2000 Gulden vorhanden. Es fehlten noch 200 (ein anständiges Jahresgehalt für einen Professor). 100 brachten Melanchthon und Reuter auf88, anscheinend als Geschenk an Käthe. Die letzten 100 erbettelte Melanchthon von Amsdorf89, dem alten Freund Luthers90, der damals noch als evangelischer Bischof von Naumburg in Zeitz residierte, also das Geld leicht geben konnte. Melanchthon erklärte aber seine Bereitschaft, es nötigenfalls als persönliches Darlehen zu übernehmen. Doch Amsdorf zahlte91. Nun war der Kauf finanziert. Dennoch fuhr Käthe nach Mansfeld, um von dem versprochenen Geld wenigens einen Teil loszueisen. Melanchthon, der alles andere als habgierig war, gefiel dies nicht92. Man kann verstehen, dass er diese Geschäfte, von denen er eigentlich verschont bleiben sollte, als Plage empfand93. Die Kaufurkunde wurde erst kurz vor dem 15. Juli 1546 ausgefertigt94. Damals war schon Krieg. Die Hauptaufgabe Melanchthons als Vormund der Kinder sollte aber deren Erziehung sein. Die jüngeren Söhne Martin und Paul waren erst 14 und 13 Jahre alt. Sie behielten weiterhin ihren Präzeptor Ambrosius Rutzel und blieben bei der Mutter, wie es deren Wunsch war, die elf-jährige Tochter Margarete ohnehin95. Probleme machte der nahezu 20-jährige Hans. Seine akademische Ausbildung war nicht erfolgreich gewesen, was ja nicht schlimm war, denn der Kurfürst war bereit, ihn in die Kanzlei aufzunehmen96. Er wollte aber unbedingt weiterstudieren97. Nach dem Krieg studierte er von 1549 bis 1551 als ziemlich bemoostes Haupt auf Kosten des Preußenherzogs in Königsberg, um dann doch in den ernesti-
87
MBW 4264. MBW 4264. 89 MBW 4274. 90 Über sein wechselndes Verhältnis zu Katharina vgl. Ernst KROKER, Luthers Werbung um Katharina von Bora. In: Lutherstudien zur 4. Jahrhundertfeier der Reformation (1917), 140–150. 91 MBW 4280. 92 Ebd. 93 MBW 4279. 94 MBW 4325. 95 MBW 4232. 4264. 96 MBW 4263. 97 MBW 4263 f, 4269. 88
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nischen Hofdienst aufgenommen zu werden98. Im Krieg war er vielleicht nicht bei seiner Mutter, sondern soll im Heer gewesen sein99.
4. Die Flucht Was beim Kauf des Gutes Wachsdorf niemand wissen konnte: ein Jahr danach war es durch kaiserliche Truppen verwüstet. Doch dieses Unglück traf nicht Käthe allein. Die anderen Menschen auf dem Land erlitten ebenfalls immense Schäden, nicht aber die in der Stadt. Der Schmalkaldische Krieg wurde zuerst in Süddeutschland geführt. Dennoch wollte der Kurfürst schon im August 1546 die Universität aus der Festung Wittenberg auslagern, was Melanchthon verhinderte. Als aber Herzog Moritz vom albertinischen Sachsen in Kursachsen einmarschierte und Zwickau belagerte, wurde am 6. November 1546 der Lehrbetrieb eingestellt. Nachdem Zwickau gefallen war, flohen viele Professoren und andere Einwohner, Melanchthons Familie ins neutrale Zerbst, Frau Luther wie viele andere in die Festung Magdeburg, die Mitglied des Schmalkaldischen Bundes war. Dies war nicht zuletzt deshalb geboten, weil beider Häuser unmittelbar an der Wittenberger Stadtbefestigung lagen. Nach zwei Monaten war Wittenberg wieder frei, weil Johann Friedrich seine süddeutschen Bundesgenossen der Übermacht des Kaisers überließ und lieber seinen Vetter Moritz bekriegte. Doch dann zogen Kaiser Karl V. und auch böhmische Truppen seines Bruders Ferdinand nach Sachsen. Johann Friedrich wurde am 24. April 1547 auf der Lochauer (Lochau heißt seit 1573 Annaburg) Heide bei Mühlberg an der Elbe geschlagen und gefangengenommen. Wittenberg kapitulierte. Nun fühlte sich Melanchthon nicht einmal mehr in Zerbst sicher und floh mit seiner Familie nach Magdeburg. Dort traf er Käthe Luther, die nach der Niederlage aus Wittenberg erneut dorthin geflohen war100. Ob diese mit Flüchtlingen überfüllte Stadt belagert würde und wie lange sie standhalten könnte, war nicht abzusehen. Frau Luther, die entlaufene Nonne und Frau des Mönchs, war aufs höchste gefährdet, vor allem durch die sadistischen und bigotten Spanier. Den bejahrten Propst von Kemberg hatten sie schwer misshandelt und für tot auf die Miste geworfen101. Es war der frühe Lutherschüler Bartholomäus Bernhardi 98
Siehe unten Anm. 120 sowie MBW 7000 und 7347. KROKER, Bora (wie Anm. 20), 258 bezweifelt diese späte Nachricht. Auch Christian KROLLMANN, Johannes Luther, Dr. Martin Luthers Sohn in Königsberg: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen 16 (1941), 10-17, sowie Altpreußische Biographie 1 (1941), 413, nimmt an, dass er bei seiner Mutter war. 100 MBW 4738. 101 MBW 4739. 99
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(1487–1551), der als der erste verheiratete Priester galt und von Karlstadt und Melanchthon in einer Flugschrift verteidigt worden war102. Das war nach 25 Jahren nicht vergessen. Bernhardi überlebte die Tortur. Mit Käthe wären die Söldner gewiss nicht milder verfahren. Dass Karl V. an Luthers Grab trat, ohne es zu schänden103, war nicht selbstverständlich. Der Kaiser war wirklich edel. Es war also alles andere als Hysterie, wenn Käthe weinend Melanchthon bat, sie und ihre Kinder nach Dänemark zu bringen104. Der Dänenkönig Christian III. hatte die 50 Gulden, die er seit einigen Jahren den Wittenberger Reformatoren Luther, Bugenhagen, Jonas und Melanchthon zuwendete, auch an Luthers Witwe gezahlt und mitten im Krieg Wege gefunden, sie zuzustellen105. Melanchthon war bereit, sie bis Lüneburg zu bringen106. Der Wittenberger Kollege Georg Maior, der sich mit seiner großen Familie dem Flüchtlingstreck anschließen wollte, hätte sie dann weiterhin begleitet107. Am 1. Mai verließ der Wagenzug der drei Familien und einiger Studenten die Festung Magdeburg. Das erste Nachtquartier war Helmstedt. Die Zeche für die Familien Luther und Maior übernahm der Rat dieser Stadt108, Melanchthon bezahlte selbst. Dass der Rat den Flüchtlingen ein Festessen gegeben habe109, ist Dichtung. Helmstedt gehörte dem Herzog Heinrich d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel, gegen den Luther »Wider Hans Worst« geschrieben und dem der Schmalkaldische Bund sein Land abgenommen und reformiert hatte. Nun kehrte er zurück und machte es wieder katholisch110. Dass die Stadt Helmstedt Frau Luther unterstützte, war mutig und konnte ihr leicht als Hochverrat ausgelegt werden. Die Unterstützung erfolgte deshalb wahrscheinlich diskret. Am andern Tag wurde Braunschweig erreicht. Diese Stadt gehörte zwar nominell ebenfalls zu Wolfenbüttel, hatte aber wie Magdeburg eine reichsstadtähnliche Freiheit erreicht und sich schon früh durch Bugenhagen eine evangelische Kirchenordnung schreiben lassen111. Melanchthon brachte 102
MBW 11 (2003), 145. Belege siehe Heinz SCHEIBLE: Melanchthon rettet die Universität Wittenberg (1998): oben S. 259 Anm. 50. 104 MBW 4737 f, 4969. 105 MBW 4540, 4543, 4575 f. 106 MBW 4740. 107 Ebd. - Über Maior und seine Kinder vgl. TRE 21 (1991), 725–730, bes. 727.8–11. 108 MBW 4735. 109 SACHAU (wie Anm. 1), 424. 110 Hans-Walter KRUMWIEDE, Zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregimentes in Kursachsen und Braunschweig-Wolfenbüttel (1967), 155–199. - DERS., Kirchengeschichte Niedersachsens. Von der Sachsenmission bis zum Ende des Reiches 1806 (1995), 137. 111 EKO 6/1/1 (1955), 337–455. 103
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Käthe und Georg Maior bei dem Abt des Benediktinerklosters St. Aegidii, Theodoricus Coci (Dietrich Koch), unter; er selbst wohnte zunächst bei dem Superintendenten, seinem Brieffreund Nikolaus Medler112. Der Stadtrat zeigte sich freundlich113. Nach fünf Tagen wagten die drei Familen die Reise nach Norden. Sie kamen nur eine Tagereise weit bis Gifhorn114. Hier residierte Herzog Franz von Braunschweig-Lüneburg, der als 21-jähriger wie sein Bruder Ernst der Bekenner schon 1530 die Confessio Augustana unterzeichnet hatte115. Er riet zur Umkehr, weil die Lüneburger Heide voll von Truppen war. Tatsächlich kam es am 23. Mai bei Drakenburg an der Weser noch einmal zu einer Schlacht. Am 8. Mai war man wieder in Braunschweig. Käthe blieb hier zwei Monate, bis sie nach Wittenberg zurückkehren konnte116. Melanchthon und Maior fanden in Nordhausen Zuflucht.
5. Katharinas letzte Jahre, Tod und Hinterlassenschaft Auch in ihren letzten Lebensjahren konnte sich Frau Luther auf Melanchthons Hilfe verlassen. Sie hatte Kriegsschäden erlitten und keine festen Einkünfte mehr. Doch ihr Grund- und Hausbesitz war beträchtlich und konnte bewirtschaftet werden. Wenn das Bargeld knapp wurde, schrieb Melanchthon für sie Bittbriefe, im Februar 1548 nach Kurbrandenburg, im September 1548 nach Dänemark117. König Christian III. zahlte die üblichen 50 Taler118. Er musste aber immer wieder gebeten werden. Zumindest einer der Bittbriefe, die Käthe in ihrem Namen abschickte, ist von Melanchthon verfasst, wie dessen eigenhändiger Zusatz auf der Reinschrift beweist, der bisher für ein Autograph Käthes gehalten wurde119. Im Mai 1549 zog Hans Luther, von Melanchthon empfohlen und in Begleitung von dessen Schwiegersohn Georg Sabinus, zum Studium nach 112
MBW 4735. - Über Medler zuletzt: Braunschweigisches Biographisches Lexikon, 8. bis 18. Jahrhundert, hrsg. v. Horst-Rüdiger Jarck (2006), 484 f (J. DIESTELMANN). - Zu Koch vgl. MBW 11 (2003), 295. Er war im Winter 1532/33 als Abt und Erfurter Magister zum Studium nach Wittenberg gekommen. 113 MBW 4736. 114 MBW 4740, 4818. 115 MBW 11 (2003), 206. 116 MBW 4743, 4755. 117 MBW 5964, 5278. 118 MBW 5303. 119 MBW 5917 (6. 10. 1550). - „Lieber Herr Käthe“ (wie Anm. 1), 86 (Abb. 92). Bei dem Gesuch an Kurfürst Moritz vom 16. 9. 1548 (PKMS 4, 1992, 139 Nr. 95) ist eine Mitwirkung Melanchthons nicht erkennbar. Vgl. auch Sabine KRAMER, Briefe der Katharina von Bora. In: Frauen der Reformation (wie Anm. 1), 69–80.
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Königsberg120. Herzog Albrecht von Preußen finanzierte seine Ausbildung. Melanchthon schrieb einen Teil der erforderlichen Bittbriefe121. 1550 wurde Käthe in einen Prozess über ihr Gut Zöllsdorf vor dem Leipziger Oberhauptmann verstrickt. Sie wünschte Melanchthons Rechtsbeistand. Melanchthon, der grundsätzlich einen außergerichtlichen Vergleich vorzog, konnte ihre Rechtsvertretung dem Juristen Johannes Stramburger übertragen122. Im Oktober 1551 war ein Darlehen zu tilgen, wofür Melanchthon die Belastung von Zöllsdorf mit einer Hypothek für erforderlich hielt. In dieser Sache fand er Hilfe bei dem Leipziger Juristen Leonhard Badehorn123. Auch als Melanchthon auf seiner in Nürnberg abgebrochenen Reise zum Trienter Konzil in der fränkischen Reichsstadt weilte, schrieb er in einer uns unbekannten Sache an Frau Luther124. Im Sommer 1552 brach in Wittenberg wieder einmal eine ansteckende Seuche aus. Die Universität wurde im August nach Torgau verlegt. Frau Luther folgte mit ihren drei Kindern im September. Unterwegs scheuten die Pferde. Sie sprang vom Wagen, schlug hart auf und fiel in einen Wassergraben. Davon hat sie sich nicht mehr erholt. Am 20. Dezember ist sie 53-jährig gestorben und wurde tags darauf beigesetzt. Melanchthon hat sie während ihrer dreimonatigen Krankheit zweifellos besucht. Doch als sie starb, war er nicht in Torgau. Am 16. Dezember kehrte er endgültig wieder ins ansteckungsfreie Wittenberg zurück125. Der als Rektor amtierende Paul Eber hat die anwesenden Studenten zu ihrem Begräbnis eingeladen und den damit verbundenen Nachruf126 verfasst. Dieser Text ist also nicht von Melanchthon, wie noch immer behauptet wird127. Melanchthons einziges überliefertes Wort über ihren Tod steht in einem Brief vom 19. Januar 1553128. Der Adressat ist Anton Lauterbach129, einst Hausgenosse der Familie Luther und Tischredenschreiber, dann Super120
MBW 5540, 5675. - Über Sabinus: Heinz SCHEIBLE, Georg Sabinus (1508–1560). Ein Poet als Gründungsrektor (1995). Forschungsbeiträge (1996), 533–547. 121 MBW 6061 (23. 4. 1551). - „Lieber Herr Käthe“ (wie Anm. 1), 87 (Abb. 93). 122 MBW 5717, 5720 (13. und 20. 1. 1550); 5892 (31. 8. 1550). - Über Stramburger: Nikolaus MÜLLER, Philipp Melanchthons letzte Lebenstage (1910), 134 f. 123 MBW 6247.2 (28. 10. 1551). - Über Badehorn, der wenig später nach Trient entsandt wurde: MBW 11 (2003), 105. 124 MBW 6360.1 (23. 2. 1552). 125 MBW 10 (1998), 640. 126 CR 7, 1155 f Nr. 5286. 127 TREU 1995 (wie Anm. 77), 80 f. - DERS., Aufsätze 1999 (wie Anm. 1), 20. - DERS., Frauen der Reformation (wie Anm. 1), 64. - Inge MAGER (wie Anm. 60), 129 f. 128 MBW 6714. 129 Günther W ARTENBERG, Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik bis 1546 (1988), 248–251.
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intendent in Pirna. 1539/40 hatte er aus Elbsandstein das Katharinenportal für das Lutherhaus machen lassen130. Melanchthon schreibt neben anderen Neuigkeiten: „Die Witwe des ehrwürdigen Herrn Luther ist in Torgau fromm aus diesem sterblichen Leben geschieden.“ Vidua rev. D. Lutheri Torgae pie decessit ex hac mortali vita. Vormund der Kinder Luthers ist Melanchthon weiterhin geblieben. Als solcher war er an der Erbauseinandersetzung beteiligt, die am 29. Juni 1553 und am 5. April 1554 durchgeführt wurde131. Daraus ist ersichtlich, dass Käthe nicht mehr so reich war wie unmittelbar nach Luthers Tod, als sie das Geld für den Kauf von Wachsdorf zusammenbettelte. Sie war aber auch nicht bitter arm. Jedes ihrer vier Kinder erbte etwa im Wert von mindestens 600 Gulden, obwohl zur Schuldentilgung Zöllsdorf verkauft werden musste. Mit welchem Ertrag später die Grundstücke realisiert werden konnten, ist eine andere Frage, die Melanchthon nicht mehr lösen musste.
130
WA 48, 285 f; WAB 8, 608 f Nr. 3412. - Helmar J UNGHANS, Martin Luther und Wittenberg (1996), 109 f. - HERRMANN (wie Anm. 1), 53. Auch später besorgte er Steine: WAB 9, 520 f Nr. 3672 (25. 9. 1541). - SEIDEMANN (wie Anm. 76), 492. 131 MBW 7142.
Das Augsburger Interim und die evangelischen Kirchen Vortrag am 6. Juni 1998 beim Festakt „450 Jahre Simultaneum, 350 Jahre Parität in Biberach“. Die Stadt Biberach feiert. Sie alle feiern ein ganzes Jahr lang und ich heute mit Ihnen ein Ereignis, das eigentlich eine Katastrophe, zumindest eine Niederlage war: die Einführung des sogenannten Interims vor 450 Jahren. Dies zu feiern, erinnert mich an die Überlegungen, den 8. Mai 1945 zum Nationalfeiertag der Bundesrepublik Deutschland zu erheben. Auch hier wurde eine Niederlage zum Beginn eines Neuen, das zu feiern sich lohnt. Das Neue ist nicht sofort da und kommt überhaupt nicht von selbst. Es muß gewollt sein und in vielen kleinen Schritten, die über Höhen und durch Tiefen führen, erreicht werden. Biberach war nicht die einzige Stadt, der dieses Interim und als Folge davon die Nutzung ihrer bislang evangelischen Hauptkirche durch katholische Messpriester aufgezwungen wurde. Die naheliegende und verständliche Reaktion darauf ist, diese unbequeme und konfliktträchtige Situation möglichst bald zu bereinigen, sei es durch Abfindung einer der beiden Religionsgemeinschaften mit einer anderen Kirche, sei es durch eine Trennmauer innerhalb des umstrittenen Gotteshauses, was sich bei so großen Bauwerken wie in Biberach empfahl. Dass die künstlerische Wirkung des Raumes dabei zerstört wurde, nahm man hin. Ich komme aus Heidelberg, der einstigen Hauptstadt der Kurpfalz1. Durch einen Wechsel in der Dynastie der Wittelsbacher waren hier die Landesherren seit 1685 katholisch. 1698 wurde in allen Gemeinden ein Simultaneum angeordnet, das den Katholiken die Nutzung der reformierten Kirchen und auch einen Teil der Einkünfte zusprach. In den großen Kirchen der Städte wurde zwischen Chor und Langhaus eine Trennmauer eingezogen, wodurch die Probleme der Terminabsprachen für den gemeinsamen Gebrauch gelöst waren. Solche Kirchen gibt es noch immer, zum Beispiel in Mosbach und in Neustadt an der Weinstraße. Die Raumwirkung des Inneren wurde dadurch zerstört. Zum 500. Jubiläum der Universität 1
Heidelberg – Geschichte und Gestalt, hrsg. v. Elmar Mittler (1996). - Kurpfalz, hrsg. v. Alexander Schweickert (1997).
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Heidelberg im Jahre 1886 wurde in der Heiliggeistkirche dieser Stadt die Trennmauer beseitigt, um die Schönheit der spätgotischen Kirche sichtbar zu machen. Aber nach dem Jubiläum musste sie wieder errichtet werden, obwohl die katholische Kirchengemeinde längst die große Jesuitenkirche als Pfarrkirche nutzte, den Chor der Heiliggeistkirche also gar nicht benötigte und den Altkatholiken überlassen hatte. Es bedurfte zäher und kluger Verhandlungen, bis nach weiteren 50 Jahren, 1936, die Trennmauer endgültig niedergelegt wurde und die ganze Kirche in den Besitz der Evangelischen überging. In der Zisterzienserkirche von Otterberg bei Kaiserslautern gelang dies erst vor wenigen Jahren. Biberach hat den Weg der baulichen Teilung seiner schönen Kirche St. Martin nicht beschritten, sondern die gemeinsame Nutzung durch beide Konfessionen gewählt und dafür Regeln entwickelt und perfektioniert, auf deren Alter und Einmaligkeit Sie stolz sein können. Dies ist ja der Hauptgrund unseres Festjahres. Zufällig trifft es sich, dass die definitive reichsrechtliche Anerkennung der Biberacher konfessionellen Situation durch den Westfälischen Frieden genau hundert Jahre nach dem Interim von 1548 erfolgte. Deshalb feiern Sie das Doppeljubiläum 450 Jahre Simultaneum und 350 Jahre Parität. Was in diesen hundert Jahren geschah, ist hoch interessant. Sie können es aus der Feder von Bernhard Rüth, Kurt Diemer und anderer in Ihrer gewichtigen Stadtgeschichte2 und in dem neuesten Heft der Heimatkundlichen Blätter für den Kreis Biberach nachlesen, soweit Sie nicht unlängst den Vortrag von Herrn Rüth gehört haben. Ich will mich hüten, Barchent nach Biberach zu tragen, und werde deshalb ganz wenig über Ihre Stadt erzählen. Mein Thema ist das Interim von 1548, seine Vorgeschichte und seine Auswirkungen auf die evangelischen Kirchen in einigen Territorien und Reichsstädten.
1. Die Vorgeschichte Das Veranstaltungsprogramm 1998 der Stadt Biberach ist vom Oberbürgermeister, vom evangelischen Dekan und vom katholischen Stadtpfarrer unterzeichnet. Dies sind die Vertreter dreier voneinander unabhängiger Institutionen mit abgegrenzten Kompetenzen. In der Zeit, von der wir jetzt reden wollen, der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, war dies nicht so. Deshalb können wir die Probleme und Ereignisse jener Zeit nur verstehen, wenn wir unsere gegenwärtigen Vorstellungen von evangelisch und katholisch, von Kirche und Staat, beiseite legen. 2
Geschichte der Stadt Biberach, hrsg. v. Dieter Stievermann in Verbindung mit Volker Press und Kurt Diemer (1991).
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Staat und Kirche waren nicht getrennt, sondern fühlten sich für einander verantwortlich, wie wir uns dies gar nicht mehr vorstellen können, und zwei Konfessionen im Reich sind staatsrechtlich erst durch den Augsburger Religionsfrieden 1555 anerkannt worden. Zwar sprach man schon vorher von zwei Religionsparteien, aber mit dem Wort „Religio“ bezeichnete man damals nicht wie wir die großen Weltreligionen, sondern Gruppen innerhalb der Christenheit, insbesondere die verschiedenen Orden. Wenn sich zwei „Religionsparteien“ stritten, dann blieb dies durchaus in der Familie. Ein Familienstreit kann sehr heftig und gemein werden, aber das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit bleibt erhalten, und im Grunde genommen möchte man sich gern vertragen. Die „Protestierenden Stände“, wie die Evangelischen seit ihrer Demarche auf dem Speyrer Reichstag von 1529 genannt wurden3, gehörten nach wie vor ohne jeden Zweifel zum Reichsverband. Dies unterschied sie von den Eidgenossen, die seit dem sogenannten Schwabenkrieg von 1499 keinen Reichstag mehr beschickten, obwohl sie völkerrechtlich erst 1648, im Westfälischen Frieden, aus dem deutschen Reich ausschieden. Die Schweizer waren also Reichsfeinde und Separatisten. Gleichwohl fanden sie bei einigen der süddeutschen Reichsstädte, darunter das für Biberach wegweisende Ulm4, sowie bei dem Landgrafen von Hessen und beim abgesetzten Herzog Ulrich von Württemberg zeitweilig große Sympathie5. Die Ablehnung des Zwinglianismus durch die Mehrzahl der deutschen Evangelischen muss auch unter diesem Aspekt gesehen werden. Zwingli war nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Oberdeutschland theologisch einflussreicher als Luther6, der freilich auch hier als der Urheber der Bewegung galt. Der Biberacher Emigrant und Chronist Heinrich von Pflummern bezeichnete die von ihm abgelehnten Reformmaßnahmen in seiner Vaterstadt als „Lutherei“7, obwohl sie mehr zwinglianisch bestimmt waren. Warum fand Luther gleich zu Beginn seines öffentlichen Auftretens 1517 trotz aller Ablehnung und Gegnerschaft eine so breite Zustimmung, dass er sich als gebannter Ketzer 1521 in Worms vor Kaiser und Reich verant3
Georg SCHMIDT, Protestation von Speyer: TRE 27 (1997), 580–582. Hans Eugen SPECKER, Ulm. Stadtgeschichte (1977), 113 f. 5 René HAUSWIRTH, Landgraf Philipp von Hessen und Zwingli. Voraussetzungen und Geschichte der politischen Beziehungen zwischen Hessen, Straßburg, Konstanz, Ulrich von Württemberg und reformierten Eidgenossen 1526–1531 (1968). - Gerhard MÜLLER, Philipp von Hessen, Landgraf (1504-1567): TRE 26 (1996), 492–497. - Walter HEINEMEYER, Philipp der Großmütige und die Reformation in Hessen (1997). 6 Gottfried W. LOCHER, Die Zwinglianische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte (1979), 452–501. - Bernd MOELLER, Reichsstadt und Reformation (bearbeitete Neuausgabe 1987), 50–59. 7 Biberach (wie Anm. 2), 257. 4
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worten durfte und als Geächteter freien Abzug erhielt? Der Grund sind die offenkundigen Missstände in der Kirche, die allenthalben die Überzeugung entstehen ließen, dass Reformen unumgänglich seien8. Ein Musterbeispiel ist Biberach9. Die einzige Pfarrei der gesamten Stadt mit ihren reichen Einkünften gehörte dem 350 km entfernten Kloster Eberbach. In Biberach amtierten von dort eingesetzte Mönche und eine Unzahl von ungebildeten Messpriestern. Damit die Leute, denen geistige Nahrung nicht so leicht und reichhaltig zugänglich war wie uns heute, gehaltvolle Predigten hören konnten, stiftete die Stadt hier wie fast überall eine Predigerpfründe, auf deren angemessene Besetzung sie Einfluss nehmen konnte. Diese akademisch gebildeten Prediger waren dann zumeist die Vermittler der reformatorischen Forderungen. In Biberach war es Bartholomäus Müller (Millius), der mit Zwingli in Briefwechsel stand. Anstößig war auch die erzwungene Ehelosigkeit der Priester, die immer wieder zu eheähnlichen Verbindungen, sogenannten Konkubinaten, führte, wogegen die Bischöfe zwar mit Geldbußen, aber nicht mit einer Reform des Systems vorgingen. Luther und die anderen Reformatoren blieben aber nicht bei solchen eigentlich leicht zu behebenden Missständen stehen. Ihre Kritik stieß bis zum Wesen der katholischen Frömmigkeit vor, dem Messopfer, dem Verständnis von Eucharistie und Priestertum, von Mönchtum und von Heiligenverehrung10. Hätte sich Kaiser Karl V. auf Luthers Seite gestellt, dann wäre in Deutschland ähnlich wie in England und Skandinavien eine konservative Staatskirche entstanden. Bei seiner einzigen Begegnung mit ihm in Worms 1521 erkannte Karl aber klar den tiefen Gegensatz zu seinem eigenen katholischen Glauben11. Die katholische Kirche hatte hinfort im Kaiser den zuverlässigsten Schutzherrn. Auf einem allgemeinen Konzil sollten die notwendigen Reformen beschlossen und die Einheit der Kirche gerettet werden, wie es die Anhänger der Reformation forderten. Doch den Päpsten war der Erhalt ihrer Macht wichtiger als eine Reform der Kirche, von der auch sie betroffen sein würden. So wurde das Konzil immer wieder hinausgezögert, und als es dann 1545 in Trient ohne Protestanten eröffnet wurde, war es für die Einheit der abendländischen Kirche zu spät12. Kaiser Karl V. musste ohne den jeweiligen Papst versuchen, diese Einheit wieder herzustellen. Zunächst war er, der Herrscher eines Welt8
Eike W OLGAST, Gravamina nationis germanicae: TRE 14 (1985), 131–134. Biberach (wie Anm. 2), 241–252. 10 Bernhard LOHSE, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang (1995). 11 Hans W OLTER, Das Bekenntnis des Kaisers. In: Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, hrsg. v. Fritz Reuter (1971, 21981), 222–236. - Horst RABE, Karl V., Kaiser (1500-1558): TRE 17 (1988), 635–644. 12 Hubert JEDIN, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 1 (31977); Bd. 2 (21978). 9
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reiches, neun Jahre lang verhindert, sich den kirchlichen Verhältnissen in Deutschland zu widmen. In dieser Zeit gab ein Reichstag, 1526 in Speyer, die Reformation faktisch frei13. In der Folge wurden auch in Biberach die ersten Reformmaßnahmen durchgeführt, was zu einem kraftlosen Protest des Bischofs von Konstanz führte14. Der Versuch von Karls Bruder Ferdinand, auf dem Reichstag 1529 dem Wormser Edikt, das die Ächtung der Lutheranhänger aussprach, Geltung zu verschaffen, führte zu der schon erwähnten Protestation von fünf Fürsten und 14 Reichsstädten, darunter Ulm, Memmingen, Kempten und Isny. Biberach war dem Reichstag ferngeblieben. Nun kam Karl persönlich nach Deutschland und eröffnete 1530 den großen Reichstag zu Augsburg, auf dem die Evangelischen die Gelegenheit bekamen, ihre Rechtgläubigkeit darzulegen und die durchgeführten Reformen zu verteidigen. Kursachsen ließ durch Melanchthon15 eine Verteidigungsschrift ausarbeiten, der sich auch andere Fürsten anschlossen, vor allem Landgraf Philipp von Hessen, der bis dahin mit Zwingli sympathisiert hatte, sowie zunächst zwei Reichsstädte, Nürnberg und Reutlingen16. Straßburg mit Memmingen, Konstanz und Lindau reichten ein eigenes „Vierstädtebekenntnis“ (»Tetrapolitana«) ein17. Zwinglis »Fidei ratio« (Rechenschaft des Glaubens) fand keine Beachtung, weil die Eidgenossen nicht vertreten waren18. Ulm und im Gefolge Biberach konnten sich damals noch nicht zu einer Unterschrift bereit finden. Wichtig wurde nur das sächsische Bekenntnis, das am 25. Juni 1530 in voller Länge laut verlesen wurde. Seine Anhänger wurden später durch den Religionsfrieden von 1555 in den Reichsfrieden aufgenommen. Sie werden die „Augsburgischen Konfessionsverwandten“ genannt. Lutheraner sind dies in einem sehr weiten Sinn, zumal wenn sie die 1540 gemäß der Wittenberger Konkordie veränderte Fassung, die „Variata“, bekannten, was 1555 noch völlig legitim war19. So konnten auch Ulm und Biberach mit vielen anderen als Lutheraner gelten. 13
Armin KOHNLE und Eike W OLGAST, Reichstage der Reformationszeit: TRE 28 (1997), 457–470. 14 Biberach (wie Anm. 2), 266. 15 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie (1997). 16 Im Schatten der Confessio Augustana. Die Religionsverhandlungen des Augsburger Reichtages 1530 im historischen Kontext, hrsg. v. Herbert Immenkötter und Gunther Wenz (1997). - Gunther W ENZ, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bde. (1996, 1998). 17 Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd. 3 (1969), 13–185. 18 LOCHER (wie Anm. 6), 508–514 (512 Z. 4 v. u. lies „8. Juli 1530“, nicht 1531). 19 Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere Theologische Erklärungen, im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche der Union hrsg. v. Rudolf Mau, Bd. 1 (1997), 23–97.
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Diese Aufwertung der sächsischen Verteidigungsschrift war 1530 noch nicht abzusehen, denn der Kaiser ließ sie durch katholische Theologen begutachten, und die kritisierten sie so sehr in Grund und Boden, dass Karl V. ihre Gegenschrift zurückwies und eine abgemilderte Fassung verlangte. Erst diese wurde als »Confutatio« vor der Reichsversammlung verlesen20. Nun sollten die Theologen eine Verständigung erreichen. Melanchthon und der Ingolstädter Professor Johannes Eck, Luthergegner der ersten Stunde, diskutierten im kleinen Kreis auf hohem Niveau. Melanchthon meinte, Eck dazu gebracht zu haben, die Rechtfertigung allein aus Glauben, das für Katholiken so anstößige „Sola fide“, der Sache nach zuzugestehen21. Doch es ging nicht um die Theorie der Theologen, es fehlte bei vielen der politische Wille zur Verständigung. Im Reichstagsabschied wurden die Protestanten zur Unterwerfung innerhalb von sechs Monaten aufgefordert22. Diese reagierten auf einer Tagung im thüringischen Städtchen Schmalkalden, das zur Hälfte Hessen gehörte, mit dem Abschluss eines Verteidigungsbündnisses. Ulm und Biberach waren von Anfang an dabei23. Die mächtige Stadt Nürnberg, Unterzeichnerin des Augsburgischen Bekenntnisses schon auf dem Reichstag, hielt sich fern, weil sie jeglichen Widerstand gegen den Kaiser ablehnte24. In Ulm und Biberach wurden noch in diesem ereignisreichen Jahr 1531 die Messen verboten und die religiösen Bilder zerstört, die Pfarrer mussten ihre Frauen rechtskräftig heiraten, das Abendmahl wurde vollständig gereicht, die Gottesdienste waren schlichte Predigtversammlungen mit Liedern und Gebeten, wie das noch heute in der württembergischen Landeskirche üblich ist. Dies war die förmliche Einführung der Reformation. Was zuvor geschehen war, sind reformatorische Predigten und Maßnahmen. Dabei ging es sehr demokratisch zu, denn in Ulm wie in Biberach wurden die stimmberechtigten Bürger befragt und entschieden sich mit einer überwältigenden Mehrheit für die Reformation25. 20
Die Confutatio der Confessio Augustana vom 3. August 1530, hrsg. v. Herbert IMMENKÖTTER (Corpus Catholicorum 33, 1979). - DERS. Augsburger Bekenntnis II. Confutatio: TRE 4 (1979), 628–632. 21 MBW 1036. 22 Karl Eduard FÖRSTEMANN, Urkundenbuch zur Geschichte des Reichstages zu Augsburg im Jahr 1530, Bd. 2 (1835, Repr. 1966), 474–478. 23 Ekkehart FABIAN, Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes und seiner Verfassung (1962), 181. 24 Heinz SCHEIBLE, Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523-1546 (1969, 21982). 25 Die Einführung der Reformation in Ulm. Geschichte eines Bürgerentscheids. Vortragsveranstaltungen, Ausstellungskatalog und Beiträge zum 450. Jahrestag der Ulmer Reformationsabstimmung, hrsg. v. Hans Eugen Specker und Gebhard Weig (1981). - Biberach (wie Anm. 2), 268–271.
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Der Schmalkaldische Bund verhinderte die im Reichtagsabschied angedrohten Repressalien. Der Kaiser musste mit den Evangelischen zweimal Friedensschlüsse eingehen, 1532 in Nürnberg26 und 1539 in Frankfurt27. Die Reformation konnte sich ausbreiten, auch mit Waffengewalt. 1534 wurde der 1519 vertriebene Herzog Ulrich von Württemberg vom hessischen Landgrafen, einem dem beiden Bundeshauptleute, in sein habsburgisch besetztes Land zurückgeführt28. Weil der Papst weiterhin das geforderte und versprochene Konzil nicht einberief, griff der Kaiser zum Mittel der Religionsgespräche, um die Einheit der Kirche und damit den inneren Frieden des Reiches herzustellen29. Das wichtigste dieser Religionsgespräche wurde 1541 während des Regensburger Reichstags abgehalten. Der Kaiser war seit 1530 erstmals wieder persönlich anwesend. Wie wichtig ihm das Kolloquium war, lässt sich auch daran erkennen, dass dieser standesbewusste und zurückhaltende Monarch die zum Gespräch bestellten sechs Gelehrten persönlich empfing30. Es waren der uns von Augsburg her bekannte Johannes Eck31 und zwei Reformkatholiken, der Kölner Johannes Gropper32 und der Mainzer Julius von Pflug33. Die Evangelischen waren durch Philipp Melanchthon aus Kursachsen, durch Martin Bucer aus Straßburg34 und durch den Hessen Johannes Pistorius Niddanus35 vertreten. Gesprächsgrundlage war eine von Gropper entworfene und von anderen katholischen Theologen überarbeitete Glaubenslehre, das sogenannte Regensburger Buch36. Die Lutheraner konnten ihm nicht zustimmen, sondern verfassten Gegenartikel. Einzig das Verständnis der Rechtfertigung des Sünders vor Gott konnte in gemeinsamer Anstrengung so formuliert werden, dass alle sechs Kolloquenten
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Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe Bd. 10/1–3, hrsg. v. Rosemarie AULINGER (1992). 27 Albrecht Pius LUTTENBERGER, Glaubenseinheit und Reichsfriede (1982), 185–199. 28 Martin BRECHT und Hermann EHMER, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte (1984), 195 ff. 29 Irene DINGEL, Religionsgespräche IV. Altgläubig – protestantisch und innerprotestantisch: TRE 28 (1997), 654–681. 30 MBW 2678. 31 Erwin ISERLOH, Eck, Johannes (1486-1543): TRE 9 (1982), 249–258. 32 Reinhard BRAUNISCH,. Gropper, Johannes (1503-1559): TRE 14 (1985), 266–270. 33 Herbert IMMENKÖTTER Pflug, Julius von (1499-1564): TRE 26 (1996), 449–453. 34 Martin GRESCHAT, Martin Bucer (1990). 35 Hans-Jürgen GÜNTHER, Die Reformation und ihre Kinder. Vater und Sohn Johannes Pistorius Niddanus: Niddaer Geschichtsblätter 2 (1994), 1–239. 36 CR 4, 190-238 Nr. 2207; Georg P FEILSCHIFTER, Acta Reformationis Catholicae, Bd. 6 (1974), 21–88 Nr. 2. Die „Wormser Buch“ genannte Urfassung in: Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd. 9/1 (1995), 323–483.
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damit zufrieden waren37. Es ging darum, das, was den Katholiken und was den Evangelischen wichtig war, so auszudrücken, dass beide Seiten zustimmen konnten. Den Evangelischen geht es darum, dass die Gnade allein durch den Glauben, ohne sittliche Leistung des Menschen, erlangt wird, und dass man der Sündenvergebung gewiss sein darf. Diese Heilsgewissheit kann nur vorhanden sein, wenn keine menschliche Komponente mitwirkt. Den Katholiken geht es gerade um diese menschliche Komponente. Der Sünder empfindet Reue, und er muss durch die Rechtfertigung erneuert werden. Beide Anliegen lassen sich verbinden. Dies ist den Regensburger Kolloquenten gelungen. Betrachten wir ihren Kompromiss ein wenig genauer! In den vorangegangenen Gesprächen war man sich einig geworden, dass alle Menschen Sünder sind und nur durch den Mittler Jesus Christus erlöst werden können. Jetzt ging es darum, diese Erlösung vom Sündersein, die in der Fachsprache „Rechtfertigung“ genannt wird, so zu beschreiben, dass beide Teile ihre religiösen Anliegen wiederfinden konnten. Melanchthons Handschrift erkennen wir, wenn gesagt wird, dass die Wohltaten Christi dadurch erlangt werden, dass der Heilige Geist einen erwachsenen Menschen (die Kindertaufe lassen wir jetzt einmal außer Betracht) in die Buße führt und den Glauben an Gottes Verheißungen bewirkt. In diesem vom Heiligen Geist hervorgerufenen Vertrauen empfängt der Mensch den Heiligen Geist, die Vergebung der Sünden und die Anrechnung der Gerechtigkeit, alles als Geschenk ohne eigene Leistung. Von einer zu erbringenden Leistung, worunter der junge Mönch Luther so sehr gelitten hatte, sprachen 1541 auch die katholischen Kolloquenten nicht mehr. Ihr Begriff der Gnade, worunter in der Scholastik etwas dem Menschen Einwohnendes verstanden wird, ist bei Melanchthon ersetzt durch den Heiligen Geist, was nichts anderes meint, aber gegen das mögliche Missverständnis der Verfügbarkeit die Freiheit und Allwirksamkeit Gottes betont. Doch ganz ohne Absicherung konnten die katholischen Kolloquenten diese evangelische Rechtfertigungslehre nicht stehen lassen. Deshalb wird deutlich gemacht, dass der Glaube, von dem die Rede ist, ein lebendiger und wirkender Glaube ist. Damit ist die Sorge der Katholiken behoben, der rechtfertigende Glaube könne als bloßes Fürwahrhalten, als „fides historica“, verstanden werden, was nach Jakobus 2, 19 auch die Teufel haben. Der lebendige Glaube wird als Wirkung des Heiligen Geistes definiert, den man nur empfängt, wenn gleichzeitig die Liebe eingegossen wird, die den Willen heilt. Dieser geheilte Wille beginnt das Gesetz zu erfüllen. Das ist die katholische Komponente dieses Lehrkompromisses. Die Katholiken können eine nur in Gottes Urteil bestehende 37
Das Folgende nach Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Auseinandersetzung mit dem Reformkatholizismus (1989): Forschungsbeiträge (1996), 222–244.
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Rechtfertigung nicht akzeptieren, es muss auch etwas im Menschen geschehen. Der rechtfertigende Glaube wird in Anlehnung an Galater 5, 6 näher bestimmt als Glaube, der in der Liebe tätig ist. Das konnten und wollten auch die Reformatoren nicht bestreiten. Nur hängt für sie von der tätigen Liebe nicht die Rettung des Sünders ab. Ihnen geht es um die Heilsgewissheit. Diesem Anliegen entspricht der Regensburger Kompromiss, indem er fortfährt: Zwar hat der Gerechtfertigte die Gerechtigkeit auch einwohnend; dennoch verlässt sich die gläubige Seele nicht auf diese einwohnende Gerechtigkeit, sondern allein auf die geschenkte Gerechtigkeit Christi. So werden wir aus Glauben für gerecht gehalten. Der im Hinblick auf die eigene Gerechtigkeit entstehende Zweifel ist zu bekämpfen. Andererseits ist ein Wachsen in der Erneuerung zu erwarten, das auch Lohn empfängt, ein Gedanke, der auch Melanchthon nicht fremd ist. Abschließend wird sogar die Redeweise „sola fide, allein aus Glauben,“ erläutert und von den Katholiken akzeptiert. Die Regensburger Formel fand dennoch keinen Beifall, denn der aufrichtige Wille zum Kompromiss fehlte bei den Auftraggebern beider Seiten. Luther konnte zwar an dem von Melanchthon verantworteten Wortlaut nichts aussetzen, aber er nannte diesen Kompromiss eine „weitläufige und geflickte Notel, darin sie recht und wir auch recht haben“38. Die römische Kurie lehnte ihn rundweg ab39. Meine Damen und Herren, vielleicht ist ihnen selbst schon durch den Kopf gegangen, was ich jetzt aussprechen möchte: In langjährigen Gesprächen von katholischen und lutherischen Theologen ist eine „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ ausgearbeitet worden, die unlängst auch von der Synode der württembergischen Landeskirche gebilligt wurde, obwohl sie von zahlreichen Theologieprofessoren, auch aus der Tübinger Fakultät, abgelehnt worden ist. Professoren erliegen der Versuchung, ihre Erkenntnis für die einzig richtige zu halten, leichter als Parlamentarier (was auch Synodale sind), die täglich Kompromisse schließen oder Abstimmungsniederlagen einstecken müssen. Es ist unmöglich, das hat die Kirchengeschichte oftmals erwiesen, Glaubenswahrheiten so zu formulieren, dass niemand etwas daran aussetzen kann. Göttliche Wahrheiten in menschliche Worte zu fassen, kann nicht gelingen. Theologie ist immer auch zum Scheitern verurteilt. Wenn man dies weiß, muss man nicht auf letztem Rechthaben bestehen, sondern kann dem andern nachgeben, wenn man ein friedliches Miteinander wirklich will. Ich begrüße die gemeinsame Erklärung. Dennoch weiß ich, dass weiterhin so viele Unterschiede
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WAB 9, 407.15 Nr. 3616. JEDIN (wie Anm. 12), Bd. 1, 309–315.
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bestehen bleiben, dass eine Vereinigung der beiden Kirchen noch lange nicht im Bereich des Möglichen sein kann.
2. Das Augsburger Interim Kaiser Karl V. wollte die Einheit der Kirche so entschlossen wie vielleicht kein zweiter. Nachdem Konzil und Religionsgespräche nicht zum Ziele führten, suchte er eine militärische Lösung. Durch Friedensschlüsse mit Frankreich und den Türken hatte er nun endlich seine Kräfte für Deutschland frei. Nun sollte die Acht über die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes vollstreckt werden. Es gelang den Schmalkaldenern nicht, ihre anfängliche militärische Überlegenheit entschlossen zu nutzen. Als dann der evangelische, aber mit dem Kaiser verbündete Herzog Moritz von Sachsen40 in das ungeschützte Land seines an der Donau operierenden Verwandten Johann Friedrich einfiel, überließ dieser Schmalkaldische Bundeshauptmann seine oberdeutschen Verbündeten, insbesondere die Reichsstädte Augsburg, Ulm, Regensburg, Donauwörth, Schwäbisch Hall, Heilbronn, Biberach, Memmingen, Isny, Kempten, Konstanz, Straßburg und die Gebiete von Württemberg, Kurpfalz und Pfalz-Neuburg, der Willkür des Kaisers und seiner spanischen Truppen41. Zwei Ziele verfolgte der siegreiche Kaiser: Durch eine allgemeine Verfassungsreform wollte er seinen Einfluss auf die Reichsstädte vergrößern und mittels eines neu zu gründenden Bundes das Reich leichter regierbar machen, als dies über den Reichstag möglich war. Dies ist ihm insgesamt nicht gelungen. Aber er hat in einigen Reichsstädten, darunter Biberach, die Zunftverfassung beseitigt und das Patriziat in seine Rechte wieder eingesetzt42. Das andere Ziel war die Einheit der Kirche. Zwar hatte Papst Paul III. endlich das seit langem erwartete Konzil einberufen, und es hatte auch wichtige Entscheidungen über die Rechtfertigungslehre getroffen, sich dann aber wegen des Krieges aufgelöst43. Die Evangelischen waren nicht beteiligt gewesen. Sie zur bedingungslosen Annahme der Beschlüsse zu zwingen, schien unmöglich. Also ließ der Kaiser in Fortsetzung der Religionsgespräche ein Unionsdokument ausarbeiten, dem beide Religionsparteien zustimmen sollten. Die Geltung sollte bis zu einem wirklich
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Günther W ARTENBERG, Moritz von Sachsen (1521-1553): TRE 23 (1994), 302–311. Georg MENTZ, Johann Friedrich der Grossmütige 1503-1554, Bd. 3 (1908), 52–66. - PKMS 3 (1978), 16–19. 42 Horst RABE, Reichsbund und Interim (1971). - Biberach (wie Anm. 2), 32–35. 43 JEDIN (wie Anm. 12) Bd. 2. 41
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ökumenischen Konzil befristet sein; daher der Name Interim44. Die Grundlage bildete eine Abhandlung des Reformkatholiken Julius von Pflug, der nun Bischof von Naumburg-Zeitz war. Auf dem nach Augsburg zum 1. September 1547 einberufenen Reichstag wurde Pflugs Entwurf von einer Kommission überarbeitet, wobei die spanischen Hoftheologen dafür sorgten, dass von den Kompromissen des Regensburger Religionsgesprächs nichts übrigblieb. Das Augsburger Interim lehrt in katholischer Weise von der Rechtfertigung und von der Kirche, von den Bischöfen und vom Papst. Es macht alle sieben Sakramente verbindlich. Die Messe wird als ein Opfer verstanden. Die Heiligen gelten als Fürsprecher bei Gott und sollen angerufen werden. Die äußeren Zeremonien sind reichhaltig. Die einzigen Zugeständnisse, die den Evangelischen bis zum Konzil gemacht werden, sind der Laienkelch und die Duldung bereits bestehender Ehen der Priester. Gedacht war das Ganze als Kompromiss zur Überbrückung der Kirchenspaltung in Deutschland. Zwei seiner vermeintlichen Bundesgenossen verweigerten dem Kaiser hierbei die Gefolgschaft. Die Bischöfe und die übrigen katholischen Reichsstände erklärten, bei ihrem katholischen Glauben bleiben zu wollen. Damit wurde das Interim entgegen der ursprünglichen Absicht des Kaisers ein Sondergesetz für die Protestanten. Ihnen wurde es durch den Reichstagsabschied des 30. Juni 1548 auferlegt. Die meisten konnten sich der Zustimmung nicht entziehen, jedenfalls wenn sie in der Reichweite der kaiserlichen Truppen waren. Der einzige Reichsfürst, der sich schon bei den Beratungen des Reichstags verweigerte, war Karls Bundesgenosse Moritz von Sachsen. Er war für seinen entscheidenden Kriegseinsatz mit der sächsischen Kurwürde belohnt worden. Dass er seinen lutherischen Untertanen nach dem Angriff auf den verwandten Hauptfürsten der Reformation nicht auch noch einen religiösen Verrat zumuten konnte, war dem klugen Politiker klar. Er hatte Melanchthon in seinen Dienst genommen und gab ihm nun die Gelegenheit, das Interim frühzeitig, nämlich sechs Wochen vor der Beratung durch den Reichtag, zu begutachten. Damals galt es noch als Kompromiss für beide Parteien. Nicht einmal unter dieser Annahme konnte ihm Melanchthon zustimmen45. Er sah sogleich, dass der Regensburger Kompromiss keine Beachtung gefunden hatte46. Die Rechtfertigungslehre war ganz katholisch formuliert. Am 16. Juni 1548, also zwei Wochen vor der Verabschiedung durch den Reichstag, verfassten Melanchthon und die übrigen Wittenberger 44
Joachim MEHLHAUSEN, Interim: TRE 16 (1987), 230–237. - Das Augsburger Interim von 1548, hrsg. v. Joachim MEHLHAUSEN (1970, 21996). 45 Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Brief an Carlowitz (1966): Forschungsbeiträge (1996), 304–332. 46 MBW 5105.
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Theologen ein kritisches Gutachten über das Interim47, und kurz nach dem Reichstag trafen sich die kursächsischen Superintendenten in Meißen, für die Melanchthon ein noch umfangreicheres negatives Gutachten verfasste48. Beide wurden alsbald gedruckt und lieferten die Argumente für die Ablehnung des Interims aus theologischen Gründen. Wir können sie hier nicht alle ausbreiten. Entscheidend für Melanchthon und die anderen sächsischen Theologen war die Rechtfertigungslehre. Sie verkannten aber auch nicht, welch verheerende Folgen die Wiedereinführung von Kirchenbräuchen, die als abgöttisch beseitigt worden waren, im Volke haben würde. Nachdem die Bischöfe nicht bereit waren, das Interim als Einheitsform auch in den katholischen Gebieten einzuführen, war das Argument der Wiedervereinigung hinfällig. Wenn die Ungleichheit doch nicht beseitigt werde, könne man auch beim Bisherigen bleiben. Die Rechtfertigungslehre des Interims wird abgelehnt, weil hier die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, als Liebe verstanden wird, zwar als geschenkte Gerechtigkeit, aber doch als etwas im Menschen Vorhandenes, wogegen für die Wittenberger der Grund des Heils außerhalb des Menschen liegt, nämlich im Urteil Gottes, das im vertrauenden Glauben ergriffen wird. Das Interim hingegen versteht den Glauben als Wissen, mithin nur als Vorbereitung zur Gerechtigkeit. Die Regensburger Formel hatte beide Anliegen berücksichtigt, aber den Glauben an die erste und letztlich entscheidende Stelle gesetzt. Das Interim gibt der Liebe als eingegossener Gerechtigkeit den Vorrang. Deshalb war es für Melanchthon unannehmbar. Es gab (und gibt) aber reformatorische Theologen, die in Anlehnung an Augustin und den jungen Luther die Erneuerung enger mit der Rechtfertigung verbinden, als dies in Melanchthons Theologie der Fall ist. Die Fachsprache nennt diese beiden Ansichten die effektive und die forensische Rechtfertigungslehre. Die Vertreter einer effektiven Rechtfertigung konnten sich mit dem Interim leichter abfinden als die der forensischen. Anders stellte sich das Problem bei den gottesdienstlichen Formen. Wo die lutherische Messe üblich war, dies war in Franken, Sachsen und ganz Norddeutschland der Fall, fielen die liturgischen Bestimmungen des Interims nicht sehr ins Gewicht. Anders in den oberdeutschen Städten und in Württemberg, wo die Liturgie wie in der Schweiz im Anschluss an den mittelalterlichen Predigtgottesdienst gestaltet war. Hier war die Einführung der Interims-Liturgie ein völliger Bruch mit der bisherigen und konnte vom Volk nur als Abfall vom rechten Glauben verstanden werden.
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3. Die Reichsstände und das Interim Mit dem Votum der Meißner Versammlung vom Juli 1548 war für Kurfürst Moritz von Sachsen definitiv entschieden, dass das Interim nicht eingeführt werden könne. Doch war er bestrebt, mit den katholischen Bischöfen seines Landes, unter ihnen der reformwillige Julius von Pflug, zu einer Vereinbarung zu kommen. Auf mehreren Konferenzen wurde von kurfürstlichen Räten und den maßgeblichen sächsischen Theologen unter der Federführung Melanchthons ein Religionsgesetz ausgearbeitet, das an Weihnachten 1548 dem in Leipzig versammelten Landtag vorgelegt wurde49. In der konfessionellen Polemik wurde es das Leipziger Interim genannt, obwohl es in Form und Inhalt nichts mit dem kaiserlichen Interim des Augsburger Reichstags gemein hat. Der Landtag lehnte den Gesetzesentwurf ab. Nach weiteren Beratungen wurde schließlich ein »Auszug aus dem Beschluss des jüngst gehaltenen Landtags zu Leipzig« erlassen und im Herbst 1549 in die kursächsischen Ämter versandt50. Er verzichtet auf Lehraussagen und trifft nur Bestimmungen über Taufe, Katechismusunterricht, Beichte, Krankenseelsorge, Ehe, Messe, Kirchengewänder, Gesänge, Bilder, Feiertage, Fleischabstinenz, Kleidung der Geistlichkeit. Von der Polemik erhielt diese Verordnung den Namen „Kleines Interim“. Für das albertinische Sachsen, das erst ab 1539 konservativ reformiert worden war, brachten diese Bestimmungen wenig Änderung. In den von Moritz neu gewonnenen Gebieten jedoch wirkten sie sich einschneidender aus. Hinzu kam die Abneigung gegen den neuen Landesherrn, der als „Judas von Meißen“ in die Geschichte eingehen sollte, und die Anhänglichkeit an das ernestinische Fürstenhaus. Es gab vereinzelt Widerstände in der Pfarrerschaft, die mit Absetzungen geahndet wurden. Insgesamt jedoch wurde die Befolgung der neuen Vorschrift nicht streng kontrolliert51. In der Mark Brandenburg war die Situation nicht unähnlich. Kurfürst Joachim II., der 1539 die Reformation in sehr konservativer Gestalt eingeführt und zur Ausarbeitung des Interims seinen Hofprediger Johannes Agricola abgestellt hatte, ließ das Interim in Frankfurt an der Oder drucken und im Land verteilen, ohne jedoch seine Beachtung energisch durchzusetzen, denn wichtiger war ihm die Konformität mit Kursachsen. Da das Interim hier nicht eingeführt wurde, unterblieb dies auch in der Mark Brandenburg, obwohl es grundsätzlich angenommen war. Aber selbst
49
MBW 5387. MBW 5588. 51 Albert CHALYBAEUS, Die Durchführung des Leipziger Interims (Diss. phil. Leipzig 1905). - PKMS 4 (1992), 19 f. 50
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Agricola lehnte in seinen Predigten einzelne seiner Bestimmungen ab52. Kompromisslos abgelehnt wurde es von Joachims Bruder Hans von Küstrin in der Neumark, obwohl er im Krieg für den Kaiser gekämpft hatte53. Der dritte weltliche Kurfürst, Friedrich II. von der Pfalz, war durch seinen Anschluss an die Schmalkaldener kurz vor deren Katastrophe kompromittiert und musste sich dem Kaiser unterwerfen. An eine Ablehnung des Interims konnte er nicht denken, sondern musste auf die erst 1546 begonnene Reformation verzichten. In Heidelberg wurde wieder die Messe gelesen und die Fronleichnamsprozession veranstaltet. In der übrigen Rheinpfalz steckte die Reformation noch in den Anfängen. Die Rückkehr zum Gewohnten geschah problemlos54. In der Oberpfalz jedoch, wo sich schon früh eine reformatorische Volksbewegung gebildet hatte, die 1539 vom Kurfürsten anerkannt worden war, war der Widerstand stärker55. In Thüringen regierten die Söhne und Räte des gefangenen Kurfürsten Johann Friedrich die den Ernestinern verbliebenen Gebiete56. Ihr Vater war weit davon entfernt, sich Hafterleichterungen durch religiöse Zugeständnisse zu erkaufen, und billigte die Ablehnung des Interims durch seine Theologen und Landstände am 28. Juli und am 3. August 1548. Dass das ablehnende Gutachten und andere Streitschriften auch im Druck verbreitet wurden, hielt er jedoch für eine unnötige Provokation des Kaisers. Die dilatorische Kompromisspolitik Kursachsens verfolgte er mit wachem Interesse. Irgendeine kirchliche Veränderung wurde in Thüringen nicht durchgeführt. Repressalien erfolgten nicht, aber der alte Kurfürst blieb in Gefangenschaft57. Anders als sein sächsischer Mithauptmann hoffte Landgraf Philipp von Hessen, seiner Gefangenschaft durch Zustimmung zum Interim, das ihm erträglich schien, ledig zu werden. Er täuschte sich. Eine Anfang August 1548 nach Kassel einberufene Synode erklärte das Interim für unannehmbar. Auf Befehl des Landgrafen wurde es dennoch von den Räten publiziert. Sie waren aber der Meinung, es genüge, einige unbedenkliche Bestimmungen zu beachten, insbesondere die Fleischabstinenz als obrigkeitliche Anordnung, liturgische Gewänder, Kerzen und dergleichen. Dabei griff man auf eine eigene konservative Gottesdienstordnung zurück 52
Gustav KAWERAU, Johann Agricola von Eisleben (1881, Repr. 1977), 249–301. Joachim ROGGE, Agricola, Johann: TRE 2 (1978), 110–118. 53 EKO 3 (1909), 5. 54 EKO 14 (1969), 21. 55 EKO 13 (1966), 259–261. 56 Geschichte Thüringens, hrsg. v. Hans Patze und Walter Schlesinger, Bd. 3 (1967). Günther W ARTENBERG, Johann Friedrich von Sachsen (1503-1554): TRE 17 (1988), 97– 103. 57 MENTZ (wie Anm. 41), 276–295.
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und machte diese für das ganze Land verbindlich, um so den Anschein einer Beachtung des Interims zu erwecken. Dass es nur insoweit gültig sein sollte, als es nicht Gottes Wort widersprach, galt allgemein als selbstverständlich. Das Problem war immer nur, wo diese Grenze zu ziehen ist. In Hessen gab es keine einheitliche Liturgie. In Kassel befolgte man unter dem Einfluss des Straßburgers Bucer die schlichte oberdeutsche Form, in Marburg hatte der Superintendent Adam Krafft 1527 Luthers Deutsche Messe zum Vorbild genommen. Die Marburger Ordnung sollte nun für das ganze Land Geltung erhalten. Aber auch diese interne Lösung stieß bei den Betroffenen auf Widerstand, zumal auf der anderen Seite der Erzbischof von Mainz versuchte, unter dem Titel des Interims seine durch die Reformation verlorene geistliche Jurisdiktion wiederzugewinnen. Insgesamt hat sich Hessen dem Interim verweigert58. Bis Norddeutschland reichte die Macht des Kaisers nicht. Die evangelischen Städte und Fürstentümer konnten das Interim zum Teil förmlich ablehnen, jedenfalls nicht beachten, ihre Pastoren es gefahrlos verurteilen59. Von den welfischen Fürsten60 von Braunschweig-Lüneburg waren die drei Brüder Ernst („der Bekenner“) in Celle, Otto in Harburg und Franz in Gifhorn frühe Anhänger der Reformation. Ernst und Franz hatten schon 1530 die Confessio Augustana unterzeichnet. Ernst war 1546 gestorben, aber die vormundschaftliche Regierung seiner Söhne führte das Werk in seinem Sinne fort, und die Landstände lehnten am 7. Dezember 1548 das Interim ab61. Der katholische Heinrich von Wolfenbüttel war in sein durch den Schmalkaldischen Bund 1542 erobertes und der Reformation zugeführtes Fürstentum zurückgekehrt und setzte natürlich die alte Kirche in ihre Rechte ein62. Herzog Erich II. von Braunschweig-Calenberg kämpfte im Krieg für den Kaiser. Im Herbst 1549 kam er wieder in sein Fürstentum (mit den Städten Münden, Göttingen, Northeim, Hameln und Hannover), das während seiner Minderjährigkeit von seiner entschieden lutherischen Mutter Elisabeth, einer Schwester des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg, unter der Leitung des bedeutenden Antonius Corvinus sorgfältig reformiert worden war. Die Pfarrerschaft hatte das Interim abgelehnt. Der Herzog verlangte nun die strikte Beachtung. Wer sich nicht 58
Fritz HERRMANN, Das Interim in Hessen (1901). Wolf-Dieter HAUSCHILD, Zum Kampf gegen das Augsburger Interim in norddeutschen Hansestädten: ZKG 84 (1973), 60–81. - Karl SCHMALTZ, Kirchengeschichte Mecklenburgs, Bd. 2 (1936), 67–69. - Hellmuth HEYDEN, Kirchengeschichte Pommerns, Bd. 2 (1957), 6–9. 60 Inge MAGER, Hannover I. Kirchengeschichtlich: TRE 14 (1985), 428–438. 61 EKO 6/1 (1955), 486. - Werner SIEBARTH, Herzog Franz von BraunschweigLüneburg und seine Zeit (1953). - Ralf B USCH und Jens-Martin KRUSE, Die ehemalige herzogliche Bibliothek, Otto I. und Philipp Melanchthon (1997). 62 EKO 6/1 (1955), 4 f. 59
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fügte, wurde entlassen. Corvinus jedoch, die Seele des Widerstands, wurde am 2. November 1549 eingekerkert und kam trotz Krankheit und vieler Fürbitten erst nach drei Jahren wieder frei. Er starb schon am 5. April 155363. Kampfgenosse des Kaisers im Kriege war auch der fränkische Markgraf Albrecht von Brandenburg-Kulmbach gewesen. Sein Fürstentum war wie der andere Landesteil Ansbach durch seinen Onkel Georg den Frommen, Erstunterzeichner des Augsburger Bekenntnisses, in enger Zusammenarbeit mit der benachbarten Reichsstadt Nürnberg seit 20 und mehr Jahren lutherisch und mit einer vorbildlichen Kirchenordnung ausgestattet. Die gottesdienstlichen Formen, Liturgie, Gewänder, Elevation, Feiertage, waren konservativ. Albrecht (den man seiner mehrfachen Parteiwechsel wegen Alcibiades nennt) wollte im Fürstentum Kulmbach das Interim einführen, aber er scheiterte am Widerstand der Untertanen. Die alte Kirchenordnung blieb in Kraft. In Brandenburg-Ansbach, das vormundschaftlich regiert wurde, suchte man auf Rat des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg ähnlich wie in Kursachsen dem kaiserlichen Gesetz durch einen Zusatz zur Kirchenordnung zu genügen. Dieses „Auctuarium“ wurde am 2. November 1548 von einer Synode angenommen und dann ohne Widerstände eingeführt, aber nicht publiziert. Es regelt die Perikopen und Liturgie, immer mit dem Vorbehalt „so viel der heiligen Schrift gemäß“, wodurch dem Pfarrer jede Freiheit gegeben war, ferner die Festtage, Kleidung, Fleischessen. Die Einzelbeichte wird vor dem Sakramentsempfang obligatorisch. Nach dem Passauer Vertrag 1552 wurde das Auctuarium wieder abgeschafft. Lediglich die Messgewänder wurden erst 1714 allgemein verboten64. Nürnberg65 war in gleicher Weise lutherisch wie kaisertreu. Die Erstunterzeichnerin des Augsburgischen Bekenntnisses von 1530 hatte sich dem Schmalkaldischen Bund aus Gründen der politischen Ethik verweigert und war im Krieg neutral geblieben, hatte allerdings den Bund finanziell unterstützt. Als der Kaiser während des Krieges im März in die Stadt kam, verbot der Rat provozierende Lieder, Gebete und Predigten. Die seit 1533 gebräuchliche Kirchenordnung blieb aber in Kraft, und das Evangelium sollte ungeschmälert verkündigt werden. Der Wunsch des Kaisers nach einer Kirche für seinen Gottesdienst wurde nicht erfüllt; er musste die Messe auf seiner Burg, über die der Rat nicht zu bestimmen hatte, lesen 63
EKO 6/2 (1957), 702–705. - Paul T SCHACKERT, Antonius Corvinus (1900). - Martin STUPPERICH, Corvinus, Antonius (1501-1553): TRE 8 (1981), 216–218. - Herzog Erich II. von Braunschweig-Calenberg, 1528-1584: DBE 3 (1996), 148. 64 EKO 11 (1961), 325–331 mit 290–292. 65 Die genaueste Darstellung der Ereignisse bei Bernhard KLAUS, Veit Dietrich. Leben und Werk (1958), 249–304.
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lassen. Die beiden Hauptprediger der Stadt, Andreas Osiander und Veit Dietrich, wurden durch von den Kaiserlichen erbeutete Briefe belastet, blieben aber unbehelligt. Dietrich war seit langem schwer krank und konnte nur noch selten predigen. Dabei aber hielt er sich nicht an die Anweisungen des Rats, sondern nahm zu den Tagesereignissen Stellung. Nach vergeblichen Ermahnungen wurde er am 18. Juni 1547 mit einem Predigtverbot belegt. Es sollte auch seinem eigenen Schutz dienen. Als der siegreiche Kaiser im Juli erneut nach Nürnberg kam und als Herr der Stadt waltete, wurden anders als in den besiegten Städten des Schmalkaldischen Bundes weiterhin evangelische Gottesdienste gehalten. Ein Jahr lang hatte die Stadt Ruhe. Dann sollte das Interim angenommen werden. Der Rat verfolgte weiterhin seine sowohl kaisertreue als auch evangelische Politik. Durch Verhandlungen auf dem Reichstag suchte er das Interim abzuwenden. Dabei wollte er keine zusätzlichen Schwierigkeiten durch Indiskretion oder gar Polemik seiner Theologen. Am 13. Juni 1548 wurde Osiander ernstlich ersucht, auf der Kanzel nicht gegen das Interim zu polemisieren. Er antwortete mit der Androhung der Amtsniederlegung. Am 20. Juni beugte sich der Rat dem kaiserlichen Druck und nahm das Interim an. Dies bedeutete jedoch noch lange nicht seine Einführung. Auch hier versuchte man, sich mit erträglichen Ausführungsbestimmungen zu behelfen. Feiertage, Fleischabstinenz, Privatabsolution, Gesänge konnten auch Osiander und die anderen Prediger akzeptieren, sofern die evangelische Lehre erhalten bliebe. In Verbindung mit der Annahme des Interims seien aber auch diese tolerablen Stücke abzulehnen. Der Rat ordnete sie dennoch an. Osiander predigte seit August immer heftiger gegen das Interim. Am 6. November reichte er seinen Abschied ein und verließ vor dem 22. die Stadt66. Die anderen Prediger erwogen zum Teil dasselbe, blieben außer einem aber dann doch, denn sie konnten unbehindert das Evangelium predigen. Die Gottesdienstordnung, die am 11. November eingeführt wurde, war von Ansbach übernommen. Sie entsprach der gemeinsamen Kirchenordnung von 1533 und der davon abgeleiteten kurbrandenburgischen von 1540 sowie dem ansbachischen Auctuarium. Der römische Messkanon mit dem Opfergedanken war darin nicht enthalten. Melanchthon hat den Prediger an Heilig Geist Hieronymus Besold, seinen ehemaligen Schüler, in seinem Entschluss, unter diesen Bedingungen in seinem Amt zu bleiben, bestärkt67. Veit Dietrich war nicht mehr handlungsfähig und ist am 25. März 1549 gestorben. Die Reichstadt Regensburg, die in ihren Mauern mit zwei katholischen Reichsständen, dem Bischof und dem Kloster St. Emmeram, auskommen 66
Osiander-GA 8 (1990). - Gottfried SEEBASS, Osiander, Andreas (1496-1552): TRE 25 (1995), 507–515. 67 MBW 5367. - MBW 11 (2003), 149 f.
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musste und von bayerischem Gebiet eingeschlossen war, musste das Interim am 26. Juni 1548, noch vor Ende des Reichstags, annehmen. Spontan verließen fast alle evangelischen Prediger die Stadt.68 In Schwäbisch Hall wirkte seit 1522 Johannes Brenz, der bedeutendste Reformator lutherischer Prägung in ganz Süddeutschland, der auch überregional und auf Reichsebene gefragt war, zuletzt 1546 beim zweiten Regensburger Religionsgespräch. Nachdem der Kaiser am 16. Dezember in der Reichsstadt am Kocher eingerückt war, wurden in der Wohnung des Predigers belastende Schriften gefunden. Brenz musste fliehen, konnte aber bald in sein Amt zurückkehren. Im Juni 1548 schrieb er für seinen Stadtrat ein Gutachten über das Interim, das bald auch gedruckt wurde. Er lehnte es wie fast alle evangelischen Gutachter ab, fand aber dessen Rechtfertigungsartikel im Gegensatz zu Melanchthon, der gerade hier den Hauptanstoß sah, für tolerabel. Schon am 23. Juni 1548, also noch vor der Verabschiedung des Gesetzes, sollte er verhaftet werden. Von Freunden gewarnt, konnte er in letzter Minute fliehen und musste sich zwei Jahre lang verborgen halten. Nach Hall, wo unter dem Druck spanischer Truppen das Interim eingeführt und seine standhaften Amtsbrüder vertrieben wurden, ist er nicht mehr zurückgekehrt, sondern trat in württembergische Dienste69. Unter den Städten des Schmalkaldischen Bundes zeichnete sich Straßburg durch überragende Politiker und Theologen aus, allen voran der Stettmeister Jakob Sturm und Martin Bucer, der allzeit gesprächsbereite Reformator und Vermittler. Seine Mitarbeit am Interim war wünschenswert. Am 30. März 1548 kam er nach Augsburg und erhielt so früh wie Melanchthon in Sachsen Einblick in den Entwurf. Wie dieser war er zunächst aufgeschlossen, musste bei näherer Betrachtung aber seine Zustimmung versagen. Nun wurde er in Beugehaft genommen. Nach acht Tagen, am 20. April, setzte er seinen Namen unter das Papier und durfte abreisen. Am 15. Mai wurde das Gesetz dem Reichstag unterbreitet. Jakob Sturm, der in Augsburg seine Stadt vertrat, bestellte in Straßburg ein Gutachten. Weil das Interim nur noch für die Evangelischen gelten sollte, war auch für Bucer eine neue Situation gegeben. Er lehnte das Interim ab. Das Votum der Theologen wurde in Straßburg am 3. Juni von den Kanzeln verlesen. Schon damals artikulierte sich in der Stadt Kritik an Bucers Kompromisslosigkeit. Sofort antwortete er mit einer Druckschrift. Sturm in Augsburg verweigerte im Gefolge Bucers die Annahme des Interims trotz starker Pressionen bis zuletzt. Doch zu Hause erwarteten ihn 68
EKO 13 (1966), 374 f. Martin BRECHT, Brenz, Johannes (1499-1570): TRE 7 (1981), 170–181. Für die Einzelheiten immer noch unentbehrlich: Julius HARTMANN und Karl J ÄGER, Johann Brenz, Bd. 2 (1842), 151–193, sowie Th. P RESSEL Anecdota Brentiana (1868). 69
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schwerste Spannungen. Die Stadt war gespalten. Die Prediger ermahnten das Volk zur Standhaftigkeit und zum Leiden für das Evangelium, aber vom Kaiser war das Schlimmste zu befürchten. Schon brachten reiche Leute sich und ihr Vermögen in Sicherheit. Da gelang Sturm ein politisches Meisterstück. Er überzeugte seine Mitbürger, dass bewaffneter Widerstand gegen den Kaiser in eine Katastrophe führen würde. Andererseits war das Interim unannehmbar. Der Kompromiss bestand darin, dass der Bischof die Kathedrale und andere Kirchen zurück erhalten solle, damit er das Interim einführen könne. Dafür sollten den Evangelischen einige Kirchen für ihre Gottesdienste bleiben. Hierfür gewann Sturm die Mehrheit der Stadtgemeinde. Bis dies alles mit dem Kaiserhof und dem Bischof ausgehandelt war, verging viel Zeit, und dann wurde Anfang 1550 als Übergabetermin vereinbart. Caspar Hedio räumte seine Münsterkanzel und sammelte seine Gemeinde in der Dominikanerkirche. Auch Jung St. Peter und Alt St. Peter wurden katholisch, aber die Pfarreien St. Thomas, Aurelien, St. Nikolaus und die der Wilhelmerkirche blieben evangelisch. Bucer hatte sich der Politik des Rates widersetzt. Zusammen mit seinem Amtsbruder Paul Fagius wurde er am 1. März 1549 entlassen. Beide nahmen einen Ruf an die Universität Cambridge an70. Augsburg, wo der Kaiser seinen Geharnischten Reichstag abhielt und seinem Willen mit spanischen Truppen Nachdruck verleihen konnte, musste das Interim am 26. Juni 1548 annehmen. Unverzüglich legte Wolfgang Musculus71, der gelehrteste Theologe der Stadt, sein Predigtamt nieder und ging ins Exil. Als am 28. Juli der Chorrock obligatorisch wurde, ging ein weiterer. Die anderen Prediger blieben und ließen sich unter Vorbehalt auf das Interim verpflichten. Dies hinderte sie nicht, weiterhin evangelisch zu predigen und sogar das Interim anzugreifen. Die Messen wurden von neu angestellten Interimspriestern gelesen und waren schlecht besucht. Erst als der Kaiser 1551 zu einem weiteren Reichstag in die Stadt kam, ließ er die nach wie vor tätigen evangelischen Prediger vertreiben. Durch ihren Pragmatismus hatten sie drei Jahre lang ihre Gemeinden betreuen können72. In Ulm wurde das Interim von den Predigern unter der Leitung des Martin Frecht abgelehnt. Hier ließ der Kaiser ein Exempel statuieren. Am 16. August 1548 wurden Frecht und drei andere Prediger sowie sein 70
Erdmann W EYRAUCH, Konfessionelle Krise und soziale Stabilität. Das Interim in Straßburg (1548-1562) (1978). - Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd. 17 (1981). Martin GRESCHAT, Martin Bucer (1990). - Thomas B RADY, Zwischen Gott und Mammon (1996). 71 Wolfgang Musculus (1497-1563) und die oberdeutsche Reformation, hrsg. v. Rudolf Dellsperger, Rudolf Freudenberger, Wolfgang Weber (1997). 72 Friedrich ROTH, Augsburgs Reformationsgeschichte, Bd. 4 (1911). - EKO 12 (1963), 28.
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Bruder verhaftet und in Ketten nach Kirchheim unter Teck geführt. Am 24. Dezember war die Beugehaft erfolgreich: sie unterzeichneten. Dennoch wurden sie erst am 3. März 1549 freigelassen. Frecht blieb zeitlebens aus Ulm verbannt Er trat später in württembergische Dienste73. Konstanz war die einzige der süddeutschen Reichsstädte, die sich dem Kaiser nicht unterwarf. Im Oktober 1548 musste sie sich bedingungslos ergeben und wurde zur österreichischen Landstadt degradiert74. Die kleineren Reichsstädte hatten keinerlei Möglichkeit, sich dem Kaiser zu widersetzen, versuchten aber, jede auf ihre Weise, das Interim zu modifizieren75. Herzog Ulrich von Württemberg konnte ebenfalls keinen Widerstand gegen die Wünsche des Kaisers wagen. Durch seine Teilnahme am Schmalkaldischen Krieg hatte er seine besonderen Vasallenpflichten, die ihm als Preis für seine Wiedereinsetzng 1534 auferlegt waren, verletzt. Am 8. Januar 1547 unterwarf er sich bedingungslos und bekam eine starke spanische Besatzung ins Land. Allmählich kehrten die enteigneten Mönche zurück und nahmen ihre Klöster wieder in Besitz. Aber sonst blieb die Religion zunächst unverändert. Dies sollte sich mit dem Interim ändern. Herzog Ulrich ordnete es am 22. Juli 1548 an, ohne die Einhaltung zu überwachen. Doch auf kaiserlichen Befehl mussten ab 13. November überall Messen gelesen werden. Die überwältigende Mehrheit der württembergischen Pfarrer, schätzungsweise 400, verweigerte den Gehorsam. Sie wurden alle abgesetzt, auch wenn kein interims-williger Ersatz zur Stelle war und die Gemeinde unversorgt blieb. Die bekannteren suchten anderswo ein Unterkommen. Aber viele blieben im Land und brachten sich als Lehrer oder Handwerker durch. Da der Herzog weiterhin Regent blieb, konnte er mit Hilfe zuverlässiger Räte und Theologen die Kirchenorganisation notdürftig aufrechterhalten. Den amtsenthobenen Pfarrern wurde nach Kräften geholfen. Nicht wenige konnten als Katecheten in ihrer Gemeinde tätig sein. Auf diese Weise wurde die Zeit des Interims überbrückt76.
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Werner-Ulrich DEETJEN, Licentiat Martin Frecht, Professor und Prädikant (14941556). In: Die Einführung der Reformation in Ulm (wie Anm. 25), 269-321. - DERS., Frecht, Martin (1494-1556): TRE 11 (1983), 482–484. 74 Wolfgang DOBRAS in: Martin B URKHARDT u. a., Konstanz in der frühen Neuzeit (1991), 130–146. 75 Gustav B OSSERT, Das Interim in Württemberg (1895). - B RECHT und EHMER (wie Anm. 28), 299–304. - Paul W ARMBRUNN, Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648 (1983). 76 B OSSERT (wie Anm. 75). - Hermann EHMER, Valentin Vannius (1976), 91–123. BRECHT und EHMER (wie Anm. 28), 294–299.
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Auch der Rat der Reichsstadt Frankfurt am Main musste das Interim annehmen. Im Verlauf der wie überall folgenden inneren Auseinandersetzungen wurde Melanchthon um ein Gutachten gebeten, das er am 19. Januar 1549, als in Kursachsen die Entscheidung gegen das Interim schon gefallen war, erstellte. Er verwendete es für ähnliche Anfragen aus Nürnberg, der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach und der Grafschaft Mansfeld. Dadurch fand es in Abschriften weite Verbreitung. Nirgendwo ist Melanchthons Auffassung von Bekenntnis und Nachgeben klarer dargelegt. Er rief nicht aus sicherem Port zu Heldentum auf, sondern riet zu sittlich verantwortbarem, aber pragmatischem Handeln. Grundsätzlich wollte er keine Änderungen, das ist klar, und in Sachsen ist dies weitgehend gelungen. Aber wichtiger als starres Bekennertum war ihm die Erhaltung der evangelischen Gemeinden. Er unterscheidet zwischen dem persönlichen Bekenntnis jedes Einzelnen und einem Rat für die Schwachen. Der Märtyrer Laurentius ist das Vorbild für die Starken, die dennoch umfallen können wie der Jünger Petrus. Melanchthon wollte aber seinen Rat den Schwachen geben. Er lautet: Wenn die Obrigkeiten die Pastoren ersuchen, unanstößige Riten – sogenannte Adiaphora – wieder einzuführen, um dadurch weiteren Forderungen zu entgehen und den Gemeinden Verwirrung zu ersparen, so solle man nachgeben. Eine härtere Haltung dürfe nicht zu Lasten der anderen gehen. Bekenntnis und Leiden seien zu fordern, wenn es um die Wahrheit gehe, bei der Messe und beim Heiligenkult, aber nicht bei Nebensächlichem wie Gesängen, Festen, Kleidern. Und dass jemand durch verbotenes Fleischessen die Hinrichtung riskierte, wie in der Nähe von Basel geschehen, verstehe er nicht. Er sei schon immer für eine einheitliche Liturgie eingetreten und bedauere die Abschaffung nützlicher Bräuche. Den Einwand, die Gegner würden bestärkt und dies sei ein Ärgernis, lässt er nicht gelten. Knechtschaft ertragen, um das Evangelium zu erhalten, ist seines Erachtens besser als aus Hochmut die Gemeinden verlassen. Die christliche Freiheit sei schon reichlich missbraucht worden. Wenn richtig gelehrt werde, könne sie nicht verloren gehen, denn sie bestehe nicht in Speisen, Kleidung und anderen gleichgültigen Äußerlichkeiten, sondern in wahrem Glauben, Gebet, Liebe, Hoffnung, Geduld, Bekenntnis zur Wahrheit, Keuschheit, Gerechtigkeit gegen den Nächsten und allen anderen Tugenden77. Melanchthons pragmatische Einstellung blieb nicht unwidersprochen. Begabtester und erfolgreichster Publizist der Gegenposition war der 28jährige Wittenberger Kollege Matthias Flacius Illyricus78. Er war nach dem Krieg zunächst wie Melanchthon auf seine alte Stelle an der Universität unter dem neuen Landesherrn Moritz zurückgekehrt, hatte auch gegen das 77 78
MBW 5409. MBW 12 (2005), 66–69.
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Augsburger Interim unter Pseudonymen drei Flugschriften publiziert und dafür gesorgt, dass das Gutachten der Wittenberger vom 16. Juni 1548 als erste Kritik des Interims gedruckt wurde. Doch die von Melanchthon mitgetragene Vermittlungspolitik Kursachsens schien ihm unverantwortlich. Da seine Warnungen unbeachtet blieben, verließ er Ende März 1549 seine Wittenberger Professur und begab sich nach Magdeburg. Diese Bischofsstadt, die sich so selbstherrlich wie eine Reichsstadt verhielt, hatte im Schmalkaldischen Krieg und danach vielen Exulanten Zuflucht geboten und war entschlossen, das Interim nicht einzuführen. Dass sie sich in der Reichsacht befand, hatte zunächst keine Folgen; die Kampfhandlungen begannen erst im September 155079. Im April 1549 publizierte Flacius seine erste Schrift gegen Melanchthon, und er hörte damit nicht auf, als das Interim durch den Passauer Vertrag 1552 und den Augsburger Religionsfrieden längst nicht mehr aktuell war, denn ihm ging es um’s Prinzip. Er bestritt nicht, dass das weiße Chorhemd, Feiertage, Fasten, viele Fragen der Liturgie und der Kirchenverfassung unterschiedlich geregelt werden können, Adiaphora sind. Er vertrat aber die Auffassung, dass in einer Situation des Zwanges und der Verfolgung, wo es auf das Bekenntnis ankommt, jeder an sich gleichgültigen Handlung der Charakter des Bekenntnisses oder der Verleugnung eigne, dass es dann überhaupt keine Adiaphora mehr gebe. Ein Kleidungsstück des Predigers oder das Läuten einer Glocke könne dann zum Symbol der Verleugnung werden. Melanchthon sah die Gefahr der Missdeutung durch das Volk durchaus, aber wichtiger als die Kleidung des Predigers war ihm das, was er sagte, und damit er es sagen durfte, konnte er Zugeständnisse machen. Die Grenze blieb aber auch für Melanchthon immer die Wahrheit der Lehre80.
*** Meine Damen und Herren. Wie das Biberacher Simultaneum nach 450 Jahren immer noch lebendig ist und den Alltag einer Stadt und ihrer Christen bestimmt, so sind die kirchenpolitischen Entscheidungen, die damals zu treffen waren, keine tote Historie, sondern illustrieren ein ethisches Problem, vor das wir immer wieder gestellt sind, im Großen wie im Kleinen, im familiären Bereich, in der Kommune, national und international. Die Welt lebt von Kompromissen, weil sie nur durch Kompromisse überleben kann. Wir sehen dies täglich, unblutig bei Tarifstreitig79
PKMS 4 (1992), 30–32. Joachim MEHLHAUSEN, Der Streit um die Adiaphora. In: Bekenntnis und Einheit der Kirche, hrsg. v. Martin Brecht und Reinhard Schwarz (1980), 105–128. 80
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keiten, lebensbedrohlich im Kampf der ethnischen und religiösen Gruppen. Kompromisse müssen aber beiden Teilen ihre Existenz lassen, sonst verdienen sie den Namen nicht. Je sicherer man sich im Kern der eigenen Sache ist, desto eher kann man in Randbereichen nachgeben. Melanchthon hat niemals etwas Wesentliches seines evangelischen Glaubens aufgegeben, und er konnte sehr hart sein. Dennoch gilt er als weich. Radikale wie Flacius finden leichter die Sympathie der Historiographen. Vergessen wir darüber nicht den namenlosen Pfarrer oder Stadtrat, der für das psychische und manchmal auch physische Überleben seiner Mitmenschen zu sorgen hatte.
Der Catalogus testium veritatis: Flacius als Schüler Melanchthons Matthias Flacius Illyricus, 1520 als Untertan der Republik Venedig in Albona, heute Labin, in Istrien geboren, gilt als einer der Großen in der Geschichte der Historiographie. Je knapper ein Lexikonartikel ist, umso stärker wird dies betont1. Aber auch in der Theologischen Realenzyklopädie werden als Vertreter der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung der Frühen Neuzeit nur die Magdeburger Zenturien, denen 34 Zeilen eingeräumt werden, und Gottfried Arnold gewürdigt2. Dies lässt sich mit einer formalistischen Verwendung des Begriffs „Kirchengeschichtsschreibung“ erklären. Hilfreicher ist das Stichwort „Geschichte/Geschichtsschreibung“, worunter Gustav Adolf Benrath deutlich gemacht hat, wie Flacius auf Luther und Melanchthon aufbauen konnte3. Nachdem der Catalogus zuletzt zweimal und unabhängig voneinander durch Allgemeinhistoriker untersucht wurde4, dürfte es nicht überflüssig sein, das geschichtstheologische Anliegen des Illyricus fachgerecht zu analysieren und an seine Herkunft zu erinnern. Wenn ich diese kleine Studie, die am 11. Dezember 1992 im mediävistischen Arbeitskreis der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vorgetragen wurde, in der Festgabe für Gustav Adolf Benrath publiziere, so kehre ich damit zu unseren gemeinsamen wissenschaftlichen Anfängen zurück. Heinrich Bornkamm hat nämlich jeden von uns gleichaltrigen Studienfreunden zu einer Dissertation über Themen aus der Geschichte der Kirchengeschichtsschreibung ermuntert5,
1
Zuletzt Peter F. B ARTON, Flacius: LThK3 3 (1995), 1312 f („der erste neuzeitl. Kirchenhistoriker“). - DBE 3 (1996), 334 („Begründer der konfessionellen Geschichtsschreibung des Luthertums“). - Oliver K. OLSON, Flacius Illyricus: EncRef 2 (1996), 110 f („the father of church history“). 2 Eckehart STÖVE, Kirchengeschichtsschreibung: TRE 18 (1989), 535–560, bes. 541. 3 TRE 12 (1984), 630–643, bes. 631 f. 4 Christina Beatrice Melanie FRANK, Untersuchungen zum Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus (Diss. phil. Tübingen 1990). - Thomas HAYE, Der Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus – eine Einführung in die Literatur des Mittelalters?: ARG 83 (1992), 31–48. 5 Gustav Adolf BENRATH, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung an der Universität Heidelberg im 16. und 17. Jahrhundert (1963). - Heinz SCHEIBLE, Der Plan der Mag-
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wobei ich die handschriftlichen Quellen zu den Magdeburger Zenturien aus Wolfenbüttel zu bearbeiten hatte. Die beiden Werke, die den Ruhm des Flacius als Geschichtsschreiber begründen, tragen auf dem Titelblatt nicht seinen Namen als Verfasser. Wo und in welcher Weise er genannt wird, verlangt deshalb eine genaue Betrachtung. Die monumentale Historia Ecclesiastica, gemeinhin als Magdeburger Zenturien bekannt, ist laut Titelblatt per aliquot studiosos et pios viros verfasst. Dass sie als ein Gemeinschaftswerk zu gelten hat, ist unbestritten. Die Vorreden sind immer von mehreren Namen unterzeichnet. In den Bänden 1 (1559) bis 12 (1569) wird Flacius an erster Stelle genannt. In der 13. Zenturie, die als letzte 1574 erschien, unterblieb die Nennung, nicht weil Flacius nicht mehr mitgearbeitet hätte – das tat er seit Jahren nicht mehr –, sondern weil er auch nach Ansicht seiner ehemaligen Freunde zum Häretiker geworden war. Wie viel er überhaupt zu der Darstellung beigetragen hat, ist hier und heute nicht zu untersuchen6. Der Catalogus testium veritatis, der erstmals 1556 bei Johannes Oporinus in Basel erschienen ist, gilt jedoch als seine persönliche Leistung, sowohl was die Sammlung des Stoffes als auch – und dies ganz besonders –, was die Konzeption betrifft. In der Vorrede zur erweiterten Ausgabe 1562 schreibt Flacius, er habe unter erheblichem Einsatz von Kraft, Zeit und Geld und unter persönlichen Gefahren die Quellen aus den Bibliotheken zusammengetragen7. Der Inhalt dieses schon in der ersten Auflage über 1000 Seiten starken Buches kann in einem kurzen Beitrag nicht untersucht werden, sondern ich muss mich auf die Darstellung des Grundsätzlichen beschränken. Das Titelblatt eines Buches kann viel aussagen. In dem zur Untersuchung stehenden Fall lautet es: Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem reclamarunt Papae. Dann kommt ein Werbetext: Opus varia rerum, hoc praesertim tempore scitu dignissimarum, cognitione refertum, ac lectu cum primis utile atque necessarium. Nun wird der Name des Illyricus erwähnt: Cum Praefatione Mathiae Flacii Illyrici, qua Operis huius et ratio et usus exponitur. Es folgen zwei Bibelstellen, durch die der Grundgedanke des Buches erläutert wird: 3. Reg. 19. Rom. 11. Reliqua mihi ipsi feci septem millia virorum, qui non incurvarunt genu imagini Baal.
deburger Zenturien und ihre ungedruckte Reformationsgeschichte (Diss. theol. Heidelberg 1960). 6 Heinz SCHEIBLE, Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode (1966). 7 Zitiert bei HAYE (wie Anm. 4), 31 f.
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Die Geschichte vom Propheten Elia, der meint, er, der von der Königin Isebel Verfolgte, sei als einziger der glaubenstreuen Israeliten übriggeblieben, und von Gott gesagt bekommt, er werde Siebentausend übriglassen, die ihre Knie vor Baal nicht gebeugt haben, wird von Paulus im Römerbrief Kapitel 11 aufgenommen und auf die Gegenwart bezogen: Oder wisset Ihr nicht, was die Schrift saget von Elia? wie er tritt vor Gott wider Israel und spricht: Herr, sie haben deine Propheten getötet und haben deine Altäre ausgegraben, und ich bin allein überblieben, und sie stehen mir nach meinem Leben. Aber was sagt ihm die göttliche Antwort? Ich hab mir lassen überbleiben siebentausend Mann, die nicht haben ihre Knie gebeuget vor dem Baal. Also gehet auch itzt zu dieser Zeit mit diesen Verbliebenen nach der Wahl der Gnaden.
Diese biblische Geschichte ist für Flacius von zentraler existenzieller Bedeutung. Sein Onkel Baldo Lupetina, ein Franziskanerprovinzial, wurde wegen seiner Kirchenkritik jahrelang in Venedig eingekerkert und starb im Gefängnis. Auf seinen Rat ging der junge Humanist nach Deutschland, wo ihm in Wittenberg durch Luther als Seelsorger die evangelische Rechtfertigungslehre in einer Weise nahegebracht wurde, dass er darin die Mitte und den tragenden Grund seines Lebens fand8. Kein Jota würde er hinfort davon preisgeben. Auch Melanchthon wurde auf den hochbegabten Studenten aufmerksam und förderte ihn so sehr, dass er noch vor der Promotion zum Magister artium einen besoldeten Lehrauftrag für Hebräisch in der Artistenfakultät übertragen bekam9. Seine erste wissenschaftliche Publikation, eine Erläuterung des Begriffs ,Glauben‘ und anderer theologischer Begriffe aus dem Hebräischen des Alten Testaments, wurde durch eine Vorrede Melanchthons an den Erzbischof von Canterbury ausgezeichnet10. Übrigens hat Flacius in der Neuauflage 1555 den Text dieser Vorrede eigenmächtig verändert und dabei ein massives Lob seiner selbst eingebaut als Worte Melanchthons, mit dem er sich inzwischen völlig überworfen hatte. Die Wittenberger haben dies nicht bemerkt und diese von Flacius erweiterte Vorrede in die Werkausgabe Melanchthons aufgenommen. Erst Rudolf Keller hat 1984 den Sachverhalt aufgeklärt11. Die ursprüngliche Fassung datiert vom 1. März 1549. Wenig später verließ Flacius seine Wittenberger Professur, auf die er nach dem Schmalkaldischen Krieg zurückgekehrt war, und begab sich nach Magdeburg. Er konnte nicht länger dazu schweigen, wie Melanchthon und die Witten8
Wilhelm PREGER, Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit, Bd. 1 (1859, Repr. 1964), 20–23. 9 Walter FRIEDENSBURG, Die Anstellung des Flacius Illyricus an der Universität Wittenberg: ARG 11 (1914), 302–309. 10 MBW 5466. 11 Rudolf KELLER, Der Schlüssel zur Schrift. Die Lehre vom Wort Gottes bei Matthias Flacius Illyricus (1984), 101–103 und 114 f.
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berger Theologen ihre Obrigkeit, den Kurfürsten Moritz von Sachsen und dessen Räte, berieten und deren Politik gegenüber dem Augsburger Interim mit trugen. Melanchthon hatte durch seine Gutachten verhindert, dass Kursachsen das Interim annahm, und durch Briefe und die geduldete Publikation seiner wichtigsten Gutachten auch anderen die Argumente gegen dieses Reichsgesetz geliefert. Er hatte aber auch an einer Kompromisslösung für Kursachsen mitgearbeitet, wobei er die Unversehrtheit der evangelischen Lehre erfolgreich verteidigte, aber Äußerlichkeiten wie liturgische Gewänder als ethisch neutral, adiaphora, durchgehen ließ. Dementsprechend riet er Pfarrern, deren Obrigkeiten das Interim annahmen, notfalls den Chorrock anzuziehen, wenn sie dafür bei ihrer Gemeinde bleiben und das Evangelium predigen durften. Flacius hielt dies für Abfall und Verrat12. Für ihn gab es in einer Situation, in der es um das Bekenntnis der Wahrheit ging, keine Adiaphora. Nihil est adiaphoron in casu confessionis et scandali. Darüberhinaus begann er die von Melanchthon verfassten oder auch nur nicht missbilligten Entwürfe zu einem kursächsischen Kirchengesetz mit der Lupe der Frühorthodoxie zu untersuchen und fand Abweichungen von der reinen lutherischen Lehre. Er war überzeugt, Melanchthon habe das sola fide preisgegeben13. Zu alledem wühlte er in der Vergangenheit seines einstigen Lehrers und Förderers und publizierte die Briefe, die Luther von der einsamen Coburg an Melanchthon, der in der Hektik des Augsburger Reichstags 1530 in der Verantwortung des Ringens um einen Religionskompromiss stand, geschrieben hatte14. Aus dem historischen Zusammenhang gerissen und ohne die Gegenbriefe Melanchthons mussten und sollten sie als die Tröstungen des glaubensstarken Reformators an einen verzagten Mitarbeiter wirken. Sie haben Melanchthons Image nachhaltig negativ geprägt. In diesem Zerwürfnis mit Wittenberg, seiner bisherigen geistigen und geistlichen Heimat, musste sich Flacius wie Elias fühlen, der vor den Nachstellungen seiner zu Baal abgefallenen Volksgenossen ins Gebirge flüchtete. Der göttliche Trost, dass er doch nicht der einzige wahre Israelit sei, sondern noch Siebentausend ihre Knie vor dem Götzenbild nicht gebeugt haben, wurde ihm zur Stütze. Das Trostmotiv klingt schon im ersten Satz der Widmungsvorrede an15 und wiederholt sich ständig. 12
MBW 5556. »Der Theologen Bedenken« (Magdeburg 1550), vgl. Wilhelm HAMMER, Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte, Bd. 1 (1967), 95 f Nr. 106, dazu Bd. 3 (1981), 57 f. 14 Vier Ausgaben beschrieben bei HAMMER (wie Anm. 13), Bd. 1, 83–86 Nr. 87–90, dazu Bd. 3, 45 f. 15 Abgedruckt bei Heinz SCHEIBLE, Die Anfänge der reformatorischen Geschichtsschreibung. Melanchthon, Sleidan, Flacius und die Magdeburger Zenturien (1966), 48– 50. 13
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Gewidmet ist das Werk den drei ernestinischen Brüdern Johann Friedrich dem Mittleren, Johann Wilhelm und Johann Friedrich dem Jüngeren von Sachsen, den Söhnen des unlängst verstorbenen Kurfürsten Johann Friedrich des Großmütigen, der seinen Widerstand gegen den katholischen Kaiser Karl V. mit dem Verlust der Kurwürde und der damit verbundenen Gebiete und mit fünfjähriger Gefangenschaft bezahlt hatte, den Enkeln Johanns des Beständigen, der 1530 auf dem Reichstag die Confessio Augustana vorgelegt hatte, den Großneffen Friedrichs des Weisen, der den geächteten Luther auf der Wartburg geschützt hatte. Ihnen fühlte sich Flacius geistlich und kirchenpolitisch verbunden. Seine Widmung wurde im folgenden Jahr mit einer Professur an der Universität Jena belohnt, die von diesen drei Fürsten und ihrem Vater als Ersatz für das verlorene Wittenberg 1548 gegründet worden war16. Ihnen und sich zum Trost wollte er die aufrechten Widersacher der Abgötterei, wenn sie schon in der Gegenwart so rar waren, wenigstens in der Geschichte der Kirche ausfindig machen. Deshalb stellte er den Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem reclamarunt Papae, zusammen. Kriterium für die Aufnahme war also nicht so sehr die reine evangelische Lehre als die Opposition gegen die päpstliche Hierarchie. Die Charakterisierungen des Catalogus testium veritatis als „eine Zusammenstellung von historischen Vorläufern Luthers“17 oder „die angeblichen Vorläufer der Reformation“18 verengen die Intention des Flacius in unzutreffender Weise. Auch die Formulierung, Flacius wolle beweisen, „dass es bereits vor Luther eine von der Urkirche bis zur Reformation reichende Kontinuität protestantischen Gedankenguts gegeben habe“19, ist inadäquat, denn Flacius geht es in seiner gesamten Tätigkeit nicht um protestantisches Gedankengut, sondern um die Kontinuität der biblischen Wahrheit. Der Catalogus behauptet aber nicht einmal, diese aufweisen zu wollen; er begnügt sich mit einem Teilbereich, der Polemik. Nicht die positive Entfaltung der reinen Lehre ist erforderlich, zur Aufnahme in den Catalogus testium veritatis genügt die Kritik am Papsttum, für Flacius das Reich des Antichrists. Er selbst sagt schon in der Widmungsvorrede deutlich, nach welchen Kriterien er die Textauswahl getroffen hat: Studio demonstrandi semper fuisse septem piorum millia, qui Romano Baali genua non incurvaverint, collegi mediocrem catalogum eorum, qui ante doctorem Martinum piae memoriae vel totum papatum vel aliquos eius errores reprehenderunt, vel etiam tur-
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Karl HEUSSI, Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena (1954). Oliver K. OLSON: TRE 11 (1983), 209, Z. 25 f. 18 Hubert JEDIN: LThK2 6 (1961), 213. 19 HAYE (wie Anm. 4), 32. Auch FRANK (ebd.), 202, meint, mit Flacius „protestantisches Gedankengut“ im Mittelalter suchen zu müssen. 17
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pitudinem vitae papistici cleri pastoralisque officii neglectionem satis acriter sunt insectati20.
Dank dieser Definition konnte Flacius alles aufnehmen, was nur die geringste Spur einer Kirchenkritik enthält. Hier einige Beispiele: Eine Fuldaer Bilderhandschrift mit Fabeln von Äsop und anderen lässt den Wolf in einer Mönchskutte den Schafen und den Gänsen predigen. Georg Witzel (ein Vermittlungstheologe, der lutherischer Pfarrer in Thüringen war, dann aber wieder katholisch wurde) hatte sie einige Jahre vor Flacius in einer Schrift erwähnt und als lutheranissimas bezeichnet. Sie sei aber 200 bis 300 Jahre vor Luther entstanden, bemerkt Flacius21. Bäuerliche Klagen bringt er als Beleg für die Tyrannei des Antichrists22. Über Conrad Celtis hat er gehört, er habe Messe, Fegfeuer und Heiligenkult verurteilt, nie die Messe gehört und seine deshalb erfolgte Exkommunikation verachtet23. Flacius vermag seine Quellen durchaus differenziert zu beurteilen: Papst Gregor der Große gehört zu den insgesamt positiv bewerteten Kirchenvätern, aber seine Ansicht von der Wirkung des Fegfeuers wird kritisch erörtert24. Auch wird festgestellt, dass ein „Zeuge der Wahrheit“ seine Meinung zum Schlechten geändert hat, z. B. Aeneas Sylvius, der als kaiserlicher Sekretär den Konziliarismus vertrat, als Papst Pius II. aber den Papalismus25, oder Cusanus, der den Papst kritisiert habe, bis er Kardinal wurde, dann nicht mehr. Gleichwohl wird gerühmt, dass er die Konstantinische Schenkung widerlegte. Er habe auch das sola fide, die Rechtfertigung allein aus Glauben, vertreten26. Oder ein Autor wird gegen den Strich gelesen. Enea Silvio Piccolomini gibt in seiner Antwort an Martin Meier zu, dass vor etwa dem Jahr 300 der Römische Stuhl wenig beachtet wurde. Damit habe er zugegeben, dass das Papsttum nicht göttlichen Rechtes ist27. Thomas Haye stellte die Vielfalt der Gattungen zusammen, muss sich allerdings wundern, dass „selbst Fabeln und Satiren als Propugnacula protestantischen Glaubens zitiert werden“ und erkennt, dass viele dieser Autoren „keineswegs mit spezifisch protestantischer Ausrichtung, sondern lediglich in sehr allgemeiner Form Kritik an der katholischen Kirche oder einzelnen ihrer Repräsentanten geübt haben“28. Was hier als das Ergebnis 20
SCHEIBLE, Anfänge (wie Anm. 15), 48. Catalogus testium veritatis, Erstausgabe Basel 1556 (Exemplar des Melanchthonhauses Bretten, L 306), 677 f. 22 Ebd. 1010. 23 Ebd. 1027 f. 24 Ebd. 1039–1041. 25 Ebd. 955–958. 26 Ebd. 958 f. 27 Ebd. 956. 28 HAYE (wie Anm. 4), 38. 21
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näherer Betrachtung eines Forschers dargeboten wird, ist genau das Programm des Flacius, das er in der Vorrede ausbreitet. Dabei zeigt Flacius, dass er durchaus fähig ist, historisch-literarische Kritik zu üben. Haye hat viele Beispiele zusammengestellt29 und bewertet diese Seite des Historikers Flacius zu Recht positiver als die ältere Forschung. Flacius befindet sich damit auf dem Stand der damaligen humanistischen Geschichtsforschung. Haye rühmt ebenfalls zu Recht die „Vielfalt und Fülle der literaturwissenschaftlich relevanten Informationen, die man dem Catalogus entnehmen kann“30. Flacius war in der Tat Historiker und Philolog genug, um an seinen Texten Beobachtungen zu machen und diese mitzuteilen. Gleichwohl muss hervorgehoben werden, dass ihn nicht ein literarisches Interesse zu den mittelalterlichen Schriften führte, etwa im Gegensatz zum humanistischen Interesse an der Antike. So jedenfalls habe ich Hayes Darlegungen verstanden31. Flacius studierte diese Quellen zu dogmatischen und polemischen Zwecken. Ihre Auswertung ist völlig tendenziös. Ein Unterschied zu „den Humanisten“ lässt sich hieraus nicht entnehmen. Weder wenden sich diese so entschieden von den mittelalterlichen Quellen ab, wie Haye meint, sondern studieren und edieren auch mittelalterliche Texte, noch lässt Flacius den geringsten Zweifel aufkommen, dass die älteren Autoren auch die besseren sind. Insofern ist Flacius als Humanist zu bezeichnen – wenn man schon dieses durch seine Bedeutungsbreite fast inhaltsleere Wort gebrauchen will –, und er hat in Venedig und in Deutschland ja auch eine gründliche „humanistische“ Ausbildung genossen. Dass die positivistische Forschung vor allem die Bereitstellung schwer zugänglicher und möglicherweise inzwischen verschollener Quellen zu schätzen wusste, ist von ihrem Interesse her verständlich und legitim, darf uns aber nicht den Blick für die Intention des Autors verstellen. Diese bestand nicht primär darin, eine Anthologie weithin unbekannter oder schwer zugänglicher Werke zu schaffen – dies ist allenfalls sein sekundäres Interesse –, sondern die Kontinuität der Wahrheitszeugen und damit den ununterbrochenen Bestand der Kirche zu dokumentieren. Dass er ungedruckte Texte ausführlicher zu Wort kommen ließ als allgemein zugängliche, ist eigentlich selbstverständlich. Weil Flacius die Aufnahmekriterien für seinen Catalogus testium veritatis so weit fasste, konnte er einen großen Teil der Quellen, die er und seine Mitarbeiter für das historische Hauptwerk, die Magdeburger Zenturien, zusammentrugen, schon hier unterbringen. In der Vorrede zur zweiten
29
Ebd. 39–42. Ebd. 45. 31 Ebd. 32. 30
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Ausgabe 156232 erweckt er zwar den Eindruck, er habe alle diese Quellen selbst aufgespürt. Doch dies trifft nicht zu. Flacius, der unerbittliche Wahrheitsfanatiker und Polemiker, war ein Genie der Menschenführung und wohl auch der Freundschaft. Jedenfalls verstand er es, die unterschiedlichsten Menschen für eine Sache zu begeistern und zur Mitarbeit zu bewegen. Er konnte sogar mindestens einen bezahlten Mitarbeiter auf die Reise schicken, Markus Wagner, der später Pfarrer wurde33. Er kam bis nach Schottland. Dadurch wurde das Material rasch vermehrt. Der Erstdruck34 hat eine Appendix von 63 Seiten, die Flacius an den Verleger geschickt hatte, nachdem der Band schon gedruckt war (prioribus iam excussis demum ab autore missa). Die zweite Ausgabe 1562 ist erweitert und hat wiederum einen Nachtrag; da sie in Folio gedruckt ist, die erste in Octav, lässt sich der Umfang nur schwer vergleichen35. Ob durch Flacius Nachrichten oder gar Zitate aus mittlerweile verlorenen Quellen überliefert sind, hat m. W. noch niemand systematisch untersucht. Kurt Hannemann36 fand im Catalogus die verschollene HeliandPraefatio. Thomas Haye hat einen ersten Überblick publiziert37. Nicht auf den Catalogus bezogen, aber dennoch einschlägig ist ein älterer Aufsatz von Arno Duch38. Die Wahrscheinlichkeit, verborgene Schätze zu entdecken, ist m. E. nicht sehr groß. Ein erfahrener Patristiker und Mediävist müsste bei der Durchsicht rasch erkennen, wo es lohnt, genauer nachzulesen. Ich kann das nicht, sondern betrachte es als meine Aufgabe, das Geschichtsbild des Flacius zu analysieren. Damit befinde ich mich im Einklang mit der gegenwärtigen Mediävistik, die nicht nur positivistisch nach der Zuverlässigkeit im Faktischen schaut – das wird man weiterhin und m. E. sogar primär tun müssen –, sondern auch die Geschichtsauffassung einer historischen Quelle – und das sind auch die Darstellungen wie die des Flacius – in die Untersuchung einbezieht. Wie also sieht dies bei Flacius aus? 32
Wie Anm. 7. Literatur über ihn siehe Karl SCHOTTENLOHER, Bibliographie zur deutschen Geschichte im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1585, 2. Aufl. Bd. 2 (1956), S. 365. SCHEIBLE, Entstehung (wie Anm. 6), 55 Anm. 85. 34 Wie Anm. 21, S. 1033–1095. 35 Bibliographie: Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts (VD 16), I. Abt. Bd. 7 (1986), S. 25 f F1293–1295. Weitere Ausgaben bei Joachim MASSNER, Kirchliche Überlieferung und Autorität im Flaciuskreis. Studien zu den Magdeburger Zenturien (1964), 76 f Anm. 19. 36 Kurt HANNEMANN, Die Lösung des Rätsels der Herkunft der Heliandpraefatio. In: Der Heliand, hrsg. v. Jürgen Eichhoff und Irmengard Rauch (1973), 1–13. 37 Wie Anm. 4. 38 Arno DUCH, Eine verlorene Handschrift der Schriften Bernos von Reichenau in den Magdeburger Zenturien: ZKG 53 (1934), 417–435. 33
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*** Die Aufnahmekriterien für den Catalogus testium veritatis sind nicht das ganze Geschichtsbild des Flacius, sondern nur die eine, die kirchenkritische Seite, wie ja das ganze Buch nur ein Teilergebnis der Arbeit an den Magdburger Zenturien ist. Deren Konzeption gibt Flacius schon in den Vorreden zum Catalogus bekannt. Die Vorrede an den Leser39, die systematischere der beiden, beginnt wiederum mit der Geschichte des Elias. Seine Anfechtung und sein Trost sind zum immerwährenden Trost der Kirche aufgezeichnet, ad perpetuam ecclesiae Dei consolationem. Der Trost, dass Gott seine Kirche in der Verfolgung nicht untergehen lässt, ist auch in der traurigen Gegenwart notwendig. Man soll ihn nicht nur aus dieser kleinen Elias-Geschichte nehmen, sagt Flacius, sondern aus der Erfahrung und der Geschichte aller Zeiten, ex ipsa rerum experientia omniumque temporum historia. Die schwerste Anfechtung des Flacius, die er durch das Studium der Geschichte überwinden will, ist die Vorhaltung: Wie wollen die erst vor dreißig Jahren entstandenen Lutheraner gegen die altehrwürdige römische Kirche recht behalten? Dieses Argument ist für Flacius (und alle seine Zeitgenossen) deshalb so gefährlich, weil er mit seinen katholischen Gegnern über den Obersatz einig ist, nämlich dass die wahre Kirche immer gleichbleibend ist, die falschen Kirchen kommen und gehen: Vera ecclesia ac religio sunt perpetua, falsae vero ecclesiae et religiones subinde varie mutantur et transformantur. Flacius empfand das Argument, dass die Lutheraner, weil sie neu sind, irren, als eine teuflische Anfechtung: Nec adversarii tantum in suis scriptis sic sophistantur, sed et Satan ipse haud raro talia ignita venenataque tela in corda conscientiamque nostram magna vi contorquet. Widerlegt ist dieses Argument, wenn der Nachweis gelingt, dass die Lehre und die Kirche der Gegner nicht immerwährend und die eigene nicht neu sind. Dies allerdings sei schwierig. Denn das Evangelium Christi ist ein Geheimnis und der Welt verborgen, die falschen Religionen sind sinnenfälliger, die Wahrheit wird zumeist unterdrückt; deshalb folgt die Mehrheit der Lüge, und wenn dann einer die wahre Lehre, das Evangelium Christi predigt, hält man dies für neu. Solches widerfuhr den Propheten, Christus, den Aposteln. Wie diese den Makel der Neuheit ihrer Lehre nur schwer beseitigen konnten, so geschieht es auch jetzt zur Zeit des Flacius. Flacius nennt dafür drei Gründe: 1. Die Wahrheit wird zumeist unterdrückt und in den Untergrund gezwungen. 2. Wenige hängen ihr an, und
39
SCHEIBLE, Anfänge (wie Anm. 15), 50–54.
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noch weniger verstehen sie: pauci eam amplectuntur paucioresque vere intelligunt. 3. Sie springt nicht in die Augen wie der päpstliche Pomp. Dass Flacius auf der Seite der Wahrheit steht, dass er zur Kirche Christi gehört, erweist er durch zwei Gedankengänge. Zunächst dogmatisch: Die Kirche Gottes sind die, die seine Worte hören und bewahren, nicht die Verfolger. Dass seine Lehre dem Worte Gottes entspricht, steht für ihn außer Zweifel, denn das Wort Gottes ist nicht dunkel und mehrdeutig, wie die Gegner behaupten. Der reformatorische Grundsatz von der Klarheit der Schrift gibt also auch Flacius die Gewissheit, dass er sie richtig versteht und kein oberstes Lehramt braucht40. Diese bei ihm besonders stark ausgeprägte subjektive Gewissheit sollte dazu führen, dass er sich mit den meisten seiner evangelischen Glaubensbrüder und sogar seiner engeren Parteifreunde, den sogenannten Gnesiolutheranern, wegen seiner radikal gefassten Lehren überwarf. Neben die dogmatische Gewissheit, die Wahrheit zu besitzen, tritt bei Flacius noch das historische Argument: Dass zu allen Zeiten nicht wenige Prediger und ihre Hörer mit ihm und nicht den Gegnern übereinstimmten, ist für ihn eine geschichtliche Erfahrung. Deinde opponimus et ipsam experientiam, quae testatur semper fuisse non paucos sed plurimos doctores et auditores, qui nobiscum et non cum adversariis senserint. Die Lehrer, mit denen er im Einklang ist, sind in erster Linie und zweifelsfrei die Patriarchen, die Propheten, Christus und die Apostel. Die Urkirche bis etwa 200 nach Christus hält Flacius ebenfalls für übereinstimmend mit der seinigen, der reformatorischen. Erst ab etwa 300 hätten sich die Irrtümer des Papsttums allmählich in der Kirche ausgebreitet. Doch sei bis etwa 600 die Übereinstimmung mit der reformatorischen Lehre größer als mit der papistischen. Als herausragende Beispiele werden Hieronymus, Augustin, Ambrosius, Hilarius, Chrysostomus genannt. Sie werden zwar auch von den Gegnern, den Papisten in Anspruch genommen, aber aufgrund von einseitiger Interpretation gewisser unscharfer Formulierungen. Doch nicht nur in der Lehre stimmen sie mit den Reformatoren überein, sondern sie haben auch die Anfänge der später vorherrschenden Irrtümer kritisiert, was Flacius in seinem Catalogus zeigen will. Der wirkliche Niedergang der Kirche beginnt nach 600 mit dem Aufstieg des Papsttums und der fortschreitenden Entfernung von der Urkirche. Aber auch und gerade in dieser Zeit des Niedergangs, im Mittelalter – Flacius gebraucht diesen Terminus, wenn ich recht sehe, nicht –, hat Gott die nun schon sattsam bekannten Sieben40
KELLER (wie Anm. 11). - Ivan KORDIĆ, Matthias Flacius Illyricus und sein Beitrag zur Entwicklung der Hermeneutik als des verstehenden Zugangs zur Wirklichkeit und zu ihrem Niederschlag im Text (Diss. phil. Freiburg i. Br. 1987). - Bernd Jörg DIEBNER, Matthias Flacius Illyricus (1520–1575). Zur Hermeneutik der Melanchthon-Schule. In: Melanchthon in seinen Schülern (1996), 157–182.
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tausend „und mehr“, sagt Flacius, erhalten, die sich den um sich greifenden Irrtümern widersetzten bis hin zum Martyrium. Dies nachzuweisen, ist das Thema seines Buches. Der Catalogus testium veritatis handelt zum weitaus größten Teil vom Mittelalter. In der ersten Ausgabe behandeln von fast 1100 Seiten keine 100 die Zeit bis 600, also 1000 Seiten das Mittelalter. Er kann so viele Texte aufnehmen, weil er das Aufnahmekriterium – ich sagte es schon – denkbar weit gefasst hat: Auch die geringste Spur einer Kritik des Papsttums vor Luther verdient Beachtung: Ut enim propius ad nostrum institutum accedamus, ob hoc ipsum in hoc scripto omnes eos, quantum quidem fieri potuit, collegi, qui aliquo modo testimonium ante Lutherum veritati Christi contra errores et furores Antichristi dederunt adversariorumque erroribus, officii neglectioni et perditissimae vitae contradixerunt, ... Die literarisch verifizierbaren Wahrheitszeugen sind, so fährt Flacius fort, nur ein kleiner Teil der tatsächlich vorhandenen, denn einerseits kann bei jedem Lehrer mit einem Multiplikationseffekt gerechnet werden, andererseits sind viele literarische Zeugnisse durch Verfolgung oder einfach durch den Zahn der Zeit verlorengegangen, und schließlich haben manche Oppositionelle nicht gewagt, sich öffentlich zu äußern.
*** Nachdem wir die Leitlinien der historiographischen Tätigkeit des Flacius kennengelernt haben, müssen wir nach den Anregungen und Einflüssen fragen, die er empfangen hat oder empfangen haben könnte. In meiner maschinenschriftlichen Dissertation von 1960 und in dem 1966 publizierten Auszug daraus41 bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass Flacius geschichtstheologisch von seinem Lehrer Melanchthon, historiographisch von der humanistischen Geschichtsschreibung eines Beatus Rhenanus beeinflusst ist, letzteres aber erst in den Magdeburger Zenturien zum Tragen kam. Die Abhängigkeit des flacianischen Geschichtsbildes von Melanchthon wurde von Peter Fraenkel 1961 eindrucksvoll sichtbar gemacht42. Etwa gleichzeitig und daher ohne Kenntnis dieser Arbeiten hat Joachim Maßner seine 1964 publizierte Dissertation geschrieben. Er betrachtet Luther als den großen Anreger der reformatorischen Geschichtsschreibung. Zwar habe „Melanchthon eine Fülle historischer Einzeluntersuchungen geliefert, ... aber erst Flacius wird die Gedanken Luthers in die Tat umset-
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Wie oben Anm. 5 und 6. Peter FRAENKEL, Testimonia Patrum. The Function of the Patristic Argument in the Theology of Philip Melanchthon (1961), 52–109. 42
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zen“43. Das ist eine für den Unkundigen recht einleuchtende Aussage: der Gnesiolutheraner und Melanchthonfeind Flacius folgt dem Reformator; vom Praeceptor Germaniae hat er nichts Wesentliches. Ein typisch dogmatisches Vorurteil, das jeder Quellenbasis entbehrt. Flacius war bei all seiner Leidenschaft in der Polemik und Kompromisslosigkeit in der Dogmatik nicht so einseitig parteiisch strukturiert, dass er nicht gewusst hätte, wo er mit Melanchthon einig war, etwa gegen die Katholiken, und er scheute sich nicht, auch mit Katholiken wissenschaftlichen Austausch zu üben. Außerdem trug er nie Bedenken, fremdes geistiges Eigentum zu übernehmen. Für seine Hermeneutik ist dies nachgewiesen worden44. Und selbst wenn er sich von Melanchthon hätte absetzen wollen, er hätte das nicht vergessen können, was er in sechs Jahren bei ihm gelernt hatte. Was also konnte er in Wittenberg über Kirchengeschichte hören? Am 22. Februar 1546 hielt Melanchthon die Trauerrede auf Luther45. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Wittenberger Professor Flacius sich unter den Zuhörern befand. Melanchthon würdigt die Stellung Luthers innerhalb der Kirchengeschichte, die für ihn mit Adam beginnt. Es ist für ihn ein erhebendes Gefühl, die Kirche im Ablauf der Zeiten zu betrachten, denn er erkennt darin die Güte Gottes, der immer wieder heilbringende Lehrer in ununterbrochener Reihe auftreten ließ, so dass wie in einer Schlachtreihe, wenn die ersten abtreten, bald andere ihren Platz einnehmen. Estque iucundum et utile spectaculum, intueri ecclesiam omnium aetatum et considerare bonitatem dei, qui subinde salutares doctores ita continuato ordine misit, ut tanquam in acie prioribus decedentibus, mox alii in horum vestigia insisterent46. Melanchthon zählt die Reihe dieser Lehrer der Kirche auf, eine Menge Namen aus dem Alten Testament, dann Christus, die Apostel, alles Zeugen aus der Bibel, an deren Bonität kein Zweifel besteht. Doch schon nach den Aposteln ist eine Minderung festzustellen. Dennoch können Polykarp, Irenaeus, Gregor Thaumaturgos (ca.213–275), Basilius der Große, Augustin, Prosper von Aquitanien, Maximus Confessor (580–662), Hugo von St. Victor, Bernhard von Clairvaux, Tauler genannt werden. Danach wächst die Dunkelheit. Doch hat Gott immer einen Rest erhalten: Etsi enim haec postrema senecta squali43
MASSNER (wie Anm. 35), 73. Olivier FATIO, Hyperius plagié par Flacius. In: Histoire de l'exégèse au XVIe siècle. Textes du colloque international tenu à Genève en 1976, hrsg. v. Olivier Fatio und Pierre Fraenkel (1978), 362–381. - KELLER (wie Anm. 11), 134–149. 45 CR 11, 726–734 Nr. 89. - 57 Ausgaben und Übersetzungen beschreibt Horst KOEHN, Philipp Melanchthons Reden. Verzeichnis der im 16. Jahrhundert erschienenen Drucke (1985); auch in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 25 (1984), 1351–1357, 1363, 1399–1407, 1414, 1430–1432, 1439 f Nr. 118–134, 150, 242–262, 279, 323–328, 348 f. 46 CR 11, 727 f. 44
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dior est, tamen deus semper aliquas reliquias servavit. Dann wurde durch Luthers Botschaft das Evangelium wieder voll entfacht: Et lucem evangelii splendidiorem accensam esse voce Lutheri manifestum est. Er gehört sogar zu den ganz großen Gestalten wie Jesaja, Johannes der Täufer, Paulus und Augustin. Diese Schau der Kirchengeschichte liegt auch den historischen Arbeiten des Flacius zugrunde. Bei Melanchthon steht der positive Aspekt im Vordergrund; es geht ihm primär um die Kontinuität der göttlichen Lehre, weniger um die Kirchenkritik. Bei den Magdeburger Zenturien ist dies ebenso. Der Catalogus testium veritatis jedoch stellt die Kirchenkritik in den Vordergrund. Dies ist auch für Flacius nur ein Teilaspekt seines Verständnisses der Kirchengeschichte, das er schon in der Vorrede zum Catalogus – wir haben es gehört – dargelegt und dann durch seine Mitarbeiter in den Magdeburger Zenturien breit ausführen ließ. Der Catalogus will ja keine Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte sein, sondern der monographische Aufweis, dass die Papstkirche niemals unwidersprochen herrschte. Epochen der Kirchengeschichte hat Melanchthon am 10. November 1548, also lange bevor Flacius den Plan zu einer Kirchengeschichte fasste, in der Rede De Luthero et aetatibus ecclesiae vortragen lassen47. Auch hier finden wir den Gedanken der Wahrheitszeugen. Der Redner war Georg Maior48, als Wittenberger Professor für Neues Testament auch ein Lehrer des Flacius, der ihn später mit anderen wegen seiner Lehre von der Heilsnotwendigkeit der guten Werke grimmig und unversöhnlich angreifen sollte, obwohl ihre theologische Beurteilung der guten Werke gar nicht so weit auseinander lag. Damals herrschte in Wittenberg nach außen noch einigermaßen Frieden, obwohl Flacius mit der kursächsischen Kirchenpolitik, die auch von Maior mitgetragen wurde, schon sehr unzufrieden war. Maior hat den Gedanken von den Wahrheitszeugen in seine Schrift De origine et autoritate verbi dei eingearbeitet, die 1550 erschien. Er nennt diesen Abschnitt Catalogus Doctorum Ecclesiae Dei49. Wir finden hier wieder die bekannten Namen von Adam bis Luther, aus dem späteren Mittelalter auch Nikolaus von Lyra, Wilhelm Ockham, Tauler, Hus und Gerson. Maiors Abhängigkeit von Melanchthon und seine Wirkung auf Flacius wurde von Rudolf Keller50 überzeugend nachgewiesen, seine Abhängigkeit von Melanchthon schon 1908 von Otto Ritschl51.
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CR 11, 783–788 Nr. 97. - KOEHN (wie Anm. 45) Nr. 148 f, 249. Heinz SCHEIBLE, Major, Georg (1502–1574): TRE 21 (1991), 725–730. 49 KELLER (wie Anm. 11), 107. 50 Ebd. 103–108. 51 Otto RITSCHL, Dogmengeschichte des Protestantismus, Bd. 1 (1908), 122–124. 48
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Melanchthon hat die Wahrheitszeugen 1551 in die Confessio Saxonica hineingeschrieben52, die Flacius ebenfalls bekannt war. Aus dem Mittelalter finden wir nun auch Gilbert Porreta (ca.1080–1154), Wilhelm von Paris (der 1437 eine bis ins 16. Jh. weitverbreitete Postille verfasste), Johannes von Drändorf (der 1425 in Heidelberg als hussitischer Ketzer verbrannt wurde) und Wessel Gansfort (1419–1489), der nun schon an Luthers Lebenszeit heranreicht und ihm schon von Reuchlin nahegebracht worden war53. Aus den 1550er Jahren stammt auch die Liste der Zeugen, die viel später von Christoph Pezel in der Postille publiziert wurde54. Der Gedanke der Wahrheitszeugen ist aber viel früher bei Melanchthon nachweisbar, mindestens in der Polykarp-Rede vom 4. Juli 154255. Damals lebte Flacius schon in Wittenberg56. In der großen Rede De coniunctione scholarum57, die am 10. Oktober 1543 in Leipzig von dem dortigen Hebraisten Bernhard Ziegler vorgetragen wurde – Melanchthon schrieb nicht nur für seine eigenen Kollegen Festreden, sondern auch für auswärtige Freunde –, finden wir eine Menge solcher Namen, desgleichen in der Rede De dono interpretationis58, die am 29. Mai 1544 von dem Wittenberger Professor Caspar Cruciger gehalten wurde. Auch hier ist der Gedanke positiv gefasst: Die Gabe der Schriftauslegung war immer in der Kirche vertreten: Semper enim aliqui donum interpretationis habent59. Wir finden hier auch die Vorstellung des Niedergangs schon in der Alten Kirche, die für Flacius so wichtig war: Depravat Paulum Origenes, et Origenem multi secuti sunt60. Der Bestand der Kirche wurde dadurch jedoch nicht in Frage gestellt: Nec propterea tamen prorsus extinctum fuit in ecclesia donum interpretationis61. Die Depravationstheorie wurde von Melanchthon schon vertreten, als Flacius noch in den Windeln lag. Statim post ecclesiae auspicia per Platonicam philosophiam Christiana doctrina labefactata est, heißt es in 52
CR 28, 381 f; MSA 6 (1955), 94 f. Heinz SCHEIBLE, Reuchlins Einfluss auf Melanchthon (1993): Forschungsbeiträge (1996), 71–97, bes. 78. Über Gansfort zuletzt: Wessel Gansfort (1419-1489) and Northern Humanism, hrsg. v. F. Akkerman, G. C. Huisman und A. J. Vanderjagt (1993). 54 CR 24, 308 f. Über Pezel als Editor: Richard W ETZEL, Christoph Pezel (1539– 1604). Die Vorreden zu seinen Melanchthon-Editionen als Propagandatexte der ,Zweiten Reformation‘. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 465–566. 55 CR 11, 560–566 Nr. 70; KOEHN (wie Anm. 45), 1348 Nr. 109. 56 PREGER (wie Anm. 8), Bd. 1, 20. 57 CR 11, 606–618 Nr. 73, bes. 611; KOEHN (wie Anm. 45), 1449 Nr. 371. 58 CR 11, 641–647 Nr. 77; KOEHN (wie Anm. 45), 1349 f, 1415–1419 Nr. 113, 282, 285 f. 59 CR 11, 645. 60 CR 11, 646. 61 Ebd. 53
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den Loci von 152162. Harnack nannte dies die „Hellenisierung des Christentums“63. Melanchthon hat zeitlebens die Kirchengeschichte kritisch betrachtet64. Ich bestreite nicht, dass Luther ein ähnliches Verständnis der Kirchengeschichte hatte. Aber nicht er hat es auf dem Wittenberger Katheder vertreten, jedenfalls nicht thematisch, sondern Melanchthon, und ich behaupte, dass Flacius es von Melanchthon gelernt hat, denn es wurde in den Jahren 1542 bis 1548, als Flacius – unterbrochen vom Schmalkaldischen Krieg – in Wittenberg lernte und lehrte, immer wieder bei festlichen Veranstaltungen der Universität öffentlich vorgetragen. Übrigens ist auch Luthers Wertschätzung der Geschichte von Melanchthon angeregt. Nachdrücklicher als Melanchthon in seiner Wittenberger Antrittsrede vom August 1518 kann man das Studium der Geschichte nicht propagieren65. „Das Verdienst, die Wittenberger Theologen auf die Bedeutung der Geschichte hingewiesen zu haben, gebührt Melanchthon“, formulierte 1928 Karl Bauer66. Luther selbst sah sich primär als Bibeltheologen. In der Vorrede zur Papstgeschichte von Robert Barnes schreibt er: Ego sane in principio non valde gnarus nec peritus historiarum a priori (ut dicitur) invasi papatum, hoc est ex scripturis sanctis. Nunc mirifice gaudeo alios idem facere a posteriori, hoc est ex historiis. Et plane mihi triumphare videor, cum luce apparente historias cum scripturis consentire intelligo. Nam quod ego S. Paulo et Daniele magistris didici et docui, Papam esse illum Adversarium Dei et omnium, hoc mihi historiae clamantes re ipsa velut digito monstrant et non genus neque speciem, sed ipsum individuum, non vagum (ut vocant) ostendunt67.
Völlig eindeutig ist, dass Luther die Elias-Weissagung von Melanchthon übernommen hat und nicht umgekehrt68, denn Melanchthon bezeichnet diesen Spruch als Kabbala; er hat ihn also von Reuchlin69. Außerdem fehlt er in Luthers Autograph der Supputatio annorum mundi und wurde erst in der Druckfassung hinzugefügt70. Das Geschichtsbild, das Melanchthon nach Wittenberg mitbrachte, enthält schon eine Depravationstheorie, bezogen auf die klassische Literatur 62
CR 21, 86. Vgl. TRE 3 (1978), 57.35 ; 14 (1985), 455.4–27. 64 Z. B. CR 12, 914 f, 955–961 (aus dem Chronicon Carionis von 1558). 65 SCHEIBLE, Anfänge (wie Anm. 15), 13. 66 Karl B AUER, Die Wittenberger Universitätstheologie und die Anfänge der Deutschen Reformation (1928), 80. 67 WA 50, 5.26–33 ; zitiert von B AUER (wie Anm. 66), 82. 68 Anders Uwe NEDDERMEYER, Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Geschichtsgliederung und Epochenverständnis in der frühen Neuzeit (1988), 69. 69 SCHEIBLE, Reuchlins Einfluss (wie Anm. 53), 88 und 95. 70 NEDDERMEYER (wie Anm. 66), 34. 63
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und daher mit der Völkerwanderung beginnend, und ich meine auch schon einige „Wahrheitszeugen“ feststellen zu können, die allerdings weniger die biblische Wahrheit hochhielten als die allgemeine Bildung71. Melanchthon kam ja als Humanist nach Wittenberg. Dass ihm die Wertschätzung der Geschichte von Reuchlin eingepflanzt wurde, darauf weisen wörtliche Anklänge an Reuchlins Vorrede zur Nauclerus-Chronik in Melanchthons Wittenberger Antrittsrede hin72. Was hier angelegt ist, sowohl der Niedergang durch Abfall vom ursprünglichen Guten, der eine „Renaissance“ verlangt, als auch die Erhaltung des Ursprünglichen durch wenigstens einige hervorragende Männer – von Frauen ist da noch nicht die Rede, wohl aber später bei Flacius! –, wurde in den folgenden Jahren mit den Gedanken der lutherischen Reformation gefüllt und zu der Geschichtstheologie weiterentwickelt, die dann Flacius und seine Freunde ihren großen Werken zugrunde legen konnten. Die Kette der Wahrheitszeugen ist m. E. die reformatorische Variante des Dogmas der successio episcoporum. Nach römischer Lehre ist die Wahrheit durch die ununterbrochene Kette der kanonisch geweihten Bischöfe gewährleistet. Die Reformatoren sehen den Bestand der Kirche in der ebenfalls ununterbrochenen sachgemäßen Auslegung der Heiligen Schrift. Anstelle des höchsten Lehramtes einer verfassten Kirche steht der Glaube, dass sich die Wahrheit dank dem Wirken des Heiligen Geistes durchsetzt, und sei es nur bei einer Minderheit. Der Depravationsgedanke ist humanistisches Gemeingut, jedenfalls im formalen Sinn. Wenn das Goldene Zeitalter in der Vergangenheit liegt, dann konnte die Geschichte nur abwärts verlaufen. Rettung bringt allein der Rückgriff auf den Ursprung, der Gang ad fontes. Der Biblizismus, das Sola scriptura-Prinzip der Reformatoren, ist formal nichts anderes als der Ciceronianismus mancher Humanisten und die Wertschätzung des Altertums bei allen Literaten und bildenden Künstlern der Renaissance. Der Renaissance-Humanismus kennt – wenn ich das richtig sehe – im Gegensatz zur Aufklärung und ihren Nachwirkungen keinen Fortschrittsgedanken. Der christliche Glaube hat dank seiner Eschatologie immerhin eine Zukunftsperspektive. Die Brücke aber von der biblischen Offenbarung zur endzeitlichen Vollendung bilden die testes veritatis Melanchthons, des Flacius und der vielen, die diese Geschichtstheologie durch die brauchbaren und viel gelesenen Schriften Melanchthons, durch den Catalogus testium veritatis und vor allem durch die Magdeburger Zenturien rezipiert haben.
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De corrigendis adulescentiae studiis: CR 11, 16–18; MSA 3 (21969), 31–33. Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Werdegang: oben Nr. 2, bes. S. 40 und 45. - DERS., Reuchlins Einfluss (wie Anm. 53), 93 f. 72
Melanchthon und die Grafen von Erbach Vortrag zur Eröffnung der Melanchthon-Ausstellung in Michelstadt-Fürstenau am 10. 9. 1997 Beim Nachdenken über diesen Vortrag habe ich mich gefragt, ob sich die Michelstädter als Hessen fühlen. Hessische Untertanen wurden sie erst 1806. Vielleicht sind Sie, verehrte Damen und Herren, inzwischen überzeugte hessische Staatsbürger geworden und orientieren sich nach Darmstadt, Frankfurt und Wiesbaden. Doch war die Zuweisung an HessenDarmstadt bei der Mediatisierung von 1806 nur möglich, weil der Staat, an den sich das kleine Gebiet um Michelstadt und Erbach seit dem hohen Mittelalter angelehnt hatte, damals nicht mehr existierte: die Kurpfalz. Wenigstens 600 Jahre lang war die Geschichte von Erbach und Michelstadt1 eng mit der Kurpfalz verbunden, die in zähem Ringen mit dem Erzstift Mainz den Odenwälder Teil des Lorscher Gebiets an sich ziehen konnte. Die Herren von Erbach, die erstmals 1146 bezeugt sind, traten als kurpfälzische Erbschenken aus der Masse der übrigen Herren hervor. Im Wittelsbachischen Hausvertrag von Pavia 1329 erscheint die Herrschaft Erbach als kurpfälzischer Besitz. Doch strebten die Schenken von Erbach nach der Reichsfreiheit. 1512 gehören sie zum fränkischen Reichskreis, nicht wie die Pfalzgrafen zum Rheinischen, und sie entrichteten Reichssteuern. 1532 gelingt ihnen der Aufstieg in den Grafenstand. Der engen Verbindung zu den Kurfürsten in Heidelberg tat dies keinen Abbruch. Über den Bezug zu Melanchthon hinaus ist es also historisch sinnvoll, dass der Referent für den heutigen Festakt nicht aus Darmstadt oder Marburg geholt wurde, sondern aus Heidelberg. Die Straßenverbindung ist ja wirklich gut ausgebaut. Ich konnte mit dem Auto bequem herfahren und werde nachher wieder zurückkommen. Das war nicht immer so. Vor etwa 45 Jahren kam ich als junger Student zum ersten Mal von Heidelberg nach Erbach, um die römischen Köpfe zu sehen. Mit dem Fahrrad und auf 1
Daniel SCHNEIDER, Vollständige Hoch-Gräflich-Erbachische Stamm-Tafel, nebst deren Erklär- und Bewährungen, oder Hoch-Gräflich-Erbachische Historie ... (1736). - G. S IMON, Die Geschichte der Dynasten und Grafen zu Erbach und ihres Landes (1858). Volker PRESS, Die Grafen von Erbach und die Anfänge des reformierten Bekenntnisses in Deutschland. In: Aus Geschichte und ihren Hilfswissenschaften. Festschrift. für Walter Heinemeyer, hrsg. von Hermann Bannasch und Hans-Peter Lachmann (1979), 653–685.
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schlechteren Straßen war dies mühsamer, aber dennoch leicht zu bewältigen. Anders erging es dem Kurfürsten Friedrich IV., Sie wissen: der sich wütend im Bette wälzte, weil er nicht wusste, wie er gestern ins Nest kam. Dieser pfälzische Kurfürst ritt am 15. Juni 1602 von Heidelberg nach Erbach, wo er infolge der Anstrengung und seines übermäßigen Durstes zusammenbrach, schwer krank wurde und beinahe gestorben wäre2. Dies war die Ausnahme. In der Regel konnte man problemlos zwischen Heidelberg und Michelstadt pendeln. Bei manchen Schenken und Grafen von Erbach hat man den Eindruck, dass sie sich mehr in der Pfalz als zu Hause im Odenwald aufhielten. Schenk Valentin3 (er lebte bis 1531) diente seit 1512 dem Kurfürsten Ludwig V., wurde 1515 Amtmann zu Oppenheim und 1518 Burggraf zu Alzey. Als der pfälzer Kurfürst 1519–1520 in der Vakanz zwischen Kaiser Maximilian I. und Karl V. einige Monate Reichsvikar war, richtete er anstelle des Reichskammergerichts in Worms ein Vikariats-Hofgericht ein, das faktisch von seinem Rat Valentin von Erbach geleitet wurde4. Als Ludwig V. 1525 gegen die aufständischen Bauern zu Felde zog, ernannte er Valentin von Erbach zum Schlosshauptmann von Heidelberg und vertraute ihm damit den Schutz seiner Hauptstadt an. Feldhauptmann wurde Valentins entfernter Vetter Eberhard XIII. 5. Er war der Vater von Georg, Eberhard und Valentin, die mit Melanchthon bekannt waren und deshalb im Mittelpunkt unserer heutigen Betrachtung stehen werden. Deren Mutter Maria war die Schwester des Grafen Georg II. von Wertheim (1487–1530)6. Dessen jüngster Sohn Michael III. heiratete Katharina, die Tochter des Grafen Ludwig von Stolberg-Königstein7. Als er 1556 im Alter von 25 Jahren starb, erlosch das Grafenhaus von Wertheim und die drei Erbacher Brüder erbten zusammen mit Stolberg die Herrschaft Breuberg8, ein sehr günstig gelegener Zuwachs ihres Territoriums.
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Bibliotheca Palatina: Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli bis 2. November 1986, Heiliggeistkirche Heidelberg, hrsg. v. Elmar Mittler (1986), Textband S. 262. 3 SCHNEIDER (wie Anm. 1), 159. - SIMON (wie Anm. 1), 370–373. - Volker P RESS, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559– 1619 (1970), 153, 178 f mit Anm. 38. 4 PRESS, Calvinismus (wie Anm. 3), 153 Anm. 33. 5 Auch als Eberhard XI. gezählt: SIMON (wie Anm. 1), 345–356, 375–379. 6 Joseph ASCHBACH, Geschichte der Grafen von Wertheim 1 (1843), 280 f. 7 Ebd. 329 f. 8 S IMON (wie Anm. 1), 188–234. - Gerhard KÖBLER, Historisches Lexikon der deutschen Länder (61999), 90.
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Wir kehren noch einmal zu ihrem Vater Eberhard XIII. zurück, dem kurpfälzischen Feldhauptmann im Bauernkrieg9. Er machte den Feldzug über Bruchsal nach Würzburg mit und kämpfte in der Schlacht von Königshofen. Hier kommandierte der Truchseß von Waldburg, der bekannte Bauernjörg. Aber in der Schlacht von Pfeddersheim bei Worms am 24. Juni 1525, bei der 4000 Bauern ums Leben kamen, richtete Eberhard XIII. von Erbach als Feldhauptmann die Schlachtordnung aus. Mit dieser Schlacht war der Bauernkrieg zu Ende. Melanchthon war um ein Gutachten über die Forderungen der Bauern gebeten worden. Es konnte nicht rechtzeitig eintreffen, obwohl er es unverzüglich niedergeschrieben hat10. Aufgeschrieben hat diese Ereignisse der kurpfälzische Sekretär Peter Harer. Ihn erwähne ich aus zwei Gründen: um 1530 heiratete er Melanchthons Schwester Margarete, die zuvor mit seinem Kollegen Andreas Stuichs verheiratet war. Melanchthons Vater Georg Schwartzerdt stammte ja aus Heidelberg. Sowohl er als auch sein Schwiegervater Johann Reuter in Bretten (Melanchthons Großvater) standen in kurpfälzischen Diensten. Daher die engen Verbindungen Melanchthons und seiner Familie zu Heidelberg, wodurch auch die Beziehung zu Erbach entstand. Der zweite Grund, weshalb Harers Bauernkriegsgeschichte hier erwähnt werden muss, betrifft einen Grafen von Erbach. Im Jahre 1531 schrieb Eberhards gleichnamiger Sohn hier in Fürstenau diese Geschichte innerhalb von zehn Tagen eigenhändig ab11, immerhin 100 Druckseiten in der Edition des Bauernkriegshistorikers Günther Franz von 1936. Der jüngere Eberhard, in der Reihe der Schenken dieses Namens ist er der XIV. 12, war damals 20 Jahre alt (* 19. 1. 1511 Fürstenau) und hatte eine solide Ausbildung genossen. Mit knapp acht Jahren wurde er in die Heidelberger Matrikel eingeschrieben, wahrscheinlich ehrenhalber, ohne wirklich zu studieren. Doch mit nahezu zwölf Jahren bezog er mit seinem Lehrer Magister Johannes Marquard die Universität Tübingen; am 18. September 1522 ist er dort immatrikuliert. Reuchlin13 starb am 22. Juni desselben Jahres in Stuttgart. Schenk Eberhard kann ihn also nicht mehr gehört haben. Dass er fleißig studierte, zeigen die Bücher, die er als sein Eigentum gekennzeichnet hat. Vier sind in der Matz-Bibliothek vorhanden, alles Kölner Drucke, auch wenn es andere Ausgaben des jeweiligen Werks gab. Offenbar hatte er Geschäftsverbindungen zu Kölner Verlegern. Die Bücher 9
Peter Harers Wahrhafte und gründliche Beschreibung des Bauernkriegs, hrsg. v. Günther FRANZ (1936), 67, 96 ff. - Über Harer: MBW 12 (2005), 227 f. 10 MBW.T 2 (1995), 312–315 Nr. 401 und S. 340 App. Q. 11 FRANZ (wie Anm. 9), 108 f. 12 SCHNEIDER (wie Anm. 1), 168–174. - SIMON (wie Anm. 1), 388–396. - Hans V. D AU, Der Psalter Eberhards XIV. zu Erbach. In: Ich dien. Festgabe ... Wilhelm Diehl (1931), 279–306. - MBW 11 (2003), 413 f. 13 TRE 29 (1998), 94–98 (Gerald DÖRNER).
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sind mit dem Erwerbsdatum versehen, lassen also den Gang seiner Studien erkennen. Als Zehnjähriger erwarb er eine Quintilian-Ausgabe14. Das Studium des römischen Rhetorikers war für Humanisten Pflicht. Hierbei lernte man ein eleganteres Latein, als die scholastischen Lehrbücher vermitteln konnten. Der Kölner Verleger Gottfried Hittorp15 widmete seine Ausgabe (ein Nachdruck der Pariser Ausgabe von 1519)16 dem hochverehrten Wittenberger Professor Melanchthon17. Dass Köln18 eine Bastion der Gegner Reuchlins war, das Nest der Dunkelmänner, und die Reformation immer ablehnte, und dass Melanchthon der Freund des gebannten Luther war, der gerade zum Wormser Reichstag19 musste, von dem er als Geächteter zurückkehren sollte, war kein Hindernis. Die Gebildeten verstanden sich noch lange jenseits des religiösen Streits. Die konfessionellen Fronten verhärteten sich erst später. Unsere Erbacher Grafen sollten dies noch erleben und kräftig mitmischen. Die Widmungsvorrede zur Rhetorik Quintilians von 1521 war, soviel wir wissen, die erste Begegnung Eberhards mit dem Namen Melanchthons. Im Jahr danach, als er nach Tübingen zog, erwarb er Melanchthons Dialektik20. Dialektik, wir sagen heute lieber Logik, ist die Kunst des sinnvoll strukturierten Denkens. Rhetorik lehrte die schöne Darbietung der geordneten Gedanken. Beide Disziplinen sind aufeinander bezogen, gehen zu Teil ineinander über. Melanchthon hat für beide in drei Anläufen Lehrbücher geschaffen, die wegen ihrer relativen Kürze, ihrer Klarheit und ihrer Beschränkung auf das Wichtige weite Verbreitung fanden. Die Fürstenauer Ausstellung von 1997 zeigte eine ganze Reihe solcher Bücher. Vor allem Dialektik hat Melanchthon, der ja fast alle Fächer der philosophischen und der theologischen Fakultät vortrug, bis an sein Lebensende unterrichtet. Die Komödien des Terenz waren eine beliebte Lektüre in allen Lateinschulen. Eberhard hatte sie gewiss schon mit seinem Hauslehrer in Fürstenau gelesen, vielleicht in der Tübinger Ausgabe von 1516, die der 1914
MBW.T 1 (1991), 263 f Nr. 129. Exemplar Nicolaus Matz-Bibliothek (Kirchenbibliothek zu Michelstadt), C 295; Abb. in »Bewahren und Erforschen« (wie unten S. 465, Nr. 25), S. 202. 15 MBW 12 (2005), 306. 16 Wilhelm HAMMER, Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte. Ein beschreibendes Verzeichnis, Bd. 3 (1981), 11 f Nr. A12a. 17 MBW.T 1 (1991), 263 f Nr. 129. 18 Erich MEUTHEN, Kölner Universitätsgeschichte 1 (1988), 203–280. 19 Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, hrsg. v. Fritz Reuter (1971, ²1981). 20 MBW.T 1 (1991), 179–181 Nr. 78. Exemplar Matz-Bibliothek, C 471(1); Abb. in »Bewahren und Erforschen« (wie unten S. 465, Nr. 25), S. 203.
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jährige Dozent Melanchthon mit einer langen Einleitung versehen hatte21, die den begeisterten Beifall des Erasmus von Rotterdam hervorrief22 und die erste Stufe seiner wissenschaftlichen Karriere bildete. Als dann 1525 in Wittenberg eine neue Ausgabe erschien, zu der Melanchthon wiederum ein Vorwort schrieb23, kaufte sie Schenk Eberhard, aber nicht die Hagenauer Ausgabe, sondern wieder den Kölner Nachdruck desselben Jahres. Est Schenckh Eberhardi baronis et domini zu Erpach 1525, schrieb er drauf24. Dann unternahm er Bildungsreisen nach Italien und Frankreich. Wir finden ihn 1526 in Venedig und an der Universität Padua, 1528 in Toul und Besançon, und er begleitete seinen Bruder Georg auf dessen Frankreichreise25. Zurückgekehrt, erwarb er 1529 die zwei Jahre zuvor in Köln nachgedruckte lateinische Grammatik Melanchthons26. Die hohe Begabung und umfassende Ausbildung mit Auslandserfahrung befähigte den Schenken Eberhard, der dank der Verdienste seines gleichnamigen Vaters 1532 mit dem ganzen Geschlecht der Erbacher in den Grafenstand erhoben wurde, neben der Regierung seines kleinen, durch Teilung geradezu winzigen Landes, zu immer höheren und schließlich höchsten Staatsämtern in der Kurpfalz. Vier Kurfürsten hat er gedient, Ludwig V., Friedrich II., Ottheinrich und Friedrich III., zunächst als Rat von Haus aus, nämlich Erbach, ohne ständige Präsenzpflicht am Hofe27. 1558 aber machte ihn Ottheinrich zu seinem Großhofmeister. Das war das höchste Amt im Oberrat, noch vor dem Kanzler28. Diese Position behielt er auch unter Friedrich III., insgesamt sechs Jahre lang bis zu seinem Tod 1564. Es sind die Jahre, in denen die Kurpfalz den Weg vom Luthertum zum reformierten Bekenntnis des Heidelberger Katechismus fand. Den ersten Anstoß gab ein Gutachten Melanchthons zum Heidelberger Abendmahlsstreit, und die theologische Arbeit leistete der Melanchthon-Schüler 21
MBW.T 1 (1991), 45–51 Nr. 7. - Richard W ETZEL, Melanchthons Verdienste um Terenz unter besonderer Berücksichtigung „seiner“ Ausgaben des Dichters. In: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland. Bildungsstationen eines Reformators. Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, der Universitätsbibliothek Heidelberg, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart und des Melanchthonhauses Bretten zum 500. Geburtstag Philipp Melanchthons, hrsg. v. Stefan Rhein, Armin Schlechter und Udo Wennemuth (1997), 101–128. 22 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon zwischen Luther und Erasmus (1984): Forschungsbeiträge (1996), 171–197, bes. 173. 23 MBW.T 2 (1995), 224–230 Nr. 365a. 24 Ebd. 225. Exemplar Matz-Bibliothek, C 357; Abb. in »Bewahren und Erforschen« (wie unten S. 465, Nr. 25), S. 205. 25 S IMON (wie Anm. 1), 390 f. 26 Exemplar Matz-Bibliothek, C 460(1); Abb. in »Bewahren und Erforschen« (wie unten S. 465, Nr. 25), S. 206.; vgl. MBW.T 2 (1995), 342 App. Q 15. 27 PRESS, Calvinismus (wie Anm. 3), 193, 204, 218. 28 Ebd. 208, 224–226.
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Zacharias Ursinus29. Graf Eberhard von Erbach war politisch maßgeblich daran beteiligt. Aber nicht nur er, sondern auch seine Brüder Georg und Valentin. Georg, unter den Schenken der III., als Graf der I. 30 (was wie auch bei den andern sehr verwirrend ist), ist der älteste Sohn Eberhards XIII., fünf Jahre älter als sein Bruder Eberhard XIV. (* 18. 1. 1506). Demgemäß wurde er fünf Jahre vor diesem an der Universität Heidelberg eingeschrieben, ebenfalls noch keine acht Jahre alt. Auch er hat in den folgenden Jahren eine sorgfältige Ausbildung genossen. Er war mit seinem Bruder Eberhard in Frankreich, und er machte 1526 eine Reise nach Palästina, ins Heilige Land, was ihm Eberhard 1533 nachmachte31. Er muss eine beeindruckende Persönlichkeit und ein guter Redner gewesen sein. Jedenfalls war Melanchthon, der ihn früh persönlich kennenlernte, so begeistert von ihm, dass er dies 1533 der literarischen Öffentlichkeit bekannt machte. Den Anlass und die Zeit dieser Begegnung kennen wir leider nicht, nur den Ort, nämlich Leipzig, wo damals noch der Landesherr Georg der Bärtige von Sachsen alle reformatorischen Bestrebungen unterdrückte32. In der Matrikel ist er nicht zu finden. Im März 1533 publizierte der Hagenauer Drucker Johannes Setzer einige Übersetzungen aus dem Griechischen ins Lateinische, zuvörderst Melanchthons Erstübersetzung von Lukians Lobrede auf Demosthenes33. Setzer war ein guter Bekannter Melanchthons, von dem er etliche Werke als erster drucken durfte34. Seine Firma in Hagenau hatte er von seinem Schwiegervater Thomas Anshelm35 übernommen, jenem Drucker, der in Pforzheim wirkte, als Melanchthon dort zur Schule ging36, und dann nach Tübingen umzog, wo Melanchthon bei ihm als Korrektor arbeitete. 1516 verlegte er sein Geschäft nach Hagenau. Damals kam Melanchthon für mehrere Wochen zu Korrekturarbeiten in die elsässische Reichstadt37. Nun, 1533, weilte Schenk Georg von Erbach als kurpfälzischer Landvogt im Unterelsaß. Von 1531 bis 1537 hatte er dieses 29
Derk VISSER, Zacharias Ursinus (1534–1583). Melanchthons Geist im Heidelberger Katechismus. In: Melanchthon in seinen Schülern (1997), 373–390. 30 SCHNEIDER (wie Anm. 1), 161–167. - SIMON (wie Anm. 1), 370–388. - MBW 12 (2005), 414 f. 31 Ebd. 390 f. 32 Günther W ARTENBERG, Landesherrschaft und Reformation (1988), 23–93. 33 MBW 1309. 34 Josef B ENZING, Buchdruckerlexikon des 16. Jahrhunderts (Deutsches Sprachgebiet) (1952), 67 f. - DERS., Bibliographie haguenovienne (1973), 66–97. - Anja W OLKENHAUER, Zu schwer für Apoll. Die Antike in humanistischen Druckerzeichen des 16. Jahrhunderts (2002), 262–270. - Jetzt auch oben Nr. 18. 35 MBW 11 (2003), 78. 36 Heinz SCHEIBLE, Melanchthons Pforzheimer Schulzeit. Studien zur humanistischen Bildungselite (1989): Forschungsbeiträge (1996), 29–50. 37 MBW 10 (1998), 260.
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Amt inne38. Dies gab wahrscheinlich den Ausschlag, dass gerade er diese Widmungsvorrede bekam. Sie ist in gehobenem Latein gehalten und beginnt39: Cum pro ea admiratione, quam de te, clarissime vir, quo tempore et Lipsiae te primum videbam et de rebus gravissimis, ut tum forte inciderant, cum summa prudentia summaque facundia disserentem audiebam, concepi, singulari quodam studio erga te accensus fuissem, iam olim equidem optavi animum atque voluntatem hanc meam digno atque idoneo aliquo argumento tibi declarare posse. „Als ich Dich, berühmter Mann, in Leipzig zum erstenmal sah und über wichtige Dinge, wie sie damals gerade anstanden, mit höchster Klugheit und Sachkenntnis reden hörte, erfüllte mich eine solche Bewunderung, dass ich von einer einzigartigen Zuneigung zu Dir entflammt wurde, weshalb ich schon lange wünschte, diesen meinen Sinn und Willen Dir durch irgendein würdiges und passendes Thema bezeugen zu können.“ Als Landvogt im Elsaß (1531–1537) heiratete Georg am 8. Januar 1536 in Fürstenau im Alter von beinahe 30 Jahren Elisabeth, die nicht ganz 16jährige Tochter des armen Pfalzgrafen Johann von Simmern40 auf dem Hunsrück. Sie war hochadlig, deutlich ranghöher als der erst vor drei Jahren in den Grafenstand erhobene, ebenfalls nicht reiche Schenk von Erbach. Dass ihr Bruder Friedrich 24 Jahre später Kurfürst in Heidelberg werden würde, konnte man damals noch nicht wissen, denn nach dem regierenden Kurfürsten Ludwig V. gab es noch zwei präsumtive Nachfolger, Friedrich II. und Ottheinrich, die beide noch auf Nachkommen hoffen konnten41. Georg stand traditionsgemäß im Dienste auch der andern Kurfürsten von der Pfalz. Aber als Schwager des neun Jahre jüngeren Kurfürsten aus der Linie Simmern wurde er dessen persönlicher Berater. Als Friedrich III. gleich nach dem Regierungsantritt zum Reichstag nach Augsburg musste, ernannte er Georg von Erbach zu seinem Statthalter42. Zusammen mit seinem Bruder Eberhard, dem Großhofmeister, musste er den Heidelberger Abendmahlsstreit bewältigen, der für die konfessionelle und damit auch politische Entwicklung der Kurpfalz so wichtig werden sollte. Dass dabei Melanchthon um ein Gutachten gebeten wurde43, haben vermutlich die beiden Erbacher entschieden. Den jüngsten der drei Brüder, Valentin44, hatte der Vater Eberhard wie auch die meisten seiner Töchter für den geistlichen Stand bestimmt, wie 38
S IMON (wie Anm. 1), 381. - P RESS, Calvinismus (wie Anm. 3), 179. MBW 1309; MBW.T 5 (2003), 388.4–9 . 40 S IMON (wie Anm. 1), 382. - NDB 10 (1974), 510 (Georg R. SPOHN). 41 Wolfgang V. MOERS-MESSMER, Heidelberg und seine Kurfürsten (2001), 30–92. 42 PRESS, Calvinismus (wie Anm. 3), 57, 228. 43 MBW 9118 f. 44 SCHNEIDER (wie Anm. 1), 175 f. - SIMON (wie Anm. 1), 396 f. - P RESS, Calvinismus (wie Anm. 3), 226, 230, 234 u. ö. - MBW 11 (2003), 415. 39
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dies damals zur Versorgung der jüngeren Kinder üblich war. Valentin war elf Jahre jünger als Georg (* 16. 7. 1517). 1526, im Alter von neun Jahren, bekam er eine Domherrenpfründe in Mainz. Dann aber studierte er ordentlich, 1530 in Löwen, 1536 in Toul und in Freiburg. 1541 wurde er kurmainzischer Amtmann in Bingen. Inzwischen war der Vater Graf Eberhard am 14. November 1539 im für die damalige Zeit guten Alter von 64 Jahren in Fürstenau gestorben und in Michelstadt beigesetzt worden45. Die Brüder brauchten einige Jahre, um sich an die Verantwortung als Regenten zu gewöhnen und ihre Kompetenzen abzustecken. Dann, im Jahre 1544, machten sie Nägel mit Köpfen. Durch den Vertrag von Fürstenau vom 12. Mai 1544 wurde das kleine Land dreigeteilt46. Georg bekam Michelstadt und wohnte in Fürstenau, Eberhard in Erbach. Valentin gab sowohl sein Mainzer Amt Bingen auf als auch die Pfründe in Mainz und zog nach Schönberg, der westlichsten Residenz der Schenken von Erbach (heute Stadtteil von Bensheim). Sein Studium an den katholischen Universitäten Löwen und Freiburg und sein geistlicher Stand konnten nicht verhindern, hatten vielleicht sogar bewirkt, dass er sich wie seine Brüder der Reformation annäherte. Doch tat er es wie diese bedächtig, denn so war es in der Kurpfalz unter Ludwig V. und Friedrich II. der Brauch47. Ottheinrich übertrug ihm 1558 das kurpfälzische Amt Alzey, wo er 1563 unvermählt gestorben ist, erst 46 Jahre alt. Bei wichtigen Angelegenheiten, und die waren unter Friedrich III. religiöser Art, wurde er auch im Oberrat gehört, der damit einige Jahre lang von den drei Erbacher Brüdern beherrscht wurde.
*** Nach diesem Ausblick auf das weitere Leben Valentins kehren wir in das Jahr 1544 zurück. Es ist das Jahr des kurpfälzer Regierungswechsels von Ludwig V. zu Friedrich II. Während Ludwig, in seiner ganzen Politik auf Ausgleich bedacht und erfolgreich für den Frieden wirkend48, die Lutheraner zwar nicht verfolgte, aber auch nicht begünstigte, hatte sich Friedrich unter dem Einfluss seiner oberpfälzischen Landstände, bestärkt von seiner lutherischen Gemahlin Dorothea von Dänemark, ganz besonders aber unter 45
S IMON (wie Anm. 1), 375–370. Ebd. 379 f. 47 Heinz SCHEIBLE, Reformation und Calvinismus. In: Die Kurpfalz, hrsg. v. Alexander Schweickert (1997), 177–192. 48 Albrecht Pius LUTTENBERGER, Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik 1530-1552 (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg) (1982). 46
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dem Eindruck der Argumente Melanchthons und Bucers auf dem Regensburger Religionsgespräch 1541, dessen Präsident er war, immer mehr dem Luthertum angenähert49. Er wollte die Reformation einführen. Nicht anders seine Erbacher Vasallen. Doch was heißt „die Reformation einführen“? In der lokalgeschichtlichen Literatur herrscht die Tendenz vor, von Beginn oder gar Einführung der Reformation zu reden, wenn auch nur ein Pfarrer oder Prediger als Lutheraner gelten konnte, wobei Lutheraner nicht im konfessionellen Sinn gemeint ist. Einführung der Reformation ist aber ein landesherrlicher Akt. Dazu gehören Gesetze, Kirchenordnungen, Bekenntnisse, Visitationen, Agenden, nicht unbedingt alles dies auf einmal, aber doch etwas davon. Vor allem die Mitwirkung der Obrigkeit ist unerlässlich. Aus der Grafschaft Erbach wird berichtet50, dass Schenk Eberhard XIII. 1526 von Erzbischof Albrecht von Mainz wegen seiner Kirchenpolitik gerügt wurde, dass 1532 einmal das Abendmahl unter beiderlei Gestalt gereicht wurde, dass 1533 Messpriester den Dienst verweigerten und 1538 schulfähige Söhne eines Priesters erwähnt werden. Dies alles hat mit Reformation wenig zu tun. Auch nicht, dass 1535 das Kloster Steinau säkularisiert wurde. Doch 1544 ist ein markantes Jahr. Graf Georg schrieb seine Gedanken über das Christsein in einer großen lateinischen Abhandlung nieder, die er Patrocinium Christiani nannte51, und er hat am 28. September 1544 mit dem Prediger und dem Pfarrer von Michelstadt eine Vereinbarung über die kirchlichen Handlungen getroffen, über Abendmahl, Taufe, Ehe, Katechismus, Wöchnerinnen und Feiertage52. Sie war inhaltlich wenig gefüllt. So etwas hätte auch ein katholischer Landesherr tun können, wenn schon der Bischof untätig blieb. Doch daraus hätte mehr werden können, zumal in Heidelberg 1546 öffentlich evangelischer Gottesdienst gehalten und eine Kirchengesetzgebung begonnen wurde53. All dies kam zum Erliegen, als im Schmalkaldischen Krieg Kaiser Karl V. 1547 die Protestanten besiegte und ihnen 1548 ein weitgehend katholi49
NDB 5 (1961), 528–530 (Peter FUCHS). Johann Philipp Wilhelm LUCK, Versuch einer Reformations- und KirchenGeschichte der Grafschaft Erbach und Herrschaft Breuberg (1772), 6–8. - Den Schriftwechsel des Erzbischofs mit dem Erbacher publizierte Ernst Graf ZU ERBACH, Zur Reformations-Geschichte der Grafschaft Erbach: Archiv für Hessische Geschichte und Alterthumskunde 14 (1875), 656–665. 51 SCHNEIDER (wie Anm. 1), Urkunden S. 361–375, ebd. 375–396 eine deutsche Übersetzung. Das (anscheinend gedruckte) Buch gelangte auch an Melanchthon, der es lobte: MBW 3784. 52 Erwin P REUSCHEN, Die Erbacher Kirchenordnung von 1560 und Philipp Melanchthon. In: Beiträge zur Hessischen Kirchengeschichte. Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde NF, Ergänzungsband 6 (1917), 231–253, bes. 232–234. 53 EKO 14 (1969), 11–22, 90–111. 50
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sches Religionsgesetz, das Augsburger Interim, aufzwang54, auch der Kurpfalz, denn Kurfürst Friedrich II. hatte, als seine Friedenspolitik erfolglos blieb, auf den Schmalkaldischen Bund gesetzt und ihn militärisch unterstützt. Sein Vasall Georg von Erbach folgte ihm auch hierin und kämpfte vor Ingolstadt im pfälzischen Fähnlein55. Der Kurfürst rettete sich und sein Land vor größerem Schaden durch einen Fußfall vor dem Kaiser, zu dem er seit dessen Kindheit das beste Verhältnis gehabt hatte56. Graf Georg jedoch kam nicht so billig davon. Erbach musste den Durchzug kaiserlicher Truppen erdulden und 12.000 Taler Kontribution zahlen. Das war eine gewaltige Summe. Sie hätte gereicht, eine kleinere Universität zehn Jahre lang zu finanzieren. Erst 1549 gelang die Aussöhnung mit dem Kaiser57. In dieser Zeit, am 27. Dezember 1548, fragte Melanchthon in einem Brief an seinen ehemaligen Schüler Johann Konrad Ulmer (1519–1600) nach den kirchlichen Verhältnissen im Odenwald und namentlich nach dem Ergehen der Grafen von Erbach, für die er betete58. Er war also über deren Probleme mit dem Kaiser informiert. Ulmer59, ein gebürtiger Eidgenosse aus Schaffhausen und Wittenberger Magister, war Hofprediger des Grafen Philipp von Rieneck in Lohr am Main. Dessen Gemahlin Margarete (1508–1574) war eine Schwester unserer drei Erbacher60. Acht Jahre danach beginnt ein intensiver Gedankenaustausch zwischen Melanchthon und vor allem Georg von Erbach. Die allgemeine Lage hatte sich grundlegend verändert. Durch den Aufstand des Kurfürsten Moritz von Sachsen und anderer protestantischer Fürsten gegen Karl V. war dieser Kaiser zum Passauer Vertrag von 1552 und in der Folge zum Augsburger Religionsfrieden von 1555 gezwungen worden61. Durch diesen Vertrag wurden die Anhänger des Augsburgischen Bekenntnisses von 153062, dessen Hauptverfasser Melanchthon war, als mögliche Religionsgemeinschaft im deutschen Reich anerkannt. Nun durfte jeder weltliche Reichs54
Heinz SCHEIBLE, Das Augsburger Interim und die evangelischen Kirchen (1998): oben Nr. 23. 55 SCHNEIDER (wie Anm. 1), 177–182. - Meinrad SCHAAB, Geschichte der Kurpfalz 2 (1992), 27. 56 Heinz SCHEIBLE, Fürsten auf dem Reichstag (1971, ²1981): Forschungsbeiträge (1996), 411–441, bes. 417–423. 57 SCHNEIDER (wie Anm. 1), 182–188. - SIMON (wie Anm. 1), 384 f. 58 MBW 5390. 59 Schaffhauser Biographien 4 (1991), 358–369 (Endre ZSINDELY). - DBE 10 (1999), 141. 60 SCHNEIDER (wie Anm. 1), 167. - Otto SCHECHER, Die Grafen von Rieneck (Diss. phil. Würzburg 1963), 103–108. 61 Heinrich LUTZ, Christianitas afflicta. Europa, das Reich und die päpstliche Politik im Niedergang der Hegemonie Kaiser Karl V. (1552–1556) (1964). 62 EvBek 1, 23–97.
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fürst die Reformation gefahrlos einführen. Kurpfalz ging 1556 voran, nicht nur wegen des Friedens, sondern weil in diesem Jahr der zielstrebige Ottheinrich, schon lange überzeugter Protestant, seinem Onkel Friedrich II. in der Kur nachfolgte. Im gleichen Jahr erließ er eine Kirchenordnung63, im folgenden die Universitätsreform64. Für beide stand Melanchthon im Hintergrund Pate. Die Arbeit machten Gesinnungsgenossen und Schüler. Nun wagten auch die Erbacher Grafen, wie konnte es anders sein, eine veritable Kirchenordnung65 für ihr Gebiet, das gerade aus dem Wertheimer Erbe um die halbe Herrschaft Breuberg vergrößert wurde. Doch herrschte unter den Evangelischen nicht eitel Freude. Es gab mancherlei Streitigkeiten. Auch Melanchthon wurde von einigen ehemaligen Schülern angegriffen, vor allem wegen seiner Haltung in der Zeit nach dem Schmalkaldischen Krieg, als der Kaiser die Protestanten zur Annahme seines Religionsgesetzes, des sogenannten Interims, zwingen wollte66. Melanchthon selbst sah das Hauptproblem in der Abendmahlsfrage, die seit Luthers Streit mit Zwingli die Durchsetzungskraft der reformatorischen Kirchen beeinträchtigt hatte. Nach Zwinglis Tod konnte dank dem unermüdlichen Einsatz des Straßburger Reformators Martin Bucer, der von Melanchthon tatkräftig unterstützt wurde, in der Wittenberger Konkordie von 1536 eine Verständigung erreicht werden, der auch Luther zustimmte. Man verzichtete auf Spekulationen über das Wesen von Brot und Wein in der Abendmahlsfeier und begnügte sich mit dem festen Glauben, dass Christus wirklich da ist und Vergebung und Gemeinschaft stiftet67. In den 1550er Jahren brach aber der Abendmahlsstreit erneut aus, nun zwischen dem Hamburger Ultralutheraner Joachim Westphal68 und dem Genfer Johannes Calvin69, dem bedeutendsten Theologen reformierter Konfession. Andere Vertreter dieser Richtung waren der Zürcher Heinrich Bullinger70 und der polnische Adlige Jan Laski71, der in Emden und in London gewirkt hatte, von wo er 1553 vor der katholischen Königin Maria hatte fliehen 63
EKO 14 (1969), 22–34, 111–229. Lit. s. MBW 8 (1995), 143 f Nr. 8399. 65 LUCK (wie Anm. 50), 14–17. - Aemilius Ludwig RICHTER, Die evangelischen Kirchenordnungen des sechzehnten Jahrhunderts 2 (1846, Repr. 1967), 222–224. PREUSCHEN (wie Anm. 52). 66 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie (1997), 192–205. 67 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon und Bucer (1993): Forschungsbeiträge (1996), 245– 269. 68 LThK³ 10 (2001), 1125 (Rolf DECOT). 69 MBW 11 (2003), 251. 70 MBW 11 (2003), 238 f. 71 Henning P. J ÜRGENS, Johannes a Lasco. Ein Leben in Büchern und Briefen (1999). - Johannes a Lasco (1499–1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator, hrsg. v. Christoph Strohm (2000). - RGG4 5 (2002), 83 (Hellmut ZSCHOCH). 64
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müssen. Bucer war schon gestorben. Mit all diesen stand Melanchthon in guter kollegialer Verbindung, was nicht bedeutet, dass er in allem mit ihnen einig war. Dasselbe gilt für die Erbacher Grafen, die ebenfalls zu diesen reformierten Theologen Beziehungen unterhielten, weshalb sie bei manchen als Calvinisten verdächtigt wurden. Calvinist zu sein, war nämlich nicht allein eine Angelegenheit des persönlichen Glaubens, sondern vor allem für Fürsten eine gefährliche politische Implikation, weil die Calvinisten nicht durch den Religionsfrieden von 1555 geschützt waren, sondern nur die Bekenner der Confessio Augustana. Erst im Westfälischen Frieden von 1648 wurden auch die Reformierten gleichgestellt. Davor waren 30 Jahre grausamer Krieg zu durchleiden, ausgelöst durch den Ehrgeiz eines pfälzischen Kurfürsten.
*** Melanchthon litt zeitlebens unter dem Abendmahlsstreit und versuchte durch viele Briefe und Gespräche, ihn beizulegen72. Am 24. August 1556 schrieb er an den Grafen Georg von Erbach73 und unterrichtete ihn von seinem Gedankenaustausch mit Laski, der sich in Frankfurt aufhielt, über eine Konferenz von Theologen zur Klärung der Abendmahlsfrage. Offen ließ er dabei, ob die Veranstalter Fürsten sein sollten oder ob private Zusammenkünfte ersprießlicher wären. Jedenfalls wollte er mit dem Erbacher Grafen darüber sprechen. Melanchthon wusste also, dass Georg ein gemäßigter Mann war, mit dem man verhandeln konnte. Knapp vier Wochen danach schrieb Laski aus Frankfurt, wo sich nun auch Calvin befand, an Melanchthon74 und teilte ihm mit, dass er mit Georg von Erbach Melanchthons Briefe ausgetauscht hatte. Laski und Calvin hielten eine private Zusammenkunft von gleichgesinnten Gelehrten für fruchtbarer als eine allgemeine Synode. Sie erwarteten von Melanchthon, dass er sie einberufen werde. Von den benachbarten Fürsten werden Landgraf Philipp von Hessen und Georg von Erbach für kooperativ gehalten. Ottheinrich von der Pfalz hingegen sei durch Brenz für die extrem lutherische Lehre eingenommen. Es war aber nicht in erster Linie der Württemberger Brenz75, der die lutherische Ausrichtung des Heidelberger Hofes erreicht hatte, sondern der
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Heinz SCHEIBLE, Melanchthon als theologischer Gesprächspartner Luthers.(1998): oben Nr. 1, bes. S. 23–26. 73 MBW 7926. 74 MBW 7960. 75 MBW 11 (2003), 214 f.
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pfälzische Kanzler Erasmus von Minckwitz76, den Ottheinrich von dem ehemals sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich77, dem Hauptverlierer des Schmalkaldischen Krieges, übernommen hatte, und der auch Melanchthons Hauptfeind Matthias Flacius Illyricus78 begünstigte. In den folgenden Jahren sollte es im Heidelberger Oberrat zu einem Machtkampf zwischen den Erbachern und Minckwitz kommen, den der Kanzler verlor. Statt zu der im August 1556 erwogenen Theologenkonferenz kam es ein Jahr später zu dem letzten großen Religionsgespräch in Melanchthons an Verhandlungen so reichem Leben. In Worms sollte noch einmal eine Verständigung der beiden Religionsparteien versucht werden79. Das Kolloquium scheiterte, weil zu viele Teilnehmer und noch mehr Leute im Hintergrund die Verständigung gar nicht wollten, bei den Katholiken nicht und noch mehr bei den Lutheranern, nämlich die sächsisch-ernestinischen Politiker in Weimar und ihre Theologen in Jena, die von Flacius beeinflusst wurden. Das Gespräch stockte, bevor es richtig in Gang kam. Um die Wartezeit zu nützen, unternahmen die Kolloquenten Reisen in die Nachbarschaft, Melanchthon Ende Oktober 1557 nach Heidelberg, wo er die Universitätsreform billigte und sehr geehrt wurde80. Die Erbacher Grafen waren damals anscheinend nicht in Heidelberg dabei, denn sie luden Melanchthon ein, sie im Odenwald zu besuchen81. Er hatte schon Pferde gemietet, aber dann überfiel ihn in der Nacht zum 6. November eine Blasensteinkolik, und bevor der große Stein nicht den Ausgang gefunden hatte, traute er sich nicht auf die Reise82. Immerhin war er 60 Jahre alt. In Heidelberg hatte ihn die Nachricht erreicht, dass seine Frau in Wittenberg gestorben war83. Die Trauer wirkte sich auch auf seine Leiblichkeit aus. Da Melanchthon nicht nach Michelstadt kam, schickten die Grafen am 29. November 1557 zwei Gesandte, den Michelstädter Pfarrer Andreas Staltz und den Sekretär Georg Schwaiger, nach Worms, um den Entwurf einer Kirchenordnung von Melanchthon und Brenz prüfen zu lassen84. Übrigens sind die einschlägigen Akten 1932 von Erbach an das Staatsarchiv Darmstadt abgegeben worden und dort 1944 verbrannt85.
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Barbara KURZE, Kurfürst Ott Heinrich (1956), 32 f mit 110 f Anm. 67. - P RESS, Calvinismus (wie Anm. 3), 207 und passim. 77 NDB 10 (1974), 524 f (Thomas KLEIN). - RGG4 4 (2001), 513 (Michael B EYER). 78 MBW 12 (2005), 66–68. 79 Benno VON B UNDSCHUH, Das Wormser Religionsgespräch von 1557 (1988). 80 MBW 8397, 8399 f, 8406. 81 MBW 8420. 82 MBW 8421, 8427. 83 MBW 8394, 8409–8412. 84 MBW 8436. 85 PRESS, Erbach (wie Anm. 1), 656.
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Melanchthon und Brenz erklärten ihre volle Zustimmung und machten nur geringfügige Änderungsvorschläge86, die bei der Drucklegung zumeist übergangen wurden. 1560 wurde diese Erbacher Kirchenordnung gedruckt und in Kraft gesetzt87. Inzwischen war Graf Eberhard von Ottheinrich zum Großhofmeister berufen worden. Dies war eindeutig eine Maßnahme zur Entmachtung des Kanzlers Minckwitz. Bald danach starb Ottheinrich kinderlos. Kurfürst wurde Friedrich von Simmern, der Schwager Georgs von Erbach, den er alsbald zum Statthalter ernannte. Graf Eberhard blieb natürlich Großhofmeister. Rückhalt hatten die Lutheraner bei der Kurfürstin Maria, die die beiden Erbacher für Zwinglianer hielt88. Für den dritten der Brüder, nämlich Valentin, galt dasselbe. Er war damals Burggraf von Alzey. Im Auftrag des Kurfürsten Friedrich III. erreichte er die Befreiung des Trierer Protestanten Caspar Olevian89 aus dem erzbischöflichen Gefängnis. Olevian wurde danach in Heidelberg der Hauptvertreter der Calvinisten. Rückschlüsse auf Valentins Glaubensrichtung lässt dies natürlich nicht zu. Dass es in Heidelberg zu einem fürchterlichen Glaubensstreit kam, der Auswirkungen auf die ganze Pfalz und, wenn man an den Dreißigjährigen Krieg denkt, auf ganz Europa hatte, wurde vom ahnungslosen Melanchthon angestoßen. Als nämlich Ottheinrich einen Generalsuperintendenten brauchte, vermittelte Melanchthon einen seiner begabtesten Schüler, den Weseler Patriziersohn Tilemann Heshusen90. Dies war ein Fehlgriff, denn Heshusen war jung und von einem gewaltigen Sendungsbewusstsein durchdrungen. Er hielt sich für verpflichtet, jede Abweichung von der reinen Lehre, wie er sie verstand, zu verhindern. Der Streit begann, als ein Heshusen nachgeordneter Geistlicher, Wilhelm Klebitz91, Diaconus an Heiliggeist, von dem Theologieprofessor Petrus Boquinus92, einem Franzosen, zum Baccalaureus der Theologie promoviert wurde. Heshusen erhob Einspruch, weil er die Disputationsthesen für nicht rechtgläubig einschätzte. Obwohl die Regierung Ruhe verordnete, legte Heshusen sein Bekenntnis vor: Beim Abendmahl sind Leib und Blut Christi ,in‘ Brot und Wein und werden auch von Ungläubigen empfangen; das Brot ist der wahre Leib Christi. Das war 86
MBW 8445. PREUSCHEN (wie Anm. 52). 88 PRESS, Calvinismus (wie Anm. 3), 226. Dieses Urteil teilt Walter HOLLWEG, Der Augsburger Reichstag von 1566 und seine Bedeutung für die Entstehung der Reformierten Kirche und ihres Bekenntnisses (1964), 15–20. 89 LThK³ 7 (1998), 1041 (Heiner FAULENBACH). 90 MBW 8563, 8576, 8687, 8717, 8863, 9012, 9091, 9103–9105, 9112, 9116 f. MBW 12 (2005), 282–284. 91 MBW 12 (2005), 421 f. 92 MBW 11 (2003), 177. 87
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mehr, als Luther 1536 in der Wittenberger Konkordie von den oberdeutschen Theologen verlangt hatte, und konnte von dem Zwinglianer Klebitz keinesfalls unterzeichnet werden. Heshusen exkommunizierte ihn am 3. September 1559. Es kam zu Polemik und zu Tätlichkeiten. Dem Statthalter Georg von Erbach drohte Heshusen den Kirchenbann an93. Der Kurfürst entließ sowohl Heshusen als auch Klebitz und schickte dann seinen Sekretär Stephan Zirler94 (der mit einer Großnichte Melanchthons verheiratet war) nach Wittenberg, um vom Präzeptor ein Gutachten einzuholen. Melanchthon war ganz damit einverstanden, dass man die Streithähne beider Parteien entfernte, und stellte das Wort des Apostels Paulus: „Das Brot, das wir brechen, ist die Gemeinschaft des Leibes Christi“ (1. Kor. 10, 16) in die Mitte der Abendmahlslehre. ,Gemeinschaft‘ sagt nichts über die Substanz aus. Zu fragen, was in den Magen gelangt, oder was eine Maus frisst, wenn sie eine geweihte Hostie erwischt, zeugt von Aberglauben. Es kommt nicht auf das Wesen, sondern auf die Gabe des Mahls an, die nur im Vollzug der Feier geschenkt wird. Bei der Verkündigung des Evangeliums ist Gottes Sohn wirklich gegenwärtig in den Gläubigen, nicht um des Brotes, sondern um des Menschen willen, der als Glied Christi die Verheißung der Auferweckung seines Leibes empfängt95. Diese Darlegung Melanchthons setzte bei Friedrich dem Frommen eine theologische Entwicklung in Gang, die ihn vom Luthertum zum Calvinismus brachte. Er wurde dabei von den drei Erbacher Grafen, seinem Schwager Georg, seinem Großhofmeister Eberhard und seinem Amtmann in Alzey Valentin, bestärkt und unterstützt. Das letzte, was Melanchthon von Erbach hörte, ist ein Bericht, den sein Freund Hubert Languet am 8. April 1560, zehn Tage vor seinem, Melanchthons, Tod, aus Frankfurt abschickte96. Vielleicht hat er ihn noch erhalten. Darin heißt es: Am kurpfälzischen Hof herrscht Graf Eberhard von Erbach; Erasmus von Minckwitz ist ohne Einfluss. Die drei Erbacher begleiteten den Übergang der Kurpfalz zum Calvinismus nur eine kurze Zeit. 1563, im Jahr des Heidelberger Katechismus, der eher melanchthonisch als calvinistisch ist97, und der neuen Kirchenordnung, starb Valentin. Im Jahr danach folgte ihm Eberhard. Georg lebte bis 1569. Da seine Ehe mit der Pfalzgräfin kinderlos geblieben war, vereinigte Eberhards Sohn Georg II. die Erbachischen Besitztümer unter einer Herrschaft. Er war wie auch Kurfürst Friedrichs III. ältester Sohn und Nachfolger Ludwig VI. entschiedener Lutheraner und machte die Grafschaft 93
PRESS, Calvinismus (wie Anm. 3), 228. MGG 14 (1968), 1319 f (Siegfried HERMELINK). 95 MBW 9118 f. 96 MBW 9292. 97 Derk VISSER, Zacharias Ursinus (wie Anm. 29). 94
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Erbach lutherisch. Sein Schwager, der Mann seiner Schwester Margareta, Friedrich Schenk zu Limburg98, war ebenfalls Lutheraner. Er wurde Ludwigs VI. Großhofmeister. Als Ludwig VI. bei der Regierungsübernahme 1576 unter Missachtung des Testamentes seines Vaters in der Kurpfalz das Luthertum restituierte, holte er seinen Generalsuperintendenten aus der Grafschaft Erbach. Es war der Michelstädter Pfarrer Andreas Staltz (auch Stoltz)99, ein Sachse aus Zwickau. Auf die Dauer hat sich hier im Erbachischen dennoch die mittlere Linie Melanchthons durchgesetzt. Die Erbacher und Michelstädter gehören, soweit sie protestantisch sind, zur Hessen-Nassauischen Landeskirche. Sie ist wie die badische, aus der ich komme, eine Unionskirche. Diese Kirchenunionen sind im 19. Jahrhundert entstanden und können nicht ohne weiteres mit einer Richtung des 16. identifiziert werden. Von allen Theologen der Reformationszeit steht ihnen aber Melanchthon am nächsten. Über dessen 500. Geburtstag hinaus, der auch durch diesen Vortrag gefeiert wurde, haben wir allen Grund, seiner immer wieder zu gedenken: als Pädagogen und Bildungsreformer, als Vermittlungstheologen und als Freund der Erbacher Grafen. Alles dies leistete auch die schöne Ausstellung im Schloss Fürstenau, die zeigte, was alles von Melanchthon in Michelstadt mit seiner kostbaren und nun auch gut betreuten MatzBibliothek vorhanden ist.
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PRESS, Calvinismus (wie Anm. 3), 278 f u. ö. Ebd. 285.
Das Melanchthonbild Karl Holls Um das Jahr 1910 gab es an der Berliner Universität, der vornehmsten im deutschen Kaiserreich1, drei Professoren für Kirchengeschichte. Weltweit bekannt war Adolf Harnack2, der (wie es sich damals gehörte) umfassend gebildet war, aber doch seinen Forschungsschwerpunkt im christlichen Altertum hatte. Seine Bücher über die Ausbreitung des Christentums im römischen Reich, über den antijüdischen Ketzer Marcion und vor allem seine dreibändige Dogmengeschichte sind noch heute als Standardwerke in Gebrauch. Seine Vorträge über das Wesen des Christentums musste damals jeder gebildete Protestant gelesen haben. Sie waren dann durch die theologische Entwicklung im 20. Jahrhundert eine Zeitlang verfemt, sind aber immer wieder nachgedruckt und zuletzt 1999 kritisch ediert worden3. Von Kaiser Wilhelm II., der ihn immer wieder zu sich rief, wurde er mit Ehren überhäuft. Er war zusätzlich zu seiner Professur auch Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek, Präsident der Kaiser-WilhelmGesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft (auf einer Dienstreise für diese Institution ist er achtzigjährig 1930 in Heidelberg gestorben), Mitglied und Geschichtsschreiber der Preußischen Akademie der Wissenschaften, und er wurde 1914 in den Adelsstand erhoben. Es konnte gar nicht anders sein, dass er auch den Kommissionen zur Herausgabe der Werke Luthers, der Weimarer Ausgabe, deren erster Band im Jubiläumsjahr 1883 erschien4, und der »Werke Melanchthons, die im Corpus Reformatorum vermisst werden«, der »Supplementa Melanchthoniana«, die 1910 schleppend zu erscheinen begannen5, angehörte. Geleitet wurde diese Kommission von Harnacks Schüler Friedrich Loofs6, Professor in Halle,
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Kurt-Victor SELGE, Berlin, Universität: RGG4 1 (1998), 1318–1320. Wolf-Dieter HAUSCHILD, Harnack, Adolf: RGG4 3 (2000), 1457–1459. - Gunther W ENZ, Der Kulturprotestant Adolf von Harnack als Christentumstheoretiker und Kontroverstheologe (2001). 3 Adolf von HARNACK, Das Wesen des Christentums, hrsg. und kommentiert von Trutz RENDTORFF 1999. 4 Johannes SCHILLING, Lutherausgaben: TRE 21 (1991), 594–599. 5 Heinz SCHEIBLE, Überlieferung und Editionen der Briefe Melanchthons (1968): Forschungsbeiträge (1996), 1–27, bes. 14–19. 6 Stephan B ITTER, Loofs, Friedrich: TRE 21 (1991), 464–466. 2
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dessen einbändiges Lehrbuch der Dogmengeschichte zahllosen Studenten zur Examensvorbereitung gedient hat. Seit 1890 hatte Harnack an der Berliner Fakultät einen fünf Jahre jüngeren Fachkollegen, der nur Extraordinarius war und die Christlicharchäologische Sammlung – ein »Stiefkind der Fakultät«7 – zu leiten hatte. Persönlich war er das Gegenteil des weltgewandten Harnack, ein empfindlicher Junggeselle, der sich mit Leidenschaft in den Archiven vergrub. Als Archäologe kam er nach Rom. Dort hat er auch die Briefe Melanchthons an Camerarius im Urtext studiert und wollte sie kritisch edieren. Weil er über Melanchthon wirklich mehr wusste als der berühmte Harnack, wurde auch er in die Supplementa-Kommission berufen. Sein Name ist Nikolaus Müller8. Die Brettener kennen ihn gut, denn seinem Sachverstand und seiner Energie verdanken sie das einzigartige Melanchthon-Museum9, in dessen Städtezimmer seine Büste aufgestellt ist10. Die Reformationshistoriker zitieren noch heute sein umfassendes Quellenwerk über die Wittenberger Bewegung 1521/2211. Aber wirklich rezipiert wurde es lange nicht, sondern es wurden weiterhin die klischeehaften Fehlurteile über diese Phase der Reformation verbreitet, die aus einer Zeit stammen, als Ruhe für des Bürgers erste Pflicht galt. Erst die jüngste Forschung hat hier Abhilfe geschaffen12. Nikolaus Müller hat sich auch um die brandenburgische Reformationsgeschichte verdient gemacht. Er war Mitbegründer des Vereins und erster Herausgeber des Jahrbuchs für Brandenburgische Kirchengeschichte, das er mit quellengesättigten Beiträgen versorgt hat. Doch dort werden ihn nur noch wenige kennen. Dies wäre anders, wenn ihm nicht ein Ereignis widerfahren wäre, das er als seine wissenschaftliche Katastrophe empfinden musste, und das ihm vermutlich letztendlich das Herz abdrückte. Als die Weimarer Lutherausgabe längst über die frühen Vorlesungen und Schriften hinaus geschritten war, wurde Luthers einzige Vorlesung über den Römerbrief, die er 1515/16 gehalten hat, entdeckt, zuerst in einer Abschrift in der Vatikanischen Bibliothek in Rom, und als davon schon erste Proben erschienen waren, 7
Walter DRESS, Berlin: TRE 5 (1980), 631–638, bes. 636.2–4 . SCHEIBLE (wie Anm. 5), 17 f mit 27. - Andreas T ACKE, Nikolaus Müller – der Gründer des Melanchthonhauses Bretten. In: Das Melanchthonhaus (wie Anm. 9), 103– 144. 9 Das Melanchthonhaus Bretten. Ein Beispiel des Reformationsgedenkens der Jahrhundertwende, hrsg. v. Stefan Rhein und Gerhard Schwinge (1997). 10 Heinz SCHEIBLE, Philipp Melanchthon. Eine Gestalt der Reformationszeit, Karlsruhe 1995 (Lichtbildreihe zur Landeskunde), 127; hieraus bei T ACKE (wie Anm. 8), 137. Die Porträtähnlichkeit wurde neuerdings angezweifelt. 11 Nikolaus MÜLLER, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522 (²1911). 12 Jens-Martin KRUSE, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516-1522 (2002). 8
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übrigens in der aggressiven Lutherbiographie des gelehrten Dominikaners Heinrich Denifle, wurde auch Luthers Autograph entdeckt, das seit Urzeiten in der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin lag. Nikolaus Müller hatte schon vorher den Auftrag erhalten, die römische Nachschrift für die Weimarana zu edieren, sich an die Arbeit gemacht und erste Druckbogen produziert. Da machte der Straßburger Kirchenhistoriker Johannes Ficker13, ein Schüler von Loofs und Müllers Kollege in der MelanchthonKommission, angeblich ältere Rechte geltend und konnte sich durchsetzen. Müllers Arbeit wurde zurückgezogen, und Ficker publizierte diesen epochalen Fund 1908 außerhalb der Weimarana14. Dort erschien diese Vorlesung erst 1938 als Band 56, die römische und andere Nachschriften 1939 in Band 57. Eine Nachschrift von Luthers früher Galatervorlesung war 1877 im Antiquariatshandel angeboten und von dem Elberfelder Pastor und Kirchenhistoriker Carl Krafft15 erworben worden. Nach dessen Tod 1898 erhielt sie Nikolaus Müller für das Melanchthonhaus. Natürlich wollte er sie publizieren. Wie schwer solche Handschriften zu lesen sind, davon kann man sich im Fürstenzimmer des Brettener Melanchthonhauses überzeugen, denn hierher kam dieses singuläre Stück, nachdem Müller 1912 im Alter von 56 Jahren einsam vom Herztod dahingerafft worden war. Sie wurde 1918 von dem Heidelberger Kirchenhistoriker Hans von Schubert publiziert16. Die Ausgabe in der Weimarana Band 57 wurde 1939 von Fickers Schüler Karl August Meißinger besorgt. Ich erwähne ihn auch deshalb, weil er 1922 und 1927 die von Nikolaus Müller zusammengetragenen Handschriften des Melanchthonhauses Bretten verzeichnet hat17, aber lieblos und fehlerhaft, eine postume Beleidigung für den Gründer, der ein Intimfeind von Meißingers Lehrer Ficker war. Es ist eine genuine Aufgabe des hauptamtlichen Kustos, hier Abhilfe zu schaffen. Ich habe das Getümmel um die frühen Vorlesungen Luthers andeutungsweise geschildert, um den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund für mein Thema in den Blick zu bekommen. 1906 wurde in Berlin ein zweites Ordinariat für Kirchengeschichte errichtet. Der neue Kollege Harnacks und des nun deutlich zurückgesetzten 50jährigen Nikolaus Müller war der 40-jährige Karl Holl18, seit sechs Jahren Professor für Kirchengeschichte in seiner Heimatstadt Tübingen, wo er 13
RGG³ 2 (1958), 935 (Ernst W OLF). - BBKL 2 (1990), 29 f (Friedrich Wilhelm B AUTZ). 14 Darüber berichtet Karl August MEISSINGER, Der katholische Luther (1952), 278 f. 15 BBKL 4 (1992), 584–586 (Wolfgang HEINRICHS). 16 Vgl. WA 57, Galater III–VII. 17 ARG 19 (1922), 48–71; 24 (1927), 22–97. 18 TRE 15 (1986), 514–518 (Johannes W ALLMANN). - RGG4 3 (2000), 1843 (Heinrich ASSEL).
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auch die übliche Ausbildung durchlief, wobei er die Theologie Albrecht Ritschls gründlich lernte19. Als er mit seiner heimatlichen Fakultät und mit seiner Landeskirche Schwierigkeiten bekam (Johannes Wallmann hat dies aufgedeckt20), holte ihn Harnack in die Kirchenväteredition der Berliner Akademie, wo er als Angestellter – man nannte das damals „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ – seine Aufgabe in hervorragender und vorbildlicher Weise vollbrachte, nämlich die Edition der Werke des griechischen Kirchenvaters Epiphanius21. Hierbei musste er sich auch mit Melanchthons Briefwechsel befassen, denn eine wichtige Handschrift befand sich im 16. Jahrhundert im Besitz des Erfurter Reformators Johannes Lang, von dem sie Melanchthon entlieh und den Druck betrieb22. Holl war 17 Jahre alt, als der erste Band der Weimarer Lutherausgabe erschien. Es ist zu vermuten, dass der hochbegabte und umfassend gebildete Theologe die in rascher Folge erscheinenden Bände zur Kenntnis genommen hat. Als Berliner Professor erlebte er dann die Aufregung um die Neufunde hautnah mit. Beteiligt hat er sich daran nicht. Als Editor war er durch den Griechen ausgewiesen. Er nahm die Neufunde inhaltlich zur Kenntnis. Schon zwei Jahre nach Fickers Publikation der Römerbriefvorlesung, 1910, veröffentlichte Karl Holl in der Tübinger Zeitschrift für Theologie und Kirche einen großen Aufsatz, der den Titel trägt: »Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewissheit«23. Darin steht der Satz: »Melanchthon hat die lutherische Rechtfertigungslehre verdorben«24. Dieser Satz ist wohlbedacht und fasst das Ergebnis der Analysen Holls zusammen. Holl nahm daran Anstoß, dass Melanchthon bei seiner Entfaltung des christlichen Glaubens vom Menschen ausgeht, von seiner Not, seiner Sehnsucht nach Sinn und Rettung. Er verlangte von einem Theologen, das dogmatische System auch vom Standpunkt Gottes aus zu denken. Er meinte, Luther habe dies im Gegensatz zu Melanchthon und vielen anderen vollbracht. Mit großer Klarheit hat er seinen Haupteinwand gegen Melanchthon folgendermaßen formuliert: 19
Über Ritschls Melanchthonbild und seine Nachwirkung bei Holl vgl. Rolf SCHÄFER, Albrecht Ritschls Melanchthonbild und seine Folgen. In: Erinnerung an Melanchthon. Beiträge zum Melanchthonjahr 1997 aus Baden (1998), 75–85. 20 Johannes W ALLMANN, Karl Holl und seine Schule: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 4 (1978), 1–33, bes. 14 f. 21 LThK³ 3 (1995), 723–725 (Wolfgang A. B IENERT). - RGG4 2 (1999), 1374 (Jürgen DUMMER). 22 Karl HOLL, Die handschriftliche Überlieferung des Epiphanius (1910), 1–5 und 75– 80. - MBW 3075. 23 Karl HOLL, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1 (61932), 111–154. 24 Ebd. 128.
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»Seit Melanchthon ist es in der protestantischen Theologie üblich geworden, die Rechtfertigung ausschließlich unter dem Gesichtspunkt aufzufassen, unter dem sie der Mensch braucht und erfährt, nämlich als Trost des Gewissens. Die andere Seite der Sache, die Rechtfertigung, sofern sie Tat Gottes ist, und die Absicht die Gott dabei verfolgt, wird nur soweit berücksichtigt, als es zur Begründung der Vergebungsgewissheit notwendig erscheint. Das ist jedoch eine Verkürzung von Luthers Gedanken. Luther hat den ganzen, von der Rechtfertigung bis zum Gericht sich erstreckenden Vorgang ebenso vollständig vom Standpunkt Gottes wie von dem des Menschen aus durchgedacht und dargestellt. Und gerade die vom Gottesbegriff ausgehende und zu ihm zurückkehrende Betrachtungsweise hat für ihn ihren besonderen Wert. In ihr macht Luther gewissermaßen die Probe auf die Rechnung. Indem er sich bemüht, das bei der Rechtfertigung vorausgesetzte Handeln Gottes in seinem eigenen inneren Zusammenhang zu verstehen, liefert er den Beweis, dass seine Lehre auf einen einheitlichen, vom sittlichen Boden aus vertretbaren Gottesbegriff hinausführt. Damit schützt er sich gegen den Verdacht, als ob sie nur aus 25 einem Wunsch, nur aus der Bequemlichkeit des Menschen heraus geboren sei« .
In dieser Gesamtschau sieht Holl den Beweis dafür, dass Luther entgegen der landläufigen Meinung ein großer Systematiker war. »Die jetzt sprichwörtlich gewordene Redensart „Luther war kein Systematiker“ deckt zumeist nur die Bequemlichkeit, es ernsthaft mit dem Nachdenken über Luthers verschieden klingende Aussagen zu versuchen. Aber was Augustin oder Goethe recht ist, sollte auch Luther gegenüber billig sein. Wenn man unter einem Systematiker einen Mann versteht, der imstande ist, große Gedankenzusammenhänge zu erschauen, dann war Luther in weit höherem Maß Systematiker als Calvin, um von Melanchthon gar nicht zu reden. Schulmeisterliche Art des Vortrags ist doch nicht das Kennzeichen des Systema26 tikers« .
Melanchthon ist nicht Holls Thema, und seine Quellenbasis, Luthers Römerbriefvorlesung von 1515/16, entstand, als sich Luther und Melanchthon noch gar nicht kannten. Dennoch ergreift Holl jede Gelegenheit, über Melanchthon ein abwertendes Urteil zu fällen. Selbst wenn beide das Gleiche sagen, darf es nicht Dasselbe sein. »Ich bin nicht mehr sicher, ob Luther die melanchthonische Formel von der „Aneignung der Gerechtigkeit Christi“ überhaupt einmal gebraucht hat. ... Luther versteht jedenfalls unter der imputatio etwas anders als Melanchthon, und auch das fide apprehendere Christum hat bei ihm einen tieferen Sinn, als das bloße „Aneignen“ der Gerechtigkeit Christi«27. Bei Luther erschöpft sich – so Holl28 – »nicht wie bei Melanchthon das Werk Christi in der Versöhnung Gottes. Christus ist ihm nicht nur der Stiller des göttlichen Zorns, sondern vermöge seiner Auferstehung der Wirker der neuen Gerechtigkeit im Menschen.«
25
Ebd. 113 f. Ebd. 117 Anm. 2. 27 Ebd. 118 Anm. 2. 28 Ebd. 125 Anm. 2 zu S. 124 über simul bzw. imputatio. 26
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Meines Erachtens begeht Holl den methodischen Fehler, Aussagen des frühen Luther, der Melanchthon noch nicht kannte, mit denen des späteren Melanchthon zu vergleichen, ohne zu fragen, ob vielleicht auch Luthers Lehre gegenüber der frühen, bei der nicht einmal sicher ist, wie weit er schon die volle reformatorische Erkenntnis hatte, eine Entwicklung durchgemacht hat, möglicherweise unter dem Einfluss Melanchthons, jedenfalls im jahrelangen Gespräch mit diesem29. Dabei ist sich Holl durchaus bewusst, dass in der von ihm untersuchten Römerbriefvorlesung Aussagen zu finden sind, die als katholisch verstanden werden können. Er weiß um »die zahlreichen Stellen«, »an denen Luther in irgendwelcher Form sagt, dass Gott um des Glaubens willen den Menschen rechtfertige, ... per nonimputationem dei propter humilitatem et gemitum fidei. Der melanchthonisch Gewöhnte wird unruhig, wenn er dieses propter hört. Er wittert dahinter sofort den katholischen Verdienstgedanken. Nur muss man dann das Leidige einräumen, dass Luther in diesem Punkt den katholischen Sauerteig niemals los geworden ist. Und allerdings, wenn Melanchthon die angeführten Sätze geschrieben hätte, wären sie sehr bedenklich«30. Wir untersuchen hier Holls Abneigung gegen Melanchthon, die ihn blind machte für die reformatorische Qualität von dessen Lebenswerk, was infolge der theologiegeschichtlichen Bedeutung Holls zu einer weitgehend negativen Beurteilung des Reformators neben Luther in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts führte. Doch darf darüber nicht vergessen werden, dass Holl diejenige Vorlesung Luthers, durch die eine erste Studentengeneration für die reformatorische Theologie gewonnen wurde, untersuchte und selbst davon ergriffen war. Sie befreite ihn von einer als erstarrt empfundenen kirchlichen Lehre, die er historisch auf Melanchthon zurückführte. Die Ergebnisse seines Luther-Studiums vermochte er sprachgewaltig zu beschreiben. Darin liegt seine große Wirkung begründet: »Der Grundgedanke der Rechtfertigungslehre, die Luther in der Römervorlesung vorträgt, ist also höchst einfach und klar. Gott setzt aus freiem Erbarmen den Sünder zu sich ins Verhältnis. Dass er dies tut, ist ein Wunder, das der Mensch nur als Tatsache hinnehmen und verehren kann. Aber Gott kann es tun, ohne seiner Heiligkeit etwas zu vergeben. Denn gerade, indem er den Menschen die Gemeinschaft mit sich gewährt, schafft er die Bedingung dafür, um ihn zu heben und ihm das sündige Wesen abzustreifen. Oder, so kann man es auch ausdrücken: Gott begründet seinerseits die Gemeinschaft mit dem Menschen, um ihn eben damit für die Gemeinschaft mit sich zu erziehen. Das ist, nur theologisch ausgestaltet, der tiefsinnige Leitgedanke der Predigt Jesu: Gott ruft gerade den Sünder zur Buße und nicht den Gerechten; denn der, dem viel vergeben ist, der wird ihn auch am meisten lieben. Wenn man diesen einfachen Sinn der 29
Heinz SCHEIBLE, Melanchthon als theologischer Gesprächspartner Luthers (1998): oben Nr. 1. 30 HOLL (wie Anm. 23), 126 f.
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lutherischen Rechtfertigungslehre andauernd verkennt, so rührt das nur von dem Zwang her, den die melanchthonischen Formeln bis heute noch ausüben. Melanchthon hat die lutherische Rechtfertigungslehre verdorben, indem er die Lehre von der göttlichen Alleinwirksamkeit abschwächte. Er hält diese Lehre wohl aufrecht bei der Schilderung der Entstehung des Glaubens. Aber er vermag nicht ebenso wie Luther das ganze neue Leben als ein zusammenhängendes Gotteswerk, als das Ziel, auf das Gott mit der Rechtfertigung hinstrebt, zu begreifen. Bricht man aber dieses Stück aus, so wird alles bei Luther schief. Was Melanchthon aus eigenen Kräften beisteuerte, war ein übler Ersatz für den angerichteten Schaden. Denn seine Imputationslehre gibt folgerichtig dem Glauben die Bedeutung eines Verdienstes. Sie führte unvermeidlich auf die Frage, warum Gott das Verdienst Christi nicht allen, sondern nur einem Teil zurechne. Die Antwort konnte immer nur lauten: weil die einen glauben und die andern nicht. Das hieß aber nichts anderes, als dass der vom Menschen geleistete Glaube für Gott der Grund wird, ihm die Gerechtigkeit Christi zugute kommen zu lassen. Und damit war man beim Verdienst angelangt. Alle Anstrengungen Melanchthons und seiner „lutherischen“ 31 Nachfolger, diesem Schluss zu entgehen, sind vergeblich gewesen« . »Auch Calvin hat nicht die ganze Höhe Luthers erreicht, obwohl er in seinem Gottesbegriff die Voraussetzung dafür besaß. Selbst ihn haben Melanchthons Formeln niedergezogen«32.
In klassischer Klarheit hat Holl sein Verständnis Luthers und der Aufgabe eines Theologen überhaupt in der späteren Abhandlung »Die Rechtfertigungslehre im Licht der Geschichte des Protestantismus«33 wiederholt. Nach Holl hat ein Theologe nicht nur vom Standort des Menschen aus zu denken – dies tut Luther auch, aber Melanchthon nur –, sondern er muss das System auch von Gott her entwerfen: »Geht Luther von dem Erlebnis des Menschen aus, so erscheint die Rechtfertigung als die Wiedergewinnung eines religiösen Selbstgefühls, das jedoch als reines Gnadengeschenk hingenommen wird. ... Anders stellt sich der Vorgang dar, wenn Luther ihn von oben her betrachtet. Von Gott aus angesehen erscheint die Rechtfertigung als freie Setzung eines Verhältnisses zwischen sich und dem Sünder. Sie ist ein Gnadenakt, aber doch kein reiner Willkürakt. Denn Gott nimmt den Menschen, den er in das Verhältnis zu sich hereinzieht, nicht an, um ihn so zu lassen, wie er ist, sondern um ihn umzuschaffen zu einem wirklich Gerechten. Er vergibt, nicht nur um etwas auszulöschen, sondern um ein Neues, Höheres anzufangen. Christus und der Heilige Geist sind die Kräfte, durch die er dieses Werk vollbringt. Und als der Allmächtige kommt Gott sicher zum Ziel. Insofern muss man sagen: wenn Gott dem Sünder in dem Augenblick, in dem er nur Sünder ist, für „gerecht erklärt“, so nimmt er das Ergebnis vorweg, zu dem er selbst den Menschen führen wird. Sein Rechtfertigungsurteil ist „analytisch“, d. h. er spricht denjenigen gerecht, der in seinen Augen jetzt schon gerecht ist. Nicht weil er etwa „voraussähe“, was der Mensch aus eigenen Kräften tun oder werden wird – erst eine spätere Verunstaltung hat dies aus Luthers Lehre gemacht –, sondern weil er die Macht seines eigenen Wollens kennt. Für ihn, den Ewigen, ist das Werk schon fertig in dem Augenblick, in dem er es beginnt. Denn was er will, will er ernsthaft, und er kann, was er will«34. 31
Ebd. 128 f. Ebd. Anm. 1. 33 Karl HOLL, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 3 (1928), 525–557. 34 Ebd. 531 f. 32
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Holl muss feststellen, dass diese wahrhaft theologische Schau der Rechtfertigung schon in den Bekenntnissen von 1530 und dadurch in den reformatorischen Kirchen insgesamt nicht rezipiert wurde. Warum dies unter Luthers Augen geschehen konnte, ob Luther vielleicht die Lehre Melanchthons doch nicht für unangemessen hielt, fragt Holl nicht. Er schreibt: »Jedoch bedeutungsvoller als alles dies war für die weitere Entwicklung die Tatsache, dass Luthers Rechtfertigungslehre nicht in der ursprünglichen Gestalt, die er ihr gegeben hatte, sondern in der abgewandelten Melanchthons Gemeingut der evangelischen Kirche wurde. Melanchthon, nicht Luther, hat die beiden wichtigsten Bekenntnisschriften, die Confessio Augustana und die Apologie, verfasst, deren Formeln von da an als die echte Ausprägung der Lehre galten. Melanchthon hat jedoch von vornherein etwas Wesentliches unterdrückt, sofern er von den beiden Betrachtungsweisen, die bei Luther nebeneinander hergehen, nur die eine, die auf das Erlebnis des Menschen sich beziehende, übernahm. Nach ihm ist, wie er ausdrücklich sagt, die ganze Rechtfertigungslehre von dem Punkt aus zu begreifen, dass sie Trost, Beruhigungsmittel für das Gewissen ist. Er hob damit diejenige Seite hervor, die dem einfachen Verständnis am nächsten lag. Aber die Verkürzung zog doch schwere Schäden nach sich. Erstens: Um es nun seinerseits begreiflich zu machen, inwiefern Gott den Sünder für gerecht erklären könne, entwickelte Melanchthon die Lehre von der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi an die Gläubigen. Jedoch mit ihr kam man vor ein böses Entweder–Oder. Entweder fasste man die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi als einen unabhängig vom Verhalten des Menschen sich abspielenden Vorgang. Dann ergab sich hier unzweifelhaft eine Selbsttäuschung Gottes, eine „Gerechtigkeit“ Gottes, die keine war: Gott verbarg sich den wirklichen Tatbestand, indem er aus reiner Willkür die Gerechtigkeit Christi dem Menschen wie einen Mantel umhängte. Oder wollte man dem entgehen und betonte, dass die Gerechtigkeit Christi eben nur dem Gläubigen angerechnet werde, dann wurde der Schaden womöglich noch schlimmer. Denn jetzt erschien der Glaube als die Bedingung, um derentwillen Gott zurechnete; er bekam tatsächlich die Bedeutung eines Verdienstes, das Gott lohnte; mochte Melanchthon auch noch so nachdrücklich versichern, der Glaube sei kein opus per sese dignum. – Zweitens wurde bei dieser einseitigen Betrachtungsweise das Verhältnis von Rechtfertigung und innerer Erneuerung undeutlich. Wohl betonte auch Melanchthon, dass die Erneuerung und die guten Werke notwendig aus der Rechtfertigung folgten; aber warum das eigentlich sein müsste, dafür wusste Melanchthon zwar viele Gründe, aber keinen durchschlagenden Grund. Denn der Grund, den Luther aus seiner kraftvollen Gottesvorstellung geschöpft hatte, dass der Gläubige, der in Gemeinschaft mit dem heiligen, dem ununterbrochen wirkenden Gott steht, gar nicht anders kann als in dessen Sinn wirken, – dieser Gedanke war Melanchthon unerschwinglich. Es stand damit in Verbindung, dass auch die Bedeutung Christi für den Gläubigen bei Melanchthon zusammenschrumpfte. Den ganzen Gedankenkreis von der Einwohnung Christi im Gläubigen hat Melanchthon gestrichen. Für Mystik hatte der nüchterne Gelehrte keinen Sinn. Das war mehr als nur der Verlust einer tiefsinnigen Anschauungsform. Denn nunmehr galt Christus bloß noch als der Versöhner, nicht, wie es bei Luther der Fall gewesen war, zugleich als der Wirker der neuen Gerechtigkeit. – Drittens: Indem Melanchthon den Gläubigen anwies, bei der Rechtfertigung nur an seinen Trost zu denken, schob er das „Bedürfnis des Menschen“ und das hieß: das Ich des Menschen wieder in den Mittelpunkt der Religion, statt, wie es sich gebührte und wie Luther es eingeprägt hatte, Gott. Unwillkürlich stellte sich dann die weitere Frage ein,
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worauf dieses Bedürfnis nach einer Rechtfertigung sich letzten Endes gründe. Und hier ließ seine aristotelische Schulbildung Melanchthon die Auskunft als unbedenklich, ja als selbstverständlich erscheinen, dass es das Verlangen nach Seligkeit, nach einem höchsten Glück sei, dass der Mensch in der Religion zu befriedigen trachte. Auch damit hat Melanchthon eine hohe Errungenschaft Luthers preisgegeben. Luther hatte alle Kraft darauf verwendet, deutlich zu machen, dass die Gottesverehrung vom Seligkeitsverlangen rein gehalten werden müsse. Denn das Seligkeitsverlangen sei wie alles Glücksbegehren immer selbstisch, und darauf die Religion bauen heiße sie zu einem Mittel und Gott zum Diener des Menschen herabwürdigen. Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch die Aufrichtung des landesherrlichen Kirchenregiments nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung unserer Frage war. Die Lähmung der Selbsttätigkeit in der Kirche und die Verengerung des Gesichtskreises bezüglich der dem einzelnen zufallenden Aufgaben, die die unstreitige Folge jener Einrichtung gewesen sind, hat auch auf die Ausgestaltung der Rechtfertigungslehre gedrückt. Der Ton, der schon bei Luther selbst auf das Leident35 liche, das Ertragen fiel, ist dadurch noch verstärkt worden« .
II. Holls Bewertung der Lehre Melanchthons wurde wahrscheinlich auch von Nikolaus Müller zur Kenntnis genommen. Eine Freundschaft der beiden Kollegen konnte dadurch nicht gefördert werden. Sie lebten nebeneinander her. Nachdem Müller völlig unerwartet gestorben war, korrespondierte Holl über dessen Nachfolge mit dem Jenenser Kirchenhistoriker Hans Lietzmann (er sollte 1924 sein Kollege in Berlin werden), wobei er keinerlei Bedauern äußerte, sondern ihr kühles Verhältnis mit den Worten beschrieb: »Hier ist Nik. Müller ständig wie der Hund vor dem Heu gelegen: ich habe die hiesige Sammlung bis heute noch nicht gesehen«36. Als er lange nach Müllers Tod einen wichtigen Aufsatz über »Luther und die Schwärmer«37 publizierte, beachtete er dessen grundlegende Quellensammlung über die Wittenberger Bewegung nicht. Zunächst wurden Holls Lutherstudien außerhalb der Fachwelt wenig beachtet, zumal der erste Weltkrieg die allgemeine Aufmerksamkeit absorbierte. Holl forschte und schrieb unbeirrt weiter. An Pfingsten 1911 sprach er über »Die Kulturbedeutung der Reformation«. Wiederholt wurde dieser Vortrag am 3. Januar 1918 in Stuttgart38. Wenn sich Holl mit Ernst Troeltsch und Max Weber auseinandersetzt, rückt er Melanchthon näher zu Luther, als man nach dem bisher Gesagten annehmen könnte. Doch wenn 35
Ebd. 535 f. Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutsche Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892–1942), hrsg. v. Kurt ALAND (1979), 317 f Nr. 257 (Holl an Lietzmann, 8. 9. 1912). 37 HOLL (wie Anm. 23), 420–467. 38 Ebd. 468–543. 36
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zwei dasselbe tun, kann dennoch dem einen die größere Sympathie gelten. Holl erkennt, dass Luther die Aufgabe des Staates sehr weit ausdehnt auf das ganze Gebiet der Kultur. Dies gilt auch für Melanchthon. Bei Holl klingt das so: »Melanchthon hat diese Auffassung in seiner Weise festgeschlagen, indem er das Stichwort von der „Hut der beiden Tafeln“ ausgab«39. Holl verabscheute jede Systematik und liebte die offene Redeweise Luthers. Er lobt Luther, wo er kann, und schiebt alles Negative auf Melanchthon. Luther war für Gewissensfreiheit und Toleranz, zwang Dissidenten allenfalls zur Auswanderung. Dies sei grundsätzlich so in reformatorischen Gebieten geblieben. Doch nach dem Sieg der melanchthonischen Lehre, dass dem Staat auch die Hut der ersten Tafel anvertraut sei, habe der Druck sich gesteigert40. Noch ein Beispiel: Holl kann sich am Oppositionsgeist bei Luther und den Gnesiolutheranern erfreuen und fährt fort: »Aber neben Luthers Einfluss und stärker als dieser wirkt der Melanchthons. Melanchthon ist es allerdings, der seinen Studenten unaufhörlich die Demut des beschränkten Untertanenverstandes predigt«41. Luther ist auch für die Rechtsbildung von Bedeutung, hätte es jedenfalls sein können. Denn: »Luther hat sich durch das römische Recht nicht blenden lassen. Er hat es nicht abgelehnt, es aber auch nicht als das Höchste empfunden. Melanchthon war anderer Stimmung. Der preist das römische Recht, schon weil es aus dem Altertum stammt, mit der ganzen Begeisterung des nichtfachmännischen Humanisten«42. (Luther war offenbar juristischer Fachmann.) Auch das kanonische Eherecht habe Melanchthon gebilligt. »Man sieht an dieser Stelle besonders deutlich, dass das Bündnis zwischen Reformation und Humanismus keineswegs in allem ein Vorteil gewesen ist. Es hat auch die Folge gehabt, dass die Antriebe, die aus der lutherischen Auffassung des Sittlichen für eine Weiterbildung des Rechts entspringen konnten, im Keime erstickt und zugleich der Verzicht auf das eigene Urteil in rechtlichen und politischen Fragen bei den „Untertanen“ gefördert wurde«43. Doch scheut sich Holl keineswegs, Luther zu kritisieren, wenn dessen Auffassung seinen eigenen Überzeugungen zuwiderläuft. Das muss man wörtlich hören: »Bei den Untertanen erwuchs aus der Überzeugung von dem sittlichen Wert des Staates eine Hingabe an das Ganze, die auch zu schweren Opfern bereit war. Die innere Kraft der Staaten ist dadurch mächtig gesteigert worden. ... Dagegen nach außen zu, im Verhältnis von Staat zu Staat, wirkten Luthers Gedanken von vornherein mehr lähmend als
39
Ebd. 484. Ebd. 485 f. 41 Ebd. 487. 42 Ebd. 488. 43 Ebd. 488 40
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kraftsteigernd. Luther hat aus seinem Gemeinschaftsgedanken und seiner Auffassung des Liebesgebots auch für die Politik die Folgerungen gezogen. Er will den Krieg höchstens als Verteidigungskrieg zulassen und legt es nicht nur dem einzelnen, sondern auch dem Staat auf, gelegentlich ein Unrecht über sich ergehen zu lassen. Er mutet damit dem Staat neben dem Verzicht auf das ihm natürliche Ausdehnungsstreben auch die Unterdrückung des für das Staatsbewusstsein so wichtigen Ehrgefühls zu. Und wenn er für den Krieg und seine Männlichkeit, da wo ein solcher unumgänglich war, Verständnis besaß, so ging ihm dagegen für Politik, für das Ergreifen und Ausnützen des Augenblicks und vollends für das berechnende Ränkespiel der Diplomatie, der Sinn völlig ab. ... Ganz in diesem Sinn hat auch Melanchthon das Streben nach einer „Universalmonarchie“ als ein 44 widergöttliches Unternehmen gebrandmarkt« .
Das ist kritisch gemeint. Holl offenbart hier, wes Geistes Kind er ist, nämlich des Geistes der wilhelminischen Großmachtpolitik, die zum ersten Weltkrieg führte, an dessen Ende er diese Parolen wiederholte. Im Jahr 1911 publizierte er auch die Untersuchung »Luther und das landesherrliche Kirchenregiment«45, damals ein höchst aktuelles Thema, denn das landesherrliche Kirchenregiment war die noch immer gültige, nur wenig modifizierte Rechtsform, und Rudolph Sohm hatte die Verfassung der Kirche grundsätzlich in Frage gestellt46. Im Gegensatz zur geistlichen Urkirche war für ihn die evangelische Kirche seiner Zeit eine rein weltliche Institution, die katholische eine gemischt geistlich-weltliche. Dass sieben Jahre später die seit der Reformation bestehende Form auseinander brechen sollte, wusste damals niemand, aber vielleicht ahnten es viele. (Im Sinne Sohms sind auch die heutigen Kirchen weltliche Institutionen.) Holls Sympathie galt der unsichtbaren Kirche, die aber doch wirklich da ist47. Er hat 1915 »Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff« untersucht48, aber nur bis 1521, so dass Melanchthon nicht vorkommt. Beim landesherrlichen Kirchenregiment jedoch ist Melanchthon impliziert, denn er war ab 1527 der Hauptvisitator und hat die Theorie geliefert. Doch auch Luther bleibt nicht unkritisiert. Nach Holls Meinung ging es »um die Reinheit seines ganzen Werks«, und es war eine »tief ernste Gewissensangelegenheit«, »ob man dem Landesherrn als dem angesehensten Glied der Kirche oder ob man ihm als christlichen Fürsten gehorcht«49. Luther ist nach Holl hierbei gescheitert, seine Anstrengungen haben nichts geholfen. »Man kann nicht umhin, dies mit darauf zurückzuführen, dass Luther seinen Widerspruch gegen die kurfürstliche Auffassung der Visitation nicht schon 44
Ebd. 489. Ebd. 326–380. 46 Jean GAUDEMET und Martin HONECKER, Kirchenrecht: TRE 18 (1989), 713–749. René P AHUD DE MORTANGES, Sohm, Rudolph (1841–1917): TRE 31 (2000), 430–434. 47 HOLL (wie Anm. 23), 296. 48 Ebd. 288–325. 49 Ebd. 379. 45
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damals, wie sie ins Werk ging, kräftiger ausgesprochen und betont hat. Jedenfalls war nachher die Macht der Tatsachen stärker als seine Theorie. Erging die Visitation einmal in des Kurfürsten Namen, so erschien dieser trotz allem, was geredet werden mochte, als derjenige, dem auch die geistlichen Angelegenheiten befohlen sind«50. Hierzu verweist Holl auf eine – wie ich meine: unpassende – Parallele, nämlich auf Luthers Zustimmung zur Todesstrafe für hartnäckige Wiedertäufer. Die vom Kurfürsten bzw. vom Landgrafen von den Wittenberger Theologen eingeholten Gutachten51 – das zweite erschien auch als Druckschrift – wurden wohl von Melanchthon formuliert, aber von Luther, Bugenhagen und Cruciger mit unterzeichnet. Holl bemerkt dazu folgendes: »Der Fall [der Visitation] liegt ähnlich wie bei Luthers Unterschrift unter die beiden Gutachten Melanchthons, ob man die Wiedertäufer mit dem Schwert strafen möge. Beidemal hat Luther nur unter Bedenken zugestimmt. Im zweiten Fall kreuzen sich wieder seine Grundsätze mit denjenigen Melanchthons. Melanchthon hat sich ausdrücklich gegen die Behauptung gewendet „Weltlich Oberkeit sol gantz nicht mit geistlichen sachen zuthun haben“ und demgegenüber aufgestellt „Fürsten sollen nicht allein den untherthan jre güter und leiblich leben schützen, sondern das fürnemst ampt ist, Gottes ehr foddern, Gottslesterung und Abgötterey wehren“ – ein Satz, der Luthers Grundanschauung geradewegs zuwiderlief. Und doch hat Luther nicht die Kraft gefunden, den von seinem Philippo verfassten Gutachten die Unterschrift zu verweigern, sondern sich darauf beschränkt, in der Nachschrift das für ihn Maßgebende hervorzuheben, dass die Obrigkeit den wortbrüchigen Täufer als Ungehorsamen zu strafen berechtigt sei und außerdem dem Landgrafen ans Herz zu legen, dass er „gnade neben der straffe gehen 52 lasse“« .
Luther wird hier zum Trottel, der aus gutmütiger Zuneigung zu seinem Philippo die Reinheit seines ganzen Werks besudelte. Das kann doch nicht sein! Man muss die Aussagen auch des späten Luther ernst nehmen, selbst wenn sie der eigenen Theorie widersprechen. Die größte Resonanz erreichte der nunmehr 51-jährige Holl am Reformationsfest 1917, als er im Festakt der Berliner Universität zum 400. Jubiläum des Thesenanschlags den Vortrag »Was verstand Luther unter Religion?« hielt53. Mit bewegten Worten spricht er von Luthers Anfechtung. Man spürt, dass hier eigene Erfahrung mitschwingt: »Das waren die schweren Stunden, wo ihm die Bedeutung Christi so, wie er sie neu begriffen hatte, erst ganz offenbar wurde. Da erkennt er Christus als den, der nicht nur in der Vergangenheit einmal Gottes Zorn gestillt hat, sondern jetzt eben mächtig für ihn eintritt. Er wird inne, wie ihm aus Tod und Auferstehung Christi eine Kraft zuströmt, die
50
Ebd. 379. MBW 1119 und 1748. 52 HOLL (wie Anm. 23), 379 Anm. 1. 53 Ebd. 1–110. 51
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ihm mit der Vergebungsgewissheit zugleich auch die Zuversicht verleiht, die ihm noch 54 anhaftende Sünde in ihrer Macht zu überwinden« .
Nach Holl durchbricht Luther die katholische Auffassung vom Werk Christi nach zwei Seiten: indem er den Tod Christi als stellvertretende Strafe, nicht als Genugtuung, versteht, und ihn eng mit der Auferstehung zusammensieht. »Damit berichtigt er die Einseitigkeit, der die abendländische Theologie seit Anselm verfallen war und der auch die spätere lutherische Theologie unter Melanchthons Einfluss wieder verfiel, sofern sie den Tod Christi als die Heilstatsache betrachteten«55. Es geht nicht nur um die Vergebung der Sünden, sondern um ihre Überwindung. »Der Glaube ist bei Luther nicht bloß eine Auseindersetzung mit der Schuld, sondern zugleich mit der Macht der Sünde. ... Das Schlagwort vom bloßen „getrösteten Sündenelend“ passt nur auf die (von Melanchthon beeinflusste) lutherische Orthodoxie«56. Luther ist für Holl im Gegensatz zu Melanchthon auch der »Wortführer des Fortschritts«57. Er bemängelt an Troeltschs »Soziallehren, dass er diese Seite bei Luther so gut wie ganz außer Betracht gelassen hat. Troeltsch nimmt überall Luther und Melanchthon mit der Orthodoxie in Eins zusammen und trägt deren Begriffe in ihn ein«58. Im Oktober 1519 sprach Holl in der Berliner Akademie der Wissenschaften über Luthers »Neubau der Sittlichkeit«59. Ausführlich werden die frühen Jahre analysiert. Aber dann kommt er auch auf Melanchthon zu sprechen, dessen Anfechtungen er eine lange Anmerkung widmet60. Das Bewusstsein, »dass auch der Gläubige in jedem guten Werk sündigte«61, verhindert »eine innere Zuversicht«62. »Luther kannte diese Stimmung reichlich aus eigener früherer Erfahrung; sie trat ihm aber auch bei solchen, die von ihm gelernt hatten, sogar in seiner nächsten Umgebung, wie bei Melanchthon und Hieronymus Weller entgegen. ... Luther zeigt den Weg zur Überwindung, indem er jene ängstigenden Gedanken mutig bis zu Ende durchdenken heißt. ... sich selbst rückhaltlos als den Sünder zu nehmen, ... aber ebenso vorbehaltlos aus Gottes Erbarmen und aus der Kraft, die dem Gläubigen von Christus her zuströmt, den Mut zum Leben und zum Handeln zu schöpfen«63. 54
Ebd. 69. Ebd. 70. 56 Ebd. 71. 57 Ebd. 106. 58 Ebd. 106 Anm. 1. 59 Ebd. 155–287. 60 Ebd. 235–237 Anm. 3. 61 Ebd. 234. 62 Ebd. 235. 63 Ebd. 235. 55
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1920 folgte der Akademievortrag über »Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst«64. Dass der Rhetorik in Luthers Exegese eine geringere Bedeutung zukommt als in der Melanchthons, verwundert nicht. Die Forschung, namentlich Helmar Junghans65 und Birgit Stolt66, hat inzwischen mehr Rhetorik bei Luther gefunden, als Holl und andere annahmen. Erstaunlich ist freilich, dass Holl gegen Dilthey darauf beharrt, dass der Einfluss der Rhetorik Melanchthons auf die Clavis scripturae des Flacius nicht so groß sei, wie Dilthey annahm. »Die Verwertung der Rhetorik für die Exegese ist nichts Neues und der Einfluss Melanchthons auf Flacius ist wesentlich geringer als der Luthers«67. Die neuere Forschung hat aufgedeckt, wie sehr Flacius von seinen Lehrern Melanchthon und Georg Maior abhängig war und sich auch vor Plagiaten nicht scheute68. Nur noch den Kopf schütteln kann man über Holls Meinung, Melanchthon habe die Anregung der Exegese mittels Loci von Luther empfangen. Der Beweis ist Luthers Vorrede zum übersetzten Römerbrief69, die, wie Holl selbstverständlich weiß, nach Melanchthons Loci erschienen ist. Nun wörtlich: »Kurz zuvor hat Melanchthon, ohne Frage unter seinem [Luthers] Einfluss, in seinen loci Ähnliches unternommen. Es ist lehrreich, die beiden Darstellungen miteinander zu vergleichen. Wie nicht anders zu erwarten, erweist sich Luther als der Anschaulichere und Lebendigere. Er hat auch das deutlichere Gefühl dafür, was eine derartige Ordnung 70 der Begriffe gerade für die Auslegung zu leisten imstande ist« .
Melanchthon hat seine Loci-Lehre schon in Tübingen entwickelt und in der Rhetorik publiziert71. Beeinflusst wurde er von Erasmus, Rudolf Agricola und Cicero. Dass Luther etwas von Melanchthon gelernt haben könnte, ist außerhalb jeder Vorstellung Holls. Damit waren die Hauptthemen dargestellt. Holl fasste seine Aufsätze 1921 in einem Buch zusammen, wie das üblich ist. Was der bescheidene, introvertierte Gelehrte nicht ahnen konnte: das Jahr 1921 wurde ein Markstein 64
Ebd. 544–582. Helmar J UNGHANS, Der junge Luther und die Humanisten (1984). - DERS., Martin Luther und die Rhetorik (1998). 66 Birgit STOLT, Martin Luthers Rhetorik des Herzens (2000). 67 HOLL (wie Anm. 23) 578 Anm. 1. 68 Olivier FATIO, Hyperius plagié par Flacius. In: Histoire de l’exégèse au XVIe siècle, hrsg. v. Olivier Fatio und Pierre Fraenkel (1978), 362–381. - Rudolf KELLER, Der Schlüssel zur Schrift. Die Lehre vom Wort Gottes bei Matthias Flacius Illyricus (1984). 69 WA Bibel 7, 2–27 mit XXXII f. 70 HOLL (wie Anm. 23), 573. 71 Heinz SCHEIBLE, Melanchthon zwischen Luther und Erasmus (1984): Forschungsbeiträge (1996), 171–180, bes. 182–185. 65
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in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts, und Holls Lutherbuch ist einer der beiden Wegweiser. Der andere ist Karl Barths Römerbrief, dessen Neufassung 1922 erschien. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs wurde von seiten der evangelischen Theologie auf – mindestens – zweierlei Weise beantwortet, worin sich die Gegensätze der Reformationszeit widerspiegeln und fortsetzen. Barth ist ein Vertreter des Reformiertentums und steht politisch dem Sozialismus nahe. Seine erstaunlich große Resonanz ist bekannt. Melanchthon und der von ihm abgeleitete Kulturprotestantismus ist für ihn indiskutabel. Holl verstand es, das, wie er (und nicht nur er) es sah, seit Melanchthon verflachte und verkrustete Luthertum in seiner befreienden religiösen Kraft der Gegenwart verständlich zu machen. Er hatte einen beachtlichen Erfolg. Das Lutherbuch erreichte bis 1932 sechs Auflagen, die siebente erschien 1948, als wieder einmal Mangel an guten Büchern bestand. Es wurde nicht nur von Theologen, sondern auch von Allgemeinhistorikern wie Paul Joachimsen und Gerhard Ritter rezipiert72. Holl ist der Hauptvertreter der sogenannten Lutherrenaissance des 20. Jahrhunderts73. Mit dieser Breitenwirkung seiner Lutherdeutung wurden natürlich auch seine geschliffenen Urteile über Melanchthon transportiert und lassen sich als diffuse Viren in vielen Schriften weit über Holls Schülerkreis hinaus feststellen. Politisch waren er und die namhaftesten seiner Schüler konservativ-deutschnational. Letztere zeigten anfängliche Sympathien zum Nationalsozialismus, wogegen Barth bekanntlich der theologische Kopf der Bekennenden Kirche wurde. Holl hat diese Ereignisse nicht mehr erlebt. Er starb 1926 im Alter von nur 60 Jahren74.
72
Heinrich B ORNKAMM , Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte (²1970), 134, 137 f. 73 Heinrich ASSEL, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935) (1994). 74 Harnacks Nachruf ist zuletzt abgedruckt in: Adolf von Harnack als Zeitgenosse, hrsg. v. Kurt NOWAK (1996), 1581–1594.
Nachweis der Erstveröffentlichungen 01. Melanchthon als theologischer Gesprächspartner Luthers. In: Philipp Melanchthon und seine Rezeption in Skandinavien. Vorträge eines internationalen Symposions anläßlich seines 500. Jahrestages an der Königlichen Akademie der Literatur, Geschichte und Altertümer in Stockholm, den 9.–10. Oktober 1997, hrsg. von Birgit Stolt. Stockholm: Almqvist & Wiksell, 1998 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien: konferenser 43), S. 67–91. 02. Melanchthons Werdegang. In: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, hrsg. von Paul Gerhard Schmidt. Sigmaringen: Thorbecke, 1993, 2. Aufl. Stuttgart: Thorbecke, 2000, S. 221–238. 03. Melanchthon und die oberrheinischen Humanisten. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 149 (2001), S. 111–129. [Vortrag zur Eröffnung der Melanchthon-Ausstellung in der »Bibliothèque humaniste de Sélestat« am 12. März 1999,] 04. Reuchlins Bedeutung für den Toleranzgedanken. In: Konstanten für Wirtschaft und Gesellschaft. Festschrift für Walter Witzenmann, Band 2, hrsg. von Jolande Rothfuß, Hans Eberhard Koch und Georg Duffner. Konstanz: Labhard, 1993, S. 273–285. 05. Melanchthon als akademischer Lehrer. Einführung in das Arbeitsgespräch „Melanchthon in seinen Schülern“. In: Melanchthon in seinen Schülern [Vorträge, gehalten anläßlich eines Arbeitsgespräches vom 21. bis 23. Juni 1995 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel], hrsg. von Heinz Scheible. Wiesbaden: Harrassowitz, 1997 (Wolfenbütteler Forschungen 73), S. 13–29. 06. Die Philosophische Fakultät der Universität Wittenberg von der Gründung bis zur Vertreibung der Philippisten. In: Archiv für Reformationsgeschichte 98 (2007), S. 7–44. [Dieser auf die Dauer eines Vortrags zugeschnittene Überblick war auf Einladung von Udo Sträter im Rahmen der 500-Jahr-Feierlichkeiten in Halle am 13. Mai 2002 vorgetragen worden und wurde 2006 dank Heinz Schillings Ermunterung für die Publikation im ARG überarbeitet und bibliographisch aktualisiert. 07. Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform. Zum Quellenwert von Lutherbriefen. In: Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae
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Nachweis der Erstveröffentlichungen
Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997 Helmar Junghans gewidmet, hrsg. von Michael Beyer und Günther Wartenberg unter Mitwirkung von Hans-Peter Hasse. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 1996, S. 123– 144. 08. Die Reform von Schule und Universität in der Reformationszeit. In: Lutherjahrbuch 66 (1999), S. 237–262. 09. Melanchthons ökumenischer Einsatz in Frankreich. In: Melanchthon und Europa, 2. Teilband: Westeuropa, hrsg. von Günter Frank und Kees Meerhoff. Stuttgart: Thorbecke, 2002 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 6/2), S. 195–210. 10. Melanchthons Sorge um die Diaspora. In: Die evangelische Diaspora 66 (1997), S. 9–25. 11. Melanchthon und Osiander über die Rechtfertigung: Zwei Versuche, Wahrheit zu formulieren. In: Reformation und Recht. Festgabe für Gottfried Seebaß zum 65. Geburtstag, hrsg. von Irene Dingel, Volker Leppin und Christoph Strohm. Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 2002, S. 161–175. 12. Philipp Melanchthons Ethik des Friedens. In: Suche nach Frieden. Politische Ethik in der Frühen Neuzeit II, hrsg. von Norbert Brieskorn und Markus Riedenauer. Stuttgart: Kohlhammer, 2002 (Theologie und Frieden 20), S. 175–199. 13. Die Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für theologische Ethik und Praktische Theologie am Beispiel Melanchthon. In: Christentum und Spätmoderne: ein internationaler Diskurs über Praktische Theologie und Ethik, hrsg. von Wilhelm Gräb, Gerhard Rau, Heinz Schmidt und Hans van der Ven. Stuttgart: Kohlhammer, 2000, S. 93–100. 14. Melanchthon rettet die Universität Wittenberg. In: Philipp Melanchthon als Politiker zwischen Reich, Reichsständen und Konfessionsparteien, hrsg. im Auftrag der Stiftung „Leucorea“ von Günther Wartenberg und Matthias Zentner unter Mitwirkung von Markus Hein. Wittenberg: Edition Hans Lufft im Drei Kastanien Verlag, 1998 (Themata Leucoreana), S. 53–75. 15. Ein Irrtum Melanchthons: seine Warnung vor dem Fürstenkrieg 1551/52. In: Christlicher Glaube und weltliche Herrschaft. Zum Gedenken an Günther Wartenberg; hrsg. von Michael Beyer, Jonas Flöter und Markus Hein. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2008 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeshichte 24), S. 233–240. 16. Christliches und humanistisches Menschenbild nach Philipp Melanchthon, ein Leitfaden für politisches Handeln im 21. Jahrhundert. In: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 1 (2007), 13–25. 17. Wie Melanchthon predigte. In: Praktische Theologie und Landeskirchengeschichte. Dank an Walter Eisinger, hrsg. von Johannes Ehmann.
Nachweis der Erstveröffentlichungen
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Berlin: LIT, 2008 (Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 12). (Sonderveröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden 5), S. 83–88. 18. Melanchthons Verhältnis zu Johannes Setzer. In: Buchwesen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Helmut Claus zum 75. Geburtstag, hrsg. von Ulman Weiß. Epfendorf/Neckar: bibliotheca bibliographica Verlag, 2008, S. 313–321. 19. Melanchthons Freundschaft mit Matthäus von Wallenrode. In: Mentis amore ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung und Dichterfreundschaft in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Reinhard Düchting zum 65. Geburtstag, hrsg. von Boris Körkel, Tino Licht und Jolanta Wiendlocha. Heidelberg: Mattes Verlag, 2001, S. 417–428. 20. Die Verfasserfrage der Histori Thome Muntzers. In: Flugschriften der Reformationszeit. Colloquium im Erfurter Augustinerkloster 1999, hrsg. von Ulman Weiß. Tübingen: bibliotheca academica Verlag, 2001, S. 201–213. 21. Melanchthons Beziehungen zu Stadt und Bistum Breslau. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 58 (2000), S. 143–184. 22. Melanchthon und Frau Luther. In: Lutherjahrbuch 68 (2001), S. 93– 114. 23. Das Augsburger Interim und die evangelischen Kirchen. Vortrag am 6. Juni beim Festakt „450 Jahre Simultaneum, 350 Jahre Parität in Biberach“. In: Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach (BC) 21 (1998), Heft 1, S. 3–13. 24. Der Catalogus testium veritatis: Flacius als Schüler Melanchthons. In: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 63 (1996), S. 343–357 = Ebernburg-Hefte 30 (1996), S. 91–105. 25. Melanchthon und die Grafen von Erbach. In: Bewahren und Erforschen. Beiträge aus der Nicolaus-Matz-Bibliothek (Kirchenbibliothek) Michelstadt. Festgabe für Kurt Hans Staub zum 70. Geburtstag, hrsg. von Wolfgang Schmitz. Michelstadt: Stadt Michelstadt, 2003 (Stadt Michelstadt: Rathaus- und Museumsreihe 22), S. 197–219. 26. Das Melanchthonbild Karl Holls. In: Melanchthon und die Neuzeit, hrsg. von Günter Frank und Ulrich Köpf unter Mitarbeit von Sebastian Lalla. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2003 (MelanchthonSchriften der Stadt Bretten 7), S. 197–219.
Personenindex Abaelard 67 Acontius, Melchior 81 Adrianus, Matthäus 104 Aegidius (Gil Lopez de Bejar) 232 Aemilius, Georg 81 Aeneas 282 Aepinus, Johannes 167, 195 Aesticampianus, Johannes Rhagius 108, 129, 136, 144 Agricola, Georg 156 Agricola, Johannes 3, 108, 131, 139, 142, 157, 311, 378, 379, 404, 405 Agricola, Rudolf 6, 33, 34, 39, 55, 59, 66, 85, 460 Alber, Matthäus 38 Albrecht Alcibiades von BrandenburgKulmbach 220, 282, 283, 407 Albrecht von Mainz 25, 176, 227–230, 233, 236, 439 Albrecht von Preußen 2, 189, 206, 212– 214, 273, 362, 380, 384, 386, 390 Aldus Manutius 76, 77 Alkibiades 1 Althaus, Paul 250 Altmann (Geraeander), Paul 37 Ambrosius 129, 424 Amerbach, Veit 83, 89 Amsdorf, Nikolaus von 3, 19, 25, 96, 129, 134, 138–140, 151, 157, 213, 236, 381, 386 Andersson, Bo 330 Andreae, Jakob 194 Angst, Wolfgang 313 Anselm von Canterbury 459 Anshelm, Thomas 31, 39, 40, 42, 50, 53, 54, 56, 60, 68, 313–316, 331, 436 Anshelm-Setzer, N. 314 Aphrodite 327 Apollo 329 Apuleius 71
Areopagita, Dionysius 75 Argos 327 Argyropoulos, Johannes 67 Aristoteles 7–9, 19–21, 41, 42, 44, 45, 68, 83, 86, 95–98, 102, 104, 106, 107, 114–116, 119, 121, 125–129, 131–138, 141, 142, 144, 148, 150, 151, 157, 167, 171, 245, 296, 298, 301, 319 Arnold, Gottfried 415 Arnulf von Bayern 281 August von Sachsen 121, 123, 194, 197, 254, 275, 284, 285 Augustin 7, 11, 14, 37, 126–129, 132, 213, 367, 403, 424, 426, 427 Aurifaber, Andreas 353 Aurifaber, Johannes aus Breslau 164, 342, 353–356, 363, 364, 366, 371, 372 Aurifaber, Johannes aus Weimar 164 Aurogallus, Matthäus 105, 108, 111 Aventinus, Johannes 53 Axmann, Rainer 324 Badehorn, Leonhard 390 Baldus 317, 327 Baptista Mantuanus 30, 158 Bär, Oswald 46 Barbaro, Hermolao 67 Barnes, Robert 195, 429 Barnim von Pommern 266 Barth, Karl 249, 300, 467, 461 Bartholomaeus Coloniensis 80 Bartolus 317, 327 Basellius, Nikolaus 39 Basilius der Große 426 Bauduin, François 194 Bauer, Karl 433 Baumgartner, Hieronymus 43, 186, 375, 376 Bebel, Heinrich 37, 41, 100
468
Personenindex
Beckmann, Otto 98, 231, 232 Beda Venerabilis 367 Bedrotus, Jakob 350 Beer, Caspar 363 Beer, Zacharias, siehe Ursinus Benedikt, Erasmus 358 Benrath, Gustav Adolf 415 Bernhard von Clairvaux 12, 14, 426 Bernhardi, Bartholomäus 104, 107, 137–139, 143, 326, 335, 387, 388 Bersmann, Gregor 168 Beskau, Matthäus 98 Besold, Hieronymus 211, 380, 408 Beyer, Hartmann 200 Beyer, Leonhard 186 Beyer, Michael 329 Beza, Theodor 167, 194 Bibliander, Theodor 167 Biel, Gabriel 129 Billicanus, Theobald 35 Bindseil, Heinrich Ernst 329, 340 Blarer, Ambrosius 7, 38, 39, 78, 316, 350 Blarer, Thomas 39, 78 Boehmer, Heinrich 330, 332, 333 Boethius 96, 134 Boff, Leonardo 67 Bolzanius, Urbanus 77 Boncke, Anna 352 Bonhoeffer, Dietrich 329 Boquinus, Petrus 444 Bora, Hans von 383 Bora, Katharina von (Käthe Luther) 112, 218, 260, 326, 373–391 Bora, Magdalena von 379 Borner, Caspar 329, 330, 331, 333–335 Bornkamm, Heinrich 415 Borrhaus (Cellarius), Martin 147 Böschenstein, Johannes 104, 160 Brant, Sebastian 62 Brassicanus, Johannes Alexander 37 Braubach, Peter 54, 313, 314 Bräuer, Siegfried 330, 334, 340 Braun, Johannes 138 Brecht, Martin 129, 410, 411 Brenz, Johannes 35, 61, 166, 194, 205, 210, 309, 409, 442–444 Briskina, Anna 216 Bromm, Claus 200 Brück, Gregor 97, 119, 134, 181, 264, 382–385
Brunner, Hieronymus 348 Bruno. Giordano 67 Bubenheimer, Ulrich 129 Bucer, Martin 4, 24–26, 36, 46, 48, 55, 57, 59, 63, 65, 123, 131, 178, 181, 183, 187, 197, 200, 201, 233, 235, 237, 365, 403, 406, 409, 439, 441, 442 Buchholzer, Georg 284 Budé, Jean 194 Bugenhagen, Johannes 90, 163, 164, 183, 184, 214, 221–224, 237–239, 256, 258, 262, 269, 272–273, 312, 355, 357, 380, 382, 383, 385, 388, 458 Bullinger, Heinrich 167, 441 Burchard von Ursberg 57 Burchard, Franz 79, 89, 112, 147, 182, 222 264, 274 Burckhart, Peter 138 Burer, Albert 49 Busche, Hermann von dem 100 Buscoducensis, Nicolaus 198 Caesar 114 Caesarius, Johannes 35 Calepino, Ambrogio 67 Calixt, Georg 88 Calvin, Johannes 26, 38, 123, 194, 198, 200, 207, 307, 365, 441, 442, 451, 453 Camerarius, Anna 196, 307 Camerarius, Joachim 35, 41, 43, 76, 78, 79, 84, 108, 111, 112, 147, 160, 162 189, 196, 220, 221, 223, 224, 229, 231, 258, 267, 271, 282, 307, 310, 316, 318, 320, 321 338, 339, 376, 377, 381, 448 Camerarius, Ludwig 321 Campeggio, Lorenzo 227, 230, 235 Canisius, Petrus 165, 190, 362 Cantarifusoris (Kannegießer), Wolfgang 97 Cantiuncula, Claudius 86 Capito, Wolfgang 10, 41, 46, 47, 49, 52, 54, 57, 315 Capnion (Reuchlin), Johannes 66 Carion, Johann 40, 114, 318, 335 Carlowitz, Christoph von 2 Carmel, Caspar 194 Cato 158 Catull 325
Personenindex Celtis, Konrad 33, 52, 55, 59, 60, 66, 76, 156, 169, 420 Cepolla 317, 326 Chelius (Geiger), Ulrich 176, 177, 179, 183, 192, 346 Chemnitz, Martin 85 Christian von Anhalt 168 Christian III. von Dänemark 189, 382, 388, 389 Christoph von Stadion 230 Christoph von Württemberg 61, 194 Chrysostomus 424 Chytraeus, David 88, 90 Chytraeus, Nathan 90 Cicero 20, 113, 114, 119, 127, 138, 159, 171, 311, 319, 460 Claus, Helmut 309, 311, 330 Clemen, Otto 324, 340 Clemens VII. 176, 178, 280 Cochlaeus, Johannes 52, 155 Coci (Dietrich Koch), Theodoricus 389 Commines, Philipp 114 Copernicus 81, 87, 119, 171 Cordatus, Konrad 3, 19, 151, 186, 380 Cordus, Euricius 157, 326 Cornarius, Janus 98, 108 Corvinus, Antonius 406, 407 Corvinus, Laurentius 351 Corvinus, Matthias 343 Cox, Leonard 41 Cracow, Georg 88, 123 Cranach, Lucas 353 Cranmer, Thomas 197, 365 Crato von Crafftheim, Johannes 342, 343, 353–356, 359, 362, 364–368, 370 Crell, Paul 90 Crell, Wolfgang 90 Crocus, Richard 78, 79, 136 Croesus (Kreß, Johannes) 37 Crotus Rubianus, Johannes 345 Cromwell, Thomas 196 Cruciger, Caspar 89, 157, 182, 223, 224, 236–238, 257, 258, 262, 263, 265, 271–273, 354, 380, 382, 383, 385, 428, 458 Cruciger, Caspar d. J. 89 Cuno, Johannes 75 Cunradus Helvetius 34 Cureus, Adam 355, 357–359, 363, 365, 368–371
469
Cureus, Joachim 358 Cusanus, Nicolaus 420 Dalberg, Johann von 29, 33, 58, 59, 62 Damasus I. 280 Danaeus, Lambert 168 Dathenus, Petrus 200 Demosthenes 114, 318, 324, 325, 436 Denck, Hans 155 Denifle, Heinrich 449 Déscartes, René 65 Dichtel, Patrizierfamilie 376 Diebner, Jörg 85 Diemer, Kurt 393 Dietrich, Sebastian 122 Dietrich, Veit 25, 232, 380, 381, 408 Diller, Michael 194 Dilthey, Wilhelm 460 Dioskurides 121 Dölsch, Johannes 97, 99, 134, 140 Dorothea von Dänemark 438 Drändorf, Johannes von 428 Drewermann, Eugen 67 Dringenberg, Ludwig 46, 50 Du Bellay, Guillaume 176–179, 180–183, 185, 186, 187, 192, 193 Du Bellay, Jean 179, 180–182, 192, 193 Duch, Arno 422 Duns Scotus, Johannes 7, 37, 95, 96, 133, 134, 136 Dürer, Albrecht 43 Dyon, Adam 345 Eber, Paul 81, 87–89, 122, 258, 262, 265, 271, 272, 306, 374, 390 Eberhard von Franken 281 Eberhard von Lüttich 232 Eberhard im Bart von Württemberg 66, 114 Eccilius (Eckel), Maternus 360, 370 Eck, Johannes 10, 83, 85, 147, 187, 231, 348, 397, 398 Eckhart, Meister 67 Edward VI. von England 197, 198 Eisermann, Johannes 104, 107, 137, 144 Eisinger, Walter 303 Elias 417, 418, 423, 429 Elisabeth von BraunschweigCalenberg 406 Elisabeth von England 197
470
Personenindex
Elisabeth von Pfalz-Simmern 437 Ellinger, Georg 81 Elner aus Staffelstein, Georg 97, 134, 140, 141 Engelhard, Klaus 303 Epikur 20, 43, 44, 116, 150 Epimetheus 28 Epiphanius 450 Erasmi, Bonifacius 99 Erasmus von Rotterdam 7, 10, 14–16, 18, 19, 29, 31, 34, 39–41, 48, 51, 52, 54– 56, 58, 62, 63, 66, 67, 75, 76, 84, 85, 113, 158, 159, 174, 190, 204, 218, 228, 240, 325, 336, 337, 377, 435, 460 Erb, Matthias 31, 38, 52, 60, 61 Erbach, Schenk Eberhard XIII. von 432, 433, 435–439 Erbach, Graf Eberhard von 433–439, 441–446 Erbach, Elisabeth von 437 Erbach, Graf Georg I. von 432, 435–446 Erbach, Graf Georg II. von 445 Erbach, Margareta von 446 Erbach, Maria von 432, 449 Erbach, Schenk Valentin von 432 Erbach, Graf Valentin von 432, 436–438, 441–446 Erich II. von BraunschweigCalenberg 260, 283, 406 Ernst der Bekenner von BraunschweigCelle 389, 406 Eschaus, Thomas 111 Euklid 113, 122 Euripides 122, 157 Fabricius aus Vacha, Balthasar 100, 101, 108, 111 Fabricius, Georg 273, 284 Fachs, Ludwig 268 Fagius, Paul 410 Farel, Guillaume 194 Faust, Johannes 373 Fend, Melchior 271 Ferdinand I. 166, 175, 182, 185, 193, 221, 224, 226, 232, 276, 285, 343, 352, 363, 369, 387, 396 Ferinarius, Johannes 364, 367 Ficino, Marsilio 68 Ficker, Johannes 449, 450 Fischer, Ludwig 329
Flacius Illyricus, Matthias 58, 84, 85, 89, 367, 412–414, 415–430, 443, 460 Forster, Johannes 156, 214 Fraenkel, Peter 425 Franck, Sebastian 57 Frank, Günter 83 Franz, Günther 433 Franz von Assisi 290 Franz I. von Frankreich 174–182, 184– 186, 191–193, 198, 219, 255, 279 Franz von Braunschweig-Gifhorn 260, 389, 406 Frecht, Martin 415, 416 Frère Roger 291 Friedrich von Mainz 281 Friedrich der Siegreiche von der Pfalz 36 Friedrich II. von der Pfalz 35, 405, 435, 437, 438, 440, 441 Friedrich III. von der Pfalz 200, 201, 363, 369, 435, 437, 438, 444, 445 Friedrich IV. von der Pfalz 432 Friedrich von Pfalz-Simmern 437, 444 Friedrich der Weise von Sachsen 44, 45, 78, 91, 92, 94, 95, 102–106, 110, 118, 119, 124, 132, 135, 137, 140, 145, 166, 173, 233, 234, 253, 269, 284, 419 Friedrich Wilhelm von Preußen 121 Froben, Hieronymus 52, 54 Froschauer, Christoph 25 Fugger 78, 346 Galen 193 Galilei 67 Gallus, Jodocus 34, 62 Gallus, Nikolaus 366 Gansfort, Wessel 428 Garbitius Illyricus, Matthias 38 Gebwiler, Hieronymus 46 Geiger (Chelius), Ulrich 176, 177, 179, 183, 192, 346 Geiger, Ulrich d. Ä. 346 Geiger-Heß, Anna 177, 346 Geiler von Kaysersberg, Johann 34, 47, 54, 58 Georg von Anhalt V, 267, 270, 277 Georg der Fromme von BrandenburgAnsbach-Kulmbach 175, 319, 411 Georg II. von Liegnitz-Brieg 355
Personenindex Georg der Bärtige von Sachsen 25, 347, 379, 436 Georg von Württemberg 60, 61 Geraeander (Altmann), Paul 37 Gerbel, Nikolaus 32, 54–56, 76, 311, 312 Gerhard, Thomas 371 Gerlach (Billicanus), Theobald 35 Gerson, Johannes 427 Gigas, Johannes 81 Gilbert Porreta 428 Giselbert von Lothringen 281 Glaser, Kaspar 62 Göde, Henning 94 Goethe 67, 288 Goldschmidt, Andreas und Johannes, siehe Aurifaber Goldstein, Killian 269 Grane, Leif 133 Green, Lowell C. 5 Gregor der Große 420 Gregor Thaumaturgos 426 Gregor von Rimini 95, 96, 102, 104, 133, 136 Gresemund, Dietrich d. J. 56 Griner (Grynaeus), Simon 51 Gropper, Johannes 402 Grynaeus, Simon 31, 51, 52, 61, 78, 80, 84, 195 Gunckel, Johannes 99, 107, 108, 134, 138–140, 143 Günther, Franz 130 Günther, Peter 34 Gustav Adolf von Schweden 189 Gustav Wasa von Schweden 189 Hain, Jobst von 269, 382 Haintzel, Johann Baptist 284, 366 Halbrot (Hemiartus), Johannes 354, 355 Haller, Berthold 31 Hamelmann, Hermann 50 Hampe, Roland 327 Hannemann, Kurt 422 Hans (Johann) von BrandenburgKüstrin 277, 405 Harer, Peter 432 Harnack, Adolf von 429, 447–450, 461 Hartmann Hartmanni (Vater und Sohn) 35
471
Hasse, Hans-Peter 90 Hauke, Rainer 216 Haustein, Jörg 374 Haye, Thomas 420–422 Hedio, Caspar 31, 49, 52, 54, 57, 58, 60, 61, 410 Hegendorf, Christoph 309 Heidenreich, Esajas 371 Heimburg, Gregor von 58 Heinrich von Bayern 281 Heinrich d. M. von BraunschweigLüneburg 279 Heinrich d. J. von BraunschweigWolfenbüttel 25, 220–224, 226, 283, 286, 388, 406 Heinrich VIII. von England 175, 178, 186, 192, 195–197 Heinrich II. von Frankreich 176, 194, 219, 277 Heinrich IV. von Frankreich 320 Heinrich der Fromme von Sachsen 257 Heins, Simon 97, 134 Helmann, Sebastian 351 Hemiartus (Halbrot), Johannes 354, 355 Hermann von Köln (Wied) 220, 224 Hermes 177 Hermonymos, Georgios 67 Herrgott, Johannes 129 Heshusen, Tilemann 88, 201, 207, 260, 444, 445 Hesiod 39, 42 Heß-Geiger, Anna 346 Heß, Johannes 177, 344–346, 348–350, 352, 354, 356, 362, 364, 370 Heß, Johannes d. Ä. 346 Heß, Johannes d. J. 346 Heß, Sara 354 Heßberg zu Eishausen, Hans von 324 Hessus, Eobanus 81, 144, 157, 160 Heyden, Sebald 155 Heyne, Johann 342 Hieronymus 129, 131, 132, 136, 424 Hilarius 424 Hilspach, Michael 61, 62 Hiltebrant, Johannes 31, 38, 39, 47, 76, 154 Hirsch, Emanuel 215 Hittorp, Gottfried 434 Hofmann, Krafft 46
472
Personenindex
Holl, Karl 202, 207, 208, 217, 447–461 Homer 9, 44, 86, 106, 157, 327 Hoogstraten, Jakob von 71 Horaz 9, 44, 45, 69, 106, 159 Hüffel (Mauser), Hans 312 Hugo von St. Victor 426 Hummelberg, Michael 41, 46, 49 Hus, Johannes 67, 427 Hutten, Ulrich von 10, 71 Huttichius, Johannes 56, 58 Hyperius, Andreas 426 Irenaeus 426 Irenicus, Franciscus 31, 38, 42, 52, 53, 57, 60, 314–316 Irnerius 329 Isebel 417 Iwan der Schreckliche 220 Jeanne d’Albret 320 Jesaja 429 Jesus 290, 291, 294, 301, 303–305 Joachim von Anhalt 379 Joachim II. von Brandenburg 260, 266, 389, 404, 406, 407 Joachimsen, Paul 461 Joest, Winfried 251 Johann (Hans) von BrandenburgKüstrin 277, 405 Johann von Pfalz-Simmern 437 Johann Albrecht von Mecklenburg 277, 355 Johann Friedrich von Pommern 113 Johann der Beständige von Sachsen 111, 117, 118, 146, 162, 166, 173–175, 182, 192, 225, 233, 269, 296, 419, 458 Johann Ernst von Sachsen 320, 322, 323 Johann Friedrich der Großmütige von Sachsen 114, 117, 118, 120, 121, 141, 146, 147, 166, 173, 174, 180, 181, 182, 185, 187, 193–196, 220, 222, 223–226, 236, 238, 255–259, 261, 263, 264, 266, 267, 269, 270, 274, 275, 277, 279, 280, 283, 284, 286, 309, 319, 320, 322, 382–387, 401, 405, 419, 443, 458 Johann Friedrich d. J. von Sachsen 284, 405, 419 Johann Friedrich d. M. von Sachsen 259, 263, 264, 284, 405, 419
Johann Wilhelm von Sachsen 259, 264, 284, 405, 419 Johannes, Apostel 43 Johannes der Täufer 427 Johannes XXI. (Petrus Hispanus) 97, 132 Jonas, Friedrich 379 Jonas, Justus V, 84, 114, 131, 222, 235– 237, 322–324, 326, 374, 378–380, 383, 388 Jud, Leo 167 Judas 70 Jung, Martin 5 Junghans, Helmar 125, 460 Kalliope 60 Kannegießer, Wolfgang 97 Kant, Immanuel 45, 106, 292 Karg, Georg 194 Karl der Große 82, 152 Karl der Kühne von Burgund 114 Karl V. 82, 174–178, 180, 182, 187, 191–195, 197, 211, 219, 226, 232– 235, 237–239, 255–260, 262, 266, 270, 276, 277–286, 322, 343, 379, 387, 388, 394, 395, 397, 398, 401, 402, 406–411, 423, 432, 439–441 Karl von Münsterberg 349 Karlstadt, Andreas 10, 19, 52, 96–98, 107, 129, 131, 137, 138, 143, 326, 332, 338, 388 Katharina von Aragon 195 Katharina von Medici 176 Käuffelin, Balthasar 37 Kaufmann, Thomas 85 Keller, Rudolf 85, 88, 417, 427 Ketzmann, Johannes 155 Ketzmann, Peter 155 Kindler, Fabian 356 Kingsattler, Johannes 50 Kircher (Stadian), Franz 7, 37, 41 Klebitz, Wilhelm 201, 444, 445 Klio 60 Klug, Josef 309, 310 Knoche, Michael 303 Knoder, Johannes 221 Koch (Coci), Dietrich 389 Koch, Ernst 89 Koch, Hans-Theodor 87 Koch, Johannes 258, 261 Koethe, Friedrich August 329
Personenindex Komerstadt, Georg von 272–274 König, Konrad 98 Konstantin d. Gr. 72, 291 Krafft, Adam 406 Krafft, Carl 449 Krafft, Johannes, siehe Crato Krautwald, Valentin 347 Kreß (Croesus), Johannes 37 Küchenmeister, Sebastian 97, 134, 140, 141 Küng, Hans 67, 292 Kurrer, Kaspar 41 Laberius 158 Lachmann, Johannes 35 Lagus, Konrad 86 Lambert von Hersfeld 316 Lang, Johannes 1, 98, 128, 132, 135– 137, 345, 450 Languet, Hubert 199, 445 Laskaris, Konstantin 32, 77 Laski, Jan 198, 199, 441, 442 Laube, Adolf 328 Laurentius 412 Lauterbach, Anton 390 Lauterwald, Matthias 212 Leib, Christoph 283 Lemnius, Simon 81 Lemp, Jakob 6, 7, 37 Leo X. 176 Licinius 72 Lietzmann, Hans 455 Linck, Wenzeslaus 377, 381 Livius 51, 114, 159 Locher Philomusus, Jakob 34, 100 Loewenich, Walter von 129 Loofs, Friedrich 447, 449 Lotichius Secundus, Petrus 81 Lotter, Melchior d. J. 311 Löwenstein, Ludwig (Vater und Sohn) und Friedrich von 36 Ludolf von Schwaben 281 Ludwig V. von der Pfalz 175, 432, 435, 437, 438 Ludwig VI. von der Pfalz 370, 445, 446 Ludwig von Ungarn 343 Lukian 436 Lupetina, Baldo 417 Lupinus, Petrus 97, 129, 135
473
Luther, Hans (Johannes) 379, 381, 383, 386, 387, 389 Luther, Jakob 383 Luther, Käthe (Katharina von Bora) 112, 218, 260, 326, 373–391 Luther, Magdalena 379 Luther, Margarete 383, 386 Luther, Martin 1–27, 28, 34, 42, 45, 48, 52, 55, 58, 59, 67, 69, 71, 78–80, 83, 84, 89, 93, 96, 98, 102, 103–105, 107–109, 111, 112, 115, 116, 122– 124, 125-151, 152–155, 157, 163, 164, 166, 170, 173–175, 181–184, 186, 187, 192, 193, 195, 199, 201, 202, 204–207, 213–216, 218, 221– 229, 231–239, 242, 243, 245, 247, 248, 249, 251, 252, 255, 256, 264, 266, 267, 269, 275, 284–286, 290, 293, 295–299, 303, 305, 306, 308, 309, 311, 312, 320, 326, 329–332, 336–338, 340, 345, 347, 350, 351, 353, 355, 358, 365, 367, 368, 372, 373–391, 394, 397, 399, 400, 403, 406, 415, 417–420, 425–429, 434, 441, 445, 447–461 Luther, Martin d. J. 381, 383, 386 Luther, Paul 381, 383, 386 Magenbuch, Johannes 108 Mager, Inge 88 Maior, Georg 84, 85, 88, 90, 209, 224, 237, 238, 260, 261, 263, 265, 267– 270, 354, 388, 389, 427, 460 Mani 336 Mannermaa, Tuomo 215 Mansfeld, Albrecht von 260, 272, 385 Mansfeld, Albrecht, Philipp und Johann Georg von 272, 275, 385 Mansfeld, Ernst von 338 Marbach, Johannes 168, 194, 283 Marcellus, Johannes 265, 380 Marcion 447 Maria die Katholische von England 197, 198, 441 Maria von der Pfalz 444 Marquard, Johannes 433 Mars/Ares 327 Martianus Capella 42 Marx, Karl 287, 288 Maßner, Joachim 425
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Personenindex
Mathesius, Johannes 284 Maurer, Wilhelm 146 Maurus, Bernhard 41 Mauser (alias Hüffel), Hans 312 Mauser, Konrad 265 Maximilian I. 29, 36, 58, 64, 69, 73, 432 Maximilian II. 168 Maximus Confessor 426 Medler, Nikolaus 389 Medmann, Peter 224 Megander, Caspar 31, 167 Meienburg, Christoph 260, 261, 358 Meienburg, Michael 261, 283, 358, 381 Meienburg, Michael Aeneas 358 Meier, Martin 420 Meinhardi, Andreas 101 Meißinger, Karl August 449 Melanchthon, Katharina 258, 261, 379, 380, 443 Melanchthon, Magdalena 258, 261 Melanchthon, Philipp d. J. 261, 374 Mellerstadt (Pollich), Martin 92, 129 Memminger, Johannes 336 Menius, Justus 239, 256, 270, 335 Mennecke-Haustein, Ute 89 Mercurius/Hermes 317, 327 Metzler, Johannes 312, 352 Metzler, Witwe und Sohn 353 Micyllus, Jakob 81 Mila, Bernhard von 222 Milichius, Jakob 78, 80, 111, 265 Minckwitz, Erasmus von 443–445 Mohammed 59 Moibanus, Ambrosius 342, 344, 350– 352, 354, 356, 358, 359, 363–365 Moibanus, Johannes 352 Moibanus, Zacharias 352, 358 Moller, Heinrich 90 Monau, Jakob 372 Morata, Olympia Fulvia 51 Morel, François 198 Morhart, Ulrich 316 Moritz von Sachsen 120, 121, 190, 194, 225, 226, 237, 254, 255, 259, 262, 266, 267, 268, 269, 270–275, 277– 286, 322, 387, 389, 401, 402, 404, 412, 418, 440 Mörlin, Joachim 139 Mörlin, Jobst 107, 139, 143 Mörlin, Maximilian 139
Mornberger (Morenberg), Johannes 358, 359, 367, 368 Morus, Thomas 73, 186, 196 Mosellanus, Petrus 44, 78, 79, 105, 136, 158 Moywen, Georg 350, 351 Mozart, Wolfgang Amadeus 86 Müller (Millius), Bartholomäus 395 Müller (Mylius), Krafft 49, 57–59 Müller, Nikolaus 448, 449, 455 Münsterer, Anna 258 Münsterer, Sebald 327, 384 Müntzer, Andreas 384 Müntzer, Thomas 328–341 Musaeus, Simon 356, 357, 370 Musculus, Andreas 356 Musculus, Wolfgang V, 5, 85, 167, 410 Mutter Teresa 291 Mylius (Müller), Crato 49, 57–59 Natter (Nather), Leonhard 156 Nauclerus, Johannes 39, 40, 44, 53, 60, 82, 281, 430 Neander (Neumann), Balthasar 360 Neander, Michael 77, 161 Neddermeyer, Uwe 82 Negelin (Carion), Johannes 40 Nesen, Wilhelm 337 Neuenahr, Hermann von 230 Neumann (Neander), Balthasar 360 Niger, Anton 351 Nigg, Walter 217 Nikolaus von Lyra 427 Nonnos von Panopolis 78 Nopp (Nopus), Hieronymus 156 Oberman, Heiko A. 72 Obernburger,Johannes 261 Occam (Wilhelm von Ockham) 95, 102, 133, 427 Oekolampad, Johannes 6, 10, 15, 24, 39, 41, 42, 54, 55, 58, 63, 76, 77, 316, 350 Olevian, Caspar 168, 363, 444 Oporinus, Johannes 77, 416 Origenes 367, 428 Örtel, Veit 79, 83, 84, 122, 265 Osiander, Andreas 21, 25, 202–217, 324, 352, 362, 408 Ottheinrich von der Pfalz 194, 369, 435, 437, 438, 441–444
Personenindex Otto der Große 226, 281 Otto von Braunschweig-Harburg 406 Ovid 139, 159 Pack, Otto von 117, 225 Pallas 282 Paracelsus 177 Paul III. 180, 187, 238, 280, 284, 401 Paulus 12, 114, 122, 126, 132, 159, 201, 236, 248, 250, 290, 295, 304, 325, 348, 367, 417, 427, 428, 445 Pellikan, Konrad 62, 63 Perrucel, François 198, 199 Peters, Albrecht 148 Peters, Christian 7, 22, 23, 210 Petrus 412 Petrus Hispanus 95, 97, 102, 107, 132, 134–136, 140, 141, 143 Petrus Lombardus 126, 129, 130 Peucer, Caspar 82, 88, 90, 122, 123, 361 Peura, Simo 216 Peurbach, Georg 169 Peutinger, Konrad 58, 66 Pezel, Christoph 6, 90, 302, 305, 428 Pfefferkorn, Johannes 69, 70 Pfeffinger, Johannes 355 Pflug, Julius von 402, 404, 408 Pflummern, Heinrich von 394 Philipp von Hessen 24, 25, 166, 176, 192, 194, 195, 220–226, 229, 233, 235, 255, 257, 266, 277, 279, 284, 328, 331, 333, –338, 341, 394, 396, 402, 405, 442, 458 Philipp der Aufrichtige von der Pfalz 29, 33, 59, 279 Philipp von Pommern 266 Piccolomini, Enea Silvio 420 Pico della Mirandola, Giovanni 68, 351 Pindar 327 Pirckheimer, Willibald 41, 43, 66, 71, 75 Pistorius, Johannes 160, 194, 403 Pius II. 58, 420 Plackery, Aegidius von 232 Plateanus, Thomas 199 Platon 9, 14, 36, 43, 44, 68, 106 Plautus 156 Plieningen, Dietrich von 34 Plinius d. Ä. 45, 106, 107, 121, 127, 132, 136, 137, 144, 157
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Plochinger, Matthäus 122 Plutarch 53, 312 Poggio Bracciolini 101 Pol(ius), Thomas 357 Pollich aus Mellrichstadt, Martin 92, 129 Pollio, Lucas 371 Polykarp 426, 428 Porphyrios 96, 128, 134 Praetorius, Johannes, siehe Scholtz Premsel, Jakob 98, 107, 111, 139, 143 Priscian 98 Proklos 113 Prometheus 28 Promnitz, Balthasar von 353, 361, 362, 369 Properz 34 Prosper von Aquitanien 426 Ptolemaios 87 Publilius Syrus 158 Pythagoras 40, 43, 68 Quicker, Gregor 350 Quintilian 45, 85, 102, 104, 106–108, 111, 113, 127, 132, 136, 137, 144, 434 Ratzeberger, Matthäus 263, 264, 269, 270, 271, 324, 383 Regiomontanus, Johannes 169 Rehdiger, Thomas 372 Reiffenstein, Johannes 325, 326 Reiffenstein, Wilhelm 325 Reinhold, Erasmus 119, 171, 266 Reuber aus Bockenheim, Johannes 139 Reuchlin, Elisabeth 29, 30, 32, 43, 177 Reuchlin, Johannes 1, 7, 10, 29, 31–34, 37, 39–41, 43, 44, 47, 49, 50, 53, 55, 58–60, 63, 65–74, 75–78, 82, 83, 105, 114, 205, 215, 219, 230, 311, 316, 351, 428–430, 433, 435 Reuter, Ambrosius 383–386 Reuter, Barbara 29, 30, 43 Reuter, Johann 29, 30, 51, 219, 433 Reuter, Johann Philipp 30 Reuter, Kilian 97 Reuter, N., Melanchthons Großmutter 29 Rhau, Georg 309 Rhein, Stefan 81, 82, 320, 329, 380
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Personenindex
Rhenanus, Beatus 46, 48, 52, 53, 56, 58, 64, 131, 425 Rheticus, Georg Joachim 119, 171, 360, 361 Rieneck, Margarete von, geb. Erbach 440 Rieneck, Philipp von 440 Ritschl, Albrecht 202, 203, 450 Ritschl, Otto 427 Ritter, Gerhard 461 Rivius, Johannes 156, 161 Roger 291 Rörer, Georg 332 Roth, Stephan 155 Rothe, Anna 363 Roting, Michael 160 Rott, Jean 48 Rühel, Johannes 340 Rüth, Bernhard 393 Rutzel, Ambrosius 386 Sabinus, Georg 81, 212, 273, 310, 389, 390 Sabinus, Katharina 258, 261 Sachau, Ursula 373, 374, 392 Sachs, Hans 49 Sager, Johannes 355, 359, 361 Sallust 114, 159 Salza, Jakob von 344, 347, 350, 352, 353 Sapidus, Johannes 46 Sarcerius, Erasmus 356, 368 Sartorius (Schneider), Balthasar 359, 360 Sauer, Stanislaus 347 Saxo, Johannes 379, 380 Sbrulius, Ricardus 101 Schäfer, Bärbel 82 Schaffer (Scheffer), Pankraz 360 Scheer = Cureus Scheller, Nikolaus 323 Schenck, Jakob 3, 19, 151, 186 Schenk zu Limburg, Friedrich 446 Scheurl, Christoph 95, 100, 101, 133 Schiller, Friedrich 206 Schilling, N. 353 Schlauraff, Magister 37, 313, 314 Schleupner, Dominicus 347, 348, 350 Schmid, Georg 324 Schneider siehe Sartorius Schnepf, Erhard 35
Schöffer, Johannes 56 Scholtz (Praetorius, Scultetus), Johannes 357–359, 365, 366, 368– 371 Schönborn, Bartholomäus 87, 171 Schöner, Johannes 160 Schörer = Cureus Schott, Hans 63 Schott, Peter 50 Schradin, Johannes 38 Schubert, Hans von 449 Schultz = Scholtz Schurff, Augustin 104, 107, 137, 140, 143, 265 Schurff, Hieronymus 104, 135, 137, 270 Schwaiger, Georg 443 Schwartzerdt, Georg d. Ä. 5, 29, 30, 36, 51, 219, 433 Schwartzerdt, Georg d. J. 30, 219 Schwartzerdt, Johann 29 Schwartzerdt, Margarete 433 Schwartzerdt, Nikolaus 29, 64 Schwebel, Johannes 35, 62 Schwenckfeld, Caspar von 347 Scultetus, Johannes, siehe Scholtz Seckendorff, Veit Ludwig von 319 Seebaß, Gottfried 202 Seneca 158 Setzer, Anna 314 Setzer, Johannes 54, 319–316, 318, 325, 331, 341, 436 Setzer-Anshelm, N. 314 Sibutus, Georg 101 Sibylle von Sachsen 259 Sickingen, Franz von 219, 235 Silius Italicus 101 Simler, Georg 31, 33, 34, 38, 41, 49, 50, 53, 75–77, 154 Simler, Johannes 50 Singel, Christoph 284 Sohm, Rudolph 457 Sokrates 1 Sorbillo, Johannes 34 Spalatin, Georg 9, 45, 78, 103, 105, 108, 110, 111, 130, 135, 137–139, 141, 143–145, 221, 235, 281, 326 Spangel, Pallas 6, 33, 34, 36, 47, 55 Sperantius, Sebastian 155 Spiegel zu Gruna, Asmus 383
Personenindex Spiegel, Jakob 49, 50 Stackmann, Heinrich 98, 107, 143 Stadianus (Kircher), Franz 7, 37, 41 Stadion, Christoph von 233 Stähelin, Wolfgang 135 Staltz (Stoltz), Andreas 443, 446 Staphylus, Friedrich 89, 212, 361–363, 369 Stathmion, Christoph 323, 324 Staupitz, Johann von 11, 92, 95, 127, 134, 142 Steiff, Karl 314 Stein, Bartholomäus 101 Stein, Simon 98 Steinbach, Wendelin 6, 7, 37 Steinberg, Christoph von 222 Steinmetz, Max 329, 331, 340 Sternberg, Hans von 320 Stifel, Michael 3 Stigel, Johannes 81, 82, 89, 216, 266, 268, 273 Stöckel, Leonhard 359, 368 Stöffler, Johannes 8, 40, 42, 43, 99 Stolberg, Botho von 318, 319 Stolberg, Grafen von 275 Stolberg, Katharina von 432 Stolberg-Königstein, Ludwig von 432 Stolberg, Wolfgang von 261 Stolt, Birgit 460 Stoltz (Staltz), Andreas 443, 446 Storch, Nikolaus 330, 331, 337–339 Stramburger, Johannes 390 Strigel, Victorin 6, 89 Stübner, Marcus 338 Stuichs, Andreas 433 Sturm, Jakob 35, 48, 57, 63, 409, 410 Sturm, Johannes 56, 161, 167, 179–181, 186, 192, 194 Sturm, Peter 35, 48, 63 Sueton 101 Sulpicius Verulanus, Johannes 98 Symmachus, Q. Aurelius 217 Tartaretus, Petrus 132, 135, 136 Tauler 426, 427 Terenz 37, 40, 113, 114, 156, 158, 311, 434 Teresa 291 Tertullian 367 Theodosius 217
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Theophylakt 367 Theramenes 186 Thietmar von Merseburg 281 Thomas von Aquin 7, 37, 72, 73, 95, 96, 129, 133, 134, 136 Thukydides 67, 114 Thüringer, Walter 87 Thurzó, Johannes 345, 346–348, 351 Trithemius, Johannes 75 Troeltsch, Ernst 455, 459 Troger, Johannes 351, 359 Troje, Hans Erich 86 Trotzendorf, Valentin 77 Truchseß von Waldburg, Georg 433 Trutfetter, Jodocus 96, 97, 128, 133 Tulichius, Hermann 83, 107, 108, 111, 143, 157 Turnus 282 Ulmer, Johann Konrad 440 Ulrich von Württemberg 30, 39, 69, 176, 191, 218–222, 229, 394, 402, 411 Ulscenius, Felix 315 Unger, Johannes 30 Ursinus (Beer), Zacharias 88, 89, 342, 343, 353, 363, 364, 366, 367, 369, 370, 436 Vach (Fabricius), Balthasar 100, 101, 108, 111 Vadian, Joachim 51, 55 Valerius Maximus 101 Venus/Aphrodite 327 Vereander (Altmann) 37 Vergil 9, 44, 101, 106, 113, 114, 158, 159, 284 Vermigli, Petrus Martyr 369 Vesalius, Andreas 172 Vico, Giambattista 65 Vietz, N. 371 Vietz (Vincentius), Petrus 353, 371 Vigilius (Wacker), Johannes 33 Vincentius, Petrus 83, 284, 342, 353, 371 Visser, Derk 88 Volland, Caspar 38 Volmar, Johannes 99, 108, 111, 140 Volmar, Melchior 38 Voré, Seigneur de la Fosse, Barnabas de 179, 181, 185
478 Vulcanus/Hephaistos 327 Wacker, Johann 33 Wagner, Markus 422 Wallenrode, Agatha von 323 Wallenrode, Barbara von 324 Wallenrode, Johann Ernst von 323 Wallenrode, Matthäus von 317–327 Wallenrode, Veit von 322 Wallmann, Johannes 450 Walter, Anton 122 Wartenberg, Günther 280, 329 Weber, Alfred 65 Weber, Max 455 Weczerka, Hugo 343 Weichart, Konrad 266, 272 Weller, Hieronymus 167, 459 Weller, Peter 380 Wendelinus, Marcus Friedrich 168 Wengert, Timothy 84 Werner von Themar, Adam 33 Wertheim, Georg II. von 432 Wertheim, Michael III. von 432 Westphal, Joachim 26, 197, 200, 365, 366, 368, 441 Wetzel, Richard 90, 311 Widebram, Friedrich 89 Wied, Hermann von 223, 227 Wiedenhofer, Siegfried 216
Personenindex Wilhelm II. 447 Wilhelm von Kleve-Jülich 198, 199, 320 Wilhelm von Ockham 95, 102, 133, 427 Wilhelm von Paris 428 Wimpfeling, Jakob 6, 34, 35, 46–48, 50, 52, 55, 58–60, 62–64, 81 Winkler, Andreas 359, 360, 363, 370, 372 Wirsching, Johannes 216 Wittiger, Michael 347, 349 Witzel, Georg 420 Witzenmann, Walter 65 Wolf, Hieronymus 78 Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken 194 Wolgast, Eike 332 Wullenwever, Jürgen 279 Xenophanes von Kolophon 294 Zell, Matthäus 57 Ziegler, Bernhard 428 Zirler, Stephan 445 Zoroaster 43 Zorzin, Alejandro 329 Zwingli, Ulrich 39, 55, 56, 60, 63, 123, 167, 178, 187, 230, 235, 365, 394– 396, 441