Aufbruch ins Industriezeitalter: Band 1 Linien der Entwicklungsgeschichte [Reprint 2015 ed.] 9783486824162, 9783486527216


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German Pages 232 Year 1985

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Table of contents :
Geleitwort des Bayerischen Ministerpräsidenten
»Industriezeitalter« — eine geschichtliche Epoche
Die »geminderte« Industrialisierung in Bayern
Die Antizipation der Industrie — der vorindustrielle Großbetrieb, seine Technik und seine Arbeitsverhältnisse
Technische Neuerungen im Wandel der Energiegewinnung
Die Sozialprobleme im Gefolge der Industrialisierung
»Wie ist der materiellen Noth der unteren Klassen abzuhelfen?« Eine sozialhistorische Quelle zu Problemen der Industrialisierung in Bayern im 19. Jahrhundert
Bayern im 19. Jahrhundert - ein Entwicklungsland?
Die Sondergeschichte der Bayerischen Industrialisierung im Blick auf die postindustrielle Gesellschaft
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Aufbruch ins Industriezeitalter: Band 1 Linien der Entwicklungsgeschichte [Reprint 2015 ed.]
 9783486824162, 9783486527216

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Aufbruch ins Industriezeitalter

Band 1

Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur Nr. 3/85

Herausgegeben von Claus Grimm

i.

Haus der Bayerischen Geschichte

Aufbruch ins Industriezeitalter Band 1 Linien der Entwicklungsgeschichte Herausgegeben von Claus Grimm

R. Oldenbourg Verlag München

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Aufbruch ins Industrie-Zeitalter / [hrsg. von Claus Grimm]. — München : Oldenbourg ISBN 3-486-52721-5 NE: Grimm, Claus [Hrsg.] Bd. 1. Linien der Entwicklungsgeschichte / hrsg. von Claus Grimm. - 1985.

© 1985 Bayerische Staatskanzlei Haus der Bayerischen Geschichte, München © 1985 Oldenbourg Verlag, München Alle Rechte vorbehalten Herausgeber Claus Grimm Gestaltung und Produktion Rudolf Paulus Gorbach, Buchendorf Reproduktion Eurocrom 4, Villorba Satz unter Verwendung von IBM-PC (Böwe System Vertrieb, Augsburg) bei acomp, Wemding Druck Druckerei Appl, Wemding ISBN 3-486-52721-5 Umschlag: strand design, München

Geleitwort des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. h. c. Franz Josef Strauß Über das Leben in den großen Häusern des 19. Jahrhunderts wissen wir anhand vieler prachtvollen steinernen, gemalten und gedruckten Zeugnisse ziemlich genau Bescheid. Wie aber lebte und arbeitete der kleine Mann, etwa der Bauernsohn, den die rasch wachsende Industrie in die Städte lockte, in die großen Mietskasernen mit ihren dunklen Hinterhöfen? Gründlich haben allzuviele vergessen, mit welcher M ü he, Gefahr, Geduld und Opferbereitschaft die Grundmauern für unsere moderne Welt errrichtet wurden. Naturwissenschaftlich-technische Zivilisation und freiheitlich-soziale Staatsordnung, deren Segnungen wir wie selbstverständlich genießen, verdanken wir auch den Leistungen von Menschen, die in Armut und Beengtheit ein Leben voll harter und langer Arbeit führten. Uber die Geschichte des Alltags und der Arbeitswelt konnte man sich bisher nur bruchstückhaft in regionalen Museen und in Technikmuseen unterrichten. Die erhaltenen Zeugnisse alter Technik und die Industriearchitekturen des 19. Jahrhunderts werden heute nicht mehr als banale Zweckschöpfungen geringgeschätzt, sondern mehr und mehr als Denkmäler einer ferngerückten Welt angesehen. Bayern war nicht Bahnbrecher, sondern eher ein Nachzügler der industriellen Revolution. Weder wurden, wie anderswo, ganze Landschaften zerstört, noch große Bevölkerungsgruppen plötzlich entwurzelt. Dankbar blicken wir auf jene Menschen zurück, die Armut und Elend schrittweise überwinden halfen: Die Erfinder und Unternehmer ebenso wie die geduldigen Arbeiter, die maßvollen Politiker wie die Reformer im Bildungswesen, die Förderer des Sozialversicherungswesens und alle, die für soziale und politische Gleichberechtigung eingetreten sind. Den Auftrag, eine „Ausstellung zur Wirtschaft- und Sozialgeschichte Bayerns in den letzten 200 Jahren unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte der bayerischen Arbeiterbewegung" auszurichten, erteilte der Bayerische Landtag 1978. Nach eingehender Beratung mit einer Reihe von Fachleuten betraute die Bayerische Staatsregierung das Haus der Bayerischen Geschichte in München und das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg damit, den Auftrag des Bayerischen Landtags zu erfüllen. In enger Zusammenarbeit mit dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg wurden die Ausstellungskonzepte erarbeitet. Nachdem die Stadt Augsburg ein großes Ausstellungsgebäude angemietet hatte, wurde es möglich, in den beiden bedeutendsten bayerischen Industriestädten des 19. Jahrhunderts die Ausstellung in angemessenem Rahmen zu verwirklichen. In dem vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus 1980 berufenen Kuratorium sind die wichtigsten vom Ausstellungsthema betroffenen Organisationen und gesellschaftlichen Gruppen vertreten. Im selben Jahr bewilligte 7

der Bayerische Landtag die Aufstockung der Ausstellungsmittel auf 8,5 Millionen D M , was eine großzügige Ausstattung sicherte. Die ehemalige Reichsstadt Augsburg, w o der erste Teil der großen Ausstellung gezeigt wird, brachte mit dem hohen Stand ihrer Handwerke, ihres Bankwesens und mit ihren zahlreichen Handelsverbindungen sowie ihrer lange schon genutzten Wasserenergie alle Voraussetzungen mit, durch technische Verbesserungen und die arbeitsteilige Fabrikarbeit ihre Produktion zu steigern. Der Aufstieg der Industriestadt Augsburg im 19. Jahrhundert stellt einen bedeutenden Abschnitt in der von Gewerbefleiß und Erfindergeist geprägten reichen Geschichte dieser schwäbischen Metropole dar, die 1985 ihr 2000-jähriges Jubiläum feiert. Allen Beratern und Förderungen, allen Leihgebern und Helfern danke ich herzlich und wünsche der Ausstellung großen Zuspruch und Erfolg.

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Inhalt

Geleitwort des Bayerischen Ministerpräsidenten 7 Claus Grimm »Industriezeitalter« — eine geschichtliche Epoche 11 Karl Bosl Die »geminderte« Industrialisierung in Bayern 22 Günter Bayerl, Ulrich Troitzsch Die Antizipation der Industrie — der vorindustrielle Großbetrieb, seine Technik und seine Arbeitsverhältnisse 87 Wilhelm Ruckdeschel Technische Neuerungen im Wandel der Energiegewinnung 107

Iris Hahner Die Sozialprobleme im Gefolge der Industrialisierung 143 Jutta Seitz »Wie ist der materiellen Noth der unteren Klassen abzuhelfen?« Eine sozialhistorische Quelle zu Problemen der Industrialisierung in Bayern im 19. Jahrhundert 156 Werner von der Ohe Bayern im 19. Jahrhundert - ein Entwicklungsland? 169 Walter L.Bühl Die Sondergeschichte der Bayerischen Industrialisierung im Blick auf die postindustrielle Gesellschaft 203

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Claus Grimm

»Industriezeitalter« — eine geschichtliche Epoche Erläuterungen zum Ausstellungskonzept

Die Vorgeschichte der Ausstellung Das Haus der Bayerischen Geschichte hat die Aufgabe übernommen, »die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns in den letzten 200 Jahren« breiten Bevölkerungskreisen in Form einer Ausstellung nahezubringen. Der Anspruch des umfassenden Themas war nur zu erfüllen durch eine umfangreiche Darbietung von historischen Dokumenten, durch Inszenierung historischer Gruppen und Rekonstruktion von Gegenständen und Situationsbildern des Arbeits- und Alltagslebens. Der am 13. Juli 1978 vom Bayerischen Landtag gefaßte Beschluß lautete: »Die Staatsregierung wird ersucht, baldmöglichst Auftrag zu erteilen, eine Ausstellung durchzuführen, die sich mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in den letzten 200 Jahren befaßt und dabei besonders die bayerische Arbeiterbewegung berücksichtigt.« Das Thema war damit in doppelter Weise bestimmt: zum einen sollte der epochale Umbruch und Neubeginn vor Augen geführt werden, der mit dem Namen »Industriezeitalter« verbunden wird, zum anderen aber sollte das besondere Augenmerk der Ausstellung auf den Lebensverhältnissen der sozialen Gruppen liegen, die von diesem Umbruch am härtesten betroffen waren. Eine solche Thematik war bisher Gegenstand von Aufsätzen und Büchern, jedoch noch keiner derartig umfänglichen Ausstellung. Das Haus der Bayerischen Geschichte ist in einem wörtlichen Sinne an dieser Aufgabe gewachsen. Der Entschluß der Bayerischen Staatsregierung, diese Ausstellung mit Mitteln von 8,5 Millionen durchzuführen, setzte fachlich wie organisatorisch dafür geeignete Träger voraus. Weiterhin hing mit der Frage der Trägerschaft auch die des Durchführungsortes zusammen. Die Festlegung auf Augsburg und Nürnberg entspricht der Reihenfolge und der besonderen Bedeutung dieser beiden Städte in der Industrialisierungsgeschichte Bayerns. In Nürnberg hatte das Germanische Nationalmuseum die Planung für den zweiten Teil der Ausstellung — von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart — übernommen. Besonders dankbar ist das Haus der Bayerischen Geschichte der Leitung des Germanischen Nationalmuseums, daß diese — bei Verringerung ihrer eigenen Finanzmittel — der Kostenteilung zugunsten einer gleichgewichtigen Ausstellung in Augsburg zugestimmt hat. Wesentlich unter dem Gesichtspunkt einer angemessenen Durchführung des staatlichen Ausstellungsauftrages ist das Haus der Bayerischen Geschichte neu organisiert worden. Es ist seit 1.1.1983 der Bayerischen Staatskanzlei angegliedert, mit Sekretariat und Verwaltungsfachleuten ausgestattet und seit Beginn der Ausstellungsplanung insgesamt in seinem Personalstand mehr als verdreifacht worden. 11

Die Einrichtung einer funktionsfähigen Ausstellungsorganisation und die Aufstockung der Mittel für den ersten Teil der Ausstellung erlaubten dem Haus der Bayerischen Geschichte, nochmals wegen geeigneter Räume zu verhandeln. Dankenswerterweise hat die Stadt Augsburg sich für die Anmietung eines Ausstellungsgebäudes entschlossen, das — mit 1500 qm Fläche - ein geeigneter Rahmen ist und nach seinem Ausbau überdies als »Kunsthalle am Wittelsbacher Park« eine Filialgalerie der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen aufnehmen wird. Damit ist die Ausstellung über das Industriezeitalter in zwei gleichzeitigen, vollwertigen Ausstellungen an den beiden Hauptgeschehensorten in Bayern ermöglicht worden. Für die Aufmerksamkeit des Publikums liegt die Durchführung im Jahr 1985 günstig: die Stadt Augsburg feiert in diesem Jahr ihre 2000-Jahrfeier; in Nürnberg wird mit der Ausstellung »Zug der Zeit - Zeit der Züge« das Jubiläum für die erste deutsche Eisenbahn begangen. Im Rahmen der Augsburger Geschichtsdarstellungen ist es mehr als gerechtfertigt, auf die Pionierrolle dieser Stadt in der bayerischen Industrialisierung hinzuweisen. Andererseits hilft auch die Nürnberger Eisenbahn-Ausstellung, Interesse für das 19. Jahrhundert zu wecken. Es bietet sich nicht nur der Vorteil gleichzeitiger gemeinsamer Werbung, sondern auch der verstärkten Hinführung auf Zusammenhänge, die besonders aktuell als Entstehungsgeschichte unserer Gegenwart sind. Eine so nahe Geschichte erlaubt die Würdigung regionaler Schicksale und Leistungen; der wirkungsvollste Effekt dieser Ausstellung wäre eine Belebung von Stadt- und Regionalgeschichte. Vielleicht kann sie das Anliegen befördern, die seit dem Krieg magazinierten Bestände der stadtgeschichtlichen Sammlung Augsburgs auf Dauer zu präsentieren.

Thematik und Materiallage Wer in der Schule oder später im Beruf ein Thema für einen Aufsatz gestellt bekommt, der macht sich auf die Suche nach den nötigen Informationen — vorderhand aus Büchern, vielleicht auch aus Primärquellen — und baut darauf seine Darstellung auf. Wer ein Handbuch zusammenstellt, der geht ebenso vor und kann als Historiker dann allenfalls die Erfahrung machen, daß wichtige Sachverhalte nicht dokumentiert sind, die ihn interessieren würden. Wo die Fakten unscharf werden, wird er mit Vermutungen aushelfen müssen und damit das übliche unterschiedlich abgesicherte Bild geschichtlicher Zusammenhänge entwerfen. Ganz anders ergeht es dem, der eine Ausstellung planen soll. Diese muß anschaulich sein, die Augen und die wahrnehmende Erfahrung unmittelbar ansprechen. Als ein wirksames Schaufenster kann sie nie das ganze Sortiment eines Ladens vorstellen, wohl aber auf wesentliche Inhalte aufmerksam machen. U n d weil Ausstellungen nicht einfach wie geschichtliche Handbücher ausgefüllt werden können, sondern handgreifliche Dokumente einerseits, leicht zugängliche und den Beschauer unvorbereitet anrührende Darstellungen andererseits herzeigen müssen, besteht häufig eine tiefe Kluft zwischen gestelltem Thema und verfügbarem Demonstrationsmaterial. Texte und Tabellen sind Erläuterungshilfen, kein Objektersatz. Die 12

typischen Ausstellungen der Kunstmuseen tun sich hier leicht, da sie das, was sie ohnehin besitzen, lediglich aufbereiten und allenfalls durch Leihgaben ergänzen. Etwas darzustellen, was so bisher nicht gesammelt worden ist, und was teilweise sogar bewußt übersehen worden ist, zwingt zu einer weit ausholenden Materialsuche und darüber hinaus zu dem, was der schreibende Historiker immerzu tut, nämlich zur Rekonstruktion. Nur daß eine anschauliche Rekonstruktion angestrengteste Detailforschungen voraussetzt, denen sich ein Schreibender durch Abstraktion entheben kann. Die Veränderung des Lebens und der Arbeitswelt durch die Industrialisierung ist in unserem Lande nur ausnahmsweise Gegenstand von Museumsdarbietungen. Am Rande technikgeschichtlicher Präsentation, in manchen Heimatmuseen finden sich Einzelstücke, aber der kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhang ist nirgendwo anspruchsvoll gezeigt. Diese Tatsache hängt gerade bei den deutschen Museen mit dem traditionellen Kulturbegriff zusammen, durch den Geisteskultur ein idealisiertes Eigenleben zugewiesen bekommen hat, während die ästhetisch minderen, von Alltagszwecken und falschem Verständnis verunreinigten Gebilde zur bloßen Zivilisation, zur Unkultur und Ungeschichte gelegt worden sind: von Winckelmann bis Spengler, von Hegel bis Adorno. Museums- und Ausstellungsdarbietungen erzeugen ungeachtet der Differenz zwischen Ästhetik und Geschichte bei den meisten Besuchern die repräsentativen Geschichts- und Epocheneindrücke. Vorstellungen vom »gotischen«, vom »Renaissance«-Menschen oder vom Barockzeitalter überprägen als unsinnige Verallgemeinerungen die geschichtliche Vielgestaltigkeit. Gemälde und Porzellane, Silbergeräte und Terrakotta-Figuren stellen eine Feiertagsgeschichte vor, die von Schweiß und Schmutz, von abergläubischen Ängsten und derben Freuden gereinigt ist. Die Darstellung des 19. Jahrhunderts, der beginnenden Moderne bzw. des Industriezeitalters wurde gerade dadurch verdunkelt, daß sie an der Bruchkante zweier grundverschiedener Epochenvorstellungen lag. Die »alte Zeit« wird bis heute vom Bild der repräsentativen Architekturdenkmäler, des Luxushandwerks und der darstellenden Künste geprägt. Hingegen litt die Darstellung des 19. Jahrhunderts seit den Bekundungen der Zeitgenossen unter dem Klischee der abnehmenden Kultur und der überhandnehmenden Zivilisation, dem Eindruck der Zerstörung politischer und gesellschaftlicher Ordnungen, der Bedrohung durch Not, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Angesichts dynamisch aufbrechender technischer, wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen ist übersehen worden, daß die eigenständigen kulturellen Leistungen nicht mit den Maßstäben für die Repräsentativkultur früherer Generationen zu messen waren. Das Bild des 19. Jahrhunderts hat in der Geschichtsdarstellung darüber hinaus so nüchterne Züge, da die Namen der Institutionen und die Begriffe für das alltägliche Leben weitgehend mit denen der Gegenwart übereinstimmen: Die politischen und sozialen Ordnungen von heute sind damals entwickelt worden. Vereinfacht ausgedrückt, ist das 19. Jahrhundert so etwas wie eine vergangene Gegenwart, während die Zeit davor eine märchenhafte Undurchdringlichkeit und Fremdheit besitzt. Die industrielle Entwicklung ist in vielen ihrer Möglichkeiten inzwischen an Grenzen gestoßen (ökologische Begrenzungen, Begrenzungen der Märkte), deshalb 13

ensteht eine neue Distanz zu manchem gestern noch Selbstverständlichen, und deshalb rücken die Fragen nach den Ursachen und Antrieben erneut in ein allgemeines Interesse. Aus dem erinnerungsreichen Gestern wird langsam ein Vorgestern, das sich dem geschichtlichen Terrain der erwähnten »alten Zeit« angliedert. Nachdem überkommene Denktraditionen zu Ende gegangen und manche Fragen nach dem 19. Jahrhundert heute aus der Distanz anders gesehen werden, gibt es vielerorts Ansätze zu einer Neubewertung. Die museale Neueinrichtung kleiner Textilmanufakturen in Lancashire und die Inbetriebnahme von Spinn-Jennies und Webstühlen für Schauvorführungen, die Neueinrichtung industriegeschichtlicher Museen wie in Manchester, das Pariser Projekt eines sozialgeschichtlichen Museums »Parc de la Villette« (das auf 40 000 qm angelegt ist), das Museum für Technik und Industrie in Berlin und das Museum in Wuppertal sind jüngere Beispiele, neben denen Einzelsequenzen vieler Ausstellungen erwähnt werden müßten, wie etwa der Berliner Preußen-Ausstellung oder der Ausstellung »Das Zeitalter Kaiser Franz-Josephs« in Schloß Grafenegg 1984. Das neu entstandene Interesse für Kultur und Geschichte aller sozialen Schichten hat Handwerks- und Hausgeräte, Wohnstubeneinrichtungen und Kleider entdeckt und der Öffentlichkeit bekannt gemacht, hat zum Sammeln von Dienstboten-Literaturen und Handwerker-Tagebüchern geführt, aber in einer ausreichenden Dichte erst für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gerade wenn man die frühe Industriezeit zum Thema nimmt, bekommt man erschütternde Einsichten in die Verlustbilanz geschichtlicher Überlieferung. Vielleicht schlummert das eine oder andere Stück noch uninventarisiert in diesem oder jenem Dachboden-Depot eines Regionalmuseums, doch unsere Bilanz nach langer und methodischer Suche in allen zugänglichen Sammlungen heißt: Wir besitzen kein originales Stück Alltagskleidung oder Arbeitskleidung aus dem Zeitraum zwischen 1750 und 1850; wir haben keine hölzernen Teller und Becher mehr, wie sie im selben Zeitraum für schlichte Mahlzeiten benutzt worden sind; wir kennen aus dieser Zeit keine realistischen Darstellungen von Wohnräumen der Unterschicht; die für unsere Rekonstruktion in der Ausstellung verwendete früheste Stubendarstellung stammt aus der Leipziger Illustrierten Zeitung von 1848 und stellt die bestmögliche Näherung dar, für die es kein bayerisches Vergleichsstück gibt; ebenso fehlen gezeichnete oder gemalte Darstellungen von Fabrikinnenräumen oder Arbeitssituationen — wenn man von der Zeichnung der Leipziger Illustrierten Zeitung aus der Aschaffenburger Buntpapierfabrik 1858 und der Abbildung der Klettschen Fabrik auf Neureuthers Bild von 1858 absieht. Wenn man bedenkt, daß die Augsburger Textilfirmen die Rolle einer Pilotindustrie hatten und das ganze Jahrhundert hindurch produzierten, so müßte man sich doch vorstellen, daß Rollen von Tuch, Bahnen von bedrucktem Kattun, Borten, Bänder und Quasten, Garnrollen und -Gewebe sich reichlich erhalten haben. Wir wären zufrieden gewesen, wenn aus dem zweiten oder dritten Jahrzehnt nach der Jahrhundertmitte etwas zu finden gewesen wäre. Tatsache ist, daß mit Ausnahme einiger Musterbücher, die wertvollste Ausstellungsstücke darstellen, und dreier heftgroßer bedruckter Kattunstreifen, die vermutlich aus der Schüleschen Manufaktur 14

stammen, nichts mehr da ist. Selbst sensationelle Produkte der Zeit sind spurlos wieder verloren gegangen, wie die ersten sechs Lokomotiven aus England, die auf der Strecke Augsburg-München verkehrten. Es gibt kein Originalteil von ihnen, kein Modell, keine zuverlässige Abbildung (die Darstellungen der Eisenbahn mit München im Hintergrund haben einfachheitshalber Maschine und Wagen der bereits im Stich reproduzierten Nürnberg-Fürther Maschine kopiert). Die Gründe für die historischen Lücken sind einfach: Kein Mensch hat Gebrauchsgegenstände aufgehoben, die irgendwann verschlissen, kaputt, verrostet und ersetzungsbedürftig waren durch Besseres. Aufheben und verräumen zu können, setzt Raum und Muße voraus. Katastrophen, Kriegszeit und Zeiten baulicher Veränderung und Erneuerung haben besonders radikal die historischen Relikte getilgt, denen kein herausragender Wert anhaftet. Das ist überall so verlaufen, wo nicht einzelne Sammler aus besonderem Anlaß eingegriffen haben: Das Henry-Ford-Museum in Dearborn, Michigan, USA ist eine der sensationellen Ausnahmen der Sammlung von Alltagskultur aus der Frühzeit der Industrialisierung. Mausefallen und Nachttöpfe, Holzbecher und einfaches Irdengeschirr, Herde, Waschbecken und Wäschemangeln, Waschbretter und Bügeleisen, stiefeiförmige frühe Badewannen und unendlich vieles mehr ist dort durch einen Philanthropen besonderer Art zusammengetragen worden. Dabei spielt, wie auch in der Erhaltung der Häuser von Washington und Jefferson sichtbar, wie in den funktionsfähig präsentierten Ereignisorten wie Williamsburg die Geschichtsperspektive der Vereinigten Staaten die entscheidende Rolle. Diese beginnt 1776 und widmet dem frühen 19. Jahrhundert ein umfassendes kulturhistorisches Interesse. Da geschichtliche Belege zeit- und ortsgebunden sind, läßt sich Leben und Arbeiten in Bayern nicht durch Zeugnisse aus Detroit oder Baltimore darstellen. Die Hilfsmittel einer Ausstellung sind deshalb Reproduktionen und Montagen, Modelle und Rekonstruktionen, die bestmöglich mit originalem Material versetzt sind. Das angebotene Bier nach historischem Rezept, der Lärm des Webstuhls, die Eindrücke von Handwerkerstuben und Straßenbildern, von Schule und Fabrikhalle sind in Kurztexten kommentierbar, durch Hinweise ergänzbar. Es sollte möglichst viel Hintergrundwissen in die Betrachtung einfließen, doch hier sind — wenn man den Beschauer nicht schnell ermüden will — enge Grenzen gesetzt. Alles in allem ist deshalb die Augsburger Ausstellung als eine vielseitig anregende Kulisse geplant, die mehr Hinweise als erschöpfende Erläuterungen bereithält. Der Besucher soll nicht restlos erschlagen sein, er soll noch Neugierde übrigbehalten für die Lektüre des Begleitwerks, das ihm in nicht allzu beschwerlicher Form angeboten wird.

Die Darstellung im wissenschaftlichen Begleitwerk Das gestellte Thema umgrenzt als Ort der Handlung das heutige Staatsbayern und als Zeitraum 200 Jahre, in denen die wirtschaftlich-industrielle und soziale Entwicklung als Geschehenszusammenhang beleuchtet werden soll. Die besonderen Probleme der neuentstandenen industriellen Arbeiterschaft und die Geschichte der 15

bayerischen Arbeiterbewegung sind der Gesamtdarstellung schwerpunktmäßig zugeordnet. Eine solche Verbindung ist aus der Sicht der geschichtlichen Zusammenhänge gerechtfertigt. Sie bezieht die erfolgreich voranschreitende Umstellung der Produktionsweise auf die tiefgreifenden sozialen Umbrüche. Sowohl die Verelendung der erwerbslos gewordenen Handwerker wie die Entstehung der neuen Industriearbeiterschicht waren unmittelbarste Auswirkungen der Industrialisierung 1 . So viel über diesen Zeitraum an Forschung zusammengetragen worden ist, so bleiben viele grundlegende Fragen offen: Handelt es sich um eine kontinuierlich zusammenhängende, notwendig so ablaufende Entwicklung? Gibt es kontrollierbar gleiche Folgestufen in allen Industrienationen? Gibt es ein typisches Stadium der Reife und spezifische Gründe und Auslöser? Die bayerische Sonderentwicklung zeigt sich als eine verspätete und geminderte Industrialisierung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Welche Gründe gibt es für diese und wie erklärt sich die einsame Vorreiterstellung Augsburgs, aber auch das spätere allmähliche Zurückfallen gegenüber Nürnberg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Die Forschungsbeiträge im wissenschaftlichen Begleitwerk der Ausstellung zielen grundsätzlich immer in zwei Richtungen: auf die genaue Erfassung historischer Einzelumstände und andererseits auf die Zuordnung zu erkennbaren Entwicklungszusammenhängen. Der Fall Augsburg bietet sich als exemplarisches Beispiel, als kontrollierbares Modell sozialer Wandlungen an: die Überschaubarkeit eines städtischen Gemeinwesens, die daraus resultierende Begrenztheit, gegenseitige Verdichtung und relative historische Nähe der Forschungsquellen lassen eine konkretere Darstellung zu als von weither gesammelte Informationssplitter. U m Generelles und Besonderes zu trennen, ist das wissenschaftliche Begleitwerk in drei Teilbände gegliedert. Der erste Band gibt eine Übersicht zur (Handwerks- und Manufaktur-) Vorgeschichte und zur Verlaufsgeschichte der Industrialisierung. Die Beispiele zu den technischen, wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen beziehen sich schwerpunktmäßig auf Augsburg. Die Versuche zu einer entwicklungsgeschichtlichen Würdigung der bayerischen Industrialisierung werden in der ganzen Breite historischer und sozialwissenschaftlicher Vergleichsmöglichkeiten abgehandelt und bis zu postindustriellen Grenzpunkten gezogen. Dieser Vorgeschichte tragen sowohl Teile der Ausstellung wie Beiträge in allen Bänden des Begleitwerks Rechnung. Der zweite Teilband bietet eine breitgefächerte Themenpalette in insgesamt 47 Beiträgen. Diese schildern Einzelaspekte, die sowohl das tägliche Leben des Einzelnen, wie die Bildung neuer Institutionen und Rechtsnormen, Handel, Industrie, Verkehr, Staat und Verwaltung, sowohl die Presse und das Bildungswesen, Kirche und Vereinsleben, sowohl Zustandsbeschreibungen wie Ereignisse wiedergeben. Die Absicht dieses Sammelwerks ist, ein Panorama von historischen Lebensperspektiven einzufangen. Der dritte Band ergänzt diese Quer- und Längsschnitte durch eine Auswahl von historischen Quellen. Ein zusätzliches Medium, eine Schallplatte, gibt weitere Quellen wieder: Arbeiter- und Handwerkerlieder der Zeit. 16

Die Geschichte der bayerischen Arbeiterbewegung fällt fast ausschließlich in den Zeitrahmen des zweiten Ausstellungsteils in Nürnberg (Die frühesten markanten Daten liegen 1849 und 1850: am 2. April 1849 beschließt eine Vertretung bayerischer Arbeiter ihren Beitritt zur »Arbeiterverbrüderung«. Der für Juni 1849 geplante Kongreß der deutschen Arbeitervereine kommt aufgrund politischer Gegenmaßnahmen jedoch nicht mehr zustande. Im Frühjahr 1850 wird in Bayern die »Arbeiterverbrüderung« verboten). Die sich hier erstmals abzeichnenden politischen Konflikte haben als Hintergrund die materielle Not, die Desintegration und den sozialen Abstieg vieler vordem selbständiger Gewerbetreibender. Diese Vorgeschichte ist in der Augsburger Ausstellung herausgestellt.

Der Prozeß der Industrialisierung Für Bayern gilt — ähnlich wie für Österreich —, daß die Industrialisierung nicht mehr als »Inseln in einer überwiegend agrarischen und kleingewerblichen Ökonomie bildete«2. Augsburg und Nürnberg haben die Stellung eben solcher Inseln: Die Gründe fur ihre Vorreiterstellung sind wiederholt benannt worden: a) die Bedeutung der in vielen Stadtbächen herangeführten Wasserkraft b) hochentwickelte Handwerkstraditionen c) ausreichendes Einzugsgebiet für Arbeitskräfte aus dem ländlichen Umland d) entwickeltes Banken- und Kapitalwesen e) weitverzweigte Handelsorganisationen. Sieht man einmal von der Tatsache des Imports der technisch verbesserten Webstühle aus dem Elsaß ab (oder in der Mitte des Jahrhunderts dem Import von Maschinen und Ingenieuren aus England, etwa beim Dampfmaschinen- und Lokomotivenbau), so sind die selben Voraussetzungen genannt, die die moderne Literatur übereinstimmend als Gründe für den Aufbruch der Industrialisierung in England angibt. Einen zugrundeliegenden, generellen Wandlungsprozeß zu beschreiben, der überall vergleichbar ablief, bedeutet eine Vereinfachung, in der wesentliche Merkmale von anderen abgehoben werden. In bezeichnender Weise ist diese bei Walt W. Rostow 3 vorgenommen als eine Stufentheorie des wirtschaftlichen Wachstums. Während die traditionelle Agrargesellschaft keine Entwicklung selbst hervorbringen konnte, ist der Industrialisierungsprozeß durch eine Eigendynamik gekennzeichnet. Diese setzt ein auf Profit ausgerichtetes Unternehmertum voraus, das die Möglichkeiten umfangreicher Kapitalbeschaffung besitzt und durch einen ausgebauten Handel zureichende Verkaufsmöglichkeiten hat. Das »Take-Off« der industriellen Revolution wird aus den drei Hauptbedingungen möglich: Anstieg der Investitionsrate auf über 10% des Nettosozialprodukts, Entstehen von Führungssektoren und Aufbau eines sozialen und institutionellen Rahmens, der diese Entwicklung weiter fördern kann. In vergleichbarer Bewertung hat der Historiker Landes 4 den Wachstumsprozeß der europäischen Wirtschaften charakterisiert, der sich aus der technologischen Entwicklung und der Mobilisierung von Arbeitskräften aus dem agrarischen Bereich ergeben konnte. Die Pionierrolle Englands erklärt sich aus dem zahlreichen, 17

in seinen Rechten weniger beschränkten, privaten Unternehmertum. Der Historiker Hobsbawm 5 sieht in der industriellen Revolution nicht nur eine »Beschleunigung des Wachstums, sondern auch die Ursache und Folge einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwandlung«. Diese besteht in der Auflösung traditioneller Bindungen, durch die Arbeitskräfte verfügbar werden, einer hohen Kapitalverfügbarkeit, einer marktorientierten Wirtschaft, einer ausreichenden Infrastruktur des Handels sowie einem an Profit interessiertem Unternehmertum. Eine besondere historische Konstellation ließ im England des 18. Jahrhunderts einen geeigneten Binnenmarkt entstehen, dem sich durch das Bevölkerungswachstum sowohl Produzenten als auch Konsumenten anboten, einen Exportmarkt, der durch die Handelsund Kolonialpolitik erweitert worden war, eine Politik, die wirtschaftliche Zwecke ihren politischen Zielen integriert hatte. Aus dieser Sicht ergibt sich, daß ein entsprechender Industrialisierungsprozeß auch schon früher und auch an anderer Stelle denkbar gewesen wäre. Wirtschaftshistoriker haben Überlegungen angestellt, in welchen Regionen Europas die beschriebene Ausgangslage am weitesten entwickelt war 6 . Einmal in Gang gesetzt, verstärkt Industrialisierung die Ausgangsbedingungen: Transportmittel und - w e g e zu Wasser und zu Lande, Einführung der Dampfschifffahrt, Beschleunigung der Energiegewinnung und des Energietransports (Kohle statt Holz), den Einsatz von Dampfmaschinen anstelle von Wasserenergie, die Verbesserung sämtlicher Maschinen, Eroberung und Verflechtung der Märkte, Erschließung der Rohmaterialressourcen, Verbesserung der Kapitalorganisation, Steigerung wissenschaftlich-technischer Bemühungen, Bevölkerungswachstum 7 . Die voranschreitende Industrialisierung ist mehr als die Umorganisation einiger Arbeitsgänge. Neil Smelser 8 hat exemplarisch das Verflechtungsnetz der Veränderungen der wirtschaftlichen mit der familienökonomischen und kulturellen Ordnung sowie der neu entstehenden Struktur gesellschaftlicher und politischer Organisation der Arbeiterschicht in England aufgeführt. Die Zwangsläufigkeit dieser gegenseitigen Beeinflussungen hat er von dem Modell eines sich selbst stabilisierenden Systemzusammenhanges der sozialen Ordnung aus entwickelt. Überträgt man eine Systemvorstellung auf die internationalen Verflechtungen, so läßt sich die Irreversibilität des Industrialisierungsprozesses auch in ihren Auswirkungen auf andere Märkte erklären. So hat der Pauperismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrfache Ursachen, die in den von Jutta Seitz in diesem Band vorgestellten Stellungnahmen zum Ausdruck kommen: Die preisgünstigeren Importe aus England verdrängten in Bayern wie andererorts die einheimische Produktion vom Markt (das nahm nicht nur den vielen kleinen Handwerkern ihr Brot, sondern kürzte oder beendete die bescheidenen Zuverdienste einer breiten Bevölkerungsschicht, die in Heimarbeit Spinn- und Webarbeiten geleistet hatte. Außer der Arbeit nach Feierabend und den Arbeitsleistungen von Kindern und alten Leuten war diese Heimarbeit eine wichtige Quelle notwendiger Zuverdienste). Durch den Konkurrenzdruck war die Anschaffung von Maschinen erst im Textilbereich, dann auch in anderen Produktionszweigen unvermeidlich. Das Los der Klein- und Heimgewerbe war damit nicht mehr zu bessern. Aus den beschriebenen Notsitua18

tionen und aufgrund der Arbeitslosigkeit auf dem Lande gingen Menschen in die Fabrik9. Die Fabrikarbeit als solche war eine verbesserte, da längerfristige Verdienstmöglichkeit, nur sie setzte auf der niedrigsten Stufe ein. Das will auch die Formulierung besagen, daß die Fabriken nicht die Armut hervorgebracht haben, sondern sie angezogen haben, bzw. daß es neben und unter der Arbeiterschaft noch bedrängtere Gruppen der Gesellschaft gab 10 . Auf einer abstrakten Ebene ist der durch die Industrialisierung ausgelöste Modernisierungsprozeß der Gesellschaft so bezeichnet worden: Differenzierung von Institutionen, quantitatives Wachstum mit Stufen struktureller Veränderung. Die geschichtliche Stufe, auf der Industrialisierung möglich ist, weist als neuartige Strukturmerkmale eine »funktionale Differenzierung der gesellschaftlichen Strukturen« (im Gegensatz zur traditionsbedingten »Prestigedifferenzierung«) 1 1 auf. Sie ist verbunden mit veränderten kulturellen Legitimierungen, einer institutionalisierten Wissenschaft und entwickelter Technologie, Geld- und Kreditsystemen sowie Eigentums- und Vertragsrechtsregelungen neuer Art. Sie ist ebenso notwendig angewiesen auf bürokratische Organisationsformen zur Realisierung kollektiver Ziele, ein allgemeingültiges kollektives Rechtssystem und die demokratische Assoziation mit gewählter Führung, (die die zentralisierte politische Macht zugunsten wirtschaftlicher und sozialer Ziele ausbalancieren kann) 12 . Es ist notwendig, sich die Geschehensdramatik, den Konflikt um Existenzbedingungen und Positionsverschiebungen, generationenlange Ängste und Hoffnungen klarzumachen, die sich mit jedem Einzelschritt verbanden, der in den betroffenen Sozialsektoren »strukturelle Differenzierung« bedeutete.

Geschichte von unten Entwicklungsdarstellungen lassen geschichtliche Situationen scheinbar zwangsläufig auseinander hervorgehen. Einzelschicksale sind Zwangslagen gegenübergestellt, die die Betroffenen nicht abändern können und die sie auch nicht anders deuten können, als ihr standortgebundenes Wissen und Denken dies zulassen. Ist eine sozialgeschichtliche Betrachtung deshalb nicht einem unsinnigen Determinismus ausgeliefert, wenn sie die schwer abänderlichen Lebensumstände und Arbeitssituationen namenloser Menschen untersucht? Welchen Erkenntnisgewinn kann der Blick in die Wohnung des Arbeiters oder Handwerkers bringen? Vorweg: die »Richtung« des Industrialisierungsprozesses braucht nicht falsch verstanden zu werden, etwa als eine metaphysische Eigengesetzlichkeit (wie ihn die traditionelle Konflikttheorie lehrt) 13 . Die Überlegenheit der industriellen Produktion und rationelleren Arbeitsaufteilung, die gesteigerte Effizienz bei letzlicher Entlastung des menschlichen Arbeitseinsatzes: sie verdrängen traditionelle Herstellungsweisen, nicht anders, wie die Kohle das Holz ersetzt hat, oder wie sich Wassermühlen gegenüber Tretmühlen und der Buchdruck gegenüber der Schreibarbeit durchgesetzt haben. Das geschichtliche Interesse gilt den aufregenden, erschreckenden wie erstaunlichen, Bedingungen früheren Lebens. In der Frage nach der Entstehung der heutigen 19

Welt erfährt man die verschiedenen Ausgangsbedingungen und lernt Kurzlebigkeit oder Dauer des heute Gültigen besser abzuschätzen. Letztlich gilt alles Fragen jedoch den handelnden Menschen. Die Situationskenntnis ist immer nur das Mittel, nicht der Zweck Geschichtliche Prozesse — und das heißt: von vielen Einzelentscheidungen herbeigeführte Veränderungen — sind nicht als isolierte Taten oder Entscheidungen im Sinne von »Männer machen Geschichte« darstellbar. Sondern sie sind in insgesamt nicht mehr auflösbarer Weise Produkte vieler und höchst ungleichartiger Einwirkungen. Trotz solcher Ernüchterung über die Tragweite von Handlungen führt die Geschichte der Industrialisierung und die ihr zugehörige Geschichte gesellschaftlich-politischer Reformen und Neuorientierungen zu einer langfristigen Anerkennung sehr vieler menschlicher Leistungen: nicht nur in Technik und Politik, in Wirtschaft und Sozialfürsorge, auch im immer wieder neu zu bewältigenden Alltag der Familie und der Berufswelt. Solche »Geschichte von unten« hat nichts zu tun mit dem Auftrag an Geschichtslehrer, ihren Schülern »die Rolle der Volksmassen als wahre Gestalter der Geschichte ständig neu vor Augen zu führen« 14 . Die geschichtlichen Einzelforschungen zum Leben der Unterschicht wären reichlich unergiebig, wenn sie nur die Fallbeispiele für einen unreflektierten Vollstreckungselan (»denke nicht, frage mich nicht.. .«) 15 liefern sollten. Aber bei Unterstellung einer individuellen Verantwortung des Einzelnen und der Annahme einer »offenen« Geschichte sind sie höchst wesentlich. Deshalb ist ein besonderes Interesse auf die historische Situation gerichtet, wie sie sich aus der Perspektive der Handelnden darstellte. »Geschichte von unten« rekonstruiert am dichtesten den Alltag als Fundament der historischen Wirklichkeit. Welches Selbstverständnis, welche Wirkungsmöglichkeiten sprachen sich die jeweiligen Handelnden zu? Was hielten die Menschen von 1850 für unabänderlich? Liest man die von Jutta Seitz zusammengestellten Äußerungen der Zeitgenossen zum Armutsproblem, dann drängt sich auf, daß das Zutrauen in gezielte Abhilfemaßnahmen gering ist. Daß der Mensch »seine Geschichte machen« kann, war eine Überzeugung aufklärerischer Philosophen; im Denken einfacher Menschen hatte solcher Optimismus weder gleichzeitig noch Generationen danach Wurzeln geschlagen. Die Alltagsgeschichte führt an konkrete Lebensumstände und Bedeutungen heran. Welchen Spielraum etwa für kulturelle Interessen, wieviel Zeit und Konzentrationsfähigkeit zu aufmerksamer Lektüre eine durchschnittliche Frau aus dem Volke haben konnte, lehrt die Befassung allein mit den Wasch-, Spül-, Mangel- und Bügelvorgängen: allein die endlosen Stunden, in denen das viele Kilo schwere Bügeleisen im 5-Minuten-Rhythmus von der Herdplatte zum Bügelbrett und zurückbewegt werden mußte. Die Geschichte der Industrialisierung beschreibt einen Zeitraum höchster Opfer und Leistungen aller sozialen Schichten. In einer vorher nicht dagewesenen Weise sind Arbeiter und Angestellte, Bauern und Handwerker mitbeteiligt worden an der Umgestaltung der gesamten Lebens Wirklichkeit: sie trugen die schwerste Last.

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Anmerkungen 1

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Vgl. die komplexe Betrachtung sozialer Zusammenhänge in: Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution, London 1959. Josef Ehmer, Die industrielle Arbeiterschaft, in: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs (Ausstellungskatalog), Wien 1984, S. 145. Walt W. Rostow, Die Phase des Take-off, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, Hanstein 1979, S. 291. David S. Landes, Der entfesselte Prometheus, München 1983. Eric J. Hobsbawm, Industrie und Empire , I. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750, Frankfurt/M., 1982. F. Krantz, P. M. Hohenberg (Hgg.), Failed Transitions to Modem Industrial Society: Renaissance Italy and 17,h Century Holland, Montreal 1974. Sinngemäß ist dies die Zusammenstellung bei A. P. Usher, An Introduction to the Industrial History of England, London 1921, zitiert nach Smelser, S. 61. Smelser (siehe Anm. 1). Vgl. Wolfram Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 242 ff.

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Wolfram Fischer, Armut in der Geschichte, Göttingen 1982, S. 8, 56 ff. Talcott Parsons, Das Problem des Strukturwandels: Eine theoretische Skizze, in: Zapf S. 35-54. Talcott Parsons, Evolutionäre Universalien der Gesellschaft, in: Zapf S. 55-74. Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt 1962; Karl Hermann Tjaden definiert die menschliche Tätigkeit als »vergesellschaftete Verausgabung von Kräften und Aneignung von Stoffen, worin Subjekt und Objekt der Aktivität in Produktion und Reproduktion miteinander vermittelt sind und worin sich ein System gesellschaftlicher Verhältnisse, Menschen und Sachen übergreifend stets aufs neue verwirklicht« (aus: Soziales System und sozialer Wandel, Stuttgart 1972, S. 285). Fred M. Hechinger, Education: Triumphs and Doubts, in: Harrison Salisbury (Hg.), The Soviet Union: The Fifty Years, New York 1968. Karl Marx, Nationalökonomie und Philosophie, Berlin 1950, S. 197.

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Karl Bosl

Die »geminderte« Industrialisierung in Bayern

Man hört oft sagen, daß die Uhren in Bayern langsamer schlügen als anderswo. Das ist nur zum Teil richtig, wenn man die moderne Entwicklung des Landes seit dem 18./19. Jahrhundert im Auge hat. Tatsächlich haben Modernisierung, Technisierung, Industrialisierung in diesem bis 1918 und 1945 weithin agrarisch gebliebenem Lande vor allem an den großen Brennpunkten seines wirtschaftlichen, Urbanen und kulturellen Lebens genau so wie anderswo in Deutschland auch stattgefunden. Im ganzen gesehen verlief die Entwicklung auch nach 1870/1 (Gründerzeit) aber nicht so stürmisch, waren ihre Intensität, Expansion, Dynamik, ihre Dimension wesentlich schwächer und verwandelten das Land und seine wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, staatlichen Strukturen nicht revolutionär und sprunghaft. Schuld daran war in erster Linie die Revierferne Bayerns (Fehlen grundlegender Bodenschätze) und auch die Binnenlage, die es von den großen Märkten abschnitt und für sein Hauptprodukt, das Getreide, keine größeren Absatzmöglichkeiten und Ausfuhrhäfen schuf. Man kann auch nicht übersehen, daß der innere organische Aufbau des modernen Staatsbayern mit seinen neuen Regionen doch alle Energien und Kräfte in Anspruch nahm, die die Zentralregierung in München, das nun erst zu einer großen Stadt und einem Brennpunkt des größten deutschen Mittelstaates wurde, an sich zog. Das politische Klima und die Führungsschichten blieben aristokratisch feudal, wie erst jüngst Arno J . Mayer zurecht gezeigt hat; das Bürgertum hat niemals die politische Führung in seine Hände gebracht; der König Ludwig I. hatte aus Furcht vor dem K o m munismus (Julirevolution 1830) keine Freude an Industrie und Eisenbahnbau, sondern baute lieber am Ludwig-Donau-Mainkanal, in den das bürgerliche Handelskapital nicht investieren wollte. D i e wirtschaftlichen Kräfte des Landes konnten sich nicht entfalten, wurden nicht gefördert, die sozialen Probleme waren 1 8 4 8 kaum gelöst; der erste Weltkrieg wurde zugleich ein Überlebenskampf um das Weiterleben einer aristokratischen Gesellschaftsordnung oder um den Sieg der vollen Mitsprache und Teilhabe von Bürger, Bauern, Arbeitern, Proletariern (Demokratie, Parlamentarismus) am Staat. D i e Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg können als »Europas zweiter Dreißigjähriger Krieg« angesehen werden, der das Ende der alten Ordnung erst herbeigeführt hat (Mayer). Der amerikanische Historiker Gordon A. Craig sieht als Hauptkennzeichen der deutschen (und bayerischen) Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die Furcht vor der Modernität, die feindliche Einstellung zur (Groß-)Stadt ( = Hauptschauplatz von Technik, Industrialisierung, Handel, Verkehr, Kommunikation), eine Idealisierung des Landlebens (Romantik), Angst vor Ansteckung durch ausländische Ideen; die Nationalsozialisten warfen der Weimarer Republik moralische Unredlichkeit und kulturelle Degeneration vor. Craig stellt weiter fest, daß Gehorsam zu lange Triebfe22

der deutschen (bayerischen) Politik und Geschichte war und Autorität wie Bürokratie das politische und persönliche Leben beherrschten, daß ein in »Heimatstadtkultur« zutiefst verankerter »Provinzialismus« Lebensform und Kultur prägte, daß König Ludwigs I. »Teutschheit« provinzieller Patriotismus war, daß institutionelle Exzentrität und enge soziale Integrität den Horizont verengten und die Freizügigkeit behinderten, daß die»Kleinstadt« der Hort solcher Attitüde und Mentalität war, Deutschland eine Welt der kleinen Gemeinwesen war und vor allem die immer totgeschwiegene oder abgeurteilte Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert geringe Erfolge in Deutschland und vor allem in Bayern hatte. Ich stimme diesem Urteil, demzufolge politische Unfähigkeit und demokratisches Scheitern die moderne deutsche Geschichte kennzeichnen, nicht in allem zu; aber ich finde viele Gründe für die »geminderte« Industrialisierung doch in dieser deutschen Analyse eines Amerikaners, der ein großer Kenner der deutschen Geschichte ist und liebevolles Verständnis für die Deutschen aufbringt. Die eben besprochenen Urteile über Deutschland sind aus ozeanischer Distanz und nach den Kriterien des frühesten (England) und denen des mächtigsten Industriestaates (USA) der Welt und ihrer post- oder afeudalen gesellschaftlich-politischen Situation gefällt und so auch zu verstehen. »Industrialisierung« ist kein fester Begriff, sondern meint eine Revolution und eine Evolution mit verschiedenen Phasen und Graden. Der sooft gebrauchte Begriff »Industrielle Revolution« paßt für Deutschland wenig, für Bayern überhaupt nicht, umsoweniger als die gesellschaftspolitischen Zustände vor 1918 sich nicht einmal kaum der langsamen Evolution angepaßt haben. Wir unterscheiden eine Vollform, Halbform, Kümmerform der Industrialisierung; unser Thema »Geminderte Industrialisierung« meint Halbformen für die städtischen Industriezentren und ihre Umgebung, Kümmerformen für das weite Land Bayern. Trotz vielfacher Abneigung der Historiker gegen diesen Begriff würde in ideologiefreier Sicht das Wort »Prozeß« (- procedere = fortschreiten = Fortschritt) am besten passen. Nach Knut Borchardt ist »Industrialisierung« im ganzen gekennzeichnet (1) durch einen Komplex technischer Neuerungen, die die Arbeitskraft und Energie von Mensch und Tier ersetzen, (2) durch massenhafte Nutzung bisher wenig genutzter natürlicher Rohstoffe (vor allem Eisen, Kohle), (3) durch die siegreiche Expansion des Fabriksystems als arbeitsteilige gewerbliche Produktion, (4) durch den Sieg der freien Lohnarbeit als Erwerbsform der Mehrheit der Bevölkerung, (5) durch den Aufstieg des Kapitals zum strategischen Produktionsfaktor, die Verwandlung des Handels-, zum Industriekapital, durch die Verdrängung des Grundbesitzes durch das Kapital in den Führungspositionen der Gesellschaft. Das alles trifft in Bayern zu, aber in »geminderter« Dynamik und wenig entwickelten Formen, auch nur in den Zentren von Wirtschaft, Finanz, Kapital, Bevölkerungswachstum wie vor allem Nürnberg, Augburg, München auch Schweinfurt, Würzburg, Hof. Die erste Phase der industriellen Revolution fällt in England, dem führenden Land, in das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts, dort hatte schon vorher in der Textilproduktion und Eisenverarbeitung eine politische, wirtschaftliche, soziale Evolution stattgefunden; schon vor dem Eisenbahnbau hatte ein längerer Industriealisie23

rungsprozeß den Boden bereitet. Für die ersten englischen Eisenbahnen galt als Prinzip der Bedarf an Verkehrsleistung, aber der Einfluß des Eisenbahnbaus auf die Industrialisierung war weder unmittelbar noch groß, wie etwa in Bayern. Die erste dampfbetriebene Eisenbahn der Welt war die 1825 eröffnete Linie Stockton-Darlington; das Eisenbahnzeitalter wurde 1830 durch die Linie Manchester-Liverpool eingeleitet. In Deutschland und Bayern fehlten noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Grundvoraussetzungen einer Industrialisierung; auf dem Lande herrschten noch die feudalen Produktionsverhältnisse, eben wurde erst durch Montgelas — gleichzeitig mit Preußen und Stein- die Leibeigenschaft aufgehoben, der Boden war bis 1848 noch gebunden, auf dem Lande herrschte noch patrimoniale Herrschaft und bis 1848 und in die 60er Jahre waren Menschen, Bauern und Arbeiter noch an Ort und Gewerbe gebunden; in den Städten herrschte noch die mittelalterliche Gewerbeverfassung und überwog das Kleingewerbe und Handwerk (ohne besondere Spezialisierung); die nationale und staatliche Zersplitterung ließ keinen Trend zu »Massenbildung« und auch kein »Massenbewußtsein« aufkommen, ohne die es weder den Nationalstaat noch die Industrialisierung (Bedarf, freie Beweglichkeit der arbeitenden Menschen) gibt. Am Anfang des Industrialisierungsprozesses steht deshalb in Deutschland, vor allem in Bayern, der Eisenbahnbau, er eröffnete das moderne Wirtschaftswachstum. So wie der deutsche Zollverein, dem Bayern beitrat, die Bildung eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes vorbereitete, schuf er auch die Voraussetzungen für die Einführung großbetrieblicher kapitalintensiver, technisch fortgeschrittener Produktionsverfahren. Auch in Bayern fiel zeitlich mit Zollverein und technischen Produktionsverfahren die Kapitalanhäufung und die Umwandlung von Industrie- in Handelskapital, die Ausbildung des Bankwesens (1835 Gründung der Bayerischen Hypothek- und Wechselbank-Vereinsbank in München) zusammen. Sprunghaft wuchsen die Zahlen des Proletariats, das nach W. Conze aus dem Lumpenproletariat herauswuchs und sich mit der vom Lande in die Stadt ziehenden Uberschußbevölkerung verband. Industrialisierung ist ohne Unternehmerpersönlichkeit und später Manager ebenso wenig zu denken wie ohne arbeitenden Menschen und dessen (Klassen-) Bewußtsein. Eisenbahn und Dampfschiffahrt machten den schnellen und billigen Massentransport über weite Strecken möglich und schufen die Verbundwirtschaft von Kohle und Eisen im 19. Jahrhundert. Eisenbahnbau war die beste Investitionsanlage für das Kapital, war der wichtigste Markt für die Schwerindustrieprodukte; die Nachfrage nach Lokomotiven, Wagen, Schienen lockte zu Kapitalanlage in der Schwerindustrie. Dabei hatte England zunächst das Monopol in der Eisen- und Maschinenbauindustrie beim Bau der ersten deutschen Eisenbahnen (1835—1840) (Fürth - Nürnberg, Augsburg — München). Der Eisenbahnbau zwang die deutsche Eisen- und Maschinenbauindustrie zur Anpassung an die englische, zur Ersetzung der englischen Technologie und der Ablösung der englischen Lehrmeister und Lehrer. Rostow datierte die wirtschaftliche Aufstiegsperiode (take off) in die Mitte des 19. Jahrhunderts und dürfte damit weithin recht behalten. In Bayern hielt sich der Staat zunächst fern und überließ den Eisenbahnbau privaten Aktiengesellschaften und privaten Unternehmern und Investitionen. Dadurch 24

wurde auch die neue Investitions- und Kapitalbetriebsform der AG mächtig gefördert; denn der Einzelunternehmer hätte die Risiken des Bahnbaus nicht tragen können. Damit ist auch der moderne Industriekapitalismus Vater, Bruder und Sohn von Eisenbahnbau und Industrialisierung geworden; die Aktiengesellschaften zentralisierten die Geldfonds und machten Geld zur Macht, später Großmacht in Bayern und Deutschland; der Start dazu war der Eisenbahnbau. Während im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts überwiegend an den deutschen Börsen Staatspapiere gehandelt wurden, eroberten sie nun die Aktiengesellschaften, deren Spekulationen 1836/7 sich auf die Eisenbahnen warfen und ihre Interessen seither bis 1870 daran bewahrten. Nur 8% der Gründungskapitalien betrafen zwischen 1851 und 1870 nicht die Schwerindustrie. Darum wurde auch der Bau des Ludwig-Donau-Mainkanals, Lieblingsidee König Ludwigs I., nicht voll entwickelt, weil sich die Geldleute dafür nicht interessierten, ihn nicht als gute Geldanlage mit guter Rendite betrachteten, sondern alles in die Aktiengesellschaften und in den Eisenbahnbau investierten. Industrialisierung revolutionierte auch in Bayern die Produktionsverhältnisse, in den großen Zentren wie Augsburg, Nürnberg, München löste die Fabrik die Manufaktur ab; auch und gerade in Bayern und München setzten sich technische Neuerungen und neue Produktionsverfahren durch (Schnellpresse in Würzburg, Chemie in Schweinfurt). Entscheidender, wenn auch langsamer fortschreitend wurde der Wandel von Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen, der Wandel der Besitzverhältnisse, der Mentalität und der Wertordnungen. Man kann die Wirkungen der noch viel zu wenig untersuchten bürgerlichen Revolution von 1848 nicht übersehen. Industrialisierung in Bayern verband sich mit dem langsamen Ubergang vom feudalpatriarchalisch-absolutistisch-konstitutionellen Agrarstaat zum bürgerlich-liberal-demokratischen Industriestaat, der sich erst nach 1945 richtig durchsetzte: Das erste Fanal setzten politisch seit 1890 der Auftritt der sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf Parlamentsebene in Bayern (Grillenberger), der Sieg des linken Flügels im Bayerischen Zentrum (Heim), das Aufkommen des radikalen Bauernbundes, die Linksschwenkung des Liberalismus (Müller- Meiningen sen.). Man würde irren, wenn man meinte, daß die Kapitalinvestitionen und die Eisenbahnbau-Aktiengesellschaften in ihren Entschlüssen und Aktivitäten völlig frei gewesen seien; sie unterlagen der Konzession und der staatlichen Zustimmung. Der Staat gab ihnen das Recht den benötigten Grund zwangsweise zu erwerben (Expropriation), die Gesellschaften mußten die Post entschädigen, der Bauplan bedurfte der staatlichen Genehmigung. Eisenbahnbau war somit eine Frage staatlicher Wirtschaftspolitik, die militärisch-strategische Fragen miteinschloß. Dazu überlegte man in allen deutschen Ländern, ob der Staat nicht selber die Eisenbahnen bauen sollte. Staatsbahnen gab es von Anfang an in Baden, Württemberg, Braunschweig, Hannover, Oldenburg. Freilich konnte der Staat nur über Staatsanleihen diese Unternehmen finanzieren; dazu aber mußte das Einverständnis der Volksvertretung herbeigeführt werden, in Bayern der Kammer der Reichsräte und der Abgeordneten, die bis 1848 bzw. 1918 ständisch strukturiert waren. Diese Abhängigkeit von den Landtagen wollte jeder Staat umgehen. Auch die »geminderte« Industrialisierung hatte starke politische Seiten im Zeitalter des Ubergangs vom Merkantilismus zur liberal25

bürgerlichen Wirtschaftspolitik. Diese Zusammenhänge sind in Bayern noch wenig untersucht. Im Eisenbahnbau und der Industrialisierung entluden sich der wesentliche Konflikt bürgerlich-hochkapitalistischer Gemeinschaften sowie die Spannungen zwischen monarchisch-bürokratischem Staatsapparat und erstarktem Wirtschaftsbürgertum. Die Begründer und Direktoren der Eisenbahn-AGs waren erfolgreiche Großhändler, Bankiers, Industrieunternehmer-Fabrikherren und wie der Entdecker des »Schweinfurter Grüns« Sattler auch in der Politik tätig. Sie waren die ersten »Vielfach- oder Allround-Unternehmer« der bayerisch-deutschen Industriegeschichte, die in Utzschneider, Reichenbach, Steinheil (alle in München) bedeutende Vorgänger hatten. Ihr Interesse war die höchstmögliche Rentabilität des Unternehmens. Der Staat suchte aber nicht nur beim privaten Eisenbahnbau das Profitstreben in Grenzen zu halten und den »Gemeinnutz« vor allem der Eisenbahn zu wahren. Die Industrie- und Aktiengesellschaftsarchive verraten uns die Motive und das Selbstverständnis dieser Unternehmer. Die Industrialisierung wurde eingeleitet und weiterentwickelt durch einen wichtigen Innovationsprozeß, durch die Anwendung und praktische Durchführung von Forschung und Erfindungen. Gerade in Bayern läßt sich das (unten) eindrucksvoll zeigen. Für die Eisenbahn, Lokomotivenbau, Schnellpresse spielten »Innovationstransfer« und Übernahme technologischer Neuerungen, aus England vor allem, eine wichtige Rolle (König und Bauer in Würzburg, Maffei in München). Der Staat hatte Auslandsreisen finanziert und den Aufbau des polytechnischen Schulwesens in Gang gebracht (1868 Gründung der Technischen Hochschule in München). Staat, Unternehmer, Ingenieur arbeiten hier zusammen. Die sozialen Wirkungen des Eisenbahnbaus haben wesentlich dazu beigetragen die agrarische Überschußbevölkerung (teilweise) in außerlandwirtschaftliche Lohnarbeiter umzuwandeln und die Industrialisierung setzte dann diesen Prozeß bei Handwerkern, Gesellen und Meistern fort, ohne die soziale und wirtschaftliche N o t des m o dernen Proletariats abzubauen. Der deutsche Nationalstaat Bismarcks griff hart mit seinen Sozialistengesetzen in diese zur politischen Entscheidung drängende und sich organisierende, revolutionierende N o t des Prolataritats und radikalen Arbeitertums ein, das sich erst nach 1890 auf einen realistischen Ausgleich einließ (Georg von Volmar, Erhard Auer). Es war schon die Rede davon, daß wissenschaftliche und technische Neuerungen den Industrialisierungsprozeß einleiten und weiterentwickeln. Bayern bietet ein schönes Beispiel dafür, allerdings mehr für die Einleitung dieser Entwicklung, denn dieser sich allmählich modernisierende Staat erlebte in der Zeit, da Erfahrungs- und Einzelwissenschaften, exakte Forschung und Realismus sich durchsetzten und der moderne Industriestaat schon aufdämmerte, nochmals eine Spätblüte der Romantik und Naturphilosophie: In diesem am Anfang des 19. Jahrhunderts noch fast reinem Agrargebiet herrschte seit 1848 die rechtlich gesicherte mittel- und kleinbäuerliche Betriebsform vor, die erst nach 1950 sich zwangsweise unter dem Druck der E G Agrarwirtschaft und der nun erst auf dem Lande sich durchsetzenden Industrialisierung sich rapide auflöste. Aber der Siegeszug der neuen Verkehrsmittel hatte schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Krise ausgelöst, da im Handel über weite 26

Entfernungen das bayerische Getreide (und auch Vieh) nicht mehr konkurrenzfähig war. Umgekehrt war jedoch Bayern seit dem Anschluß an den Zollverein ein gutes Absatzgebiet für außerbayerische Fertigwaren geworden, ohne daß man ihm sein Getreide abnahm! Auch das trug zur »geminderten« Industrialisierung bei und ist symptomatisch. Aber Bayern hatte trotzdem Bahnbrecher in Naturwissenschaft und Technik hervorgebracht, die man nicht verschweigen darf. U m die Wende vom 18./19. Jahrhundert waren Utzschneider der Frühtyp des einfallsreichen Wirtschaftsorganisators, Reichenbach der große Konstrukteur, Fraunhofer der geniale Forscher. Dieses Dreigestirn hat Englands Vorherrschaft im Bau optischer und astronomischer Instrumente gebrochen und Münchens führende Stellung in der Feinmechanik im 19. Jahrhundert begründet. Der Erfinder Steinheil sicherte diesen Münchener Erzeugnissen endgültig den Weltmarkt. Der arme Glaserlehrling Fraunhofer aus Straubing wurde der Begründer der wissenschaftlichen Optik und mit dem Physiker Gauß zusammen der Wegbereiter und Vater des wissenschaftlich-technischen Geistes in Deutschland. Isarathen war im 19. Jahrhundert ebenso eine deutsche Wiege wissenschaftlich-technischen Geistes wie Nürnberg und Florenz durch Dürer und Leonardo da Vinci eine Wiege der europäischen Technik aus dem Geiste der abendländischen Völker (Schnabel) gewesen und durch die harmonische Vereinigung von handwerklichem Können, organisatorischer Begabung, wissenschaftlichem Erkenntnisdrang und praxisbezogener Gelehrsamkeit sowie künstlerischer Genialität und bürgerlichen Geistes geworden waren. Auch im sich modernisierenden München verbanden sich Erfindergeist, Fantasie, handwerkliches Können, Organisationstalent und Bürgergeist zu einem großartigen Start deutscher Technik und moderner Industriekultur. Der fränkische Schauspielersohn Senefelder erfand den Steindruck, auf dem die weltberühmte graphische Kunst der Hauptstadt (Hanfstaengl) aufbaute. Der Münchener Gelehrte Soemmering hat Anteil an der Entwicklung des Telegrafen und der Erlanger Schlossersohn O h m , einer der ersten Physiker seiner Zeit, löste das Problem des Durchgangs des elektrischen Stroms durch den Körper. D e m in Frankreich ausgebildeten Wolliner Wiebeking, den Montgelas 1805 berief, verdankte Bayern ein einheitliches Straßennetz. Aber trotz seiner großen geistig-innovativen Voraussetzungen hielt Bayern im Eisenbahnbau seit 1 8 3 5 mit dem technischen Fortschritt anderer deutscher Länder in der ersten Jahrhunderthälfte nicht stand. Es fehlte nicht das Kapital, aber ein Anreiz zur Investition, es fehlten nicht die Arbeitskräfte, aber eine fortschrittliche S o zial- und Wirtschaftsordnung, es fehlte vor allem die Kohle als Energiequelle, wie sich 1 9 0 8 bei der Elektrifizierung des Landes bitter bemerkbar machte. Dennoch bauten einige mutige Pioniere der Anfänge eine Industrie im Lande auf. König und Bauer errichteten die noch heute blühende Schnellpressenfabrik in Oberzell bei Würzburg mit englischen Erfahrungen und englischen Vorbildern — Stiglmaier und Ferdinand von Miller brachten in München den Erzguß zu hoher Blüte. Hier setzte sich auch der große Werkzeugmaschinenspezialist Mannhardt durch und seit den vierziger Jahren baute Dingler im pfälzischen Zweibrücken Dampfmaschinen. Klett und Cramer begründeten die Maschinenbau- Aktiengesellschaft Nürnberg; die M a schinenfabrik Augsburg deckte den Bedarf der blühenden süddeutschen Textilindu27

strie. 1838 begann der vielseitige Maffei sein großes Unternehmen in München, das seit 1866 mit der Firma Kraus im Lokomotivenbau konkurrierte, heute als große bundesdeutsche Waffenschmiede (Panzer) fungiert. Augsburg, Hauptsitz der mechanischen Baumwollspinnerei und Weberei von Schaezler, wurde mit Kaufbeuren, Immenstadt und Kempten Stätte des schwäbischen Textilgroßgewerbes. In Augsburg, Nürnberg und Schweinfurt wuchs eine chemische Industrie heran, seitdem der große Agrikulturchemiker Justus von Liebig (gest. 1873) 1852 nach München zog und seitdem Anilin als Grundstoff für Farbgewinnung bekannt wurde. Das Entgegenkommen der bayerischen Regierung zog die Badische Anilin- und Sodafabrik vom alten kurpfälzischen Mannheim auf das jenseitige Rheinufer nach Ludwigshafen in der Pfalz; dort entwickelte Carl Bosch im ersten Weltkrieg die von Fritz Haber in Karlsruhe erfundene Gewinnung von Salpetersäure aus der Luft weiter. Der Mediziner Pettenkofer begründete in München die chemische Technik und am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Arno Sommerfeld vor Heisenberg einen bedeutenden Anteil an der Entfaltung der Atomphysik neben Wien. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebte auch die bayerische Porzellanherstellung ihren großen Aufschwung. Die Nürnberger Bleistiftfabriken von Faber und Schwan eroberten mit ihren Erzeugnissen den Weltmarkt. Das Brauwesen, ein charakteristischer Industriezweig Bayerns - wenn auch das Land bis zum 17. Jahrhundert Wein- und nicht Bierland war - , verehrte in Gabriel Sedlmayr, dem Inhaber der Spatenbrauerei, einen ihrer großen technischen Pioniere. Neben den Münchener Spaten—, Paulaner-, T h o m a s - , Hacker—, Löwen- und Pschorrbräubieren erlangten die Kulmbacher- und Nürnberger Biere Weltruf (Holledauer—, Spalter Hopfen); mit dem Bierexport hat Franken begonnen. König Ludwig I. hatte wenig Verständnis für die Industrialisierung des Landes, desto mehr für Hebung und Belebung des Verkehrs. 1846 wurde der Ludwig-Donau-Kanal eröffnet, aber Privatinitiative hat den Eisenbahnbau begonnen, nachdem Friedrich List den Plan eines rationalen Eisenbahnnetzes für Mitteleuropa ausgearbeitet hatte. 1835 rollte, dank der Initiative des Nürnberger Kaufmanns Scharrer, der erste deutsche Zug mit einer englischen Lokomotive und einigen Bierfässern als Fracht auf dem Schienenweg zwischen Nürnberg und Fürth und bald folgte als zweites Modell die Eisenbahn zwischen Augsburg und München. Der Hofbaumeister Klenze wurde mit der Bauleitung des sich rasch entwickelnden Eisenbahnnetzes beauftragt und Carl von Abel setzte in der Kammer das Staatsbahnprinzip durch, lange bevor die deutschen Großstaaten es einführten. 1868 wurde die Technische Hochschule in München eröffnet. Doch auch wachsender Geldumlauf und steigende Kapitalbildung haben die Technisierung und Industrialisierung des Landes nicht wesentlich beschleunigt. Die Bayerische Hypotheken und Wechselbank war 1835 zur Deckung des landwirtschaft-gewerblichen Geldbedarfs gegründet worden und fungierte in München als bayerische Nationalbank unter staatlicher Aufsicht, bis sie 1850 durch den aus Ansbach stammenden Hofbanquo, der über Nürnberg einwanderte, aus ihrer führenden Stellung verdrängt wurde. Franken hat den wirtschaftlichindustriellen und sozialen Strukturwandel des 19. Jahrhunderts stärker als das altbayerische Bauernland verspürt, da seine Wirtschaft durch Säkularisation und 28

Mediatisierung härter betroffen war und mit der Eingliederung der alten Reichsstädte und der Auflösung der alten Residenzen reiche Quellen des Wohlstandes für das Bürgertum versiegten. Nürnberg hat zwar keine tiefe Depression im 18. Jahrhundert erlebt, wie man bisher annahm. Die aufkommende Industrie drückte aber das gewerbetreibende Stadtbürgertum Frankens an die Wand, Kanal und Eisenbahn gefährdeten die Existenz der Mainschiffer und Fernfuhrleute (Frammersbach). Diese Notlage trieb in den vierziger Jahren fast aus jedem fränkischen Dorf Menschen zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Während die bayerischen Pfälzer bereits unter französischer Herrschaft den Boden zu vollem Eigentum erhalten hatten, wurde in Altbayern, Franken und Schwaben die Bauernbefreiung stufenweise durchgeführt; der Landwirt wurde erst 1848 gegen eine Rentenablösung voller Eigentümer des bebauten Grundes. Man darf sagen, daß seit den vierziger Jahren die Arbeiterschaft als soziale Klasse in die bayerische Gesellschaft eintrat, als Partei 1870—1890. Sie erfuhr es, daß nur im politisch-gewerkschaftlichen Zusammenschluß ein Weg zum Aufstieg und zur Teilhabe am politischen Geschehen offen stand. In den Industriestädten Augsburg, München und Nürnberg zuerst, aber dann auch in kleineren Städten entstanden aus eigener Initiative oder auf Anregung der Unternehmer Arbeiter(-bildungs-)Vereine. Vor der Ausbildung einer selbständigen Arbeiterbewegung schlossen sich die bayerischen Arbeiter dem Linksliberalismus an. Schon 1847 hatte der Münchener Erzbischof Kardinal Graf Reisach ausgesprochen, daß der größte Teil der Arbeiter der Kirche verloren sei. Neben dem Adel Bayerns setzte sich das liberale Großbürgertum politisch kaum durch; wenn seine Mitglieder aufsteigen wollten, mußten sie sich um Nobilitierung bemühen. Diese wirtschaftlich-kulturelle Oberschicht repräsentierten Namen wie Maffei, Klett, Cramer. Idealtyp eines politisch engagierten liberalen Unternehmers war der schon genannte Wilhelm Sattler in Schweinfurt, Industrieller Großkaufmann, Mann des öffentlichen Lebens in Gemeinde und Landtag in einem, der an die nationale Sendung des liberalen Bürgertums glaubte. Der führende Experte des bayerischen Staates im Eisenbahnbau war Joseph von Baader (1763 - 1835), der ältere Bruder des größten genuin bayerischen Philosophen Franz von Baader. Joseph hatte sich in England als Zivilingenieur und als Direktor des staatlichen Bergbau- und Maschinenwesens seit 1798 theoretische und praktische Kenntnisse im Maschinen—, Bergbau- und Hüttenwesen angeeignet; so hatten es auch der Industriemanager Reichenbach, Leo von Klenze, der Architekt und Vorstand der Obersten Baubehörde, auch Friedrich Pauli, der Vorstand der königlichen Eisenbahnkommission getan. Auch der Erfinder der Schnellpresse Friedrich König und sein Geschäftsführer Karl Bauer, die 1817 in Oberzell die erste Druckmaschinenfabrik der Welt gründeten, haben sich in England informiert. Auch Gabriel Sedlmayr, der Inhaber der Münchener Spatenbrauerei und Pionier der modernen bayerischen Brauindustrie, war auf den Britischen Inseln. Baader, der große Publizist des Eisenbahngedankens in Bayern, verschied wenige Tage vor der Eröffnung der Linie Nürnberg — Fürth. Er steht ebenbürtig neben List, Herkort, Gerstner, C. A. Henschel, den anderen deutschen Propagandisten. Und sein philosophischer Bruder hat die erste deutsche Sozialschrift über den »Proletär« geschrieben. 29

O b sie alle freie oder beamtete Unternehmer waren, der gesellschaftlichmenschliche Hintergrund ihrer technisch-industriellen Initiativen war das Bürgertum, das Handel und Gewerbe trieb und die Aktien kaufte. Repräsentanten dieser Schicht waren der Nürnberger Hopfenhändler und Direktor der Polytechnischen Schule Johannes Scharrer oder der Nürnberger Handelsvorstand und Abgeordneter der Ständekammer Georg Zacharias Platner, der einen Großhandel mit Indigo betrieb und zeitweilig Eigentümer der Tabakfabrik Lotzbeck war. Unter den Subskribenten der Nürnberger — Fürther Eisenbahn A G waren Kauf- und Geschäftsleute in der Überzahl. Gegen Eisenbahnbau und Industrialisierung waren alle, die bisher vom Verkehr auf der Landstraße lebten und um ihre Existenz bangten: Gastwirte, Sattler, Schmiede, Fuhrunternehmer. Und weite Teile witterten Gefahren für die Umwelt, sie fürchteten, daß der Rauch der Lokomotiven die Kartoffelfelder verdürbe; deshalb wurden die Eisenbahnen manchmal auch garnicht an Städten direkt vorbeigeführt. Die größeren Eisenbahnbauprojekte und Industrieunternehmen waren nicht mehr die Sache der lokalen Handelsstände, sondern der großen Bankiers und unterlagen der Konkurrenz. Da ist als erster Bewerber der Hofbankier Simon von Eichthal zu nennen, der eine Konzession für den Eisenbahnbau Augsburg — Nürnberg und München — Salzburg wollte. Dabei traten die Würzburger Hofbankiers J o s e f u n d Joel Hirsch in Konkurrenz, die seit 1821 eine Filiale in München hatten. Dazu stießen die Münchener Bankiers Gebrüder Marx. Es wird nochmals festgestellt, daß nicht Kapitalmangel die Industrialisierung Bayerns und Deutschland verzögert hat, sondern die Bereitschaft der Menschen, in der Industrie zu investieren. Das aber war eine Frage der Mentalität und Bildung, der Erfahrung und Praxis, wie sie zuerst in alten Reichsstädten Nürnberg, Augsburg, Schweinfurt und dann in Haupt- und Residenzstädten wie München, Würzburg, Bamberg entwickelt waren. Die Augsburg - Nürnberger Eisenbahn AG mußte 1841 ihre Konzession deshalb zurückgeben, weil die Besitzer des Handels- und Baukapitals durch fünfjährige Verhandlungen mit dem Staate so zermürbt waren, daß sie nicht mehr an die Rentabilität des Unternehmens glaubten. In der Transportindustrie wurde viel mehr Geld als in der Leicht- und Textilindustrie investiert, weil deren Anlagen viel mehr Risiken brachten. Der Aufbau eines modernen Transportsystems beseitigte nicht nur Standortnachteile der Industrie; Bankiers, Handelsleute, Kapitalisten investierten auch deshalb im Eisenbahnbau, weil sie damit ihre eigenen Handelsbetriebe, Manufakturen, Fabriken an das neue Transportsystem anschlossen und damit bessere Produktions- und Absatzbedingungen schufen und so die Gefahr der Umgehung ihrer Städte bannten. Der Eisenbahnbau vor allem schuf neue Märkte für die neue Eisen- und Maschinenindustrie. Der bayerische Staat im Vormärz hatte ein grundsätzliches Mißtrauen gegen die neue Unternehmensform der Aktiengesellschaft, gegen die »amoralische« Spekulation und die Zeitgenossen sahen unseriösen Gewinn darin. Aktiengesellschaften waren weniger kontrollierbar als Privatbesitz. Das vormärzliche Bayern kämpfte gegen den Primat des Geldes und für die Idee des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Patrimonialstaates auf dem Fundament des Grundbesitzes. Die Mobilität des Geldes und dessen Konzentration in den Händen weniger Bankiers und Unternehmer erschien als Gefahr. Man fürchtete, 30

daß Macht und Einfluß des Bürgertums zu einem Nebenregiment im Staate sich auswachsen könnten und wollte dem politischen Einfluß des Wirtschaftsbürgertums Zügel anlegen. Die bayerische Regierung schlug 1836 die Bitte der Eisenbahnunternehmer aus Nürnberg, München und Augsburg um Festsetzung eines allgemeinen Eisenbahnsystems in Bayern ab, weil die Regierung mit solchen Leuten schon aus gesellschaftlichem Prestige und Dünkel nicht verhandeln wollte. Der spätfeudale Staat fürchtete, daß die kapitalistische Ausbeutung breiter Massen ein revolutionäres Proletariat heranzüchten würde. Doch wußte dieser Staat schon, daß er die kapitalistische Entwicklung nur hinauszögern, nicht verhindern könnte. Eisenbahnbau und Verkehrsentwicklung wurden nur durch Fehlen oder Unterentwicklung von Eisen- und Maschinenindustrie aufgehalten. Die Betriebstechnik des eisenverarbeitenden Gewerbes stand 1895 noch auf spätmittelalterlichem Niveau. Doch damals waren die Fragen der Standorte, des Eisens als Rohstoff, des Waldes, des Wassers und der allgemeinen Energiequellen ungelöst. Alle diese historischen Feststellungen lassen uns die eingangs analysierten kritischen Urteile über Deutschlands Gesellschaft, Wirtschaft, Mentalität, Kulturbewußtsein aus ozeanischer und westlicher Distanz nicht mehr als böswillig oder übertrieben erscheinen. Der verspätete Anschluß Deutschlands an den Westen war nicht nur ein politischer Irrtum, sondern geschah aus wirtschaftlicher und zivilisatorischer Rückständigkeit. In zwei Weltkriegen, die entweder nicht verhindert oder leichtfertig vom Zaun gebrochen wurden, ist Deutschland, auch Bayern, von der überlegenen Technik der Industriegroßmächte der Welt geschlagen worden. Hunderttausende Lastkraftwagen und dreißigtausend mobile Kanonen, die Amerika lieferte, haben es den Russen möglich gemacht, sich den geschlagenen Deutschen auf der Flucht nach dem Westen an die Fersen zu heften. Rußland selber ist erst im zweiten Weltkrieg zur industriellen Großmacht geworden. Ein Blick auf den Modellcharakter des Ausstellungsortes Augsburg belegt und korrigiert die getroffenen Feststellungen. U m 1830 war Augsburg der zentrale Bankplatz in Bayern und einer der führenden im Gebiet des deutschen Zollvereins. Die Voraussetzungen für die Gründung industrieller Betriebe waren sehr gut. Augsburg war ein bedeutender Standort von Textil- und Metallindustrie, die Plattenfabrik Karl Forster beschäftigte 1837 über 700 Arbeiter, 1836 verlegte Friedrich März die erste Kammgarnspinnerei von München nach Augsburg und fand dafür die U n terstützung des großen Bankhauses Schaezler, das auch die Gründung einer AG für die mechanische Baumwollspinnerei und Weberei anregte - ein seltener Fall außerhalb der Schwerindustrie. Dasselbe Bankhaus war am Projekt der München — Augsburger Eisenbahn beteiligt. Führend in der Metallbranche waren die Messingfabrik Beck und Cie sowie die 1840 in einer alten Tabakfabrik errichtete Augsburger Maschinenfabrik Sander, die Wiege der heutigen M A N ( = München - Augsburg — Nürnberg). Bei 37 000 Einwohnern hatte Augsburg die hohe Zahl von 4000 Arbeitern. Das 19. Jahrhundert ist die Epoche der Bevölkerungsexplosion und des gewaltigen Wachstums der Großstädte. Die zahlreichen Industriegründungen wurden möglich durch eine starke Zunahme der Bevölkerung. Zwischen 1837 und 1840 31

wuchs Augsburgs Einwohnerschaft um 2595 Menschen. Die Augsburger Textilindustrie stand in härtestem Konkurrenzkampf mit der englischen und elsässischen und wurde außerdem durch das Fehlen billiger und schneller Transportmittel behindert. Viel langsamer als die wirtschaftliche Entwicklung Augsburgs und Nürnbergs ging die Münchens vor sich, dem die Banktradition abging und dessen vorhandene Betriebe Josephs von Maffei, Simons von Eichthal und Schaezlers bei einer Einwohnerzahl von 9 5 0 0 0 kaum ins Gewicht fielen: Aber München, die Haupt- und Residenzstadt und Verwaltungszentrale des Landes, trat in Konkurrenz zum Hauptbankort des Landes beim Streit um den Hauptsitz der für die bayerische Industriefinanzierung entscheidenden Bayer. Hypothek- und Wechselbank und zog diese an die Isar. In der Münchener Sektion der München — Augsburg Eisenbahn AG saßen als Hauptaktionäre — »Unternehmer« oder »Gründer« — neben Maffei und Eichthal Franz Xaver und J o s e f Riezler, Christian August Erich, die drei Brüder Ruedorffer und Ludwig Negrioli mit der Summe von 1 1 0 0 0 0 0 Gulden. Neben dem Hofbankier Simon von Eichthal war Josef Anton von Maffei ein herausragender Gründertyp (1790-1870), der aus einem alten italienischen Handelsgeschlecht stammte. Sein Vater war im 18. Jahrhundert in München eingewandert und hatte 1773 im Lehel eine Tabakfabrik gegründet, die der Sohn nach kaufmännischer Ausbildung in Genf 1816 übernahm, weswegen er das Bürgerrecht bekam. Der rege Unternehmer betrieb dazu noch eine Papiermühle, landwirtschaftliche Güter und gründete 1841 das heute noch bestehende Hotel »Bayerischer Hof«. Er war Aktionär der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank und Hauptaktionär der oberpfälzischen Eisen-Maximilianshütte, die Eisenbahnschienen goß. Seit 1821 Münchener Gemeindebevollmächtiger, seit 1837 Mitglied der Abgeordnetenkammer wurde er erster Vorsitzender der 1842 gegründeten Handelskammer von Oberbayern. Maffei gründete die weltberühmte Lokomotivenfabrik, auf die die heutige Kraus-Maffei AG zurückgeht. Er wurde 1837 Vorsitzender des Direktoriums der München - Augsburger Eisenbahn — A G und erwarb in der Hirschau im Nordosten der Stadt den Dampfhammer Lindauer, den er in eine Lokomotivenfabrik umwandelte. Die ersten Lokomotiven der Eisenbahn AG wurden im englischen Newcastle gebaut, der erste technische Leiter des Maffeischen Werkes war ein englischer Ingenieur. Die erste selbst gebaute Lokomotive »Der Münchener« machte 1841 ihre Probefahrt zwischen München und Augsburg. Später wurde Maffei mit Cramer-Klett Hauptaktionär der bayerischen Ostbahn. Im Gebiet des deutschen Zollvereins waren Emil Kessler (Karlsruhe), August Borsig (Berlin) und Joseph Maffei die größten Lokomotivenbauer. Ein Eisenbahnaktionär war Joseph Hirsch, Mitglied des jüdischen Hofbankhauses in Würzburg, das seit 1832 die Münchener Niederlassung der Bank leitete. Das bayerische Judenedikt von 1813 hatte den Juden Glaubensfreiheit und verbesserte Rechtsstellung gewährt; die christlichen Händler und Gewerbetreibenden sahen in ihnen unliebsame Konkurrenten. Die Schulden von Staat und Kommunen (Augsburg), benötigten in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die jüdische Finanzhilfe, die Juden ihrerseits erlangten als Gegenleistung Konzessionen und 32

Bürgerrecht v o m Staat Auch wenn ihnen erst 1861 die volle Gleichberechtigung zugesichert wurde, spielten sie als Bankiers und Großhändler eine bedeutende Rolle und waren so in den Industrialisierungsprozeß eingebunden. »Gründerfinanziers« der Eisenbahn A G waren die Bankiers Schaezler, Erzberger, Froelich, von Stetten und von Hoesslin. Schaezler (aus Ansbach), gab 1807 dem bayerischen Staate ein großes Darlehen, beteiligte sich 1812 an der Gründung der Diskontokasse, die Augsburger und Münchener Bankiers zur Festigung des Staatskredits errichtet hatten; dem Handel mit Staatspapieren verdankte er sein späteres Kapital. Schaezler, Gründer einer Schafwollhandlung, Gründer der Mechanischen Spinnerei und Weberei in Augsburg, errichtete 1838 eine Stearin- und Seifenfabrik und war seit 1840 Generalagent der München - Aachener Feuerversicherung; seit 1837 saß er in der Kammer der Abgeordneten. Verheiratet war er mit der Tochter des Augsburger Kattunfabrikanten und Bankiers Christian von Froelich. Erzberger aus Basel war seit 1804 mit der Tochter des bedeutenden Kattunfabrikanten August Schüle verheiratet und gründete 1804 mit Jakob Friedrich Schmid aus dem württembergischen Ehingen das Wechselhaus Erzberger und Schmid. Die Eisenbahnen waren seit 1835 das beherrschende Thema der öffentlichen Meinung. Die bayerischen Zeitungen begannen sich erst jetzt dafür zu interessieren und berichteten über derartige Vorhaben in anderen Ländern, über die Kurse der Eisenbahnaktien, über Personenbewegung und über amerikanisches und englisches Eisenbahnwesen. Damals bildete sich auch bei der Bevölkerung ein industrielles Bewußtsein; die Menschen spürten die Dämmerung des spätfeudalen Gesellschaftssystems und das Aufkommen des neuen Zeitalters von Industrie und Technik mit ihren fremden Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten. Man bekämpfte oder verteidigte fortan Segen und Fluch von Eisenbahn und Technik, verdammte Spekulationsgewinne des Aktienhandels oder tolerierte sie. In den Unterhaltungsblättern des breiten Volkes schaffte sich der rationale Zeitgeist Luft. Der menschliche Horizont erweiterte sich bedeutsam, räumliche Grenzen wurden überwunden, eine lokale Mobilität und der (Massen-) Tourismus kamen in Gang. Symbole der sich langsam und in Massen ausbreitenden Industriekultur bei zögernder Industrialisierung wurden die Fabrikschlote der großen Unternehmen der Schwerindustrie und ihrer wachsenden Anlagen, die wir heute wegen der Umweltverschmutzung nicht mehr gerne sehen. Symptome wurden die zu Großstädten sich unter dem Bevölkerungsdruck ausdehnenden neuzeitlichen Urbanen Siedlungen, die im 20. Jahrhundert nur mehr mühsam ihre alten Stadtkerne und ihre Funktion als wirtschaftlich-administrative Zentren erhalten konnten. Sie wuchsen auch dadurch, daß sie sich allmählich nach Niederlegung der alten Stadtmauern zunächst die Vororte und später die Dörfer der Umgebung (München, Nürnberg, Augsburg) eingliederten. Doch waren, wurden und blieben die Vororte und alten Dörfer überhaupt die Sitze der Manufakturen, Fabriken und Industrieunternehmen und wurden vor allem zur Wohn-, Siedel- und Arbeitsstätte der Arbeiter und Proletarier. Die Fabrik überwand das Manufaktursystem und die Aktiengesellschaften kumulierten die Macht von Großaktionären wie von Industriebossen und — baronen. Als die Industrialisierung im Laufe der 50er Jahre verstärkt in Gang kam, wurde 33

auch der restriktiven Wirtschafts- und Wohlfahrtspolitik des Staates klar, daß es kein Ausweichen vor dem epochalen Industrialisierungsprozeß mehr gab. Bayern hatte schon durch den Ausbau des Schienennetzes und die Ausbreitung von Fabrik und Maschine einen industriellen Schub erlebt; es kam ein starker Industrialisierungsdruck von außen hinzu und es fand eine allmähliche Einkreisung durch gewerbefreiheitliche Länder statt. D i e Handwerksverfassung um 1 8 6 0 machte definitiv die Unterlegenheit traditioneller und wirtschaftlicher Ordnungsmodelle deutlich und zeigte auf, wie veraltet das Konzessionswesen war, auch im Urteil der Zeitgenossen, die den wachsenden Einfluß der Industrialisierung und die Überwindung der alten Sozial- und Wirtschaftsordnung spürten. Der demographische Druck führte zu einem Gesellenstau, der traditionell tiefe Leistungsstand des bayerischen Handwerks verschlechterte sich. Der Leistungswille des Handwerks, die korporative Solidarität, ein breiteres Bildungsstreben erloschen, der Nachwuchs war entweder korrumpiert oder wanderte in die Fabriken und freien Gewerbe. Die Mehrzahl produzierender Handwerksbetriebe glich mehr Kramläden als Werkstätten. D i e Preise der Handwerksprodukte trieben in die Höhe, die Qualität der Waren verschlechterte sich. Nicht so sehr die Überlegenheit der Maschine und des Fabrikbetriebes über das Handwerk, sondern die Konzessions- und repressive Sozialpolitik des Staates erzwangen eine Korrektur der bislang fehlgeleiteten Entwicklung, eine Beachtung der bereits in vollem Gang befindlichen Dynamik des Industrialisierungsprozesses, dessen Prinzipien Gewerbefreiheit, Leistungsstreben, freie Konkurrenz, Expansion waren; aber das verstanden weder Handwerker noch Meister. Die kritische Wirtschafts- und Verwaltungsintelligenz aber sah in der Durchsetzung dieser Prinzipien schon die einzige Möglichkeit zur Reform, den Zwang zur Gewerbefreiheit (1868); die anderen aber versäumten den Anschluß an das neue Industriezeitalter. Es ist das Verdienst der Gewerbevereine frühzeitig den Lernprozeß im Handwerk in Gang gebracht zu haben, das nämliche gilt von den Gewerbekammern. In der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung war der handwerkliche Mittelstand der Hauptleidtragende des Industrialsierungsprozesses in Bayern. Das Handwerk ging zwar nicht im Proletariat als Ganzem auf. Die emanzipierten ländlichen Unterschichten entwickelten sogar eine starke Mobilität und einen enormen Leistungswillen. Sie flohen aus der Dorfenge in die freien Gewerbe und die Fabriken der Städte und fanden dort eine sichere Existenz, die dem neuen technischen Zeitalter entsprach (Phayer). In gleicher Weise brachen auch die Gesellen aus dem erzwungenen Gesellenstand aus und arbeiteten frei oder in der Fabrik. Das bedeutete für sie Freiheit und Selbstverwirklichung durch Freisetzung von Arbeit und Arbeitsertrag. Es verarmten weder die Gesellen noch die etablierten Meister, denn sie fanden Arbeit außerhalb des Handwerkes oder handelten mit Fabrikwaren. Im ganzen muß man sagen, daß um 1 8 6 0 weder tatsächlich in der Wirtschaft, noch im zeitgenössischen Bewußtsein Handwerk und Fabriken klar voneinander geschieden waren, wie die Nürnberg — Fürther - Manufakturindustrie zeigt. Die Übergänge waren noch fließend. Bayerns Gesellschaftsstruktur war im 19. Jahrhundert nicht idyllisch, der quantitative Industrialisierungsgrad des Landes war um 1860 noch gering, aber die qualitativen Elemente des epochalen Umbruchs waren schon da oder wurden importiert. Es fand 34

ein breiter sozio-ökonomischer Strukturwandel statt, nicht nur ein Ringen zwischen Freiheit und Reaktion. Die materielle und geistige Umstrukturierung und U m orientierung ist auch in Bayern schließlich geleistet worden. Die nationalliberale Führungsschicht betrieb in den 80er Jahren eine industriefreundliche Politik auf Kosten der Landwirtschaft; das rief Bewegungen bei Handwerkern und Bauern hervor, auch im Bayerischen Zentrum (Heim, Schirmer); der neue Kurs nach Bismarcks Sturz schuf eine veränderte Lage. Die Jahre der großen Depression 1873—1896 und die folgenden Jahrzehnte bis 1914 brachten in Bayern eine Art erster industrieller Revolution, eine erste Krise der Landwirtschaft, eine Verelendung der Bauern und einen gewissen materiellen Aufstieg der Arbeiter (Landarbeiter); Bayern erlebte den Kampf um den Aufstieg bisher unterdrückter Schichten. Die Großstädte, Oberfranken und Oberpfalz wurden Zentren von Strukturkonflikten. Man muß aber sagen, daß im Vergleich zum Reich das Bevölkerungswachstum Bayerns um die Jahrhundertwende noch immer wesentlich zurückgeblieben war; man hatte das schon um die Jahrhundertmitte amtlich festgestellt; das gleiche gilt für das Volkseinkommen pro Kopf. Im Krieg 1 9 1 4 - 1 9 1 8 forderte der bayerische Zentrumsabgeordnete Heinrich Osel eine stärkere Industrialisierung Bayerns (H. Osel, Zur Entwicklung von Bayerns Industrie und Handel, Diessen 1917). Wesentliche Vorgänge am Ende des 19. Jahrhunderts waren die Landwirtschaftskrise nach 1890 und ihre Überwindung durch einen neuen Zolltarif und das Genossenschaftswesen gewesen, seit 1860/70 die Krise des Handwerks, der Ubergang zur Großproduktion und um bzw. nach der Jahrhundertwende die Elektrifizierung und Kartellierung. Die Elektrifizierung hat dabei zu heftigen Kämpfen zwischen Staat, Kammern, Privatindustrie, Mittelstand, Landwirtschaft und Parteien geführt. Die Elektrifizierung, die ein Privatunternehmen blieb (Isar-Amperwerke), machte erstmals dem ganzen Lande bis in die kleinste Hütte die technische Kultur und die segensreichen Wirkungen der Industrialisierung bewußt. Die Kartellierung machte Bayerns Industrie teilweise zum Opfer der Rohstoffproduzenten (Kohle), aber auch zu Teilnehmern am Prozeß der Kartellierung. Bayern erlebte die mit der Industrialisierung verbundenen Prozesse und Krisen schwächer und später als Norddeutschland. Die Elektrifizierung und Kartellierung war auch deshalb ein bedeutendes Ereignis vor und nach dem Ersten Weltkrieg, weil um die Herrschaft über die Energiequellen von Wasser, Kohle und Elektrizität eine heftige Diskussion zwischen den Anhängern der privaten und staatlichen Wirtschaft entstand, der 1914 noch nicht entschieden war; die dabei schon bearbeiteten Projekte (Wasserwerke) wurden nach 1919 in einem beispiellosen Aufbauboom verwirklicht. Bayern war besonders von den schwerindustriellen Kartellen betroffen, da seine Wirtschaft auf Fertigproduktion abgestellt war. Die bayerischen Versuche um eine gesetzliche Regelung des Kartellwesens schlugen fehl. Doch trieb Bayern in den industrieintensiven Regierungsbezirken selber eine massive Kartellierung, die strukturverändernd auf die Märkte wirkte. Der Weltkrieg begünstigte Maschinenbau und Chemie auf Kosten anderer Industriezweige. München war ein Hauptnutznießer des industriellen Aufschwungs dabei. Regierung, Banken, Industrie, Industrielle und der Zentrumsabgeordnete Osel gründeten gemeinsam 1917 eine Gesellschaft zur wirt35

schaftlichen Förderung Bayerns. Die Banken expandierten im Ersten Weltkrieg, der Mittelstand erlebte eine tiefe Krise, die zur Revolution beitrug. Im ganzen gesehen hat der Erste Weltkrieg genau so wie der Zweite den Industrialisierungsprozeß mächtig vorangetrieben, wenn auch der Abstand zum großindustriellen Norddeutschland (Ruhrgebiet, Sachsen, Oberschlesien) noch größer wurde. Eine historisch vergleichende Strukturanalyse der Industrialisierung Bayerns im 19. Jahrhundert (bis 1918) bestätigt die thematische Feststellung, daß es ein »geminderter« Prozeß war. Quantitativ war Bayern den anderen deutschen Staaten weit unterlegen und ist es noch; qualitativ hat es alle Stadien durchgemacht und alle Symptome erlebt. Auch im Bayern des 20. Jahrhunderts gibt es eine technisch-industrielle Kultur.

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Günter Bayerl, Ulrich Troitzsch

Die vorindustrielle Energienutzung

Die historische Beschreibung der vorindustriellen Gesellschaft betont im Regelfall deren statisches, schwer veränderbares System und übersieht dabei, daß diese auch über zahlreiche Elemente gesellschaftlicher Dynamik verfügte. Erst durch bereits in diesem Zeitraum stattfindende langfristige Wandlungsprozesse läßt sich erklären, weshalb die von England ausgehende »Industrielle Revolution« in Deutschland relativ schnell zum Industriestaat führte. So kann unseres Erachtens der Verlauf der Industrialisierung ohne Berücksichtigung dieser Vorbedingungen nur unzureichend geklärt werden: Die »Industrielle Revolution« ist dann die exponentielle Beschleunigung eines Prozesses, der als »Industrielle Evolution« seit dem späten Mittelalter zu beobachten ist. Im Rahmen des traditionalen Systems der Agrargesellschaft, dessen rechtliche, politische und gesellschaftliche Strukturen eine erhebliche Beharrungstendenz aufwiesen, hatten sich in einzelnen Sektoren Momente der »Modernisierung« entfalten können. Häufig wurden auch herkömmliche Institute — wie ζ. B. das Mühlenrecht durch eine neue Praxis zwar nicht ihrer traditionellen Funktion beraubt, aber doch in einem neuartigen Sinne genutzt. Diesen Entwicklungsvorgang wollen wir hier für den Bereich der vorindustriellen Energienutzung aufzeigen. Dabei ist auf zwei grundsätzlich unterschiedliche Betrachtungsweisen der Technikgeschichte aufmerksam zu machen: Man kann die Entwicklung des technischen Sachsystems für sich genommen aufzeigen und so eine Chronologie von Erfindungen und Innovationen in einem bestimmten Bereich erstellen. Da dies Gegenstand des Beitrages von Wilhelm Ruckdeschel in diesem Band ist, soll hier von explizit technischen Sachverhalten weitgehend abgesehen und die historisch-gesellschaftliche Bedeutung der vorindustriellen Energienutzung in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden. Die beiden Beiträge ergänzen sich also, indem sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Was nämlich bei der technisch-naturwissenschaftlichen Entwicklung vorwiegend wie eine fortschreitende, in sich logische Prozeßhaftigkeit erscheinen mag, zeigt sich unter allgemeinhistorischem Blickwinkel als vielfach abhängig von der j e weiligen Gesellschaftsstruktur. Aus diesem Grunde darf die Qualität des vorindustriellen Engergiesystems auch nicht alleine am gegenwärtigen Standard gemessen werden: So ist die der Wirtschaft des 18. Jahrhunderts zur Verfügung stehende Energiemenge und v. a. der seinerzeitige Energienutzungsgrad im Vergleich zu heute gering; vergleicht man aber solche Werte aus dem 18. Jahrhundert mit denen des 12. Jahrhunderts, so wird deutlich, welch tiefgreifender Wandel sich in der Zwischenzeit vollzogen hat. Und dieser Standard der bereitgestellten Energie war immerhin die Basis für zahlreiche Gewerbe, kommunale Versorgungseinrichtungen etc. 40

So sehen wir in der Entwicklung des Energienutzungssystems auch einen Katalysator des allgemeinen gesellschaftlichen Wandels, und die Entstehung zahlreicher gesellschaftlicher Gruppen, neuer Betriebs- und Wirtschaftsformen, neuer Mentalitäten ist von der Entwicklung in diesem Bereich nur schwer zu trennen. Schließlich stellt sich mit der Industrialisierungsdiskussion die Frage, ob angesichts einer ständig wachsenden Bevölkerung die herkömmlichen Nutzungsformen von Energie- und Rohstoffressourcen zur Versorgung ausgereicht hätten: Das vorindustrielle System als Gesellschaft der Knappheit und des Mangels sowie der häuslichen Subsistenzwirtschaft hatte nach Meinung vieler Historiker seine Grenzen erreicht. Mittlerweile steht dem jedoch die Auffassung entgegen, daß auch auf der herkömmlichen Energiebasis — also ohne Nutzung der fossilen Brennstoffe — eine weitere Entwicklung, allerdings auf deutlich niedrigerem ökonomischen Niveau als dem durch die Industrialisierung erreichten, möglich gewesen wäre. Ohne diese Diskussion letztendlich entscheiden zu können, wollen wir im Blick auf den Industrialisierungsvorgang hier wesentliche Aspekte, Strukturen und Problembereiche der vorindustriellen Energienutzung aufzeichnen und die Bedeutung dieses Energiesystems für die Industrialisierung würdigen.

Die Kraft von Mensch und Tier, der Wind des Himmels — frühe Energienutzung In der Antike und im Mittelalter wurde der Bedarf an mechanischer Energie für Arbeitszwecke in großem Umfange durch die Kraft von Menschen und Tieren gedeckt; Schätzungen geben einen Anteil von 80 % am gesamten Energieaufkommen an1. Inwieweit sich dieses Verhältnis durch die Einführung von Wind- und Wassermühlen in Mittelalter und früher Neuzeit änderte, ist schwer abzuschätzen. Für das 18. Jahrhunderts wird man sicherlich von einem doch nicht unerheblich geänderten Verhältnis zwischen dem Einsatz von menschlicher und tierischer Kraft und dem von Wind - und Wasserkraft ausgehen müssen: wenn auch nicht so exponentiell wie in der Zeit seit dem 19. Jahrhundert, wurde der Anteil der Tier- und Menschenkraft in der vorindustriellen Zeit doch stetig und erheblich zurückgedrängt, insbesondere wenn man den Gewerbesektor betrachtet. Im quantitativ wesentlichen Arbeitsbereich dieser Zeit, dem Agrarsektor, wurden zumindest bestimmte Teilbereiche wie die Getreidevermahlung mechanisiert. Man muß aber bedenken, daß es neben diesen Vorgängen weitere Momente einer Steigerung der Energieausbeute gab: es handelt sich um Geräte, die das Verhältnis von aufgewandter Kraft zu erzielter Leistung gerade beim Einsatz von Menschen- und Tierkraft verbesserten — ζ. B. neue Pflugformen, neue Pflugmaterialien (Metall statt Holz) - und dadurch einen höheren landwirtschaftlichen Ertrag erbrachten. Wesentlich waren auch Innovationen, die die Nutzung der Pferdekraft verbesserten. Die Leistung von Tieren war ja unterschiedlich; nimmt man die eines Zugpferdes mit 1,00 an, so gehen Schätzungen von folgenden Verhältnissen aus: Leistung des Men41

sehen im Vergleich hierzu 0,076 (Mann an der Pumpe) oder 0,104 (Mann an der Kurbel); die Leistung von Ochsen liegt dagegen im Vergleich zum Pferd bei 0,66, die von Maultieren bei 0,50 und die von Eseln bei 0,25 2 . Nun waren Ochsen aber die herkömmlichen Zugtiere, da das bei Pferden angewandte Geschirr, das auf die Luftröhre drückte, deren Zugleistung erheblich einschränkte. Erst durch die Einführung des Kummets im 8./9. Jahrhundert wurde diese Beschränkung der Pferdekraft beseitigt und das Pferd als Zugtier voll nutzbar und in mehrfacher Hinsicht als Arbeitstier dem Ochsen überlegen. Ahnliches gilt im übrigen auch für den kriegerischen Gebrauch des Pferdes: durch die Einführung des Steigbügels wurde eine neue Kampfweise möglich - Lynn White Jr. hat in einer klassischen Studie auf die wesentliche Bedeutung dieser beiden Innovationen für die mittelalterliche Agrar- und Reiteradelsgesellschaft hingewiesen 3 . Es gab also auch in einer Gesellschaft, die noch in weiten Bereichen auf der Anwendung von Tier- und Menschenkraft basierte, wesentliche Fortschritte in der Steigerung der Energieausbeute. Daß dieser Wandel im zentralen Sektor der Agrargesellschaft auch für die sonstigen Wirtschaftsbereiche von Bedeutung war, liegt auf der Hand: erst Uberschüsse in der Landwirtschaft ermöglichen die Herausbildung eines Städtewesens mit von landwirtschaftlicher Arbeit befreiten Gesellschaftsschichten, die sich Kunst, Wissenschaft, Technik, Gewerbe, Handel usw. widmen können. Weitere Möglichkeiten zur gesteigerten Nutzung menschlicher und animalischer Kraft waren Instrumente wie die Kurbel oder die Ubersetzung der aufgebrachten Kraft in komplizierteren Maschinenwerken, wie sie die diversen Göpelformen für die Tierkraftnutzung und die diversen Treträder und Tretscheiben für die Menschenkraftnutzung darstellen. Ein häufig übersehener, aber sehr wichtiger Beitrag zur erhöhten Energieausbeute ist die Arbeitsorganisation. Das klassische Beispiel des Pyramidenbaues steht für viele großtechnische Leistungen der vorindustriellen Zeit, wie Brücken- und Monumentenbau : nur durch Zusammenfassung einer großen Anzahl von Menschen und Tieren, durch genaue Arbeitsplanung und Programmierung der einzelnen Arbeitsschritte, sowie durch Hierarchisierung der Arbeitskräfte unter einem einheitlichen Kommando kann für Einzelmomente des Arbeitsvorganges ein großes Energievolumen umgesetzt werden. Ein weiteres klassisches Beispiel hierfür ist der Transport und die Wiederaufrichtung des Vatikanischen Obelisken durch Domenico Fontana 1586 in Rom: ca. 800 Menschen, 140 Pferde und 40 Göpel ermöglichten, organisiert durch exakte Zeit- und Arbeitsplanung, ein von den Zeitgenossen vielbewundertes Werk4. So wie in der europäischen Agrargesellschaft die verbesserte Ausnutzung der Pferdekraft von u. E. durchaus »strategischer« Bedeutung war, war die Ausnutzung der Wind- und Wasserkraft für die mediterranen Schiffahrts- und Handelsnationen von zentraler Bedeutung. Ausnutzung der Wasserkraft liegt ja auch in der Schiffahrt vor, wenn Meeresströmungen oder die Strömungen von Flüssen zum Transport genutzt werden, selbst wenn hier keine Umwandlung der Energieform wie ζ. B. bei 42

der Mühle stattfindet. Die Nutzung der Windkraft durch Segel war der wichtigste Anwendungsbereich dieser Energieform neben der der Windkraftnutzung durch Windmühlen; Heckruder und bewegliche Takelung trugen dazu bei, diese Energienutzung den menschlichen Bedürfnissen anzupassen und zu steigern. Auch dieser Wandel in dem für die entsprechenden Gesellschaften zentralen Sektor strahlte auf weitere gesellschaftliche Bereiche aus. Das oben angesprochene Moment, daß auch durch Multiplikation und Organisation einzelner Energieträger neue Dimensionen an Leistung möglich waren, gilt auch für die Schiffahrt: bis zu einer gewissen Grenze war die Steigerung von Fahrtgeschwindigkeit möglich durch den Einsatz immer zahlreicherer Ruderer, wie er in mehrstöckigen Galeeren vorgenommen wurde. Diese Hinweise mögen genügen, um darauf aufmerksam zu machen, daß auch im Zeitraum vor dem »Siegeszug der Mühle« zahlreiche Innovationen im Bereich verbesserter Energienutzung vorlagen. W i r wollen uns in der folgenden Darstellung auf das wesentliche Energienutzungssystem der Wassermühle — bei gelegentlichen Hinweisen auf die Windkraftnutzung — beschränken und femer bezüglich der kalorischen Energie nur das Holz behandeln. Wir meinen nämlich, daß damit die wesentlichsten Bereiche angesprochen sind bzw. die dort beschriebenen Strukturen auch für andere Sektoren und Anwendungsbereiche gelten. So wurde in der vorindustriellen Zeit kalorische Energie nicht nur aus Holz, sondern auch aus Torf, Braun- und Steinkohle gewonnen. Die Energieausbeute beim Torf ist jedoch ziemlich gering, so daß er im Regelfall als Substitut betrachtet werden kann. Die Nutzung von Kohle kam vor, in bestimmten Regionen, Zeiträumen und Sektoren sogar nicht einmal unbedingt immer in unerheblichem Maße, als gesamtgesellschaftliche Größe spielte sie jedoch erst zu Ende unseres Betrachtungszeitraumes eine wesentliche Rolle. Das gleiche gilt für den interessanten Fall der direkten Nutzung der Sonnenenergie (Wind- und Wasserkraftnutzung stellen j a genauso wie die meisten sonstigen Energieformen eine indirekte Nutzungsform der Sonnenenergie dar), die auch in vorindustrieller Zeit bereits ab und an erwogen wurde. So war die Nutzung der Sonnenstrahlung durch Brenngläser und Brennspiegel bereits der Antike bekannt; die erste überlieferte Erwähnung des Brennglases kommt in einer Komödie des Aristophanes 423 ν. Chr. vor 5 . Auch in einer unvollständig erhaltenen dem Euklid ( 4 5 0 - 3 8 0 v. Chr.) zugeschriebenen Schrift findet sich der Brennspiegel erwähnt, und die legendenumwobene Behauptung, daß Archimedes bei der Belagerung von Syrakus durch die Römer 2 1 2 v. Chr. deren Schiffe durch Brennspiegel in Brand gesetzt habe, ist vielfach kolportiert worden. In seinem Werk über die »gewaltsamen Bewegungen« beschreibt Salomon de Caus 1 6 1 5 u. a. einen mit Sonnenenergie betriebenen Springbrunnen: durch Brenngläser werden Sonnenstrahlen auf zwei Metallbehälter gelenkt, in denen sich die warme Luft ausbreitet und das Wasser im Springbrunnen hochtreibt 6 . Ebenfalls die Konzentration des Sonnenlichtes durch Spiegel und deren praktisch-spielerische Anwendung beschreibt 1 6 5 3 Georg Philipp Harssdörffer in seinen »Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden« — Automatenwerke und höfisches Spielzeug waren ein beliebter Technikbereich des 16. und 17. Jahrhunderts. 43

Praktisch-gewerbliche Bedürfnisse bzw. die Arbeit an chemischen Innovationen sind die Ursache für entsprechende Versuche durch Ehrenfried Walther Graf von Tschirnhaus ( 1 6 5 1 - 1 7 0 8 ) , der in eigenen Glashütten und in einer Poliermühle Brennspiegel und -gläser fertigte, um hohe Schmelztemperaturen zu erreichen. In diesem Sinne war also die Nutzung der Sonnenenergie durchaus ein Thema des 16. bis 18. Jahrhunderts, während dann im 19. Jahrhundert Versuche mit und Ideen zu sonnenkraftbetriebenen Maschinen häufiger werden 7 . Von der praktischen Bedeutung her spielten die diversen Versuche vorher wie gesagt keine große Rolle; sie wurden hier aber erwähnt, da es u. E. durchaus bemerkenswert ist, daß Energienutzungsformen, die heute erneut in der Diskussion sind und denen für die Zukunft erhebliche Bedeutung zugeschrieben wird, in historischer Zeit bereits — wenn auch als seinerzeitige technologische Sackgasse — zur Diskussion standen. Von regional zwar unterschiedlich akzentuierter, generell aber überragender B e deutung war die zentrale Umsetzungsmaschinerie des vorindustriellen Energiesystems: die Mühle. Am Beispiel der Wassermühle ist diese Bedeutung darzulegen.

Der Siegeszug der Wassermühle Wasserschöpfen und Getreidemahlen in Mitteleuropa

— die Einführung der

Wassermühle

Vor Einführung der Wassermühle zum Getreidemahlen und Wasserschöpfen wurden zu diesen Zwecken Handmühlen, Treträder und Tiermühlen (also Göpelwerke) verwandt. D i e Vermahlung von Getreide und das Schöpfen von Wasser ( zu B e - und Entwässerungszwecken) sind sozusagen die beiden »Urbereiche« der Mühlenanwendung. Da letzteres in den Mittelmeerländern und im Nahen Osten häufiger und wichtiger als in Mitteleuropa war, hielt in Europa die Mühle vorrangig als Getreidemühle ihren frühen Einzug. Im übrigen ist im heutigen Bewußtsein — trotz der zwischenzeitlichen Anwendung der Mühle in vielen Gewerben — nur dieser Nutzungszweck noch präsent, da die anderen Anwendungsformen im 19. Jahrhundert mit der Entstehung des Fabriksystems allmählich wieder abkamen. So wird irrtümlich auch heute wieder nur die Bedeutung der Mühle als einer landwirtschaftlichen Maschine, nicht aber ihre Bedeutung als Basis zahlreicher vorindustrieller Gewerbe, als wichtigster Energieumsetzungsmaschine, gesehen. Man darf nun nicht vermuten, daß mit der Einführung der Wassermühle die Tier- und Menschenmühlen verschwunden wären. Während vorher aber zum B e trieb von Mühlen nur Menschen- und Tierkraft angewandt wurde, ergab sich durch Einführung der Wasser—, später auch der Windmühle, die Nutzung zusätzlicher Energieformen: auch W i n d - und Wasserkraft wurden nun zum Betrieb vieler M a schinen verwandt. Gerade im ursprünglichen Bereich der Getreidevermahlung gab es aber einige Gründe, die für die Beibehaltung der Tier- und Handmühlen sprachen. Marc Bloch hat darauf in einem klassischen Aufsatz über »Antritt und Sieges44

1 Göpelwerk zum Getreidemahlen. Neben den Handmühlen waren die Göpel (Pferde-, Esel-, Ochsengöpel) die wichtigsten Mühlwerke, wenn infolge natürlicher Wechselfälle (Wasser- und Windmangel) oder infolge von Kriegszeiten (Be-

lagerungen, ziehender Troß) die Wind- und Wasserkraft nicht zur Nahrungsversorgung genutzt werden konnte. Mühlen- und Wasserwerkkonstruktionen, 16.Jh., Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2° Cod. 577

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zug der Wassermühle« hingewiesen: Zum ersten erforderte der Bau einer Wassermühle erhebliche Investitionen, auch die Reparaturen waren teuer; zum zweiten setzten sie das »Recht auf einen Wasserlauf« voraus, das man entwede als Territorialoder Lehesherr innehaben konnte oder dessen Nutzung man gegen Abgaben erwerben mußte. Ferner schottete die geringe Erschließung der Verkehrswege einzelne Siedlungen ziemlich stark gegeneinander ab; wichtige Verkehrswege stellten die Flüsse dar. So waren Gegenden ohne Flüsse nicht nur vom Warenaustausch weitgehend abgeschnitten, sondern auch von naturgebundenen Antriebskräften. Da fehlende Wasserkraft also nicht durch Mehlhandel kompensiert werden konnte, blieb ihnen nur die Getreidevermahlung durch Tier- und Handmühlen 8 . D i e Einführung der Windmühle in Europa gegen Ende des 12. Jahrhunderts konnte diese Benachteiligung mancher Regionen ausgleichen, da naturgemäß W i n d - und Wasserkraft nicht immer am gleichen Ort auftreten. Für das Weiterbestehen der vor der Wassermühle üblichen Techniken waren aber auch militärische Gesichtspunkte wesentlich: Burgen und Städte mußten infolge ihrer militärischen Funktionen einer Belagerung möglichst lange standhalten können. Da die Wasserzufuhr durch den Feind leicht zu unterbrechen war, waren nicht nur Grundwasserbrunnen wesentlich für das Verteidigungskonzept, sondern auch zur Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung dienende Mühlen, deren Betrieb vom Feind nicht gestört werden konnte. Im Rahmen von Kriegen und Feldzügen wurde auch »geraist« — militärisches, aber auch ziviles Reisen waren ein weiterer Grund für den Gebrauch von Handmühlen und Göpelwerken. Handmühlen waren ohnehin leicht zu transportieren und reichten für den Eigenbedarf einzelner Personen aus; noch im 13. Jahrhundert gingen beispielsweise Händler der Normandie mit Handmühlen auf Reisen: man nahm sein eigenes Korn mit und vermahlte es unterwegs. Dies hatte den Vorteil, daß man nicht in Mühlen auf dem Wege mahlen lassen mußte und somit sowohl die Zeit bis zur Bedienung (»Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«) wie auch die Kosten für Abgaben (die »Matte« als Anteil des Bannherrn - dieser Mahllohn wurde dadurch erhoben, daß der Müller einen Teil des zu vermählenden Getreides einbehielt) sparte. Mehl oder Brot unterwegs zu erstehen war manchmal schwierig, da viele Orte nur für den kurzfristigen Eigenbedarf vorsorgten 9 . Mußten bei Kriegszügen größere Menschenzahlen mit Mehl versorgt werden, reichten Handmühlen nicht aus; hier bediente man sich einer spezifischen Form des Göpelwerkes: der Wagenmühle, wie sie beispielsweise bei den Karolingerarmeen mitgeführt wurde. Wagenmühlen bestanden aus einem Karren oder Wagen, auf dem ein oder zwei Getreidemahlgänge fest aufgebaut waren. Der Antrieb der Mahlgänge wurde über weit ausgespannte Arme vermittelt. Bei Lagerung wurden die Zugtiere ausgespannt, der Wagen durch teilweises Eingraben der Räder befestigt und die Zugtiere an die Arme gespannt und im Kreis um den Wagen getrieben. Über Jahrhunderte hinweg behielten diese Wagenmühlen ihre Bedeutung für die Heeresversorgung bei Kriegszügen. Es ist also offensichtlich, daß die Neuerung der Wassermühle nicht in allen Bereichen und bei allen Gelegenheiten anwendbar war und somit auch nicht die alten 46

2 Wasserförderung mittels Wasserrad. Zu den ältesten durch Wasserräder bewältigten Aufgaben gehört neben der Getreidevermahlung die Wasserförderung. Hier ist ein Becherschöpfwerk dargestellt; das Wasserrad treibt die Becher um, die aus dem Wasserlauf rechts unten das Wasser in ein

Abflußbecken rechts oben schöpfen. In etwas anderer Form existiert diese Technik der Wasserschöpfräder im übrigen in der Gegend zwischen Erlangen und Forchheim heute noch. Mühlen- und Wasserwerkkonstruktionen, 16.Jh., Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2° Cod. 577

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Techniken ganz verdrängte. Hier zeigt sich eine generelle Tendenz des vorindustriellen Energienutzungssystems: das Auftauchen neuer Nutzungssysteme führte nie dazu, daß die alten völlig verdrängt wurden, sondern stellte immer nur eine Ergänzung bereits vorhandener Nutzungsformen dar. Dies war zum einen durch die Naturabhängigkeit begründet, die in manchen Regionen nur bestimmte Nutzungsmöglichkeiten (nur Wasser, nur Wind) zuließ, zum anderen auch durch die gesellschaftlichen Strukturen dieser Periode. Die Errichtung einer Wassermühle setzte entweder den Besitz eines Wasserrechtes oder dessen Nutzungserwerb durch Privileg und die damit verbundenen Abgaben voraus. Das Getreide mußte in der Bannmühle des Feudalherrn gegen Abgaben gemahlen werden; der heimliche Betrieb von kaum zu kontrollierenden Handmühlen bot die Möglichkeit, diese Abgaben zu umgehen — der Konflikt zwischen Bannherrn und Bauern, die den Mahlzwang umgingen, zieht sich bis ins 19. Jahrhundert hinein. So sind Hand- und Tiermühlen nicht nur Zeichen technischen Mangels oder des Fehlens nutzbarer Naturkräfte, sondern nicht zuletzt auch ein Beleg dafür, daß die feudalen Zwangsrechte nicht überall und nicht ohne Widerstand sich durchgesetzt hatten. Daten

und Zahlen

— Einführung

und

Verbreitung

Trotz des eben beschriebenen Weiterbestehens der Hand- und Göpelwerke breiteten sich Wind- und Wassermühlen in mehreren Schüben in teilweise erheblicher Intensität aus. Trotz einiger immer wieder genannter Einführungs- und Verbreitungsdaten steht die diesbezügliche Forschung aber noch auf sehr unsicherem Grunde, und neuere Auffassungen tendieren dazu, eine frühere Verbreitung der Mühle in Europa anzunehmen, als aufgrund der bislang ausgewerteten wenigen Quellen gemeinhin angenommen wird 10 . Als »Orientierungspunkt« mögen jedoch einige Einführungszeiträume und als Beleg über die Mühlendichte verschiedener Perioden des vorliegenden Betrachtungszeitraumes einige Verbreitungszahlen genannt werden. . Im Mittelmeerraum tauchen im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. vermehrt schriftliche Hinweise auf die Wassermühle auf, und Marc Bloch schließt daraus, daß hier die erste Innovations- und Verbreitungswelle der Wassermühle vorliegt, wenngleich sie insgesamt noch keine wesentliche Rolle für Getreidevermahlung oder gar für die Gewerbe spielte: noch waren im Römischen Reich Göpelwerke und Sklavenmühlen verbreitet. Die Sklaverei wird vielfach als Grund gesehen, daß sich diese Technik — die ja die reichlich vorhandene Menschenkraft in diesem Falle nicht zu ersetzen brauchte — nur langsam verbreitete. Erst eine neue christliche Auffassung gegenüber dem Menschen, dem Sinn seiner Arbeit und dem Sklavenproblem habe dann zu einer verstärkten Verbreitung der Mühlentechnik geführt. Klöster sind neben den weltlichen Grundherren auch die ersten Träger der Mühlentechnologie, und in späterer Zeit haben bestimmte Orden — wie beispielsweise die Zisterzienser - eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung der Mühlentechnologie gespielt.

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Schien- und Blechhämmer der Oberpfalz von

1387-1609

Jahr

Schienhämmer

Blechhämmer

Insgesamt

1387 1475 1545 1581 1609

125 141 119 104 107

22 62 82 75 75

147 203 201 179 182



urkundlich

belegte Werke

ο aus

Literatur

3 Verbreitung, Dichte und Standorte von Eisenhämmern in vorindustrieller Zeit in der Oberpfalz. Die Bedeutung der Oberpfalz als »Ruhrgebiet des Mittelalters« wird deutlich; die dichte Belegung der Fußläufe mit Mühlwerken — wie sie sich in der Standortkarte zeigt — ist aber durchaus typisch für vorindustrielle Gewerbelandschaften allgemein: die Wasserkraftnutzung bedingt die Ansiedlung der Gewerbebetriebe im Tal. Aus: F. M. Ress, Der Eisenhandel der Oberpfalz in alter Zeit, München, Düsseldorf 1951

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Jedenfalls ist eine stärkere Verbreitung der Wassermühle — in ihrer Funktion als Mahlmühle — in West- und Mitteleuropa während der Karolingerzeit unstrittig; häufig wird ein Durchbruch der Wassermühlentechnologie im 9. Jahrhundert angenommen 1 1 . Die Windmühle ist spätestens seit dem Ende des 12. Jahrhunderts in Westeuropa verbreitet, in einer technisch erheblich anderen Form ist sie in Persien bereits im 8. Jahrhundert nachgewiesen. Während ursprünglich die Windmühle feststehend und damit nicht in den Wind drehbar war, kann bei der europäischen Bockwindmühle das ganze Mühlenhaus, bei der später erfundenen Holländermühle das Mühlendach mit den Flügeln in den Wind gedreht werden. Im 18. Jahrhundert wird schließlich die Windrose erfunden, die ermöglicht, daß sich die Mühle von selbst in den Wind dreht. Die Wassermühle macht im Verlauf ihrer Anwendung ähnliche bedeutende technische Veränderungen durch, auf die aber weiter unten eingegangen wird. Einige Zahlen sollen illustrieren, wie in verschiedenen Zeiträumen der vorindustriellen Periode die Mühlendichte aussah — da für diesen Zeitraum exakte Zahlenangaben selten sind, sind die Beispiele leider von einer gewissen ungeordneten Beliebigkeit. Eine der wichtigsten und immer wieder genannten Quellen zur Verbreitung der Mühlen im Mittelalter ist das Domesday Book von 1086: die etwa 3000 erfaßten englischen Siedlungen verfügen über 5624 Wassermühlen; auf Haushalte umgerechnet, ergibt sich ein Verhältnis von einer Mühle auf ca. 50 Haushalte 12 . In Siebenbürgen werden im 13. Jahrhundert 26 Mühlen,im 14. Jahrhundert 159 Mühlen erwähnt; in 20 Dörfern Siebenbürgens gab es im 14. Jahrhundert j e 2wei Mühlen, in 33 Dörfern drei oder mehr Mühlen 1 3 . Zahlenmäßige Aufschlüsse bekommt man auch bei Berichten über seinerzeit Aufsehen erregende technische Vorhaben und Kultivierungsleistungen: so wurde durch den berühmten holländischen Ingenieur und Mühlenbauer Leeghwater 1612 ein Polder mit Hilfe von 47 auf dem Deich stehenden Windmühlen trockengelegt; geplant war ferner, zwischen 1631 und 1641 das Harleemer Meer mit Hilfe von 160 Mühlen trockenzulegen 14 . In der Hamburger Umgebung sind derartige windbetriebene holländische Entwässerungsmühlen seit den 1570-er Jahren eingeführt; in einer Karte von 1588 sind am Ufer der Bille (einer der kleineren Hamburger Flüsse) 15 Bockwindmühlen dargestellt. In dieser Landschaft Billwerder, zu deren Kultivierung Entwässerungsmühlen notwendig waren, stehen 1687 ca. 100 derartige Mühlen, 1706 werden 70 große und 122 kleine Entwässerungsmühlen genannt. Bei einer Sturmflut am 12.2.1747 sollen in der Wilstermarsch von 900 Mühlen 400 umgeworfen worden sein 15 . Für den alten Staat Luzern kann Anne-Marie Dubler für den »approximativen Zeitpunkt« 1695 aus den Quellen 149 Mühlen (vorrangig Mahl—, aber auch Sägeund Ölmühlen) nachweisen 16 .

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