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German Pages [207] Year 2006
Arno Schmidt? - Allerdings! marbacherkatalog
-
eassasiBaX
Arno Schmidt mit Lehrer Tonn und Klassenkameraden, Volksschule Pröbenweg, um 1922. 1
2 Die Geschwister Lucie und Arno Schmidt, um 1925.
3 Mit Arno Lötzsch beim Schachspiel in der Kantine der Greiff-Werke, Mitte der dreißiger Jahre.
Mit unbekannten Kollegen in der -Tabelle- der Greiff-Werke. Mitte der dreißiger Jahre. 4
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Mit Wehrmachtskameraden in Norwegen, zwischen 1942 und 1945. 10
Mit Alice Schmidt, zwischen 1940 und 1943.
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12 Mit Alice Schmidt in Kastei an der Saar, 8.7.1952.
13 Mit Erika und Hellmuth Neises
in Kastei an der Saar, 16.9.1952.
Mit Eberhard Schlotter in Gottheit Schlotters Atelier in Darmstadt, 22. 4.1958. 14
15 Mit Helmut Heißenbüttel in Bargfel April 1960.
16 Mit Alice Schmidt und Erika Michels auf dem Steinhuder Meer, 3.6.1960.
Mit Alice Schmidt und ihrer Nichte Monika in Berlin-Adlershof. Reise anlässlich der Silberhochzeit im August 1962. 17
18 Mit Alexander Kluge und Alfred Andersch bei der Verleihung des Fontane-Preises in Berlin, 18.3.1964.
Mit Kuno Schumann, Hans Wollschläge und Hans Dieter Müller anlässlich einer Besprechung zur Poe-Übersetzung in Bargfeld, 26.8.1964. 19
20 Mit Wilhelm Michels im Freibad Höfer, Mitte der sechziger Jahre.
21 Mit Heinrich Bokelmann in Schmidts Garten bei der Heuernte, nach 1964.
22 Mit Ernst Krawehl bei der Übergabe des Manuskripts von Zettel's Traum, 15.5.1969.
geboren in Hamburg (18. Januar) nach dem Tod des Vaters Umzug der Familie nach Lauban (Schlesien); Beginn der Freundschaft mit dem Schulkameraden Heinz Jerofsky 1933
Abitur in Görlitz
1934
kaufmännischer Lehrling (später Buchhalter) in der Textilindustrie
1937
Heirat mit Alice Murawski; Umzug nach Greiffenberg (Schlesien)
1940
zur Artillerie eingezogen; Schreibstubendienst in Hagenau (Elsaß)
1942
Versetzung nach Norwegen (Molde-Fjord)
1945
Kampfeinsatz an der Westfront bei Vechta; englische Kriegsgefangenschaft in einem Lager bei Brüssel Dolmetscher in Hilfspolizeischule der englischen Besatzung in der Lüneburger Heide; Schmidts wohnen im Mühlenhof Cordingen (bei Walsrode)
1949
erste Buchveröffentlichung: Leviathan (Rowohlt Verlag)
1950
»Großer Akademie-Preis für Literatur« der Mainzer Akademie; Umsiedlung nach Gau-Bickelheim (Rheinhessen); Beginn der Tätigkeit als Übersetzer englischer und amerikanischer Romane
1951
Umzug nach Kastei an der Saar
1952
Beginn der Freundschaft mit Alfred Andersch
1953
Beginn der Freundschaft mit Wilhelm Michels
1955
Verfahren wegen Verbreitung von Pornografie und Gotteslästerung; Umzug nach Darmstadt; Beginn der Freundschaft mit dem Maler Eberhard Schlotter; erste Arbeiten für den Rundfunk
1956
Einstellung des Gerichtsverfahrens; Wechsel zum Stahlberg Verlag, in dem Das steinerne Herz erscheint
1958
erscheint nach fast 20-jähriger Arbeit die Biographie Fouque und einige seiner Zeitgenossen-, Umzug nach Bargfeld (Kreis Celle)
1960
erscheint der Roman Kaff auch Mare Crisiurn
1963
erscheint Sitara und der Weg dorthin, eine psychoanalytische »Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl May’s«
1964
Berliner Kunstpreis für Literatur (Fonlanepreis)
1965
Große Ehrengabe des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie
1970
erscheint Zettel’s Traum nach rund 6-jähriger Arbeit
1972
Herzinfarkt
1973
Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main
1977
finanzielle Unterstützung durch Jan Philipp Reemtsma
1979
stirbt Arno Schmidt am 3. Juni im Krankenhaus Celle an den Folgen eines Schlaganfalls
Arno Schmidt? - Allerdings! marbacherkatalog
59
von Susanne Fischer, Jörg fV. Gronius, Petra Lutz, Bernd Rauschenbach und Jan Philipp Reemtsma
Deutsche Schillergesellschaft Marbach am Neckar
s
)
Inhalt
25
Biogramm
131
Von Jörg W. Gronius
33
»Was >Worte< sind, wißt Ihr - ?«
149
Von Bernd Rauschenbach
53
81
111
»Die Landschaft scharf
»15000 Volt bin ich« Von Bernd Rauschenbach »Die Politik ist das Schicksal!« Von Jan Philipp Reemtsma
159
«... ganze MappmHarems von
im Auge behalten«
Klein’n Nacktn Mädchen ...»
Von Susanne Fischer
Von Petra Lutz
»Selbst wenn Sie ein
183
»Erhaben=kleinliche
Bücherfresser sind ...»
Alltäglichkeiten«
Von Susanne Fischer
Von Bernd Rauschenbach
»Eine Art pornografisches Lachkabinett« Von Bernd Rauschenbach
205
Zum Katalog
Kapitel eins
»Was >Worte< sind, wißt Ihr - ?« 32 33
Scharfsinnsübung, Einsichten & Erregungen, kurz echte innere Erfahrungen ergeben«, schrieb er 1962 in seiner Karl-May-Studie Sitara
[BA 111,2,267];
zehn Jahre später
ging er in Die Schule der Atheisten noch weiter: »Die «Wirkliche Welt«?: ist, in Wahrheit, nur die Karikatur unsrer Großn Romane!«
[BA IV,2,181]
Obwohl Schmidt immer wieder die Wichtigkeit der sorg fältig geplanten äußeren Form seiner Prosa, die genaue m Anfang« (weiß der neutestamentliche Evan
Berechnung des Gerüsts eines Romans oder einer Erzäh
gelist Johannes) »war das Wort. Alle Dinge sind
lung in den Vordergrund seiner theoretischen Überlegun
I
durch dasselhige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts
gen stellte
gemacht.« [Joh. 1,1.] Er kann sich dabei auf den ersten
den kleinen Bausteinen seiner Wortwelten größte Auf
[z. B. In
Berechnungen
/, BA III,1,163ff.],
hat er doch
alttestamentlichen Schöpfungsmythos berufen, in wel
merksamkeit gewidmet und sich (den handwerklich-bau
chem Gott Jahwe vor jedem Schöpfungsakt spricht: >Es
meisterlichen Anteil seiner Arbeit akzentuierend) einen
werde dies oder das«, worauf das Genannte entsteht. Das
»vor der Schreibmaschine ergrauten Wortmetz« genannt
Wort lässt die Welt entstehen [i.Mose 1,3-26].
[BA 111,2,106],
Weniger mythisch, aber kaum weniger unerklärlich geht
Natürlich hat sich Schmidts Verhältnis zum Wort im Laufe
es auf Erden zu: Den irdischen Kollegen des »Großen De
seines Lebens entwickelt. Aus seinen um 1940 geschrie
signers« [BA IV,3,43] dient das Wort als Baustein ihrer Wel
benen Juvenilia spricht ein Gefühl des den Worten (noch)
ten - »Wortweltenerbauer« nennt Arno Schmidt bisweilen
Ausgeliefertseins: »Ich wußte, ich war sinnlos und ein
die Schriftsteller [z. B. BA II, 2,104]; auch ihre Wörter lassen
schwächlicher Phantast, wie ich da, ein Spiel aller Dinge,
Welten entstehen. Wörterwelten, die Schmidt, schon von
dem rauschenden Winde dicht über mir lauschte und
Kindheit an, als alternative Weltentwürfe erfahren hat,
Worte durch mich liefen, als sei ich nur eine Gedanken
in denen alternatives Leben möglich ist. »Wir finden all
linse aus nachtgeteiltem Glas.« [BA 1,4,606 ] - In den Er
mählich in Büchern mehr, als in der Natur oder in Men
zählungen der unmittelbaren Nachkriegszeit hat sein
schen. lind zumal das an=studieren von umfangreichen
ganzes Schreiben plötzlich eine erstaunliche Sicherheit
Wortwelten kann die gleiche Bereicherung hinsichtlich
und einen bereits völlig eigenen Ton erlangt, allerdings
.WAS -WORTE« SIND, WISST IHR - ?•
24 Wörterbuch der Deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. Von Dr. Daniel Sanders, korrespondierendem Mitglied der Gesellschaft für das Studium der neuern Sprachen in Berlin. Leipzig: Otto Wigand, 1860-65 (2 in 3 Bdn).
34 35
ohne dass es schon sonderlich viele der später mit seinem
doch erst im Faun wird deutlich, dass es vor allem
Namen verknüpften Eigenheiten aufweisen würde. Ver
der Expressionismus August Stramm’scher Prägung war,
einzelt finden sich schon Kolloquialismen und eine aufs
der Schmidt bei seinem Umgang mit Wörtern beson
Nötigste verknappte Syntax, aber wenn sprachlich kühne
ders beeinflusst hat; im gleichen Roman heißt es denn
Bilder in den Texten auftauchen, sind sie meist durch
auch: »Wieland ist mein größtes formales Erlebnis neben
besondere Situationen entschuldigt, etwa durch vorheri
August Stramm!« [BA 1,1,351.] Dreißig Seiten darauf beginnt
gen Alkoholgenuss des Erzählers wie hier in Alexander
die Schilderung der Bombardierung einer unterirdischen
oder Was ist Wahrheit-, »Monika schritt an meinem Arm
Pulverfabrik gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, und
durch die Wände; Gesichter, Hände, alles goldbespannt. /
über sechs lange Seiten hinweg explodiert Schmidts Spra
In der Nacht, in der Nacht: Wind pfiff ein Spottlied auf
che mit: »Es ruckte und pochte wieder, und die Häuser
mich. Wir liefen leicht und schleifend im Diebesschritt
fern lachten hell und irrsinnig aus allen zerklirrenden
einher. Rauch kroch krautig und wachsgelb auf einem
Gläsern. Die Nachtze klatschte in die donnernden Fäuste,
flachen Dach. Kam eine Bildsäule, wurde sie auf die Ze
Explosine, und unzählige Knalle haschten um den Hori
hen getippt. Worte in rot und schwarzkarierten Joppen.«
zont. (Die Blitze hackten heute von unten nach oben;
[BA 1,1,90.]
und jeder donnerte jupitern genug, wie er in seiner ent
Stellen wie diese werden in den nächsten Jahren in
setzten Wolke verschwand!).« [BA 1,1,380.] Am Ende dieser
Schmidts Prosa häufiger, aber erst 1953, zu Beginn des Ro
nicht enden wollenden, auch den Leser quälenden Ex
mans Aus dem Leben eines Fauns haut Schmidt die Wörter
plosionsszene beobachtet der dem Inferno knapp entkom
seinen Lesern förmlich um die Ohren beziehungsweise
mene Ich-Erzähler die Szene nur noch von weitem; und
Augen: »Flamme: da fletscht ein nacktes Siedlungshaus
plötzlich ist es, als wenn der Autor Arno Schmidt aus
in giftgrünem Gesträuch: Nacht. / Flamme: gaffen weiße
ihm heraus spricht: »Ich war aller Worte müde: ausge
Sichter, Zungen klöppeln, Finger zahnen: Nacht. /
waschene Worte, abgelutscht von Milliarden Zungen, die-
Flamme: stehen Baumglieder; treiben Knabenreifen;
tricheckartschen, abgetragen in Milliarden Maultaschen,
Frauen kocken; Mädchen Schelmen blusenauf: Nacht! /
fritschgoebbelsschen, schiefgelatschte auf allen Luft
Flamme: Ich: weh: Nacht!!« [BA 1,1,301.] Zeitgenössische Re
wegen, breitgequetschte mit allen Lippen, nasalierte,
zensenten hatten etliche Spuren expressionistischen Er
ausgespuckte, splittergebackne, durch Besen geschissne:
zählens schon in Schmidts vorigen Büchern ausgemacht,
Muttersprache! (Och, was n reizendes sinniges Wort,
.WAS >WORTE< SIND, WISST IHR - ?«
25 Wehrle-Eggers: Deutscher Wortschatz. Ein Wegweiser zum treffenden Ausdruck. Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 12. Auflage 1961.
36 37
nich?!). / Aber wenn Einem die Sprache im Munde brennt:
lichen mit seinem weltanschaulich-politischen Radika
Mir!« [BA 1,1,387] Das Unbehagen, mit den deutschen Wör
lismus im Einklang sehen.
tern und der deutschen Sprache Weiterarbeiten zu müs
hrsg. von Hans-Michael Bock, Zürich 1984, S.34ff.]
sen, die von Nazi-Dichtern wie Dietrich Eckart oder vom
Nie mehr nach dem Faun hat Schmidt expressionistische
Propagandaminister Goebbels und seinem Rundfunk-
Sprachmittel derart massiert eingesetzt - im Faun waren
Kommentator Hans Fritzsche über ein Jahrzehnt lang
sie ja schließlich auch inhaltlich-politisch motiviert; es
vergewaltigt worden waren, teilte Schmidt mit vielen sei
scheint aber außerdem, als habe er sich in der gewaltigen
ner jungen Nachkriegskollegen. Doch zog er eine andere
und gewalttätigen Expressionismus-Explosion freige
[Nachzulesen in: Über Arno Schmidt,
Konsequenz daraus als die meisten von ihnen, die aus
schrieben zu einem entspannteren Umgang mit Sprache
Angst vor hohl gewordenen großen Worten ihre Sprache
und Wörtern. Ein drei viertel Jahr nach der Niederschrift
künstlich verarmten und eine ihrer kargen Umgebung
des Faun unternimmt Schmidt einen Versuch, der Leser
angepasste > Kahlschlag-Literatur« schufen - ein Weg, der
schaft seine Schreibtechnik, seine Sprache zu erklären:
natürlich nicht gangbar war Einem, dem »die Sprache
»Zur Sprache nur dieses : Meine wäre .künstlich« ? / Es ist
im Munde brennt«. Dass Schmidts Weg (nämlich sein An
lediglich die Sprache, alles herkömmlich Formelhaften
knüpfen an den Expressionismus als der letzten sprach
entkleidet. Alle Wortmatrizen sind weggeworfen; Sub
lichen Errungenschaft im Deutschen vor dem Einsetzen
stantiva paaren sich nicht mehr nach
des Nationalsozialismus) mehr ist als eine Geschmacks
kein Duden kommandiert; nur Rhythmus, untadelige
BGB
mit Verben;
frage oder eine Verbeugung vor den großen Autoren
Metapher, exakte erschöpfende Freimachung von bisher
seiner Jugend oder ein Versuch des Avantgardisten,
mit platten Wortbinden Umwickeltem; Konsonanten und
Anschluss an die Literaturgeschichte zu halten, zeigt der
Vokale stehen wieder zur beliebigen individuellen Ver
Faun, in dem der Ich-Erzähler, ein gewissermaßen in der
fügung.« [BA 111,3,103.) In den Büchern der nächsten Jahre
.inneren Emigration« lebender kleiner Beamter in Nazi-
wird der Ton durchgehend legerer und umgangssprach
Deutschland, sich dezidiert zum von den Nazis als .entar
licher, phonetische Schreibweisen verändern immer häu
tet« verfolgten Expressionismus bekennt: Schmidts Rück
figer das Aussehen der Wörter, Komik, auch in Form von
wendung zum Expressionismus ist auch eine politische
Kalauern, Wortwitzen und Verschreibungen, wird immer
Stellungnahme. Dass sie als solche verstanden wurde,
wichtiger. Schmidts Bestreben ist in dieser Phase eine
zeigen die wütenden Verrisse des Faun, die seinen sprach
möglichst konforme Abbildung von Wirklichkeit, und er
.WAS .WORTE« SIND, WISST IHR - ?«
26 Franz Dornseiff: Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen. Fünfte Auflage mit alphabetischem Gesamtregister. Berlin: de Gruyter & Co., 1959.
38 39
bearbeitet die Wörter, um sie möglichst präzise und mög
den die drei Freud’schen Instanzen (»Über-Ich«, .Ich«
lichst dicht dem von ihm Gemeinten anzupassen - um
und >EsEtym-Theorie< gibt dem sie
lesen; bei Freud lernte er die in die Wirklichkeit eingrei
anwendenden Autor ein Verfahren an die Hand, durch
fende Macht der psychischen Instanzen kennen, vor
z. B. bewusst produzierte doppeldeutige Verschreibun
allem die des sexuell dominierten >Esinn=team
Etym-TheorieRneipen=AllianzEtym-Theorie< in Zettel’s Traum
er bekam den Ave-Lallemant 1954 vom befreundeten
an »den Grenzen der Sprache« [BA IV, 2,14) bewegt. Wie
Bibliothekar Claus Nissen geliehen.
ernst er sie am Schluss wirklich nahm, muss wohl offen bleiben. Sein letztes zu Ende geschriebenes Buch Abend mit Goldrand ließ er vom Verlag ankündigen als »Herbst geschenk für Gönner der Etymmystik« - doch erschienen ist es 1975 dann mit dem deutlich zurückgenommenen Untertitel »für Gönner der VerschreibKunst« [BA IV,3,7].
24
»Wörterbuch der Deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. Von Dr. Daniel Sanders, korrespondierendem Mitglied der Gesellschaft für das Studium der neuern Sprachen in Berlin
Leipzig: Otto Wigand, 1860-65 (2 in 3 Bdn.)
»Und also vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke,
In dieses unter anderem Ferdinand Freiligrath gewid
die er machte; und ruhete am siebenten Tage von allen
mete Werk sind (laut einer vorangestellten -Anleitung
seinen Werken, die er machte« [i.Mose 2.2]. Der mensch
zum Gebrauch-) »aufgenommen alle Wörter der heutigen
liche Wortweltenerbauer freilich muss ans nächste Werk
hochdeutschen Schrift- und Umgangssprache, somit auch
gehen, will er nicht verhungern: »Selbst die größte sprach
die allgemein üblichen Fremdwörter, die jedoch durch
liche Kraft, die übermenschlichste Imagination, sind nach
einen vorgesetzten Stern von dem echtdeutschen Sprach
Vollendung eines Kunstwerkes leergeschöpft (das geht
schatz geschieden sind. Ausgeschlossen, oder doch nur,
soweit, daß man -danach- ausgelaugt dasitzt, und die ein
insofern es zur Aufklärung über den heutigen allge
fachsten Ausdrücke nicht mehr findet!). / Sei mir die Be
meinen Gebrauch dient, nebenbei erwähnt ist das Ver
merkung vergönnt, daß ich grundsätzlich Wörterbücher
altete und das Mundartliche.« - In seinem Vorwort weist
zu lesen pflege, um den Wortvorrat wieder aufzufüllen,
Sanders darauf hin, daß bei einem Werk wie diesem Voll
etwa -Lexer: Mittelhochdeutsch- oder >Av6=Lallemant:
ständigkeit immer nur etwas Anzustrebendes sein kann,
Gaunerrotwelsch- usw.).« [BA 111,3,176.]
weswegen er bereits an einem Ergänzungsheft arbeite:
Da Arno Schmidts Bestand an Wörterbüchern weit über
»Namentlich giebt es eine Menge gewerblicher und ge
das hinausging, was dem Durchschnittsleser auf diesem
schäftlicher Ausdrücke, die und deren Erklärung man
Gebiet bekannt sein dürfte, werden im Folgenden einige
besser als aus Büchern aus dem Leben selbst schöpft,
Wörterbücher aus Schmidts Nachlass vorgestellt; ein Bot-
und hier bietet sich für gebildete Kaufleute, Gewerbe-
•WAS .WORTE« SIND, WISST IHR - ?.
28 Erich Mater: Rückläufiges Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, 1965.
treibende etc. gewiß Gelegenheit zu Nachträgen, wenn sie
25
WEHRLE-EGGERS: Deutscher Wortschatz.
das Wörterbuch besonders mit Rücksicht auf das ihnen
Ein Wegweiser zum treffenden Ausdruck
zunächst liegende Fach fleißig nachschlagend benutzen
Stuttgart: Ernst Klett, i2.Aufl. 1961
wollen. / Möchten recht zahlreiche Freunde unsrer herr lichen Muttersprache mich darin unterstützen, das Werk
Im Vorwort zur völlig neu bearbeiteten zwölften Auflage
dem gewünschten Ziele der möglichen Vollständigkeit
dieses erstmals 1880 erschienenen Werks heißt es: »Das
und Vollkommenheit immer näher zu bringen! / Schon,
Besondere dieses .Deutschen Wortschatzes« liegt in sei
wie es jetzt vorliegt, hat die Kritik ihm die Anerkennung
nem Aufbau als Doppellexikon: Sein erster, systema
gezollt, daß es den Wortschatz, die Bedeutungen und
tischer Teil ordnet das deutsche Wort- und Sprachgut in
Anwendungen der einzelnen Wörter, ihre Fügungen und
ein System von Grund-, Haupt- und Einzelbegriffen, wäh
grammatischen Verhältnisse in einer Vollständigkeit dar
rend ein zweiter, alphabetischer Teil die Wörter in ihren
lege, hinter der alle anderen Wörterbücher bei weitem
verschiedenen Bedeutungen sichtbar macht. / Es mag
Zurückbleiben. / Möge mein Wörterbuch, ein Werk deut
erstaunlich erscheinen und zum Nachdenken führen, daß
schen Fleißes und inniger Liebe für das große deutsche
ein so geartetes Lexikon zum Volksbuch werden und bis
Vaterland, an seinem Theile mit dahin wirken, das Gefühl
her in einer Gesamtauflage von über 100000 Exemplaren
der Zusammengehörigkeit in allen Gauen Deutsch
erscheinen konnte. Der Grund dafür liegt in einer sehr
lands zu stärken und zu kräftigen! Deß walte Gott!« Arno
nüchternen Überlegung: Wer in einem rein alphabetisch
Schmidt hat dieses Wörterbuch 1966 erworben; etliche
geordneten Wörterbuch nachschlägt, hat zunächst ein
Einträge von seiner Hand (z. B. Korrekturen von Setz
ganz bestimmtes Wort im Auge, für das ihm dann Ortho
fehlern oder sein durch ein »sic« ausgedrücktes Erstaunen
graphie und grammatische Besonderheiten, Aussprache
über ein obszönes Wort) bezeugen eine aufmerksame
und Betonung, Herkunft und dergleichen nachgewie
Lektüre.
sen werden. Unser .Deutscher Wortschatz« öffnet einen grundsätzlich anderen Weg. Er geht von der Sache und vom Begriff aus und stellt die Fülle der dafür im Deut schen möglichen Bezeichnungen zusammen, indem er den gesamten Wortbestand in einem wohlerwogenen und langerprobten System von Begriffsklassen ordnet.«
.WAS -WORTE« SIND, WISST IHR - ?«
29 Luxemburger Wörterbuch. Im Auftrage der Großherzoglich Luxemburgischen Regierung herausgegeben von der Wörterbuchkommission, auf Grund der Sammlungen, die seit 1925 von der Luxemburgischen Sprachgesellschaft und seit 1935 von der Sprachwissenschaftlichen Sektion des Großherzoglichen Instituts veranstaltet worden sind. Luxemburg: P. Linden, Hofbuchdrucker, 1950-77.
(Gemeint ist das System des 1852 erstmals erschienenen
(rotwelsch), Seeleute, Studenten, Gelehrte, Jäger, Bör
Thesaurus of English Words and Phrases von Peter Mark
sianer, Pfarrer, die Zeitungen, wie sich der Gebildete aus
Roget.) »Unser Werk ist in hohem Maße mit dem engli
drückt im alltäglichen Verkehr, im Honoratiorendeutsch,
schen vergleichbar geworden, und dadurch ergeben sich
in der gehobenen Literatursprache. Kurz, was tatsächlich
sehr bemerkenswerte Aufschlüsse über Ähnlichkeiten
gesagt wird, nicht nur, was gesagt werden sollte, also
und Verschiedenheiten im Wortschatz beider Sprachen.
viel Umgangssprache neben der Schriftsprache. Man wird
Nicht nur der Übersetzer wird davon Vorteil haben, der
hier vieles gedruckt finden, was man nur mündlich ge
jetzt viel genauer als bisher die Begriffsfelder beider
wohnt ist. / Auch der Nichtsprachwissenschaftler kann
Sprachen vergleichend überschauen kann.« Nicht ganz
mancherlei von diesem Buch haben. Der praktische Nut
auszuschließen ist, dass der Übersetzer Schmidt genau
zen im alltäglichen Sinn liegt auf der Hand. Das -Wort
dies getan hat - den Deutschen Wortschatz bekam er zu
auf der Zunge«, das einem vorschwebt, aber sich nicht
Weihnachten 1961; Rogets Thesaurus kaufte er 1962.
einstellen will, wird so leichter gefunden. Jeder Schrei bende, besonders auch der Übersetzer aus einer fremden Sprache, kennt den Zustand, wo man das eigentliche Wort
26
FRANZ DORNSEIFF: Der deutsche Wortschatz
sucht, das hier allein der rechte Ausdruck ist. In solcher
nach Sachgruppen
Not schrieb Wieland an Merck: -Ich habe dritthalb Tage
Fünfte Auflage mit alphabetischem Gesamtregister.
über eine einzige Strophe zugebracht, wo im Grunde die
Berlin: de Gruyter, 1959
Sache auf einem einzigen Worte, das ich brauchte und
Aus der in Schmidts Ausgabe erneut abgedruckten Vor
nicht finden konnte, beruhte. Ich drehte und wandte
rede zur ersten Auflage von 1933: »Ein Verzeichnis der
das Ding und mein Gehirn nach allen Seiten, weil ich
Welt nach Gegenständen und Beziehungen ist zugrunde
natürlicherweise, wo es um ein Gemälde zu tun ist,
gelegt, und daran sind die Wörter ähnlicher oder fast
gern die nämliche bestimmte Vision, welche vor meiner
gleicher Bedeutung (Synonyma) aufgereiht. / Für die
Stirn schwebte, auch vor die Stirn meiner Leser bringen
Einzelbegriffe sollte nun möglichst alles aufgeführt wer
möchte, und dazu oft, ut nosti, von einem einzigen Zuge
den: Gottseliges, Schnoddriges, Bäurisches, Fremdwörter,
oder Drucker oder Reflex alles abhängt.« Dieses Buch hilft
Papierenes, Menschlich-Allzumenschliches, Derbes, was
den Ausdruck suchen, indem der Leser sich nur in dem
Snobs sagen, die Backfische, Soldaten, Schüler, Kunden
betreffenden Begriffskreis etwas umzusehen braucht.«
.WAS .WORTE« SIND, WISST IHR - ?«
30 The Compact Edition of the Oxford English Dictionary. Complete Text, reproduced micrographically. Oxford: Clarendon Press, 1971.
46 47
Ob Schmidt mm - seine Marginalie zum Artikel .Tabak,
die also ganze Serien von Wort=Enden darboten: dafür
könnte das suggerieren - die dargebotenen Synonyma un
wär’ ein solches Buch unschätzbar!« [BA 111,4,411.]
zureichend oder den ganzen Band durch das ähnliche Werk von Wehrle-Eggers entbehrlich fand: jedenfalls gab er den Dornseiff irgendwann in die Bibliothek seiner
28
ERICH MATER: Rückläufiges Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache
Frau.
Leipzig:
VEB
Bibliographisches Institut, 1965
Dieses (laut Vorwort) maschinell mit Lochbandstanzer,
27 Allgemeines deutsches Reimlexikon. Herausgegeben von Peregrinus Syntax
Streifenschreiber und rückwärts ins Bandabfühlgerät
In zwei Bänden. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1826
eingelesenem Lochstreifen erstellte Wörterbuch ordnet 130000 Stichwörter »vom Wortende her bis zum Wort
Mithilfe dieses Wörterbuchs, das über 300000 Heime
anfang hin durchgehend alphabetisch« : von >Saba< bis
alphabetisch nach den Reimvokalen und den danach
>NegerjazzElektronengehirn< es automatisch ausspie
die durchgerissen oder sonstwie beschädigt waren; und
ä la .hier essen sich heiße kartoffel puffs..)« [BA 111,4,411]
SYNTAX
.WAS 'WORTE' SIND. WISST IHR - ?«
31 Eric Partridge: A Dictionary of Slang and Unconventional English. Colloquialisms and Catch-Phrases, Solecisms and Catachreses, Nicknames, Vulgarisms and such Americanisms as have been naturalized. In two volumes. London: Routledge & Kegan Paul Ltd, Fifth Edition 1961.
48 49
29
Luxemburger Wörterbuch
Wörterbuch Kommission: ad Spitze d Präsident Ernest
Im Auftrage der Großherzoglich Luxemburgischen Regierung herausgegeben von der Wörterbuchkommission,
Ludovicy; dann der Secretär Henri Rinnen; dann Atten
auf Grund der Sammlungen, die seit 1925 von der
Faber, Reuland, Schroeder, Senninger, Steinmetzer Werdel Weydert ... / ... ein winziges Mädchen, als Stecknadel
Luxemburgischen Sprachgesellschaft und seit 1935 von der Sprachwissenschaftlichen Sektion des Großherzoglichen Instituts veranstaltet worden sind. Luxemburg: P. Linden, Hofbuchdrucker, 1950-77
(Stecknadelskopf) gekleidet; und ein läng’rer schlottrijer Junge als Dämelklas, überreichen, mit geziert’n Verbeu gungen, die xxi. Lieferung des
LUXEMBURGER WÖRTER
BUCHES, >Spengelskapp bis Tälli«. Der Grand Duc wischt Der politisch korrekte Leser wird irritiert sein, wenn er
eine Thräne aus d Aug’. Die versammelte Menge bricht
bei Arno Schmidt liest, Luxemburg sei (wie die
DDR,
in donnernden Beifall aus; (auch einije der Wörter
Österreich oder die Schweiz) ein »deutschsprachiger
buchkommissionsmitglieder weinen); dann wird auch
Teilstaat« [BA 1,2,98, BA 111,3,440]; vielleicht kann ihn ein
noch der 4.Vers angestimmt: >0 Du do uewen, dem weng
Blick in dieses fünfbändige Wörterbuch beruhigen: Es ist,
Hand / durch d’Well d’Natione let, / behitt Du d’Letzebur-
hoch-offiziell, auf Deutsch verfasst. Schmidt hat es in
ger Land / vru friemen Joch a Led! / Du hues ons all als
Teillieferungen ab 1966 bezogen und in Abend mit Gold
Kanner schon / de freie Gescht jo ginn, / loß viru blenken
rand ausgiebig benutzt. Ann’Ev’, eine der Hauptfiguren
d’Freihetssonn, / de mir so läng gesinn!«.« [BA IV,3,205.]
des Romans, ist Luxemburgerin und mit übernatürlichen Kräften begabt; in einem in eine hohle Hand gegossenen Coca-Cola-Rcst lässt sie die Vision folgender Szene ent
30
The Compact Edition of the Oxford English Dictionary
stehen: »Eine MenschenMenge kommt anmarschiert; (ge
Complete Text, reproduced micrographically.
mischt: Männer, Erauen, Kinder - also wohl ausnahms
Oxford: Clarendon Press, 1971
weise mal keine Streikenden? (obwohl man das nie genau weiß)); sie stellen sich vor dem Balkon auf, und singen die
12 großformatige Bände, erschienen von 1884 bis 1928
Nationalllymne. / Der Grand Duc tritt heraus, und stimmt
(plus einem Supplementband von 1933), mit dem gesam
mit ein, (seine Rechte schlägt leicht den Takt). Anschlie
ten englischen Wortschatz vom Beginn der schriftlichen
ßend hält er eine, nur den Einheimischen verständliche
Aufzeichnung an, auf der Basis von g Millionen Exzerp
Ansprache. / Aus der Menge treten vor die Mitglieder der
ten, von denen 1,8 Millionen als Literaturbelege für fast
ARNO SCHMIDT? - ALLERDINGS!
50
450000 Wortdefinitionen zitiert werden: Das
OED
ist ein
Werk der Superlative und sicherlich das bedeutendste
31
ERIC PARTRIDGE: A Dictionary of Slang and Unconventional English. Colloquialisms and Catch-Phrases, Solecisms and Catachreses, Nicknames, Vulgarisms and
und einflussreiche Wörterbuch, das es je gegeben hat.
such Americanisms as have been naturalized
Für jeden Übersetzer aus dem Englischen also eigentlich
In two volumes. London: Routledge & Kegan Paul,
ein unverzichtbares Werkzeug, das aber für den Privat
Fifth Edition 1961
mann Schmidt unerschwinglich war, bis 1971 diese Com pact Edition in zwei Bänden herauskam - die freilich
Dieses historisch orientierte Slang-Wörterbuch ist (zu
den Nachteil hat, dass sie auf jeder ihrer Seiten vier
sammen mit seiner vom gleichen Autor stammenden
extrem verkleinerte Seiten der Originalausgabe bringt.
Ergänzung A Dictionary of the Underworld) eines der
Schmidts Alter Ego A&O aus Abend mit Goldrand bemerkt
meistzitierten Bücher in Zettel’s Traum und war Schmidts
denn auch anläßlich einer bibliophil gebundenen und
wichtigstes Hilfsmittel bei der Ausarbeitung seiner >Etym-
illustrierten Jules-Verne-Ausgabe: »(Tja; das >Compacte
Stellen< in Schmidts Werk, in
Füßen hindurch balancieren; (und vielleicht so einwach
denen Landschaft beschrieben wird, von kleinsten Natur
sen! Eine unsinnige Lust ergriff mich, Derjenige zu sein:
details wie Blatt, Pilz und Grashalm bis zu den drama
Notbremse ziehen, Tasche liegen lassen, spitze Balancier
tischen Wolken- und Lichtschauspielen am Himmel. Der
arme, kristallene Augen, flint & crown)).« [BA 1,1,303.] So
ungewöhnliche Blick ist mit seinem sprachlichen Aus
fährt der Landratsamtsbeamte Düring in Schmidts Roman
druck untrennbar verbunden, Anthropomorphisierungen
Aus dem Leben eines Fauns morgens zur Arbeit, sein auf
und üppige Metaphern wechseln ah mit Abstraktionen, in
den ersten Blick absurder Wunsch, in Niedersachsens
denen sich Wiesen und Wege und Waldränder reduzieren
Wäldern einzuwachsen, ist sicher auch auf die Zeitum
auf Schraffuren, Flächen, Körper und Linien. Immer aber
stände im Roman zurückzuführen - Februar 1939, der
verändert die Optik das, was alle sehen, zu etwas Einma
Text geht so weiter: »Fallingbostel: >Heil!< : >Wiedersehn!< :
ligem, Fremdem, das der Betrachter erst durch seinen
>Wiedersehn: -< : >Heilittler!totFliegenden Mas-
überall in der von ihr als langweilig apostrophierten
kenstimmt Parkland
Da rannen die gekräuselten Linien der Bäche um schwar
schaft« genannt; die Spannung zwischen Natur einerseits
ze Häuserpunkte; durch eine liebliche Hügelzahl [...];
und ihrer Gestaltung durch Menschenhand andererseits
zergingen in winzige Mühlteiche; die Landstraßen kreuz
ist dem Wort schon eingeschrieben. Für jemanden, des
ten klug drüber weg: viele, für mein Herz zu viele, Bäche
sen früheste Landschaft ein Park war, also eine Anlage,
(und ich folgte jedem atemlos: bis zu seiner Quelle an
in der Menschenwerk sich bemüht, natürlich zu wirken,
einem Hang; oder wie er sorgsam aus bitterem Moor
ist die Neigung zu dieser sanften Ordnung des Chaoti
zusammen sickerte). Eckige Dörferzeichen; Kreise be
schen naheliegend. Dramatische Landschaften, Gebirge
kreuzten sich kirchlich; das Posthorn dabei verkündete
gar, sind Schmidt immer fremd geblieben. In der Schule
Pferdewechsel. An dieser Stelle.
der Atheisten wettert der norddeutsche Senator Kolderup,
Aber die Wälder!: Laubbäume rundeten Schweigen;
der das Flachland lieht wie sein Autor Arno Schmidt,
Nadelforst spitz und schweigend [...] mein Seelvogel ver
gegen die »mit Felsn & GießBächn verrammlte Tüten=
schwand im Unterholz (der Wälder von 1812).« [BA 1,1,335.]
bzw. BecherWelt« [BA 4,2,299] der Berge.
Dem phantasiebegabten Träumer kann der Anlass seines
Schmidts Versuche, Landschaft und Natur zu »fassen«,
Gedankenspiels gar nicht karg genug sein, er hat ja selbst
beschränken sich nicht auf Literatur, Fotografie und
den großen Bildervorrat, und so, wie man aus dürren
Landschaftsgestaltung. In seinem literarischen Werk wie
Buchstaben sich bilderreiche Geschichten zusammen
derholt sich auch das Bekenntnis seiner Neigung zu
liest, kann man auch die runden und spitzen Kartenzei
Landkarten. Er sieht sie gern an, studiert sie, träumt sich
chen zu längst vergangenen Wäldern zusammensetzen,
in sie hinein und zeichnet selbst Karten realer und fik
in die man schließlich hineingehen kann.
tiver Landschaften. Als Traumvorlagen können sie ihm
Zu vielen seiner literarischen Projekte hat Schmidt sich
ebenso dienen wie Statistiken und Jahrbücher. Material,
Karten der jeweiligen Schauplätze bestellt, zu einigen
das andere »trocken« finden, entzündet Schmidt und seine
selbst Karten gezeichnet, zum Beispiel historische Karten
ihm ähnlichen Erzähler gerade durch den hohen Abstrak
zum Roman Das steinerne Herz (entstanden 1954/55), der
tionsgrad. Der Klang der ältlichen Namen in den hanno
in Ahlden an der Aller spielt, und zu dem nie geschriebe-
40
42
44
46
ARNO SCHMIDT? - ALLERDINGS!
Arno Schmidt: Blick vom Bargfelder Grundstück nach Südosten. Diaserie, nach 1965. 40-46
74
nen Großroman Lilienthal, auch zur Erzählung Seeland
umfeld Fouques liebevoll als historische Stadtpläne für
schaft mit Pocahontas. Bei den Vorarbeiten zu einem
Aschersleben und Bückeburg ausgearbeitet, sondern
neuen Text hat Schmidt das Kartenzeichnen offenbar im
auch auf einer selbst gezeichneten Karte vermerkt, wo
mer geholfen, sich räumlich und zeitlich in die richtige
überall in Europa Schauplätze der Fouque’schen Werke
Atmosphäre zu versetzen. Auf einem Recherche-Besuch
angesiedelt sind. Eine weitere Karte zeigt die Reisen, die
in Ahlden ging Schmidt die Straßen mit einer Kataster
Fouque zu seinen Lebzeiten machte.
karte in der Hand ab - in der er dann die Lage der
Auch für Stationen seiner eigenen Biografie hat der Autor
Straßenlaternen einschließlich ihres gelben Lichtkegels
Karten angelegt. Zwei Pläne seiner Jugendstadt Lau
verzeichnete, damit Das steinerne Herz auch der topo
ban in Schlesien finden sich im Nachlass, angefertigt erst
grafischen Wirklichkeit entspräche. Darüber hinaus kolo
nachträglich und rückschauend: »A|rnoj zeichnet einen
rierte er dann auch das ganze Blatt - grün für die Gärten,
Plan der Stadt Lauban ausführlich nach spärlichem Vor
rosa für die Häuser und gestaltet so auch weitere Detail
lageplan.« [Tagebuch Alice Schmidt vom 23. g. 1948.] Cordingen-
karten zum Roman. Die Zwischenstellung dieser Karten -
Benefeld in Niedersachsen ist als erster Wohnort nach
abstrakte Zeichnung, aber >lebendige< Färbung, die der
dem Kriege ebenfalls auf einer detaillierten Karte festge
Phantasie schon ein Bild gibt - macht sie zur idea
halten. Von den beiden folgenden Stationen Gau-Bickel
len Phantasievorlage für die Entstehung des Romans.
heim und Kastei an der Saar, zu deren landschaftlicher
Schmidts historisches Interesse am Königreich Hannover,
Umgebung Schmidt keine emotionale Verbindung auf
das auch im Steinernen Herz zentrales Thema ist, ließ
baute, gibt es dagegen nur flüchtige (und nicht ganz stim
ihn sich ebenfalls mit historischer Kartografie beschäfti
mige) Skizzen. Wenig verwunderlich ist es, dass Schmidt
gen. So gibt es im Nachlass eine von ihm gezeichnete
seinen Umzug nach Bargfeld, der ihn nach acht Jahren
Übersicht der kurhannoverschen Landesaufnahme von
in Süddeutschland und Darmstadt wieder in die ersehnte
1764-86.
norddeutsche Landschaft zurückbrachte, seinen Freun
Schmidt verfertigte topografische Karten zu Aus dem
den auf einer Postkarte mitteilte, die den entsprechenden
Leben eines Fauns und entwarf fiktive Topografien zu
Ausschnitt aus dem Messtischblatt einschließlich Koordi
Brand’s Haide, der Gelehrtenrepublik und der Schule der
natenangabe zeigte.
Atheisten. Für seine Biografie des Dichters Friedrich de la
Wie lautet einer der entscheidenden Kurzdialoge in der
Motte-Fouque hat Schmidt nicht nur das engere Lebens
Schule der Atheisten [BA iV.2,248J?
>DIE LANDSCHAFT SCHARF IM AUGE BEHALTEN«
75
»Man muß nich >Kartn< von allem habm.« So verfügt im
waldgesäumten Äcker und Wiesen hinter seinem Garten,
Roman die mächtige Außenministerin der
vor der
Kronsberg genannt, gaben dafür die Bühne ab. Nach
Landkarte von »Spenser Island«. Plötzlich will sie doch
seinem ersten Herzinfarkt 1972 verlegte Schmidt sein Ar
nicht so genau wissen, in welches Komplott ihre missio
beitszimmer in das Erdgeschoss des Bargfelder Hauses.
nierende Mutter einst verwickelt war - man inszenierte
Hier konnte er nur Richtung Süden und Westen in die
einen Schiffbruch, um Atheisten zum Glauben zu be
Gärten sehen. Beim Neubau des so genannten Archivs
kehren.
neben dem Wohnhaus achtete Schmidt darauf, sich den
»Mann muß.« widerspricht unbeirrt der Protagonist, der
Arbeitsraum wieder mit Blick auf den Kronsberg einzu
dem Autor am nächsten steht und einst als Schiffbrüchi
richten. An diesem Platz schrieb Arno Schmidt das letzte
ger auf jener einsamen Insel fast gestorben wäre.
halbe Jahr vor seinem Tod.
32-39
USA
ARNO SCHMIDT: Blick nach Osten aus dem ersten
40-46
ARNO SCHMIDT: Blick vom Bargfelder Grundstück
Bargfelder Arbeitszimmer
nach Südosten
Diaserie (8 Bilder). Nach 1964
Diaserie (7 Bilder). Nach 1965
Mit dem ersehnten Umzug in die norddeutsche Land
Zweimal erweiterten Schmidts ihr Bargfelder Grund
schatt erfüllte sich für Arno Schmidt 1958 auch der
stück, einmal nach Süden, 1964 nach Osten Richtung
Wunsch nach einem ruhigen Arbeitsplatz. »Ich sehe von
Kronsberg. Den Landschaftsausschnitt, der von Schmidts
meinem Schreibtisch aus den Mond aufgehen« vermerkte
Haus und Grundstück aus in diese Richtung zu sehen war,
er in seinem Essay Der Platz, an dem ich schreibe. In der
wünschten sich Schmidts unbebaut - einer der Gründe
Tat schrieb Schmidt bis zum Ausbruch seiner Herz
für den Grundstückszukauf. Als am Rande ihres Blick
erkrankung 1972 meist nachts. Für (Ibersetzungen, Lese-
felds ein Haus entstand, empfanden sie den Neubau zu
und Nachschlagearbeit waren die Tagesstunden reser
nächst als störend. Dann wählte Schmidt das Haus als
viert. Von diesem Arbeitszimmer in der ersten Etage aus
Motiv einer weiteren Dia-Serie vom Kronsberg.
hielt er hei Tageslicht sowohl besondere Beleuchtungen als auch ungewöhnliche Ereignisse fotografisch fest - die
'DIE LANDSCHAFT SCHARF IM AUGE BEHALTEN«
47 Arno Schmidt: Das Königreich Hannover im Jahre 1852. Kolorierte Kartenzeichnung. 1954.
Arno Schmidt: Ahlden. Kolorierte Kartenzeichnung. September 1954. 48
Arno Schmidt: Lauban 1930-35. Kolorierte Kartenzeichnung. 1948. 49
78
79
47
ARNO SCHMIDT: Das Königreich Hannover im Jahre 1852 Kolorierte Kartenzeichnung. 1954 (30 x 35 cm)
und wob die historischen Ereignisse in seine im 20. Jahr hundert angesiedelte Romanhandlung auf vielfältige Weise mit ein. 1954 unternahm Arno Schmidt mit seiner
Während der Arbeit am Roman Das steinerne Herz be
Frau ein Recherche-Reise nach Ahlden, um die Topogra
schäftigte sich Arno Schmidt eingehend mit der Ge
fie eingehend zu erkunden. Damals entstanden mehrere
schichte des Königreiches Hannover-einem Arbeits- und
Kartenzeichnungen zu Ahlden. Nachdem sich Schmidt
Sammelgebiet, auf dem sich der Protagonist des Romans
für ein Ahldener Haus als Hauptschauplatz entschieden
mit großer Leidenschaft hervortut.
hatte, zeichnete er eine Umgebungskarte nach dem Ka tasterplan.
48
ARNO SCHMIDT: Ahlden Kolorierte Kartenzeichnung. September 1954 (39,5 x 29,7 cm)
49 ARNO SCHMIDT: Lauban 1930-35 Kolorierte Kartenzeichnung. September 1948 (29,5 x 21 cm)
Der Roman Das steinerne Herz ist in Ahlden an der Alter angesiedelt, weil dort die Prinzessin Sophie Dorothea im
»A[rno] zeichnet einen Plan der Stadt Lauban ausführlich
17. Jahrhundert nach ihren Ehebruch dreißig Jahre lang
nach spärlichem Vorlageplan« heißt es am 23. September
im Amtshause interniert war - ein berühmtes Faktum der
1948 in Alice Schmidts Tagebuch. In Lauban in Schlesien
Hannoverschen Geschichte, das Arno Schmidt sehr inte
hatte Schmidt als Jugendlicher und Jungverheirateter
ressierte. Schmidt recherchierte im Niedersächsischen
gelebt. Als Flüchtling in Niedersachsen erst zeichnete er
Staatsarchiv in Hannover zu den Umständen des Falles
den Plan seiner Jugendstadt.
Kapitel drei
»Selbst wenn Sie ein Bücherfresser sind ...« 80
eine Cooper-Übersetzung angeboten. Die Szenenfolge über Coopers Leben brachte Andersch in Verlegenheit, er antwortete am ig. Juli 1955: »Ihre Szenen >Zum Gedächt nis Coopers« sind als Radiomanuskript durchaus geglückt, aber sie sind für das Nachtprogramm nicht verwendbar, weil Sie nämlich Struktur und Qualität dieses Programms doch wohl [...] unterschätzt haben.« [BWA, S. 61.] Kaum eine Woche, nachdem Schmidt die Ablehnung er ls der Schriftsteller Alfred Andersch 1955
halten hatte, schickte er Andersch das nächste Manu
A
eine Redakteursstelle beim »Radio-Essay« des
skript über den kaum noch bekannten norddeutschen
Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart antrat, begann für
Barockdichter Barthold Hinrich Brockes. Mit Anderschs
den Prosaisten und Übersetzer Arno Schmidt überra
Urteil »ausgezeichnet, und genau das, was man für das
schend eine Nebenkarriere als Rundfunkautor. Schmidt,
Nachtprogramm braucht« war der Text angenommen,
der Andersch schon als Herausgeber der Zeitschrift Texte
und über dreißig weitere Dialoge über Autoren wie
und Zeichen kannte und mit dem er im Briefkontakt stand,
Schnabel, Herder, Wieland, Tieck, Frenssen, Gutzkow,
wurde zur Mitarbeit am anspruchsvollen Programm ein
May und Joyce sollten bis Anfang der siebziger Jahre fol
geladen. Andersch hatte erfahren, dass Schmidt zu die
gen. Nicht nur die überlebenswichtigen und im Vergleich
ser Zeit keinen Verlag für seine Texte fand und deshalb
zum Verlagswesen hohen Honorare lockten Schmidt,
versuchte, seinen Lebensunterhalt mit dem Verfassen
der 1955 für seine erste, gut 20 Druckseiten umfassende
von Zeitungsartikeln zu bestreiten. Die (Ibersetzungen,
Sendung 900 Mark erhielt (spätere Übernahmen durch
die Schmidt zuvor hatten ernähren können, waren alle
andere Sender noch nicht gerechnet), während seine
vom Rowohlt Verlag in Auftrag gegeben worden, mit dem
umfangreiche Buchveröffentlichung Aus dem Leben eines
Schmidt sich überworfen hatte.
Fauns 1952 ihm nur 1000 Mark einbrachte. Auch die Tat
Schmidt lieferte an Andersch zunächst einen Radio-
sache, für «seine« Autoren und seine literaturgeschicht
Dialog über den populären Abenteuerschriftsteller James
lichen Kenntnisse im Rundfunk ein Forum gefunden zu
Fenimore Cooper, eine seiner frühesten literarischen
haben, spornte ihn zu immer neuen Sendemanuskripten
Jugendlieben. Zuvor hatte er bereits dem Rowohlt Verlag
an. Er perfektionierte die Form in den folgenden Jahren -
»SELBST WENN SIE EIN BÜCHERFRESSER SIND ....
50 Alice Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1956 mit Exzerpt aus Johann Gottfried Schnabels Roman »Die Insel Felsenburg«.
82
£
das leidenschaftliche Gespräch zwischen einem Kenner
sondern das Bücherzimmer muss es sein; nicht ein neues
und einem kenntnisreichen Skeptiker. Wer die Sendun
Buch, sondern viele alte geben hier das Glücksverspre
gen heute hört [A. Sch.,
chen. Die Insel folgt dem romantischen Topos des Heraus
Nachrichten von Büchern und Menschen.
spürt
gebers, der unter den Staubschichten der Jahrhunderte
die Lebendigkeit in den zwei Stimmen, aber auch das
zufällig einen bedeutenden Text findet. Hier tut es der
Elf originale Radio-Essays, 12 CDs, Georgsmarienhütte 2003],
ganze Engagement des Autors, seine Lust daran, dort
»Arno Schmidt« genannte Herausgeber ausgerechnet in
Stimmen über Bücher, Autoren und ihre Schicksale ver
einer Werkausgabe von E.T. A. Hoffmann: Mitten im Gol
handeln zu lassen, als ginge es um das Leben. Denn nicht
denen Topf bricht der Druck ab und macht einem hand
nur die Begabung für das Verfassen von temporeichen
schriftlichen Manuskript Platz, das »Arno Schmidt« nun
Dialogen zog Arno Schmidt zu diesen literaturhistori
entziffert und herausgibt. In diesem, in altertümlichem
schen Arbeiten. Noch vor Beginn seiner schriftstelleri
Ton gehaltenen Manuskript findet der Ich-Erzähler, ein
schen Laufbahn, aber auch währenddessen war Schmidt
Bibliothekar, im Winkel der von ihm betreuten herr
vor allem eines: ein Leser. Ein süchtiger »Bücherfresser«,
schaftlichen Bibliothek wiederum ein Buch, ein Exemplar
ein ernsthafter Leser, ein Entdecker gedruckter Kostbar
von Ruodbecks Campi Elysii. Dort stößt auch dieser
keiten, ein Fabelfortspinner, Dichter-Biograf und Über
Held auf eine nicht zugehörige, noch dazu verschlüsselte
setzer - all dies lässt sich schon in Schmidts frühen
Passage, die ihm und seiner Geliebten den Weg in eine
Jahren finden und vieles davon in seinen frühesten, zu
andere, längst untergegangene Welt ebnet. Der Leser
Lebzeiten nicht veröffentlichten Werken ablesen.
als Schatzsucher findet Geheimnisse in alten Büchern,
In einem Antiquariat beginnt sein erster überlieferter
die das Leben verändern und dem Rest der Welt auf ewig
Prosatext, das Fragment Die Insel von 1937: »gleich bei
verborgen bleiben werden - so zwingend erscheint dem
meinem Eintritt fasste mich der ewige Zauber der Bü
angehenden Autor dieses Motiv, dass er es in seiner er
cher, jene fast krankhafte, unwiderstehliche Sucht, die
sten Erzählung gleich zweimal ineinander schachtelt.
jeder Bibliophile kennt; die Lust, alle diese zahllosen
Schmidt hat nach eigener Aussage bereits als Dreijähriger
Werke zu sehen, zu riechen - ja, zu riechen.« [BA 1,4,187.]
Lesen gelernt, als seine ältere Schwester Luzie es in der
Nicht der Inhalt der Bücher, ihre physische Anwesenheit
Schule beigebracht bekam. Das war sein Rückzugspunkt
entzündet zunächst den fiktiven Herausgeber in dieser
im kulturfernen Milieu seiner Familie, doch während er
Erzählung, zugleich auch ihre Masse - nicht ein Buch,
die Erinnerungen an die Phantasieräume seiner Kindheit
• SELBST WENN SIE EIN BÜCHERFRESSER SIND ...«
51 Kassette mit Ergänzungen Arno Schmidts zur gekürzten Fassung des Romans Die Insel Felsenburg.
Arno Schmidt: Efeublatt von Wielands Grab, montiert mit einem Foto des Grabes in Oßmannstedt bei Weimar.
52 Arno Schmidt: Karte der Insel Felsenburg, gezeichnet nach einer Vorlage.
54
53
Christoph Martin Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. Leipzig 1855.
Arno Schmidt: Nennhausen von der Gartenseite. Zeichnung auf Pauspapier, undatiert. 55
88
später in den Erzählungen Das Kraulemännchen und Der
zu einer abenteuerlichen Reise und ins Innere eines Ber
Rebell (beide 1941) literarisch gestaltet hat, fallen über
ges weit im Norden verlocken - so könnte auch die Fabel
das Glück des jungen Lesers dagegen nur wenige Sätze:
von Die Insel zusammengefasst werden.
»Mein erstes ganz großes Bucherlebnis war, mit 6 Jahren,
Der erste Prosaversuch Schmidts bewegt sich also auf
die >Reise zum Mittelpunkt der Erde« des Jules Verne.«
zweierlei Weise auf den Spuren von Büchern: Er nutzt
BA 3,3,421.] Schmidts Bibliothek legt
eine angelesene Fabel, und er lässt seine wenig welttaug
heute noch Zeugnis davon ab; denn »Bucherlebnis« meint
lichen Helden sich in Bibliotheken und Antiquariate zu
hier nicht nur Lesen, sondern auch Besitzen. »Dieses Buch
rückziehen, um dort ihr Glück zu suchen. Das mag man
habe ich mir im Alter von 6 Jahren gekauft und durch
auch als Selbstauskunft eines juvenilen Schriftstellers
alle Zerstörungen bis heute hindurch gerettet«, heißt es in
deuten, der seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden
dem abgegriffenen Exemplar der Reise zum Mittelpunkt
hat und nicht gefunden haben konnte, solange er als
der Erde, und Verne blieb auch später einer der meist-
kaufmännischer Angestellter Dienst tat; aber es zeigt
vertretenen Autoren in Schmidts Bibliothek - 130 Bände,
auch, wie vorsichtig er sich dem Feld des Schreibens
deutsch, englisch und französisch, stehen in den Regalen.
näherte - als Leser.
Nur von Karl May ist noch mehr vorhanden. Vor allem
In der nur wenige Jahre nach der Insel entstandenen
aber blieben die abenteuerlichen Geschichten im Ge
Erzählung Die Fremden (1942) sind die dort geschilderten
dächtnis des Schriftstellers, und er hat sie später mit iro
Literaturliebhaber sogar in der Lage, sich durch einen
nischer Verbeugung genutzt - Vernes Propellerinsel in
Geheimweg in die in ihrem (auch von Schmidt sehr ge
seiner Gelehrtenrepublik, die Handlung der Schule der
schätzten) Lieblingsbuch Die Insel Felsenburg von Johann
Robinsons als Gerüst für die Binnenhandlung der Schule
Gottfried Schnabel beschriebene Szenerie zu begeben
der Atheisten. Schmidt borgte sich jeweils Teile der aben
und dort Figuren aus dem Roman zu treffen. Der Skep
[Begegnung mit Fouque,
teuerlichen Fabel und füllte sie mit brisanteren Konflikten
tiker, der als Figur schon in den Text hineingeschrieben
als der französische Unterhaltungsschriftsteller. Nimmt
wurde wie später in Schmidts Rundfunksendungen, wird
man die Reise zum Mittelpunkt der Erde in die Hand, trifft
zwar mitgenommen, aber begreift gar nichts und holt
man dort auf ein Motiv, das Schmidt als allererstes wieder
sich deshalb bei der traumartigen Reise ein paar böse
aufnahm. In einem alten Manuskript findet sich ein Blatt
Blessuren. Der fiktionale Raum, den die Welt der Bücher
mit schwer entzifferbaren Runen, die die beiden Finder
eröffnet, ist nur dem leidenschattlichen Leser wirklich
»SELBST WENN SIE EIN BÜCHERFRESSER SIND ....
56 Arno Schmidt: Biografische Karte zum Leben Fouques (Zeichnung). 1949.
90
9
zugänglich, nicht dem Zweifler, der Belletristik nicht
mehr schüchtern als Aufspürer von Geheimnissen, son
ernst nimmt und als Phantasterei abtut - so etwa lau
dern selbstbewusst als jemand, der über den Gegenstand
tet die Botschaft. Die Insel Felsenburg, die selbst auch
etwas zu sagen hat. Immer noch wird dabei die emphati
wiederum das Auswandern in ein paradiesisches Exil
sche Annäherung an die Literatur betont, nicht als Wis
zum Thema hat, hat Schmidt noch in seiner Flüchtlings-
senschaftler, sondern als lesend Mitfühlender. Der Text,
geschichte Brand’s Haide (1951) beschäftigt, in der der
den er in ein Manuskriptbüchlein schrieb und mit einer
Erzähler davon träumt, aus seiner beklemmenden Nach-
fiktiven Verlagsangabe versah, entstand als Weihnachts
kriegswirklichkeit auf die Insel Felsenburg zu fliehen. Im
geschenk für Alice Schmidt. In seiner Widmung an sie
Bundfunkessay Herrn Schnabels Spur (im Bundfunk unter
heißt es: »Wir wollen ja auch keine Literaturgeschichte
dem Titel Treffpunkt für Zauberer) untersuchte er später,
im üblichen Sinne >betreiben< (ein häßliches, hetzendes
wie groß der Einfluss dieses Buches auf die deutsche und
Wort!), sondern nur die wenigen Namen nennen, die
fremdsprachige Literatur war. Sein eigenes Fasziniert
uns [...] stets die Großen bleiben werden; denn wir sind
sein ist immer noch zu spüren, aber auch das Bedürfnis,
wie sie.« [BA 1,4,241.]
sie abzusichern, indem er auf die große Zahl bedeutender
Wir sind wie sie - ins Elysium aufgenommen werden
Vorgänger in dieser Begeisterung hinweist.
auch die guten Leser, die bei >ihren< Schriftstellern Dienst
Dichtergespräche im Elysium ist der Titel des ersten abge
tun, und so hat auch Schmidt sich damals noch verstan
schlossenen Werks von Arno Schmidt, geschrieben 1940.
den, als jemand, der der Literatur einen Dienst tut. In
Schriftsteller der verschiedensten Epochen unterhalten
den Dichtergesprächen kommen Arno und Alice Schmidt
sich in einem gedachten Literaten-, Philosophen- und
als Pilger an Wielands Grab vor, die sie 1939 tatsächlich
Naturforscher-Elysium über Probleme der Schriftstelle
waren. Und schon früh fasste Schmidt den Plan, seiner
rei, einzelne Gespräche tragen Überschriften wie »Von
großen literarischen Liebe, Friedrich de la Motte Fouque,
der Form« und »Von Leben und Werken der Dichter«. Die
eine Biografie zu widmen. In Begegnung mit Fouque kann
Dichter setzen sich ohne Mühen über ihre Jahrhundert
man nachlesen, wie Schmidt als Oberschüler in der Gör-
grenzen hinweg, Homer scherzt hier mit Schopenhauer -
litzer Schulbibliothek sein erstes Bendezvous mit diesem
so, wie sie sich nur im Universum des Lesenden begeg
Autor hatte, selbst an das intensive Sommerlicht des Ta
nen können. Deutlich ist auch an diesem Text zu erken
ges kann er sich erinnern, wie man es eben nur bei ersten
nen, dass dieser Autor als Leser beginnt, nun aber nicht
Lieben kann. Der Wunsch, die Biografie des geschätzten
• SELBST WENN SIE EIN BÜCHERFRESSER SIND ....
57 Clas Johan Livijn: Pique-Dame. Berichte aus dem Irrenhause, in Briefen. Nach dem Schwedischen von L.M.Fouqu6. Berlin 1826.
Autors zu schreiben, muss ebenso genuin wie naiv ge
keinen stofflichen, sondern rhetorischen und argumen
wesen sein. Oie Arbeit daran, die Arno Schmidt schon
tativen Aufwand, um sie wiederzubeleben. Dies gelang
vor dem Krieg begonnen batte, mit ihren vielen Anfragen
ihm so gut, dass der Verlag Zweitausendeins ab 1978 eine
bei Ämtern und Kirchen nach Lebensdaten der Familie
eigene Reihe für die von Schmidt wiederentdeckten Auto
und Freunde Fouques und den in Archiven forschend
ren schuf, die Haidnischen Alterthümer, in der bislang
und exzerpierend, ja kopierend verbrachten Stunden
immerhin vierzehn, zum Teil mehrbändige Werke er
hat am Ende einen positivistischen Datenberg ergeben.
schienen.
Eine Form der Annäherung an Literatur, über die Arno
Auch einen weiteren literaturgesehichtlichen oder in
Schmidt zum Zeitpunkt der ersten Niederschrift der Bio
terpretierenden Versuch Schmidts, sich einem anderen
grafie (1930- 52) schon längst hinaus war. Die Gesprächs
Lieblingsautor zu nähern, muss es in frühen Jahren ge
form, die es erlaubt, den Schriftsteller, sein Werk und sein
geben haben: Über Karl May hat der junge Schmidt 1933
Leben aus verschiedenen Blickrichtungen zu betrachten,
einen Aufsatz verfasst und beim Karl-May-Verlag in Rade
erschien ihm inzwischen angemessener als die plan er
beul für das Karl-May-Jahrbuch eingereicht. Leider hat
zählte Lebensgeschichte; später in Zettel’s Traum wird
sich diese Arbeit nicht erhalten. Aus einem späteren Brief
er sich für Edgar Allan Poe daran versuchen. Schwierig
des Verlags an Arno Schmidt geht hervor, dass er sich da
gestaltete sich die Verlagssuche für die Fouque-Biografie:
mals für Bezüge zwischen Mays Werk und den Schriften
»Ich möchte ihnen hier ausdrücklich meinen Bespekt
Nietzsches interessierte. Es ist nicht zu vermuten, dass
bezeugen vor der außerordentlichen Leistung, die Sie als
der frühe Aufsatz in dieselbe Richtung zielte wie Schmidts
Biograph vollbracht haben. Aber ich meine, daß Sie Ihre
spätere Untersuchung über Karl May, Sitara und Der Weg
Arbeitskraft einem falschen Objekt zugewendet haben«,
dorthin, da Schmidt damals nicht über psychoanalytische
schrieb Kurt Marek, Lektor bei Bowohlt, am 13. August
Kenntnisse verfügte. Dennoch ist es bemerkenswert, dass
1952 an Schmidt. Dessen Versuch, den seiner Ansicht
dieses Thema später noch einmal eine Rolle bei ihm spie
nach zu Unrecht vergessenen Autor wieder ins Licht zu
len sollte, und dass er sich May und seinem Werk ein
ziehen, wurde erst 1958 veröffentlicht und fand nur wenig
zweites Mal als Analysierender genähert hat.
Resonanz. Von verschollenen Schriftstellern des 18. und
Einen anderen Weg, der Literatur zu dienen, ohne selbst
19. Jahrhunderts handeln dann später auch die meisten
welche zu verfassen, hat Schmidt ebenfalls beschritten:
von Schmidts Rundfunkprogrammen, aber dort trieb er
Er übersetzte. Bereits 1946 hatte er Edgar Allan Poes
• SELBST WENN SIE EIN BÜCHERFRESSER SIND ...«
58 Glaspokal mit eingravierten Jagdszenen. Geschenk Friedrichs des Großen an den General Henry Auguste Fouque im Jahr 1763.
The hall of the House of Usher ins Deutsche gebracht,
ihm eine grobe Karte: Er fühlte sich durch den Ton ver
nur für sich, ehe er ab 1952 begann, als Brotarbeit zeit
letzt. Über den von ihm sehr geschätzten Hans Henny
genössischer Romane zu übertragen. Bis Schmidt es sich
Jahnn wollte Schmidt 1961 einen Radio-Essay verfassen,
aussuchen konnte, welche Autoren er ins Deutsche über
brach diesen Versuch aber bald ab.
tragen wollte, verstrich noch mehr Zeit: In den 60er Jah
Ein merkwürdiger Club der toten Dichter also, den
ren kehrte er zu Poe zurück, Bidwer-Lytton und Cooper
Schmidt in seiner Bibliothek, in seinem privaten Kosmos
sollten folgen. Joyce lernte er erst spät kennen, Mitte der
versammelte. Die einfachste Erklärung dafür, dass ver
fünfziger Jahre, dann aber intensiv. Er beschäftigte sich
ehrte Kollegen tot sein müssen, Konkurrenz und Neid
mit den Möglichkeiten einer Übersetzung von Finnegans
gefühle, ist nicht unbedingt falsch, aber sie trifft auch
Wake, er übertrug zwei Bücher von Stanislaus Joyce über
wiederum nicht ganz zu. Es gebe »zwei Klassen von Bü
seinen Bruder James für den Suhrkamp Verlag, und er
chern, die uns umwerfen«, schreibt Schmidt in Herrn
suchte nach einem »Schlüssel« zu Finnegans Wake, den
Schnabels Spur [BA 11,1,239]: Zur ersten Kategorie gehören
er im Konflikt zwischen den Brüdern Joyce gefunden zu
Bücher, die in Sprache und Schilderung so vollkommen
haben glaubte. Im Zuge dieser Untersuchung analysierte
sind, dass sie der eigenen Existenz eine weitere hinzu
er die Joyce’schen Wortneuschöpfungen und fand dabei
fügen. Die zweite Kategorie besteht aus Büchern, die
für seine eigene Literatur neue Möglichkeiten, Worten
den Leser unwiderstehlich zwingen, die eigene Substanz,
durch Verschreibungen mehrfache Bedeutungen zu un
den eigenen Bildervorrat dazuzugeben. Als Beispiel für
terlegen.
die zweite Kategorie nennt Schmidt Die Insel Felsenburg-,
Schmidts bücherfresserische Liebe aber galt den Autoren
und viele von Schmidt geliebte und nicht nur geschätzte
vergangener Jahrhunderte. Die wenigen Versuche, sich
Bücher gehören für ihn zu dieser Kategorie - sie bieten
verehrend oder schreibend lebenden Schriftstellern zu
Spielraum für seine eigene Phantasie. Doch für beide
nähern, scheiterten. An Hermann Hesse hatte Schmidt
Arten umwerfender Bücher eignen sich die Werke besser,
als junger Mann um 1934 verehrende Gedichte geschickt,
die weniger von der eigenen Gegenwart und Lebens
die freundlich, aber reserviert beantwortet wurden - als
wirklichkeit affiziert sind. Schmidts Bibliothek
Hesse dann eine wohlwollende, ein wenig gönnerhafte
zeichnis
findet
sich
[ein Ver
unter www.arno-schmidt-stiftung.de]
weist
Rezension von Schmidts erster Veröffentlichung Levia
hauptsächlich Autoren des achtzehnten und neunzehnten
than 1949 an seine Freunde verschickte, schrieb Schmidt
Jahrhunderts auf. Über die Größe der ersten, bei der
■ SELBST WENN SIE EIN BÜCHERFRESSER SIND ..
59 Antwortpostkarten aus verschiedenen Archiven an Arno Schmidt. Um 1950.
96
97
Flucht aus Schlesien weitgehend verlorenen Biblio
Dickens, Scott, und Verne dominieren, aber natürlich
thek ist wenig bekannt. Aus den Tagebüchern, die Alice
sind auch Wieland, Herder und Goethe vertreten, ebenso
Schmidt ab 1948 führte, geht hervor, dass Schmidts sich in
wie Döblin, Kafka, Werfel, Joyce und Jahnn. Den größten
der Nachkriegszeit die Bücher vom Munde absparten.
Platz nimmt allerdings unangefochten das Werk Karl
Vom wenigen Geld, das durch den Verkauf von Waren aus
Mays ein, in diversen Ausgaben, einschließlich zahl
Carepaketen in die Haushaltskasse kam, wurde immer
reicher Jahrgänge des Deutschen Hausschatzes, in dem
etwas für Bücher beiseite gelegt. Und solange Schmidt
May publizierte. Nachschlagewerke und Wörterbücher
noch beim Bowohlt Verlag unter Vertrag war, ließ er sich
aller Art, historische Bände wie die »Staatshandbücher«
kostenlos alle Neuerscheinungen schicken, um sie gegen
und Werke zur historischen Astronomie komplettieren
ältere, ihm wichtigere Bücher einzutauschen. Auch Dou-
das Bild einer Bibliothek, die zweierlei war - Arbeits
bletten tauschte das Ehepaar Schmidt, zum Beispiel in
mittel eines Schriftstellers und Sammlung eines begierig
Benefeld beim örtlichen Elektriker: »Auf seinem Schreib
und immer sehnsüchtig Lesenden.
tisch sehe ich einige Cooper-Bände. Er hat sie nur als Briefbeschwerer. Ist so was möglich? Biete ihm Tausch an gegen 6 andere Bände. Er ist sofort einverstanden. Eine Schreibmaschine hat er auch. Über ne evtl, mal Pumpung
50
ALICE SCHMIDT: Tagebuch 1956 Manuskriptbuch mit Beilagen (21,5 x 16,5 x 5 cm)
ließe sich reden. - A|rno| über die Cooper-Bände hin. [...] Cooper-Bd. sind: >Der Pfadfinder« >Der Mohikaner«
Von Alice Schmidt haben sich Tagebücher von 1948 bis
>Die Prairie« >Grenzbewohner< »Lionel Lincoln« »Die Was
1956 und von 1965 bis zu ihrem Tod erhalten. Gelegent
sernixe« Kriegt dafür 6 vom doppelten Wieland.«
[Tagebuch
lich dokumentierte sie darin auch ihre Arbeit als Assi
Besuche in größeren Städten
stentin ihres Mannes: Da Arno Schmidt den Roman Die
führten Schmidts stets auch in Antiquariate, und so kam
Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel zunächst
eine Bibliothek zustande, die bei Arno Schmidts Tod etwa
nur in einer von Ludwig Tieck bearbeiteten Fassung
7000 Bände umfasste. Deutsche und englische Romane
besaß, entlieh er die ungekürzte Ausgabe in der Darm
des 19. Jahrhunderts, Autoren wie Hackländer, Auerbach,
städter Bibliothek. Alice Schmidt tippte seine Exzerpte ins
Spielhagen, Fouque, Gutzkow, Heyse, Jensen, Lafon
Reine, die dann Schmidts Exemplar des Romans zur Ver
taine, Schefer, Spindler, Bulwer-Lytton, Cooper, Haggard,
vollständigung beigegeben wurden. Zwei verschnittene
Alice Schmidt vom 21.11.1949.]
• SELBST WENN SIE EIN BÜCHERFRESSER SIND ....
60 Jules Verne: Reise zum Mittelpunkt der Erde (ohne Jahr).
Seiten klebte sie als Dokumentation ihrer Tätigkeit in das
53
Tagebuch ein.
ARNO SCHMIDT: Efeublatt von Wielands Grab Montiert mit einem Foto des Grabes in Oßmannstedt bei Weimar. Collage (13,8 x 9,1 cm)
51
ARNO SCHMIDT: Kassette mit Ergänzungen zur
Bei einem Besuch in Oßmannstedt, Wielands ehemaligem
gekürzten Fassung des Romans "Die Insel Felsenburg«
Landgut, im Mai 1939 pflückten Arno und Alice Schmidt
(14,5 x io,g x 27 cm)
ein Efeublatt von Wielands Grab. Schmidt montierte es mit einem Foto vom Grab und bewahrte dieses Erinne
Die typoskribierten Exzerpte, die seine Ausgabe ergänz
rungsstück bei seiner Wieland-Ausgabe auf.
ten, fasste Arno Schmidt in einer Kassette zusammen, die er in der Aufmachung seiner Ausgabe anpasste. 54
CHRISTOPH MARTIN WIELAND: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva
52
Leipzig 1855 (15,4 x 11,5 x 3 cm)
ARNO SCHMIDT: Karte der Insel Felsenburg Tinte und Tusche auf Papier (15,3 x 21 cm)
Aus dem Besitz Arno Schmidts, mit Besitzvermerk: »die ln der von Ludwig Tieck bearbeiteten Fassung des Ro
ses Buch habe ich fast den ganzen Krieg hindurch - (z. B.
mans fehlt auch die Karte der Insel, die Arno Schmidt
im Elsaß; in Norwegen) - bei mir gehabt. Arno Schmidt«
nach dem Bibliotheksexemplar am 26. März 1956 zeich nete und seinem Exemplar beilegte. 55
ARNO SCHMIDT: Nennhausen von der Gartenseite Zeichnung. Bleistift auf Pauspapier. Undatiert (8,9 x 11,5 cm)
Die undatierte Zeichnung von Arno Schmidt zeigt das Schloss Nennhausen, den langjährigen Wohnsitz (18031833) Friedrich de la Motte-Fouques. Vermutlich wurde sie von einer unbekannten Vorlage abgepaust.
»SELBST WENN SIE EIN BÜCHERFRESSER SIND ....
Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik (1957). Erste Seite des Manuskripts.
61
56
ARNO SCHMIDT: Biografische Karte zum Leben Fouquös
Er kam als Geschenk der Familie Fouque in den Besitz
Zeichnung, Bleistift und bunte Tinte auf Papier. 1949
Arno Schmidts. Während der Arbeit an der Biografie Fou
(21 x 25 cm)
ques nahm Schmidt Kontakt zu den Nachfahren Fouques auf, die noch über zahlreiche Handschriften und Briefe
Während der Recherche zu seiner Fouque-Biografie fer
des Dichters verfügten, die sie dem Autor für seine Arbeit
tigte Schmidt diese grafische Darstellung der Reisen und
übergaben.
Lebensstationen Fouqes an. 59 57
CLAS JOHAN LIVIJN: Pique-Dame. Berichte aus dem Irrenhause, in Briefen. Nach dem Schwedischen
Stapel mit Antwortpostkarten aus verschiedenen Archiven an Arno Schmidt Um 1950 (10,5 x 14,9 cm)
von L. M.Fouquö Berlin 1826
Schmidt versuchte, die meisten genealogischen und bio
Dem Exemplar aus Arno Schmidts Besitz liegt bei ein
grafischen Fragen zu Friedrich de la Motte Fouqué und
Leihschein der Osloer Universitätsbibliothek über die
den Aufbewahrungsort ungedruckter Materialien posta
gesammelten Schriften Livijns vom 19. Januar 1945, die
lisch zu klären. Die dafür oft von kirchlichen Stellen ver
Arno Schmidt während seiner Soldatenzeit in Norwegen
langten Gebühren konnte er sich jedoch nicht leisten. Zu
einsah. Ebenfalls von 1945 stammen die beiliegenden
oberst auf dem Stapel liegt die ablehnende Antwort auf
handschriftlichen Aufzeichnungen Schmidts zu Livijn.
eine Kirchenbuchanfrage mit handschriftlichem Kom mentar Arno Schmidts: »Für die Nachwelt: Ich konnte die von einem Pastor i. R.
58
Glaspokal mit eingravierten Jagdszenen Hersteller unbekannt. Undatiert (34 x 22 cm)
Der Glaspokal war ein Geschenk Friedrichs des Großen an den General Henry Auguste Fouque, den Großvater des Dichters Friedrich de la Motte Fouque, im Jahr 1763.
GARVE
für eine Auskunft geforder
ten 1.50 nicht bezahlen! Écrasez l’infame! Sch.«
ARNO SCHMIDT? - ALLERDINGS!
Arno Schmidt: Zeichnung einer stilisierten Landschaft zum Werk Karl Mays. Um 1962.
62
Arno Schmidt: Zeichnung einer stilisierten Landschaft zum Werk Adalbert Stifters. Um 1962.
64 Sascha Schneider: Winnetou. Aus: Empor zum Lichtl Zeichnungen zu Karl May’s Werken. Radebeul 1924.
63
Bravo. Jugendzeitschrift. Umschlag der Ausgabe 12/1964. 65
66 Seiten: Karl May: »Wir müssen durch Autograph Karl Mays. Undatiert. 67 Karl May: »Laß auch die Seelen ...«. Autograph Karl Mays. Undatiert.
106
60
JULES VERNE: Reise zum Mittelpunkt der Erde
62
ARNO SCHMIDT: Zeichnung einer stilisierten Landschaft zum Werk Karl Mays
Ohne Jahr.
Tuschzeichnung. Um 1962 (14,8 x 20 cm)
Auf dem Nachsatz hat Schmidt notiert: »dieses Buch habe ich mir im Alter von 6 Jahren gekauft; und durch
Tuschzeichnung zu Schmidts Analyse der Werke Karl
alle Zerstörungen bis heute hindurch gerettet. 20. V. 1955
Mays, die er in dem umfangreichen Werk Sitara und der
Arno Schmidt. Mehrfach erwähnt in meinen Büchern.
Weg dorthin (1963) darlegt. Schmidt meinte, in Karl Mays
i.X. 71 Sch.«
Landschaften Organabbildungen erkannt zu haben, die auf seiner latenten Homosexualität beruhen, und führte dies in einer Beispielzeichnung vor.
61
ARNO SCHMIDT: Die Gelehrtenrepublik Erste Seite des Manuskripts, Bleistift auf Papier mit aufgeklebten Materialien. 1957 (29,5 x 20 cm)
63
ARNO SCHMIDT: Zeichnung einer stilisierten Landschaft zum Werk Adalbert Stifters
Die Gelehrtenrepublik in Arno Schmidts Roman ist auf
Tuschzeichnung. Um 1962 (14,8 x 20 cm)
einer künstlichen Insel angesiedelt. Dieses Motiv hatte Schmidt aus Jules Vernes Propeller-Insel übernommen.
In einem Nachsatz zu Sitara führt Arno Schmidt einiges
Erkennbar ist hier die über die Jahre zunehmende Wich
zur Landschaftsgestaltung Stifters im Gegensatz zu Karl
tigkeit von Bildvorlagen und (oft selbst gezeichneten)
May aus. Schmidt erkannte hier eher weibliche Land
Karten für die Entstehung der Schmidt’schen Werke.
schaften, die er mit dieser Zeichnung stilisiert wiedergibt.
• SELBST WENN SIE EIN BÜCHERFRESSER SIND . •
11
64
SASCHA SCHNEIDER: Winnetou
dabei die trüben Wasser spritzen, / So jammern über
Druck. Aus: Empor zum Licht! Zeichnungen zu
unsre Missethaten / Die Frösche alle, die im Schlamme
Karl May’s Werken. Radebeul 1924 (30 x 22 cm)
sitzen!«
Aus dem Besitz Arno Schmidts. Der Künstler Sascha Schneider (1870- 1927) gestaltete diverse Titelbilder für
67
KARL MAY: »Laß auch die Seelen ...«
May-Bände, die Schmidt nur als ein Beleg mehr für die
Autograph Karl Mays, Tinte auf Papier, mit Plastikfolie
homosexuelle Tendenz der Werke erschienen.
überzogen. Undatiert (11 x 14,4 cm)
Aus dem Besitz Arno Schmidts. Der Vierzeiler lautet: »Laß 65
Bravo
auch die Seelen, nicht nur die Gestalten, / Aus meiner
Titelblatt der Ausgabe 12/1964 (28 x 21 cm)
Welt an dir vorübergleiten, / So wird vor dir die Bühne sich entfalten. / Auf der die Menschen zur Vollendung
Aus dem Besitz Arno Schmidts. Der auf dem Umschlag
schreiten«.
der Jugendzeitschrift abgebildete Schauspieler Pierre Brice feierte in den May-Verfilmungen der 60er Jahre als Winnetou seine großen Erfolge. Schmidts Materialsamm
68
Ireland-Guide
lung zu Autoren, über die er arbeitete, umfasste auch
Published by Fogra Failte, thc National Tourist Publicity
Curiosa.
Organisation for Ireland. 2nJa, du!« sagte sie und drückte meine hände.« [BA 1,4,212.] Mehr >passiert< in keinem der ganz frühen Texte, und noch 1948, als Schmidt ür einen edel gearteten Jüngling gibt es ja
in Gadir zwei unbedeutenden Nebenfiguren den ersten
zunächst gar nichts Widerlicheres als die
Koitus in seinem Werk gestattet, lässt er seinen Ich-Erzäh
F
Vorstellung der Manipulationen, unter welchen man Vater
ler dezent wegschauen und also das Geschehen auch
zu werden pflegt« schreibt Schmidt in einem der fiktiven
nicht schildern, vielmehr hinterher den jungen Mann er
Briefe seiner Wundertüte von 1948 [BA 111,3,59] und pointiert
mahnen: »Was über den KuB hinausgeht ist vom Übel.«
damit die blutarmen, meist die Grenze zum Kitsch über
[BA 1,1,71.]
schreitenden wenigen Liebesszenen seiner vor 1945 ge
Im frühen Arno Schmidt deshalb eine Art naiven Parzi-
schriebenen Juvenilia. Der erste Kuss in seinem Werk
val zu sehen, der mit Sexualität noch nie in Berührung
zum Beispiel geht, 1937 in Die Insel, so: »Sie sass ganz dicht
gekommen ist, wäre aber verfehlt. Durch sein Werk ziehen
neben mir und atmete leicht; als sie mein Stillschweigen
sich immer wieder Klagen über den in Gegenwart seiner
bemerkte wandte sie langsam den köpf zu mir, und sah
Kinder zotenden und bei sexuell-skatologischen Themen
mich an. Ich fasste nach ihrer band; dann sassen wir und
kein Blatt vor den Mund nehmenden Vater: der sei als
schwiegen. Eine zeile aus der commedia divina blitzte mir
Hamburger Polizist »stets umgeben von Huren und Was
durch den köpf >quel giorno piu non vi leggemmo avante«,
serleichen« gewesen« [BA 1,2,26], habe ihn als Kind in
das ewige gleiche Schicksal der liebenden. Lange sahen
Nachtlokale und ins FKK-Bad geführt und Kollegen mit
wir uns an, bis ich endlich heiser ein >Du!< flüsterte. Sie
nach Hause gebracht, die den Partnertausch zumindest
nahm meine hand in die ihrigen und sah unruhig umher,
propagiert hätten
dann lächelte sie mich an und ich legte ihren köpf an
Frankfurt a. M.
meine Schulter. Sie schloss die äugen und drückte sich ein
Mutter einmal beim Sex mit einem anderen Mann beob-
[Ernst Krawehl (Hrsg.), Porträt einer Klasse,
1982, passim]; auch habe Schmidt als Kind seine
.EINE ART PORNOGRAFISCHES LACHKABINETT.
70 Erste Seite der Anzeige des Kölner Rechtsanwalts Weimann gegen Arno Schmidt vom 18. April 1955.
achtet und eine Tante gehabt, die ihn in eine Nackt-Revue
In den Erzählungen und Kurzromanen bis Ende 1952
mitgenommen habe
1937 berichtet er dem
findet Sexualität nur in Andeutungen und Auslassungen,
Schulfreund Heinz Jerofsky aus der Textilfabrik, in der er
gewissermaßen zwischen den Zeilen statt. Im Dezember
[ebd., S. 162].
arbeitet: »Wenn ich die Tür zum Schreibmaschinenzim
1952 dann schreibt er in den ersten Teil seines RomansAus
mer öffne, kann ich mir anhand des Geruches 11 deutlich
dem Leben eines Fauns das Programm ein, das ihn die
von einander gesonderter weiblicher Monatsflüsse den
nächsten Jahre zu einer Darstellung von Sexualität befähi
Begriff der homerischen »balsamischen Luft« veranschau
gen wird: »Jeder Schriftsteller sollte die Nessel Wirklich
lichen.« Mit einem Arbeitskollegen verdrehe er in der
keit fest anfassen; und uns Alles zeigen: die schwarze
Pause Wörter: »Eben hat er aus Fiesco - so e fic gemacht.«
schmierige Wurzel; den giftgrünen Natternstengel; die
(»Wu Hi?«. Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg, hrsg. von Jan
prahlende Blume(nbüchse).« [BA 1,1,317] Seine Wandlung
Philipp Reemtsmaund Bernd Rauschenbach, Zürich 1986, S.70f.]
vom Vertreter ätherischer »boyish poet=love« [BA 11,1,281]
Drei Jahre danach erfuhr Schmidt »diese himmelschrei
zum verfolgten Pornographen geht schneller als bei Chri
ende Hitler=Militärrealität, mit Entlausung, Schwanz
stoph Martin Wieland, einem seiner literarischen Haus
parade, Hinlegenaufmarschmarsch!«
11,1,326], aus der
götter: Schon für seine nächste Erzählung, die im Sommer
er eine Frau in Aus dem Leben eines Fauns berichten
'953 geschriebene Seelandschaft mit Pocahontas erhält
lässt: »Die lassen ner Frau ja nich eher Ruhe, bis sie sich
er Anzeigen wegen Verbreitung von Pornographie und
hergegeben hat. Das ganze Offiziersgesindel. Und Zahl
Gotteslästerung (wovon noch zu sprechen sein wird).
[BA
meisterpack. Rennst die Schweine ja. Warst ja auch lange
Bis Arno Schmidt um i960 daran geht, seine Begegnung
genug Soldat.«
Bedenkt man, dass Schmidt
mit den Schriften Sigmund Freuds zu verarbeiten, behält
nahezu alle seine asexuellen Juvenilia in der »»Schule der
er die so plötzlich gefundene Form seiner Schilderungen
Mannheit«, wie sich der Saustall Militär unter anderem
des Sexualakts bei. Sie zeichnet sich aus durch eine relativ
auch zu nennen beliebt«
[BA 1,1,388.]
geschrieben hat, muss
große Explizitheit, die aber immer wieder durch eine
man sie auch lesen als Protest und Gegenentwurf zu der
expressionistische Wortwahl und Syntax abgemildert bzw.
ihn umgebenden zotig-sexualisierten Welt des Militärs,
getarnt wird; die »Stellen« wirken meist nahezu emotions
die sich ihm bereits in seinem Vater, einem ehemaligen
frei und, obwohl stets ein Ich-Erzähler spricht, unbetei
Berufssoldaten, und in der vor allem Uniformen herstel
ligt-nervös, technisch-oberflächlich, ja arbeitsam-pflicht
lenden Textilfabrik angekündigt hatte.
bewußt. »Die Schlangentochter: wir würgten unsere
[BA 111,359]
»EINE ART PORNOGRAFISCHES LACHKABINETT«
71 Auszug aus der Anzeige des Kölner Rechtsanwalts Weimann gegen Arno Schmidt vom 18. April 1955, mit einer Auflistung religionskritischer Bemerkungen aus der Erzählung
fleckigen Häute, hupten an schönen Beulen und langen
zur Schilderung von tatsächlicher Sexualität kommt, die
Wülsten, überall: war sie starker Locken voll, schlitze-um-
sexuelle Explizitheit seiner Sprache noch einmal steigern
gafft, die schnalzten. (Ich nahm eine Brust und küßte sie,
- und im Spätwerk hat sie denn auch einen in der deut
bis die Spitze wie ein Fingerhut war). / Im Wassersturz
schen Literatur bis dahin unbekannten Grad erreicht.
ihrer Hände: sie rüttelte schaudernd einen rosaviolet
Gleichzeitig senkt Schmidt den Grad der Involviertheit
ten Zapfen (während ich ihre weißbreite Verwirrung
noch einmal beträchtlich: Ab Kühe in Halbtrauer ist kein
betastete): »Ku’mma: der s-piegelt richtich« (and she had
Ich-Erzähler mehr an den Sexualakten beteiligt, sie wer
the finest fingers for the backlill hetween Berwick and Car-
den nur noch aus der Perspektive des Voyeurs gezeigt.
lisle). / Schnallten wir uns also mit Armen aneinander,
Hinzu kommt eine Komponente, die in Schmidts Texten
setzten die Saugnäpfe fest (und ihre Beine langten ge
der fünfziger Jahre nur sehr gelegentlich eine Rolle
steinerne Herz,
spielte: die »schmierige Wurzel« der »Nessel Wirklich
BA 1,2,49 ] Aus der Gefühlswelt der Akteure bleibt der Leser
keit«. Seinen »Abscheu vor dem Organischen« [BA 1,1,229]
ausgesperrt.
hatte Schmidt schon früh verkündet, doch zum gewalti
Ab den sechziger Jahren beginnt bei Schmidt - zuerst
gen und gewalttätigen Ausbruch gelangt dieser Abscheu
tastend in den ländlichen Kühe in Halbtrauer-EnäMun-
erst im Spätwerk, wo Schmidt keine der zahlreichen
gen, dann in den Typoskripten des Spätwerks immer
Gelegenheiten auslässt, olfaktorisch unerfreuliche Be
raumgreifender - eine Durchsexualisierung von Sprache,
gleitumstände des Sexualakts in obsessiver und nicht
Handlung und Welt. Ausgehend von Freuds Traumdeu
immer wiederholungsfreier Fülle auszubreiten. Die beim
tung und der Psychopathologie des Alltagslebens überzieht
Akt notorisch beteiligten Körpersäfte und Hormonaus
Schmidt seine Texte mit einem Netz von dudenwidrigen
schüttungen sieht er als einen von der Evolution ver
Ver- und Andersschreibungen, mit denen er sexuelle
gessenen animalischen Rest »Urväterhausrats« des Men
Anspielungen und Doppeldeutigkeiten aus dem unbe
schen an [BA 111,4,109]. Schmidts Menschenbild - »Gemisch
wussten seiner Figuren (das natürlich ein bewusstes Kon
aus Scheiße und Mondschein« [BA 1,2,200] - resultiert aus
strukt ihres Autors ist) und seiner Leser hervorrufen will.
»einer >SchöpfungHarnröhren< anzulegen, und sie zusätzlich noch
melskörper sexualisiert werden, muss Schmidt, wenn es
ausgerechnet am Popo zu befestigen!« [BA 111,4,109.]
»EINE ART PORNOGRAFISCHES LACHKABINETT.
72 Auszug aus der Anzeige des Kölner Rechtsanwalts Weimann gegen Arno Schmidt vom 18. April 1955.
Dem Leser werden diese Sicht der Sexualität und die un
Sexualität im Frühwerk. Negierung und Hypertrophie
zähligen Bilder, die der Autor dafür findet, nur erträglich
rung der Sexualität haben bei Schmidt eine Quelle: seine
(wenn überhaupt!) durch den gerade in den drastisch
von Jugendzeiten an gehegte schopenhauerisch-bud-
sten Szenen immer wieder durchschlagenden Humor, der
dhistische Einsicht, die Welt sei etwas, das besser nicht sei.
in der Tradition eines Aristophanes, Rabelais, Fischart,
[BA 1,1,48.] Negierung und den Abscheu vor dem Organi
Sterne und Joyce steht. Ein Humor, von dem Schmidt be
schen herauskehrende Hypertrophierung der Sexualität
hauptet, er könne sich erst in dem Alter herausbilden, in
wurzeln bei Schmidt in der Erkenntnis, dass Sexualität
dem die sexuelle Aktivität nachlasse und erste Impotenz
die List des leviathanischen Schöpfers sei, die Perpetuie-
erscheinungen auftreten: »im Alter handelt sich’s sowieso
rung seiner Schöpfung zu garantieren - einer Schöpfung,
nur noch um eine Art pornografischen Lachkabinetts.«
deren »Weltmechanismen: Fressen und Geilheit. Wu
[BA 1,3,315.] Schmidt ging in Zettel’s Traum so weit, für die
chern und Ersticken« [BA 1,1,48] sind. Sexuelle Enthalt
sen von ihm behaupteten Alters-Sinn für sexuelle Komik
samkeit im Frühwerk und totale Libertinage im Spätwerk
den Rang einer »vierten Instanz« (neben den drei klassi
ignorieren beide den Zwang des Bios zur Selbstreproduk
schen Instanzen Freuds) einzufordern. Wie ernst er die
tion und sind somit beide Protest und Misstrauensvotum
Entdeckung dieser Instanz wirklich nahm, ist allerdings
gegen Schöpfer und Schöpfung: »Ich?: Atheist, allerdings!:
fraglich angesichts ihrer durchaus auch parodistische
Wie jeder anständige Mensch!« bekennt der Ich-Erzähler
Züge annehmenden Verwendung in den Büchern nach
in Seelandschaft mit Pocahontas [BA 1,1,418].
Zettel’s Traum.
Von diesem philosophisch begründeten Konnex zwi
Sucht man bei Schmidt nach einer Gemeinsamkeit zwi
schen Sexualität und Atheismus ahnen die rechtskatholi
schen den sexuellen >Stellen< im Spätwerk und denen im
schen Kreise, die in einer offenbar konzertierten Aktion
Werk der fünfziger Jahre, so wird man ein durchgängiges
im Frühjahr 195g Arno Schmidt wegen Gotteslästerung
Fehlen von Lust feststellen müssen. Und damit fehlt wohl
und Verbreitung von Pornographie vor Gericht bringen
auch das Hauptindiz für das Vorliegen von Pornographie,
wollten, nichts. Im Februar 1955 erscheint im Berliner
die ja Erregung von Lust bei ihren Rezipienten zum Ziel
Luchterhand Verlag die erste Nummer der von Alfred
hat. - Der Verdacht liegt nahe, die offensiv herausge
Andersch herausgegebenen Literaturzeitschrift Texte
stellte Sexualität des Spätwerks sei kaum anderes als die
und Zeichen, darin als Haupttext die Erstveröffentlichung
Hohlform, die Kehrseite der völligen Abwesenheit von
von Schmidts Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas.
.EINE ART PORNOGRAPHISCHES LACHKABINETT.
73 Erste Seite des Protokolls der Vernehmung Arno Schmidts beim Amtsgericht Saarburg am 22. August 1955.
Am 2g. Februar iggg schreibt Alfred Anderseh an Arno
Archiv Marbach bekundet sein Interesse, Schmidts
Schmidt: »Einige christliche Buchhändler im Rheinland
Sammlung von Fouque-Handschriften anzukaufen und
sind über die Pocahontas aus dem Häuschen geraten. Die
hilft damit ein wenig, die in den fünfziger Jahren stets pre
Seite 11 vor allem hat es ihnen angetan. Sie scheuen sich
käre Finanzlage Schmidts aufzubessern - doch gewichti
auch gar nicht vor netten kleinen Boykott-Drohungen. [...]
ger ist der zweite Brief, in dem Alfred Andersch Schmidt
In ein paar Zeitungen haben auch ein paar Nazis ent
davon unterrichtet, »daß bei der Berliner Staatsanwalt
sprechend reagiert.« [BWA, S. 48.] Am 1. März antwortet ihm
schaft (Gerichtsstand für .Texte und Zeichen« ist Berlin)
Schmidt: »Daß Christen und Nazis, also Thron & Altar, auf
eine Anzeige gegen »Texte und Zeichen«/Arno Schmidt
die >Seelandschatt< schimpfen, habe ich nicht anders er
wegen Verletzung religiöser und sonstiger Empfindungen
wartet : da müßte ich auch merkwürdiges Zeug geschrie
durch »Seelandschaft mit Pocahontas« eingegangen ist.
ben haben, um aus der Ecke Applaus zu erhalten! - Der
Die Berliner Staatsanwaltschaft prüft gegenwärtig, ob
angedrohte Boykott dagegen ist geschäftlich durchaus
eine Anklageerhebung möglich ist, und vernimmt zu
ernst zu nehmen. Wenn sich in den nächsten Monaten
diesem Zweck zunächst am 10. Juni den Verleger. Im Falle
laut
eines Prozesses werden natürlich Sie und ich die Ver
Bundestagsbeschluß programmäßig erst wieder
.die Germanen erheben«, (und >der Erdball erbeben« wird,
antwortlichen sein - ins Gefängnis muß wahrscheinlich
wie der stolze Kriegsreim lautete), sehe ich mit hölli
ich gehen.« [BWA, S. 54.] Schmidts erste Reaktion, im Tage
schem Amüsement dem Schlimmsten entgegen.« [Ebd.,
buch seiner Frau überliefert, ist eine ratlose Mischung aus
S. 49.] Am 18. April kündigt Andersch an, er werde Schmidt
Panik und Verzweiflung, zumal im Radio gerade die Mel
demnächst eine Dokumentation der Reaktionen auf die
dung kommt, ein kommunistischer Jugendlicher habe in
Seelandschaft schicken: »Es ist unglaublich, wie sich der
der
faschistische Flügel des Katholizismus daran entlarvt hat!
Was tun, was tun? Fliehen? Zunächst Arno? Ostzone?
Für mich persönlich eine geradezu unschätzbare Erfah
Wohin sonst? Ostzone sicher auch kein ideales Leben.
rung!« [Ebd., S.53.] Da Schmidt es aber wie stets ablehnt,
Polit. Asyl würde er da sicher kriegen. Aber dann müßte er
Kritiken und Rezensionen zur Kenntnis zu nehmen, unter
in deren Sinn weiter schreiben u. wäre völlig in ihrer
BRD
g Jahre Zuchthaus erhalten: »Um Gotteswillen!
bleibt die Zusendung. Am 4. Juni 1955 kommt es mit dem
Hand. Beide russisch lernen? Ich sage A: Dein jetziges
Eintreffen zweier Briefe bei Schmidts »knüppeldick« (wie
»Vergehn« war deine volle Überzeugung. Und die war rein
Alice Schmidt in ihrem Tagebuch schreibt). Das Schiller-
und gut. Kannst du im Osten aber nach deiner reinen
.EINE ART PORNOGRAFISCHES LACHKABINETT.
74 Auszug aus dem Protokoll der Vernehmung Arno Schmidts beim Amtsgericht Saarburg am 22. August 1955.
Überzeugung schreiben? U. dann wiederum evtl, später
ten) Seite 11: »Die Bibel: iss für mich n unordentliches
zur Verantwortung gezogen werden für etwas Geschrie
Buch mit goooo Textvarianten. Alt und buntscheckig
benes was nicht deine volle Überzeugung war?? - Ja aber
genug, Liebeslyrik, Anekdoten, das ist der Ana der in der
was tun. Sie sperren einen ganz kalt ein. Siehe Fall Amon
Wüste die warmen Quellen fand, politische Rezeptur; und
horst. - Andersch verduftet notfalls auch schnell. Doch
natürlich ewig merkwürdig durch den Einfluß, den es
erst Schweiz versuchen. Da könnte man dann notfalls
dank geschickter skrupelloser Propaganda und vor allem
über Österreich z. Ostzone. In allen Fällen aber erst
durch gemeinsten äußerlichen Zwang, compelle intrare,
nur als Besuchsreise bis evtl. Anklageerhebung, daß man
gehabt hat. Der >Herr«, ohne dessen Willen kein Sperling
sofort zck. könnte, u. ich warte hier ab. - Erst noch rasch
vom Dache fällt oder 10 Millionen im KZ vergast werden:
in Marbach Handschriften verkaufen; zu Andersch fahren,
das müßte schon ne merkwürdige Type sein - wenn’s
dann zunächst nach Schweiz abhauen. A.: >Furchtbar wird
ihn jetzt gäbe!« [BA 1,1,393] Als Beweis für den porno
das. Was soll ich denn in der Schweiz? Und die liefert mich
graphischen Charakter des Textes genügen dem ersten
dann schließlich doch aus. Andersch scheint dableiben
anzeigenden Rechtsanwalt Stellen wie: »>Lauf brünieren
zu wollen. Der war schon mal im KZ. Dem ist Gefängnis
lassen, daß a nich in der Sonne blitzt!« fügte er, alter
nichts weiter. Der soll zum Dank dafür, daß er sich so für
Frontsoldat, hinzu, und zog die Badehose noch tiefer,
mich eingesetzt hat, ins Gefängnis? U. wenn ich nicht bei
wahrscheinlich um keinerlei Zweifel aufkommen zu las
der Verhandlung zugegen bin, erfolgt ganz bestimmt Ver
sen, daß er männlichen Geschlechtes sei.« [BA 1,1,401.] Oder:
urteilung. Und das alles wegen meiner großen Schnauze.
»... dann standen sie förmlich Spalier vor Neugierde, eine
Hätte ich nicht vorsichtiger schreiben können? Und dich
steckte sofort den Kopf unter Selmas Rock, daß ich ent
reite ich nun noch mit rein. Du hättest ein besseres Los
rüstet pustete: das überlaß ma in Zukunft gefälligst mir,
verdient.««
werter Luteolus!« - Dass es sich bei den Neugierigen
Im April 195g sind in der Tat die Strafanzeigen zweier
um Ringelblumen handelt, unterschlägt der Anzeigende
Kölner Rechtsanwälte beim Oberstaatsanwalt am Land
allerdings [BA 1,1,412]. Der zweite anzeigende Anwalt stützt
gericht Berlin eingegangen. Sie empören sich besonders
sich bei seinem Vorwurf der Gotteslästerung auf die glei
über bibel- und kirchenkritische Stellen in der Seeland
chen Stellen wie der erste, bringt aber für den Vorwurf
schaft und zitieren als Beleg zum Beispiel aus der (bereits
der Pornographie überhaupt keine Zitate, sondern ver
von Andersch in seinem oben genannten Brief erwähn
weist »auf den Aufsatz als ganzen, insbesondere auf die
»EINE ART PORNOGRAPHISCHES LACHKABINETT«
75 Auszug aus dem Protokoll der Vernehmung Arno Schmidts beim Amtsgericht Saarburg am 22. August 1955.
122
Darstellungen Seite 17, 20, 34 und andere. Gerade im
Eine etwa mögliche Strafverfolgung dieses Schriftstellers
Zusammenhang mit diesen Ausführungen wird die Got
wegen aus dem Zusammenhang gerissenen Textstellen
teslästerung umso ekelhafter.«
[Jan Philipp Reemtsma/Georg
halte ich für eine Bedrohung der künstlerischen Freiheit.
1988,
Arno Schmidts Werk hat nichts zu tun mit jener billigen
S. 105.] Doch in Berlin wird die Sache offensichtlich anders
erotischen Literatur, die heute an jeder Strassenecke feil
Eyring (Hrsg.), In Sachen Arno Schmidt. Prozesse 1 & 2, Zürich
gewichtet als in Köln; bei den Akten gibt es diesen hand
geboten wird. Arno Schmidt kommt es in allen seinen
schriftlichen Vermerk des Oberstaatsanwalts: »Die von
Werken auf die Darstellung der Wahrheit an; um dieser
dem Anzeigenden vorgelegte Zeitschrift »Texte und Zei
Wahrheit willen kann er nicht auf gewisse Züge der Dar
chen« bringt in dem Beitrag von Arno Schmidt »See-
stellung verzichten, die vielleicht den einen oder anderen
landschaft mit Pocahontas« eine ganze Reihe von platten
Leser schockieren mögen. Ich halte Arno Schmidt für
Unanständigkeiten. Die Religionslästerungen sind in die
einen im höchsten Sinne moralischen Autor, der gerade
sem Zusammenhang offenbar nur zur Unterstreichung
mit Hilfe der Schockwirkung eine moralische Absicht
des unzüchtigen Gehalts der Abhandlung gedacht. Für
verfolgt. [...] Die meiner Ansicht nach wahrheitsgetreue
die Beurteilung, ob der >literarische Wert« die Abhandlung
Schilderung einer Wochenendfahrt, wie sie in »Seeland
über das Niveau einer unzüchtigen Schrift im Sinne des
schaft mit Pocahontas« vorliegt, ist eine erbitterte Zivilisa
§ 184 StGB, hinaushebt, ist die besondere Zuständigkeit
tionskritik, die den ausgesprochenen Zweck verfolgt, den
der Abt.V,i Unz. gegeben.« [Ebd., S.110.]
Leser zum Nachdenken über gewisse Schäden in unse
Am 7. Juli 1955 erklärt Alfred Andersch bei seiner gericht
rem Leben zu zwingen.« [Ebd., S. 124f.[
lichen Vernehmung: »Ich halte es für eine unzulässige
Auch Arno Schmidt wird vernommen. Am 22. August 1953
Methode, aus einem geschlossenen Kunstwerk derartige
sagt er vor dem Amtsgericht Saarburg aus, er habe eine
Einzelteile herauszugreifen und zu beurteilen. Die Er
beanstandete Liebesszene in der Seelandschaft »in einer
zählung von Arno Schmidt ist ein literarisches Kunst
künstlerisch hochwertigen, ja poetischen Form gebracht,
werk, das nur als Ganzes und unter dem Gesichtspunkt
und zwar so züchtig, wie derartige Dinge überhaupt,
des Künstlerischen beurteilt werden kann. Ich halte Arno
wenn sie schon geschildert werden, geschildert werden
Schmidt für einen der bedeutendsten modernen deut
können.« [Ebd., S. 130.] (Der Kuriosität halber sei hier er
schen Schriftsteller, der der deutschen Sprache fort
wähnt, dass Schmidt, als er von der Vernehmung nach
gesetzt neue Möglichkeiten des Ausdrucks aufschliesst.
Hause kommt, in der Post zu seiner Irritation ein vom
»EINE ART PORNOGRAFISCHES LACHKABINETT.
76 Gutachten Hermann Kasacks über Arno Schmidts Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas mit Anschreiben an den Stuttgarter Generalstaatsanwalt, 21. Juli 1956.
Rowohlt Verlag unverlangt zugesandtes Exemplar von
die Veröffentlichung in einer so anspruchsvollen Zeit
Henry Millers soeben auf Deutsch erschienenem Roman
schrift den in ähnlichen Fällen naheliegenden Verdacht
Plexus vorfindet - ein Buch, das in Millers Heimat
zerstreut, der Autor, der Herausgeber oder der Verleger
USA
bis
1965 wegen seiner sexuellen Freizügigkeit verboten ist.)
hätte aus merkantilen Gründen auf inferiore Instinkte der
Am 27. August 1955 wendet sich die Abteilung V, 1 Unz.
Leser spekuliert.« [Ebd., S. 134].
der Staatsanwaltschaft Berlin an die Abteilung Literatur
Die Abteilung >Unz.< der Berliner Staatsanwaltschaft
des Senators für Volksbildung: »Kann diesem Kurzroman
schließt sich diesem Gutachten an und stellt am 3. Okto
überhaupt ein literarischer Wert beigemessen werden?
ber 1953 das Verfahren wegen Verdachts der Verbreitung
Ich darf insoweit auf die Einlassungen der Beschuldigten
unzüchtiger Schriften ein. Für den Vorwurf der Gottes
Andersch und Schmidt hinweisen. Werden durch der
lästerung freilich ist sie nicht zuständig, und so wird die
artige Werke der deutschen Sprache fortgesetzt neue
Sache aus »Zweckmäßigkeitsgründen« am 11.Novem
Möglichkeiten des Ausdrucks aufgeschlossen« oder ver
ber an den für den Wohnsitz des Hauptbeschuldigten
birgt sich hinter der fehlenden Form die Möglichkeit, sich
Schmidt zuständigen Oberstaatsanwalt beim Landgericht
der deutschen Schriftsprache zu bedienen, [sic!] Kann
Trier überwiesen. Der aber erhebt am 3. März 1956 gegen
man ernsthaft davon sprechen, daß der Verfasser dieses
Schmidt und Andersch Anklage, dass sie nicht nur »öffent
Werkes die sexuellen Szenen >in einer künstlerisch hoch
lich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästerten, ein
wertigen, ja poetischen Form gebracht hatSeelandschaft mit Pocahontas< von Arno Schmidt
ten, die geeignet sei, »das Scham- und Sittlichkeitsgefühl
ist ein literarischer Wert nicht abzusprechen. [...] Daß der
gesund empfindender Menschen in geschlechtlicher Hin
deutschen Sprache durch diesen Kurzroman «neue Mög
sicht zu verletzen.« [Ebd., S. 146.] Das Ehepaar Schmidt
lichkeiten des Ausdrucks« erschlossen werden, ist eben
freilich hat längst seine panischen Fluchtpläne insoweit
falls einzuräumen.« Schmidts Ansicht, die fragliche Lie
realisiert, als es schon im September 1955 aus dem ka
besszene in künstlerisch hochwertiger Form gebracht zu
tholischen Rheinland-Pfalz ins evangelische Darmstadt
haben, hält er ebenso für berechtigt, wie Anderschs Aus
umgezogen ist. Am 21. März 1956 wird daher das Ver
sage, Schmidt verfolge eine moralische Absicht, »zumal
fahren an die Staatsanwaltschaft Darmstadt abgegeben
.EINE ART PORNOGRAPHISCHES LACHKABINETT.
Erste Seite des Gutachtens von Hermann Kasack über Arno Schmidts Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas. 77
S. 158], doch da nach hessischem Recht die Strafsache
Eklektizismus münden. Ich halte es durchaus für möglich,
bereits verjährt ist, wird sie im Juni 1956 an den für den
daß später einmal die Literaturgeschichte die Prosadich
Wohnsitz des Zweitangeklagten Andersch zuständigen
tungen von Arno Schmidt zu den notwendigen Sprach
Generalstaatsanwalt bei der »Zentralstelle des Landes
experimenten unserer Zeit zählen könnte.« Kasack zitiert
Baden-Württemberg zur Bekämpfung unzüchtiger und
dann eine Reihe von Schmidts Literatur lobenden Stim
jugendgefährdender Schriften, Abbildungen und Darstel
men und kommt dann auf die von den Anzeigeerstattern
lungen« in Stuttgart weitergereicht. Dessen erste Amts
monierten einzeln herausgehobenen Stellen zu sprechen:
handlung am 9. Juli 1956 ist ein Brief an den damaligen
»So mischen sich [in der Seelandschaft] zarte poetische
Präsidenten der »Deutschen Akademie für Sprache und
Töne von einer überraschenden lyrischen Intensität
[ebd.,
Dichtung« Hermann Kasack: »Ich erlaube mir, Ihnen
mit krassen realistischen Aussagen, so werden gleich
angeschlossen die Zeitschrift mit der höflichen Bitte zu
sam seismographisch aufgezeichnete Seelenzustände mit
übersenden, ein schriftliches Sachverständigengutachten
frechen Bemerkungen, die einem bissigen Sarkasmus
darüber zu erstatten, ob das den Gegenstand des Verfah
entspringen, vermengt. Aber dieses scheinbare Durch
rens bildende Prosastück im ganzen und - sofern eine ge
einander ist ein bewußtes künstlerisches Mittel, um das
trennte Betrachtung darüber möglich ist - bezüglich der
Simultane, die Gleichzeitigkeit allen Geschehens, auch im
von den Anzeigeerstattern beanstandeten einzelnen Stel
Einzelnen und Kleinen, zum Ausdruck zu bringen. Wenn
len den Charakter eines Werkes der Kunst hat oder nicht.«
man diese organisch zusammenhängenden Elemente
[Ebd., S. 170f.]
auseinanderreißt, tut man dem Ganzen Unrecht.« Kasack
Am 21. Juli 1956 schickt Kasack das erbetene, acht
bescheinigt der Seelandschaft, »daß es sich bei dieser Pro
Schreibmaschinenseiten umfassende Gutachten. [Vgl. ebd.,
sastudie um ein ernst zu nehmendes Sprachkunstwerk
S. 173 ff.] Es beginnt mit einer Einordnung Schmidts in die
handelt, wenn es auch eine Reihe von gewagten Stellen
noch junge Tradition der Moderne: »Es gibt in der ernsten
enthält. Arno Schmidt betont häufig seine Vorliebe für den
Literatur aller Länder immer Dichter, die in dem, was sie
alten Wieland, dem oft genug Frivolität vorgeworfen wor
schreiben, das Wagnis des Experiments auf sich nehmen.
den ist. Schmidt gehört zu jener Gruppe von Schriftstel
Das gilt auf allen Gebieten der Kunst. Ohne diesen Willen
lern, die durch ihre Zeitkritik den Leser beunruhigen und
zum Experiment, wenn es auch häufig von der Zeitkritik
provozieren wollen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Es
abgelehnt wird, würde die Kunst in einen restaurativen
darf nicht verkannt werden, daß durch die entsetzlichen
ARNO SCHMIDT? - ALLERDINGS!
28
Erlebnisse der letzten Jahrzehnte und durch das Bewußt
Stellen anbelangt, so ist zu betonen, daß sie aus dem Zu
sein des Atomzeitalters viele Werte und Begriffe erschüt
sammenhang herausgerissen völlig anders wirken müs
tert und in Frage gestellt sind. Das drückt sich nicht nur
sen als im Rhythmus des Ganzen gelesen. Ich glaube
in der Mentalität der Menschen aus, sondern auch in
nachgewiesen zu haben, daß es sich bei diesem Prosa
ihren Dichtern. Es kommt hinzu, daß vieles, was früher
stück - wie bei allen Arbeiten Arno Schmidts - um ein
»verdrängt« wurde und deshalb in der Dichtung als ver
Werk der Kunst handelt.«
pönt galt, heute zur literarischen Darstellung gelangt. Es
Am 26. Juli 1956 verfügt die Staatsanwaltschaft Stuttgart
braucht nur an Sartre, Malaparte, Mailer und viele andere
auf Grund dieses Gutachtens die Einstellung des Ermitt
erinnert zu werden. Literatur ist immer ein Spiegel ihrer
lungsverfahrens. Doch länger als ein Jahr schwebte die
Zeit. Wenn gegenwärtig häufig so viel Krasses, Chaoti
Androhung einer Gefängnisstrafe über Arno Schmidt.
sches, Hässliches, Brüchiges darin sichtbar wird, so liegt
Als im März 1963 ein erneuter (und ebenfalls erfolglos
das weniger am Willen des Autors, als eben an der Zeit.
verlaufender) Versuch unternommen wird, gegen die See-
Der Autor reagiert, wie ein Seismograph, auf die Schwan
landschaft gerichtlich vorzugehen, schreibt Schmidt an
kungen und Erschütterungen des Geistes und der Seele.
seinen Verleger Ernst Krawebl: »1 Leben für die Deutsche
Dafür scheint mir das Schaffen Arno Schmidts einschließ
Literatur; und immer finden sich Mistviecher, die mir
lich der »Seelandschatt mit Pocahontas« ein typisches Bei
Schwierigkeiten machen! Ich protestiere hiermit feier
spiel zu sein. Wie weit ein Autor, um seine künstlerischen
lich dagegen, jemals als »Deutscher Schriftsteller« von
Absichten zu verwirklichen, in erotischer und atheisti
dieser Nation von Stumpfböcken vereinnahmt zu werden!
scher Beziehung gehen darf, ist nicht nur eine Frage des
Deutschland hat mich immer nur von Ort zu Ort gehetzt,
Taktes und Geschmacks, sondern auch eine Frage des
und miserabel für meine cyclopische Schufterei ent
Temperaments, der Begabung. Was die beanstandeten
lohnt!« [BWA, S. 224.]
Kapitel fünf
»15000 Volt bin ich« 130 1
Ein Gott möchte ich gar nicht sein: viel zu langweilig, so zuerst. N Halbgott, das ja! / Ich unglücklich?: Ich?!: ich kann doch denken, was ich will!! / Ich lüg’ gans gern, wenn ich Zeit hab’ : die Wahrheit iss so was Gewöhnli ches, nich? / Ich habe durchaus den Mut auch zur Inkon sequenz! / Ich bin, wie jeder anständige Mensch, meiner Ansichten oftmals müde. / Ich kann ja nichts mehr ernst nehmen. / Ich habe keine Ahnung, was >leben< heißt. / Ich elten hat ein Autor in seinen Texten mit sol
bin jedenfalls fleißig. / Ich bin schließlich Der ich bin.
chem Anspruch, mit solcher Kraft, mit sol
In all diesen Sätzen - (und die Reihe ließe sich noch
S
cher Macht »Ich« gesagt wie Arno Schmidt:
sehr lange fortführen) - redet nie eine Nebenfigur des
Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich! /
Schmidt’schen Textes, sondern stets das zentrale Ich, das
Ich behalte mir jede Handlung gegen den Staat vor! / Ich
Ich des Erzählers. In seinen Erzählungen und Romanen,
verachte jeden Menschen, der gern Uniform trägt. / Ich,
die bis einschließlich Zettel’s Traum in der Ich-Form ge
der Franktireur des Geistes. / Ich bin nicht auf die Welt ge
schrieben sind, zwingt Schmidt dem Leser in jeder Zeile,
kommen, um Rücksichten zu nehmen. / Ich bin ungefähr
in jedem Satz dieses Ich auf, indem er ihn an allen Hand
so geschmeidig wie Stonehenge. / Ich war eigentlich im
lungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Assoziationen
mer Einzelgänger gewesen! / Ich will mein Gebiet immer
des Ichs teilhaben lässt. Das literarische Erzähler-Ich
unter Kontrolle halten. / Ich fluche allem Gemensch! /
dringt während der Lektüre osmotisch in das Leser-Ich
Ich bin Pessimist, was >das Volk< anlangt. / Ich schätze die
ein. Dieser Effekt dürfte hauptverantwortlich dafür sein,
Jugend und ihr Urteil nicht übermäßig. / Ich bin sowieso
dass Schmidts Werk die Leserschaft von Anfang an pola
ein Gegner Schiller’s. / Ich bekenne mich vorbehaltlos zur
risiert hat wie kaum eine zweite: Wer sich (aus welcher
alten, heute bestgeschmähten, Aufklärung. / Ich ärgere
eigenen Disposition heraus auch immer) mit dem mäch
gern durch Wahrheiten. / Ich disputiere nie mit From
tig auftrumpfenden Ich der Schmidt-Texte identifizieren
men. / Ich?: Atheist, allerdings!: Wie jeder anständige
wollte oder konnte, war ihm oft schon von der ersten Lek
Mensch! / Wenn ich tot bin, mir soll mal Einer mit Auf
türe an verfallen und machte nicht selten Arno Schmidt
erstehung oder so kommen: ich hau ihm Eine rein! /
zu Zentrum und Maßstab seiner weiteren Reschäftigung
78
«■15000 VOLT BIN ICH.
132
mit Literatur, übernahm ungeprüft Schmidts Urteile und
soll, in dem Brief Ara den Leser-. »Und versuchen Sie bitte
Ansichten, sammelte auch noch die entlegensten Zei
nicht, meine Bekanntschaft zu machen; ich würde Sie
tungsartikel von ihm und über ihn, unternahm Pilger
äußerlich und auch im Auftreten enttäuschen; das Beste
reisen an die Schauplätze seiner Bücher und an seine
was ich bin und habe, gebe ich Ihnen ohnedies nach man
Wohnorte, und bemühte sich (meist vergeblich) um per
cher Arbeit konzentriert und gereinigt in meinen Bü
sönlichen Kontakt zu dem zurückgezogen lebenden
chern: Der Mensch Schmidt ist von diesen nur eine Ver
Schriftsteller. Arno Schmidt war Kultautor, lange bevor es
wässerung, die Sie sich klug ersparen sollten.« [BA 111,3,48.]
diesen Begriff gab.
Bevor auch nur ein Leser auf der Welt überhaupt die
Andererseits: Wer sich diesem literarischen Ich nicht
Chance hat, Schmidt als Autor wahrzunehmen, will der
ausliefern wollte oder konnte, legte meist nicht etwa sein
Mensch Schmidt ihn bereits auf Distanz halten. Der spä
erstes und letztes Schmidt-Buch mit einem achselzucken
tere Rückzug Schmidts ins abgelegene Heidedorf Bargfeld
den »Das ist wohl nichts für mich« einfach zur Seite; die
ist also weder ein mit der Neugier der Medien speku
Kegel war vielmehr eine vehemente Ablehnung, die sich
lierendes Sich-Rarmachen noch Altersmarotte, sondern
(je nach den individuellen Möglichkeiten) in wütenden
Konsequenz eines von Anfang an bei Schmidt vorhan
Verrissen in der Presse, in Protestbriefen an Autor, Verlage
denen Bedürfnisses, literarisches und biografisches Ich
und Bedaktionen oder auch nur in heftigen Streitge
möglichst getrennt zu halten - trotz oder vielleicht gerade
sprächen mit Schmidt-Lesern äußerte. Beiden Reaktions
wegen des hohen autobiografischen Anteils seiner Bü
weisen ist gemeinsam, dass sie ohne eine Verlagerung des
cher. Gegen Ende seines Lebens erklärte er im Gespräch,
Affekts vom Text-Ich auf das Ich des Autors selbst kaum
er treffe deswegen so ungern auf Leser, weil er sich vor
funktionieren können; beide setzen stillschweigend vor
ihnen immer wie nackt vorkäme - sie wüssten als Leser
aus, dass im Ich seiner Erzähler Arno Schmidt selbst zu
viel, auch Intimes, von ihm, während sie, angezogen, ihm
finden sei.
völlig unbekannt seien.
Dabei hat Schmidt die Differenz zwischen literarischem
Der Mensch Schmidt verbirgt sich also vor den Lesern,
und persönlichem Ich erstaunlich früh konstatiert. Schon
während der Autor Schmidt sich in seinen Ich-Erzählern
im Dezember 1948, noch vor dem Erscheinen seines er
offenbart? Letzteres jedenfalls lässt sich, schaut man
sten Buches, schreibt er in der Sammlung fiktiver Briefe
genauer hin, so nicht aufrechterhalten. In einem Essay
Arno Schmidts Wundertüte, die sein zweites Buch werden
über das Tagebuch schreibt Schmidt zwar, »daß ein Autor
79
.15 000 VOLT BIN ICH.
13«
selbstverständlich größere Teile seiner Persönlichkeit in
Zweit-Ich, ja sogar ein »Dreißigst=Ich« abgespaltet habe:
seinen Büchern deponiert«, doch schränkt er sofort stark
»jeder Autor hat mehr Incarnationen hinter sich als
ein: »aber niemals ioo=%ig! Das liegt simpel daran, daß
Wischnu!« [BA 11,3,309.] Mit einem solchen Ich-Modell ist
kein Mensch auch nur zu 1 Drittel abbildens= & erhal
bereits der junge Schmidt bei der Lektüre eines seiner
tenswert wäre« [BA 111,4,392].
Lieblingsbücher konfrontiert worden: Hermann Hesse
Hinzu kommt, dass Schmidt schon Jahre vor seiner
hält in seinem Steppenwolf »jedes Genie« für »ein Bündel
Freud-Lektüre erkannt hat, wie doch das Ich ein nur sehr
aus vielen Ichs« und legt dar, wie z. B. in indischen Dich
schwer zu Fassendes und zu Gestaltendes wäre: »Mein
tungen die Helden keine Personen seien sondern »Per
Leben?!: ist kein Kontinuum! (nicht bloß durch Tag und
sonenknäuel, Inkarnationsreihen« [H.H.,
Der Steppenwoll,
Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen! Denn
Berlin 1927,
auch am Tage ist bei mir der ein Anderer, der zur Bahn
Inwieweit die mächtige Leserbindung bzw. -abstoßung
geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet;
Ergebnis einer von Arno Schmidt bewusst eingesetzten
schwatzt; schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallen
Schreibstrategie war, ist schwer zu sagen. Das sie verur
der Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört; >Herr
sachende literarische Ich ist wohl in seiner Stärke ebenso
Landrat« sagt: that’s me!): ein Tablett voll glitzernder
Resultat des auktorialen Temperaments wie Ausdruck ei
Tractat
S. 25].
snapshots.« [BA 1,1,301.] Dies sagt zwar eine Romanfigur,
nes >in Wirklichkeit« - (aber wo liegt die für einen Autor?)
aber es ist in diesem Fall egal, ob so >nur< der Faun-Erzäh
- sich eben nicht so sicheren, nicht so starken Ichs. Alice
ler Düring empfindet oder auch sein Autor Schmidt - das
Schmidts Tagebucheintragungen in den fünfziger Jahren
Gefühl des Auseinanderfallens ist nun mal eine Ich-Erfah-
belegen jedenfalls die bei jeder Buchniedersehrift erneut
rung der Moderne von Nietzsche bis Freud und bis heute
auftretenden Selbstzweifel ihres Mannes.
virulent. Dass Schmidt sie geteilt hat, kann man Inter
Zwei Beispiele für viele: Am 19. Dezember 1952, Schmidt
views und Essays von ihm entnehmen.
hat grade den 2. Teil von Aus dem Leben eines Fauns be
Von den Aufspaltungsmöglichkeiten eines Ichs, wenn
endet: »A. klagt übers Schriftstellerdasein. Da hat er sich
es sich bei dem Ich um einen Autor handelt, vermittelt
geschunden. V4 Jahre u. Tag und Nacht Notizen gesam
Schmidt sogar noch einen verschärften Begriff: Von Bul-
melt und gedacht er würde was ganz Großes machen
wer-Lytton berichtet Schmidt in einem Funkessay, dieser
(was m. E. ja auch geworden ist) und sich die Nerven völ
habe eine Familiengeschichte geschrieben, in der er ein
lig ruiniert u. nun ists seines E. >alter Dreck« geworden.
ARNO SCHMIDT? - ALLERDINGS!
36 137
Ich versuche ihm den Unsinn auszureden.« Oder am
geistigen Kräfte pflegt er nämlich an Büchern zu arbeiten!
17. Mai 1955, nach einer negativen Kritik seiner Erzäh
- es ist, wiederhole ich, der, in Stunden der Abgespannt
lung Kosmas: »Hai das enttäuschende Gefühl, als Schrift
heit nur zu begreifliche Wunsch, durch die Injektion des
steller völlig gescheitert zu sein. 10 Jahre des Elends
Lobes immer wieder versichert zu werden, daß die grau
völlig umsonst. Gescheitert! Vielleicht habe auch er gar
sam entsagungsvolle Arbeit nicht umsonst ist. Diese viel
Unrecht und alle seine Anstrengungen und Versuche
berufene Effekthascherei ist so wenig >EitelkeitScheiße< schreiben (also
In vielen seiner Äußerungen über Kollegen redet Arno
Zeitungsartikel u. Kurzgeschichten) so lange das geht.
Schmidt auch von sich selbst. Fehlende Anerkennung hat
Das Volk wolle ja Adenauer u. die Aufrüstung, sobald Sol
er lange Zeit durch Eigenlob und hypertrophes Selbst
daten eingezogen werden will er sehn ob er wieder eine
wertgefühl nach außen zu kompensieren versucht; lieber
Stellung als kaufm. Angestellter bekommt.«
setzte er die Maske des rücksichtslos auftrumpfenden
Schmidts bis in die sechziger Jahre hinein immer wieder
Zynikers auf, als dass er denen, die ihn ignorierten, kri
geäußerte Selbstzweifel speisen sich (soweit man sehen
tisierten oder behinderten, Einblicke in seine Selbst
kann) aus mehreren Quellen: seiner Herkunft aus einem
zweifel und Verzweiflungen gegeben hätte - wobei ihm
als amusisch und kunstfeindlich empfundenen Eltern
als klassisch Gebildeten der (nicht nur etymologische)
haus; dem Unverständnis für seine Art Literatur, das
Zusammenhang von Maske und Person bewusst gewesen
selbst aus positiven Kritiken sprach; dem wirtschaftlichen
sein muss.
Misserfolg seiner Bücher. Dabei durchschaute er selbst
Als 40-jähriger hielt Schmidt ein von Staatswegen verord-
sehr wohl den Mechanismus, der ihn aus diesen Selbst
netes Tragen von Masken ab 60 aus ästhetischen Gründen
zweifeln heraus zu Ausrufen verleitete wie »15 000 Volt bin
für erwägenswert [BA 1,4,177]. Schaut man sich die nicht
ich!« [BA 1,2,36]. In seinem Funkessay über Wieland ver
eben zahlreichen zu seinen Lebzeiten veröffentlichten
teidigt er diesen gegen den Vorwurf der Eitelkeit und
Porträt-Fotos von ihm an, gewinnt man allerdings sehr
Selbstbezogenheit: »Es ist doch weiter nichts, als die häu
rasch den Eindruck, Schmidt habe schon lange vor Er
fig auftretende Werkbesessenheit. Und der in Stunden der
reichen dieses Alters eine Maske zu tragen gewusst:
Erschöpfung - man vergesse doch ja nie, daß man den
Auf allen Fotos begegnet man dem gleichen ernsten, ja
Dichter nur in solchen kennen lernt: im Vollbesitz seiner
finsteren Gesicht mit den tief einschneidenden, herunter-
82
83
84
.15000 VOLT BIN ICH.
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gezogenen Mundwinkeln. »Idiotisch in Pose wie immer vor der Kamera, diabolisch-unbedeutenden Angesichts wie immer bei solchen Gelegenheiten«, so sah der Kritiker Rolf Vollmann ihn auf einem der Fotos, und folgert: »Man würde ihn, hätte man nur Fotos von ihm gesehen, einmal kaum gekannt zu haben wünschen« Magazin, 6.6.1980].
[Frankfurter Allgemeine
Wer allerdings die rare Gelegenheit
gehabt hat, Schmidt im Gespräch zu erleben, erkennt ihn auf den meisten Fotos kaum wieder. Im persönlichen Ge spräch zeigte er alle paar Sekunden ein neues Gesicht; da ließ er Kaumuskeln hervortreten, zog die rechte Augen braue allein erstaunt hoch, wechselte die Brille zum Vorlesen oder setzte sie ab zum Auswendig-Rezitieren. Mundwinkel zogen sich plötzlich unwillig hinab fast bis zum Kinn, kräuselten sich zum spöttischen Lächeln, brachen auf zu einem herzlichen Lachen. Weiche, ent spannte Gesichtszüge wechselten mit kantigen, konzen trierten - je nachdem, ob er den lässigen Erzähler am Kamin oder den Dozenten voll des Feuers der Rede gab. Man höre eine seiner vielen Rundfunklesungen: deren stimmlicher Dynamik und Ausdruckskraft entsprachen seine Mimik, seine Gebärden und Gesten. (Einmal sprang er mitten im Gespräch auf und führte mir mit beinah jung mädchenhafter Anmut vor, wie eine Dorfschöne dem in Bargfeld ansässigen Bildhauer Heinrich Schlotter mit Obstschale auf dem Kopf Modell gestanden hatte.) Mehr fach habe ich ihn bei meinen Besuchen fotografieren dür-
•«**«,
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I
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• 15000 VOLT BIN ICH
Darf=ich vorschtelln?! - : - >1 Baade = Plätzchn : Freulein Hertha Theunert.« - . - < / (Und betroffenes Schweigen. - (Das heißt: Z/irer=seitz; ich kannte = ja die Geegnd. Im Allgemein’n.)« [BA 1,3,235.] Sie ist ein bisschen enttäuscht, weil das Gewässer gar so klein ist, aber er redet es schön, as Napoleon-Wort, die Politik sei das Schick
denkt sich in gemeinsame Dauersommerferien hinein:
D
sal, kommt bei Schmidt zuweilen vor - ein
»>Sommer=Hertha! - : Du=dreifach: am Ufer; Dein
mal mit dem Hinweis, das habe schon Aristophanes
Schattn; Dein Wasserbillt. Dann, damitt Viere= voll sind:
gewusst. Meist leitet dies Zitat zu einer nüchternen Be
Du = noch in der Fluth; >Frau FluthZoon’n=Grenze